Ermutigt durch den Erfolg des Prozesses gegen Caepio, ließ Saturninus mit arroganter Willkür weitere Taten folgen, die den Senat bis in seine Grundfesten erschütterten. Unmittelbar nach dem Prozeß gegen Caepio erhob er in der Versammlung der Plebs Anklage gegen Gnaeus Mallius Maximus wegen »des Verlusts seiner Armee«. Das Urteil fiel ähnlich aus. Mallius Maximus, der beide Söhne in der Schlacht von Arausio verloren hatte, verlor jetzt noch das römische Bürgerrecht und sein gesamtes Vermögen. Als er das Exil antrat, war er, anders als der geldgierige Caepio, ein gebrochener Mann.
Ende Februar wurde das neue Hochverratsgesetz verabschiedet, die lex Appuleia de maiestate. Hochverratsprozesse wurden den schwerfälligen Zenturien entzogen und einem ausschließlich mit Rittern besetzten Sondergericht übertragen. Senatoren sollten zu diesem Gericht überhaupt keinen Zutritt haben. Trotzdem äußerten die Senatoren in der obligatorischen Senatsdebatte kaum Kritik an der Vorlage und verhinderten auch nicht, daß sie Gesetzeskraft erlangte.
Zwar waren dies gewaltige Veränderungen, die eine unvorstellbare Bedeutung für die zukünftige Lenkung Roms haben sollten, aber sie beschäftigten den Senat und das Volk weit weniger als die zur gleichen Zeit stattfindenden Priesterwahlen. Der Tod des pontifex maximus Lucius Caecilius Metellus Delmaticus hatte nicht nur eine, sondern gleich zwei Lücken im Priesterkollegium gerissen. Einige Senatoren waren zwar der Ansicht, da die beiden Stellen bisher ein und denselben Inhaber gehabt hätten, brauche auch jetzt nur einmal gewählt zu werden. Aber das war, wie der Senatsvorsitzende Scaurus mit mühsam beherrschter Stimme und zitternden Lippen einwandte, nur möglich, wenn der Mann, der als normaler pontifex gewählt wurde, auch für den Posten des pontifex maximus in Frage kam. Zuletzt einigte man sich darauf, den pontifex maximus zuerst zu wählen.
»Dann sehen wir weiter«, sagte Scaurus. Er atmete schwer, brach aber nur einmal kurz in dröhnendes Gelächter aus.
Sowohl er wie Metellus Numidicus kandidierten als pontifex maximus. Auch Catulus Caesar hatte sich aufstellen lassen. Und natürlich Gnaeus Domitius Ahenobarbus.
»Wenn ich gewählt werde oder Quintus Lutatius«, sagte Scaurus mit heroischer Beherrschung, »müssen wir eine zweite Wahl für den pontifex abhalten, da wir beide dem Priesterkollegium bereits angehören.«
Die Kandidaten für das Priesteramt waren ein gewisser Servilius Vatia, ein Aelius Tubero und Metellus Numidicus. Und Gnaeus Domitius Ahenobarbus.
Das neue Gesetz sah vor, daß von den fünfunddreißig Tribus siebzehn ausgelost werden sollten, und nur diese sollten dann wählen. Das Los wurde also geworfen, und die siebzehn Tribus wurden bestimmt. Die Wahl ging in bester Stimmung und friedlicher Atmosphäre vonstatten, auf dem Forum Romanum flog an diesem Tag kein einziger Stein! Außer Scaurus amüsierten sich noch viele andere Zuschauer köstlich über die Wahl. Nichts appellierte mehr an den römischen Sinn für Humor als ein Zank, in den die respektabelsten Namen auf den Bürgerlisten der Zensoren verwickelt waren, zumal wenn die geschädigte Partei es so geschickt verstand, den Spieß zu ihren Gunsten umzudrehen.
Natürlich war Gnaeus Domitius Ahenobarbus der Held der Stunde. Keiner war überrascht, als er zum pontifex maximus gewählt wurde, was eine zweite Wahl erübrigte. Das Volk jubelte, Blumenkränze flogen durch die Luft, und Gnaeus Domitius Ahenobarbus hatte sich erfolgreich an jenen gerächt, die das Priesteramt seines toten Vaters dem jungen Marcus Livius Drusus gegeben hatten.
Als das Wahlergebnis bekannt wurde, bekam Scaurus einen Lachkrampf - sehr zur Mißbilligung von Metellus Numidicus, der das überhaupt nicht witzig fand.
»Wirklich, Marcus Aemilius, das geht zu weit!« zeterte er. »Es ist eine Schande! Dieser Griesgram, dieser Saufbold, dieser Pimmel als pontifex maximus? Nach meinem lieben Bruder Delmaticus? Und vor dir? Vor mir?« Er schlug mit der Faust auf einen der volskischen Schiffsschnäbel, die der Rednerbühne ihren Namen rostra gegeben hatten. »Wenn ich die Römer hasse, dann vor allem dann, wenn ihr perverser Sinn für das Lächerliche ihren sonst so ausgeprägten Sinn für Benimm und Anstand überwiegt! Lieber stimme ich einem Gesetz des Saturninus zu! Es drückt wenigstens tiefverwurzelte Bedürfnisse des Volkes aus. Aber das hier, diese - Posse? Krasse Verantwortungslosigkeit! Ich hätte nicht übel Lust, Quintus Servilius ins Exil zu folgen, so sehr schäme ich mich.«
Aber je mehr Metellus Numidicus sich in seine Wut hineinsteigerte, desto heftiger lachte Scaurus. Ächzend hielt er sich die Seiten und sah Metellus Numidicus durch einen Vorhang von Tränen an. Schließlich brachte er japsend heraus: »Hör doch endlich auf, dich wie eine alte Vestalin aufzuführen, die zwei behaarte Eier und einen steifen Schwanz sieht! Es ist zum Totlachen. Und wir verdienen alles, was er uns austeilt!«
Er brach erneut in Gelächter aus. Metellus Numidicus gab einen schrillen Laut von sich wie eine Katze, der jemand auf den Schwanz getreten ist, und stelzte beleidigt davon.
Im September bekam Publius Rutilius Rufus einen der seltenen Briefe von Gaius Marius.
Ich weiß, daß ich öfter schreiben sollte, alter Freund, aber das Problem ist, ich bin kein guter Briefeschreiber. Deine Briefe dagegen sind wie Schwimmkorken, die man einem Ertrinkenden zuwirft. Jede Zeile ist wie du selbst: frei von überflüssigen Passagen, Plattitüden und Phrasen. Hast Du gemerkt? Jetzt ist mir immerhin eine Alliteration geglückt. Aber Du ahnst nicht, wieviel Mühe mich das gekostet hat.
Sicher bist Du wieder im Senat gewesen und hast das Gegrunze von unserem Freund Metellus Schweinebacke über Dich ergehen lassen müssen. Wahrscheinlich hat er sich wieder darüber beklagt, daß meine Proletarierarmee soviel kostet und nun schon das zweite Jahr tatenlos jenseits der Alpen herumsteht? Aber im Ernst: Wie bringe ich es fertig, daß ich zum vierten Mal als Konsul gewählt werde, das dritte Mal hintereinander? Denn ich muß gewählt werden, sonst verliere ich alles, was ich jetzt gewinnen kann. Nächstes Jahr Publius Rutilius, ist das Jahr der Germanen. Ich spüre es in den Knochen. Ja, ich gebe zu, daß ich keine Beweise für die Richtigkeit meines Gefühls habe, aber ich bin sicher daß Lucius Cornelius und Quintus Sertorius es bestätigen werden, wenn sie zurückkommen. Ich habe nichts von ihnen gehört, seit sie mir letztes Jahr König Copillus gebracht haben. Natürlich freue ich mich, daß meine beiden Volkstribunen die Verurteilung des Quintus Servilius Caepio erreicht haben, aber es tut mir leid, daß ich nicht selbst mit Copillus als Zeuge dabeisein konnte. Egal. Quintus Servilius hat seine gerechte Strafe bekommen. Es ist nur schade, daß Rom von dem Gold von Tolosa nie etwas sehen wird.
Das Leben hier geht seinen gewohnten Gang. Die Via Domitia ist jetzt die ganze Strecke von Nemausus bis Ocelum in tadellosem Zustand, so daß die Legionen es hier in Zukunft sehr viel leichter haben werden. Man hat die Straße verkommen lassen. An einigen Abschnitten ist nichts getan worden, seit der tata unseres neuen pontifex maximus vor fast zwanzig Jahren hier durchkam. Überschwemmungen, Frost und heftige Regenfälle haben einen schrecklichen Tribut gefordert. Zwar mußten wir keine neue Straße bauen, denn wenn die Steine für die Straßenbettung einmal an Ort und Stelle liegen, ist eine Grundlage für immer geschaffen. Aber schließlich kann man nicht erwarten, daß Männer, Wagen und Pferde wohlbehalten über ein holpriges Pflaster aus grobem Schotter ziehen, nicht wahr? Der Straßenbelag aus Sand und Kies muß glatt sein wie ein Ei. Man muß ihn mit Wasser feuchthalten, bis er so hart zusammengebacken ist wie Beton. Glaub mir, der gegenwärtige Zustand der Via Domitia macht meinen Männern alle Ehre.
Übrigens haben wir auch eine neue Dammstraße über die Rhône-Marschen von Nemausus nach Arelate gebaut. Und gerade vor ein paar Tagen haben wir einen neuen Kanal vom Meer nach Arelate fertiggestellt. Der Kanal ermöglicht es Schiffen, die Sümpfe, Schlammzonen und Sandbänke des natürlichen Wasserlaufs zu umgehen. Die griechischen Geschäftsleute von Massilia kriechen mir vor Dankbarkeit förmlich in den Arsch - Schleimer und Heuchler allesamt! Soviel ich weiß, hat ihre Dankbarkeit in keinem einzigen Fall zu einem Preisnachlaß bei den Waren geführt, die sie meiner Armee verkaufen!
Ich will Dir auch berichten, was mit Gaius Lusius passiert ist, für den Fall, daß Du eine verzerrte Version davon hörst - Nachrichten über mich und meine Anhänger werden ja eigentlich immer verzerrt. Erinnerst Du Dich an den Jungen der Schwester meiner Schwägerin? Er trat als Militärtribun in meine Armee ein. Bis sich dann herausstellte, daß eine militärische Karriere gar nicht sein Ziel war. Vor zwei Wochen suchte mich der Befehlshaber der Militärpolizei auf und überbrachte mir eine Meldung, eine schlechte Nachricht über ein Familienmitglied, wie er glaubte: Gaius Lusius war im Mannschaftsquartier tot aufgefunden worden. Jemand hatte ihm den Bauch so sauber mit einem Schwert aufgeschlitzt, wie ein Feldherr es sich von einem Soldaten nicht schöner wünschen kann. Der schuldige Soldat hatte sich bereits gemeldet und sich zu seiner Tat bekannt - ein netter junger Bursche und besonders tüchtiger Soldat, wie sein Zenturio mir berichtete. Es stellte sich heraus, daß Lusius schwul war und sich an diesen Soldaten heran gemacht hatte. Er setzte ihm immer mehr zu und wollte nicht lockerlassen. Die ganze Zenturie machte bereits ihre Witze darüber Die Soldaten tänzelten mit wackelndem Hintern durch die Gegend, wedelten mit den Händen und klapperten mit den Wimpern. Der arme Soldat wußte sich schließlich nicht mehr zu helfen. Ergebnis - Mord. Natürlich mußte ich ihn vor ein Kriegsgericht stellen, aber ich muß sagen: es war mir eine große Genugtuung, daß ich ihn freisprechen und ihn mit einer Belobigung, einer Beförderung und einer Belohnung entschädigen konnte. Gemerkt? Schon wieder eine Alliteration.
Auch ich hatte meinen Vorteil davon. Einmal konnte ich deutlich machen, daß Lusius kein Blutsverwandter von mir war. Zweitens konnte ich den Legionären zeigen, daß ihr Feldherr für Gerechtigkeit sorgt, wie es sich gehört, und Familienmitglieder nicht bevorzugt. Ich nehme an, es gibt Dinge, die Schwule tun können, aber die Legionen sind bestimmt nicht der richtige Platz für sie, meinst du nicht auch, Publius Rutilius? Kannst Du Dir vorstellen, was wir vor Numantia mit Lusius gemacht hätten? Er wäre nicht mit einem sauberen, schnellen Tod davongekommen. Er hätte in den höchsten Tönen gesungen. Obwohl, man wird älter. Ich werde nie vergessen, wie entsetzt ich über ein paar Dinge war, die man sich beim Begräbnis des Scipio Aemilianus über den großen Feldherrn erzählte! Na ja, er hat sich nie an mich ran gemacht, also weiß ich es nicht sicher. Seltsamer Bursche, aber - wahrscheinlich kursieren immer solche Geschichten, wenn jemand keine Kinder hat.
Das wär’s im großen ganzen. Ach so: Ich habe dieses Jahr einige Verbesserungen am Wurfspieß vorgenommen und glaube, daß die neue Version sich durchsetzen wird. Wenn Du Geld übrig hast, kauf Dir Anteile an einer der neuen Fabriken, die den Wurfspieß demnächst herstellen werden. Oder gründe selbst eine Fabrik. Solange Dir das Gebäude gehört, können die Zensoren Dir nicht vorwerfen, daß Du damit gegen die Würde eines Senators verstößt.
Ich habe die Verbindung zwischen Eisen und Holzschaft verändert. Das pilum ist ja eine viel wirkungsvollere Waffe als die alte Lanze, aber es kostet natürlich auch eine ganze Stange mehr Geld. Man braucht eine kleine, mit einem Widerhaken versehene Spitze statt der großen, blattförmigen Spitze, einen langen Eisenschaft und einen besonders geformten Holzschaft, der sich besser werfen läßt als der Besenstiel der alten Lanze. Ich habe in den vergangenen Jahren oft genug erlebt, wie scharf unsere Feinde auf unser pilum sind. Sie provozieren die Neulinge in unseren Truppen absichtlich, daß sie ihre Spieße schon werfen, wenn sie noch nichts treffen können als höchstens einen feindlichen Schild. Dann behalten sie die Spieße für später oder werfen sie gleich zurück.
Ich bin deshalb darauf verfallen, das Eisen nur durch einen Holznagel am Holzschaft zu befestigen. Sobald der Spieß irgendwo aufprallt, bricht das Eisen ab. Der Feind kann es nicht zurückwerfen oder später wiederverwenden. Wenn wir das Schlachtfeld behaupten, können die Waffenschmiede nach der Schlacht die zerbrochenen Teile einsammeln und sie wieder zusammenfügen. Das spart uns Geld und Soldaten, weil der Feind die Spieße nicht zurückwerfen kann.
Aber das ist jetzt wirklich alles. Schreibe bald.
Publius Rutilius legte den Brief mit einem Lächeln zur Seite. Keine geschliffene Rhetorik, kein eleganter Ausdruck, kein kunstvoller Stil. Aber so war Gaius Marius eben. Er war wie seine Briefe. Seine fixe Idee mit dem Konsulat war allerdings beunruhigend. Publius Rutilius konnte einerseits verstehen, warum Marius Konsul bleiben wollte, bis die Germanen besiegt waren - Marius wußte, daß nur er die Germanen besiegen konnte. Andererseits war Rutilius Rufus zu sehr ein Römer seiner Klasse, um dies billigen zu können, selbst in Anbetracht der Germanengefahr. Lohnte ein Rom, das durch Marius Neuerungen so verändert worden war, daß es nicht mehr das Rom des Romulus war, den Einsatz noch? Rutilius Rufus wünschte, er wüßte die Antwort. Es war schwierig, mit jemandem so befreundet zu sein, wie er mit Marius befreundet war, und zugleich zu erleben, wie dieser Freund eine Tradition nach der anderen zerstörte. Jetzt also der Wurfspieß, bei Juno! Konnte Marius nichts so lassen, wie es war?
Trotzdem setzte er sich hin und verfaßte sofort eine Antwort. Schließlich war Marius sein Freund.
Es war ein ereignisloser Sommer, deshalb kann ich leider nicht viel berichten, lieber Gaius Marius. Nichts Wichtiges jedenfalls. Dein verehrter Kollege und Mitkonsul Lucius Aurelius Orestes liegt gesundheitlich darnieder, aber das tut er ja schon seit seiner Wahl. Ich weiß gar nicht, warum er überhaupt kandidiert hat. Wahrscheinlich hatte er einfach das Gefühl, er habe das Amt verdient. Bleibt abzuwarten, ob auch das Amt ihn verdient hat. Irgendwie bezweifle ich es.
Zwei saftige Skandale sind alles an Neuem, aber ich weiß, Du wirst Dich genauso darüber amüsieren wie ich. Interessanterweise ist in beide Dein Volktribun Lucius Appuleius Saturninus verwickelt. Ein bemerkenswerter Bursche, wirklich. Er besteht aus lauter Widersprüchen. Jammerschade, denke ich immer daß Scaurus gerade ihn zur Zielscheibe gemacht hat. Ich bin überzeugt, Saturninus ist mit dem festen Vorsatz in den Senat eingezogen, eines Tages als erster Appuleius auf dem Stuhl des Konsuls zu sitzen. Jetzt brennt er darauf, den Senat so zu ducken, daß die Konsuln nur noch reglose Wachsmasken sind. Ja, ja, ich höre Dich schon sagen, ich sei wieder über Gebühr pessimistisch und würde übertreiben, und mein Urteil sei durch meine Liebe zu den alten Traditionen getrübt. Aber ich habe trotzdem recht! Ich hoffe, Du entschuldigst, wenn ich die verschiedenen Personen im folgenden nur noch mit ihren Beinamen nenne. Es wird ein langer Brief und so spare ich wenigstens ein paar Worte.
Saturninus ist rehabilitiert worden. Was sagst Du dazu? Eine erstaunliche Geschichte, die auch unserem verehrten Senatsvorsitzenden Scaurus sehr zur Ehre gereicht. Du mußt zugeben, er ist ein weit feinerer Mensch als sein Busenfreund Metellus. Aber das ist eben der Unterschied zwischen einem Aemilius und einem Caecilius.
Du weißt, daß Scaurus für die Getreidebeschaffung zuständig ist - ich habe es Dir ja selbst geschrieben. Er pendelt ständig zwischen Ostia und Rom hin und her und macht den Getreidegroßhändlern das Leben schwer, weil er ihnen nichts durchgehen läßt. Wenn die Preise während der beiden letzten Ernten trotz des Getreidemangels bemerkenswert stabil geblieben sind, so haben wir das ausschließlich einem Mann zu danken: Scaurus!
Schon gut, ich beende meine Lobeshymne und fahre mit meiner Geschichte fort. Als Scaurus vor zwei Monaten in Ostia war, hat er dort wohl einen Getreideagenten getroffen, der sonst in Sizilien tätig ist. Ich brauche Dich nicht über den Sklavenaufstand in Sizilien zu informieren, Du bekommst ja regelmäßig die Berichte des Senats. Ich ergänze nur, daß wir meiner Ansicht nach dieses Jahr den richtigen Mann als Statthalter nach Sizilien geschickt haben. Lucius Licinus Lucullus mag ein aufgeblasener Aristokrat sein mit einer Schnute wie ein Katzenpopo, aber er berichtet nicht nur dem Senat gewissenhaft über sein Vorgehen, er räumt auf dem Schlachtfeld auch gewissenhaft auf.
Kannst Du Dir übrigens vorstellen, daß ein schwachsinniger Prätor - ein plebejischer Servilier mit zweifelhaften Vorfahren, der sich mit dem Geld seines Gönners Ahenobarbus als Augur wählen ließ und sich jetzt bitteschön Gaius Servilius Augur nennt! -, daß also dieser Prätor gestern tatsächlich die Stirn hatte, im Senat aufzustehen und Lucullus vorzuwerfen, er ziehe den Krieg in Sizilien absichtlich in die Länge, um zu erreichen, daß sein Kommando bis nächstes Jahr verlängert wird?
Wie kommt er auf diesen absurden Vorwurf? höre ich Dich fragen. Nun, nachdem Lucullus die Sklavenarmee so vernichtend geschlagen hatte, eilte er nicht gleich nach Triocala weiter, denn er wollte seine Arbeit gründlich tun. Nach dem Sieg über die Sklaven nahm er sich eine Woche Zeit, räumte die fünfunddreißigtausend toten Sklaven vom Schlachtfeld und hob die Widerstandsnester rund um Heracleia Minoa aus, wo leicht neue Gefahren für Rom hätten keimen können. Erst dann zog er nach Triocala weiter, wo die überlebenden Sklaven sich verschanzt hatten. Servilius der Augur sagt nun, Lucullus hätte nach der Schlacht wie ein Vogel geradewegs nach Triocala fliegen sollen, denn - so seine Vermutung - die Sklaven, die sich in Triocala verschanzt hatten, seien in einem solchen Zustand der Panik gewesen, daß sie sich Lucullus sofort ergeben hätten! Während es in Wirklichkeit dann anders kam: Als Lucullus vor Triocala eintraf, hatten die Sklaven ihre Panik überwunden und beschlossen weiterzukämpfen. Woher Servilius der Augur das alles weiß, fragst Du? Na ja, als Augur weiß er eben alles im voraus! Woher hätte er sonst wissen sollen, wie rebellischen Sklaven zumute ist, die in einer uneinnehmbaren Festung eingeschlossen sind? Aber glaubst Du wirklich, Lucullus ist so hinterlistig, daß er zuerst eine große Schlacht kämpft und dann überlegt, wie er seine Amtszeit als Statthalter verlängern kann? Das ist doch kompletter Unsinn! Lucullus hat gehandelt, wie seine Natur es ihm befahl - er ist schön sorgfältig der Reihe nach vorgegangen.
Ich war über Servilius’ Rede empört, aber noch empörter war ich, als pontifex maximus Ahenobarbus dieses absurde Konglomerat unhaltbarer Unterstellungen auch noch lautstark unterstützte! Natürlich glaubten die ganzen Sandkasten-Feldherren von den hinteren Plätzen, die ein Ende des Schlachtfelds nicht vom anderen unterscheiden können, Lucullus habe sich tatsächlich etwas zuschulden kommen lassen! Warten wir’s ab. Sei auf jeden Fall nicht überrascht, wenn Du hörst, daß der Senat beschlossen hat, erstens Lucullus’ Amt nicht zu verlängern und zweitens im nächsten Jahr ausgerechnet Servilius zum Statthalter von Sizilien zu ernennen. Denn Servilius ist nur deshalb hinter Lucullus her, damit er nächstes Jahr Statthalter von Sizilien werden kann! Für einen unerfahrenen Anfänger und Faulpelz wie ihn ist das ein gemachtes Bett, denn die ganze Arbeit hat ja schon Lucullus getan. Nach der Niederlage bei Heracleia Minoa sind die übriggebliebenen Sklaven in eine Festung geflohen, die sie nicht mehr verlassen können, weil Lucullus sie belagert. Er hat genügend Bauern wieder auf die Felder geschickt, so daß die diesjährige Getreideernte gesichert ist, und die ländlichen Gebiete Siziliens werden nicht mehr von der Sklavenarmee geplündert. Der neue Statthalter Servilius braucht also nur noch die Bühne zu betreten und von allen Seiten Lob einzuheimsen. Ich sage Dir Gaius Marius, nichts ist gefährlicher als Ehrgeiz ohne Talent.
Beim Pollux, das war aber eine gewaltige Abschweifung! Ich habe mich von meiner Entrüstung über die Not des armen Lucullus hinreißen lassen. Er tut mir so furchtbar leid. Aber weiter mit der Geschichte von Scaurus, der in Ostia durch Zufall einen der Getreideeinkäufer aus Sizilien traf. Als die Getreidehändler letztes Jahr noch glaubten, ein Viertel der Sklaven auf Sizilien würde noch vor der Ernte freigelassen, rechneten sie sich aus, daß ein Viertel des Getreides aus Mangel an Arbeitskräften auf den Feldern liegenbleiben würde. Also wollte niemand dieses letzte Viertel kaufen. Das war vor den zwei Wochen, in denen das Nagetier Nerva achthundert italische Sklaven befreite. In diesen zwei Wochen reisten der Getreideeinkäufer, den Scaurus später in Ostia traf, und einige seiner Kollegen durch Sizilien und kauften hektisch das letzte Viertel der Ernte zu einem lächerlich geringen Preis. Dann schüchterten die Getreideanbauer Nerva so ein, daß er aufhörte, Sklaven zu befreien. Damit gab es in Sizilien auf einmal wieder genug Arbeitskräfte, und man konnte die ganze Ernte einbringen. Das letzte, für ein Butterbrot gekaufte Viertel der Ernte war jetzt im Besitz einer oder mehrerer unbekannter Personen. Damit ist klar, warum plötzlich sämtliche leerstehenden Getreidespeicher zwischen Puteoli und Rom angemietet wurden. Das letzte Viertel sollte in diesen Speichern bis zum nächsten Jahr aufbewahrt werden, weil dann die sizilische Ernte geringer ausfallen würde als normal. Denn dann würden die italischen Sklaven auf erneuten Druck Roms hin endgültig befreit werden, und das Getreide würde sich verteuern.
Die unbekannten Spekulanten rechneten freilich nicht mit dem Sklavenaufstand. Statt des gesamten Getreides wurde gar nichts geerntet. Aus dem grandiosen Plan, mit dem letzten Viertel enorme Profite zu machen, wurde nichts, und die an gemieteten Getreidespeicher blieben leer.
Aber zurück zu jenen hektischen zwei Wochen, in denen Nerva einige italische Sklaven befreite und eine Gruppe von Getreidehändlern das letzte Viertel der Ernte aufkaufte. Als das Getreide gekauft war und Nerva sein Büro zumachte, wurden die Händler von bewaffneten Banditen überfallen und bis auf den letzten Mann umgebracht. Das glaubten zumindest die Banditen. Doch einer von ihnen stellte sich nur tot und konnte entkommen - das war der Bursche, den Scaurus in Ostia traf.
Scaurus roch den Braten. Was für eine geniale Spürnase! Welcher Scharfsinn! Anders als der Getreideagent sah er den Zusammenhang sofort. Dafür könnte ich ihn umarmen, auch wenn er ein sturer Konservativer ist. Er buddelte wie ein Terrier und entdeckte, daß die anonymen Drahtzieher keine anderen waren als eben Dein ehrenwerter Mitkonsul vom letzten Jahr, Gaius Flavius Fimbria, und der diesjährige Statthalter von Makedonien, Gaius Memmius! Sie hatten unseren Terrier Scaurus letztes Jahr auf eine klug gelegte falsche Fährte geführt, die ihn zum Quästor von Ostia gebracht hatte - unserem rührigen Volkstribunen Lucius Appuleius Saturninus.
Als Scaurus genügend Beweise gesammelt hatte, ging er damit an die Öffentlichkeit. Er entschuldigte sich zweimal bei Saturninus - einmal im Senat und einmal in der Volksversammlung. Das war ihm zwar furchtbar peinlich, aber er blieb seiner Würde nichts schuldig. Und alle Welt verzeiht dem, der sich aufrichtig und würdevoll entschuldigt. Umgekehrt muß ich sagen, daß Saturninus nach seiner Rückkehr in den Senat als Volkstribun Scaurus nie angegriffen hat. Auch Saturninus meldete sich zu Wort, einmal im Senat und einmal in der Volksversammlung, und sagte, er habe Scaurus nie etwas nachgetragen, denn er habe erkannt, wie raffiniert die wahren Schurken gearbeitet hätten. Er sei Scaurus für seine Rehabilitation zutiefst dankbar. Auch er wahrte also seine Würde. Die Sympathien gehören ja auch dem, der eine aufrichtige Entschuldigung bescheiden und demütig annimmt.
Scaurus bot Saturninus an, Fimbria und Memmius vor seinem neuen Gericht wegen Hochverrat anzuklagen, und Saturninus nahm natürlich an. Jetzt freuen wir uns also auf einen Prozeß gegen Fimbria und Memmius, bei dem es viel Feuer und wenig Rauch geben wird. Ich nehme an, daß sie vor einem mit Rittern besetzten Gericht angeklagt werden, denn viele Ritter aus dem Getreidegeschäft haben Geld verloren, und man gibt Fimbria und Memmius die Schuld an der ganzen sizilischen Katastrophe. Und die Moral der Geschichte: Manchmal erhalten die wirklichen Bösewichter eben doch ihre gerechte Strafe.
Die andere Begebenheit, in die Saturninus verwickelt ist, ist noch viel witziger und interessanter. Ich weiß freilich immer noch nicht genau, auf was unser so glänzend rehabilitierter Volkstribun eigentlich hinaus will.
Vor ungefähr zwei Wochen tauchte ein Mann auf dem Forum auf und bestieg die Rednerbühne, die gerade leer war, da die Volksversammlung nicht tagte und auch sonst niemand reden wollte. Er verkündete dem unteren Teil des Forums, er heiße Lucius Equitius und sei ein freigelassener Sklave und römischer Bürger aus Firmum Picenum und - halt Dich fest, Gaius Marius, jetzt kommt’s! - der uneheliche Sohn des Tiberius Sempronius Gracchus höchstpersönlich!
Dann spulte er eine Geschichte ab, die, soweit sie geht, in sich logisch ist. In Kürze: Seine Mutter war eine freie Römerin aus guten, jedoch mittellosen Verhältnissen. Sie verliebte sich in Tiberius Gracchus, und dieser erwiderte ihre Liebe. Aber natürlich konnte sie ihn wegen ihrer geringen Abstammung nicht heiraten. Sie wurde also seine heimliche Geliebte und lebte in einem kleinen, aber komfortablen Haus auf einem der Landgüter des Tiberius Gracchus. Dort erblickte nach einiger Zeit Lucius Equitius das Licht der Welt - seine Mutter hieß Equitia.
Dann wurde Tiberius Gracchus ermordet, und kurz darauf starb auch Equitia. Ihren kleinen Sohn hinterließ sie der Fürsorge von Cornelia, der Mutter der Gracchen. Cornelia war allerdings gar nicht erbaut darüber und übergab das uneheliche Kind ihres Sohnes einem Sklavenehepaar auf ihrem Besitz in Misenum. Später ließ sie ihn als Sklaven an Leute in Firmum Picenum verkaufen.
Lucius Equitius behauptet, er habe damals nicht gewußt, wer er war. Wenn er freilich all das getan hat, was er getan haben will, dann war er kein Kind mehr, als sein Vater starb. In diesem Fall hätte er gelogen. Wie auch immer, er stellte sich nach seinem Verkauf in die Sklaverei jedenfalls so geschickt an und machte sich bei seinem Besitzer so beliebt, daß er nach dem Tod des Familienoberhaupts nicht nur freigelassen wurde, sondern auch den gesamten Familienbesitz erbte, da es keine leiblichen Erben gab. Er hatte eine hervorragende Erziehung genossen, deshalb steckte er das ererbte Geld in Geschäfte. Im Lauf der nächsten Jahre diente er in den Legionen und machte dort ein Vermögen. Wenn man ihn reden hört, hält man ihn für fünfzig, aber er sieht eher aus wie dreißig.
In den Legionen lernte er einen Mann kennen, der viel Aufhebens wegen seiner Ähnlichkeit mit Tiberius Gracchus machte. Nun hatte Lucius Equitius schon immer gewußt, daß er Italiker war und kein Ausländer, und er hatte, wie er sagt, schon oft darüber nachgedacht, wer seine Eltern gewesen sein mochten. Ermutigt durch die Entdeckung, daß er wie Tiberius Gracchus aussah, spürte er das Sklavenehepaar auf, bei dem Cornelia ihn eine Weile untergebracht hatte, und von ihnen erfuhr er die Geschichte seiner Herkunft. Ist das nicht herrlich? Ich habe mich noch nicht entschieden, ob ich es für eine griechische Tragödie oder eine römische Posse halten soll.
Natürlich versetzte er unsere gutgläubigen, sentimentalen Forumsbesucher in helle Aufregung, und ein oder zwei Tage später wurde er bereits überall als Sohn des Tiberius Gracchus gefeiert. Jammerschade, daß dessen eheliche Söhne alle tot sind, was? Lucius Equitius ist Tiberius Gracchus übrigens tatsächlich bemerkenswert ähnlich - es ist schon fast unheimlich. Er spricht genauso, geht genauso, macht dieselben Grimassen und bohrt sogar genauso in der Nase. Ich glaube, was mich am meisten mißtrauisch gegen Lucius Equitius macht, ist die zu perfekte Übereinstimmung. Das ist schon ein Zwilling, kein Sohn. Ich habe wiederholt feststellen können, daß Söhne ihren Vätern nicht in allem ähneln, und nicht wenige Frauen, die mit einem Sohn niederkommen, sind dafür zutiefst dankbar und behaupten dem Vater gegenüber steif und fest, ihr Sproß sei Großonkel Lucius Sowieso wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber lassen wir das!
Als nächstes müssen wir alten Herren vom Senat dann erleben, wie Saturninus diesen Lucius Equitius unter seine Fittiche nimmt und ihn auf die Rednerbühne holt und ermutigt, sich eine Anhängerschaft aufzubauen. Es vergeht kaum eine Woche, da ist Equitius schon der Held sämtlicher Einwohner Roms, die weniger verdienen als ein Beamter des Schatzamtes und mehr als ein Proletarier. Sämtlicher Händler, Ladenbesitzer, Handwerker und Kleinbauern der Dritten, Vierten und Fünften Klasse also. Du kennst diese Menschen. Sie beten den Boden an, über den einst die Gracchen schritten. Es sind ehrliche, hart arbeitende Menschen, die in ihren Tribus nicht oft wählen, aber oft genug, um sich freigelassenen Sklaven und Proletariern deutlich überlegen zu fühlen. Die Sorte, die zu stolz ist, um von Almosen zu leben, aber auch nicht reich genug, um astronomische Getreidepreise zu überleben.
Den Senatsvätern, besonders denen mit dem Purpurstreifen an der Toga, wurde langsam etwas mulmig bei so viel Verehrung. Sie machten sich regelrecht Sorgen, zumal ja auch Saturninus irgendwie seine Hand im Spiel hatte, auch wenn keiner genau weiß, wie. Aber was konnte man tun? Schließlich wartete ausgerechnet unser neuer pontifex maximus Ahenobarbus mit einem Vorschlag auf - er hat übrigens einen neuen, überaus treffenden Spitznamen: Pimmel. Er schlug vor, die Schwester der Gracchen, die Witwe des Scipio Aemilianus - ihre ehelichen Streitereien sind uns ja bis heute unvergessen -, solle zum Forum gebracht und auf der Rednerbühne dem vermutlichen Betrüger gegenübergestellt werden.
Vor drei Tagen war es dann soweit. Saturninus stand etwas abseits und grinste wie ein Idiot - nur daß er keiner ist, aber was führt er dann im Schilde? -, Lucius Equitius starrte das verhutzelte Weiblein verwirrt an. Ahenobarbus waltete seines Amtes als pontifex maximus, packte Sempronia an der Schulter - das hatte sie allerdings gar nicht gern, sie schüttelte ihn ab wie eine haarige Spinne - und fragte sie donnernd: »Tochter des Tiberius Sempronius Gracchus und der Cornelia Africana, kennst du diesen Mann?«
Natürlich keifte sie, sie habe ihn nie in ihrem Leben gesehen und ihr innig geliebter Bruder Tiberius sei sowieso nie, aber auch gar niemals außerhalb des heiligen Bundes der Ehe auf die Jagd gegangen, das Ganze sei also völliger Unsinn. Dann ging sie auf Equitius los und bearbeitete ihn mit ihrem Spazierstock aus Ebenholz und Elfenbein. Es war wirklich die köstlichste Posse, die Du Dir vorstellen kannst - ich wünschte, Lucius Cornelius Sulla hätte dabeisein können. Er hätte darin geschwelgt!
Schließlich mußte Ahenobarbus Pimmel - ein wunderbarer Spitzname! Und er stammt ausgerechnet von Metellus Numidicus! - sie gewaltsam von der Bühne holen, während das Publikum vor Lachen brüllte. Scaurus lachte, bis ihm die Tränen kamen, und er lachte noch mehr, als Ahenobarbus, Metellus Numidicus und dessen Sohn ihm vorwarfen, sein Benehmen sei beschämend für einen Senator.
Als Equitius die Rednerbühne wieder für sich hatte, trat Saturninus zu ihm und fragte ihn, ob er wisse, wer die alte Schachtel sei. Equitius sagte nein, er wisse es nicht. Entweder hatte er nicht zugehört, als Ahenobarbus ihm die Frau mit donnernder Stimme vorgestellt hatte, oder er log. Daraufhin setzte Saturninus ihm kurz, aber freundlich auseinander, die Dame sei Tantchen Sempronia, die Schwester der Brüder Gracchus. Equitius sah ihn erstaunt an und sagte, er habe Tante Sempronia in seinem bisherigen, so erstaunlich rührigen Leben nie gesehen. Es würde ihn auch sehr wundern, wenn Tiberius Gracchus seiner Schwester je von der Freundin und dem Kind im Liebesnest auf dem Bauernhof erzählt hätte. Die Zuschauer nahmen das als plausible Antwort. Sie glauben fröhlich weiter, daß Lucius Equitius der uneheliche Sohn des Tiberius Gracchus ist. Die Senatoren, insbesondere Ahenobarbus, schäumen. Alle jedenfalls bis auf Saturninus, Scaurus und mich. Saturninus feixt, Scaurus lacht, und Du darfst dreimal raten, was ich tue!
Publius Rutilius seufzte und schüttelte seine verkrampfte Hand. Wenn Briefeschreiben ihm doch so schwerfallen wurde wie Gaius Marius! Vielleicht wäre dann die Versuchung nicht so groß, den Bericht mit all jenen köstlichen Details auszuschmücken, die aus einem fünfspaltigen Schreiben ein fünfundfünfzigspaltiges machten.
Das, lieber Gaius Marius, ist nun aber wirklich alles. Wenn ich hier noch einen Augenblick länger sitze, kommen mir noch mehr unterhaltsame Geschichten in den Sinn, und ich schlafe noch mit der Nase im Tintenfaß ein. Ich wünschte, es gäbe einen besseren, das heißt römischeren Weg, Dir den Oberbefehl zu sichern, ohne daß Du noch einmal für das Konsulat kandidieren mußt. Ich sehe auch nicht, wie Du Deine Wahl durchsetzen willst. Aber ich wage zu sagen, daß es Dir gelingen wird. Bleib gesund. Denk dran, Du bist nicht mehr der Jüngste, also übertreib nicht und brich Dir keine Knochen. Ich schreibe wieder, sobald es etwas zu schreiben gibt.
Gaius Marius erhielt den Brief Anfang November. Gerade hatte er ihn so weit entziffert, daß er ihn in einem Zug und mit Genuß durchlesen konnte, da traf Sulla im Lager ein. Daß er diesmal endgültig zurück war, zeigte er dadurch, daß er sich als erstes seinen inzwischen gigantischen Schnurrbart abrasierte und sich die Haare schneiden ließ. Dann stieg er ins Bad, und während Sulla sich genußvoll im warmen Wasser räkelte, las Marius ihm den Brief vor. Er war glücklich wie ein Kind, daß Sulla wieder da war und sich mit ihm über den Brief freuen konnte.
Später zogen die beiden sich in das Arbeitszimmer des Feldherrn zurück. Marius gab Anweisung, daß er auch nicht von Manius Aquilius nicht gestört werden wolle. »Nimm doch diesen komischen Halsring ab!« sagte Marius, als der wieder wie ein Römer aussehende, mit einer Tunika bekleidete Sulla sich vorbeugte und der große, goldene Ring im Licht glänzte.
Aber Sulla schüttelte lächelnd den Kopf. Liebevoll fuhr er mit den Fingern über die schön gearbeiteten Drachenköpfe, in die die beiden Enden des fast kreisrunden Halsrings ausliefen. »Ich glaube nicht, daß ich ihn je wieder abnehmen werde, Gaius Marius. Sieht barbarisch aus, nicht?«
»Er paßt nicht zu einem Römer«, brummte Marius.
»Die Sache ist nur die: Der Ring ist mein Talisman. Wenn ich ihn abnehme, verliere ich vielleicht mein Glück.« Mit einem wollüstigen Seufzer sank Sulla auf eine Liege. »Ah, wie gut das tut, wieder wie ein zivilisierter Mensch zu liegen. Bei den Germanen mußte ich stundenlang aufrecht auf harten Holzbänken am Tisch sitzen. Ich glaubte schon, ich hätte nur geträumt, daß es Völker gibt, die sich zum Essen hinlegen. Und wie gut es tut, wieder etwas mäßiger zu essen! Die Gallier und Germanen treiben alles bis zum Exzeß - sie essen und trinken, bis sie sich übereinander erbrechen, oder sie verhungern halb, weil sie zum Plündern oder in die Schlacht gezogen sind, ohne sich etwas zu essen einzupacken. Aber wild sind sie, Marius! Und tapfer! Ich sage dir, wenn sie nur ein Zehntel unserer Organisation und Selbstdisziplin hätten, wir könnten nie hoffen, sie zu besiegen.«
»Zu unserem Glück haben sie nicht einmal ein Hundertstel von beidem, deshalb werden wir sie besiegen. Das entnehme ich jedenfalls deinen Worten. Hier, trink das. Falerner.«
Sulla trank in tiefen, aber langsamen Zügen. »Wein, Wein, Wein! Götternektar und Seelenbalsam, Trost des zerrütteten Gemüts! Wie konnte ich je ohne ihn leben?« Er lachte. »Ich bin froh, wenn ich den Rest meines Lebens kein mit Bier gefülltes Horn und keinen Humpen mit Met mehr sehe! Wein ist das Getränk der Zivilisation! Keine Rülpser, keine Blähungen, kein Bierbauch - wer ständig Bier trinkt, wird zur wandelnden Zisterne.«
»Wo ist Quintus Sertorius? Es ist ihm doch nichts zugestoßen?«
»Er ist auf dem Weg hierher; aber wir sind getrennt gereist«, sagte Sulla. »Außerdem wollte ich zuerst allein mit dir sprechen, Gaius Marius.«
»Wie du willst, Lucius Cornelius, wenn ich nur endlich alles höre.« Marius sah Sulla voller Zuneigung an.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Dann fang am Anfang an. Wo sind sie? Woher kommen sie? Seit wann sind sie auf Wanderschaft?«
Sulla nahm einen Schluck Wein, schnalzte genüßlich mit der Zunge und schloß die Augen. »Sie nennen sich selbst nicht Germanen, denn sie betrachten sich nicht als ein Volk. Es gibt Kimbern, Teutonen, Markomannen, Cherusker und Tiguriner. Die Heimat der Kimbern und Teutonen ist eine langgestreckte, große Halbinsel im Norden Germaniens. Einige griechische Geographen haben vage Angaben darüber gemacht. Sie nennen die Halbinsel die Kimbrische Chersonesos. Die nördliche Hälfte der Halbinsel scheint die Heimat der Kimbern gewesen zu sein, die an das germanische Festland anschließende Hälfte die Heimat der Teutonen. Obwohl sie selbst sich als verschiedene Völker betrachten, ist es schwierig, sie nach ihrer äußeren Erscheinung zu unterscheiden. Lediglich ihre Sprachen sind etwas verschieden, sie können sich allerdings gegenseitig verstehen.
Sie waren keine Nomaden, aber auch keine Ackerbauern in unserem Sinn. Die Winter scheinen dort mehr naß als kalt gewesen zu sein, deshalb wuchs auf dem Boden das ganze Jahr über saftiges Gras. Sie lebten von der Viehzucht und bauten ein wenig Hafer und Roggen an. Fleischesser und Milchtrinker also, dazu etwas Gemüse, ein wenig hartes Schwarzbrot und Haferbrei.
Ungefähr zu der Zeit, als Gaius Gracchus starb - jedenfalls vor rund zwanzig Jahren -, gab es dort heftige Überschwemmungen. Schmelzwasser aus den Bergen überflutete die großen Flüsse, es regnete und stürmte, und das Meer stieg. Der Atlantische Ozean bedeckte die ganze Halbinsel. Als das Meer sich wieder zurückzog, war der Boden so salzig, daß kein Gras mehr wuchs, und die Brunnen waren mit Brackwasser gefüllt. Deshalb bauten die Germanen Wagen, trieben die Rinder und Pferde, die die Flut überlebt hatten, zusammen und zogen los, um sich eine neue Heimat zu suchen.«
Marius hörte ihm fasziniert zu. Kerzengerade und wie erstarrt saß er auf seinem Stuhl, den Wein unbeachtet neben sich. »Sind alle fortgegangen?« fragte er. »Wie viele waren es?«
»Nicht alle, nein. Die Alten und Schwachen bekamen einen Schlag auf den Kopf und wurden in großen Hügelgräbern bestattet. Nur die Krieger, die jungen Frauen und die Kinder zogen los. Ich schätze, daß sich etwa sechshunderttausend Menschen auf den Marsch nach Südosten machten, das Tal der Elbe aufwärts.«
»Aber dieser Teil der Welt ist doch kaum besiedelt.« Marius runzelte die Stirn. »Warum sind sie nicht im Tal der Elbe geblieben?«
Sulla zuckte die Schultern. »Wenn sie es selbst nicht wissen, wer soll es dann wissen? Es scheint, daß sie sich in die Hände ihrer Götter gegeben und auf eine Art göttliches Zeichen gewartet haben, das ihnen sagen würde, wann sie ihre neue Heimat gefunden hätten. Offenbar sind sie auf ihrem Marsch kaum auf Widerstand gestoßen, wenigstens nicht entlang der Elbe. Schließlich erreichten sie das Quellgebiet des Flusses und sahen zum ersten Mal hohe Berge. Noch nie in der ganzen Geschichte ihres Volkes hatte jemand Berge gesehen, es gab keine Erzählungen über Berge. Die Kimbrische Chersonesos ist flach und tief.«
»Das denke ich mir, wenn das Meer sie überfluten konnte«, sagte Marius. Er hob hastig die Hand. »Nein, das war nicht sarkastisch gemeint, Lucius Cornelius! Ich drücke mich nur ungeschickt aus.« Er stand auf und schenkte Sulla nach. »Die Berge haben sicher einen mächtigen Eindruck auf sie gemacht.«
»Auf jeden Fall. Ihre Götter waren Götter des Himmels, aber als sie das in die Wolken ragende Gebirge vor sich sahen, waren sie überzeugt, daß die Berge mit Göttern bevölkert seien, und sie begannen, diese Götter anzubeten. Seitdem haben sie sich eigentlich immer in der Nähe von Bergen aufgehalten. Im vierten Jahr ihrer Wanderung überquerten sie eine Wasserscheide. Sie kamen vom Einzugsgebiet der Elbe ins Einzugsgebiet der Donau, über die wir natürlich mehr wissen. Dann wandten sie sich entlang der Donau nach Osten und zogen ins Gebiet der Goten und Sarmaten.«
»Sie wollten also zum Schwarzen Meer?«
»Es scheint so. Die Boier hinderten sie allerdings am Betreten des nördlichen Dakien, sie mußten deshalb weiter der Donau folgen, die hier einen scharfen Knick nach Süden nach Pannonien macht.«
»Die Boier sind natürlich Kelten«, sagte Marius nachdenklich. »Kelten und Germanen haben sich wahrscheinlich nicht vermischt.«
»Nein, weit davon entfernt. Aber es ist interessant, daß die Germanen nirgends länger verweilten und um Land kämpften. Beim geringsten Zeichen von Widerstand der ortsansässigen Stämme zogen sie weiter. Wie im Fall der Boier. In der Nähe der Einmündung von Theiß und Save in die Donau verstellten ihnen wieder Kelten den Weg. Diesmal waren es die Skordisker.«
»Aber die Skordisker sind ja auch unsere Feinde!« rief Marius. Er grinste. »Ist es nicht ein Trost zu wissen, daß wir und die Skordisker einen gemeinsamen Feind haben?«
Sulla hob eine rotgoldene Braue und sagte trocken: »Ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, daß das Ganze vor fünfzehn Jahren passierte und wir nichts davon erfuhren.«
»Heute sage ich aber auch gar nichts Richtiges, was? Verzeih mir, Lucius Cornelius. Du hast bei den Germanen gelebt. Ich bin einfach so aufgeregt über deine Neuigkeiten, daß mir die rechten Worte nicht einfallen.«
»Schon in Ordnung, Gaius Marius, das kann ich verstehen.« Sulla lächelte.
»So erzähle doch weiter!«
»Das vielleicht größte Problem der Germanen war, daß sie keinen Führer hatten, der diesen Namen verdient hätte. Sie hatten nicht einmal so etwas wie einen Generalplan, wenn ich es einmal so nennen darf. Ich glaube, sie warteten einfach auf den Tag, an dem ihnen irgendein großer König erlauben wurde, in einem unbewohnten Teil seines Landes zu siedeln.«
»Und darauf sind große Könige natürlich nicht scharf.«
»Nein. Auf jeden Fall machten sie kehrt und marschierten nach Westen, allerdings nicht mehr entlang der Donau. Sie folgten zuerst der Save, dann schwenkten sie nach Norden, bis sie auf die Drau stießen, der sie flußaufwärts folgten. Damals waren sie bereits sechs Jahre zu Fuß unterwegs, ohne irgendwo länger als einige Tage angehalten zu haben.«
»Sie fahren nicht auf den Wagen?«
»Selten. Sie haben ihr Vieh vor die Wagen gespannt und führen es zu Fuß. Auf die Wagen dürfen nur Kranke und hochschwangere Frauen, sonst niemand.« Sulla seufzte. »Und was dann geschah, wissen wir alle nur zu gut. Sie kamen nach Noricum und ins Land der Taurisker.«
»Die sich an Rom um Hilfe wandten, worauf Rom Carbo gegen die Eindringlinge entsandte und Carbo seine Armee verlor.«
»Und wie immer wichen die Germanen weiteren Konfrontationen aus. Statt ins italische Gallien einzufallen, zogen sie durch das Hochgebirge, bis sie östlich der Einmündung des Inn wieder an die Donau kamen. Da die Boier ihnen den Weg nach Osten versperrten, zogen sie an der Donau nach Westen durch das Gebiet der Markomannen. Aus Gründen, die mir dunkel blieben, schloß sich ein großer Teil der Markomannen den Kimbern und Teutonen im siebten Jahr ihrer Wanderung an.«
»Und das Gewitter? Du weißt schon, das Gewitter, das den Kampf zwischen den Germanen und Carbo unterbrach und wenigstens einem Teil von Carbos Männern das Leben gerettet hat. Einige meinten damals, die Germanen hätten das Unwetter für ein Zeichen göttlichen Zorns gehalten, und das habe uns vor einer Invasion bewahrt.«
»Das bezweifle ich«, sagte Sulla ruhig. »Sicher, es stimmt, daß die Kimbern beim Ausbruch des Gewitters in Panik gerieten und flohen - es waren die Kimbern, die gegen Carbo kämpften, sie standen seiner Armee am nächsten. Aber ich glaube nicht, daß das Unwetter sie davon abhielt, in Gallia Cisalpina einzufallen. Der wirkliche Grund scheint einfach der zu sein, daß sie grundsätzlich nicht gern Krieg führen, um Land zu gewinnen.«
»Wie faszinierend! Und wir hier glauben, es mit einer Horde geifernder Barbaren zu tun zu haben, die danach dürsten, in Italien einzufallen.« Marius sah Sulla durchdringend an. »Was geschah dann?«
»Sie zogen weiter bis zum Quellgebiet der Donau. Im achten Jahr ihrer Wanderung schloß sich ihnen eine Gruppe echter Germanen an, die Cherusker, die von ihrem Land an der Weser nach Süden gezogen waren, und im neunten Jahr stieß ein Volk aus Helvetia zu ihnen, die Tiguriner, die anscheinend im Osten des Lemannus-Sees gelebt haben und eindeutig Kelten sind. Wie auch die Markomannen, soviel ich weiß. Obwohl Markomannen und Tiguriner sehr germanische Kelten sind.«
»Du meinst, sie sind nicht mit den Germanen verfeindet?«
»Weit weniger jedenfalls als mit ihren keltischen Brüdern!« Sulla grinste. »Die Markomannen haben jahrhundertelang Krieg gegen die Boier geführt, und die Tiguriner gegen die Helvetier. Als die Wagen der Germanen vorbeikamen, haben sie sich wahrscheinlich gedacht, es könnte nichts schaden, zur Abwechslung einmal ins Blaue loszuziehen. Als der Zug durch den Jura nach Nordgallien kam, war er schon deutlich über achthunderttausend Menschen stark.«
»Die dann über die armen Häduer und Ambarrer herfielen. Und bei ihnen blieben.«
Sulla nickte. »Über drei Jahre. Die Häduer und Ambarrer waren aus weicherem Holz geschnitzt. Sie sind halbe Römer, Gaius Marius! Gnaeus Domitius hat ihnen die Zähne gezogen, um unsere Provinz Gallia Transalpina zu sichern. Die Germanen fanden Geschmack an unserem feinen Weißbrot. Eine gute Unterlage für ihre Butter! Und zum Auftunken für ihren Bratensaft. Und sie konnten es ihrem gräßlichen Blutpudding beimischen.«
»Du scheinst aus leidvoller Erfahrung zu sprechen, Lucius Cornelius.«
»In der Tat, das kann man sagen!« Das Lächeln schwand aus Sullas Gesicht, und er betrachtete nachdenklich die Oberfläche des Weines in seinem Becher. Dann sah er abrupt Marius an. Seine Augen funkelten. »Sie haben sich einen gemeinsamen König gewählt.«
»Oho!« sagte Marius leise.
»Er heißt Boiorix und ist ein Kimber. Die Kimbern sind zahlenmäßig das stärkste Volk.«
»Aber der Name ist doch keltisch«, wandte Marius ein. »Boiorix - Boier. Ein mächtiges Volk. Es gibt überall Kolonien der Boier - in Dakien, Thrakien, Gallia Transalpina, Gallia Cisalpina und Helvetia. Vielleicht haben sie vor langer Zeit auch eine Kolonie bei den Kimbern gegründet, wer weiß? Denn wenn dieser Boiorix sagt, er sei ein Kimber, dann ist er das auch. Die Kimbern sind ja wohl nicht so primitiv, daß sie ihre Ahnen nicht kennen.«
»Sie wissen ziemlich wenig von ihren Ahnen.« Sulla stützte sich auf seinen Ellbogen. »Nicht, weil sie besonders primitiv wären, sondern weil ihre ganze Gesellschaft eine andere Struktur hat als bei uns. Anders übrigens auch als bei allen anderen Mittelmeervölkern. Die Kimbern sind keine Bauern. Ein Volk, das nicht seit Generationen ein bestimmtes Land besitzt und bestellt, kennt keine feste Bindung an den Boden. Es kennt auch die Familie in unserem Sinn nicht. Das Leben im Stamm - in der Gruppe, wenn du willst - hat Vorrang. Man ißt auch gemeinsam. Für die Kimbern ist das naheliegender. Wo Häuser lediglich zum Schlafen dienen und keine Küchen haben oder überhaupt nur Wagen sind, natürlich gleichfalls ohne Küche, da ist es einfacher, gleich das ganze Tier an den Bratspieß zu stecken und zu braten, damit der ganze Stamm davon essen kann.
Die Sagen über ihre Vorfahren beziehen sich auf den Stamm oder gleich auf mehrere Stämme, aus denen das Volk besteht. Sie haben zwar Helden, die sie besingen, aber sie schmücken deren Taten so maßlos aus, daß die wirklichen Fakten oft nicht mehr dahinter auszumachen sind - schon ein Häuptling, der erst vor zwei Generationen gelebt hat, wird zum Perseus oder Herkules. Die wirkliche Person ist nur noch ein Schatten. Die geographischen Vorstellungen der Kimbern sind genauso schattenhaft. Die Stellung, die jemand innehat - also Anführer, Häuptling, Priester oder Schamane -, ist wichtiger als die Identität des jeweiligen Menschen. Der Mann tritt ganz hinter seiner Stellung zurück! Er trennt sich von seiner Familie, und seine Familie hat an seinem Aufstieg keinen Anteil. Wenn er stirbt, wählt der Stamm einen Nachfolger, ohne dabei Ansprüche der Familie zu berücksichtigen, wie es bei uns üblich ist. Die Kimbern haben ganz andere Vorstellungen von der Familie als wir, Gaius Marius.« Sulla richtete sich auf, um sich Wein einzuschenken.
»Man merkt, daß du bei ihnen gelebt hast!« sagte Marius überwältigt.
»Mir blieb doch nichts anderes übrig!« Sulla nahm einen Schluck Wein und goß dann Wasser dazu. »Ich bin ihn nicht mehr unverdünnt gewöhnt«, sagte er dann. Es klang überrascht. »Macht nichts, das wird sicher bald wieder.« Er runzelte die Stirn. »Ich konnte mich bei den Kimbern einschmuggeln, als sie noch versuchten, den Durchgang durch die Pyrenäen zu erzwingen. Es muß im November letzten Jahres gewesen sein, ich war gerade von dem Besuch bei dir zurückgekehrt.«
»Wie hast du es geschafft?« fragte Marius fasziniert.
»Die Kimbern hatten das gleiche Problem wie alle Völker, die einen langen Krieg erleben - auch wir hatten es, besonders nach Arausio. Bei den Kimbern marschieren Männer, Frauen und Kinder zusammen, nur die Alten und Kranken müssen zurückbleiben. Jeder Krieger, der stirbt, hinterläßt deshalb mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Witwe und Waisen. Die Witwen werden zu einer Belastung, wenn ihre Söhne zu jung sind, um in relativ kurzer Zeit selbst Krieger zu werden. Sie müssen also danach trachten, unter den Kriegern neue Männer zu finden, die noch zu jung sind oder zu schlapp, um schon eine Frau zu haben. Wenn eine Frau für sich und ihre Kinder einen neuen Mann findet, darf sie weiter mitziehen. Ihr Wagen ist ihre Mitgift. Nicht alle Witwen haben allerdings Wagen. Es finden auch nicht alle Witwen einen neuen Mann. Der Besitz eines Wagens hilft entscheidend. Die Witwen bekommen eine Frist, in der sie sich neu verheiraten müssen. Drei Monate - eine Jahreszeit. Dann werden sie und ihre Kinder getötet, und die Stammesmitglieder, die keinen Wagen haben, losen um die freigewordenen Wagen. Sie töten auch überzählige Mädchen und alle, die als zu alt gelten, um noch etwas zum Nutzen des Stammes beizutragen.«
Marius machte eine Grimasse. »Und ich dachte schon, wir seien grausam genug!«
Aber Sulla schüttelte den Kopf. »Was ist grausam, Gaius Marius? Die Germanen und die Gallier sind wie die anderen Völker. Sie bauen ihre Gesellschaft so auf, daß sie als Volk überleben. Wer zu einer Belastung wird, die die Gemeinschaft nicht verkraften kann, muß verschwinden. Und was ist besser - die Frauen ohne Männer ihrem Schicksal preisgeben oder ihnen einen Schlag auf den Kopf verpassen? Langsam an Hunger und Kälte zugrunde gehen oder schnell und schmerzlos sterben? So sehen sie es. So müssen sie es sehen.«
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Marius zögernd. »Ich persönlich freue mich an unseren Alten. Ihnen zuzuhören, ist die Nahrung und Unterkunft wert, die man ihnen gibt.«
»Aber wir können es uns leisten, die alten Menschen am Leben zu erhalten, Gaius Marius! Rom ist reich. Deshalb kann es wenigstens einige von denen unterstützen, die der Gesellschaft nichts mehr nützen. Aber das Aussetzen ungewollter Kinder ist bei uns immerhin nicht verpönt!«
»Nein, natürlich nicht!«
»Wo liegt also der Unterschied? Wenn die Germanen eine Heimat finden, werden sie den Galliern ähnlicher werden. Wie ja die Gallier, die mit Griechen oder Römern in Berührung kommen, diesen immer ähnlicher werden. Wenn die Germanen erst seßhaft sind, können sie ihre harten Gebräuche lockern. Sie werden wohlhabend genug sein, um alte Menschen und Witwen und deren Kinder zu versorgen. Sie sind keine Städter, sondern Menschen vom Land. Städter haben wieder andere Sitten, ist dir das schon einmal aufgefallen? In den Städten werden die Alten und Kranken durch Seuchen aus dem Weg geräumt, und die Bauern verlieren dort ihre Bindung an Land und Familie. Je größer Rom wird, desto ähnlicher werden die Römer den Germanen wieder.«
Marius kratzte sich am Kopf. »Ich kann dir nicht mehr folgen, Lucius Cornelius. Komm wieder zum Thema zurück! Was hast du erlebt? Hast du dich einem Stamm als Krieger angeschlossen und eine Witwe geheiratet?«
Sulla nickte. »Genau das. Sertorius hat in einem anderen Stamm dasselbe gemacht, wir haben uns deshalb nicht oft gesehen, nur ab und zu, um Erfahrungen auszutauschen. Beide haben wir Frauen mit Wagen gefunden, die es noch nicht geschafft hatten, wieder zu heiraten. Aber zu der Zeit waren wir natürlich in unseren Stämmen schon als Krieger angesehen. Das hatten wir bereits erreicht, ehe wir dich letztes Jahr besuchten. Gleich nach unserer Rückkehr fanden wir dann unsere Frauen.«
»Haben sie euch nicht zurückgewiesen? Schließlich habt ihr euch als Gallier ausgegeben, nicht als Germanen.«
»Stimmt. Aber Quintus Sertorius und ich sind gute Krieger. Kein Häuptling verachtet gute Krieger.« Sulla grinste.
»Wenigstens mußtet ihr keine Römer umbringen! Obwohl ihr das sicher getan hättet, wenn es hart auf hart gekommen wäre.«
»Sicher. Du etwa nicht?«
»Doch, natürlich. Die Liebe muß den vielen gelten, sentimental darf man nur zu wenigen sein. Man kämpft, um die Masse zu retten, nicht einige Einzelpersonen.« Seine Miene hellte sich auf. »Es sei denn, man kann beides verbinden.«
»Ich war ein Gallier von den Karnuten, der bei den Kimbern als Krieger diente«, sagte Sulla verwirrt. Diesmal konnte er Marius’ Ausführungen nicht folgen, wie vorhin Marius ihm nicht hatte folgen können. »Anfang Frühjahr trat eine große Ratsversammlung zusammen, die sich aus den Häuptlingen aller Stämme zusammensetzte. Die Kimbern waren inzwischen so weit wie möglich nach Westen gezogen. Sie hofften, die Pyrenäen an der niedrigsten Stelle überqueren zu können, um nach Spanien zu gelangen. Die Versammlung wurde in Aquitanien am Ufer des Adour abgehalten. Inzwischen wußten die Häuptlinge, daß sämtliche Stämme der Kantabrer, Asturer, Vettonen, westlichen Lusitaner und Vasconen sich auf der spanischen Seite des Gebirges versammelt hatten, um den Germanen den Weg nach Spanien zu verstellen. Auf dieser Ratsversammlung trat ganz plötzlich und unerwartet ein neuer starker Mann auf - Boiorix!«
»Ich erinnere mich noch an den Bericht von Marcus Cotta nach Arausio. Boiorix war einer der beiden Führer, die ihm auffielen. Der andere war Teutobod von den Teutonen.«
»Boiorix ist noch sehr jung. Vielleicht dreißig, höchstens. Groß wie ein Turm, Muskeln wie Herkules und Füße so groß wie Wolfsbarsche. Aber was am interessantesten ist: Er denkt ähnlich wie wir. Gallier und Germanen unterscheiden sich in ihrem Denken so sehr von den Völkern des Mittelmeers, daß sie uns als Barbaren erscheinen! Boiorix dagegen hat in den vergangenen neun Monaten gezeigt, daß er eine andere Art von Barbar ist. So hat er sich selbst das Lesen und Schreiben beigebracht - und zwar Lateinisch, nicht Griechisch. Ich glaube, ich habe dir schon einmal gesagt, daß gebildete Gallier eher Latein können als Griechisch... «
»Boiorix, Lucius Cornelius! Boiorix!«
Sulla lächelte. »Zurück zu Boiorix also. Er ist seit etwa vier Jahren ein einflußreicher Mann in den Ratsversammlungen, aber erst dieses Frühjahr überwand er alle seine Gegner und schwang sich zum Oberhäuptling auf. Wir würden ihn König nennen, weil er sich in allen Situationen die letzte Entscheidung vorbehält und sich auch nicht scheut, der Ratsversammlung zu widersprechen.«
»Wie wurde er König?«
»Auf die alte Art. Weder Germanen noch Gallier führen Wahlen durch, obwohl sie bei Beratungen manchmal abstimmen. Meist trifft bei Beratungen der die Entscheidung, der am längsten nüchtern ist oder am lautesten schreien kann. Boiorix erkämpfte sich seinen Titel. Er forderte seine Rivalen heraus und tötete sie. Nicht alle auf einmal - je einen Rivalen am Tag, bis keine mehr übrig waren. Ingesamt forderten ihn sechs Häuptlinge heraus. Alle sechs mußten wie beim guten alten Homer ins Gras beißen.«
»König werden, indem man seine Rivalen tötet«, sagte Marius nachdenklich. »Was bringt das für eine Genugtuung? Es ist wahrhaft barbarisch! Ein Rivale, der in einer Debatte oder vor Gericht besiegt wird, lebt und kämpft weiter. Keiner sollte ohne Rivalen sein. Nur vor ihnen kann er glänzen, weil er tüchtiger ist. Sind sie tot, kann er vor niemandem mehr glänzen.«
»Ich stimme dir zu. Aber in einer barbarischen Welt geht es nur darum, alle Rivalen zu töten. Es ist sicherer.«
»Was geschah, als Boiorix König war?«
»Er verbot den Kimbern, nach Spanien zu ziehen. Andere Länder seien viel leichter erreichbar, sagte er. Etwa Italien. Aber zuerst sollten sie sich mit den Teutonen, den Tigurinern, den Markomannen und den Cheruskern vereinigen. Boiorix wollte König der Kimbern und der Germanen sein.«
Sulla schenkte sich Wein ein und verdünnte ihn mit Wasser. »Den Frühling und Sommer über zogen wir durch Gallien nach Norden. Wir überquerten die Garonne, die Loire und die Seine und kamen schließlich ins Land der Belgen.«
»Der Belgen!« rief Marius aufgeregt. »Du hast sie gesehen?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Sulla gelassen.
»Sie haben sich sicher bis aufs Messer bekämpft.«
»Überhaupt nicht. König Boiorix hat sich auf eine andere Taktik verlegt. Wir würden sagen, er hat verhandelt. Bis zu unserem Marsch durch Gallien in jenem Sommer haben die Germanen nie Interesse an Verhandlungen bekundet. Jedesmal, wenn ihnen eine römische Armee den Weg verstellte, baten sie durch Abgesandte um die Erlaubnis, unser Gebiet durchqueren zu dürfen. Natürlich haben wir die Erlaubnis immer verweigert. Sie zogen dann davon und kamen nie zu einem zweiten Versuch zurück. Sie haben nie gefeilscht, nie versucht, zu verhandeln oder in Erfahrung zu bringen, ob sie uns durch irgendein Angebot dazu bringen könnten, eine neue Verhandlungsrunde zu eröffnen. Ganz anders Boiorix: Er hat sich die Erlaubnis zum Durchzug der Kimbern durch Gallia Narbonensis in Verhandlungen geholt.«
»Tatsächlich? Was hat er ihnen angeboten?«
»Er hat die Gallier und Belgen mit Fleisch, Milch und Butter gekauft - und mit Feldarbeit. Er tauschte seine Rinder gegen ihr Bier und ihren Weizen und bot die Hilfe seiner Krieger bei der Bestellung zusätzlicher Felder an, damit genug Getreide für alle angebaut werden konnte.«
Marius’ Augenbrauen arbeiteten heftig. »Schlauer Barbar!«
»Das ist er wirklich, Gaius Marius. Wir zogen also in Frieden und Freundschaft weiter. Von der Seine folgten wir der Oise nach Norden, bis wir ins Land der Aduatuker kamen, eines Stammes der Belgen. Die Aduatuker sind, kurz gesagt, Germanen, die an der Maas oberhalb der Mündung der Sambre leben, am Rand eines riesigen Waldes, den die Einheimischen Ardennen nennen. Der Wald erstreckt sich von der Maas nach Osten bis zur Mosel und ist für Nichtgermanen undurchdringlich. Die Germanen des eigentlichen Germanien leben im Wald. Der Wald ist für sie in etwa das, was für uns Befestigungen sind.«
Marius dachte angestrengt nach. Seine Augenbrauen zuckten immer noch unruhig, als führten sie ein eigenes Leben. »Fahre fort, Lucius Cornelius. Unsere germanischen Gegner interessieren mich immer mehr.«
Sulla nickte gelassen. »Das dachte ich mir. Die Cherusker kommen übrigens aus einem Teil Germaniens, der nicht weit vom Land der Aduatuker entfernt ist, und behaupten, sie seien mit den Aduatukern verwandt. Sie haben die Teutonen, Tiguriner und Markomannen überredet, mit ihnen ins Land der Aduatuker zu ziehen, während die Kimbern im Süden vor den Pyrenäen standen. Als wir Kimbern dann aber Ende Sextilis nach Nordgallien kamen, herrschten dort keineswegs Frieden und Eintracht. Die Teutonen hatten sich so mit den Aduatukern und Cheruskern zerstritten, daß es bereits mehrere Scharmützel und nicht wenige Tote gegeben hatte. Haß lag in der Luft, und wir Kimbern konnten geradezu zusehen, wie er täglich wuchs.«
»Aber König Boiorix hat das Problem gelöst.«
»Das hat er wirklich!« Sulla grinste. »Er beruhigte die Aduatuker und berief dann einen großen Rat der wandernden Germanenstämme ein: der Kimbern, Teutonen, Tiguriner, Cherusker und Markomannen. Auf der Versammlung gab er bekannt, daß er ab sofort nicht nur König der Kimbern, sondern König aller Germanen sei. Er mußte einige Zweikämpfe bestehen, allerdings nicht mit den einzigen beiden ernstzunehmenden Rivalen, Teutobod von den Teutonen und Getorix von den Tigurinern. Beide dachten geradezu wie Römer: Sie zogen das Leben dem Tod vor und glaubten, König Boiorix lebend mehr Ungelegenheiten bereiten zu können als tot.«
»Woher hast du das alles?« fragte Marius. »Warst du am Ende selbst ein Häuptling und konntest an den Beratungen teilnehmen?«
Sulla versuchte bescheiden dreinzusehen, auch wenn Bescheidenheit nicht gerade seine hervorstechendste Eigenschaft war. »Ich war tatsächlich ein Häuptling. Versteh mich recht: kein besonders großer Häuptling, gerade groß genug, daß ich zu den Beratungen eingeladen wurde. Meine Frau Hermana - sie ist übrigens eine Cheruskerin, keine Kimberin - gebar Zwillinge, als wir an die Maas kamen, zwei Jungen, und das galt als so gutes Omen, daß ich gerade rechtzeitig vom kleinen Stammesführer zum Häuptling einer größeren Stammesgruppe befördert wurde, um an dem großen Rat aller Germanen teilnehmen zu können.«
Marius wollte sich ausschütten vor Lachen. »Willst du damit sagen, daß die armen Römer in ein paar Jahren gegen zwei kleine Germanen kämpfen müssen, die aussehen wie du?«
Sulla grinste. »Das wäre möglich.«
»Und auch gegen ein paar kleine Quintus Sertoriusse?«
»Zumindest einen.«
Marius beruhigte sich wieder. »Fahre fort, Lucius Cornelius.«
»Unser Boiorix ist wirklich ein sehr schlauer Bursche. Was wir auch tun, wir dürfen ihn nicht unterschätzen, nur weil er ein Barbar ist. Er hat einen großartigen Plan entwickelt. Sogar du wärst stolz, wenn du darauf gekommen wärst. Ich übertreibe nicht, glaub mir.«
Marius sah ihn aufmerksam an. »Ich glaube dir! Wie sieht dieser großartige Plan aus?«
»Sobald das Wetter es nächstes Jahr zuläßt, spätestens aber im März, wollen die Germanen an drei Stellen in Italien einfallen. Anders ausgedrückt, im März werden sämtliche achthunderttausend Germanen das Land der Aduatuker verlassen. Nach Boiorix’ Plan haben sie dann ein halbes Jahr Zeit für den Marsch von der Maas nach Gallia Cisalpina.«
Sowohl Marius wie Sulla beugten sich vor.
»Boiorix hat die Germanen in drei getrennte Armeen aufgeteilt. Die Teutonen, ungefähr eine viertel Million Menschen, sollen von Westen ins italische Gallien einfallen. Angeführt werden sie von ihrem König Teutobod. Bisher sieht der Plan vor, daß sie die Rhône hinuntermarschieren und dann an der ligurischen Küste nach Genua und Pisae weiterziehen. Wie ich Boiorix einschätze, werden sie ihre Route aber noch vor Marschbeginn ändern und über die Via Domitia und den Mons-Genava-Paß ziehen. Sie kommen dann bei Taurasio am Po heraus.«
»Boiorix kann also nicht nur Latein, sondern kennt sich auch in Geographie aus«, sagte Marius grimmig.
»Wie gesagt, er liest viel. Außerdem hat er aus römischen Gefangenen unter Folter Informationen herausgepreßt - nicht alle Soldaten, die wir in Arausio verloren haben, sind gefallen. Wenn sie von den Kimbern gefangengenommen wurden, blieben sie am Leben, bis Boiorix wußte, was er wissen wollte. Man kann es unseren Männern nicht vorwerfen, wenn sie den Germanen etwas erzählt haben.« Sulla verzog das Gesicht. »Die Germanen foltern immer, sie sind geübt darin.«
»Das heißt also, die Teutonen folgen derselben Route wie die Germanen vor der Schlacht bei Arausio. Auf welchem Weg wollen die anderen in Italien einfallen?«
»Die Kimbern sind die zahlenmäßig stärkste der drei großen germanischen Abteilungen. Insgesamt mindestens vierhunderttausend Menschen. Während die Teutonen an der Maas entlang und dann die Saône und die Rhône hinunter marschieren, ziehen die Kimbern am Rhein bis zum Bodensee, überqueren dann im Norden des Sees die Wasserscheide zum Einzugsgebiet der Donau. Sie folgen der Donau nach Osten bis zum Inn, dann ziehen sie innaufwärts über den Brenner nach Italien. Dabei kommen sie an der Etsch in der Nähe von Verona heraus.«
»Angeführt von König Boiorix persönlich.« Marius schob nachdenklich das Kinn vor. »Das Ganze gefällt mir immer weniger.«
»Die dritte Gruppe ist die kleinste und am wenigsten homogene. Sie besteht aus den Tigurinern, den Markomannen und den Cheruskern, insgesamt etwa zweihunderttausend Menschen. Angeführt werden sie von dem Tiguriner Getorix. Boiorix wollte sie zuerst geradewegs durch die großen germanischen Wälder schicken - die Hercynia, die Gabreta und so weiter. Durch Pannonien sollten sie dann nach Süden nach Noricum vorstoßen. Dann kamen ihm wahrscheinlich Zweifel, ob sie sich auch an diese Route halten würden, und er beschloß, daß sie mit ihm entlang der Donau zum Inn marschieren sollten. Von da an sollten sie der Donau weiter nach Osten folgen, bis nach Noricum, und dann nach Süden schwenken. Sie werden über die Karnischen Alpen nach Italien vorstoßen und bei Tergeste in der Nähe von Aquileia herauskommen.«
»Und jede Abteilung hat ein halbes Jahr Zeit, sagst du? Ich kann mir vorstellen, daß die Teutonen es schaffen, aber die Kimbern haben eine viel längere Strecke zu bewältigen und die gemischte dritte Abteilung die längste.«
»Eben das stimmt nicht, Gaius Marius. In Wirklichkeit ist die Entfernung vom Ausgangspunkt des Marsches an der Maas in etwa dieselbe. Alle drei Abteilungen müssen die Alpen überqueren, aber nur die Teutonen müssen durch unbekanntes Gelände. Die Germanen sind in den letzten achtzehn Jahren überall in den Alpen gewesen! Sie kennen die Donau von der Quelle bis Dakien, sie sind dem Rhein von der Quelle bis nach Helellum gefolgt und der Rhône von der Quelle bis Arausio. Sie sind Veteranen der Alpen.«
Zischend atmete Marius ein. »Beim Jupiter, Lucius Cornelius, ein genialer Plan! Aber können sie es wirklich schaffen? Ich meine, Boiorix’ Plan steht und fällt doch damit, daß alle drei Abteilungen bis Oktober in Italien sind.«
»Ich bin überzeugt, daß die Teutonen und Kimbern es schaffen werden. Sie sind entschlossen und haben tüchtige Führer. Bei den anderen bin ich mir nicht so sicher. Vermutlich ist Boiorix das auch nicht.«
Sulla erhob sich und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. »Noch eines muß ich dir sagen, Gaius Marius, etwas sehr Ernstes. Die Germanen sind seit achtzehn Jahren auf Wanderung, und sie sind müde. Sie sehnen sich verzweifelt nach einem Stück Land, wo sie sich niederlassen können. Viele ihrer Kinder, die inzwischen zu jungen Kriegern herangewachsen sind, haben nie eine Heimat gehabt. Sie haben sogar überlegt, ob sie wieder auf die Kimbrische Chersonesos zurückkehren sollen. Das Meer hat sich schon seit langem wieder zurückgezogen, und der Boden ist nicht mehr salzig.«
»Dann sollen sie es doch tun!«
»Es ist zu spät.« Ruhelos ging Sulla auf und ab. »Sie haben sich an unser krustiges Weißbrot gewöhnt, auf das sie ihre Butter streichen können und mit dem sich so trefflich Bratensaft auftunken und ihr gräßlicher Blutpudding verlängern läßt. Sie haben an der Wärme der südlichen Sonne und den schneebedeckten Bergen Gefallen gefunden. Zuerst Pannonien und Noricum, dann Gallien. Unsere Welt ist reicher. Und jetzt haben sie Boiorix, und sie haben beschlossen, Italien zu erobern.«
»Solange ich Feldherr bin, wird ihnen das nicht gelingen.« Marius ließ sich in seinen Stuhl sinken. »Ist das alles?«
»Alles oder auch nichts«, erwiderte Sulla ein wenig traurig. »Ich könnte tagelang erzählen. Aber das ist jedenfalls das, was du zuerst wissen mußt.«
»Und deine Frau und deine Söhne? Hast du sie einfach ihrem Schicksal überlassen? Wird man sie töten, weil kein Krieger mehr da ist, der sie versorgen kann?«
»Es ist eigenartig«, sagte Sulla wie zu sich selbst, »aber das habe ich nicht übers Herz gebracht! Ich habe Hermana und die Jungen zu den germanischen Cheruskern geschafft. Sie siedeln nördlich der Chatten an der Weser. Hermanas Stamm gehört zwar zu den Cheruskern, aber die Stammesangehörigen heißen Marser. Seltsam, nicht? Wir haben Marser, und die Germanen haben Marser. Die Namen sprechen sich genau gleich aus. Das stimmt nachdenklich. Wie sind wir dahin gekommen, wo wir jetzt sind? Liegt es in der Natur des Menschen, daß er auf der Suche nach einer neuen Heimat immer wieder aufs neue aufbrechen muß? Werden wir Römer Italien eines Tages auch satt haben und woanders hinziehen? Ich habe viel über die Welt nachgedacht, seit ich mich den Germanen angeschlossen habe, Gaius Marius.«
Marius war aus einem Grund, den er selbst nicht verstand, über Sullas Worte zu Tränen gerührt. Deshalb sagte er jetzt weicher als sonst: »Ich bin froh, daß du sie nicht einfach dem Tod überlassen hast.«
»So bin ich, obwohl ich eigentlich gar keine Zeit hatte. Ich hatte Angst, nicht rechtzeitig zu den Konsulwahlen zurück zu sein. Ich glaubte nämlich, daß meine Neuigkeiten für dich eine gewaltige Hilfe sein könnten.« Sulla räusperte sich. »Ich habe übrigens gewagt - natürlich in deinem Namen -, mit den germanischen Marsern einen Friedens- und Freundschaftsvertrag abzuschließen. Ich dachte vage, meine germanischen Söhne mit ihren kurzen, geraden Cheruskernasen würden dann wenigstens einen Hauch römischer Luft atmen. Hermana hat versprochen, sie in Freundschaft zu Rom aufzuziehen.«
»Du wirst Hermana nie wiedersehen?«
»Natürlich nicht!« sagte Sulla forsch. »Auch die Zwillinge nicht. Außerdem werde ich mir nie wieder lange Haare oder einen Schnurrbart wachsen lassen, Gaius Marius, oder das Gebiet um das Mittelmeer verlassen. Eine Diät aus Rindfleisch, Milch, Butter und Haferbrei bekommt meinem römischen Magen ganz und gar nicht, und ich möchte nie mehr auf ein Bad verzichten. Außerdem mag ich kein Bier. Ich habe für Hermana und die Jungen getan, was ich konnte, indem ich sie dort hinbrachte, wo sie nicht sterben müssen, weil kein Krieger für sie da ist. Aber ich habe Hermana gesagt, sie soll sich nach einem neuen Mann umsehen. Es ist das einzig Angemessene und Sinnvolle. Wenn alles gut geht, werden sie am Leben bleiben. Und meine Jungen werden zu tüchtigen Germanen heranwachsen. Zu wilden Kriegern, wie ich hoffe! Einen Kopf größer als ich! Und wenn das Schicksal sie nicht überleben läßt - na ja, ich werde es nie erfahren.«
»Du hast vollkommen recht, Lucius Cornelius.« Marius sah auf seine Hände, mit denen er den Becher hielt, und stellte erstaunt fest, daß die Knöchel weiß waren.
Sulla musterte ihn amüsiert. »Metellus Numidicus Schweinebackes Anspielungen auf deine niedere Herkunft fallen mir immer dann ein, wenn irgend etwas die bäuerliche Sentimentalität in Wallung bringt, die in dir schlummert.«
Marius funkelte ihn wütend an. »Das Schlimme an dir ist, daß ich nie weiß, was in dir vorgeht! Was deine Beine antreibt, deine Arme bewegt, dich lächeln läßt wie ein Wolf. Und was du wirklich denkst. Das werde ich nie wissen.«
»Wenn es dich tröstet, Schwager: Das weiß auch sonst keiner. Nicht einmal ich weiß es.«
Im November schienen Gaius Marius’ Chancen, im folgenden Jahr Konsul zu werden, auf den Nullpunkt gesunken. Ein Brief von Lucius Appuleius Saturninus zerstörte jegliche Hoffnung, daß er zum dritten Mal in Abwesenheit durch einen Beschluß des Volkes zum Konsul gewählt werden könnte:
Der Senat wird einer dritten Kandidatur nicht tatenlos zusehen. Die meisten Römer sind inzwischen überzeugt, daß die Germanen überhaupt nicht mehr kommen. Die Germanen sind geradezu zu einer neuen Lamia geworden, einem Gespenst, das die Menschen so oft und so lange in Angst und Schrecken versetzt hat, daß sie zuletzt jede Angst verloren haben.
Deine Feinde halten natürlich vor allem gegen Dich, daß Du jetzt schon zwei Jahre in Gallia Transalpina Straßen reparierst und Kanäle gräbst und daß Deine Anwesenheit dort und Deine Armee den Staat mehr Geld kosten, als er sich leisten kann, zumal angesichts der hohen Getreidepreise.
Ich habe mich umgehört, ob Aussicht besteht, daß Du ein drittes Mal in Abwesenheit gewählt wirst. Das Ergebnis war vernichtend. Deine Chancen wären besser, wenn Du persönlich nach Rom kämst. Dann werden Deine Feinde allerdings sagen, daß der sogenannte Notstand in Gallia Transalpina gar kein Notstand ist. Ich tue jedoch für Dich, was ich kann. Ich habe vor allem im Senat um Unterstützung geworben, damit Dein Feldherrnkommando wenigstens mit prokonsularischem Status verlängert wird. Das hieße allerdings, daß Du nächstes Jahr Konsuln über Dir hast. Zu Deiner Belustigung noch dies: Als Favorit der Konsulwahlen für nächstes Jahr gilt Quintus Lutatius Catulus. Die Wähler haben seine jährlichen Bewerbungen so satt, daß sie beschlossen haben, ihn loszuwerden, indem sie ihn diesmal wählen. Ich hoffe, es geht Dir gut.
Als Marius Saturninus’ kurzen Brief durchgelesen hatte, saß er eine ganze Weile mit gerunzelter Stirn da. Obwohl der Inhalt des Briefes keinerlei Anlaß zur Freude gab, hatte er das vage Gefühl, daß Saturninus ihn in übermütiger Stimmung verfaßt hatte, gerade so, als zähle für ihn Gaius Marius bereits nicht mehr und als wolle er seine Gunst anders verteilen. Gaius Marius war für die Wähler nicht mehr attraktiv. Er hatte keinen politischen Einfluß mehr. Denn die Germanen schienen eine viel geringere Bedrohung als der sizilianische Sklavenkrieg und die Getreideversorgung. Das Gespenst Lamia war tot.
Nein, Lamia war nicht tot. Das konnte Lucius Cornelius Sulla beweisen. Nur was hatte es für einen Zweck, Sulla nach Rom zu schicken, wenn er, Gaius Marius, keine Entschuldigung fand, ihn zu begleiten? Ohne seine Unterstützung und Macht würde Sulla kein Gehör finden. Viele seiner potentiellen Zuhörer mißtrauten Marius und würden über den Gedanken, daß ein römischer Patrizier sich fast zwei Jahre lang als Gallier verkleidet hatte, so schockiert sein, daß sie seinen Worten nicht glauben würden. Nein, entweder sie fuhren beide nach Rom, oder sie führen überhaupt nicht.
Gaius Marius holte ein Blatt Papier, eine Feder und Tinte. Dann schrieb er an Lucius Appuleius Saturninus:
Du magst rehabilitiert sein, Lucius Appuleius, aber vergiß nicht, daß ich es war, der Dir ermöglicht hat zu überleben, bis Du rehabilitiert warst. Du stehst immer noch in meiner Schuld, und ich erwarte, daß Du mir wie ein Klient treu ergeben bist.
Glaube nicht, daß ich sowieso nicht nach Rom kommen kann. Vielleicht ergibt sich doch noch eine Gelegenheit. Ich erwarte zumindest, daß Du so handelst, als würde ich tatsächlich kommen. Denn das will ich von Dir: Vordringlich ist es zunächst, die Konsulwahlen zu verschieben. Für Dich und Gaius Norbanus als Volkstribunen ist das keine Schwierigkeit. Du wirst also dafür sorgen. Vorbehaltlos. Mit ganzem Einsatz. Wenn das geschehen ist, erwarte ich, daß Du den Verstand benützt, mit dem Du geboren bist, und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit Senat und Volk unter Druck setzt. Sie sollen mich nach Rom rufen.
Ich komme nach Rom, sei dessen versichert. Wenn Du also in ein höheres Amt als das des Volkstribunen aufsteigen willst, so rate ich Dir, weiterhin mit mir zusammenzuarbeiten.
Ende November war Fortuna Gaius Marius hold: Ein Wind aus Ost trug ihm einen zweiten Brief des Saturninus zu. Der Brief traf per Schiff zwei Tage vor dem Kurier mit dem offiziellen Schreiben des Senats in Glanum ein. Diesmal klang Saturninus sehr unterwürfig:
Ich habe daran keinen Zweifel Gaius Marius, daß Du nach Rom kommen wirst. Nicht einmal einen Tag, nachdem ich Deinen tadelnden Brief erhalten hatte, verstarb überraschend Dein ehrenwerter Mitkonsul Lucius Aurelius Orestes. Und da mir Deine mahnenden Worte noch im Ohr klangen, nutzte ich die Gelegenheit und brachte den Senat dazu, Dich zurückzurufen. Das entsprach nicht den Plänen unserer konservativen Politiker. Sie hatten den Vorsitzenden dafür gewonnen, den eingeschriebenen Vätern die Berufung eines consul suffectus auf den Elfenbeinstuhl zu empfehlen, der durch den Tod des Orestes vakant geworden war. Doch welch glückliche Fügung! Nur einen Tag zuvor hatte Scaurus im Senat eine lange Rede gehalten und behauptet, daß Deine Anwesenheit in Gallia Transalpina einen Affront gegen die Glaubwürdigkeit aller Optimaten darstelle. Außerdem, sagte Scaurus, habest Du die Panik wegen des angeblich bevorstehenden Einfalls der Germanen bewußt ausgelöst, weil Du zum Diktator gewählt werden wollest. Natürlich änderte Scaurus in dem Augenblick seine Meinung, in dem Orestes starb - in Anbetracht der Bedrohung durch die Germanen könne es der Senat nicht wagen, Dich zurückzurufen, nur damit Du hier Deine Funktionen bei der Wahl eines Konsuls ausüben könnest. Der Senat müsse nun doch einen consul suffectus ernennen, bis die Wahlen stattfinden könnten.
Ich hatte noch keine Zeit gefunden, meinen Einfluß als Tribun geltend zu machen, um die Wahlen zu verschieben, und jetzt war das auch gar nicht mehr nötig. Stattdessen meldete ich mich im Senat zu Wort und hielt eine sehr gute Rede, in der ich erklärte, der ehrenwerte Senatsvorsitzende müsse sich endlich entscheiden. Entweder gebe es eine germanische Bedrohung, oder es gebe keine. Ich sagte, meiner Meinung nach habe er in seiner gestrigen Rede seine feste Überzeugung zum Ausdruck gebracht - daß es keine germanische Bedrohung gebe und demzufolge auch keine Notwendigkeit, den Stuhl des verstorbenen Konsuls mit einem suffectus zu besetzen. Nein, sagte ich, Gaius Marius müsse zurückgerufen werden, Gaius Marius solle endlich das tun dürfen, wozu er gewählt worden sei - nämlich die Pflichten eines Konsuls wahrzunehmen. Ich brauchte Scaurus gar nicht mehr vorzuwerfen, daß er seine Meinung angesichts der neuen Umstände von einem Tag auf den anderen geändert hatte. Alle verstanden, wie meine Rede gemeint war.
Ich hoffe, daß dieser Brief noch vor dem Kurier des Senats bei Dir eintrifft. In dieser Jahreszeit geht der Postweg über das Meer schneller als über die Straße. Du könntest natürlich auch aus der Mitteilung des Senats entnehmen, wie die Abfolge der Ereignisse war. Aber wenn mein Brief vor dem Kurier des Senats ankommt, gewinnst Du noch etwas Zeit, um Deinen Wahlkampf in Rom vorzubereiten. Selbstverständlich bringe ich hier auch unter den Wählern die Dinge in Bewegung, und wenn Du dann in Rom bist, wirst Du eine beachtliche Gruppe führender Köpfe des Volkes vorfinden, die Dich bitten werden, daß Du wieder für das Konsulat kandidierst.
»Jetzt kommt die Sache ins Rollen!« Marius warf Sulla triumphierend Saturninus’ Brief hin. »Du kannst schon mit dem Packen anfangen - wir dürfen keine Zeit verlieren. Du wirst dem Senat mitteilen, daß die Germanen im Herbst nächsten Jahres an drei Fronten in Italien einfallen werden, und ich werde den Wahlmännern erklären, daß nur ich die Germanen aufhalten kann.«
»Wie weit soll ich gehen?« fragte Sulla erschrocken.
»Nur so weit, wie du gehen mußt. Ich leite das Thema ein und fasse meine Folgerungen zusammen. Du bestätigst ihre Richtigkeit, aber so, daß der Senat nicht erfährt, daß du dich als Barbar getarnt hast.« Marius schien das zu bedauern. »Manche Dinge bleiben am besten ungesagt, Lucius Cornelius. Sie kennen dich noch nicht gut genug, um zu verstehen, was für ein Mann du bist. Gib ihnen nichts in die Hand, was sie später gegen dich verwenden könnten. Du bist ein patrizischer Römer. Laß sie also glauben, daß du auch bei deinen kühnsten Taten als patrizischer Römer aufgetreten bist.«
Sulla schüttelte den Kopf. »Es ist absolut unmöglich, sich zwischen die Germanen zu schleichen, wenn man wie ein römischer Patrizier auftritt!«
»Das wissen sie doch gar nicht«, grinste Marius. »Erinnerst du dich, was Publius Rutilius in seinem Brief schrieb? Er bezeichnete sie als Sandkasten-Feldherrn auf den Hinterbänken. Nun, auf den Vorderbänken sitzen auch nur Sandkasten-Feldherrn. Sie würden die Grundregeln des Spionierens nicht einmal dann verstehen, wenn man sie ihnen zwischen die Hinterbacken stecken würde!« Marius lachte. »Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn du deinen Schnurrbart und dein langes Haar noch eine Weile behalten hättest. Ich hätte dich wie einen Germanen eingekleidet und auf dem Forum vorgeführt. Du weißt, was dann passiert wäre?«
Sulla seufzte. »Ja. Niemand hätte mich erkannt.«
»Richtig. Also dürfen wir ihrer römischen Vorstellungskraft nicht zuviel zumuten. Ich werde zuerst sprechen, du bekommst von mir dein Stichwort.«
Rom bot Sulla weder die politische Herausforderung, noch die häusliche Wärme, die es Gaius Marius zu bieten hatte. Trotz seiner hervorragenden Leistungen als Quästor - unter Marius - und seiner ungewöhnlichen Karriere als Spion - ebenfalls unter Marius - war er nichts weiter als ein junger Aufsteiger im Senat, der im Schatten des Ersten Mannes von Rom stand. Auch seine politische Laufbahn verlief keineswegs schnell genug, schon gar nicht, wenn man seinen späten Eintritt in den Senat berücksichtigte. Er war Patrizier, deshalb konnte er nicht Volkstribun werden, für die Ädilität hatte er nicht genug Geld, und er war noch nicht lange genug Senator, um für das Amt des Prätors zu kandidieren. Das war die politische Seite. Zu Hause lebte er in einer bitteren und nervtötenden Atmosphäre, mit einer Frau, die dem Trunk ergeben war und ihre Kinder vernachlässigte, und einer Schwiegermutter, die ihn ebensosehr verabscheute, wie sie ihr ganzes Leben als Witwe verabscheute.
Sulla war immerhin nicht so deprimiert, daß er die Hoffnung aufgegeben hatte, seine politische Lage werde sich eines Tages verbessern. Doch das häusliche Klima konnte sich nur immer weiter verschlechtern. Die Rückkehr nach Rom fiel ihm diesmal noch schwerer, weil er seine germanische Frau gegen seine römische eintauschen mußte. Ein Jahr lang hatte er mit Hermana in einer Gesellschaft zusammengelebt, die sich von seiner aristokratischen Welt noch stärker unterschied, als sich seine alte Umgebung in der Subura davon unterschieden hatte. Und Hermana war sein Trost, seine Festung, sein einziger normaler Bezugspunkt in dieser bizarren barbarischen Welt gewesen.
Es war Sulla nicht schwergefallen, sich an den Kometenschweif der Kimbern zu heften, denn er war nicht nur ein mutiger und körperlich starker Krieger, sondern auch ein Mann mit Verstand. Viele Germanen hatten ihn an Mut und Körperkraft übertroffen, doch sie waren wie Roheisen, während er wie geschliffener Stahl war - listig und mutig, glatt und stark zugleich. Sulla war der kleine Mann, der dem Riesen gegenübertrat, er setzte sich mit seinem Kopf im Kampf durch. Deshalb war er auf dem Schlachtfeld gegen die spanischen Stämme der Pyrenäen sofort aufgefallen und in den Kreis der Krieger aufgenommen worden.
Sulla und Sertorius wollten sich dieser fremden Gesellschaft anpassen, in ihr aufsteigen und schließlich an den politischen Entscheidungen der Germanen, soweit davon überhaupt gesprochen werden konnte, beteiligt sein. Sie waren überzeugt, daß sie deshalb nicht nur einfache Krieger bleiben durften, sie mußten für sich einen Platz im Stammesleben finden. Deshalb trennten sie sich, schlossen sich verschiedenen Stämmen an und nahmen sich Frauen, die seit kurzem verwitwet waren. Sein Auge war auf Hermana gefallen, weil auch sie eine Außenseiterin war und weil sie keine Kinder hatte. Ihr Mann war Häuptling seines kimbrischen Stammes gewesen; nur als Witwe eines Häuptlings wurde sie, die Angehörige eines fremden Stammes, überhaupt geduldet. Aber sie besetzte einen Platz, den eigentlich eine kimbrische Frau hätte besetzen sollen, und die aufgebrachten kimbrischen Frauen waren drauf und dran gewesen, ihr einen Schlag über den Kopf zu geben, als Sulla auf der Bühne erschien. Er kletterte in ihren Wagen und zeigte so, daß er sie wollte - und rettete ihr damit das Leben. Sie waren beide Fremde. Er hatte sie nicht ausgewählt, weil sie ihm gefiel oder weil er sich zu ihr hingezogen fühlte, sondern aus Berechnung. Sie brauchte ihn mehr als eine kimbrische Frau, und sie war zugleich dem Stamm weniger verbunden als eine kimbrische Frau. Sollte sie also jemals herausfinden, daß er in Wahrheit ein Römer war, würde sie eher schweigen als eine kimbrische Frau.
Hermana wirkte im Vergleich zu den anderen germanischen Frauen sehr einfach. Die meisten Germaninnen waren groß, von kräftigem und doch zu gleich anmutigem Körperbau und hatten lange Beine und hohe Brüste. Ihr Haar war flachsfarben, und sie hatten tiefblaue Augen. Ihre Gesichter waren nicht unschön, wenn man von ihren häßlichen breiten Mündern und ihren geraden, kleinen Nasen absah. Hermana jedoch war beträchtlich kleiner als Sulla, der für einen Römer mit knapp sechs Fuß ziemlich groß war - Marius war mit über sechs Fuß noch größer - und plumper als ihre germanischen Geschlechtsgenossinen. Sie hatte ungewöhnlich kräftiges und langes Haar in einem schwer bestimmbaren braungrauen Farbton - mausgrau. Ihre Augen waren ebenfalls braungrau und paßten zu ihrem Haar. Im übrigen jedoch wirkte sie ausgesprochen germanisch - ihr Kopf gut geformt und ihre Nase kurz, gerade und fein geschnitten. Sie war dreißig Jahre alt und bisher unfruchtbar gewesen; das hätte ihr Tod sein können. Doch ihr Mann, der Stammesfürst, hatte sich geweigert, sie wegzuschicken. Auf den ersten Blick war nicht erkennbar, wodurch sich Hermana so auszeichnete, daß sie von zwei ungewöhnlichen Männern hintereinander ausgewählt wurde. Ihr erster Ehemann hatte sie interessant und andersartig gefunden, aber ihre Qualitäten nicht genauer bezeichnen können. Sulla hielt sie für eine geborene Aristokratin, eine gezierte, hochnäsige Dame, die dennoch eine starke sexuelle Anziehungskraft besaß.
Sie paßten hervorragend zueinander. Hermana war intelligent genug, um keine Ansprüche zu stellen, empfindsam genug, um ihm nicht auf die Nerven zu fallen, leidenschaftlich genug, um ihm im Bett Vergnügen zu bereiten, wortgewandt genug, um eine interessante Gesprächspartnerin zu sein, und fleißig genug, um ihm keine zusätzlichen Mühen zu bereiten. Hermanas Tiere wurden ordentlich gepflegt, gebrandmarkt, gemolken, gepaart. Hermanas Wagen befand sich in hervorragendem Zustand, seine Leinwand war immer gespannt und geflickt. Sie ölte die hölzerne Deichsel regelmäßig und schmierte die Achsen und Achsnägel der großen Wagenräder mit einer Mischung aus Butter und Rinderfett, nie fehlten Speichen oder Teile des Rades. Hermana hielt ihre Töpfe, ihr Geschirr und ihre Gefäße sauber, sie schützte ihre Vorräte vor Feuchtigkeit und vor Plünderern; ihre Kleider und Decken waren immer frisch gelüftet und ausgebessert, ihre Schlachtmesser waren scharf, und selbst Kleinigkeiten verlegte sie nie. Hermana war alles, was Julilla nicht war. Nur war sie keine Römerin von aristokratischem Geblüt.
Als Hermana feststellte, daß sie schwanger war - tatsächlich war sie sofort schwanger geworden -, freuten sich beide darüber. Hermana war auch deshalb glücklich, weil sie jetzt in den Augen des Stammes, zu dem sie nicht gehörte, gerechtfertigt war, denn die Schuld an ihrer früheren Unfruchtbarkeit konnte jetzt dem toten Häuptling zugewiesen werden. Die anderen Frauen waren jedoch weniger begeistert, denn sie haßten Hermana. Doch das spielte keine Rolle mehr, denn im nächsten Frühjahr, als die Kimbern nach Norden zum Gebiet der Aduatuker aufbrachen, wurde Sulla Häuptling. Hermana hatte also außerordentlich viel Glück.
Nach einer anstrengenden, aber klaglos ertragenen Schwangerschaft gebar Hermana im Sextilis Zwillinge, große, gesunde, rothaarige Jungen. Sulla nannte den einen Herman, den anderen Cornel. Er zermarterte sich das Hirn, um einen Namen zu finden, der in irgendeiner Weise den Namen seines Geschlechts, Cornelius, fortsetzte und zugleich in der germanischen Sprache nicht zu fremd klang. Die Lösung lautete »Cornel«.
Die beiden Säuglinge waren, wie Zwillinge sein sollten. Sie ähnelten sich so sehr, daß man sie kaum auseinanderhalten konnte, sie waren zufrieden, wenn sie beieinander waren, und sie wuchsen schnell und weinten wenig. Zwillinge kamen selten vor, und daß dieses fremde Paar Zwillinge bekommen hatte, galt als ein Omen und trug wesentlich dazu bei, daß Sulla Häuptling einer ganzen Gruppe kleiner Stämme wurde. In dieser Eigenschaft nahm er an dem großen Rat aller drei germanischen Völker teil, den Boiorix, der König der Kimbern, einberufen hatte, nachdem es ihm gelungen war, den Streit zwischen den Aduatukern und den Teutonen ohne Blutvergießen beizulegen.
Natürlich wußte Sulla seit langem, daß er die Germanen bald verlassen mußte. Er verschob seine Abreise jedoch bis nach dem großen Rat. Obwohl sein Privatleben von untergeordneter Bedeutung hätte sein sollen, machte er sich Sorgen darüber, was nach seiner Abreise aus Hermana und seinen Söhnen werden würde. Den Männern des Stammes hätte er vielleicht noch vertraut, aber den Frauen nicht, und bei häuslichen Angelegenheiten setzten sich immer die Frauen durch. Sobald er verschwunden wäre, würde man Hermana zu Tode prügeln, nur ihre Söhne würden am Leben bleiben.
Inzwischen war es September geworden, und seine Zeit wurde immer knapper. Sulla traf eine Entscheidung, die weder in seinem noch in Roms Interesse lag - er entschloß sich, Hermana zu ihrem eigenen Volk nach Germanien zurückzubringen. Das aber bedeutete, daß er ihr erklären mußte, was er war und wer er war. Sie hörte weniger überrascht als fasziniert zu und schaute dann erstaunt ihre Söhne an, als begreife sie jetzt, wie wichtig sie waren, die Söhne eines Halbgottes. Sie zeigte keine Regung der Trauer, als er ihr mitteilte, daß er sie für immer verlassen müsse, wohl aber zeigte sie Dankbarkeit, als er ihr erklärte, daß er sie zu den Marsern nach Germanien bringen werde. Er hoffte, daß ihr eigener Stamm sie aufnehmen und ihr Schutz gewähren würde.
Anfang Oktober verließ Sulla mit seiner Familie nach Anbruch der Dunkelheit die riesige Wagenburg der Germanen. Schon zuvor hatten sie den Platz für ihren Karren und ihre Tiere so ausgewählt, daß sie ohne großes Aufsehen verschwinden konnten. Als der neue Tag anbrach, schlängelten sie sich noch immer zwischen germanischen Karren hindurch, aber niemand beachtete sie. Sie brauchten zwei Tage, bis sie das germanische Lager hinter sich hatten.
Die Marser siedelten nur ungefähr hundert Meilen von den Aduatukern entfernt, und der Weg führte über flaches Land. Aber zwischen dem Gebiet der Belgen in Nordgallien und Germanien floß der größte Strom Westeuropas: der Rhein. Irgendwie mußte Sulla Hermanas Wagen über den Fluß bringen, und irgendwie mußte er seine Familie vor Überfällen schützen. Auch diesmal vertraute er auf sein Band zur Göttin Fortuna, und sie ließ ihn nicht im Stich.
Sullas kleiner Zug erreichte den Rhein. Das Ufer war dicht bevölkert, und die Menschen interessierten sich nicht für einen einsamen Wagen und einen einsamen Germanen mit seiner Familie. Eine Barke fuhr regelmäßig über den Fluß, groß genug, um den Wagen aufnehmen zu können. Als Fährpreis wurde ein Krug kostbaren Weizens vereinbart. Da der Sommer recht trocken gewesen war, floß der Strom sehr ruhig dahin, und gegen drei weitere Krüge Weizen wurden auch Hermanas Tiere über den Fluß gesetzt.
In Germanien kamen sie schnell voran, denn in diesem Gebiet am Unterrhein waren die großen Wälder bereits gerodet. Die Menschen betrieben einfachen Ackerbau, verwendeten aber das Getreide eher als Winterfutter für die Tiere denn als Nahrung für sich selbst. In der dritten Oktoberwoche stieß Sulla auf den Stamm der Marser, aus dem Hermana stammte, und stellte sie unter den Schutz ihres Volkes. Und er schloß einen Friedens- und Freundschaftsvertrag zwischen dem Senat und dem Volk von Rom und den germanischen Marsern.
Der Abschied fiel beiden schwerer, als sie sich hatten träumen lassen, und sie weinten bittere Tränen. Hermana folgte Sullas Pferd zu Fuß, mit den Zwillingen auf den Armen, bis sie so erschöpft war, daß sie nicht mehr weiter konnte. Dann stand sie laut klagend noch lange an der Stelle, wo er für immer ihren Blicken entschwunden war. Während Sulla in südwestlicher Richtung davonritt, schwammen seine Augen in Tränen, und lange Zeit mußte er sich ganz auf den Instinkt seines Tieres verlassen.
Hermanas Stamm hatte ihm ein gutes Pferd gegeben, das er am nächsten Tag gegen ein anderes gutes Pferd eintauschte und so fort, bis er nach zwölf Tagen von der Quelle der Ems, wo sich die Siedlungen der Marser befanden, zu Marius’ Lager bei Glanum gelangte. Sullas Weg führte quer über das Land, er vermied die hohen Berge und die dichten Wälder, indem er den großen Flüssen folgte - vom Rhein zur Mosel, von der Mosel zur Saône, von der Saône zur Rhône.
Sein Herz war so schwer, daß er sich ständig zwingen mußte, das Land, durch das er zog, und die Menschen, denen er begegnete, aufmerksam zu beobachten. Als er sich einmal in der gallischen Sprache der Druiden sprechen hörte, kam ihm unvermittelt zu Bewußtsein, daß er, Lucius Cornelius Sulla, ein römischer Senator, mehrere germanische Dialekte fließend sprach und sogar etwas Gallisch!
Aber welche Verfügungen die Germanen bei den Aduatukern getroffen hatten, hatten weder Sulla noch Quintus Sertorius herausgefunden; das wurde erst im nächsten Frühjahr bekannt, lange nachdem die beiden Römer aus dem Leben ihrer germanischen Frauen verschwunden waren. Als sich die Kimbern, Teutonen, Tiguriner, Cherusker und Markomannen zu Tausenden und Abertausenden in Bewegung setzten und sich dann in drei große Gruppen aufteilten, um getrennt in Italien einzufallen, ließen sie den Aduatukern eine Wachmannschaft zurück, sechstausend ihrer besten Krieger. Sie sollten sicherstellen, daß die Aduatuker den Angriffen anderer Stämme nicht wehrlos ausgesetzt waren, denn sie hatten bei ihnen ihre gesamten Stammesschätze zurückgelassen - goldene Statuen, vergoldete Wagen, goldene Rüstungen, Votivbilder aus Gold, Münzen aus Gold, Berge von feinstem Bernstein und zahllose andere Kostbarkeiten, die sie auf ihren Wanderungen aufgehäuft hatten und die ihren von früheren Generationen angesammelten Reichtum weiter mehrten. Auf ihrem Marsch nach Italien nahmen sie nur das Gold mit, das sie an ihren Körpern trugen, ihre übrigen Reichtümer versteckten sie bei den Aduatukern - wie einst die gallischen Völker ihren Goldschatz bei den Volsker-Tektosagern von Tolosa.
Als Sulla Julilla wiedersah, verglich er sie sofort mit Hermana, und sie erschien ihm schlampig, nachlässig, ungebildet, unordentlich und ziellos - ja, sie war ihm verhaßt. Bei seiner letzten Rückkehr hatte Julilla immerhin gelernt, daß sie sich ihm nicht unter den Augen der Sklaven schamlos an den Hals werfen durfte. Doch bei dem Essen am Abend seiner Rückkehr wurde ihm klar, daß ihm diese besondere Qual eher deshalb erspart geblieben war, weil sich Marcia im Haus aufhielt, und nicht, weil Julilla ihm zu Gefallen sein wollte. Denn Marcias Gegenwart war unübersehbar - steif, ernst, verkniffen, lieblos, nachtragend. Sie war nicht in Würde gealtert, sondern trug ihre Witwenschaft nach all den glücklichen Jahren an der Seite von Gaius Julius Caesar wie eine schwere Last. Und Sulla vermutete, daß sie es auch als eine Last empfand, die Mutter einer so unvollkommenen Tochter wie Julilla zu sein.
Das verwunderte ihn nicht, denn die Ehe mit einer so unvollkommenen Frau wie Julilla war auch für ihn nur noch eine Last. Doch es erschien ihm politisch nicht opportun, sich von ihr zu trennen, sie war schließlich keine Metella Calva, die sich hemmungslos mit den niedrigsten Männern paarte. Julilla ließ sich nicht einmal mit hochgeborenen Männern ein, Treue war möglicherweise ihre einzige Tugend. Unglücklicherweise war auch ihre Trunksucht nicht so weit fortgeschritten, daß sie in Rom als Säuferin bekannt gewesen wäre. Marcia hatte dafür gesorgt, daß niemand davon erfuhr. Dies aber bedeutete, daß er ihre Trunksucht nicht als Grund für eine Scheidung durch diffareatio anführen konnte - selbst wenn er zu diesem entsetzlichen Verfahren bereit gewesen wäre.
Aber er konnte nicht länger mit ihr zusammenleben. Ihre körperlichen Bedürfnisse im Bett waren so verkümmert und flüchtig, daß er nichts anderes mehr empfinden konnte als eine geisterhafte, alles beherrschende Peinlichkeit. Er mußte Julilla nur anschauen, und jede erregungsfähige Faser seines Körpers zog sich zusammen wie Publius Vagiennius’ Schnecken. Er wollte sie nicht berühren, und er konnte es nicht ertragen, daß sie ihn berührte.
Für eine Frau war es leicht, sexuelle Begierde und sexuelle Erfüllung vorzutäuschen, aber ein Mann konnte sexuelle Begierde ebensowenig vortäuschen wie sexuelle Erfüllung. Wenn Männer ihrem Wesen nach aufrichtiger sind als Frauen, dachte Sulla, dann vor allem deshalb, weil ihre Begierde stets sichtbar ist. Und Männer fühlen sich zu anderen Männern hingezogen, weil der Liebesakt zwischen ihnen nicht von einem Glaubensakt begleitet sein muß.
Für Julilla verhieß keiner dieser Gedanken Gutes. Sie hatte zwar keine Ahnung, was ihr Gatte dachte, doch sie fühlte sich schon durch sein offensichtlich geringes Interesse an ihr wie zerstört. Zwei Nächte hintereinander wies er sie zurück, und während sein Geduldsfaden immer dünner wurde, wurden seine Erklärungen immer oberflächlicher und dürftiger. Am dritten Morgen nach seiner Rückkehr stand Julilla noch vor Sulla auf, um ein reichliches Weinfrühstück zu sich zu nehmen. Doch plötzlich stand Marcia in der Tür.
Es folgte ein Streit zwischen den beiden Frauen, so erbittert und heftig, daß die Kinder in Tränen ausbrachen, die Sklaven flohen und Sulla sich in seinem tablinum einschloß und den Fluch der Götter über alle Frauen herabrief. Er schnappte Bruchstücke der Auseinandersetzung auf und folgerte daraus, daß der Grund des Streits nicht neu und dies auch nicht die erste Konfrontation war. Marcia beschuldigte Julilla mit einer Stimme, die bis zum Tempel der Magna Mater zu hören sein mußte, daß Julilla ihre Kinder völlig vernachlässige. Julillas kreischende Antwort schallte vermutlich bis zum Circus Maximus. Sie warf Marcia vor, sie habe ihr, der Mutter, die Zuneigung ihrer Kinder gestohlen, was also erwarte sie von ihr?
Der Kampf wütete länger als eine der üblichen verbalen Auseinandersetzungen - für Sulla ein weiteres Zeichen dafür, daß Thema und Argumente schon bei vielen Gelegenheiten ausgiebig eingesetzt worden waren. Der Streit lief fast mechanisch ab und endete im Atrium, direkt vor Sullas Arbeitszimmer. Marcia informierte Julilla, daß sie mit den Kindern und dem Kindermädchen einen langen Spaziergang machen werde und nicht wisse, wann sie zurückkomme, aber Julilla solle auf jeden Fall bis zu ihrer Rückkehr wieder nüchtern sein.
Sulla preßte die Hände auf seine Ohren, weil er nicht hören wollte, wie seine Kinder herzzerreißend um Frieden zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter flehten, und konzentrierte sich auf den Gedanken, wie schön seine Kinder waren. Noch immer erfüllte ihn die Freude, die er bei ihrem ersten Anblick nach so langer Zeit empfunden hatte. Cornelia Sulla war etwas über fünf und der kleine Lucius Sulla vier. Richtige kleine Menschen - alt genug, um leiden zu können, wie er aus seinen eigenen Kindheitserfahrungen wußte, die er zwar begraben, aber nie vergessen hatte. Wenn es einen mildernden Umstand dafür geben konnte, daß er seine germanischen Zwillingssöhne verlassen hatte, dann den, daß sie noch Säuglinge gewesen waren, mit wackeligen Köpfen, geifernden Mündern und Körpern, die von oben bis unten mit Runzeln und Falten übersät waren. Es würde ihm viel schwerer fallen, seine römischen Kinder zu verlassen, denn sie waren schon kleine Persönlichkeiten. Er empfand tiefes Mitleid und eine innige Liebe für sie, eine ganz andere Liebe, als er sie je einem Mann oder einer Frau entgegengebracht hatte. Diese Liebe war selbstlos und rein, unverdorben und offen.
Die Tür wurde aufgestoßen, Julilla stürzte mit wehenden Gewändern in Sullas Zimmer. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, und ihr Gesicht war dunkelrot vor Zorn. Und Wein.
»Hast du das gehört?« fragte sie scharf.
Sulla legte die Feder auf den Tisch. »Wie hätte ich das überhören können?« sagte er müde. »Ihr wart auf dem ganzen Palatin zu hören!«
»Diese alte Schreckschraube! Diese vertrocknete Henne! Sie wirft mir vor, daß ich meine Kinder vernachlässige! Muß ich mir das gefallen lassen?«
Soll ich, oder soll ich nicht? fragte sich Sulla. Warum ertrage ich sie eigentlich noch? Warum hole ich nicht meine kleine Schachtel mit dem weißen Pulver, das aus der Gießerei von Pisae stammt, und schütte ein wenig davon in ihren Wein? Dann würden ihr die Zähne aus dem Mund fallen, ihre Zunge würde sich verdrehen, als ob sie geräuchert würde, und ihre Brüste würden wie Schweinsblasen anschwellen und schließlich platzen. Warum suche ich nicht nach einem hübschen, feuchten Eichenbaum, unter dem ein paar makellose Pilze wachsen, und gebe sie ihr zu essen, bis ihr das Blut aus jeder Körperöffnung schießt? Warum gebe ich ihr nicht den Kuß, nach dem sie sich sehnt, und breche ihr dabei das häßliche, magere Genick, wie ich es bei Clitumna getan habe? Wie viele Männer habe ich mit dem Schwert, dem Messer, mit Pfeilen, Gift, Steinen, Äxten, Prügeln getötet, wie viele habe ich mit meinen Händen erwürgt und erdrosselt? Was unterscheidet sie eigentlich von all diesen anderen? Doch Sulla wußte die Antwort. Julilla hatte ihm seinen Lebenstraum eingegeben. Julilla hatte ihm Glück gebracht. Und sie war eine patrizische Römerin, Blut von seinem Blut. Er wäre eher in der Lage, Hermana zu töten.
Worte konnten diese zähe, sehnige römische Dame nicht töten, Worte konnte er also gegen sie schleudern.
»Du vernachlässigst in der Tat die Kinder«, sagte er. »Deshalb habe ich deine Mutter gebeten, zu uns zu ziehen.«
Sie atmete tief und theatralisch auf, hustete, umklammerte mit beiden Händen ihren Hals. »Oh! Oh! Wie kannst du nur so etwas behaupten? Ich habe meine Kinder nie vernachlässigt, niemals!«
»Unsinn. Sie waren dir immer völlig gleichgültig«, sagte er in diesem müden Tonfall, den er seit seiner Rückkehr in dieses furchtbare, verdammte Haus nicht mehr abgelegt hatte. »Dich interessiert doch nur deine Weinflasche, Julilla.«
»Und wer kann mir das vorwerfen?« fragte sie und ließ die Hände sinken. »Wer kann mir das aufrichtig vorwerfen? Ich bin mit einem Mann verheiratet, der mich nicht haben will. Ein Mann, der ihn im Bett nicht einmal dann hochbringt, wenn ich ihm einen blase, bis mir die Kieferknochen brechen!«
»Wenn wir schon so deutlich miteinander reden wollen, würdest du dann bitte zuerst die Tür schließen?«
»Warum denn? Damit die Sklaven nichts hören? Was bist du doch für ein schmutziger Heuchler, Sulla! Wer ist denn immer schuld, du oder ich? Warum ist es nie deine Schuld? Als Liebhaber bist du in der ganzen Stadt viel zu bekannt, und nur weil es mit mir nicht geht, kommst du bestimmt nicht in den Ruf, impotent zu sein! Nur mich willst du nicht! Mich! Deine eigene Frau! Ich habe andere Männer nie auch nur angesehen. Und was ist der Dank dafür? Du kommst nach zwei Jahren zurück und kriegst ihn nicht einmal hoch, selbst wenn ich den irrumator spiele!« Ihre großen, gelblichen Augen füllten sich mit Tränen. »Was habe ich nur getan? Warum liebst du mich nicht? Warum willst du mich nicht? Oh, Sulla, schau mich mit liebevollen Augen an, berühre mich mit zärtlichen Händen, und ich werde nie mehr auch nur einen Tropfen Wein trinken, solange ich lebe! Wie kann ich dich lieben, wenn ich nicht den geringsten Funken von Leidenschaft aus dir schlage?«
»Vielleicht liegt da ein Teil des Problems«, sagte er, kühl wie ein Arzt bei der Untersuchung. »Ich will nicht, daß ich so sehr geliebt werde. Das ist nicht richtig. Es ist sogar ungesund.«
»Dann sag mir bitte, wie ich mir die Liebe zu dir abgewöhnen soll!« Julilla brach in Tränen aus. »Ich weiß es nämlich nicht. Glaubst du denn, daß ich es mir nicht abgewöhnen würde, wenn ich nur könnte? Sofort, sofort würde ich es tun! Ich flehe die Götter an, daß ich es kann! Aber ich kann es eben nicht. Ich liebe dich mehr, als ich das Leben liebe.«
Sulla seufzte. »Vielleicht wäre es eine Lösung, wenn du endlich erwachsen würdest. Du siehst wie eine Halbwüchsige aus und benimmst dich auch so. Deinem Körper und deinem Verstand nach bist du immer noch sechzehn. Aber in Wirklichkeit eben nicht, Julilla! Du bist vierundzwanzig. Du hast heranwachsende Kinder.«
»Vielleicht war ich mit sechzehn zum letzten Mal wirklich glücklich«, sagte sie und rieb ihre nassen Wangen.
»Wenn du seither nicht mehr glücklich geworden bist, Julilla, kannst du das schwerlich mir vorwerfen.«
»Du bist eben nie schuld, nicht wahr?«
»Vollkommen richtig«, sagte er mit überlegener Miene.
»Und was ist mit den anderen Frauen?«
»Was soll mit ihnen sein?«
»Du hast seit deiner Rückkehr keinerlei Interesse mehr für mich gezeigt. Ist der Grund dafür vielleicht, daß du irgendwo in Gallien irgendeine Frau aufgetrieben hast?«
»Nicht irgendeine Frau, sondern eine Ehefrau«, korrigierte Sulla sie milde. »Und nicht in Gallien, sondern in Germanien.«
Völlig entgeistert starrte sie ihn an. »Eine Ehefrau?«
»Zumindest nach germanischem Brauch. Und zwei Söhne, Zwillinge, sie sind jetzt ungefähr vier Monate alt.« Er schloß die Augen, diesen tiefen Schmerz wollte er ihr nicht zeigen. »Sie fehlt mir sehr. Ist das nicht eigenartig?«
Julilla schloß mühsam ihren Mund und schluckte ein paarmal. »Ist sie so schön?« flüsterte sie.
Sullas blasse Augen öffneten sich überrascht. »Schön? Hermana? Überhaupt nicht! Sie ist plump und schon über dreißig. Nicht im entferntesten so schön wie du. Und auch nicht so blond. Sie ist nicht einmal die Tochter eines Häuptlings, von einem König ganz zu schweigen. Einfach eine Barbarin.«
»Warum?«
Sulla schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich sie sehr mochte.«
»Was hat sie mir denn voraus?«
»Prachtvolle Brüste«, sagte Sulla und zuckte die Schultern. »Aber das ist vermutlich nicht alles, denn ich mache mir nicht soviel aus Brüsten. Sie hat hart gearbeitet. Und sich nie beklagt. Sie hat nichts von mir erwartet - nein, das ist es auch nicht. Richtiger ist wohl, daß sie nie mehr von mir erwartete, als ich geben konnte.« Er nickte, lächelte mit offensichtlicher Zärtlichkeit. »Ja, das muß es wohl sein. Sie war sich selbst genug, sie bürdete sich mir nicht auf. Du bist ein Bleigewicht um meinen Hals, Hermana war ein Flügelpaar an meinen Füßen.«
Julilla wandte sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Arbeitszimmer. Sulla erhob sich und schloß hinter ihr die Tür.
Doch er fand keine Zeit, sich wieder seinen Grübeleien zu widmen - schreiben konnte er an diesem Morgen ohnehin nicht -, denn die Tür öffnete sich sogleich wieder.
Sein Verwalter trat ein, steif wie ein Stock.
»Was gibt es?«
»Ein Besucher, Lucius Cornelius. Bist du zu Hause?«
»Wer ist es?«
»Ich würde dir gerne seinen Namen nennen, dominus, wenn ich ihn wüßte«, sagte der Verwalter steif. »Der Besucher zog es vor, mir eine Botschaft für dich mitzugeben. ›Skylax sendet dir Grüße.‹«
Seine finstere Miene verflog wie der Atem auf einem Spiegel, er lächelte erfreut. Einer aus seiner alten Welt! Einer von den Mimen, den Komödianten, den Schauspielern, die er gekannt hatte. Wunderbar! Was für einen Dummkopf von Verwalter hatte Julilla nur gekauft! Der hatte natürlich keine Ahnung, aber Clitumnas Sklaven waren Julilla nicht gut genug gewesen. »Führ ihn herein!« befahl Sulla.
Er hätte ihn überall und jederzeit wiedererkannt. Und doch, wie hatte er sich verändert! Der Junge war ein Mann geworden.
»Metrobius«, sagte Sulla und stand auf. Er warf einen schnellen Blick zur Tür, um sich zu überzeugen, daß sie geschlossen war. Ja, sie war geschlossen. Die Fenster standen zwar offen, aber das spielte keine Rolle. Denn in Sullas Haushalt war es ein ehernes Gesetz, daß niemand den Fenstern seines Arbeitszimmers so nahe kommen durfte, daß er hineinblicken konnte.
Er muß jetzt ungefähr zweiundzwanzig sein, dachte Sulla. Ziemlich hochgewachsen für einen Griechen. Die lange Mähne seiner schwarzen Locken war ordentlich zu einer männlich wirkenden Frisur geschnitten, Wangen und Kinn, früher knabenhaft glatt, zeigten nun den bläulichen Schatten eines dichten, aber sorgfältig rasierten Bartes. Sein Profil glich noch immer dem eines Apolls von Praxiteles, auch hatte er eine gewisse geschlechtslose Würde, wie eine von Nikias bemalte Marmorstatue - so lebensecht, daß man erwartete, sie würde gleich von ihrem Sockel herabsteigen - und doch so in sich selbst ruhend, daß er das Geheimnis seines Wesens verbarg.
Doch dann brach die marmorne Starre perfekter Schönheit. Metrobius sah Sulla mit einem Ausdruck vollkommener Liebe an und streckte lächelnd die Arme aus.
Tränen sprangen in Sullas Augen, sein Mund bebte. Als er um den Tisch herumging, stieß er mit der Hüfte schmerzhaft dagegen, doch bemerkte er es nicht. Er sank in die ausgebreiteten Arme, legte sein Kinn auf Metrobius’ Schulter und umschlang ihn. Ihm war, als wäre er erst in diesem Augenblick nach Hause gekommen. Ihr Kuß war wunderbar, ein Akt der Liebe ohne Pflichten, ohne Schmerz.
»Mein Junge, mein wunderbarer Junge!« flüsterte Sulla und weinte, dankbar, daß wenigstens einige Dinge Bestand hatten.
Vor dem offenen Fenster des Arbeitszimmers stand Julilla und beobachtete, wie ihr Ehemann einen schönen jungen Mann umarmte, beobachtete ihren Kuß, hörte die Worte der Liebe. Sie sah die beiden Männer auf das Sofa sinken, sah das intime Ritual einer vertrauten, für beide befriedigenden Beziehung, als wären sie nicht lange getrennt gewesen. Niemand mußte Julilla erklären, daß sie hier den wahren Grund vor Augen hatte, warum Sulla sie vernachlässigte, den wahren Grund, warum sie trank und warum sie sich an ihm rächte, indem sie ihre Kinder vernachlässigte. Seine Kinder.
Julilla wartete nicht, bis die beiden Männer ihre Kleider abzulegen begannen. Sie wandte sich um und ging hoch erhobenen Hauptes in das Schlafzimmer, das sie mit Lucius Cornelius Sulla teilte, ihrem Ehemann. Neben dem Schlafzimmer befand sich eine kleine Kleiderkammer, die jetzt, nach Sullas Rückkehr, überfüllt war. Dort hing seine Paraderüstung auf einem T-förmigen Gestell, der Helm ruhte auf einem besonderen Ständer. Sein Schwert, dessen Griff ein Adlerkopf aus Elfenbein zierte, hing samt Scheide und Wehrgehänge an der Wand.
Es war kein Problem, das Schwert herunterzunehmen, es aus Scheide und Gehänge zu lösen, war schon schwieriger. Doch schließlich gelang es ihr. Sie atmete heftig ein, als die blitzend scharf geschliffene Schneide bis auf den Knochen in ihre Hand schnitt. Überrascht stellte sie fest, daß sie auch in diesem Augenblick noch einen körperlichen Schmerz empfinden konnte, doch sie schob den Schmerz und die Überraschung beiseite, beides war jetzt unwichtig. Ohne zu zögern, packte sie das Schwert an seinem Elfenbeingriff, setzte die Spitze auf ihre Brust und stürzte sich gegen die Wand.
Julilla war nicht sehr geschickt. Sie fiel in einem Gewirr von Blut und Schleiern zu Boden, das Schwert ragte aus ihrem Leib. Ihr Herz schlug und schlug und schlug, sie hörte ihren Atem rasseln, als stünde jemand hinter ihr, der ihr nach dem Leben trachtete. Doch sie hatte kein Leben mehr, was spielte es noch für eine Rolle? Und dann spürte sie, wie der Tod sie ergriff, fühlte, wie ihr eigenes warmes Blut den Körper verließ. Aber sie war eine Julius Caesar, sie rief nicht um Hilfe, und in der kurzen Zeit, die ihr noch blieb, bereute sie ihre Entscheidung nicht. Sie dachte nicht an ihre beiden Kinder, sie dachte nur an ihre eigene Dummheit, daß sie all die Jahre einen Mann geliebt hatte, der Männer liebte.
Genügend Grund zu sterben. Sie wollte nicht leben und ausgelacht und verhöhnt werden - von Frauen, die mit Männern verheiratet waren, die Frauen liebten. Als das Blut verrann und ihr Leben mit sich nahm, wurde ihr brennendes Denken kühler und - oh, wie wunderbar es war, ihn endlich nicht mehr lieben zu müssen! Keine Qualen mehr, keine Furcht, keine Erniedrigung, kein Wein! Sie hatte ihn angefleht, ihr zu zeigen, wie sie aufhören könne, ihn zu lieben - er hatte es ihr gezeigt. So freundlich war er zuletzt zu ihr gewesen, ihr Liebster Sulla. Doch als sie in den seichten Ozean des Todes watete, galten ihre letzten bewußten Gedanken ihren Kindern, in ihnen würde wenigstens etwas von ihr bleiben. Und sie wünschte ihren Kindern ein langes, glückliches Leben.
Sulla setzte sich wieder an seinen Arbeitstisch. »Dort drüben steht eine Karaffe Wein. Gieß mir auch einen Becher ein«, bat er Metrobius.
Wie ähnlich der Mann noch dem Jungen war, wenn sich sein Gesicht belebte! Dann fiel es auch leichter, sich daran zu erinnern, daß der Junge einst jeden Luxus abgelehnt hatte und mit seinem Liebsten Sulla die Armut hatte teilen wollen.
Metrobius lächelte, stellte den Wein vor Sulla hin und setzte sich dann in den Besucherstuhl. »Ich weiß, was du jetzt sagen willst, Lucius Cornelius. Das darf nicht zur Gewohnheit werden.«
»Richtig. Unter anderem.« Sulla nippte an dem Wein und sah dann Metrobius streng an. »Es ist nun einmal nicht möglich, liebster Junge. Nur manchmal, wenn das Bedürfnis oder der Schmerz, oder was es ist, unerträglich wird. Ich stehe ganz knapp vor der Verwirklichung all meiner Wünsche. Das bedeutet, daß ich dich nicht auch noch verlangen darf. Wenn wir in Griechenland lebten, ginge das. Aber wir leben in Rom. Wenn ich der Erste Mann in Rom wäre, ginge es. Aber ich bin es nicht, Gaius Marius ist der Erste Mann.«
Metrobius verzog das Gesicht. »Ich verstehe schon.«
»Bist du noch immer beim Theater?«
»Natürlich. Die Schauspielerei ist alles, was ich kann. Außerdem war Skylax ein guter Lehrer, das muß ich ihm lassen. Es fehlt mir nicht an Rollen, und ich habe nur selten Ruhepausen.« Er räusperte sich und sah ein wenig befangen aus. »Nur eins hat sich geändert. Ich bin tragisch geworden.«
»Tragisch?«
»Ja. Es wurde nämlich immer deutlicher, daß mir die Begabung zum wahren Komödianten fehlt. Solange ich ein Kind war, machte das nichts aus. Aber als ich aus Cupidos Flügeln herausgewachsen war und keine kleinen, fröhlichen Schelme mehr spielen konnte, entdeckte ich, daß meine wahre Begabung in der Tragödie liegt, nicht in der Komödie. Deshalb spiele ich jetzt Aischylos und Accius statt Aristophanes und Plautus. Ich bereue es nicht.«
Sulla zuckte die Schultern. »Nun, das bedeutet, daß ich jetzt wenigstens ins Theater gehen kann, ohne mich zu verraten, nachdem du nicht mehr die unglückliche Unschuld spielst. Hast du das Bürgerrecht?«
»Leider nein.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann.« Sulla seufzte, stellte den Becher auf den Tisch und legte wie ein Geldhändler die Fingerspitzen aneinander. »Wir müssen uns unbedingt wieder treffen - aber nicht zu oft und nie mehr hier im Haus. Ich habe eine ziemlich verrückte Frau, der ich nicht trauen darf.«
»Es wäre wunderbar, wenn wir uns gelegentlich treffen könnten.«
»Hast du eine eigene Wohnung, oder wohnst du immer noch bei Skylax?«
Metrobius blickte ihn überrascht an. »Ich dachte, du wüßtest es! Aber natürlich, wie sollst du es wissen, du bist ja jahrelang fort gewesen! Skylax ist vor sechs Monaten gestorben. Er hat mir seinen ganzen Besitz vermacht, auch seine Wohnung.«
»Dann werden wir uns dort treffen.« Sulla erhob sich. »Komm, ich bringe dich zur Tür. Und ich setze dich auf die Liste meiner Klienten. Wenn es je nötig sein sollte, daß du mich hier aufsuchst, hast du als mein Klient einen guten Grund. Ich werde dich benachrichtigen, bevor ich dich in deiner Wohnung besuchen komme.«
Ein Kuß lag in den schönen dunklen Augen, als sie sich an der Haustür verabschiedeten, doch kein Wort, keine Handlung verriet dem Türsklaven oder dem Diener im Hintergrund, daß dieser erstaunlich gutaussehende junge Mann etwas anderes war als ein neuer Klient aus alten Tagen.
»Grüße alle Bekannten von mir, Metrobius.«
»Wirst du während der Theaterfestspiele in Rom sein?«
»Ich fürchte, nein.« Sulla lächelte flüchtig. »Germanen.«
Und so schieden sie voneinander, genau in dem Augenblick, als Marcia mit den Kindern und dem Kindermädchen die Straße herunter kam. Sulla wartete auf sie.
»Marcia, komm bitte gleich in mein Arbeitszimmer.«
In Marcias Augen lag ein mißtrauischer Blick. Sie betrat das Arbeitszimmer vor ihm und wollte sich auf dem Sofa niederlassen. Entsetzt bemerkte Sulla einen feuchten Fleck auf dem Sofa, der wie ein Signallicht glänzte.
»Setz dich bitte hier auf den Stuhl«, sagte er.
Marcia setzte sich und starrte ihn an, mit vorgerecktem Kinn und zusammengekniffenem Mund.
»Es ist mir klar, Schwiegermutter, daß du mich nicht magst, und ich habe nicht die Absicht, um deine Gunst zu werben.« Sulla gab sich bewußt unbekümmert und selbstsicher. »Ich habe dich schließlich nicht deshalb gebeten, hier bei mir einzuziehen, weil ich dich mochte. Aber ich habe mir um meine Kinder Sorgen gemacht. Ich mache mir noch immer Sorgen. Und ich muß mich bei dir aufrichtig bedanken, daß du mir diese Sorgen erleichterst. Du kümmerst dich wirklich wunderbar um sie. Jetzt sind sie wieder kleine Römer.«
Marcia taute ein wenig auf. »Das freut mich zu hören.«
»Deshalb sind jetzt nicht mehr die Kinder meine größte Sorge, sondern Julilla. Ich habe euren Streit heute morgen mit angehört.«
»Ganz Rom hat uns gehört!« sagte Marcia scharf.
»Ja, das stimmt.« Sulla seufzte tief. »Und nachdem du mit den Kindern aus dem Haus warst, fing sie mit mir einen Streit an, den ebenfalls ganz Rom hören konnte. Zumindest das, was sie sagte. Ich frage dich: Was sollen wir tun?«
»Unglücklicherweise wissen nicht genügend Leute, daß sie trinkt. Du kannst das also nicht als Grund für eine Scheidung anführen, obwohl es dein einziger Grund wäre«, antwortete Marcia in dem Bewußtsein, daß sie Julillas Trunksucht sorgfältig geheimgehalten hatte. »Du mußt einfach Geduld haben. Sie trinkt immer mehr, und ich kann es nicht mehr lange geheimhalten. Sobald es bekannt wird, kannst du sie wegjagen, ohne daß dir jemand Vorwürfe machen kann.«
»Und wenn es soweit ist, während ich nicht in Rom bin?«
»Ich bin ihre Mutter, ich kann sie wegbringen. Wenn du nicht in Rom bist, kann ich sie in deine Villa in Circei bringen lassen. Wenn du dann zurückkehrst, kannst du dich von ihr scheiden lassen und sie irgendwo anders unterbringen. Früher oder später wird sie sich zu Tode trinken.« Marcia erhob sich, denn sie wollte dieses Gespräch beenden, bevor er merkte, daß ihr das Herz dabei brach. »Ich mag dich nicht, Lucius Cornelius«, sagte sie »aber ich gebe dir nicht die Schuld für das, was aus Julilla geworden ist.«
»Wen magst du denn von deinen angeheirateten Verwandten?«
Marcia schnaubte. »Nur Aurelia.«
Sulla begleitete sie bis ins Atrium. »Wo ist Julilla eigentlich?« fragte er. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er sie seit Metrobius’ Ankunft weder gehört noch gesehen hatte. Er verspürte ein leises Kribbeln.
»Sicherlich lauert sie irgendwo einem von uns beiden auf«, sagte Marcia. »Wenn sie einen Tag mit Streit beginnt, macht sie weiter, bis sie so betrunken ist, daß sie umfällt.«
Sulla zog verächtlich die Mundwinkel herab. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit sie aus meinem Zimmer gerannt ist. Kurz danach besuchte mich ein alter Freund. Ich brachte ihn gerade zur Tür, als du mit den Kindern zurückkamst.«
»Normalerweise ist sie nicht so schüchtern«, sagte Marcia und sah den Verwalter an. »Weißt du, wo die Herrin ist?«
»Ich habe sie zuletzt gesehen, als sie in ihr Schlafzimmer ging«, antwortete der Verwalter. »Soll ich ihre Sklavin fragen?«
»Nein, laß nur.« Marcia blickte Sulla kurz an. »Ich glaube, wir beide sollten jetzt gleich zu ihr gehen, Lucius Cornelius. Vielleicht wird sie vernünftig, wenn wir ihr erklären, was passieren wird, wenn sie sich nicht aus ihrem Schweinestall befreit.«
Und so fanden sie Julilla, verkrümmt und leblos lag sie da. Ihre feinen Wollschals hatten wie Löschpapier das meiste Blut aufgesogen, und es sah aus, als wäre sie in feuchtes, rostiges Scharlachrot gekleidet, eine Nereide aus einem Vulkan.
Marcia griff nach Sullas Arm, sie schwankte. Er legte seinen Arm um sie und stützte sie.
Doch sie war die Tochter von Quintus Marcius Rex, und einen Augenblick später hatte sie sich wieder eisern unter Kontrolle. »Das ist eine Lösung, mit der ich nicht gerechnet habe«, sagte sie scheinbar ungerührt.
»Ich auch nicht«, antwortete Sulla, der an Blut und Tod gewöhnt war.
»Was hast du eigentlich zu ihr gesagt?«
Sulla schüttelte den Kopf. »Nichts, was das hier hätte auslösen können, soweit ich mich erinnere. Die Sklaven werden es vielleicht wissen, zumindest Julillas Teil in unserem Streit müssen sie gehört haben.«
»Ich glaube nicht, daß es gut wäre, sie zu fragen«, meinte Marcia. Plötzlich drängte sie sich an ihn, sie suchte den Schutz seines Körpers. »In gewisser Weise ist das die beste Lösung, Lucius Cornelius. Es ist mir lieber, daß die Kinder durch ihren Tod einen Schock erleiden, als daß sie das langsame Siechtum einer Säuferin erleben. Sie sind noch klein und werden vergessen. Wenn sie etwas älter wären, würden sie alles viel bewußter erleben.« Marcia ließ ihren Kopf gegen Sullas Brust sinken. »Ja, es ist bei weitem die beste Lösung.« Tränen traten unter ihren geschlossenen Augenlidern hervor.
»Ich bringe dich in dein Zimmer«, sagte Sulla und führte sie aus dem blutgetränkten Schlafzimmer. »Ich Narr habe völlig vergessen, daß mein Schwert hier hängt.«
»Warum wirfst du dir das vor?«
»Zu späte Einsicht.« Sulla wußte genau, warum Julilla sein Schwert gesucht und genommen hatte; sie mußte seine Begegnung mit Metrobius durch das Fenster seines Arbeitszimmers beobachtet haben. Marcia hatte recht. Dies war bei weitem die beste Lösung. Und er hatte diesmal keinen Finger rühren müssen.
Das Zauberwort hatte gewirkt. Bei den Konsulwahlen, die kurz nach der Amtseinführung der neuen Volkstribunen am zehnten Tag des Dezembers stattfanden, wurde Gaius Marius erneut zum ersten Konsul gewählt. Denn niemand konnte die Aussage des Lucius Cornelius Sulla oder Saturninus’ Behauptung bezweifeln, daß nur noch ein Mann fähig war, die Germanen zu schlagen. Die alte Angst vor den Germanen flutete durch Rom wie der Tiber bei Hochwasser, und wieder einmal wurde Sizilien von seinem Platz ganz oben auf der Liste der Krisen verdrängt, die niemals kürzer zu werden schien.
»Sobald wir eine Krise bewältigt haben, taucht aus dem Nichts die nächste Krise auf«, sagte Marcus Aemilius Scaurus zu Quintus Caecilius Metellus Numidicus Schweinebacke.
»Das gilt auch für Sizilien«, meinte Lucullus’ Bruder in giftigem Ton. »Wie konnte nur Gaius Marius diesen Ahenobarbus Pimmel unterstützen, als er forderte, Lucius Lucullus müsse als Statthalter von Sizilien abgelöst werden? Und ausgerechnet durch Servilius den Augur! Der ist doch nur ein homo novus, der sich hinter einem alten Namen versteckt!«
»Er wollte dich nur bis zur Weißglut reizen, Quintus Caecilius« sagte Scaurus. »Gaius Marius ist es völlig gleichgültig, wer Statthalter von Sizilien ist, besonders jetzt, da feststeht, daß die Germanen kommen. Wenn du gewollt hättest, daß Lucius Lucullus in Sizilien bleibt, hättest du dich ruhig verhalten sollen. Dann hätte Gaius Marius einfach vergessen, daß du mit Lucius Lucullus etwas zu tun hast.«
»So kann es im Senat nicht weitergehen, jemand muß ein strenges Auge auf sie haben«, sagte Numidicus. »Ich will mich zum Zensor wählen lassen!«
»Guter Gedanke! Und wer noch außer dir?«
»Mein Vetter Caprarius.«
»Noch ein guter Gedanke, bei der Venus! Der wird genau das tun, was du ihm sagst.«
»Es wird höchste Zeit, daß wir im Senat aufräumen, von den Rittern ganz zu schweigen. Ich werde ein strenger Zensor sein, Marcus Aemilius, darauf kannst du dich verlassen!« sagte Numidicus. »Saturninus wird gehen müssen und Glaucia ebenfalls. Die beiden sind gefährlich.«
»Oh, bitte nicht!« Scaurus schreckte zurück. »Wenn ich Appuleius Saturninus nicht zu Unrecht beschuldigt hätte, Getreide veruntreut zu haben, wäre er vielleicht ein ganz anderer Politiker geworden. Bei Lucius Appuleius werde ich mein schlechtes Gewissen nie mehr los.«
Numidicus zog die Augenbrauen hoch. »Mein lieber Marcus Aemilius, ich glaube, du brauchst ein Stärkungsmittel! Es ist doch völlig unwichtig, warum dieser Schafskopf Saturninus sich so verhält. Wichtig ist jetzt nur, daß er ist, was er ist. Und deshalb muß er gehen.« Er schnaubte wütend. »Als politische Kraft sind wir in dieser Stadt noch nicht erledigt. Und wenigstens für das nächste Amtsjahr wird sich Gaius Marius mit einem wirklichen Mann als Mitkonsul arrangieren müssen, nicht mit Strohpuppen wie Fimbria oder Orestes. Wir müssen nur sicherstellen, daß Quintus Lutatius einen Feldzug und ein Heer übertragen bekommt, und dann werden wir jeden winzigen Erfolg, den Quintus Lutatius mit seinem Heer erzielt, in Rom wie einen Triumph verkünden.«
Die Zenturiatkomitien hatten Quintus Lutatius Catulus Caesar zum Konsul gewählt, zwar nur zum zweiten Konsul hinter Gaius Marius, aber dennoch, so gestand Marius ein, »ein Dorn in meinem Fleisch.«
»Dein jüngerer Bruder wird Prätor«, sagte Sulla.
»Und wird nach Hispania Ulterior geschickt. Er steht uns also hier nicht im Weg.«
Sie holten Marcus Aemilius Scaurus ein, der sich inzwischen am Fuß der Senatstreppen von Numidicus verabschiedet hatte.
»Ich möchte mich bei dir persönlich für deinen Einsatz und deine Geschicklichkeit bei der Beschaffung von Getreide bedanken«, sagte Marius höflich.
»Solange es noch irgendwo auf der Welt Weizen zu kaufen gibt, Gaius Marius, ist das nicht schwierig«, antwortete Scaurus ebenso höflich. »Mit viel größerer Sorge erwarte ich den Tag, an dem wir nirgendwo mehr Weizen bekommen können.«
»Das ist doch sicherlich zur Zeit nicht sehr wahrscheinlich. Sizilien wird nach der nächsten Ernte wieder normal liefern können, denke ich.«
Scaurus schlug sofort zu. »Vorausgesetzt, daß wir dort nicht wieder alles verlieren, was wir geschaffen haben, wenn dieser geschwätzige Narr Servilius Augur Statthalter wird!« sagte er bissig.
»Der Krieg in Sizilien ist zu Ende«, antwortete Marius
»Das kannst du nur hoffen, Konsul. Ich bin nicht so sicher.«
»Und woher hast du in den letzten beiden Jahren den Weizen bekommen?« fragte Sulla hastig, um einen offenen Streit zu vermeiden.
»Aus der Provinz Asia«, erklärte Scaurus. Er hatte nichts dagegen, vom Thema abzuschweifen, denn als curator annonae unterstand ihm die Getreideversorgung Roms. Ein wichtiges Amt, und er übte es gerne aus.
»Aber dort haben sie sicherlich nicht viel Überschuß?« fragte Sulla.
»Kaum einen modius, um genau zu sein«, sagte Scaurus selbstzufrieden. »Nein, wir müssen uns dafür bei König Mithridates von Pontos bedanken. Er ist noch sehr jung, aber er denkt sehr unternehmerisch. Er hat die nördlichen Teile des Schwarzen Meeres erobert und sich dadurch die Kontrolle über die Getreideregionen am Don, am Dnjepr, am Bug und am Dnjestr verschafft. Seither verschifft er den Getreideüberschuß in unsere Provinz Asia und verkauft ihn an uns, eine hübsche Einnahmequelle für Pontos. Ich werde im nächsten Jahr erneut meinem Instinkt folgen und unseren Weizen noch einmal in der Provinz Asia kaufen. Der junge Marcus Livius Drusus wird als Quästor nach Asien reisen, und ich habe ihn gebeten, in meinem Auftrag über Weizenlieferungen zu verhandeln.«
Marius brummte zustimmend. »Zweifellos wird er auf dieser Reise seinen Schwiegervater Quintus Servilius Caepio in Smyrna besuchen?«
»Sicherlich.«
»Dann sage bitte Marcus Livius, er solle die Rechnungen für den Weizen an Quintus Servilius Caepio schicken«, meinte Marius. »Caepio kann das bezahlen. Er hat mehr Geld als die Staatskasse!«
»Für diese Behauptung hast du keine Beweise.«
»König Copillus sieht das anders.«
Eine gespannte Pause trat ein. Dann sagte Sulla: »Wieviel von dem asiatischen Weizen kommt eigentlich bei uns an, Marcus Aemilius? Ich habe gehört, daß die Piratenplage jedes Jahr schlimmer wird.«
»Höchstens die Hälfte«, antwortete Scaurus grimmig. »In jeder Bucht, in jedem Hafen an den Küsten von Pamphylien und Kilikien liegen Piraten auf der Lauer. Sie sind eigentlich Sklavenhändler, aber sie stehlen soviel Getreide, wie sie können, um ihre ebenfalls gestohlenen Sklaven zu ernähren, denn dann ist ihr Gewinn besonders hoch. Und wenn sie noch Getreide übrig haben, verkaufen sie es uns zum doppelten Preis, den wir ursprünglich bezahlt haben, nur mit der Garantie, daß das Getreide dann nicht noch einmal gestohlen wird, sondern uns wirklich erreicht.«
»Erstaunlich«, meinte Marius, »daß es sogar bei den Piraten Zwischenhändler gibt. Das sind sie nämlich. Erst stehlen sie das Getreide, dann verkaufen sie es wieder an uns. Reine Profitgier. Es wird Zeit, daß wir etwas unternehmen, Senatsvorsitzender. Bist du nicht auch der Meinung?«
»Es ist höchste Zeit!« rief Scaurus hitzig.
»Was schlägst du vor?«
»Einen Sonderauftrag für einen der Prätoren - sozusagen einen Statthalter für Seeräuber. Gib ihm Schiffe und kampferprobte Mannschaften. Er muß den Auftrag erhalten, jedes einzelne Piratennest an der ganzen pamphylischen und kilikischen Küste auszuradieren«, sagte Scaurus.
»Wir könnten ihm den Titel Statthalter von Kilikien geben«, meinte Marius.
»Eine sehr gute Idee!«
»Gut, Senatsvorsitzender. Wir werden die Senatsmitglieder sobald wie möglich zusammenrufen und die Sache in Angriff nehmen.«
»Ja, das sollten wir.« Scaurus bemühte sich sehr, freundlich zu sein. »Du weißt ja, Gaius Marius, daß mir vieles verhaßt ist, wofür du stehst, aber ich schätze außerordentlich deine Fähigkeit zu handeln, ohne jede Angelegenheit gleich zu einer neuen Zirkusveranstaltung aufzublähen.«
»Die Wächter des Staatsschatzes werden aufschreien wie eine Vestalin, die zum Essen in ein Bordell eingeladen wurde.«
»Laß sie schreien! Wenn wir die Piraten nicht auslöschen, wird es zwischen Ost und West bald keinen Handel mehr geben.« Nachdenklich fügte Scaurus hinzu: »Schiffe und Seesoldaten - was meinst du, wie viele werden wir brauchen?«
»Oh, acht oder zehn Geschwader und - sagen wir - zehntausend Soldaten. Wenn wir so viele haben«, antwortete Marius.
»Wir können sie bekommen«, sagte Scaurus zuversichtlich. »Notfalls können wir auch Söldner in Rhodos, Halikarnassos, Knidos, Athen, Ephesus anwerben. Keine Angst, wir bekommen sie zusammen.«
»Marcus Antonius könnte den Befehl übernehmen«, schlug Marius vor.
Scaurus blickte ihn ehrlich überrascht an. »Wie? Willst du nicht deinen eigenen Bruder vorschlagen?«
Marius lächelte. »Mein Bruder Marcus Marius ist eine Landwanze, genau wie ich. Die Antonier hingegen fahren gern zur See.«
»Wenn sie sich nicht bereits alle auf dem Meer befinden!« lachte Scaurus.
»Genau. Unser Prätor Marcus Antonius ist ein guter Mann. Er wird es schaffen, denke ich.«
»Das denke ich auch.«
»In der Zwischenzeit«, warf Sulla lächelnd ein, »werden die Wächter des Staatsschatzes unaufhörlich über die Kosten für Marcus Aemilius’ Getreidekäufe und Piratenjäger heulen und klagen, so laut, daß sie gar nicht merken, wieviel sie für die Aushebung zahlen müssen. Denn Quintus Lutatius wird eine Aushebung durchführen müssen.«
»Oh, Lucius Cornelius, ich glaube, du dienst schon zu lange unter Gaius Marius!« sagte Scaurus.
»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagte Marius, als sei es ihm herausgerutscht. Dann sagte er nichts mehr.
Sulla und Marius machten sich Ende Februar nach Gallia Transalpina auf, nachdem Sulla Julilla beerdigt und alle Familienangelegenheiten geregelt hatte. Marcia hatte sich bereit erklärt, noch eine Zeitlang in Sullas Haus zu wohnen und sich um die Kinder zu kümmern.
»Aber«, hatte sie drohend erklärt, »du kannst nicht erwarten, daß ich auf ewig hierbleibe, Lucius Cornelius. Ich bin jetzt Anfang fünfzig und möchte gerne an die Küste der Campania ziehen. Meine Knochen vertragen das feuchte Stadtklima nicht mehr. Du solltest wieder heiraten, damit deine Kinder eine richtige Mutter und ein paar Halbschwestern und Halbbrüder bekommen, mit denen sie spielen können.«
»Das muß warten, bis wir mit den Germanen fertig sind«, antwortete Sulla. Er bemühte sich, höflich zu klingen.
»Also gut, bis nach der Sache mit den Germanen.«
»Das kann zwei Jahre dauern«, sagte er warnend.
»Zwei? Ein Jahr muß doch reichen!«
»Mag sein, aber ich bezweifle es. Du solltest besser mit zwei Jahren rechnen, Schwiegermutter.«
»Keinen Augenblick länger, Lucius Cornelius.«
Sulla blickte sie nachdenklich an und zog eine Augenbraue hoch. »Dann sieh dich schon einmal nach einer passenden Frau für mich um.«
»Machst du Witze?«
»Nein, das ist kein Witz!« rief Sulla. In letzter Zeit verlor er schnell die Geduld. »Wie soll ich gegen die Germanen kämpfen und gleichzeitig in Rom nach einer neuen Frau suchen? Wenn du hier ausziehen willst, sobald ich zurück bin, mußt du jetzt eine Frau für mich suchen, und zwar eine, die bereit ist, sich aussuchen zu lassen!«
»Was für eine Art Frau willst du denn?«
»Das ist mir egal! Sie soll nur gut zu meinen Kleinen sein«, sagte Sulla.
Aus diesem wie auch aus anderen Gründen war Sulla froh, daß er aus Rom wegkam. Je länger er dort war, desto stärker drängte es ihn, Metrobius aufzusuchen, und je öfter er Metrobius besuchte, desto häufiger würde er auch in Zukunft mit ihm zusammen sein wollen. Über den erwachsenen Metrobius hatte Sulla nicht mehr den gleichen Einfluß und die gleiche Kontrolle, wie er sie über den Knaben Metrobius gehabt hatte. Metrobius war jetzt alt genug, um seine eigenen Vorstellungen über ihre Beziehung zu entwickeln. Ja, es war am besten, wenn er weit weg von Rom war! Nur seine Kinder, diese allerliebsten, kleinen, zauberhaften Menschen würde er vermissen. Sie liebten unbedingt, ohne Einschränkungen. Er konnte monatelang abwesend sein, aber sobald er nach Hause zurückkehrte, liefen sie ihm mit ausgestreckten Armen entgegen und drückten ihm tausend Küsse aufs Gesicht. Warum konnten Erwachsene nicht so lieben? Die Antwort war einfach. Wenn Erwachsene lieben, denken sie immer zuerst an sich selbst, und vor allem denken sie zuviel dabei.
Sulla und Marius hatten dem zweiten Konsul Quintus Lutatius Catulus Caesar die Aufgabe überlassen, ein weiteres Heer auszuheben. Caesar protestierte lautstark, daß es ein Freiwilligenheer aus dem Proletariat sein mußte.
»Natürlich muß es ein proletarisches Freiwilligenheer sein!« sagte Marius kurz angebunden. »Und jammere mir deshalb nur nichts vor - ich habe schließlich nicht bei Arausio achtzigtausend Soldaten verloren und bin auch nicht schuld an den anderen Verlusten!«
Diese Bemerkung verschloß Catulus Caesar die dünnen Aristokratenlippen.
»Ich wünschte, du würdest ihm nicht die Verbrechen seiner Sippe vorwerfen«, sagte Sulla.
»Dann sag ihm, er soll aufhören, mir die Anwerbung von Proletariern vorzuwerfen!« brummte Marius.
Sulla gab auf.
Glücklicherweise stand in Gallien alles zum besten. Manius Aquillius hielt sein Heer durch den Bau von Brücken, Aquädukten und durch ständiges Training in kampfbereitem Zustand, Quintus Sertorius war zurückgekommen, dann aber wieder zu den Germanen zurückgekehrt, weil er dort von größerem Nutzen sein konnte, wie er meinte. Er wollte sich dem Zug der Kimbern anschließen und Marius Bericht erstatten, wann immer es möglich war. Die Stimmung im Lager war gut, weil die Soldaten noch in diesem Jahr einen Kampf erwarteten.
In diesem Jahr hätte eigentlich ein zweiter Februar in den Kalender eingefügt werden müssen, doch zeigten sich hier die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem alten pontifex maximus Delmaticus und dem neuen, Ahenobarbus. Ahenobarbus konnte keinen Vorteil darin erkennen, den Kalender mit den Jahreszeiten in Einklang zu halten. Als der Kalendermonat März begann, war es deshalb immer noch Winter, denn der Kalender eilte nun der tatsächlichen Jahreszeit voraus. Da nach der römischen Kalenderrechnung das Jahr nur dreihundertfünfundfünfzig Tage zählte, mußte alle zwei Jahre ein zusätzlicher Monat von zweiundzwanzig Tagen eingefügt werden, üblicherweise im Anschluß an den Februar. Die Entscheidung darüber traf der Rat der Priester, das collegium pontificum. Aber wenn sich nicht ein aufmerksamer pontifex maximus darum kümmerte, wurde der Kalender vernachlässigt, und das war jetzt der Fall.
Marius und Sulla hatten sich gerade an die Routine des Lagerlebens auf der anderen Seite der Alpen gewöhnt, als ein Brief von Publius Rutilius Rufus eintraf.
Dies ist schon jetzt ein ereignisreiches Jahr und ich weiß gar nicht, womit ich diesen Brief beginnen soll. Natürlich hatten alle nur gewartet, bis Du abgereist warst. Ich wette, daß Du noch nicht einmal Ocelum erreicht hattest, als schon die Mäuse und Ratten auf dem unteren Ende des Forums tanzten. Welch wunderbares Spiel sie spielen, oh Katze!
Nun gut. Ich beginne mit unseren beiden teuren Zensoren, Schweinebacke und seinem zahmen Vetter Ziegenbock. Schweinebacke ist schon seit längerem sehr rührig - eigentlich seit er gewählt wurde, nur war er vorsichtig und hat den Mund gehalten, solange Du in der Nähe warst. Jetzt erzählt er überall, daß er »den Senat ausmisten« will, wie er es nennt.
Eines muß man den beiden Zensoren lassen: Sie sind nicht käuflich. Sie wollen alle Verträge des Staates genau überprüfen, Aufträge sollen nur nach Preis und Verdienst vergeben werden. Sie haben aber die Beamten von der Staatskasse bereits dadurch verärgert, daß sie eine große Summe Geldes forderten, um mehrere Tempel restaurieren und neu ausstatten zu lassen. Außerdem sollen die drei Amtshäuser der flamines, des rex sacrorum und des pontifex maximus neu gestrichen und mit marmornen Latrinensitzen ausgestattet werden. Ich persönlich ziehe meinen hölzernen Latrinensitz vor, Marmor ist so kalt und hart! Es gab eine ziemlich heftige Debatte, als Schweinebacke auf das Amtshaus des pontifex maximus zu sprechen kam, denn die Beamten der Staatskasse waren der Meinung, daß unser neuer pontifex reich genug sei, um die Farbe und die Latrinensitze aus Marmor aus seiner Tasche zu spenden.
Danach vergaben sie die übrigen Aufträge, und alles ging ohne große Probleme über die Bühne. Es gab viele Interessenten, das Bieten verlief knapp und kurz, und ich denke nicht, daß übermäßig viele krumme Sachen gemacht wurden.
Bis dahin hatten sie alles mit bemerkenswerter Geschwindigkeit abgewickelt, denn sie wollten ja schnell zur eigentlichen Frage kommen: zur Überprüfung der Senatorenliste und der Ritterliste. Keine zwei Tage später waren alle Aufträge vergeben - ich sage Dir, sie haben die Arbeit von achtzehn Monaten in weniger als einem Monat erledigt! Schweinebacke berief eine contio der Versammlung der Plebs ein, um dort die Untersuchungsergebnisse der Zensoren über die moralische Integrität oder Verworfenheit der eingeschriebenen Väter des Senats vorzutragen. Doch irgend jemand mußte Saturninus und Glaucia vorher mitgeteilt haben, daß ihre Namen fehlten, denn als die Volksversammlung stattfand, waren viele gekaufte Gladiatoren und andere Muskelberge da, die bei den Versammlungen der Komitien normalerweise nicht zu sehen sind.
Schweinebacke und sein Vetter Ziegenbock hatten kaum verkündet, daß sie Lucius Appuleius Saturninus und Gaius Servilius Glaucia aus der Senatorenliste streichen wollten, als die Versammlung buchstäblich explodierte. Die Gladiatoren stürmten die Rednerbühne und holten den armen Numidicus herunter Dann reichten sie ihn von Mann zu Mann weiter, wobei sie ihm jedesmal mit ihren riesigen, schwieligen Händen heftig ins Gesicht schlugen. Das war eine ganz neue Technik - keine Prügel oder Schlagstöcke, sondern nur geöffnete Hände. Der Theorie nach können Hände ja nicht töten, solange sie nicht zu Fäusten geballt werden. Ein Minimum an Gewalt nannten sie das. Wie pathetisch. Alles passierte sehr schnell und war so gut organisiert, daß Schweinebacke bereits bis zum Fuß des Clivus Argentarius weitergereicht worden war, bis es Scaurus, Ahenobarbus und ein paar weiteren Optimaten gelang, ihn zu ergreifen und in den Schutz des Tempels des Jupiter Optimus Maximus zu bringen. Dort stellten sie fest, daß sein Gesicht auf die doppelte Größe angeschwollen war, beide Augen waren zu geschwollen, die Lippen dutzendfach geplatzt, aus seiner Nase schoß das Blut, seine Ohren waren eingerissen und die Augenbrauen aufgeplatzt. Er sah aus wie ein Boxer bei den Olympischen Spielen im alten Griechenland.
Wie gefällt dir übrigens die Bezeichnung, die sie der erzkonservativen Fraktion gegeben haben? Boni - die Guten. Scaurus behauptet überall daß er die Bezeichnung erfunden habe, nachdem Saturninus die Erzkonservativen immer als konservative Clique oder Kamarilla bezeichnet hatte. Aber er müßte eigentlich wissen, daß viele von uns sich noch daran erinnern können, daß sowohl Gaius Gracchus als auch Lucius Opimius die Mitglieder ihrer Fraktion die Guten oder die Besten, Optimaten, genannt haben. Jetzt aber zurück zu meiner Geschichte!
Vetter Caprarius konnte die Ordnung auf dem Versammlungsplatz wiederherstellen. Nachdem er erfahren hatte, daß der ehrenwerte Vetter Numidicus in Sicherheit war, ließ er den Herold die Posaune blasen und schrie dann, daß er mit den Forderungen seines älteren Kollegen nicht einverstanden sei, Saturninus und Glaucia würden nicht von der Senatorenliste gestrichen. Man muß wohl sagen, daß Schweinebacke dieses Scharmützel verloren hat, aber Saturninus’ Kampfmethoden gefallen mir nicht. Jetzt behauptet er einfach, daß er mit den ganzen Gewalttätigkeiten nichts zu tun habe. Er sei dem Volk aber dankbar, daß es ganz auf seiner Seite stehe.
Ich könnte es verstehen, wenn Du jetzt glaubst, daß damit die Sache ein Ende hatte. Aber weit gefehlt! Die Zensoren nahmen sich als nächstes das Finanzgebaren der Ritterschaft vor, sie hatten sich dafür eigens in der Nähe des Curtius-Teichs einen hübschen neuen Gerichtshof bauen lassen - zwar nur aus Holz, aber genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Auf jeder Seite führen Treppen hinauf, so daß ein ordentlicher Ablauf des Verfahrens organisiert werden kann. Die Bewerber steigen auf der einen Seite hinauf gehen dann oben am Tisch des Zensors vorbei und verlassen das Gebäude auf der anderen Seite. Gut gemacht. Du kennst ja das Verfahren - jeder Ritter oder Ritteranwärter muß seine Abstammung, seinen Geburtsort, seine Bürgerrechte, seinen Militärdienst, seinen Besitz, sein Barvermögen und sein Einkommen nachweisen.
Obwohl es mehrere Wochen dauert, um zu überprüfen, ob die Bewerber wirklich ein Jahreseinkommen von mindestens 400 000 Sesterzen haben, zieht die Zeremonie während der ersten Tage immer eine große Menschenmenge an. Das war auch der Fall, als sich unsere beiden ehrenwerten Zensoren Schweinebacke und Ziegenbock mit den Listen der Ritterschaft zu befassen begannen. Armer Numidicus! Er sah wirklich erbärmlich aus! Seine Blutergüsse waren nun nicht mehr bläulich-schwarz, sondern eher eitrig-gelb, und die Schürfwunden überzogen seine Haut wie ein Netz blutroter Linien. Aber seine Augen hatten sich so weit geöffnet, daß er wieder sehen konnte. Wie muß er sich gewünscht haben, daß sie geschlossen geblieben wären! Denn schon am ersten Tag auf dem neuen Tribunal bekam er etwas zu sehen!
Keinen anderen als Lucius Equitius mußte er erblicken, den selbsternannten Bastard des Tiberius Gracchus! Der Bursche schlenderte die Treppe hinauf, als er an die Reihe kam, und baute sich vor Numidicus, nicht vor Caprarius auf. Schweinebacke erstarrte, als er Equitius vor sich stehen sah, begleitet von einem kleinen Heer von Schreibern und Angestellten, die alle Dokumente und Kladden mit sich schleppten. Abrupt befahl Schweinebacke seinem Sekretär, das Tribunal für heute zu schließen und diese Kreatur wegzuschicken.
»Ich bin jetzt dran!« sagte Equitius.
»Nun gut. Was willst du?« fragte Schweinebacke unheilverkündend.
»Ich will mich als Ritter einschreiben lassen«, antwortete Equitius.
»Nicht, so lange ich Zensor bin!« fauchte unser Optimat Numidicus.
Ich muß Equitius zubilligen, daß er sehr geduldig war Er warf einen Blick auf die Menge, die unten vor dem Tribunal stand - auch die Gladiatoren und Muskelpakete waren wieder dabei -, und sagte dann: »Du kannst meinen Antrag nicht ablehnen, Quintus Caecilius. Ich habe alle Bedingungen erfüllt.«
»Das stimmt nicht!« rief Numidicus. »Du bist nicht qualifiziert, und zwar aus dem einfachsten Grund: Du bist kein römischer Bürger!«
»Aber ich bin römischer Bürger, verehrter Zensor!« sagte Equitius so laut, daß alle es hören konnten. »Ich wurde beim Tod meines Herrn römischer Bürger. Er hat mir die Bürgerrechte zusammen mit seinem ganzen Besitz und seinem Namen vermacht. Es spielt keine Rolle, daß ich den Namen meiner Mutter wieder angenommen habe. Ich habe Urkunden über meine Freilassung und Adoption. Nicht nur das: Ich war zehn Jahre lang Legionär - und zwar ein Legionär mit römischen Bürgerrechten, kein Hilfssoldat.«
»Ich werde dich nicht in die Liste der Ritter aufnehmen! Und wenn wir die Liste der römischen Bürger überprüfen, werde ich dich dort auch nicht einschreiben!« sagte Numidicus.
»Aber ich habe ein Recht darauf!« erwiderte Equitius sehr nachdrücklich. »Ich bin römischer Bürger - ich stamme aus der Subura - ich habe zehn Jahre in den Legionen gedient - ich bin ein moralisch einwandfreier und geachteter Mann - ich besitze vier Mietshäuser, zehn Tavernen, einhundert iugera Land in Lanuvium, tausend iugera Land in Firmum Picenum, eine Markthalle in Firmum Picenum - und ich habe ein Einkommen von über vier Millionen Sesterzen im Jahr; also erfülle ich alle Bedingungen, Mitglied des Senats zu werden!« Und Equitius gab seinen Dienern ein Zeichen, woraufhin sie vortraten und ihre große Papiersammlung vorzeigten. »Hier sind die Beweise, Quintus Caecilius!«
»Es ist mir völlig gleichgültig, wie viele Dokumente du vorzeigen kannst, du ordinärer, elender Pilz - und es ist mir auch egal, wen du als Zeugen anschleppst, du Aasgeier!« schrie Schweinebacke. »Ich werde dich niemals als römischen Bürger einschreiben, und als Mitglied des ordo equester erst recht nicht! Ich scheiß’ auf dich, du Zuhälter! Und jetzt hau ab!«
Equitius wandte sich wieder der Menge zu, breitete die Arme aus - er trug eine Toga - und sagte: »Habt ihr das gehört? Mir, Lucius Equitius, dem Sohn des Tiberius Sempronius Gracchus, werden das Bürgerrecht und der Ritterstatus verwehrt!«
Schweinebacke sprang auf und bewegte sich so schnell, daß Equitius ihn nicht kommen sah. Unser ehrwürdiger Zensor versetzte ihm einen wohlplazierten rechten Haken, Equitius fiel auf den Arsch und saß mit offenem Mund da, während sein Gehirn in der Knochenschachtel herumklapperte. Dann versetzte ihm Schweinebacke noch einen Tritt, so daß Equitius kopfüber in die Menge purzelte.
»Ich scheiße auf euch alle!« brüllte Schweinebacke und drohte den Gaffern und Gladiatoren mit der Faust. »Haut ab und nehmt diesen unrömischen Scheißhaufen hier mit!«
Danach wiederholte sich alles noch einmal, nur beschäftigten sich die Gladiatoren jetzt nicht mit Schweinebackes Gesicht. Sie holten ihn vom Tribunal herunter und bearbeiteten seinen ganzen Körper mit Fäusten, Nägeln, Zähnen und Stiefeln. Schließlich drängten sich Saturninus und Glaucia vor - ich habe vergessen zu erwähnen, daß sie im Hintergrund lauerten - und entrissen Numidicus seinen Peinigern. Ich glaube nicht, daß sein Tod zu ihren Plänen gepaßt hätte. Saturninus stieg die Stufen zu dem Gerichtsgebäude hinauf und beruhigte die Menge so weit, daß sich Caprarius verständlich machen konnte.
»Ich bin anderer Meinung als mein Kollege und nehme auf meine Verantwortung Lucius Equitius in den ordo equester auf!« schrie er. Der arme Junge war kreidebleich. Vermutlich hat er während all seiner Feldzüge nicht solche Gewalttätigkeiten mitansehen müssen.
»Setze Lucius Equitius’ Namen auf die Liste!« brüllte Saturninus.
Und Caprarius schrieb den Namen auf die Liste.
»Geht jetzt alle nach Hause!« befahl Saturninus.
Die Menge zerstreute sich sofort. Lucius Equitius trugen sie auf ihren Schultern davon.
Schweinebacke war ein Wrack. Meiner Meinung nach konnte er von Glück sagen, daß er überhaupt noch am Leben war. Oh, war er wütend! Wie eine rasende Furie stürzte er sich auf Vetter Ziegenbock, weil dieser wieder einmal nachgegeben hatte. Der alte Ziegenbock löste sich fast in Tränen auf und wußte überhaupt nicht, wie er sich verteidigen sollte.
»Schmeißfliegen! Ungeziefer, alle zusammen!« brüllte Schweinebacke ein ums andere Mal, während wir versuchten, seinen Brustkorb zu verbinden - mehrere Rippen waren gebrochen - und herauszufinden, welche Verletzungen seine Toga sonst noch verbarg. Ja, natürlich war das alles ungeheuer kindisch, aber, bei den Göttern, Gaius Marius, Schweinebackes Mut muß man einfach bewundern!
Marius blickte vom Brief auf und runzelte die Stirn. »Ich frage mich wirklich, was Saturninus wohl im Schilde führt.«
Aber Sullas Gedanken beschäftigten sich mit einer weit weniger wichtigen Frage. »Plautus!« sagte er plötzlich.
»Was?«
»Die boni, die Guten! Gaius Gracchus, Lucius Opimius und unser Scaurus behaupten alle, sie hätten die Bezeichnung Optimaten für ihre Partei erfunden. Aber Plautus hat das Wort schon vor hundert Jahren für die Plutokraten und andere Schutzherren verwendet! Ich erinnere mich, daß ich es in einer Aufführung der Captivi von Plautus gehört habe - und damals war Scaurus kurulischer Ädil, beim Thespis! Es war einer meiner ersten Besuche im Theater.«
Marius blickte ihn verständnislos an. »Lucius Cornelius, hör jetzt bitte damit auf, dich mit der Frage zu befassen, wer diese überflüssigen Begriffe geprägt hat! Beschäftige dich lieber mit wichtigen Dingen! Kaum erwähnt man das Theater, und schon vergißt du alles andere.«
»Oh, tut mir leid«, sagte Sulla ohne einen Anflug von Reue. Marius wandte sich wieder dem Brief zu.
Wir verlegen jetzt den Schauplatz der Ereignisse vom Forum Romanum nach Sizilien. Dort ist alles mögliche passiert, nichts davon ist gut, manches ist amüsant und ein paar Dinge sind schlichtweg unglaublich.
Wie Du weißt - ich frische Deine Erinnerung dennoch auf weil, ich unvollständige Geschichten verabscheue -, begann Lucius Licinius Lucullus nach dem letzten Herbstfeldzug die Belagerung des Sklavenlagers Triocala, um die Rebellen auszuhungern. Er hatte ihnen einen Herold in ihr Lager geschickt, und der Bote mußte ihnen erzählen, wie einmal ein belagerter Feind die Römer hatte wissen lassen, daß er selbst für eine zehnjährige Belagerung genügend Lebensmittel habe. Die Antwort der Römer hatte gelautet, dann werde man das Lager eben im elften Jahr stürmen. Diese Geschichte jagte den Rebellen tatsächlich Angst ein.
Und Lucullus erledigte seine Sache hervorragend. Er umsäumte Triocala mit Gräben, Türmen, Schutzhütten, Rammböcken, Katapulten und Barrikaden und ließ eine breite Kluft zuschütten, die wie ein natürlicher Burggraben vor den Mauern lag. Anschließend ließ er ein ebenso großartiges Lager für sein eigenes Heer bauen. Das Lager wurde so angelegt, daß die Sklaven, selbst wenn sie einen Ausfall aus Triocala versucht hätten, die Befestigungen nicht hätten einnehmen können. Dann richtete er sich darauf ein, dort den Winter zu verbringen. Seine Soldaten waren sehr gut untergebracht, und er war sicher, daß seine Statthalterschaft verlängert werden würde.
Im Januar kam dann die Nachricht, daß Gaius Servilius der Augur zum neuen Statthalter ernannt worden sei. Mit der offiziellen Nachricht traf ein Brief von unserem lieben Metellus Numidicus Schweinebacke ein, der die ganzen häßlichen Einzelheiten schilderte: die skandalöse Art, in der Ahenobarbus und sein Arschkriecher Augur die Sache durchgezogen hatten.
Du kennst Lucullus nicht so gut, Gaius Marius, aber ich kenne ihn. Wie so viele seiner Art zeigt er der Welt ständig ein kühles, ruhiges, reserviertes und unerträglich hochnäsiges Gesicht. Einer von der Sorte: »Ich bin Lucius Licinius Lucullus, ein edler Römer aus einer der ältesten und angesehensten Familien, und du darfit dich glücklich schätzen, wenn ich mich ab und zu mit dir beschäftige.« Aber unter dieser Fassade lebt ein ganz anderer Mann - dünnhäutig, hoch empfindlich, leidenschaftlich und furchtbar im Zorn. Als Lucullus die Nachricht erhielt, nahm er sie äußerlich mit der ruhigen und gelassenen Resignation auf, die man von ihm erwarten konnte. Dann aber machte er sich daran, alles zu zerstören: alle Geschosse, Rampen, Türme, Panzer, Schutzhütten, die aufgeschütteten Gräben, die Stützmauern am Berg, alles. Er verbrannte, was er verbrennen konnte, und ließ jeden Eimer Schutt, Füllmaterial, Erde, was auch immer, in alle Himmelsrichtungen von Triocala fortschaffen. Dann zerstörte er sein eigenes Lager und alles Material, das er dort liegen hatte.
Glaubst Du, er hätte sich damit zufrieden gegeben? Nicht Lucullus - er kam jetzt erst richtig in Schwung. Er vernichtete sämtliche Berichte über seine Feldzüge in Syrakus und Lilybaeum und marschierte dann mit seinen 17 000 Soldaten zum Hafen von Agrigentum.
Sein Quästor erwies sich als wunderbar loyal und war mit allem einverstanden, was Lucullus unternahm. Inzwischen war der Sold für das Heer eingetroffen, außerdem hatten sie Geld vom Verkauf der Beute nach der Schlacht von Heracleia Minoa. Dann verhängte Lucullus noch Geldstrafen gegen jeden nichtrömischen Bürger Siziliens, der dem bisherigen Statthalter Publius Licinius Nerva zu große Schwierigkeiten gemacht hatte, und fügte dieses Geld dem übrigen hinzu. Und er nahm sich einen Teil der Geldsendung, mit der eigentlich Servilius Augur eine Flotte für den Transport seiner Soldaten hätte bezahlen sollen.
Am Strand bei Agrigentum entließ Lucullus seine Soldaten mit buchstäblich den letzten Sesterzen, die er finden konnte. Nun waren aber Lucullus’ Soldaten ein zusammengewürfelter Haufen, der beste Beweis, daß es bei den Proletariern in Italien genausowenig zu holen gibt wie bei allen anderen Klassen, wenn es darum geht, Truppen zu stellen. Abgesehen von den italischen und römischen Veteranen, die er in der Campania angeworben hatte, verfügte er über eine Legion und ein paar zusätzliche Kohorten aus Bithynien, aus Griechenland und aus dem makedonischen Thessalien, die ihm König Nikomedes von Bithynien gestellt hatte.
Nun entließ also Lucullus die römischen, italischen und bithynischen Soldaten nach Hause. Alle bekamen Entlassungspapiere ausgehändigt, und nachdem er die letzten Spuren seiner Statthalterschaft aus den Annalen Siziliens getilgt hatte, segelte auch Lucullus von dannen.
Kaum war er abgereist, brachen König Tryphon und sein Ratgeber Athenion aus ihrem befestigten Lager Triocala aus und fingen erneut an, Sizilien zu plündern und zu verwüsten. Sie sind jetzt vollkommen sicher, daß sie den Krieg gewinnen werden, und ihr Kriegsruf lautet: »Wir wollen nicht Sklaven sein, wir wollen Sklaven haben!« Es wird kein Getreide mehr angebaut, und die Städte werden von den Landflüchtigen überflutet. Sizilien ist wieder zu einer Ilias des Leidens geworden. In diese erfreuliche Situation platzte nun Servilius Augur. Natürlich traute er seinen Augen nicht. Und er weinte sich in einem Brief nach dem anderen bei seinem Gönner Ahenobarbus Pimmel aus.
Lucullus war mittlerweile wieder in Rom eingetroffen und bereitete sich auf die Anklage vor. Als Ahenobarbus ihm im Senat vorwarf er habe römisches Staatseigentum mutwillig zerstört - vor allem die Befestigungsanlagen und das Lager -, setzte Lucullus eine unschuldige Miene auf. Er sagte, er habe angenommen, der neue Statthalter werde lieber auf seine Art neu beginnen wollen. Er selbst, Lucullus, lasse die Dinge immer gern so zurück, wie er sie vorgefunden habe, und genau das habe er nach Ablauf seiner Statthalterschaft getan - er habe Sizilien so verlassen, wie er es vorgefunden habe. Servilius Augur hatte sich besonders darüber beschwert, daß er kein Heer mehr habe - er hatte einfach angenommen, daß Lucullus seine Legionen in Sizilien lassen würde, aber er war nicht auf die Idee gekommen, Lucullus formell um die Überlassung der Truppen zu bitten. Und weil Servilius ihn nicht darum ersucht hatte, beharrte nun Lucullus darauf, daß er mit seinen eigenen Truppen habe tun und lassen können, was er wollte. Und er sei der Ansicht gewesen, daß die Truppen reif für die Entlassung gewesen seien.
»Ich habe Gaius Servilius einen sauberen Tisch hinterlassen, jede Spur meines Wirkens habe ich weggewischt«, erklärte Lucullus dem Senat. »Gaius Servilius Augur ist ein homo novus, und diese Männer wollen gewöhnlich alles auf ihre eigene Art tun. Ich glaubte deshalb, ich würde ihm einen Gefallen tun.«
Ohne Heer kann Servilius in Sizilien natürlich kaum etwas ausrichten. Catulus Caesar bringt nur die paar Rekruten zusammen, die ihm von Italien gestellt werden, und so ist es sehr unwahrscheinlich, daß dieses Jahr noch ein Heer für Sizilien zustande kommt. Lucullus’ Veteranen sind in alle Winde zerstreut, die meisten mit dicken Börsen, und haben demzufolge kein Interesse daran, sich noch einmal aufstöbern zu lassen.
Lucullus ist natürlich klar, daß er angeklagt wird. Ich glaube aber nicht, daß ihm das Kummer bereitet. Er empfindet unendliche Genugtuung darüber, daß Servilius keine Möglichkeit mehr hat, seine, Lucullus’, Lorbeeren einzusammeln. Und das ist ihm wichtiger als eine mögliche Anklage. Deshalb gibt er sich große Mühe, seine Söhne zu schützen. Saturninus hat vor kurzem einen neuen Gerichtshof eingerichtet, der den Rittern unterstellt ist. Offenbar glaubt nun Lucullus, daß Ahenobarbus und der Augur dieses Gericht anstiften wollen, einen Prozeß gegen ihn zu eröffnen und ihn zu verurteilen. Er hat deshalb seinen Besitz, soweit es ging, auf seinen ältesten Sohn Lucius Lucullus übertragen, und seinen jüngeren Sohn, der jetzt dreizehn Jahre alt ist, hat er der Familie Terentius Varro zur Adoption gegeben. In dieser Generation gibt es keinen Marcus Terentius Varro, und die Familie ist außerordentlich reich.
Schweinebacke ist durch diese Ereignisse ganz verstört. Dazu hat er auch allen Grund, denn wenn Lucullus verurteilt wird, muß Numidicus seine skandalträchtige Schwester Metella Calva wieder bei sich aufnehmen. Schweinebacke sagt, die beiden Jungen hätten geschworen, sich an Servilius dem Augur zu rächen, sobald sie volljährig seien. Das hat mir Scaurus erzählt. Vor allem der ältere Sohn, Lucius Lucullus Junior, ist sehr verbittert, wie es scheint. Das wundert mich nicht. Er ist schon äußerlich seinem Vater sehr ähnlich, warum also nicht auch innerlich? Wegen des arroganten Ehrgeizes eines homo novus vom Schlage Servilius Augurs in Schande zu geraten, kommt einem Bannfluch gleich.
Damit bin ich mit meiner Geschichte am Ende. Ich schreibe Dir bald wieder. Ich wünschte, ich könnte Dir gegen die Germanen helfen - nicht weil Du meine Hilfe nötig hättest, sondern weil ich mich so ausgeschlossen fühle.