»Weißt du übrigens, Quintus Caecilius«, sagte der Senatsvorsitzende Marcus Aemilius Scaurus zu Metellus Numidicus, »daß mir die Arbeit als Quästor von Ostia unglaublich viel Spaß macht? Da bin ich - fünfundfünfzig Jahre alt, kahl wie ein Ei und mit so tiefen Runzeln im Gesicht, daß mein Barbier mit dem Rasiermesser gar nicht mehr überall hinkommt - und ich fühle mich wieder wie ein junger Mann! Und die Leichtigkeit, mit der ich die Probleme löse! Mit dreißig schienen sie unüberwindbar wie die Alpen - ich erinnere mich noch gut daran. Mit fünfundfünfzig sind sie Bagatellen.«

Scaurus war nach Rom gekommen, um an einer vom praetor urbanus Gaius Memmius einberufenen Sondersitzung des Senats teilzunehmen. Auf der Tagesordnung stand Sardinien. Konsul Gaius Flavius Fimbria war indisponiert, nach Meinung vieler Senatoren war er das dieser Tage auffallend häufig.

»Hast du das neueste Gerücht gehört?« fragte Metellus Numidicus, als sie langsam die Stufen zur curia hostilia hinaufstiegen und den Saal betraten. Zwar hatte der Herold die Senatoren noch nicht zur Sitzung gerufen, aber die meisten Senatoren, die schon eingetroffen waren, warteten nicht draußen, sondern gingen hinein und setzten drinnen ihr Schwätzchen bis zum Beginn der Sitzung fort, die offiziell mit Opfern und Gebeten eröffnet wurde.

»Was für ein Gerücht?« fragte Scaurus geistesabwesend. Was ihn gegenwärtig am meisten beschäftigte, war die Getreideversorgung.

»Lucius Cassius und Lucius Marcius haben sich zusammengetan und wollen in der Volksversammlung beantragen, daß Gaius Marius wieder als Konsul kandidieren darf - und wieder in absentia

Scaurus blieb abrupt einige Schritte vor seinem Stammplatz in der ersten Reihe stehen, wo sein persönlicher Diener bereits den Klappstuhl zwischen dem Stuhl des Metellus Numidicus und dem des pontifex maximus Metellus Delmaticus aufgestellt hatte. Er sah Numidicus mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen an.

»Das wagen sie nicht!« flüsterte er.

»Natürlich wagen sie das! Kannst du dir das vorstellen? Eine dritte Amtszeit als Konsul, das gab es noch nie - damit machen wir ihn zum Diktator auf Dauer! Warum wurde denn die Amtszeit des Diktators für den Fall, daß Rom einmal einen brauchte, was selten genug vorkam, auf ein halbes Jahr beschränkt? Doch nur, um zuverhindern, daß dem Diktator seine Macht zu Kopf steigt! Und jetzt das, dieser - Bauer, der immer seine eigenen Regeln durchsetzen will!« Metellus hatte sich in Rage geredet.

Scaurus sank auf seinen Stuhl, plötzlich um Jahre gealtert. »Wir sind selbst schuld«, sagte er schleppend. »Wir waren nicht so mutig wie unsere Vorfahren, sonst hätten wir diesen lästigen Pilz einfach herausgerissen! Warum wurden Tiberius Gracchus, Marcus Fulcius und Gaius Gracchus beseitigt, aber nicht Gaius Marius? Er hätte schon vor Jahren zurechtgestutzt werden müssen.«

Metellus Numidicus zuckte die Achseln. »Er ist ein Bauer. Die Gracchen und Fulvius Flaccus waren Adlige. Lästiger Pilz ist eine gute Beschreibung für Marius - über Nacht schießt er irgendwo aus dem Boden, aber wenn man ihn herausreißen will, ist er schon wieder woanders.«

»Das muß ein Ende haben!« rief Scaurus aufgebracht. »Man kann nicht in Abwesenheit zum Konsul gewählt werden, schon gar nicht zweimal hintereinander! Dieser Mensch hat die Traditionen des römischen Staates häufiger gebrochen als jeder andere in der Geschichte der Republik. Ich glaube allmählich, er will nicht nur der Erste Mann in Rom sein, sondern König!«

»Ganz meine Meinung«, sagte Metellus Numidicus. Er setzte sich. »Aber wie sollen wir ihn loswerden? Für einen Mordanschlag ist er nie lange genug in Rom!«

»Lucius Cassius und Lucius Marcius«, sagte Scaurus verwundert. »Das verstehe ich nicht! Sie gehören zwei der vornehmsten und ältesten plebejischen Geschlechter an! Kann man nicht an ihr Verantwortungsbewußtsein appellieren, an - an - ihr Gefühl für Anstand?«

»Na, über Lucius Marcius wissen wir ja Bescheid«, sagte Metellus Numidicus. »Marcius hat seine ganzen Schulden bezahlt. Jetzt hat er zum ersten Mal in seinem mißratenen Leben Geld. Aber bei Lucius Cassius liegen die Dinge anders. Er reagiert überempfindlich, wenn das Volk über unfähige Feldherrn wie seinen verstorbenen Vater herzieht, und er ist sich geradezu krankhaft bewußt, welches Ansehen Marius beim Volk genießt. Er glaubt vermutlich, er könne den guten Ruf seiner Familie wiederherstellen, wenn das Volk sieht, wie er Marius in seinem Kampf gegen die Germanen beisteht.«

Scaurus grunzte nur als Antwort auf diese Theorie.

Sie konnten ihr Gespräch nicht fortsetzen, da die Sitzung eröffnet wurde. Gaius Memmius erhob sich, um zu sprechen - er sah sehr hager aus in diesen Tagen und damit schöner denn je.

»Eingeschriebene Väter«, begann er, eine kurze Schriftrolle in der Hand. »Ich habe einen Brief von Gnaeus Pompeius Strabo aus Sardinien erhalten. Der Brief war an mich adressiert und nicht an unseren geschätzten Konsul Gaius Fimbria, weil die Aufsicht über die römischen Gerichte meine Aufgabe als Stadtprätor ist.«

Er hielt inne und funkelte die hinteren Reihen der Senatoren böse an. Dabei brachte er es fertig, fast häßlich auszusehen. Die Senatoren verstanden, was er meinte, und setzten ihre aufmerksamsten Mienen auf.

»Zur Erinnerung für jene da hinten, die dieses Haus fast nie mit ihrer Anwesenheit beehren: Gnaeus Pompeius Strabo ist Quästor des Statthalters von Sardinien, und der Statthalter ist dieses Jahr - ebenfalls zur Erinnerung - Titus Annius Albucius. Sind damit diese äußerst komplizierten Verhältnisse allen Senatoren hinreichend klar?« Seine Stimme troff von Sarkasmus.

Die Antwort war ein allgemeines Gemurmel, das Memmius als Zustimmung interpretierte.

»Gut!« sagte er. »Dann lese ich jetzt den Brief vor, den Gnaeus Pompeius mir geschrieben hat. Hören wir alle zu?«

Wieder Gemurmel.

»Gut!« Memmius entfaltete den Brief und hielt ihn vor sich hin. Dann begann er laut und deutlich zu lesen, damit hinterher keiner sagen konnte, er habe ihn nicht verstanden.

Ich schreibe Dir, Gaius Memmius, weil ich eine Bitte an Dich habe: Ich möchte gegen Titus Annius Albucius, den Statthalter unserer Provinz Sardinien, gleich nach unserer Rückkehr nach Rom Ende des Jahres Anklage erheben. Wie der Senat weiß, hat Titus Annius vor einem Monat berichtet, er habe das Banditentum in seiner Provinz erfolgreich ausgerottet, und dafür hat er einen kleinen Triumph beantragt. Der Antrag wurde abgelehnt, völlig zu Recht. Denn einige Nester der Banditen wurden zwar ausgehoben, doch die Provinz ist keineswegs von ihnen gesäubert. Aber der eigentliche Grund, warum ich den Statthalter anklagen möchte, liegt in seinem unrömischen Verhalten, als er erfuhr, daß sein Antrag abgelehnt worden war. Er hat nicht nur die Mitglieder des Senats als einen ignoranten Haufen von irrumatores bezeichnet, sondern mit großem Kostenaufwand einen kleinen Triumph durch die Straßen von Carales organisiert! Ich betrachte dieses Verhalten als Bedrohung des Senats und des Volkes von Rom und den Triumph als Verrat. Ich bin darüber äußerst empört und bestehe darauf daß ich selbst Anklage erheben darf Ich bitte um rechtzeitige Antwort.


Memmius ließ die Schriftrolle sinken. Im Senat war es totenstillgeworden. »Ich bitte um die Meinung unseres weisen Senatsvorsitzenden Marcus Aemilius Scaurus«, sagte Memmius. Dann setzte er sich.

Scaurus stand auf und trat mit grimmigem Gesicht in die Mitte des Saals. »Es ist seltsam«, begann er, »aber kurz vor Eröffnung der Sitzung habe ich mich über eine ganz ähnliche Sache unterhalten. Auch sie ist charakteristisch für den Verfall der altehrwürdigen Traditionen unseres Staatswesens und für die Sittenlosigkeit der Beamten, in deren Händen die Lenkung des Staatswesens liegt. In den vergangenen Jahren hat der ehrwürdige Senat, dem die größten Männer Roms angehören, nicht nur an Macht, sondern auch an Ansehen als wichtigste Institution des römischen Staates eingebüßt. Wir - die größten Männer Roms - dürfen nicht mehr den Weg bestimmen, den Rom geht. Wir - die größten Männer Roms - dienern uns dem Volk an - aber das Volk ist wankelmütig, ungebildet, habgierig und gedankenlos, und seine Politiker sind bestenfalls vergnügungssüchtige Amateure! Wir haben uns daran gewöhnt, daß das Volk uns demütigt! Wir - die größten Männer Roms - werden mißachtet! Unsere Weisheit, unsere Erfahrung, die Leistungen unserer Familien über viele Generationen seit Gründung der Republik - all das gilt nichts mehr. Nur das Volk ist noch wichtig. Ich aber sage euch, Senatoren: Das Volk taugt nicht dazu, Rom zuregieren!«

Scaurus drehte sich zu dem offenen Portal der Curia um und rief in Richtung des Versammlungsplatzes: »Welcher Teil des Volkes führt denn in der Volksversammlung das große Wort? Männer der Zweiten und Dritten und sogar Vierten Klasse - kleine, ehrgeizige Ritter, die Rom führen wollen wie ihre Geschäfte, Ladenbesitzer und Kleinbauern, sogar Handwerker, die expandiert haben und regelrechte Ladenketten besitzen, wie ich in einem Geschäft für Skulpturen angeschrieben sah! Männer, die sich Advokaten nennen, ihre Kunden aber unter einfältigen Bauern suchen müssen, und Männer, die sich Agenten nennen, ohne daß sie sagen könnten, für was! Ihre privaten Geschäfte langweilen sie, also besuchen sie die Volksversammlung und bilden sich ein, daß sie und ihre ach so geschätzten Tribus Rom besser regieren können als wir im vornehmen Senat! Sie reden uns mit lärmenden politischen Phrasen die Ohren voll und faseln davon, wie sie diesen oder jenen Volkstribunen bewirtet haben, und sie klatschen Beifall, wenn Vorrechte des Senats an Ritter verscherbelt werden! Lauter mittelmäßige Figuren! Weder groß genug, um zur Ersten Klasse der Zenturien zu gehören, noch gering genug, um wie die Fünfte Klasse und die besitzlosen Proletarier ausschließlich mit sich selbst beschäftigt zu sein! Ich sage es nochmals, Senatoren: Das Volk taugt nicht zur Regierung Roms! Es hat schon zuviel Macht. Jetzt erdreistet es sich in seiner maßlosen Arroganz, unseren Rat, unsere Anweisungen und uns selbst zu mißachten - unterstützt und ermutigt, wie ich sagen muß, durch verschiedene Mitglieder dieses Hauses in ihrer Zeit als Volkstribunen!«

Die Senatoren merkten, daß Scaurus dabei war, eine seiner denkwürdigeren Reden zu halten. Scaurus’ Sekretär und einige andere Schreiber kritzelten eifrig mit, und Scaurus selbst sprach langsam genug, daß kein Wort verlorenging.

»Es ist höchste Zeit«, fuhr er mit tönender Stimme fort, »daß wir vom Senat diese Entwicklung umkehren. Es ist höchste Zeit, daß wir dem Volk zeigen, daß es in unserer gemeinsamen Regierung an zweiter Stelle steht!« Er holte Atem. Dann sagte er etwas leiser: »Die Ursache für die Aushöhlung der Macht des Senats läßt sich leicht benennen. Der ehrwürdige Senat hat zu viele Emporkömmlinge für die höchsten Ämter zugelassen, zu viele lästige Pilze, zuviele Aufsteiger. Was bedeutet der römische Senat schon einem Mann, der sich erst den Schweinekot aus dem Gesicht wischen mußte, ehe er nach Rom kam, um dort sein Glück als Politiker zu versuchen? Was bedeutet der Senat einem Mann, der bestenfalls ein halber Latiner von der samnitischen Grenze ist und der am Rockzipfel einer gekauften patrizischen Frau ins Konsulat gelangte? Was bedeutet er einem schielenden Bastard von den keltenverseuchten Hügeln im nördlichen Picenum?«

Natürlich hatten die Senatoren erwartet, daß Scaurus über Marius herziehen würde. Aber seine Ausfälle waren so geistreich, daß sie sie amüsiert zur Kenntnis nahmen, und sie fühlten, daß Scaurus sie zu Recht tadelte. Pflichtschuldigst und durchaus interessiert hörten sie ihm weiter zu.

»Unsere Söhne, patres conscripti«, fuhr Scaurus traurig fort, »haben sich einschüchtern lassen. Sie wachsen in einem politischen Klima auf, das den römischen Senat erstickt und das römische Volk übermütig macht. Wie können wir erwarten, daß unsere Söhne Rom einmal führen werden, wenn das Volk sie heute einschüchtert? Ich sage euch: Wenn ihr es nicht schon tut, müßt ihr heute damit anfangen, eure Söhne im Geist der Stärke zu erziehen. Sie müssen stark sein für den Senat und hart gegen das Volk! Bleut ihnen ein, daß der Senat von Natur überlegen ist! Und bereitet sie darauf vor, für diese naturgegebene Überlegenheit zu kämpfen!«

Scaurus hatte sich wieder vom Portal entfernt und war vor die Bank der Tribunen getreten. Die Tribunen waren vollzählig erschienen. »Kann mir jemand erklären, warum ein Mitglied dieses ehrwürdigen Hauses absichtlich die Macht des Senats schädigen sollte? Ja? Denn das geschieht fortwährend! Da sitzen sie und nennen sich Senatoren - Mitglieder dieses ehrwürdigen Hauses! - und zugleich Volkstribunen! Sie dienen zwei Herren, zwei verschiedenen Herren! Ich sage: Mögen sie sich daran erinnern, daß sie zuerst Senatoren sind und dann erst Volkstribunen. Ihre wirkliche Aufgabe als Volkstribunen ist es, das Volk zu erziehen und gefügig zu machen. Tun sie das? Nein! Mitnichten! Einige Tribunen halten sich an die rechtmäßige Reihenfolge, das gebe ich zu, und ich rechne ihnen das hoch an. Andere Tribunen - es gibt sie in der Geschichte immer wieder,- tun weder für den Senat, noch für das Volk etwas. Sie haben Angst, daß sie, wenn sie sich auf die Seite einer Partei schlagen, den Rest gegen sich aufbringen, Schiffbruch erleiden und dem allgemeinen Gespött preisgegeben sind. Einige aber, eingeschriebene Väter, graben mit voller Absicht an den Wurzeln dieser ehrwürdigen Institution, des Senats von Rom. Warum? Was treibt sie dazu, den Stand zu zerstören, dem sie selbst angehören?«

Die zehn Volkstribunen auf der Bank zeigten durch ihre Haltung deutlich, welcher politischen Richtung sie angehörten. Die senatstreuen Tribunen hatten sich kerzengerade aufgerichtet und glühten vor Stolz über das Lob des Senatsvorsitzenden. Die Männer auf der Mitte der Bank rutschten unruhig hin und her und hielten die Augen die ganze Zeit zu Boden gesenkt. Die rebellischen Tribunen starrten mit grimmiger Miene und zusammengezogenen Augenbrauen trotzig und unbeeindruckt geradeaus.

»Ich sage euch, warum, Kollegen Senatoren.« Scaurus’ Stimme bebte vor Verachtung. »Einige lassen sich kaufen wie billiger Schmuck auf dem Jahrmarkt - diese Männer können wir zumindest verstehen! Andere haben raffiniertere Gründe, der erste Tribun von dieser Sorte war Tiberius Sempronius Gracchus. Ich meine den Volkstribun, der im Volk ein Werkzeug seiner eigenen Ziele sieht und der danach strebt, der Erste Mann in Rom zu werden, ohne sich diesen Rang gegenüber den anderen Mitgliedern seiner Klasse zu verdienen, wie Scipio Aemilianus das getan hat oder Scipio Africanus oder Aemilius Paullus, oder - wenn ich für meine Wenigkeit sprechen darf - Marcus Aemilius Scaurus, der Vorsitzende dieses Senats! Wir haben von den Griechen ein Wort entlehnt, das Volkstribunen vom Schlag eines Tiberius oder Gaius Gracchus treffend beschreibt: Wir nennen sie Demagogen. Wir gebrauchen das Wort allerdings nicht in genau demselben Sinn wie die Griechen. Unsere Demagogen bringen nicht eine nach Blut dürstende Stadt aufs Forum, sie stoßen auch nicht eigenhändig Senatoren von den Stufen der Curia und setzen ihren Willen nicht durch die Gewalt der Masse durch. Unsere Demagogen begnügen sich damit, die Besucher der Volksversammlung aufzuhetzen und ihren Willen mit Gesetzen durchzusetzen. Hin und wieder kommt es zu Gewalt, zugegeben, aber viel öfter müssen wir Senatoren zur Gewalt greifen, um den status quo wieder herzustellen. Denn unsere Demagogen sind Gesetzgeber, Verfasser von Gesetzen, sie sind viel raffinierter, perfider und gefährlicher als einfache Volksaufwiegler! Sie verderben das Volk, um ihre eigenen Ziele zu fördern. Und das, eingeschriebene Väter, verdient nur Verachtung. Trotzdem geschieht es jeden Tag, und jeden Tag dreister. Es ist der schnelle Weg zur Macht, der leichte Weg nach oben.«

Scaurus hielt inne und wandte sich um. Mit der linken Hand raffte er die schweren Falten seiner purpurgesäumten Toga zusammen, die sich um seinen Hals legten und ihm über die linke Schulter fielen. Die freie rechte Hand hob er, um seinen Worten durch Gesten Nachdruck zu verleihen.

»Der schnelle Weg zur Macht, der leichte Weg nach oben«, wiederholte er mit donnernder Stimme. »Wir wissen genau, wer diese Männer sind. An erster Stelle steht Gaius Marius, unser ehrenwerter Konsul, der sich, wie ich höre, ein drittes Mal zum Konsul wählen lassen will und wieder in absentia! Geschieht das auf unseren Wunsch? Nein! Natürlich durch das Volk! Wie hätte Gaius Marius dorthin gelangen können, wo er heute ist, wenn nicht durch das Volk? Einige von uns haben ihn bis aufs Messer, bis zur Erschöpfung, bekämpft - mit allen legalen Waffen, die das Arsenal unserer Verfassung zur Verfügung stellt! Vergebens. Gaius Marius hat die Unterstützung des Volkes, das Ohr des Volkes, und er hat die Taschen einiger Volkstribunen mit Geld gefüllt. Heutzutage reicht das. Weil er reich ist wie Krösus, kann er sich kaufen, was er auf anderem Wege nicht bekommt. Das ist Gaius Marius. Aber ich wollte nicht über ihn sprechen. Verzeiht mir, patres conscripti, daß ich meinen Gefühlen nachgegeben und mich so weit vom eigentlichen Thema meiner Rede entfernt habe.«

Scaurus kehrte dorthin zurück, wo er anfangs gestanden hatte. Dann wandte er sich der Bühne zu, auf der die Inhaber kurulischer Ämter saßen, und sprach direkt zu Gaius Memmius.

»Ich wollte eigentlich über einen anderen Aufsteiger sprechen, einen weniger spektakulären Aufsteiger als Gaius Marius. Einen Mann, der Senatoren zu seinen Vorfahren zählt, der fließend Griechisch spricht, eine gute Erziehung genossen hat und über eine so große Macht gebietet, daß er mit Sicherheit nie in seinem Leben Schweinekot gesehen hat - wenn er überhaupt etwas sehen würde! Kein Römer aus Rom freilich, auch wenn er etwas anderes behauptet. Ich spreche von dem Quästor Gnaeus Pompeius Strabo, von diesem ehrwürdigen Hause dazu eingesetzt, dem Statthalter Sardiniens, Titus Annius Albucius, zu dienen.

Wer ist dieser Gnaeus Pompeius Strabo? Ein Pompeius, der behauptet, mit der gleichnamigen Familie blutsverwandt zu sein, die seit Generationen Senatsmitglieder stellt; es wäre interessant zu erfahren, wie eng diese verwandtschaftlichen Beziehungen sind. Reich wie Krösus, halb Norditalien als Klientel, ein König auf seinen Ländereien. Das ist Gnaeus Pompeius Strabo.«

Scaurus’ Stimme schwoll zu einem Orkan an. »Senatoren! Wie weit ist es mit dieser ehrwürdigen Institution gekommen, wenn ein neuer Senator, der gerade Quästor ist, die Unverschämtheit und die Dreistigkeit besitzt, seinen Vorgesetzten anzuklagen? Haben wir denn so wenig junge Römer, daß wir nicht einmal dreihundert Plätze mit Römern besetzen können? Ich bin schockiert! Ist dieser Pompeius Schielauge wirklich so unbeleckt von jeglichen Manieren, die man von einem Senator erwartet, daß er auch nur davon träumen kann, seinen Vorgesetzten anzuklagen? Wie tief sind wir gesunken, wenn wir dulden, daß Nullen wie Pompeius Schielauge ihre Hintern auf Senatorenstühlen ausbreiten? Wie kommt er überhaupt dazu, sich so aufzuführen? Ignoranz und schlechte Kinderstube, das ist es! Es gibt Dinge, eingeschriebene Väter, die tut man einfach nicht! Zum Beispiel seinen Vorgesetzten oder enge Verwandte anklagen, einschließlich der angeheirateten Verwandten. Das gehört sich einfach nicht! Das ist unfein, dreist, ordinär, vulgär, anmaßend, dumm - wir haben in unserer Sprache gar nicht genügend Schimpfwörter, um alle Mängel eines so lästigen Pilzes wie dieses Gnaeus Pompeius Strabo, dieses Pompeius Schielauge aufzuzählen!«

Von der Bank der Tribunen kam ein Zwischenruf. »Marcus Aemilius«, rief Lucius Cassius, »Willst du damit sagen, daß Titus Annius Albucius Lob für sein Verhalten verdient?«

Der Senatsvorsitzende richtete sich auf wie eine Kobra und spie die nächsten Worte förmlich aus: »Werd endlich erwachsen, Lucius Cassius! Hier geht es nicht um Titus Annius. Natürlich wird mit ihm in angemessener Weise verfahren werden, in seinem Fall also mit einer Anklage. Wird er für schuldig befunden, erhält er die Strafe, die das Gesetz vorschreibt. Aber hier geht es um die Form, das Protokoll, die Etikette - in einem Wort, Lucius Cassius, um Benehmen! Unser lästiger Pilz Pompeius Schielauge hat sich eines eklatanten Verstoßes gegen die Regeln des guten Benehmens schuldig gemacht!«

An alle gewandt, fuhr Scaurus fort: »Senatoren, ich beantrage, daß Titus Annius Albucius wegen verräterischer Umtriebe zur Rechenschaft gezogen wird. Aber zugleich soll der Stadtprätor den Quästor Gnaeus Pompeius Strabo in einem geharnischten Brief davon in Kenntnis setzen, daß er erstens unter keinen Umständen ermächtigt wird, seinen Vorgesetzten anzuklagen, und daß er zweitens das Benehmen eines Bauern hat.«

Die Senatoren klatschten einmütig Beifall, was eine Abstimmung überflüssig machte.

Daraufhin meldete sich Lucius Marcius Philippus zu Wort. Scaurus’ versteckter Hinweis, Marius habe seine Dienste gekauft, hatte ihn gekränkt. »Gaius Memmius«, sagte er, und sein Näseln ließ an seiner aristokratischen Herkunft keinen Zweifel aufkommen, »meiner Meinung nach sollte der Senat gleich jetzt einen Ankläger für Titus Annius Albucius bestimmen.«

»Irgendwelche Einwände?« fragte Memmius und sah sich um.

Es gab keine Einwände.

»Gut«, fuhr Memmius fort, »dann ist der nächste Punkt der Tagesordnung, daß der Senat in der Sache Staat gegen Titus Annius Albucius einen Ankläger bestellt. Vorschläge zur Person des Anklägers?«

»Mein Teurer Gaius Memmius«, näselte Philippus, »es kommt nur eine Person in Frage!«

»Heraus mit der Sprache, Lucius Marcius.«

»Nun ja, unser gelehrter junger Rechtsanwalt Caesar Strabo. Ich denke doch, wir sollten Titus Annius nicht ganz um den Genuß bringen, von einer Stimme aus seiner Vergangenheit verfolgt zu werden! Ich meine, sein Ankläger sollte auch schielen!«

Der ganze Senat brach in Gelächter aus, und Scaurus lachte am lautesten von allen. Als die Senatoren sich wieder beruhigt hatten, sprachen sie sich einmütig für den schielenden jungen Gaius Julius Caesar Strabo, den jüngeren Bruder des Catulus Caesar und des Lucius Caesar, als Ankläger von Titus Annius Albucius aus. Damit rächten sie sich auf sprechende Weise an Pompeius Strabo.

Als Pompeius Strabo den geharnischten Brief des Senats erhielt - Gaius Memmius hatte noch eine Abschrift von Scaurus’ Rede dazugelegt, um Salz in die Wunden zu streuen -, wußte er Bescheid. Er schwor sich, es den blasierten Herren Senatoren eines Tages gründlich heimzuzahlen, dann nämlich, wenn nicht mehr er auf sie angewiesen war, sondern sie auf ihn.

Trotz des erbitterten Kampfes, den Scaurus und Metellus Numidicus führten, konnten sie in der Volksversammlung nicht genügend Wähler auf ihre Seite bringen, um zu verhindern, daß Gaius Marius erneut in Abwesenheit als Konsul gewählt wurde. Auch die Zenturienversammlung konnten sie nicht auf ihre Seite ziehen. Die Wähler der Zweiten Zensusklasse hatten es Scaurus noch nicht verziehen, daß er sie in seiner denkwürdigen Rede mittelmäßige Männer genannt und mit der Dritten und Vierten Klasse in einen Topf geworfen hatte. Die Zenturienversammlung beauftragte Gaius Marius, weiterhin als Feldherr den Krieg gegen die Germanen zu führen, und wollte nichts von seiner Ablösung hören. Gaius Marius, der zum zweiten Mal hintereinander gewählte erste Konsul, war der Mann der Stunde. Er konnte jetzt von sich sagen, daß er der Erste Mann in Rom war, ohne Widerspruch befürchten zu müssen.

»Aber er ist nicht primus inter pares, der Erste unter Gleichen«, sagte Metellus Numidicus zu dem jungen Marcus Livius Drusus. Drusus war nach seiner kurzen militärischen Karriere vom Vorjahr wieder ans Gericht zurückgekehrt, und Metellus Numidicus hatte den jungen Mann zusammen mit seinem Freund und Schwager Caepio Junior vor dem Amtssitz des Stadtprätors getroffen.

»Ich muß gestehen, Quintus Caecilius«, sagte Drusus, und in seiner Stimme schwang nicht das leiseste Bedauern mit, »daß ich diesmal nicht wie meine Standesgenossen gestimmt habe. Ich habe für Gaius Marius gestimmt - ja, da staunst du, was? Ich habe nicht nur für Gaius Marius gestimmt, ich habe auch die meisten meiner Freunde und alle meine Klienten bewogen, für ihn zu stimmen.«

»Du bist ein Verräter an deiner Klasse!« brauste Numidicus auf.

»Überhaupt nicht, Quintus Caecilius«, erwiderte Drusus ruhig. »Vergiß eines nicht: Ich war in Arausio dabei. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, was passieren kann, wenn die Arroganz der Senatoren stärker ist als das Gebot des gesunden römischen Menschenverstandes. Und ich sage dir ins Gesicht: Auch wenn Gaius Marius so schielen würde wie Caesar Strabo und so unverschämt wäre wie Pompeius Strabo, von so niederer Abkunft wie ein Hafenarbeiter im Hafen von Rom und so vulgär wie der Ritter Sextus Perquitienus - ich hätte ihn trotzdem gewählt! Ich glaube nicht, daß wir einen anderen Soldaten seines Kalibers haben, und ich kann nicht gutheißen, daß ihm ein Konsul vor die Nase gesetzt wird, der ihn so behandelt wie Quintus Servilius Caepio den Gnaeus Mallius Maximus!«

Drusus entfernte sich würdevoll, und Metellus Numidicus starrte ihm mit offenem Mund nach.

»Er hat sich verändert«, sagte Caepio Junior. Er folgte Drusus immer noch auf Schritt und Tritt, allerdings seit ihrer Rückkehr aus Gallia Transalpina nicht mehr mit derselben Begeisterung wie früher. »Mein Vater sagt, wenn Marcus Livius nicht aufpaßt, wird er noch ein ganz schlimmer Demagoge.«

»Unmöglich!« rief Metellus Numidicus. »Immerhin war sein Vater Zensor und der erbittertste Gegner des Gaius Gracchus. Der junge Marcus Livius hat eine in jeder Hinsicht konservative Erziehung genossen!«

»Arausio hat ihn verändert«, beharrte Caepio Junior. »Vielleicht war es der Schlag, den er auf den Kopf bekommen hat - das meint jedenfalls mein Vater. Seit seiner Rückkehr ist er mit diesem Marser Silo, den er nach der Schlacht kennenlernte, dick befreundet.« Caepio schnaubte verächtlich. »Wenn Silo von Alba Fucentia nach Rom kommt, spielt er in Marcus Livius’ Haus den großen Herrn, als ob alles ihm gehörte, und die beiden sitzen stundenlang zusammen und reden. Mich fragen sie nie, ob ich dabeisein will.«

»Eine bedauerliche Sache, Arausio«, sagte Metellus Numidicus etwas gewunden. Schließlich stand vor ihm der Sohn des Mannes, der die Hauptschuld an der Niederlage trug.


Der junge Caepio verdrückte sich, sobald er konnte, und machte sich auf den Heimweg. Er verspürte eine vage Unzufriedenheit, die ihn begleitete seit - er wußte nicht genau, seit wann, aber es mußte etwa zu der Zeit gewesen sein, als er Drusus’ Schwester geheiratet hatte und Drusus seine Schwester. Er hätte nicht sagen können, warum er unzufrieden war; er war es einfach. Und seit Arausio hatte sich so viel geändert! Sein Vater war auch nicht mehr derselbe. Im einen Augenblick kicherte er noch fröhlich über einen Witz, den sein Sohn nicht verstand, im nächsten versank er schon wieder in tiefste Verzweiflung, weil die öffentliche Empörung über Arausio immer höhere Wellen schlug, und wenig später brüllte er wütend, daß alles ungerecht sei - ohne daß sein Sohn verstanden hätte, was er mit »alles« meinte.

Wenn der junge Caepio an Arausio dachte, fühlte er sich immer schuldig. Während Drusus, Sertorius, Sextus Caesar und sogar dieser Silo auf dem Schlachtfeld gelegen hatten, von den anderen bereits als tot aufgegeben, hatte er das Hasenpanier ergriffen und war über den Fluß geflohen und um sein Leben gerannt wie der geringste proletarische Rekrut seiner Legion. Natürlich hatte er darüber kein Wort verlauten lassen, nicht einmal gegenüber seinem Vater. Es war des jungen Caepios schreckliches Geheimnis. Trotzdem fragte er sich jeden Tag, wenn er Drusus begegnete, wieviel Drusus wußte.

Seine Frau Livia Drusa saß im Wohnzimmer, auf den Knien ihre kleine Tochter, die sie gerade gestillt hatte. Seine Ankunft rief auf ihrem Gesicht wie stets ein Lächeln hervor. Eigentlich hätte ihn das freuen sollen, aber das tat es nicht. Die Augen seiner Frau widersprachen ihrem Mund: Sie lächelten nie und zeigten nie irgendein Interesse. Der junge Caepio hatte festgestellt, daß seine Frau ihn nie anschaute, wenn sie zu ihm sprach oder ihm zuhörte, nicht einmal einen kurzen Augenblick. Trotzdem hatte kein Mann je eine freundlichere, fügsamere Frau gehabt. Nie war sie zu müde oder fühlte sich unwohl, wenn er sie begehrte, und sie fand sich mit allem ab, was er dann von ihr verlangte. Natürlich sah er bei solchen Gelegenheiten ihre Augen nicht. Warum war er sich dann so sicher, daß darin nicht die leiseste Spur von Vergnügen zu entdecken war?

Ein klarsichtigerer, intelligenterer Mann hätte Livia Drusa deswegen sanft zurechtgewiesen, aber der junge Caepio neigte dazu, alles seiner Einbildung zuzuschreiben. Dabei reichte seine Einbildungskraft nicht einmal aus, um zu verstehen, daß er gar keine besaß. Zwar war er sich bewußt, daß irgend etwas von Grund auf nicht stimmte, aber soviel er auch nachdachte, er fand nicht heraus, was das war. Nie wäre er darauf verfallen, daß sie ihn nicht liebte, obwohl er vor ihrer Heirat überzeugt gewesen war, daß sie eine ausgeprägte Abneigung gegen ihn hatte. Aber das hatte er sich gewiß nur eingebildet. Sie konnte keine Abneigung gegen ihn gehabt haben, wenn sie jetzt eine so vorbildliche römische Ehefrau war. Also - mußte sie ihn lieben.

Seine Tochter Servilia war für ihn mehr ein Gegenstand als ein menschliches Wesen, und er war sehr enttäuscht, daß seine Frau ihm keinen Sohn geschenkt hatte. Er setzte sich hin, während Livia Drusa dem Baby ein paarmal über den Rücken strich und es dann dem makedonischen Kindermädchen übergab.

»Wußtest du übrigens, daß dein Bruder bei den Konsulwahlen für Gaius Marius gestimmt hat?« fragte Caepio.

Livia Drusas Augen weiteten sich. »Nein. Bist du sicher?«

»Das hat er heute zu Quintus Caecilius Metellus Numidicus gesagt. Ich stand daneben. Dann hat er noch etwas von Arausio geschwafelt. Ich wollte, die Feinde meines Vaters würden Arausio endlich ruhen lassen!«

»Das kommt mit der Zeit, Quintus Servilius.«

»Aber es wird immer schlimmer«, sagte der junge Caepio düster.

»Bist du zum Essen da?«

»Nein, ich muß gleich wieder weg. Ich esse bei Lucius Licinius Orator. Marcus Livius ist auch da.«

»Ach so«, sagte Livia Drusa leise.

»Tut mir leid, ich wollte es dir heute morgen sagen, aber ich habe es vergessen.« Der junge Caepio stand auf. »Es macht doch nichts, oder?«

»Nein, natürlich nicht.« Die Stimme seiner Frau war ausdruckslos.


Dabei machte es ihr sehr wohl etwas aus. Nicht weil sie sich nach der Gesellschaft ihres Mannes gesehnt hätte, sondern weil ein wenig mehr Voraussicht seinerseits Geld und Küchenarbeit hätte sparen helfen. Sie wohnten bei dem alten Caepio, der sich ständig über die Höhe der Haushaltsrechnungen beklagte und Livia Drusa vorwarf, eine verschwenderische Hausfrau zu sein. Der alte Caepio wäre allerdings genausowenig wie sein Sohn auf den Gedanken gekommen, Livia Drusa im voraus zu sagen, wann er zum Essen da war, und so mußte Livia Drusa jeden Tag ein vollständiges Essen kochen lassen, auch wenn dann keiner zu Hause war und das Essen fast unberührt in die Küche zurückging, zur großen Freude der Sklaven.

»Soll ich das Baby ins Kinderzimmer bringen, domina?« fragte das makedonische Mädchen.

Livia Drusa schreckte aus ihren Gedanken auf und nickte. Sie bedachte die Kleine nicht einmal mit einem flüchtigen Blick, als das Kindermädchen sie hinaustrug. Daß sie die kleine Servilia stillte, geschah keineswegs aus Sorge um das Gedeihen ihrer Tochter, sondern weil sie wußte, daß sie nicht wieder ein Kind empfangen konnte, solange sie stillte.

Sie machte sich nicht viel aus der kleinen Servilia. Jedesmal, wenn sie den kleinen Wurm ansah, sah sie eine Miniaturausgabe des Vaters - seine kurzen Beine, seine tiefschwarzen Haare, schwarzer Flaum auf Rücken, Armen und Beinen und dichte schwarze Borsten auf dem Kopf, die tief in Stirn und Nacken wuchsen wie das Fell eines Tieres. In Livia Drusas Augen besaß die kleine Servilia keinerlei Vorzüge, oder vielmehr nahm sie die Vorzüge gar nicht erst wahr, obwohl sie keineswegs zu verachten waren: Das Mädchen versprach eine Schönheit zu werden mit seinen großen, schwarzen Augen und dem winzigen, wie eine Rosenknospe geformten Mund, der ein Geheimnis zu verschließen schien.

Die achtzehn Monate ihrer Ehe hatten Livia Drusa nicht mit ihrem Schicksal versöhnt, auch wenn sie kein einziges Mal gegen die Befehle ihres Bruders verstoßen hatte. Ihr Benehmen war untadelig, auch während der häufigen sexuellen Begegnungen mit dem jungen Caepio. Ihre hohe Abstammung und ihr hoher gesellschaftlicher Rang verboten glücklicherweise schon von selbst, daß sie die Avancen ihres Mannes leidenschaftlich erwiderte. Der junge Caepio wäre entsetzt gewesen, wenn sie plötzlich ekstatisch aufgestöhnt oder sich im Bett herumgeworfen hätte, als genieße sie den Akt wie eine Kurtisane. So genügte sie ihrer Pflicht, wie es sich für eine Frau ihres Standes ziemte - flach auf dem Rücken ausgestreckt, die Hüften reglos, in unerschütterlicher Demut und mit einem genau dosierten Maß an Wärme. Aber wie schwer ihr das fiel! Schwerer als alles andere in ihrem Eheleben. Denn wenn ihr Mann sie berührte, hätte sie am liebsten geschrieen über diese Schändung und Vergewaltigung und sich in sein Gesicht erbrochen. Sie empfand keinen Funken Mitleid für den jungen Caepio, der eigentlich nichts getan hatte, was ihre leidenschaftliche Abneigung gegen ihn rechtfertigte. Er und ihr Bruder Drusus waren inzwischen zu einem einzigen Schatten verschmolzen, der drohend über ihr hing und ihr das Leben noch viel unerträglicher machen konnte, wenn sie sich nicht fügte. Niedergedrückt von einer schrecklichen Angst, schleppte sie sich durch die Tage dem Tod entgegen, und jeden Tag wußte sie, daß sie nie erfahren würde, was es hieß zu leben.

Am schlimmsten war die isolierte Lage des Hauses. Das Haus von Servilius Caepio lag auf der dem Circus Maximus zugewandten Seite des Palatin. Man sah auf den Aventin hinüber und hatte unter sich statt anderer Häuser nur einen steilen, felsigen Hang. Sie konnte nicht mehr wie im Haus ihres Bruders von der Loggia Ausschau halten, ob sich auf dem Balkon des darunterliegenden Hauses ihr rothaariger Odysseus blicken ließ.

Der alte Caepio war ein unausstehlicher Mensch und wurde mit jedem Tag unausstehlicher. Er hatte nicht einmal eine Frau, die Livia Drusas Bürde hätte erleichtern können, und Livia Drusa hatte ein so distanziertes Verhältnis zu ihm und zu seinem Sohn, daß sie nie den Mut aufbrachte, einen der beiden zu fragen, ob die Frau des einen und Mutter des anderen noch lebte oder schon tot war. Natürlich verschlechterte sich die Laune des alten Caepio mit der Zeit noch mehr durch die Folgen der Katastrophe von Arausio. Zuerst hatte man ihm sein Amt weggenommen, dann hatte der Volkstribun Lucius Cassius Longinus ein Gesetz erwirkt, das ihm den Sitz im Senat aberkannte, und jetzt verging kaum ein Monat, in dem nicht irgendein tatendurstiger Möchtegerndemagoge versuchte, ihn unter einem fadenscheinigen Vorwand wegen Verrat vor Gericht zu bringen. Durch den Haß des Volkes und seinen eigenen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb buchstäblich auf sein Haus beschränkt, verbrachte er einen Großteil der Zeit damit, Livia Drusa zu beobachten - und schonungslos zu kritisieren.

Livia Drusa ihrerseits trug durch ungeschicktes Benehmen noch zur Verschlimmerung der Lage bei. Eines Tages machte die ständige Überwachung durch ihren Schwiegervater sie so wütend, daß sie in den Garten des Peristyls marschierte, wo sie keiner hören konnte, und dort laut mit sich selber sprach. Gerade als die Sklaven sich unter den Säulen versammelten und flüsternd darüber debattierten, was Livia Drusa wohl vorhatte, stürmte der alte Caepio aus seinem Arbeitszimmer, das Gesicht hart wie Feuerstein.

Er eilte auf dem Gartenweg auf sie zu und baute sich zornig vor ihr auf. »Was glaubst du, was du hier tust, Mädel?« wollte er wissen

Unschuldig riß sie ihre großen, dunklen Augen auf. »Ich rezitiere den Gesang von König Odysseus.«

»Schluß damit!« fauchte ihr Schwiegervater. »Du machst dich zum Gespött der Leute! Die Sklaven sagen, du seist verrückt geworden! Wenn du unbedingt Homer rezitieren mußt, dann dort wo man hört, daß es Homer ist! Obwohl es meinen Horizont übersteigt, warum es sein muß.«

»Es vertreibt die Zeit.«

»Man kann sich die Zeit besser vertreiben, Mädel. Setz dich an deinen Webstuhl oder sing deinem Baby etwas vor; oder was Frauen sonst tun. Marsch, marsch, ins Haus mit dir!«

»Ich weiß nicht, was Frauen sonst tun, Vater.« Livia Drusa stand auf. »Was tun sie?«

»Sie treiben die Männer zum Wahnsinn!« Caepio ging zu seinem Arbeitszimmer zurück und schlug die Tür hinter sich zu.

Danach wurde ihr Benehmen noch exzentrischer. Sie befolgte zwar Caepios Rat und ließ sich einen Webstuhl aufstellen, aber sie begann, gleich mehrere Leichentücher zu weben, und bei der Arbeit sprach sie laut mit einem imaginären König Odysseus. Sie tat so, als sei er seit Jahren fort und als müsse sie Leichentücher weben, um den Tag hinauszuschieben, an dem sie sich einen neuen Gatten wählen mußte. Sie unterbrach ihren Monolog immer wieder und neigte lauschend den Kopf auf die Seite.

Diesmal schickte der alte Caepio seinen Sohn vor, um zu erkunden, was los war.

»Ich webe mein Leichentuch«, sagte sie ruhig, »und ich versuche herauszufinden, wann König Odysseus heimkehrt, um mich zu retten. Denn er wird mich retten, mußt du wissen. Eines Tages.«

Der junge Caepio sah sie entsetzt an. »Dich retten? Wovon redest du, Livia Drusa?«

»Ich habe nie einen Fuß über die Schwelle dieses Hauses gesetzt.«

Der junge Caepio warf die Hände in die Luft und stöhnte verzweifelt auf. »Bei Juno, wenn du ausgehen willst, was hält dich auf?«

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Zuerst fiel ihr nichts ein, dann sagte sie: »Ich habe kein Geld.«

»Du brauchst Geld? Ich gebe dir Geld, Livia Drusa! Wenn du dafür aufhörst, meinen Vater wahnsinnig zu machen! Geh aus, wann du willst! Kauf dir, was du willst!«

Auf Livia Drusas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, und dann ging sie zu ihrem Mann und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Danke«, sagte sie, und sie meinte es so aufrichtig, daß sie ihn sogar umarmte.

So leicht war das! Die ganzen Jahre erzwungener Isolation waren auf einmal verflogen. Livia Drusa hatte nie daran gedacht, daß sich mit dem Wechsel vom Haus des Bruders ins Haus ihres Mannes und ihres Schwiegervaters auch andere Umstände ein wenig verändert haben könnten.


Lucius Appuleius Saturninus wurde zum Volkstribunen gewählt, und seine Dankbarkeit gegenüber Gaius Marius kannte keine Grenzen mehr. Jetzt konnte er sich erkenntlich zeigen! Außerdem war er, wie er bald feststellte, nicht ganz ohne Bundesgenossen. Einer der anderen Volkstribunen, ein gewisser Gaius Norbanus, war ein Klient von Marius aus Etrurien. Er verfügte über ein beträchtliches Vermögen, hatte aber im Senat keine Macht, weil er nicht aus einer Senatorenfamilie kam. Und dann war da noch Marcus Baebius, aus jenem Zweig des Geschlechts Baebius, das schon so viele Tribunen gestellt hatte und mit Recht im notorischen Ruf der Bestechlichkeit stand. Marcus Baebius konnte man notfalls kaufen.

Leider saßen am anderen Ende der Tribunenbank drei einflußreiche konservative Gegenspieler. Am äußersten Ende saß Lucius Aurelius Cotta, Sohn des verstorbenen Konsuls Cotta, Neffe des vormaligen Prätors Marcus Cotta und Halbbruder von Aurelia, der Frau des jungen Gaius Julius Caesar. Neben Cotta saß Lucius Antistius Reginus aus einer angesehenen, wenngleich nicht herausragenden Familie. Es ging das Gerücht, er sei ein Klient des Konsulars Quintus Servilius Caepio, und deshalb haftete Caepios Makel auch ihm an. Der dritte war Titus Didius, ein tatkräftiger, ruhiger Mann, dessen Familie ursprünglich aus der Campania kam und der sich einen guten Ruf als Soldat erworben hatte.

In der Mitte der Bank saßen einige Volkstribunen von geringerer Abstammung. Sie sahen ihre Hauptaufgabe im kommenden Jahr offensichtlich darin, zu verhindern, daß die Kontrahenten an den beiden Enden der Bank sich gegenseitig zerfleischten. Denn zwischen den Männern, die Scaurus Demagogen genannt hätte, und den Männern, die er empfohlen hätte, weil sie nie vergaßen, daß sie zuerst Senatoren und erst dann Volkstribunen waren, gab es tatsächlich keinerlei Gemeinsamkeit.

Saturninus war das egal. Er war mit den meisten Stimmen ins Amt gewählt worden, dicht gefolgt von Gaius Norbanus. Das hatte den Konservativen gezeigt, daß Gaius Marius beim Volk nach wie vor beliebt war - und daß er keine Kosten gescheut hatte, Stimmen für Saturninus und Norbanus zu kaufen. Jetzt mußten Saturninus und Norbanus schnell arbeiten, denn das Interesse der Volksversammlung an der Politik ließ nach den ersten drei Monaten des Jahres rapide nach. Das lag teilweise daran, daß das Volk sich langweilte, teilweise daran, daß kein Volkstribun sein Tempo länger als drei Monate durchhielt. Ein Volkstribun verbrauchte sich früh, wie der Hase in der Fabel des Äsop, während die alte Schildkröte des Senats langsam, aber stetig vorwärtskroch.

»Sie werden nur die Staubwolke sehen, die ich aufwirble«, sagte Saturninus zu Glaucia, als der zehnte Tag des Monats Dezember näherrückte, der Tag, an dem die neuen Tribunen ihr Amt antreten sollten.

»Was kommt als erstes?« fragte Glaucia träge. Er war etwas verärgert darüber, daß er als der ältere der beiden noch keine Gelegenheit gehabt hatte, Volkstribun zu werden.

Saturninus grinste wölfisch. »Ein kleines Ackergesetz, das meinem Freund und Wohltäter Gaius Marius helfen wird.«

Saturninus plante sein Vorgehen sorgfältig. Er stellte in der Volksversammlung in einer glänzenden Rede ein neues Gesetz vor, das vorsah, den ager Africanus insularum zu verteilen, der von Lucius Marcius Philippus im Vorjahr den öffentlichen Ländereien zugeschlagen und für das Volk »gespart« worden war. Das Land sollte unter den Proletariern von Marius’ Armee aufgeteilt werden, wenn sie aus dem Dienst in den Legionen ausschieden, hundert iugera für jeden Soldaten. Saturninus genoß die Aufregung um sein Gesetz in vollen Zügen - das begeisterte Geschrei des Volkes, das entrüstete Geheul der Senatoren, die Faust, die Lucius Cotta schüttelte, und die starke, ungeschminkte Rede, mit der Gaius Norbanus seine Vorlage unterstützte.

»Ich hätte nie gedacht, daß das Tribunat so interessant sein kann«, sagte er, als er und Glaucia nach Auflösung der contio, der beratenden Volksversammlung, allein in Glaucias Haus speisten. »Du hast den Senatoren ganz schön eingeheizt.« Glaucia grinste bei der Erinnerung an den Tumult. »Ich dachte schon, Metellus Numidicus würde platzen.«

»Schade, daß er nicht geplatzt ist.« Saturninus legte sich zufrieden zurück und ließ die Augen nachdenklich über die Decke schweifen, auf die der Rauch der Lampen und Kohlenbecken rußige Muster gemalt hatte und die dringend neu gestrichen werden mußte. »Seltsam, wie sie denken, was? Du brauchst das Wort ›Ackergesetz‹ nur zu flüstern, und schon fallen sie über dich her, schreien etwas von den Gracchen und sind ganz entsetzt bei der Vorstellung, umsonst etwas an Männer abgeben zu müssen, die nicht den Grips haben, selbst zu Vermögen zu kommen. Auch die Proletarier geben nicht gern umsonst etwas weg!«

»Der Plan ist für alle rechtdenkenden Römer ja auch ziemlich neu«, warf Glaucia ein.

»Und als sie dann darüber weg waren, haben sie sich über die Größe der Parzellen aufgeregt - zehnmal so groß wie ein kleiner Bauernhof in der Campania, haben sie gejammert. Ich hätte gedacht, sie wüßten selber, daß eine Insel in der Kleinen Syrte nicht einmal ein Zehntel so fruchtbar ist wie das unfruchtbarste Land in der Campania, und daß der Regen dort nicht einmal ein Zehntel so häufig fällt.«

»Aber eigentlich ging die Diskussion doch darum, daß Gaius Marius dadurch viele Tausende neuer Klienten bekommt, nicht wahr? Da drückt die Senatoren doch in Wirklichkeit der Schuh. Jeder aus dem Dienst ausgeschiedene Veteran einer Proletarierarmee ist ein potentieller Klient seines Feldherrn - vor allem, wenn der ihm ein Stück Land beschafft, auf dem er seine alten Tage verbringen kann. Ihm ist er dankbar! Er sieht nicht, daß der Staat, der das Land ja auftreiben muß, sein eigentlicher Wohltäter ist. Er bedankt sich nur bei seinem Feldherrn. Er bedankt sich bei Gaius Marius. Darüber sind die Senatoren so entrüstet.«

»Stimmt. Aber dagegen zu kämpfen, ist keine Antwort, Gaius Servilius. Die Antwort ist, ein allgemeines Gesetz zu beschließen, das für alle Zeiten die Ansprüche proletarischer Legionäre regelt: zehn iugera gutes Land für jeden Soldaten, der lange genug in den Legionen gedient hat - sagen wir fünfzehn Jahre? Oder zwanzig? Unabhängig davon, unter wieviel Feldherrn er gedient und an wieviel verschiedenen Feldzügen er teilgenommen hat.«

Glaucia mußte von Herzen lachen. »Das klingt zu sehr nach gesundem Menschenverstand, Lucius Appuleius! Und denk an die Ritter, die so ein Gesetz verbittert. Sie könnten weniger Land pachten - von unseren geschätzten Senatoren, die in der Landwirtschaft tätig sind, ganz zu schweigen!«

»Wenn es Land in Italien wäre, würde ich sie ja verstehen«, sagte Saturninus. »Aber Inseln vor der africanischen Küste? Ich bitte dich, Gaius Servilius! Was können sie diesen Hunden bedeuten, die ihre stinkenden alten Knochen so eifersüchtig bewachen? Verglichen mit den Millionen iugera, die Gaius Marius im Namen Roms am Ubus und am Chelif und um den Tritonis-See vergeben hat - und zwar genau an die Leute, die jetzt so schreien! -, ist das doch ein Klacks!«

Glaucia verdrehte seine langbewimperten graugrünen Augen, legte sich auf den Rücken, wedelte mit den Händen wie eine gestrandete Seeschildkröte mit den Flossen und begann wieder zu lachen. »Trotzdem hat mir Scaurus’ Rede am besten gefallen. Scaurus ist ein kluger Bursche. Die übrigen Senatoren sind unwichtig, abgesehen von dem Einfluß, den sie haben.« Er hob den Kopf und starrte Saturninus an. »Bist du für morgen im Senat gerüstet?«

»Ich denke doch«, sagte Saturninus aufgeräumt. »Lucius Appuleius kommt in den Senat zurück! Und diesmal können sie mich nicht rausschmeißen, bevor meine Amtszeit abgelaufen ist! Dazu müßten sie schon die fünfunddreißig Tribus bemühen, und das werden sie schön bleiben lassen. Ob es den Senatoren gefällt oder nicht, ich kehre in ihre geheiligten Hallen zurück, angriffslustig wie ein Wespe - und genauso frech.«


Saturninus betrat den Senat, als gehörte er ihm. Er verbeugte sich tief vor dem Senatsvorsitzenden Scaurus und grüßte mit der Hand nach rechts und links. Die Curia war fast voll besetzt, sicheres Zeichen einer bevorstehenden Redeschlacht. Dabei war der Ausgang nicht weiter wichtig, wie Saturninus wußte, denn der eigentliche Kampf würde außerhalb der Curia entschieden werden, auf dem Versammlungsplatz der Komitien. Aber heute war ein Tag persönlicher Genugtuung für ihn: Der in Ungnade gefallene Getreidequästor hatte sich zum Volkstribunen gewandelt, eine wahrhaft bittere Überraschung für die einflußreichen Konservativen.

Saturninus hatte sich für seine Rede vor dem Senat eine neue Strategie zurechtgelegt, die er später auch vor der Versammlung der Plebs anwenden wollte. Dies war sozusagen der Probelauf.

»Die Macht Roms ist schon seit langem nicht mehr auf Italien beschränkt«, begann er. »Wir alle wissen, was für Sorgen König Jugurtha Rom bereitet hat. Wir alle sind unserem verehrten Konsul Gaius Marius auf ewig dankbar, daß er den Krieg in Africa so erfolgreich beendet hat - und endgültig. Aber wie können wir in Rom heute künftigen Generationen garantieren, daß sie die Früchte, die unsere Provinzen bringen, auch weiterhin in Frieden genießen können? Wir haben im Umgang mit den Sitten und Gebräuchen der nichtrömischen Völker unserer Provinzen eine Tradition entwickelt: Sie dürfen weiterhin frei ihre Religion ausüben, sie dürfen wie bisher Handel treiben und ihre politische Organisation beibehalten, vorausgesetzt, sie behindern oder bedrohen Rom dadurch nicht. Aber eine der weniger erfreulichen Nebenwirkungen dieser Tradition der Nichteinmischung ist die Ignoranz unserer Provinzen. Keine Provinz, die weiter weg ist als Gallia Cisalpina oder Sizilien, weiß genug von Rom und den Römern, daß sie es aufgrund dieses Wissens vorzieht, mit Rom zusammenzuarbeiten, anstatt Rom Widerstand zu leisten. Wenn die Numider uns besser gekannt hätten, hätte Jugurtha sie nie überreden können, ihm zu folgen. Wenn das Volk von Mauretanien uns besser gekannt hätte, hätte Jugurtha König Bocchus nie überreden können, sich ihm anzuschließen.«

Saturninus räusperte sich. Noch hörten die Senatoren ihm friedlich zu - aber er war auch noch nicht bei seinem eigentlichen Thema angelangt. Dazu kam er jetzt: »Das bringt mich zum ager Africanus insularum. Strategisch gesehen besitzen diese Inseln kaum Bedeutung. Sie sind klein. Keiner von uns hier wird sie vermissen. Es gibt dort weder Gold noch Silber noch Eisen noch exotische Gewürze. Der Boden ist nicht besonders fruchtbar, verglichen mit dem sagenhaften Reichtum des Landes am Bagradas, wo eine ganze Reihe der hier Versammelten und viele Ritter der Ersten Klasse Getreidefelder besitzen. Warum sollten wir die Inseln also nicht den Proletariern des Gaius Marius geben, wenn sie aus der Armee ausscheiden? Wollen wir wirklich, daß vierzigtausend Veteranen die Tavernen und Gassen Roms unsicher machen? Ohne Arbeit, ohne Ziel und ohne Geld, wenn sie ihren kleinen Anteil an der Beute aufgebraucht haben? Ist es nicht für sie - und für Rom - besser, wenn sie auf dem ager Africanus insularum siedeln? Denn, eingeschriebene Väter, dort können sie auch als Veteranen noch eine Aufgabe erfüllen! Sie können Rom nach Africa tragen! Unsere Sprache, unsere Sitten, unsere Götter, unsere ganze Lebensweise! Durch unsere tapferen, lebenslustigen römischen Legionäre können die Völker unserer Provinz Africa Rom besser kennenlernen, denn die Legionäre sind Menschen wie sie - nicht reicher, nicht intelligenter, nicht besser gestellt als die meisten Einheimischen. Sie werden mit ihnen im täglichen Leben verkehren, und einige werden einheimische Frauen heiraten. Alle werden sich verbrüdern. Und das Ergebnis ist weniger Krieg und mehr Frieden.«

Saturninus hatte nüchtern und überzeugend gesprochen, ohne die bombastischen Sätze und Gesten der kleinasiatischen Rhetorik. Je länger er redete, desto mehr begann er zu glauben, daß die sturen, elitären Senatoren endlich einsehen würden, in was für eine glorreiche Zukunft die Vision von Männern wie Gaius Marius und ihm selbst ihr geliebtes Rom führen würde.

Auch als er zu seinem Platz am Ende der Tribunenbank zurückkehrte, spürte er in dem Schweigen um ihn nichts, was diesen Eindruck widerlegt hätte. Bis ihm plötzlich bewußt wurde, daß die Senatoren nur warteten. Darauf warteten, daß ihre Anführer ihnen den Weg zeigten. Schafe waren sie, Schafe allesamt. Dümmliche, wollige Schafe mit erbsengroßen Gehirnen.

»Darf ich?« fragte der pontifex maximus Lucius Caecilius Metellus Delmaticus den zweiten Konsul Gaius Flavius Fimbria, der die Sitzung leitete.

Fimbria nickte. »Du hast das Wort, Lucius Caecilius.«

Delmaticus stand auf. Sein Zorn, bis dahin gut verborgen, flammte auf wie Zunder. »Rom ist einzigartig!« tobte er so laut, daß mehrere Zuhörer zusammenfuhren. »Wie kann jemand, der die Ehre hat, diesem hohen Hause anzugehören, sich erdreisten, einen Plan vorzuschlagen, der den Rest der Welt zu einer Imitation Roms machen würde?«

Delmaticus’ sonst zur Schau getragene vornehme Herablassung war verschwunden. Er schwoll an und wurde puterrot, bis die dunklen Äderchen auf seinen feisten, rosigen Backen sich nicht mehr von den Backen selbst abhoben. Und er zitterte, vibrierte fast so schnell wie die Flügel einer Motte, so wütend war er. Gebannt und erschrocken beugten sich die Senatoren vor, um einen Delmaticus zu hören, den sie bisher noch nie erlebt hatten.

»Wir kennen diesen Römer doch, eingeschriebene Väter«, schmetterte er. »Lucius Appuleius Saturninus ist ein Dieb, der sich schamlos an Hungersnöten bereichert, ein vulgäres Weib, das kleine Jungen verführt und nach seiner Schwester und seiner kleinen Tochter lüstet, eine Marionette in den Händen des arpinischen Marionettenspielers in Gallia Transalpina, eine Küchenschabe, die aus der stinkenden Gosse Roms gekrochen ist, ein Zuhälter, eine Tunte, Verfasser geiler Schriften und der vulgärste Bock der Stadt! Was weiß er von Rom, was weiß sein Meister, der Bauer aus Arpinum, von Rom? Rom ist einzigartig! Man darf Rom nicht der Welt zum Fraß vorwerfen, wie man in die Kloake scheißt oder in die Gosse spuckt! Sollen wir zusehen, wie unser Blut durch die Verbindung mit den Lotterweibern eines kunterbunten Völkergemischs verdünnt und verdorben wird? Sollen unsere Ohren künftig bei Reisen in ferne Länder durch das Kauderwelsch eines verderbten Lateins beleidigt werden? Ich sage: Laßt sie weiterhin Griechisch sprechen! Laßt sie ihren Serapis vom Skrotum verehren, ihre Astarte vom Anus anbeten! Was schadet es uns? Aber sollen wir ihnen etwa Quirinus geben? Wer sind denn die Quiriten, die Kinder des Quirinus? Wir allein! Denn wer ist Quirinus? Nur ein Römer kann das wissen! Quirinus ist der Geist der römischen Bürgerschaft, der Gott der Gemeinschaft der Römer; unbesiegt, weil Rom nie besiegt wurde - und nie besiegt werden wird, Quiriten!«

In der Curia brach ein wilder Beifallssturm los. Während der pontifex maximus zu seinem Stuhl zurückwankte und darauf niedersank, kam es zu tumultartigen Szenen. Männer weinten, trampelten mit den Füßen, klatschten sich die Hände wund und umarmten sich mit tränenüberströmten Gesichtern.

Ein solcher Überschwang der Gefühle verebbte freilich wie die Woge, die sich schäumend am Basaltfelsen bricht. Schnell waren die Tränen wieder getrocknet, und die Gemüter hatten sich wieder beruhigt. Aber die römischen Senatoren hatten sich für diesen Tag restlos verausgabt. Mit bleiernen Füßen schleppten sie sich nach Hause, um im Traum noch einmal jenen magischen Moment zu durchleben, in dem sie in einer Vision den gesichtslosen Quirinus vor sich gesehen hatten, wie er seine Toga über sie warf wie ein Vater über seine ihn liebenden und ihm treu ergebenen Söhne.

Die Curia war fast leer, als Crassus Orator, Quintus Mucius Scaevola, Metellus Numidicus, Catulus Caesar und der Senatsvorsitzende Scaurus wieder so weit ernüchtert waren, daß sie daran denken konnten, ihr begeistertes Gespräch abzubrechen und den anderen zu folgen. Lucius Caecilius Metellus Delmaticus, der pontifex maximus, saß immer noch reglos und kerzengerade auf seinem Stuhl, die Hände brav im Schoß gefaltet wie ein wohlerzogenes Mädchen. Nur sein Kopf war nach vorn gesunken. Das Kinn ruhte auf der Brust, und die grauen Strähnen seiner schütter werdenden Haare bewegten sich leicht in dem Luftzug, der vom offenen Portal hereinwehte.

»Bruder, das war die größte Rede, die ich je gehört habe!« rief Metellus Numidicus. Er streckte die Hand aus und drückte Delmaticus die Schulter.

Aber Delmaticus bewegte sich nicht und sagte nichts. Erst jetzt merkten sie, daß er tot war.

»Welch rühmliches Ende«, sagte Crassus Orator. »Ich würde glücklich sterben in dem Bewußtsein, daß ich auf der Schwelle des Todes meine größte Rede gehalten habe.«


Aber weder die Rede des pontifex maximus noch sein Tod noch die ganze Empörung und die Macht des Senats konnten verhindern, daß die Versammlung der Plebs das von Saturninus eingebrachte Ackergesetz annahm. Die Karriere des Lucius Appuleius Saturninus als Volkstribun hatte mit einem Paukenschlag begonnen, mit einer seltsamen Mischung aus Niedertracht und Speichelleckerei.

»Meine Arbeit macht mir Spaß«, sagte Saturninus zu Glaucia, als sie am späten Nachmittag des Tages, an dem die lex Appuleia passiert war, zu Tisch saßen. Sie speisten oft zusammen, und meist bei Glaucia. Saturninus’ Frau hatte sich von den verhängnisvollen Auswirkungen, die Scaurus’ Anklage gegen Saturninus als Quästor von Ostia gehabt hatte, nie mehr ganz erholt. »Ja, sie macht mir wirklich Spaß! Wenn ich daran denke, Gaius Servilius, daß alles vielleicht ganz anders gekommen wäre, wenn nicht der alte Schnüffler Scaurus gewesen wäre.«

»Du gehörst auf die Rednerbühne, stimmt.« Glaucia aß einige Trauben aus dem Gewächshaus. »Vielleicht gibt es tatsächlich eine Kraft, die unser Leben formt.«

Saturninus schnaubte verächtlich. »Du meinst wohl Quirinus!«

»Spotte nur«, erwiderte Glaucia. »Aber ich glaube, daß es mit dem Leben etwas ganz Besonderes ist. Es gibt im Leben mehr Sinn und weniger Zufall als in einer Runde cottabus

»Wo bleibt der Stoiker oder Epikureer in dir, Gaius Servilius? Weder Fatalismus noch Hedonismus? Paß auf, daß du nicht noch die alten griechischen Lästermäuler durcheinanderbringst, die so laut behaupten, wir Römer würden nie eine Philosophie zustande bringen, die wir nicht von ihnen entlehnt hätten.« Saturninus lachte.

»Die Griechen sind, die Römer handeln. Du hast die Wahl! Ich habe noch keinen Menschen kennengelernt, der beide Lebensweisen in sich vereint hätte. Griechen und Römer stehen an den entgegengesetzten Enden des Verdauungskanals. Die Römer sind der Mund - wir schieben die Zutaten hinein. Die Griechen sind das Arschloch - sie scheiden sie aus. Aber ich will die Griechen nicht beleidigen, es war nur bildlich gesprochen.« Und wie zur Bekräftigung seiner These schob Glaucia noch ein paar Trauben in das römische Ende des Verdauungskanals.

»Da das eine Ende ohne die Beiträge des anderen nichts zu tun hätte, halten wir besser zusammen«, sagte Saturninus.

Glaucia grinste. »Der Römer spricht!«

»Römer durch und durch, auch wenn Metellus Delmaticus behauptet hat, ich sei keiner. Das war vielleicht eine Überraschung: Stirbt der alte Halunke doch genau im richtigen Moment! Wenn die konservative Clique mehr auf Draht wäre, hätte sie rasch einen unsterblichen Helden aus ihm gemacht. Metellus Delmaticus - der neue Quirinus!« Saturninus schüttelte den Satz in seiner Tasse auf und goß ihn mit einer schnellen Bewegung auf einen leeren Teller. Entscheidend war, wie viele Arme von der Pfütze ausgingen. »Drei«, sagte Saturninus und fröstelte. »Die Zahl des Todes.«

»Wo ist denn der Skeptiker auf einmal geblieben?« neckte ihn Glaucia.

»Aber das ist doch ungewöhnlich, nur drei Arme.«

Glaucia spuckte drei Traubenkerne auf den Teller und zerstörte die Form der Pfütze. »Da! Drei zunichte gemacht durch drei!«

»Wir werden beide in drei Jahren tot sein«, sagte Saturninus.

»Lucius Appuleius, du bist ein einziger Widerspruch! Du bist so weiß im Gesicht wie Lucius Cornelius Sulla, hast aber keine Entschuldigung dafür. Komm, es ist doch nur eine Runde cottabus!« Glaucia wechselte das Thema. »Ich stimme dir zu, ein Leben als Volksredner ist viel aufregender als ein Leben als Favorit der Konservativen. Mit dem Volk Politik zu machen, ist eine große Herausforderung. Ein Feldherr hat seine Legionen. Ein Demagoge hat nur seine Zunge.« Er kicherte. »War es nicht ein köstlicher Anblick, wie die Menge heute morgen Marcus Baebius vom Forum jagte, als er sein Veto einlegen wollte?«

»Es war eine Augenweide!« Saturninus grinste, und die Erinnerung ließ ihn die unheilverkündenden Zahlen drei und dreiunddreißig vergessen.

Glaucia wechselte wieder abrupt das Thema. »Hast du übrigens das neueste Gerücht vom Forum gehört?«

»Du meinst, daß Quintus Servilius Caepio das Gold von Tolosa selbst gestohlen hat?«

Glaucia sah enttäuscht aus. »Pluto soll dich holen. Ich dachte, du wüßtest es noch nicht!«

»Manius Aquilius hat mir davon geschrieben. Er schreibt mir, wenn Gaius Marius keine Zeit hat. Und ich muß gestehen, daß mir das gar nicht unrecht ist, denn er schreibt viel besser als der große Feldherr.«

»Aus Gallia Transalpina? Woher wissen denn die das?«

»Das Gerücht kam von dort. Gaius Marius hat einen Gefangenen gemacht. Keinen geringeren als den König von Tolosa. Und der behauptet, Caepio habe das Gold gestohlen - sämtliche fünfzehntausend Talente.«

Glaucia pfiff durch die Zähne. »Fünfzehntausend Talente. Kaum zu glauben, was? Fast ein bißchen zuviel - ich meine, jeder gesteht einem Statthalter gewisse Vergünstigungen zu, aber mehr Gold als der ganze Staatsschatz? Also das ist übertrieben, wirklich!«

»Wahr gesprochen. Aber das Gerücht wird Gaius Norbanus helfen, wenn er Caepio anklagt. Es wird sich schneller in der ganzen Stadt verbreiten, als Metella Calva mit einem geilen Hafenarbeiter ins Bett springen kann.«

»Der Vergleich gefällt mir!« lachte Glaucia. Dann sah er Saturninus geschäftig an. »Genug getratscht! Du und ich, wir haben mit dem Hochverratsgesetz und anderen Gesetzen genug zu tun. Wir dürfen nichts vergessen.«

Saturninus und Glaucia machten sich an die Arbeit. Sie planten und koordinierten ihr Vorgehen so sorgfältig wie einen Feldzug. Sie wollten durchsetzen, daß Prozesse wegen Hochverrat künftig nicht mehr vor den Zenturien stattfinden sollten, weil sie dort nur allzu häufig in Sackgassen endeten oder auf unüberwindliche Mauern stießen. Ferner sollten Prozesse wegen Wucher und Bestechung der Kontrolle des Senats entzogen und die mit Senatoren besetzten Gerichte durch Rittergerichte ersetzt werden.

»Zuerst müssen wir dafür sorgen, daß Norbanus Caepio in der Versammlung der Plebs anklagt«, sagte Saturninus. »Dazu braucht er einen zulässigen Grund - die Anklage darf nicht das Wort Verrat enthalten. Am besten bringen wir die Anklage jetzt gleich ein, wenn die Entrüstung des Volkes über Caepio wegen des gestohlenen Goldes auf dem Höhepunkt ist.«

»In der Versammlung der Plebs hat so etwas noch nie funktioniert«, meinte Glaucia zweifelnd. »Unser hitzköpfiger Freund Ahenobarbus hat es einmal versucht. Er hat Silanus angeklagt, einen widerrechtlichen Krieg gegen die Germanen angefangen zu haben. Von Verrat war nicht die Rede, trotzdem hat die Volksversammlung den Antrag abgelehnt. Die Schwierigkeit ist, daß keiner Lust auf Hochverratsprozesse hat.«

»Laß es uns trotzdem versuchen. Die Zenturien fällen erst dann einen Schuldspruch, wenn der Angeklagte selber sagt, daß er sein Land absichtlich zugrunde richten wollte. Natürlich ist keiner so dumm, daß er das zugibt. Gaius Marius hat recht. Wir müssen den Senatoren die Flügel stutzen und ihnen zeigen, daß sie nicht über Moral und Gesetz stehen. Das können wir aber nur über eine Institution, in der keine Senatoren sitzen.«

»Warum läßt du das neue Hochverratsgesetz dann nicht sofort absegnen? Dann kannst du Caepio vor einem Rittergericht anklagen. Ich weiß schon, die Senatoren werden brüllen wie am Spieß, aber das tun sie doch immer.«

Saturninus zog eine Grimasse. »Aber wir wollen doch weiter leben, oder? Auch wenn wir nur noch drei Jahre haben, ist das immer noch besser, als übermorgen zu sterben!«

»Du und deine drei Jahre!«

»Nimm einmal an, die Versammlung der Plebs spricht Caepio wirklich schuldig«, beharrte Saturninus. »Dann kapiert der Senat, was wir ihm sagen wollen - nämlich daß es das Volk satt hat, daß die Senatoren ihre Kollegen vor gerechter Bestrafung schützen. Daß es nicht ein Gesetz für Senatoren und eins für alle anderen geben kann. Es ist Zeit, daß das Volk aufwacht! Ich werde ihm die Tracht Prügel verabreichen, die es dazu braucht. Seit Anbeginn der Republik hat der Senat das Volk glauben gemacht, Senatoren seien bessere Römer und könnten tun und lassen, was sie wollen. Wählt Lucius Gernegroß - seine Familie stellte Roms ersten Konsul! Ist es schlimm, daß Lucius Gernegroß ein selbstsüchtiger, goldgieriger Dummkopf ist? Nein! Lucius Gernegroß hat den richtigen Namen und kommt aus der richtigen Familie, die Rom seit Menschengedenken in der Politik dient. Die Gracchen hatten recht: Werft die Anhänger von Lucius Gernegroß aus den Gerichten und ersetzt sie durch Ritter!«

Glaucia sah ihn nachdenklich an. »Mir ist gerade etwas eingefallen, Lucius Appuleius. Das Volk denkt wenigstens verantwortlich und ist einigermaßen erzogen. Es ist eine Säule der römischen Tradition. Aber was passiert, wenn eines Tages jemand dasselbe für die Proletarier fordert, was du jetzt für das Volk forderst?«

Saturninus lachte. »Die Proletarier sind zufrieden, solange ihre Mägen voll sind und die Ädilen sie mit Spielen unterhalten. Um die Proletarier politisch aufzuwecken, müßtest du das Forum Romanum in den Circus Maximus verwandeln!«

»Ihre Mägen sind diesen Winter nicht so voll, wie sie sein sollten«, erwiderte Glaucia.

»Sie sind voll genug, und der Dank dafür gebührt einzig unserem geschätzten Senatsvorsitzenden Marcus Aemilius Scaurus. Ich bin nicht traurig darüber, daß wir Numidicus oder Catulus Caesar nie auf unsere Seite bringen werden, aber ich denke immer wieder: Schade, daß wir Scaurus nicht gewinnen können.«

Glaucia musterte ihn neugierig. »Du bist Scaurus nicht böse, daß er dich aus dem Senat geworfen hat?«

»Nein. Er tat nur, was er für richtig hielt. Aber eines Tages, Gaius Servilius, werde ich die wahren Schuldigen finden, und dann werden sie wünschen, sie hätten ein so leichtes Schicksal wie Ödipus zu erdulden.«

Anfang Januar erhob der Volkstribun Gaius Norbanus in der Versammlung der Plebs Anklage gegen Quintus Servilius Caepio; die Anklage lautete auf »Verlust der Armee« .

Die Atmosphäre war von Anfang an geladen. Keineswegs alle Römer waren Gegner eines elitären Senats, und die plebejischen Mitglieder des Senats hatten sich vollzählig versammelt, um für Caepio zu kämpfen. Schon lange bevor die Tribus zur Abstimmung aufgerufen wurden, kam es zu gewalttätigen und blutigen Auseinandersetzungen. Die Volkstribunen Titus Didius und Lucius Aurelius Cotta traten vor, um ihr Veto gegen das Verfahren einzulegen, wurden aber vom aufgebrachten Mob von der rostra geholt. Steine flogen durch die Luft, Prügel hagelten auf Rippen und Beine nieder. Didius und Lucius Cotta wurden aus dem Comitium geschoben und durch den Druck der Menge buchstäblich in die Senke zum Argiletum hinabgedrängt und dort eingekeilt. Übel zugerichtet und entsetzt über das Chaos, versuchten sie schreiend Veto einzulegen, doch die aufgebrachte Menge brüllte sie nieder.

Kein Zweifel: Das Gerücht über das Gold von Tolosa entschied die Auseinandersetzung gegen Caepio und den Senat. Von den capite censi bis zu den Rittern der Ersten Klasse beschimpfte die ganze Stadt Caepio als habgierigen Dieb und selbstsüchtigen Verräter. Männer - und sogar Frauen -, die nie zuvor Interesse am Forum und einer Volksversammlung bekundet hatten, kamen, um Caepio zu sehen, der ein Verbrechen von bisher unvorstellbaren Dimensionen begangen hatte. Lebhaft diskutierten sie, wie hoch der Berg der Goldbarren gewesen sein mußte, wie viele Barren es gewesen waren und was sie gewogen hatten. Der Haß ließ sich geradezu mit Händen greifen, denn schließlich sieht keiner es gern, wenn sich jemand mit Geld davonmacht, das als Gemeinbesitz gilt. Vor allem, wenn es um so viel Geld geht.

Norbanus war entschlossen, den Prozeß zu Ende zu bringen, ungeachtet der allgemeinen Erregung, der Schlägereien und des Chaos, das ausbrach, wenn die politisch interessierten Besucher der Versammlung auf die Massen stießen, die nur gekommen waren, um Caepio ihren Haß entgegenzuschreien. Caepio stand auf der rostra, umgeben von Liktoren, die ihn nicht festhalten, sondern beschützen sollten. Die Patrizier unter den Senatoren, die aufgrund ihres Ranges nicht an der Versammlung der Plebs teilnehmen durften, hatten sich auf den Stufen der curia hostilia eingefunden und beschimpften Norbanus, bis ein Teil der Menge begann, mit Steinen auf sie zu werfen. Scaurus sackte mit einer blutenden Kopfwunde bewußtlos zusammen. Norbanus ließ sich auch dadurch nicht aufhalten und setzte den Prozeß fort, ohne sich zu erkundigen, ob der Senatsvorsitzende tot war oder nur bewußtlos.

Die eigentliche Abstimmung ging schnell über die Bühne. Die ersten achtzehn der fünfunddreißig Tribus befanden Quintus Servilius Caepio einmütig für schuldig, die anderen Tribus brauchten deshalb gar nicht mehr abzustimmen. Ermutigt durch diese einmalige Demonstration des Hasses auf Caepio forderte Norbanus die Versammlung der Plebs auf, über die Strafe abzustimmen - eine so harte Strafe, daß die anwesenden Senatoren in wütendem Protest aufheulten. Wieder stimmten die durch das Los ausgewählten ersten achtzehn Tribus übereinstimmend für die schreckliche Strafe. Caepio verlor das Bürgerrecht, ihm wurden innerhalb von achthundert Meilen im Umkreis von Rom Wasser und Feuer verboten, er mußte fünfzehntausend Talente Gold zahlen und die Tage bis zum Beginn seiner Verbannung in einer bewachten Zelle der Lautumiae verbringen. Dort sollte er mit niemandem sprechen dürfen, nicht einmal mit Familienangehörigen.

Als Quintus Servilius Caepio, vormals römischer Bürger, in Begleitung der Liktoren die kurze Entfernung vom Comitium zu den schäbigen Zellen der Lautumiae zurücklegte, reckten sich ihm drohend Fäuste entgegen, und empörte Römer brüllten triumphierend, daß er jetzt keine Gelegenheit mehr haben werde, seine Makler und Bankiers zu konsultieren oder persönliches Vermögen zu vergraben.

Die Menge zerstreute sich langsam, zutiefst befriedigt über den Ausgang dieses aufregenden und ungewöhnlichen Tages, und auf dem Forum Romanum blieben nur einige wenige Männer zurück, die alle Senatoren waren.

Die zehn Tribunen standen in Gruppen zusammen. Lucius Cotta, Titus Didius, Marcus Baebius und Lucius Antistius Reginus starrten sich düster an, die vier Männer von der Mitte der Tribunenbank sahen hilflos von links nach rechts, nur Gaius Norbanus und Lucius Appuleius Saturninus waren bester Laune und unterhielten sich unter viel Gelächter mit Gaius Servilius Glaucia, der zu ihnen getreten war, um ihnen zu gratulieren. Keiner der zehn Tribunen trug noch seine Toga, die Kleidungsstücke waren ihnen im Getümmel vom Leib gerissen worden.

Marcus Aemilius Scaurus saß mit dem Rücken an den Sockel einer Statue des Scipio Africanus gelehnt, während Metellus Numidicus und zwei Sklaven versuchten, das Blut zu stillen, das aus einer Platzwunde an seiner Schläfe strömte. Crassus Orator und sein Busenfreund und Vetter Quintus Mucius Scaevola standen verdattert daneben. Der junge Drusus und der junge Caepio verharrten wie angewurzelt auf der Treppe vor der Curia, zusammen mit Drusus’ Onkel Publius Rutilius Rufus und Marcus Aurelius Cotta. Konsul Lucius Aurelius Orestes, auch in seinen besten Zeiten nicht mit einem stabilen Nervenkostüm gesegnet, lag in voller Länge auf dem Vorplatz und wurde von einem aufgeregten Prätor versorgt.

Plötzlich knickte Caepio um und sank gegen den bleichen Drusus, der einen Arm um ihn gelegt hatte. Rutilius Rufus und Cotta griffen dem jungen Mann rasch unter die Arme und stützten ihn.

»Was können wir für euch tun?« fragte Cotta. Drusus schüttelte den Kopf, so erschüttert, daß er kein Wort herausbrachte. Caepio schien Cotta gar nicht zu hören. »Hat jemand Liktoren zum Haus von Quintus Servilius Caepio geschickt, damit sie es vor der Menge schützen?« fragte Rutilius Rufus.

»Ja, ich«, brachte Drusus heraus.

»Und die Frau des Jungen?« fragte Cotta mit einem Kopfnicken auf Caepio.

»Ich habe sie und das Baby zu mir bringen lassen«, sagte Drusus. Er legte die freie Hand an seine Wange, als wollte er feststellen, ob er noch lebte.

Caepio bewegte sich und starrte die drei Männer verständnislos an. »Es war nur das Gold«, flüsterte er. »Sie haben nur an das Gold gedacht! Kein Wort von Arausio. Sie haben ihn nicht wegen Arausio verurteilt. Nur an das Gold haben sie gedacht!«

»So ist der Mensch«, sagte Rutilius Rufus leise. »Gold ist ihm wichtiger als Menschenleben.«

Drusus warf seinem Onkel einen scharfen Blick zu, aber wenn Ironie in Rutilius Rufus’ Worten gelegen hatte, merkte Caepio das nicht.

»Gaius Marius ist an allem schuld«, sagte Caepio.

Rutilius Rufus schob die Hand unter seinen Ellbogen. »Komm, Quintus Servilius. Marcus Aurelius und ich bringen dich zum Haus des jungen Marcus Livius.«

Als sie die Treppe vor der Curia hinunterstiegen, löste sich Lucius Antistius Reginus aus der Gruppe, in der Lucius Cotta, Didius und Baebius zusammenstanden, und kam drohend auf Norbanus zu. Dieser wich zurück und ballte abwehrend die Fäuste.

»Keine Sorge!« zischte Antistius. »Ich mache mir die Hände nicht schmutzig an jemandem wie dir, du Köter!« Antistius war ein großgewachsener Mann, in dessen Adern offensichtlich Keltenblut floß. Er baute sich vor Norbanus auf. »Ich gehe jetzt zu den Lautumiae und befreie Quintus Servilius. In der ganzen Geschichte unserer Republik hat noch nie jemand im Gefängnis sitzen müssen, bis er ins Exil ging, und ich werde nicht zulassen, daß Quintus Servilius der erste ist! Versuche ruhig, mich aufzuhalten! Ein Sklave bringt mir mein Schwert, und beim Jupiter, Gaius Norbanus, wenn du dich mir in den Weg stellst, bringe ich dich um!«

Norbanus lachte rauh. »Nimm ihn doch mit!« sagte er. »Nimm Quintus Servilius mit zu dir nach Hause und wische ihm die Augen - und am besten auch gleich den Hintern! Seinem Haus würde ich allerdings nicht zu nahe kommen, wenn ich du wäre!«

»Und laß dich für deine Dienste ordentlich bezahlen!« rief Saturninus Antistius hinterher. »Falls du es noch nicht weißt: Er zahlt in Gold!«

Antistius drehte sich um und machte mit den Fingern seiner rechten Hand eine unmißverständliche Geste.

Glaucia lachte. »Nein, das werde ich nicht!« brüllte er. »Daß du eine Tunte bist, heißt noch lange nicht, daß wir es auch sind!

Gaius Norbanus war des Spaßes überdrüssig. »Kommt«, sagte er zu Glaucia und Saturninus, »gehen wir zum Essen nach Hause.«

Scaurus war speiübel, aber er wäre lieber gestorben, als sich in aller Öffentlichkeit zu erbrechen. Obwohl ihm der Kopf schwirrte, zwang er sich, den drei Männern nachzusehen, die sich siegessicher und übermütig lachend entfernten.

»Sie sind tollwütig«, sagte er zu Metellus Numidicus, dessen Toga mit Scaurus’ Blut befleckt war. »Sieh sie dir an! Werkzeuge des Gaius Marius!«

»Kannst du schon stehen, Marcus Aemilius?« fragte Numidicus.

»Erst muß sich mein Magen beruhigen.«

»Ich sehe, daß Publius Rutilius und Marcus Aurelius den Sohn und den Schwiegersohn von Quintus Servilius nach Hause gebracht haben.«

»Gut. Sie werden jemanden brauchen, der ein Auge auf sie hat. Ich habe noch nie eine Menschenmenge erlebt, die so nach Senatorenblut dürstete, nicht einmal in den schlimmsten Tagen des Gaius Gracchus.« Scaurus holte tief Luft. »Wir werden uns eine Weile zurückhalten müssen, Quintus Caecilius. Was wir auch tun, sie zahlen es uns doppelt zurück.«

»Möge Quintus Servilius mitsamt dem Gold verrotten!« schimpfte Numidicus.

Scaurus hatte sich inzwischen wieder etwas erholt und ließ sich auf die Füße helfen. »Du glaubst also, er hat es wirklich gestohlen?«

Metellus Numidicus sah ihn verächtlich an. »Nimm mich nicht auf den Arm, Marcus Aemilius! Du kennst ihn ebenso gut wie ich. Natürlich hat er es genommen! Das verzeihe ich ihm nie. Es gehörte der Staatskasse.«

Scaurus machte einige Schritte. Es kam ihm vor, als ginge er auf lauter verschieden hohen Wellen. »Die Schwierigkeit ist, daß wir keine Regeln im Senat haben, nach dem Männer wie du und ich Verräter in unseren eigenen Reihen bestrafen können.« Metellus Numidicus zuckte die Schultern. »So etwas kann es nicht geben, das weißt du selbst. Das hieße zugeben, daß unsere eigenen Männer manchmal nicht so sind, wie sie sein sollten. Und wenn wir mit unseren Schwächen öffentlich auspacken, sind wir am Ende.«

»Ich bin lieber tot als am Ende.«

»Ich auch.« Metellus seufzte. »Ich hoffe nur, unsere Söhne denken darüber genauso.«

»Das war eine taktlose Bemerkung«, sagte Scaurus bitter.

»Aber Marcus Aemilius! Dein Sohn ist doch noch blutjung! Ich sehe nicht, was für unverbesserliche Fehler er haben sollte, wirklich.«

»Sollen wir die Söhne tauschen?«

»Nein, allein schon deshalb nicht, weil das deinen Sohn umbringen würde. Er leidet vor allem darunter, daß du nicht mit ihm zufrieden bist.«

»Er ist ein Schwächling.«

»Vielleicht braucht er eine tüchtige Frau.«

Scaurus blieb stehen und sah seinen Freund an. »Das ist eine glänzende Idee! Ich habe noch niemanden für ihn ausgesucht, er ist noch so unreif. An wen denkst du?«

»An meine Nichte. Metella Delmatica, das Mädchen von Delmaticus. Sie wird in zwei Jahren achtzehn. Ich bin jetzt, da der gute Delmaticus tot ist, ihr Vormund. Was sagst du dazu, Marcus Aemilius?«

»Einverstanden, Quintus Caecilius! Einverstanden!«

Als Drusus klar geworden war, daß man Servilius Caepio schuldig sprechen würde, hatte er seinen Verwalter Cratippus mit seinen kräftigsten Sklaven zum Haus des alten Caepio geschickt.

Livia Drusa war durch den Prozeß und das wenige, das sie aus Gesprächen zwischen dem alten und dem jungen Caepio aufgeschnappt hatte, so beunruhigt, daß sie sich auf kein Buch konzentrieren konnte, nicht einmal auf die pikanten Liebesgedichte des Meleagros. Da sie sonst nichts zu tun hatte, hatte sie sich an ihren Webstuhl gesetzt. Als die Sklaven ihres Bruders eintrafen, war sie überrascht, und der Ausdruck mühsam beherrschter Panik auf Cratippus’ Gesicht alarmierte sie.

»Schnell, dominilla, pack ein, was du mitnehmen willst!« Cratippus sah sich im Wohnzimmer um. »Dein Mädchen packt die Kleider ein, und dein Kindermädchen kümmert sich um das Baby. Du brauchst mir nur zu zeigen, was du selbst mitnehmen willst - Bücher, Papiere, Stoffe.«

Livia Drusa starrte den Verwalter mit tellergroßen Augen an. »Warum? Was ist denn los?«

»Dein Schwiegervater, dominilla. Marcus Livius sagt, das Gericht wird ihn schuldig sprechen.«

»Aber warum muß ich dann hier weg?« Sie war entsetzt über die Aussicht, ausgerechnet jetzt, wo sie die Freiheit entdeckt hatte, ins Haus ihres Bruders wie in ein Gefängnis zurückkehren zu müssen.

»Die Stadt schreit nach seinem Blut, dominilla.

Die letzte Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Sein Blut? Will man ihn umbringen?«

»Nein, nein, ganz so schlimm ist es nicht«, sagte Cratippus beruhigend. »Sein Vermögen wird beschlagnahmt. Aber der Mob ist aufgebracht, und dein Bruder meint, wenn der Prozeß vorüber ist, kommen die größten Randalierer vielleicht hier vorbei, um das Haus zu plündern.«

Innerhalb einer Stunde hatten Dienerschaft und Familie Quintus Servilius Caepios Haus verlassen, und die Tore waren geschlossen und verriegelt. Als Cratippus Livia Drusa den Palatin hinunterführte, kam ihnen eine große Abteilung Liktoren entgegen, die nur mit der Tunika bekleidet waren und statt der fasces Prügel trugen. Sie sollten vor dem Haus Stellung beziehen und wenn nötig die wütende Menge in Schach halten, denn der Staat wollte nicht, daß Caepios Besitz geplündert wurde, bevor er inventarisiert und versteigert war.

Servilia Caepionis empfing ihre Schwägerin an der Tür von Drusus Haus und führte sie hinein. Sie war so blaß wie Livia Drusa.

»Komm und sieh selbst«, sagte sie und schob Livia Drusa durch das Peristyl zur Loggia, von wo aus man auf das Forum Romanum hinabsehen konnte.

Sie erlebte gerade noch das Ende des Prozesses gegen Quintus Servilius Caepio mit. Das Menschengewühl ordnete sich zu den einzelnen Tribus, die über die beantragte Strafe, das Exil und die riesige Geldsumme, abstimmten. Die sich windenden und vorwärtsdrängenden Menschenschlangen boten von oben einen eigenartigen Anblick. Auf dem Versammlungsplatz herrschte noch einigermaßen Ordnung, aber weiter draußen verschmolz die riesige Menge der Schaulustigen mit den Anstehenden zu einem chaotischen Haufen. Knoten zeigten an, wo Streitereien ausgebrochen waren, und größere Menschentrauben zeigten an, wo das Handgemenge in einen Aufstand auszuarten begann. Auf der Treppe vor der Curia drängten sich die Senatoren, auf der Rednerbühne am Rand des Versammlungsplatzes standen die Volkstribunen und eine kleine, von Liktoren umgebene Gestalt, ihr angeklagter Schwiegervater, wie Livia Drusa vermutete.

Servilia Caepionis war in Tränen ausgebrochen. Livia Drusa war wie betäubt, sie konnte nicht weinen. Sie rückte näher zu ihrer Schwägerin.

»Cratippus meinte, daß die Menge vielleicht Vaters Haus plündert«, sagte sie. »Ich wußte von nichts! Keiner hat mir etwas gesagt!«

Servilia Caepionis nestelte ihr Taschentuch heraus und trocknete sich die Tränen. »Marcus Livius hat befürchtet, daß es so kommt. Diese dumme Geschichte mit dem Gold von Tolosa ist an allem schuld. Wenn sie nicht bekannt geworden wäre, wäre alles anders gekommen. Aber die meisten Römer haben Vater anscheinend schon vor seinem Prozeß verurteilt - für etwas, für das er gar nicht angeklagt ist!«

Livia Drusa wandte sich ab. »Ich muß nachsehen, wohin Cratippus mein Baby gebracht hat.«

Diese Bemerkung löste einen neuen Tränenstrom bei Servilia Caepionis aus, denn sie war bisher noch nicht schwanger geworden, obwohl sie sich verzweifelt ein Baby wünschte. »Warum bin ich noch nicht schwanger?« fragte sie Livia Drusa. »Du hast so ein Glück! Marcus Livius sagt, du bekommst bald wieder ein Kind, und ich habe noch nicht einmal das erste!«

»Du hast doch noch viel Zeit«, tröstete Livia Drusa. »Die Männer waren nach der Hochzeit monatelang fort, vergiß das nicht. Außerdem hat Marcus Livius viel mehr zu tun als mein Quintus Servilius, und alle sagen, je mehr ein Mann zu tun hat, desto schwieriger ist es für seine Frau, ein Kind zu bekommen.«

»Nein«, flüsterte Servilia Caepionis, »ich bin unfruchtbar. Ich weiß es genau, ich fühle es in mir! Dabei ist Marcus Livius so lieb zu mir, so nachsichtig!« Sie brach wieder in Tränen aus.

»Ist ja gut, sei doch nicht so traurig.« Livia Drusa hatte ihre Schwägerin ins Atrium geführt und sah sich nach Hilfe um. »Du machst es dir nicht leichter, wenn du so unglücklich bist. Babys gedeihen am besten in glücklichen Müttern!«

Cratippus erschien.

»Den Göttern sei Dank!« rief Livia Drusa. »Cratippus, holst du bitte das Dienstmädchen meiner Schwester? Und dann zeig mir bitte, wo ich schlafen soll und wo die kleine Servilia ist.«

In einem so großen Haus wie dem von Marcus Drusus war es kein Problem, ein paar zusätzliche Personen unterzubringen. Cratippus hatte dem jungen Caepio und seiner Frau eine der Zimmerfluchten zugewiesen, die auf den Säulengarten hinausgingen. Für den alten Caepio war ein weiterer Flügel reserviert, und die kleine Servilia war in dem leeren Kinderzimmer am anderen Ende des Gartens untergebracht.

»Wie soll ich es mit dem Essen halten?« fragte der Verwalter Livia Drusa, die das Auspacken ihrer Sachen überwachte.

»Das muß meine Schwester entscheiden, Cratippus! Ich möchte mich da überhaupt nicht einmischen.«

»Aber sie ist unpäßlich und hat sich hingelegt, dominilla

»Ach so. Dann sorge dafür, daß wir in einer Stunde essen können - vielleicht sind die Männer dann hungrig. Aber richte dich darauf ein, es notfalls zu verschieben.«

Draußen im Garten entstand Unruhe. Als Livia Drusa hinausging, um nachzusehen, schwankte ihr der junge Caepio durch das Peristyl entgegen, gestützt auf ihren Bruder Drusus.

»Was ist passiert?« fragte sie. »Kann ich etwas tun?« Sie sah Drusus an. »Was ist los?«

»Unser Schwiegervater Quintus Servilius ist verurteilt worden. Er muß ins Exil, mindestens achthundert Meilen von Rom weg, und er muß eine Geldstrafe von über fünfzehntausend Talenten Gold zahlen - das heißt, jeder Docht und jedes welke Blatt im Besitz der Familie wird beschlagnahmt. Die Zeit bis zum Beginn des Exils muß er in den Lautumiae absitzen.«

»Aber sein gesamter Besitz bringt nicht einmal hundert Talente Gold!« rief Livia Drusa entsetzt.

»Natürlich nicht. Deshalb kann er auch nie wieder nach Hause zurückkehren.«

Servilia Caepionis stürzte in den Garten. Sie sieht aus wie Kassandra, dachte Livia Drusa. Kassandra, die mit zerzausten Haaren, aufgerissenen, tränennassen Augen und offenem Mund vor den siegreichen Griechen flieht.

»Was ist los?« schrie sie. »Was ist denn los?« Drusus trat ihr fest, aber freundlich entgegen, trocknete ihr die Tränen ab und verbot ihr, sich ihrem Bruder an die Brust zu werfen. Servilia faßte sich erstaunlich schnell. »Kommt, wir gehen alle in dein Arbeitszimmer, Marcus Livius«, sagte sie und ging voraus.

Livia Drusa zögerte erschrocken.

»Was hast du?« fragte Servilia Caepionis.

»Wir können doch nicht zusammen mit den Männern im Arbeitszimmer sitzen!«

»Natürlich!« entgegnete Servilia Caepionis ungeduldig. »In solchen Zeiten müssen auch die Frauen der Familie an den Beratungen teilnehmen. Das weiß Marcus Livius ganz genau. Wir überleben zusammen oder sterben zusammen. Ein starker Mann braucht starke Frauen um sich.«

Mit schwindelndem Kopf versuchte Livia Drusa, sich einen Reim auf das widersprüchliche Verhalten der Schwägerin während der letzten Minuten zu machen. Schließlich erkannte sie, was für eine schreckhafte Maus sie selbst ihr ganzes Leben gewesen war. Drusus hatte erwartet, von einer Frau begrüßt zu werden, die völlig aufgelöst war, sich dann aber schnell beruhigte und praktisch handelte, und Servilia Caepionis hatte diesen Erwartungen in jeder Hinsicht entsprochen.

Livia Drusa folgte Servilia Caepionis also ins Arbeitszimmer und unterdrückte ihr Entsetzen, als Servilia allen Wein einschenkte, der nicht mit Wasser verdünnt war. Zaghaft nippte sie an dem ersten unverdünnten Alkohol ihres Lebens. Gedanken wirbelten in ihrem Kopf durcheinander. Und sie war wütend.

Gegen Ende der zehnten Stunde brachte Lucius Antistius Reginus den verurteilten Quintus Servilius Caepio. Caepio sah erschöpft aus, davon abgesehen wirkte er aber mehr verärgert als niedergeschlagen.

»Ich habe ihn aus den Lautumiae geholt«, sagte Antistius knapp. »Solange ich Volkstribun bin, kommt kein Konsular ins Gefängnis! Das ist eine Beleidigung des Romulus und des Quirinus und des Jupiter Optimus Maximus. Wie konnten sie es wagen!«

»Sie haben es gewagt, weil das Volk und die Landstreicher aus dem Zirkus sie dazu ermutigt haben«, sagte Caepio finster. Er stürzte seinen Wein in einem Zug hinunter. »Mehr«, sagte er zu seinem Sohn, und der beeilte sich, den Wunsch zu erfüllen, glücklich, daß sein Vater in Sicherheit war. »In Rom bin ich erledigt.« Caepios schwarze Augen blitzten zornig, als er zuerst Drusus und dann seinen Sohn ansah. »Es ist jetzt an euch jungen Männern, das Recht meiner Familie auf ihre alten Privilegien und den Vorrang, der ihr von Natur aus zukommt, zu verteidigen. Notfalls bis zum letzten Atemzug. Alles, was Marius, Saturninus und Norbanus heißt, muß vernichtet werden - mit dem Messer, wenn das die einzige Möglichkeit ist. Habt ihr mich verstanden?« Caepios Sohn nickte gehorsam. Drusus bewegte sich nicht, den mit Wein gefüllten Becher in der Hand, das Gesicht ausdruckslos

»Vater, ich schwöre dir, daß unsere Familie den Verlust ihrer dignitas nicht hinnehmen wird, solange ich ihr Oberhaupt bin« sagte der junge Caepio feierlich. Er schien jetzt ruhiger.

Er gleicht seinem abscheulichen Vater mehr denn je, dachte Livia Drusa haßerfüllt. Warum hasse ich ihn nur so abgrundtief? Warum hat mein Bruder mich gezwungen, ihn zu heiraten?

Dann vergaß sie ihr eigenes Unglück. Auf dem Gesicht ihres Bruders sah sie einen Ausdruck, der sie faszinierte und zugleich verwirrte. Nicht, daß Drusus anderer Meinung zu sein schien als ihr Schwiegervater - er schien dessen Worte vielmehr abzuwägen und sie zusammen mit vielen anderen Dingen, die er noch nicht ganz verstanden hatte, innerlich abzulegen. Plötzlich erkannte Livia Drusa, daß auch ihr Bruder den alten Caepio haßte! Wie er sich verändert hatte, ihr Bruder! Während der junge Caepio sich nie ändern würde. Er würde nur immer ausgeprägter das werden, was er schon war.

»Was willst du tun, Vater?« fragte Drusus.

Ein seltsames Lächeln erschien auf Caepios Gesicht. Die Wut in seinen Augen erstarb, und an seine Stelle trat eine unentwirrbare Mischung aus Triumph, Verschlagenheit, Schmerz und Haß. »Ich gehe ins Exil, wie es die Versammlung der Plebs befohlen hat, lieber Junge.«

»Aber wohin, Vater?« fragte sein Sohn.

»Nach Smyrna.«

»Wo können wir Geld auftreiben?« fragte der junge Caepio. »Ich denke nicht so sehr an mich - Marcus Livius wird mir aushelfen - als an dich. Wovon willst du im Exil leben?«

»Ich habe Geld in Smyrna hinterlegt, mehr als genug für meine Bedürfnisse. Aber auch du brauchst dir keine Sorgen zu machen, mein Sohn. Deine Mutter hat dir ein großes Vermögen hinterlassen, das ich treuhänderisch für dich aufbewahrt habe. Es ist mehr, als du brauchst.«

»Aber wird es nicht auch beschlagnahmt?«

»Nein, aus zwei Gründen nicht. Erstens ist es bereits auf deinen Namen überschrieben. Zweitens liegt es nicht in Rom, sondern zusammen mit meinem Geld in Smyrna.« Caepios Lächeln wurde breiter. »Du mußt einige Jahre hier im Haus von Marcus Livius wohnen, dann schicke ich dir nach und nach dein Vermögen. Wenn mir etwas zustoßen sollte, werden meine Bankiers die Zahlungen fortsetzen. Du, Schwiegersohn, führst inzwischen genau Buch über das Geld, das du für meinen Sohn ausgibst. Er wird es dir zu gegebener Zeit bis auf den letzten Sesterz zurückzahlen.«

Stille senkte sich über den Raum, geladen mit so viel Spannung und Gefühlen, daß sie fast mit Händen zu greifen waren. Jeder der Anwesenden wußte, was Quintus Servilius Caepio ungesagt gelassen hatte: Er hatte das Gold von Tolosa gestohlen, das Gold war jetzt in Smyrna in Sicherheit und Eigentum des Quintus Servilius Caepio, der darüber jederzeit verfügen konnte. Quintus Servilius Caepio war damit fast so reich wie Rom.

Caepio wandte sich an Antistius, der wie die anderen schwieg. »Hast du darüber nachgedacht, was ich dich auf dem Weg hierher gefragt habe?«

Antistius räusperte sich laut. »Das habe ich, Quintus Servilius. Ich nehme an.«

»Gut!« Caepio sah seinen Sohn und seinen Schwiegersohn an. »Mein lieber Freund Lucius Antistius hat sich bereit erklärt, mich nach Smyrna zu begleiten. So genieße ich das Vergnügen seiner Gesellschaft und den Schutz eines Volkstribuns. Wenn wir nach Smyrna kommen, werde ich Lucius Antistius bitten, mit mir dort zu bleiben.«

»Darüber habe ich noch nicht entschieden«, sagte Antistius.

»Das eilt auch nicht«, sagte Caepio aufgeräumt, »das eilt überhaupt nicht.« Er rieb sich die Hände, als wollte er sie wärmen. »Ich muß sagen, ich bin so hungrig, daß ich ein kleines Kind verspeisen könnte! Gibt es etwas zu essen?«

»Natürlich, Vater«, sagte Servilia Caepionis. »Geht ihr Männer schon ins Eßzimmer. Livia Drusa und ich sehen derweil in der Küche nach dem Essen.«

Das war natürlich eine grobe Übertreibung. Um das Essen kümmerte sich Cratippus, die beiden Frauen machten sich aber immerhin auf die Suche nach ihm. Schließlich fanden sie ihn in der Loggia, die auf das Forum Romanum hinausging. Auf dem Forum wuchsen die Schatten der Dämmerung.

»Seht euch das an!« sagte Cratippus. Entrüstet zeigte er hinunter. »Habt ihr je einen solchen Schweinestall gesehen? Abfall überall! Schuhe, Lumpen, Stöcke, halbgegessenes Brot, zerbrochene Weinkrüge - es ist eine Schande!«

Und dann sah Livia Drusa auf einmal ihren rothaarigen Odysseus. Er stand mit Gnaeus Domitius Ahenobarbus auf dem Balkon des Hauses unter Caepios Haus. Die beiden Männer schienen sich wie Cratippus über den Abfall zu entrüsten.

Livia Drusa zitterte, führ sich mit der Zunge über die Lippen und starrte mit ausgehungerten Augen auf den jungen Mann, der so nah war und doch so fern. Als der Verwalter zur Küchentreppe eilte, sah sie ihre Chance gekommen. Servilia Caepionis würde es für eine beiläufige Frage halten.

»Schwester«, fragte sie, »wer ist der rothaarige Mann, der dort auf dem Balkon neben Gnaeus Domitius steht? Er kommt schon seit Jahren zu Besuch, aber ich weiß nicht, wer er ist, ich kann ihn einfach nirgends einordnen. Kennst du ihn?«

Servilia rümpfte die Nase. »Ach der! Das ist Marcus Porcius Cato.« Aus ihrer Stimme sprach Verachtung.

»Cato? Wie Cato der Zensor?«

»Genau. Ein Aufsteiger! Er ist der Enkel von Cato dem Zensor.«

»Aber ist seine Großmutter dann nicht Licinia und seine Mutter Aemilia Paulla?« Livia Drusas Augen leuchteten. »Das macht ihn doch gesellschaftsfähig!«

Servilia rümpfte wieder die Nase. »Er gehört dem falschen Zweig an, Liebes. Er ist nicht der Sohn von Aemilia Paulla - dafür müßte er einige Jahre älter sein. Nein, nein! Er ist kein Cato Licinianus! Er ist ein Cato Salonianus. Der Urenkel eines Sklaven.«

Livias Traumwelt überzog sich mit einem Netz feiner Risse. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie verwirrt.

»Was, du kennst die Geschichte nicht? Er ist der Sohn des Sohnes aus Catos zweiter Ehe.«

»Mit der Tochter eines Sklaven?« fragte Livia Drusa atemlos.

»Der Tochter seines Sklaven, wenn du es genau wissen willst. Salonia hieß sie. Ich halte es für eine absolute Schande, daß die Nachkommen aus dieser Verbindung denselben Rang beanspruchen wie die Nachkommen aus Catos erster Ehe mit Licinia! Sie haben sich sogar in den Senat gedrängt. Der andere Zweig der Familie spricht natürlich nicht mit ihnen. Wir auch nicht.«

»Warum spricht Gnaeus Domitius dann mit ihm?«

Servilia Caepionis lachte, und es klang wie das Lachen ihres abscheulichen Vaters. »Seine Familie gehört ja auch nicht gerade zu den feinsten Familien Roms! Mehr Geld als Vorfahren, auch wenn sie noch so oft erzählen, daß Castor und Pollux ihre Bärte rot gefärbt hätten! Ich weiß gar nicht genau, warum sie mit Marcus Porcius verkehren. Aber ich habe eine Vermutung. Mein Vater ist darauf gekommen.«

»Auf was?« fragte Livia Drusa, innerlich zitternd.

»Na ja, die Nachkommen aus Catos zweiter Ehe haben rote Haare. Cato der Zensor hatte übrigens selber auch rote Haare. Aber Licinia und Aemilia Paulla waren beide dunkel, und ihre Söhne und Töchter haben braune Haare und braune Augen. Catos Sklave Salonius dagegen war ein Keltiberer aus Salo in Hispania Citerior; und er war blond. Seine Tochter Salonia war sogar hellblond. Deshalb haben ihre Nachkommen Catos rote Haare und seine grauen Augen behalten.« Servilia Caepionis zuckte die Achseln. »Die Familie von Domitius Ahenobarbus erzählt eine Legende, nach der sie die roten Bärte von einem Vorfahren geerbt haben, der von Castor und Pollux an den Wangen berührt wurde! Um diese Tradition fortzusetzen, heiraten die männlichen Familienmitglieder immer rothaarige Frauen. Aber rothaarige Frauen sind selten. Ich könnte mir vorstellen, solange keine bessere rothaarige Frau zur Verfügung steht, heiratet ein Domitius Ahenobarbus auch eine Cato Salonius. Sie sind so eingebildet, daß sie glauben, ihr Blut könne alles verkraften.«

»Gnaeus Domitius’ Freund hat also eine Schwester?«

»Das hat er.« Servilia Caepionis schüttelte sich. »Ich muß ins Haus. Was für ein Tag. Komm, das Essen ist sicher fertig.«

»Geh schon voraus«, sagte Livia Drusa. »Ich muß vor dem Essen noch meine Tochter stillen.«

Die Erwähnung des Babys reichte aus, daß die arme, nach einem Kind hungernde Servilia Caepionis ins Haus stürzte. Livia Drusa kehrte zum Geländer zurück und sah hinunter. Gnaeus Ahenobarbus und sein Besucher standen immer noch da. Der Besucher, der einen Sklaven als Urgroßvater hatte. Vielleicht war die hereinbrechende Dämmerung daran schuld, daß die Haare des Mannes unter ihr auf einmal allen Glanz verloren hatten, daß er zu schrumpfen schien und seine Schultern schmaler wirkten. Sein Hals sah auf einmal lächerlich aus, er war zu lang und dürr für einen echten Römer. Vier schimmernde Tränen tropften auf das gelb gestrichene Geländer, nicht mehr.

Ich habe mich wie gewöhnlich zum Narren halten lassen, dachte Livia Drusa. Vier ganze Jahre habe ich einem Mann nachgetrauert, von dem sich jetzt herausstellt, daß er der Urenkel eines Sklaven ist - eines Sklaven aus Fleisch und Blut, nicht eines Sklaven aus der Legende. Ich habe ihn in meiner Einbildung zu einem König macht, vornehm und tapfer wie Odysseus. Ich war Penelope, die geduldig auf ihn wartet. Und jetzt erfahre ich, daß er gar kein Adliger ist. Nicht einmal anständige Vorfahren hat er! Cato der Zensor war schließlich auch nur ein Bauer aus Tusculum und ein Schützling des Patriziers Valerius Flaccus. Ein echter Vorläufer von Gaius Marius. Der Mann auf dem Balkon da unten ist der Nachfahre eines Sklaven und eines Bauern aus Tusculum. Was für eine Närrin bin ich doch! Wie dumm, wie schrecklich dumm!

Noch bevor sie das Kinderzimmer betrat, hörte sie die kleine Servilia schreien. Ihre regelmäßigen Mahlzeiten waren an diesem ereignisreichen Tag durcheinandergekommen, und sie hatte Hunger. Livia Drusa nahm sich eine Viertelstunde Zeit und stillte sie.

Bevor sie ging, sagte sie zu dem makedonischen Kindermädchen: »Suche eine Amme für das Baby. Ich möchte mich ein paar Monate erholen, bevor ich wieder gebäre. Und wenn das zweite Kind da ist, kannst du ihm gleich eine Amme besorgen. Offensichtlich schützt das Stillen nicht vor Schwangerschaft, sonst wäre ich nicht schon wieder schwanger.«

Sie trat in das Speisezimmer und setzte sich so unauffällig wie möglich auf einen Stuhl mit gerader Lehne, ihrem Mann Caepio gegenüber. Der Hauptgang wurde gerade hereingebracht, und alle schienen Appetit zu haben. Auch Livia Drusa stellte fest, daß sie hungrig war.

Caepio sah sie besorgt an. »Dir fehlt doch nichts, Livia Drusa? Du siehst krank aus.«

Erschrocken sah sie ihn an, und zum ersten Mal in all den Jahren die sie ihn kannte, rief sein Anblick keinen Sturm von Haßgefühlen in ihr hervor. Zwar hatte er keine roten Haare, keine grauen Augen, keine hochgewachsene, geschmeidige Gestalt und keine breiten Schultern, und er würde nie König Odysseus sein. Aber er war ihr Mann. Er liebte sie treu, er war der Vater ihrer Kinder; und er war väterlicher- wie mütterlicherseits ein römischer Patrizier.

Deshalb lächelte sie ihn an, und diesmal lächelte sie auch mit den Augen. »Es ist nur die Aufregung des heutigen Tages, Quintus Servilius«, sagte sie sanft. »Mir geht es so gut wie schon seit Jahren nicht mehr.«

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