16

Ich warf mich über das Seidenstück mit den Fläschchen und Broschen, drückte Sura zu Boden, warf mich schützend über sie. Im gleichen Augenblick sirrte das geschleuderte Messer in eine Truhe hinter uns. Ich versuchte das Schwert zu ziehen, versuchte Ho-Tu abzuwehren, der sich mit gezogener Hakenklinge auf mich stürzen wollte. Es gelang mir, sein Handgelenk zu umfassen und das Messer zur Seite zu biegen, doch seine ungewöhnlichen Körperkräfte zwangen die Klinge wieder auf meine Kehle zu.

»Hörtauf!« rief Sura. »Ho-Tu, laß das!«

Als ich spürte, daß seine ganze Kraft auf das Messer gerichtet war, wich ich plötzlich zurück, zog ihn über mich. Er stürzte, rappelte sich aber sofort wieder auf, sein Gesicht war eine Maske des Hasses. Er hob den Kopf, sah mich mit gezogenem Schwert vor sich stehen. Er hastete zu der Wand und riß den Sklavenstab herab.

Aus der gleichen Bewegung heraus brachte er ihn auf volle Leistung, schwang die tödliche Waffe und näherte sich vorsichtig.

Aber Sura warf sich zwischen uns. »Du darfst ihn nicht verletzen!« flehte sie.

Doch Ho-Tu kümmerte sich nicht um sie. Rücksichtslos schob er das Mädchen zur Seite. Unbarmherzig rückte er weiter vor, den Stab wie eine hell brennende Fackel in der Hand.

Ich war bis zu der Truhe zurückgewichen, hatte mein Schwert wieder fortgesteckt und sein Wurfmesser aus dem Holz gezogen. Es war ein Jagdmesser, kurz, gut ausbalanciert und nur auf einer Seite geschliffen.

Mit einem Wutschrei schleuderte Ho-Tu den Sklavenstab. Das Ding fegte an meinem Kopf vorbei, prallte funkensprühend gegen die Wand und brannte knisternd am Boden weiter.

Ich betrachtete das Messer, dann den Mann. »Mit einem solchen Messer hast du letztes Jahr den Krieger aus Thentis erstochen – auf einer Brücke in Ko-ro-ba!«

Ho-Tu sah mich ratlos an.

»Du hast ihn von hinten ermordet.«

»Ich habe niemand getötet«, sagte Ho-Tu. »Du bist ja verrückt.«

Kalte Wut durchzuckte mich. »Dreh dich um!«

Mit hölzernen Bewegungen gehorchte der Oberaufseher.

»Töte ihn nicht«, flüsterte Sura. Sie warf sich zwischen uns und schützte den Geliebten mit ihrem Körper. »Zuerst mußt du mich umbringen!« kreischte sie.

»Zur Seite, Sklavin!« sagte Ho-Tu mit geballten Fäusten.

»Nein!« weinte Sura.

»Keine Angst«, sagte ich. »Ich töte dich nicht, solange du mir den Rücken zudrehst.«

Ho-Tu fuhr herum und schob Sura erneut zur Seite.

»Nimm dein Hakenmesser«, sagte ich.

Ohne den Blick von mir zu wenden, ergriff der Oberaufseher seine Waffe und legte sie in seiner Hand zurecht.

»Ihr dürft nicht kämpfen!« schrie Sura.

Ich beugte mich vor, das Wurfmesser in der Hand.

Ho-Tu und ich begannen einander zu umkreisen.

»Hört auf!« rief Sura, eilte zu dem Sklavenstab und nahm ihn auf; er leuchtete noch immer weißglühend. »Die Einstellung des Stabs ist tödlich«, sagte sie. »Legt die Waffen fort!« Sie schloß die Augen. Mit beiden Händen umkrampfte sie den tödlichen Stab, dessen Spitze sich ihrer Kehle näherte.

»Halt !«rief ich.

Ho-Tu warf sein Messer fort und eilte zu ihr, entriß ihr den Sklavenstab.

Er schaltete das Gerät ab, warf es fort und nahm Sura schluchzend in die Arme. Dann wandte er sich um. »Töte mich«, sagte er zu mir.

Ich wollte keinen Menschen töten, der mir unbewaffnet gegenüberstand.

»Du kannst uns beide umbringen«, sagte Sura und drückte Ho-Tu an sich. »Aber er ist unschuldig.«

»Ich bin nicht der Gesuchte«, sagte Ho-Tu.

»Du hast mich eben noch töten wollen«, sagte ich.

»Das stimmt«, entgegnete Ho-Tu. »Und ich würde es auch jetzt noch tun.«

»Du armer Narr«, sagte Sura schluchzend, »du würdest wegen einer einfachen Sklavin einen Mord begehen?«

»Ich liebe dich!« rief Ho-Tu.

»Und ich dich auch, Ho-Tu!«

»Als ich mir vorstellte, wie er bei dir war«, sagte der Oberaufseher stockend, »da kam der Zorn über mich.«

»Er hat mich nicht berührt«, sagte Sura. »Begreifst du das? Er wollte mich schützen und hat mich hergeführt und befreit.«

»Ist das wahr?« fragte Ho-Tu.

Ich schwieg.

»Attentäter«, sagte Ho-Tu, »vergib mir.«

»Er trägt die schwarze Tunika«, sagte Sura, »und ich weiß nicht, wer er ist, aber der schwarzen Kaste gehört er nicht an.«

»Sprechen wir nicht davon«, sagte ich barsch.

Ho-Tu sah mich offen an. »Wer immer du bist – ich habe niemanden getötet.«

Sein Blick fiel auf das Seidentuch und die verstreuten Fläschchen und Schmuckstücke.

»Was habt ihr hier gemacht?« fragte er.

»Er hat mir das Spiel beigebracht«, sagte sie lachend.

Ho-Tu grinste. »Hat es dir gefallen?«

»Nein, Ho-Tu«, sagte Sura lachend und küßte ihn. »Es ist zu schwierig für mich.«

Ho-Tu wandte sich um. »Ich spiele mit dir, wenn du möchtest.«

»Nein, Ho-Tu«, erwiderte sie. »Das würde mir nicht gefallen.« Dann löste sie sich aus seinen Armen, holte ihre Kalika, hockte sich in die Mitte des Zimmers und begann zu spielen.

Unbemerkt trat ich auf den Korridor.

Ich fand Flaminius, den Arzt, in seinem Quartier, und obwohl er betrunken war, versorgte er meinen Arm, den Ho-Tu mit seinem Hakenmesser angeritzt hatte. Die Wunde war nicht schlimm.

»Das ist die sechste Messerwunde, die ich heute verbinde«, sagte er.

»Oh?«

»Dein Gegner ist wahrscheinlich tot.«

»Nein«, sagte ich. »Ich erhielt die Wunde im Quartier Suras.«

»Ha!« machte Flaminius. »Was für ein Mädchen! Eine arrogante Sklavin!

Aber nimm dich vor Ho-Tu in acht. Er ist sehr eifersüchtig, dabei ist sie nur eine Sklavin. Übrigens hat er vorhin nach dir gesucht.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Nimm dich vor ihm in acht.«

»Ich glaube nicht, daß sich Kuurus aus der schwarzen Kaste wegen Ho-Tu Sorgen machen müßte«, sagte ich und stand auf.

Flaminius starrte mich nicht ohne Ehrfurcht an. Dann erhob er sich und holte eine große Flasche Paga. Er öffnete sie und goß zwei Schalen ein.

»Du scheinst mir ein guter Arzt zu sein«, sagte ich.

Er reichte mir die zweite Schale.

»Im vierten und fünften Jahr der Herrschaft Marlenus'«, sagte er, »war ich in meiner Kaste führend.«

»Dann hast du den Paga entdeckt? Oder die Mädchen?«

»Nein«, sagte er. »Nein. Ich hoffte etwas anderes zu finden – ein Mittel gegen die Dar-Kosis.«

»Die Dar-Kosis ist unheilbar«, sagte ich.

»Es gab eine Zeit vor vielen Jahrhunderten, da Angehörige meiner Kaste der Meinung waren, das Alter sei unheilbar. Andere gaben sich damit nicht zufrieden und setzten ihre Arbeit fort. Das Ergebnis war das Unsterblichkeitsserum.«

Die Dar-Kosis, die sogenannte Heilige Krankheit, ist eine von langem Siechtum begleitete Seuche. Wer davon befallen wird, gilt als Aussätziger und wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die armen Kranken wandern in gelben Lumpen durch die Lande und schlagen hölzerne Stäbchen gegeneinander, um Gesunde zu warnen; einige lassen sich auch in Dar-Kosis-Gruben aussetzen, von denen es in der Umgebung Ars mehrere gibt.

»Die Dar-Kosis«, sagte ich schließlich, »wird doch als heilig betrachtet.«

»Das ist eine Lehre der Wissenden«, sagte Flaminius bitter, »ein Mythos, eine angebliche Strafe der Priesterkönige. Aber die Krankheit hat nichts Heiliges.«

»Woher weißt du das?«

»Ich bin immerhin Arzt. Wir und verschiedene andere haben zur Zeit Marlenus' jahrelang insgeheim daran gearbeitet – wir haben geforscht und experimentiert. Leider erfuhr der Höchste Wissende der Stadt von unseren Bemühungen. Der Zylinder der Wissenden verlangte, der Hohe Rat der Kaste der Ärzte solle unserem Treiben ein Ende setzen, auch sollten die bisherigen Ergebnisse unserer Arbeit vernichtet werden. Doch die Ärzte stellten sich auf unsere Seite. Zwischen den Wissenden und den Ärzten besteht wenig Freundschaft, ebensowenig wie zwischen den Schriftgelehrten und den Wissenden. Der Zylinder der Wissenden verlangte dann von der Stadtführung, man solle uns die Arbeit untersagen, doch mit Genehmigung Marlenus' konnten wir weitermachen. Marlenus ließ ausrichten, daß die Wissenden entweder mit unserer Arbeit einverstanden sein müßten, dann sollte sie weitergehen; daß sie aber widrigenfalls als Herren Gors auch mächtig genug sein müßten, ihr ein Ende zu bereiten.«

Ich lachte.

Flaminius musterte mich neugierig. »Ich habe noch nie einen Angehörigen der schwarzen Kaste lachen sehen«, sagte er. »Na, jedenfalls brachen vor Beginn der nächsten Passage-Hand Bewaffnete in den Zylinder der Ärzte ein. Dabei wurde das Gebäude schwer beschädigt. Unsere Arbeit, unsere Unterlagen, unsere Versuchstiere wurden vernichtet, mehrere Angehörige meiner Abteilung wurden getötet, andere vertrieben.« Er hob seine Tunika, und ich bemerkte, daß sein Körper schreckliche Brandwunden aufwies. »Die kommen von den Flammen.« Er stockte. »Erst kurz vorher hatten wir eine Urt-Art entwickelt, die der Dar-Kosis widerstehen konnte. Es war ein Anfang, ein Versuch – und ich hatte große Hoffnungen darauf gesetzt.«

»Und diese Bewaffneten – was waren das für Leute?«

»Zweifellos Söldner der Wissenden«, sagte Flaminius. »Aber sie konnten unerkannt entkommen.«

»Hast du deine Arbeit wieder aufgenommen?« fragte ich.

»Ich hatte doch überhaupt nichts mehr. Wer von meinen Leuten überlebt hatte, wollte die Arbeit natürlich nicht fortsetzen.« Flaminius nahm einen großen Schluck Paga.

»Was hast du also getan?«

Flaminius lachte. »Ich machte mir sehr schnell klar, daß ich gegen die Wissenden nichts ausrichten konnte. Sie würden stets die Sieger bleiben.«

»Das glaube ich nicht.«

»Aberglaube«, sagte er, »als Wahrheit proklamiert, wird immer über die Wahrheit siegen, die als abergläubisch verhöhnt wird.«

»Das darfst du nicht glauben.«

»Mir war klar, daß die Menschen von Gier und Wollust und von Macht und Gold gelenkt werden, und daß ich, der ich eine Krankheit besiegen wollte, ein Narr war.«

»Du bist kein Narr«, entgegnete ich.

»Nicht mehr. Ich verließ den Zylinder der Ärzte und trat am nächsten Tag in die Dienste des Cernus. Seither bin ich hier, und ich bin zufrieden.

Man bezahlt mich gut. Was kann sich ein Mann mehr wünschen?«

»Flaminius!« sagte ich.

Er blickte mich verblüfft an. Dann lachte er und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich verachte die Menschen. Deshalb ist dieses Haus auch gut für mich.« Er starrte mich noch einmal an, trunken vor Haß und Paga. »Ich verachte die Menschen!« sagte er. »Darum trinke ich mit dir.«

Ich nickte knapp und wandte mich zum Gehen.

»Meine kleine Geschichte hat noch ein hübsches Ende«, sagte Flaminius und reichte mir die Flasche.

»Bei den Spielen am zweiten En'Kara sah ich den Höchsten Wissenden, Complicius Serenus, im Stadion der Klingen.«

»Na und?«

»Er weiß es nicht«, sagte Flaminius, »und wird es wahrscheinlich auch erst in einem Jahr erfahren.«

»Was erfahren?« fragte ich.

Flaminius nickte und schenkte sich noch eine Schale Paga ein. »Daß er an Dar- Kosis stirbt.«

Meine Schritte führten mich wieder in die Halle, in der wir zu Abend gegessen hatten. Neugierig öffnete ich die Tür, durch die der Sklave geführt worden war, nachdem er den Messerkampf verloren hatte. Ich stieß auf eine lange Treppe und folgte ihr zu einem Treppenabsatz und von dort in einen langen Korridor, an dessen Ende zwei Wächter standen. Als sie mich erblickten, sprangen sie auf.

»Kajuralia«, sagte ich.

Beide Männer zogen ihre Waffen. »Nicht weitergehen, Attentäter«, sagten sie.

»Na gut«, erwiderte ich und betrachtete die schwere Tür hinter ihnen.

Sie war nicht auf dieser Seite verschlossen, was ich sehr interessant fand. Ich fand, es wäre logisch gewesen, wenn man sie aus Angst vor dem Ungeheuer verriegelt hätte. Es gab jedoch zwei schwere Balken, die in massige Klampen gelegt werden konnten.

Plötzlich klang ein wildes Brüllen hinter dem Durchgang auf.

»Ich bin von einer Hakenklinge verwundet worden«, sagte ich.

Dabei zog ich meinen Ärmel zurück und zeigte die Bandage vor; Blut war hindurchgesickert.

»Geh jetzt!« rief einer der Wächter.

»Ich will's dir zeigen«, sagte ich, zog den weißen Verband zur Seite und entblößte die Wunde.

Plötzlich ertönte hinter der Tür ein wilder Schrei, und ich glaubte eine Bewegung auf der anderen Seite wahrzunehmen, dann ein kratzendes Geräusch.

»Geh!« rief nun auch der zweite Wächter.

»Aber die Wunde ist doch nicht schlimm«, sagte ich und drückte sie ein wenig, so daß mir ein Tropfen Blut am Unterarm entlanglief.

Auf der anderen Seite der Tür machte sich etwas an einem Riegel zu schaffen – der Durchgang schien von der anderen Seite verschlossen zu sein, schien von dort geöffnet werden zu können. Hastig machten sich die beiden Wächter daran, die Sperrbalken vorzulegen. Ein wütender, enttäuschter, durchdringender Schrei wurde laut, etwas kratzte über das Holz der Tür, die sich gegen die Balken bäumte.

»Verschwinde!« brüllte einer der Wächter.

»Na gut«, sagte ich, machte kehrt und ging den Korridor entlang.

Ich hörte die Männer fluchen und vernahm das Knirschen der soliden Tür. Als ich mich ein Stück entfernt hatte, schob ich den Verband wieder zurecht, zog den Ärmel herab und blickte zurück. Das Ding hinter der Tür machte keinen Lärm mehr, und ich konnte hören, wie der Riegel auf der Innenseite wieder vorgeschoben wurde. Nach einigen Minuten entfernten die Wächter auch auf Ihrer Seite wieder die Sperre. Das Wesen dahinter hatte sich offenbar wieder beruhigt.

Ich setzte meine Wanderung durch das Haus fort, wobei ich hier und dort auf betrunkene Wächter oder Bedienstete stieß, die mich unweigerlich mit Kajuralia- Rufen begrüßten. Doch meine Gedanken galten anderen Dingen. Aus irgendeinem Grund mußte ich an eine Bemerkung Cernus' denken, die er einmal vor der Zelle für seine besonderen Gefangenen gemacht hatte: »Du würdest keinen guten Spieler abgeben, Attentäter«.

Diese Worte machten mir nun seltsam zu schaffen.

Aber als ich so durch die Säle wanderte, hatte ich auch den Eindruck, daß es um unsere Sache so schlecht gar nicht stünde, obwohl ich den erforderlichen Zeitverlust bedauerte. Morgen abend um diese Zeit würden Elizabeth, Virginia und Phyllis in Freiheit sein. Und Caprus, der verläßliche Caprus, konnte besser arbeiten, nachdem sich Cernus um die zahlreichen Pflichten eines Ubar kümmern mußte. – Du, Attentäter, würdest keinen guten Spieler abgeben.

Ich bog in die Küche ab, in der das Essen für Cernus' Tafel bereitet wird.

Einige verblüffte Sklaven sprangen auf; die meisten schliefen jedoch weiter.

»Wo ist der Paga?« wandte ich mich an eines der Mädchen. Als sie aus dem Schatten trat, stellte ich verblüfft fest, daß sie keine Nase mehr hatte.

»Dort, Herr l« sagte sie und deutete auf einen Korb mit Flaschen unter dem großen Zentraltisch der Küche.

Schwerer Küchenduft stieg mir in die Nase. Zahlreiche Würste hingen am Haken, darunter standen Behälter mit Mehl, Zucker und Salz und kleinere Gefäße mit Gewürzen und anderen Zutaten. Zwei große Weinkrüge standen in einer Ecke, und eine ganz Wand wurde von Türen eingenommen, die zu verschiedenen Vorratsräumen und Regalen führen mußten. Eine andere Wand enthielt die Backöfen, daneben gähnte die lange Feuergrube, über der das Essen zubereitet wurde. Das Licht in der Küche kam von einer kleinen Tharlarionöllampe, die an der Decke hing, um dem Wächter die Überprüfung der schlafenden Sklaven zu ermöglichen.

Ich nahm eine zweite Flasche Paga aus dem Korb und warf sie dem Mädchen ohne Nase zu.

»Danke, Herr«, sagte sie und kehrte an ihren Platz zurück, wo sie das Getränk mit den anderen Sklaven teilte.

Wieder ging mir der Gedanke durch den Kopf: Du würdest keinen guten Spieler abgeben. Du würdest nie einen Spieler abgeben, Attentäter.

Grimmig, die Pagaflasche in der Hand, marschierte ich in den Korridor hinaus und fand die Stufen, die in die unteren Etagen des Zylinders führten.

Immer tiefer drang ich in die Unterwelt des Sklavenreichs vor. Eine seltsame Angst hatte von mir Besitz ergriffen, auch überkam mich Wut.

Eine entsetzliche Erkenntnis schien sich im Hintergrund meines Gehirns geformt zu haben, als sich das unsichtbare Ungeheuer in der Tür verkrallte, hinten im Korridor.

Ich passierte zahlreiche Wächter, schritt unzählige schmale Eisenstege entlang, die über endlose Reihen mit Käfigen führten. Ich erreichte schließlich die dritte Etage mit den Verwaltungs- und Versorgungsräumen für die Sklaven und stieg noch tiefer hinab, an weiteren Gehegen und Käfigen vorbei. Wenn ich an einem Wächter vorbeikam, begrüßte ich ihn mit »Kajuralia« und marschierte weiter.

Und immer mehr breitete sich die Angst aus, die ich nicht zu fassen vermochte. Attentäter, du würdest keinen guten Spieler abgeben.

Ich erreichte die letzte Wendeltreppe und schließlich die unterste Etage im Zylinder.

»Wer ist da?« fragte ein verblüffter Wächter.

»Kuurus aus der schwarzen Kaste«, sagte ich. »Im Auftrag des Cernus bringe ich den Gefangenen Paga am Kajuralia-Fest!«

»Aber wir haben hier nur einen Gefangenen«, sagte er verwirrt.

»Um so mehr bleibt für uns beide übrig«, sagte ich.

Er grinste und streckte die Hand aus. Ich riß mit den Zähnen den Korken aus der Flasche und reichte sie ihm.

»Man hat mich das ganze Fest über trocken sitzen lassen«, murmelte er zwischen den Schlucken.

Ich schloß daraus, daß der Wächter hatte nüchtern bleiben sollen – und daß er einen wertvollen Gefangenen bewachte. Vielleicht hatte man ihn aber auch nur einfach vergessen.

Der Mann setzte schließlich die Flasche ab. »Guter Paga«, sagte er.

Ich ließ ihn sitzen und sah mich um. Mehrere Korridore mit zahlreichen kleinen Zellen erstreckten sich vor mir. Es war feucht hier unten. Alle dreißig Schritte flackerte eine kleine Tharlarionöllampe. Ich nahm eine Fackel Und- hielt sie in die nächste Flamme.

Ich hörte, wie der Wächter noch einen tiefen Schluck nahm; dann saß er wieder teilnahmslos am Fuß der Treppe.

Die meisten Zellen schienen mit Kisten und Behältern gefüllt; sie gehörten offenbar zu den Lieferungen, die aus dem Schiff der Anderen geladen worden waren. Jede Zelle war verschlossen.

»Der Gefangene sitzt im neunten Korridor«, rief der Wächter von der Treppe.

»Vielen Dank«, sagte ich und nahm dem Mann die Flasche ab. »Ich bringe sie zurück.«

»Das ist zuviel Paga für einen Gefangenen«, murmelte der Mann ziemlich benommen.

»Gewiß – ich bringe sie dir ja zurück!«

»Zelle 40«, sagte er.

»Wo ist der Schlüssel?« wollte ich wissen.

»Neben der Tür.«

»Aber die anderen Schlüssel waren nicht neben den Türen.«

»Die anderen Schlüssel«, murmelte er, »werden irgendwo oben aufbewahrt, ich weiß nicht, wo.«

»Vielen Dank.«

Im neunten Korridor entdeckte ich ohne Mühe die vierzigste Zelle. Ich öffnete das Beobachtungsloch und konnte im Inneren an der gegenüberliegenden Wand eine dunkle Gestalt erkennen. Sie war angekettet.

Der Schlüsselkasten befand sich etwa einen Meter links neben der Tür.

Ich betätigte den Öffnungsmechanismus, nahm den Schlüssel heraus und öffnete die Zellentür.

Von dem Licht überrascht, eilte eine Urt über den Fußboden und verschwand in einem Wandspalt. Sie hatte an einigen Essensresten genagt. Es roch nach nassem Stroh und Ausscheidungen.

Der Gefangene war ein kleiner nackter Mann mit weißem Haar, zum Skelett abgemagert, von Wunden übersät. Der Mann erwachte und begann zu wimmern. Er erhob sich auf die Knie und versuchte seine Augen vor dem plötzlichen grellen Licht meiner Fackel zu schützen.

»Wer bist du?« fragte er.

»Mein Name ist Kuurus«, sagte ich.

Seine Arme und Beine waren getrennt angekettet, und jede Kette hatte einen eigenen Halt an der Mauer; ich schloß daraus, daß es sich in der Tat um einen ungewöhnlichen Gefangenen handeln mußte. Ich sah auch, daß die Ketten ihm einige Bewegungsfreiheit ließen, so daß er essen, sich kratzen und gegen die Angriffe der Urts verteidigen konnte.

Es wollte mir scheinen, als hauste er schon sehr lange hier unten.

Ich richtete mich auf und steckte die Fackel in einen Halter an der Wand.

Dann wandte ich mich an den Gefangenen.

»Du gehörst der schwarzen Kaste an«, flüsterte er. »Endlich bereiten sie der Qual ein Ende.«

»Vielleicht auch nicht«, sagte ich.

»Soll ich wieder gefoltert werden?« fragte er jammernd.

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

»Töte mich.«

»Nein.«

Er stöhnte auf.

Ich musterte den kleinen zerschundenen Körper, das verfilzte Haar; wütend stand ich auf und suchte einige lose Steine zusammen, mit denen ich die Ritzen in den Mauern und im Fußboden verschloß und so den Urts den Zugang verwehrte.

Der Gefangene, der sich nun etwas an das Licht gewöhnt hatte, verfolgte mich mit den Blicken.

»Warum bist du hier?« fragte er.

»Wir haben Kajuralia«, sagte ich nur und hielt ihm die Flasche hin.

»Wirklich? Kajuralia?« Er begann leise zu lachen. »Dann habe ich ja recht gehabt!«

Er begann aus der Flasche zu trinken, die ich ihm schnell wieder fortnahm, denn ich wollte nicht, daß er sich von dem starken Alkohol den Tod holte.

»Ich hatte recht«, sagte er noch einmal und nickte.

Er deutete hinter sich, wo an der Wand eine große Anzahl winziger Linien zu sehen war, die er dort mit einem Stein oder seinem Trinkgefäß angebracht hatte. »Heute ist Kajuralia«, sagte er noch einmal.

Es waren sehr viele Kratzer.

»Manchmal war ich mir nicht sicher, ob ich den Strich für den Tag schon gemacht hatte.«

»Du hast sehr genau gezählt«, sagte ich und betrachtete die sorgfältigen Reihen, die Wochen, die Monate, die Passage-Hände. Ich zählte zurück.

Dann deutete ich auf die erste Linie. »Das ist der erste En'Kara im letzten Jahr.«

Der zahnlose Mund verzog sich zu einem Lächeln, und in den tiefliegenden Augen blitzte es. »Ja«, sagte er, »der erste En'Kara 10118, vor über einem Jahr.«

»Das war bevor ich ins Haus des Cernus kam«, sagte ich mit zitternder Stimme. »Dein Kalender ist sehr genau. Er ist eines Schriftgelehrten würdig.«

»Ich bin Schriftgelehrter«, sagte der Mann und zerrte ein Stück blaues Tuch hervor, die kläglichen Reste seiner Robe.

»Ich weiß«, sagte ich.

»Ich heiße Caprus«, sagte er.

»Ich weiß.«

In diesem Augenblick ertönte ein Lachen hinter mir, und ich fuhr herum.

In der Zellentür, von vier Wächtern mit Armbrüsten flankiert, stand Cernus aus dem Hause des Cernus. In seiner Begleitung war auch der Wächter, dem ich den Paga gegeben hatte. Ganz im Hintergrund hielt sich der hagere Schriftgelehrte, den ich in all den Monaten für Caprus gehalten hatte. Er grinste.

»Laß deine Waffe stecken«, sagte Cernus.

Der Wächter, dem ich Paga gegeben hatte, schob sich an Cernus vorbei und entriß dem Gefangenen die Flasche. »Du wolltest mir doch den Paga wiederbringen, nicht wahr?«

»Er gehört dir«, sagte ich. »Du hast ihn dir verdient.«

Der Mann wischte lachend die Flasche ab und trank.

»Du würdest nie einen guten Spieler abgeben«, sagte Cernus spöttisch.

»Damit hast du offenbar recht.«

»Legt ihn in Ketten«, befahl der Hausherr.

Zwei Wächter fesselten mir die Hände mit schweren Ketten auf dem Rücken. Ich spürte, wie sich der Stahl um meine Handgelenke schloß.

Cernus musterte die zerlumpte Gestalt am Fußboden. »Darf ich dir Tarl Cabot aus Ko-ro-ba vorstellen?« fragte er.

Ich starrte ihn überrascht an. »Tarl Cabot ist in Ko-ro-ba umgekommen.«

»Nein«, sagte Cernus. »Das war der Krieger Sandras aus Thentis.

Sandras sollte dich ermorden. Aus diesem Grunde glaubte er nach Koro-ba geschickt worden zu sein. Dabei war er nur ein Lockvogel. Sein Tod sollte Tarl Cabot überzeugen, ein Anschlags sei auf ihn verübt worden. Du solltest nach Ar kommen, Tarl Cabot, angelockt durch das grüne Stoffstück!«

»Es muß doch einen Grund geben, warum du mich hier sehen wolltest«, sagte ich.

»Spotte nicht, Tarl Cabot«, sagte er. »Wir wußten, daß die Priesterkönige unser Haus verdächtigen würden, wie wir es auch beabsichtigten. Eine einfache und profitable List wie der Verkauf von Erdenmädchen mußte zu einer Ermittlung führen. Und für diese Ermittlungen kam niemand anders in Frage als Tarl Cabot.«

»Du spielst vorzüglich«, sagte ich.

Cernus lächelte. »Und damit auch wirklich Tarl Cabot hier auftauchte – mit dem wir eine alte Rechnung zu begleichen haben, nämlich die Sache mit dem Ei der Priesterkönige –, entsandten wir Sandras aus Thentis nach Ko-ro-ba. Und während du dann im Haus unter Beobachtung standest und gleichzeitig der Meinung warst, Fortschritte zu machen, hatten wir die Gewißheit, daß die Priesterkönige keinen anderen schicken würden.«

»Du sprichst von ›wir‹«, sagte ich.

Cernus starrte mich böse an. »Verspotte mich nicht, Krieger. Ich meine jene, die keine Priesterkönige sind.«

Ich nickte.

»Wir stehen im Krieg, Tarl Cabot«, sagte er. »Und Pardon gibt es nicht.«

»Wirst du mich umbringen?« fragte ich.

»Ich habe ein amüsantes Schicksal für dich vorgesehen«, sagte Cernus, »über das ich all die Monate nachgedacht habe.«

»Was denn?«

»Aber zuerst wollen wir an unser kleines Mädchen denken.«

Ich erstarrte.

»Sura berichtet mir, daß die Ausbildung vorzüglich gelaufen ist, daß wir in ihr eine perfekte Vergnügungssklavin haben. Wie ich höre, erwartet sie von einem Agenten der Priesterkönige erworben und in die Freiheit geführt zu werden.«

Ich starrte ihn ausdruckslos an.

»Dafür wird sie sicherlich eine ausgezeichnete Vorstellung geben.«

Ich wünschte mir, die Stahlringe abzustreifen und ihm an den Hals fahren zu können.

»Was ist los?« fragte Cernus besorgt. »Du möchtest nicht sehen, wie sich die kleine Schönheit auf dem Block ausmacht? Sie bringt dem Haus des Cernus bestimmt viel Geld, das wir dann für unsere Ziele verwenden können.« Er lachte. »Hinterher ist noch genügend Zeit für sie, zu erfahren, daß sie wirklich verkauft worden ist.«

»Du Sleen!« brüllte ich und warf mich auf Cernus, doch zwei Männer hielten mich zurück.

»Du, Tarl Cabot, würdest nie einen guten Spieler abgeben!«

»Sleen! Sleen!«

»Kajuralia«, sagte Cernus lächelnd, machte kehrt und verließ die Zelle.

Ich starrte ihm nach. Meine Hände zerrten an den Stahlfesseln, zwei Wächter lachten.

»Kajuralia«, sagte ich erbittert. »Kajuralia.«

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