Aus Kindlers Neuem Literaturlexikon:

Mann, Heinrich

DIE JUGEND DES KÖNIGS HENRI QUATRE. - DIE VOLLENDUNG DES KÖNIGS HENRI QUATRE

Historischer Roman in zwei Teilen von Heinrich Mann, erschienen 1935 und 1938. — Schon 1925 — anläßlich einer Reise durch Südfrankreich, die ihn auch nach Pau, der Geburtsstadt Heinrichs IV. von Navarra (1553–1610; reg. seit 1589), führte — faßte Heinrich Mann den Plan, die Lebensgeschichte des französischen Königs zu schreiben. Ein umfangreiches Quellenstudium ging der Niederschrift des Romans voraus: Memoiren und Briefe von Zeitgenossen, insbesondere die Erinnerungen seines Ministers Sully, werden verarbeitet, aber auch die populärwissenschaftliche Biographie Heinrich IV. von Saint-René Taillandier sowie die großen repräsentativen Gesamtdarstellungen der Epoche von Jules Michelet und Leopold von Ranke zieht Heinrich Mann heran. Erst im Exil, nach mehr als sechsjähriger Arbeit, wird der Roman abgeschlossen.

Henri wächst in den Pyrenäen unter der Obhut seiner streng protestantischen Mutter Jeanne d’Albret auf. Frühzeitig lernt er in Paris, wo Katharina von Medici durch ihre Söhne regiert, das korrupte, von Intriganten beherrschte Hofleben kennen. Infolge religiöser Zwistigkeiten, die nur der verschleierte Ausdruck politischer Machtinteressen sind, ist Frankreich innerlich zerrissen. Nach dem Tod seiner Mutter stellt Henri sich zusammen mit Admiral Coligny an die Spitze des hugenottischen Befreiungskampfes gegen die Katholiken. Der jugendlich unbekümmerte, bisweilen zu Disziplinlosigkeit neigende Draufgänger, dem aller Standesdünkel fremd ist, hat seine ersten Liebesabenteuer in dieser Zeit, auch schließt er wichtige Freundschaften fürs Leben. Nach seiner Hochzeit mit Marguerite de Valois, der Schwester des Königs Karl IX., lebt er von neuem am Hof Katharinas. In der berüchtigten Bartholomäusnacht (23./24. 8. 1572) werden fast alle Hugenotten, die zur» Bluthochzeit «nach Paris gekommen waren, niedergemetzelt; auch Admiral Coligny ist unter den Opfern, Henri bleibt verschont. Unverhohlen aktualisiert Heinrich Mann das blutige Geschehen; die Darstellung der Vergangenheit wird durchsetzt mit Anspielungen auf die Gegenwart: Die Parallelisierung der volksfeindlichen Politik der katholischen Liga mit dem nationalsozialistischen Terror in Deutschland ist augenfällig. Guise, der Ligaführer, trägt die Züge Hitlers; der Volksverhetzer Boucher erinnert an Goebbels. Henri wird gezwungen, katholisch zu werden und muß als Gefangener am Hofe bleiben. Schließlich gelingt ihm die Flucht zu den Hugenotten, wo er wiederum den Glauben wechselt. Diese scheinbare Gewissenlosigkeit gehört zu Henris politischer Strategie, die das Religiöse den Erfordernissen eines Fortschritts zu größerer Humanität unterordnet. Entscheidend für Henris geistige Entwicklung sind die — von Heinrich Mann frei erfundenen — Gespräche mit dem Philosophen Montaigne, dem er vor den Wällen der hugenottischen Festung La Rochelle begegnet. Montaignes Skeptizismus überzeugt ihn davon, daß er sein Leben auf die Grundlage des Zweifels stellen müsse. Die Frage des Philosophen:»Que sais-je? (»Was weiß ich?«) durchzieht deshalb leitmotivisch den Roman; ihr Geist ist auch in der Erzählhaltung des Autors lebendig.»Nichts ist so volkstümlich wie Gutsein«, lehrt Montaigne den werdenden König. Nur Macht, die im Bündnis mit der Güte stehe, sei legitim. Nach neuen Religonskriegen, in deren Verlauf König Karl IX. umkommt und sein Bruder Heinrich III., der letzte Valois, ermordet wird, gelangt schließlich Heinrich IV., der einer Nebenlinie des Hauses Bourbon entstammt, auf den Thron. Weil er Montaignes Lehren befolgt, hat er das einfache Volk auf seiner Seite:»Die große Neuerung, der wir beiwohnen, ist die Menschlichkeit«, sagen die Leute. Die einzelnen Abschnitte des ersten Romanteiles enden jeweils mit einer in französischer Sprache abgefaßten Moralité, worin die Etappen von Henris Werdegang kritisch resümiert und verallgemeinert werden. Heinrich Mann ging es darum,»daß Deutsch und Französisch sich dies eine Mal durchdrängen. Davon erhoffte ich immer das Beste für die Welt.«

Der zweite Teil des Romans schildert die mühselige Vollendung der persönlichen Entwicklung des Königs und seines politisch-sozialen Werks. Paris, die katholische Hauptstadt, verschließt vor dem protestantischen» Ketzer «ihre Tore. Zum fünften Mal vollzieht Henri, um der Einigung des Reiches und der Aussöhnung der verfeindeten Konfessionen willen, den» Todessprung «der Konversion. Nicht politischer Opportunismus, sondern die realen Lebensinteressen seines Volkes veranlassen ihn zu dem berühmt gewordenen Ausspruch:»Paris ist eine Messe wert. «Henri verkörpert einen streitbaren Humanismus, der sich nicht scheut, die reine Toleranz dort zu kritisieren, wo in ihrem Namen Unrecht geschieht. Im Edikt von Nantes schließlich sichert er seinem Volk Glaubensfreiheit zu und schafft damit die Voraussetzungen auch für eine politische Befriedung des Landes. Henri plant große soziale Reformen, bei deren Ausarbeitung ihn nicht zuletzt Gabriele d’Estrées, die große Liebe seines Lebens, unterstützt und inspiriert. Die Ermordung Gabrieles deutet er als Vorzeichen seines eigenen Endes:»Die Wurzel meines Herzens ist tot und wird nicht wieder treiben. «Seine zweite Frau, die landfremde Maria von Medici, schenkt ihm zwar Nachkommenschaft, intrigiert aber zusammen mit ihrem florentinischen Anhang gegen ihn und sein Reformwerk. Der» Große Plan «des alternden Henri, der einen Völkerbund der christlichen Nationen Europas zum Ziel hat, ist dem politischen Bewußtsein seiner Zeit weit voraus. Henri wird von Heinrich Mann zum Ahnherrn des modernen revolutionären Sozialismus stilisiert.»Seither wäre er Bolschwik genannt worden. Indessen hieß er Ketzer, und die wirklichen Zusammenhänge blieben im dunkeln. «Henri stirbt durch den Dolch Ravaillacs als Opfer einer Verschwörung fanatischer Jesuiten. Der Dichter läßt jedoch den toten König» von der Höhe einer Wolke herab «eine französische Schlußansprache halten, worin zukunftsgläubig die Utopie eines Ewigen Friedens, eines Wirklichkeit werdenden Goldenen Zeitalters entworfen wird. Frankreich, so lautet Henris politisches Vermächtnis, soll zum» Vorposten der menschlichen Freiheiten «werden,»die da sind: die Gewissensfreiheit und die Freiheit, sich satt zu essen«.

Nicht» verklärte Historie «oder» freundliche Fabel «bietet dieser Roman, sondern ein» wahres Gleichnis«: Heinrich Mann sieht die vergangene Zeit im Licht seiner eigenen, modernen Erfahrung. So lebt die scheinbar bereits veraltete Gattung des historischen Romans, den die deutsche Exilliteratur nicht zufällig zum bevorzugten Instrument ihrer politischen Kritik machte, einzig aus der Gegenwartsbezogenheit. Die Spannungslosigkeit des traditionellen Geschichtsromans, worin ein allwissender Erzähler bereits bekannte Ereignisse chronologisch berichtet, wird hier durch ein Erzählen aus verschiedenen Perspektiven, durch eingeschobene kritische Kommentare, Vor- und Rückverweise sowie Anreden des Erzählers an seine Figuren und an den Leser vermieden. Häufig geht die erzählende Prosa in dramatische Dialoge über. Ferner liebt es Heinrich Mann, durch den abrupten Wechsel von neutraler Beschreibung und grotesker Überzeichnung epische Verfremdungseffekte zu erzeugen. Das Problem einer Synthese von Geist und Tat, das Heinrich Manns episches und essayistisches Werk durchzieht, fand in der Gestalt des guten Königs Henrie eine modellartige Lösung.

R.Ra.-KLL

Roland Rall/KLL


AUSGABEN: Amsterdam 1935 (Die Jugend des Königs Henri Quatre). — Kiew 1935. — Moskau 1937–1939 (Die Vollendung des Königs Henri Quatre) (in Internationale Literatur, 7, 1937, H. 1–9, 1939, H. 4). — Kiew 1938. — Amsterdam 1938. — Bln. 1951 u. 1956 (in AW in Einzelausg., Hg. A. Kantorowicz, 13 Bde., 1951–1962, 6 u. 7). — Hbg. 41964 (Die Jugend. ., in GW in Einzelausg., 18 Bde., 1958 ff., 2). — Hbg. 31962 (Die Vollendung. ., ebd., 3). — Bln./Weimar 1970 (in GW, 25 Bde., 1965 ff., 11/12). — Düsseldorf 1976 (in Werkausw., 10 Bde., 5). — Düsseldorf 1985 (Die Vollendung. .). — Reinbek 1987, 2 Bde. (rororo).

LITERATUR: A. Kantorowicz, H. M.s Henri-Quatre-Romane (in SuF, 3, 1951, H. 5, S. 31–42). — G. Lukàcs,»Die Jugend des Königs Henri Quatre«(in G. L., Der historische Roman, Bln. 1955). — E. Kirsch, H. M.s Roman» Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre«(in WZHalle, 5, 1955/56, S. 623–636; 1161–1205). — H. Kirchner-Klemperer, H. M.s Roman» Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre «im Verhältnis zu seinen Quellen u. Vorlagen, Diss. Bln. 1957. — H. Mayer, H. M.s» Henri Quatre«(in H. M., Deutsche Literatur und Weltliteratur, Bln. 1957, S. 682–689). — U. Weisstein, H. M., Montaigne and Henri Quatre, (in RLC, 36, 1962, S. 71–83). — G. Hünert, Zu H. M.

»Henri Quatre«. Ein Bericht (in Colloquia Germanica, 1971, S. 299–312). — G. Müller, Geschichte, Utopie u. Wirklichkeit. Vorstudie zu H. M.s »Henri-Quatre-Roman« (in OL, 26, 1971, S. 94–121). — I. Grieninger, H. M.s Roman »Die Jugend und Vollendung des Königs Henri Quatre«. Eine Strukturanalyse, Diss. Tübingen 1971. — E. Blattmann, Henri Quatre Salvator. Studien u. Quellen zu H. M.s »Henri Quatre«, 2 Bde., Freiburg i. B. 1972. — G. Köpf, Humanität u. Vernunft. Eine Studie zu H. M.s Roman» Henri Quatre«, Bern/Ffm. 1975. — U. Stadler, Von der Exemplarursache zur Dialektik. Über den Gleichnischarakter von H. M.s »Henri Quatre«-Romanen (in Literaturwiss. u. Geschichtsphilosophie. Fs. für Wilhelm Emrich, Hg. H. Arntzen u. a., Bln./NY 1975, S. 539–560). — W. Jöckel, H. M.s »Henri Quatre« als Gegenbild zum nationalsozialistischen Deutschland, Worms 1977. — M. Hahn, »Wahres Gleichnis«. H. M. »Die Jugend des Königs Henri Quatre« u. »Die Vollendung des Königs Henri Quatre« (in Erfahrung Exil. Antifaschistische Romane 1933–1945. Analysen, Hg. S. Bock u. M. Hahn, Bln./Weimar 1979, S. 169–192). — K. P. Broszinsky, Roman u. Hörspiel. Adaption u. Adaptionsregularitäten, anhand der »Henri Quatre«-Romane H. M.s u. ihrer Hörspielbearbeitung, Diss. Greifswald 1980. — H. Müller, Problem des historischen Romans. Zu H. M.s »Henri Quatre«-Romanen (in Textsorten u. literarische Gattungen, 1983, S. 577–590). — A. Zweig, H. M.s Meisterwerk (»Henri Quatre«) [1935] (in A. Z., Essays, Bd. 1, 1987, S. 290–295).

Quelle:

Kindlers neues Literaturlexikon © CD-ROM 1999 Systhema Verlag GmbH, Buchausgabe Kindler Verlag GmbH

Ende eBook: H. Mann — Die Jugend des Königs Henri Quatre


149. -158. Tausend Juli 1994

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, November 1964

mit freundlicher Genehmigung des Claassen Verlages, Düsseldorf

Copyright © 1956 by Aufbau-Verlag, Berlin

Für die deutsche Übersetzung der Moralités

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Umschlaggestaltung Barbara Hanke Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany 1990-ISBN 3 499 13487 X


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