Das Maschrikland

Meine Mutter bereitete mir einen innigen, tränenreichen Abschied. »Es wäre besser gewesen, Gott hätte uns das erspart, aber du willst es ja nicht anders«, sagte sie schluchzend.

Im tiefsten Innern war ich froh, dass sie nicht allein sein würde.

Scheich Marara wollte mich bis zum Zollplatz begleiten. Wir verließen das Haus noch vor Sonnenaufgang, und als wir den Platz erreichten, erblickten wir die Karawane im flackernden Licht der Fackeln. Am Himmel funkelten wachsam die Sterne, und es wehte eine leichte Frühlingsbrise.

Scheich Marara flüsterte mir ins Ohr: »Bleib auf keinen Fall hinter der Karawane von Ibn Hamdis zurück.«

Im gleichen Moment rief der Führer der Karawane: »Wir brechen nach dem Morgengebet auf!« Er trat an uns heran, schüttelte uns die Hand und sagte: »Die anderen Männer sind alle Kaufleute, du bist der einzige Reisende.«

Mich machte das weder glücklich noch unglücklich. Der Ruf zum Gebet erscholl. Wir gingen zur Moschee am Markt hinüber, zum letzten Mal stellte ich mich mit den anderen Weggefährten in einer Moschee zum Gebet auf. Wenig später eilten wir wieder hinaus, luden das Gepäck auf und nahmen unsere Plätze ein. Vom rhythmischen Gesang des Kameltreibers begleitet, setzte sich die Karawane in Bewegung. Wehmut überfiel mich, der Abschied machte mir das Herz schwer. Ich musste an meine Mutter denken, und an Halima, und in diese traurigen Erinnerungen schloss ich auch mein Heimatland ein. »Möge Gottes Segen meinen Weg begleiten«, murmelte ich.

Allmählich lichtete sich das Dunkel; am Horizont zeichneten sich die ersten Boten hellen Scheins ab. Schließlich lächelte uns die Morgenröte zu, und die Sonne sandte die ersten Strahlen herab. Nicht lange, und die endlose Wüste war in helles Licht getaucht. Wie eine tänzelnde Linie nahm sich die Karawane aus, als wollte sie dem erhabenen Sein ihren Teil abtrotzen. Mein Körper gab sich dem eintönigen, gleichmäßigen Rhythmus hin, in einem Meer von gleißendem Licht, einem sacht schwebenden Lufthauch und einer Wärme, die von gewaltiger Hitze kündete. Der Anblick war immer gleich — gelber Sand und strahlend blauer Himmel. Ich flüchtete mich in meine Gedanken, versank in quälenden Erinnerungen, bitteren Gefühlen und rosigen Träumen. Bei jeder Wasserstelle machten wir Halt. Wir aßen etwas, nahmen die rituelle Reinigung vor, beteten und plauderten ein wenig. Ich machte mich mit einigen Kaufleuten bekannt, die mich als den einzigen Reisenden argwöhnisch beäugten. »Ich will bis ins Gaballand ziehen«, erklärte ich stolz.

»Was wird das schon für ein Land sein?«, fragte einer verächtlich.

»Wo wir doch aus dem Land des Islam kommen«, fügte ein anderer Mann prahlerisch hinzu.

»Genau«, sagte ein Dritter. »Handel zu betreiben, gehört zur Zivilisation, und Gott hat uns befohlen, zivilisiert zu sein.«

»Der Prophet, Gott segne ihn, war ja auch Kaufmann«, meinte wiederum ein anderer.

Als wollte ich mich entschuldigen, sagte ich: »Aber er war auch auf Reisen und hat seinen Heimatort verlassen.«

»Du wirst dein Geld verschleudern und als Habenichts zurückkehren.«

Nur mit Mühe konnte ich meine Wut unterdrücken. »Wer auf die Kraft seiner Arme baut, kennt keine Armut.« Gewiss, ich achtete den Handel, aber für mich gab das Reisen dem Leben genauso einen Sinn wie der Handel.

Träge und mühselig zogen sich die Tage in die Länge; tagsüber war es heiß und des Nachts kalt. Noch nie hatte ich ein solch grenzenloses Meer von prächtig funkelnden, betörenden Sternen gesehen. Ich merkte, dass die Sehnsucht nach meiner Mutter stärker war, als ich erwartet hatte. Und dass meine Liebe zu Halima durch nichts zu erschüttern war, nicht durch den ungewohnten Ablauf der Tage und Nächte, nicht durch die Sterne, nicht durch die Neugier auf das Unbekannte.

Wir waren fast einen Monat unterwegs, als in der Ferne die Mauern von Maschrik auftauchten. Al-Kani Ibn Hamdis hob die Hand und erklärte: »Wir werden an der Blauen Quelle lagern und um Mitternacht das Land betreten.«

Wir ließen uns nieder und richteten uns ein. Als wir das Abendgebet gesprochen hatten, hörte ich jemand flüstern: »Das war das letzte Gebet, bis wir aus dem Land der Heiden zurückgekehrt sind.«

Ärger stieg in mir auf, aber ich hielt es für wichtiger, mich auf diesen neuen Lebensabschnitt vorzubereiten. Ich tröstete mich mit den Worten, dass Gott barmherzig und gnädig sei.

Kurz vor Mitternacht setzte sich die Karawane in Bewegung. Am Tor angekommen, sahen wir einen Mann, der, bis auf einen Lendenschurz, nackt war. Das unruhige Licht der Fackeln ließ ihn übermäßig schlank und groß aussehen. Einer meiner Gefährten flüsterte mir zu, dass er für den Zoll verantwortlich sei. — Mit gewaltiger Stimme tönte der Mann: »Willkommen in Maschrik, der Hauptstadt des Maschriklands, die offen für alle Kaufleute und Reisenden ist. Wer Sitte und Anstand kennt, wird hier nur Gutes erfahren.«

Wir zogen durch ein Spalier von Wächtern in die Stadt ein. Die Kaufleute nahmen den Weg zum Markt, mich brachte ein Begleiter zu einem Gasthaus für Fremde. Der Mann machte vor einem riesigen Zelt Halt und ließ das Kamel niederknien. Als er mein Gepäck ablud, begriff ich, dass ich hier wohnen würde. In dem Zelt, das mich an eine Soldatenunterkunft erinnerte, gab es auf beiden Seiten eines breiten Gangs Schlafkammern. Gewebte Wolltücher teilten die Kammern ab. Der Raum, der mir zugewiesen wurde, machte einen schlichten, wenn nicht gar primitiven Eindruck: Auf dem Sandboden lag ein Holzbrett, das als Bett gedacht war, ansonsten gab es noch eine Kiste für die Kleidungsstücke und in der Mitte ein paar Kissen. Kaum hatte ich mein Gepäck überprüft, legte ich mich mit der Hast eines Menschen nieder, der einen ganzen Monat nicht richtig geschlafen hatte. Ich schlief tief und fest, bis mich der neue Tag mit seiner Hitze weckte. Obwohl ich mich nicht sonderlich ausgeruht fühlte, eilte ich auf den Gang hinaus. Dicht an dicht saßen die Gäste vor ihren Kammern und nahmen ihr Frühstück ein. Ein kleiner, ziemlich beleibter Mann, der ebenfalls seine Blöße nur mit einem Lendenschurz bedeckt hielt, trat an mich heran und sagte lächelnd:

»Ich bin Fam, der Besitzer des Gasthauses. Haben Sie gut geschlafen?«

»Danke«, erwiderte ich und spürte, wie mir der Schweiß über die Stirn lief.

»Soll ich Ihnen das Frühstück bringen?«

»Ich würde gern das Bad aufsuchen.«

Er führte mich ans Ende des Gangs und schob einen Vorhang beiseite. Hier gab es alles, was ich zum Waschen, Rasieren und Kämmen brauchte. Als ich wieder zurückging, hatte Herr Fam schon das Frühstückstablett gebracht. »Kann ich in meinem Raum beten?«, fragte ich.

»Wenn Sie jemand sieht, bekommen Sie Schwierigkeiten.«

Zum Frühstück gab es Datteln, Milch und Gerstenbrot, und ich ließ es mir schmecken.

»Früher bin ich auch gern gereist«, sagte Herr Fam.

»Sind Sie hier geboren?«

»Nein, ich komme aus der Wüste. Irgendwann habe ich mich dann hier niedergelassen.«

Ich freute mich, auf einen Anhänger des Reisens gestoßen zu sein. »Die letzte Station, mit der meine Reise enden soll, ist das Gaballand.«

»O ja, das wollen viele. Mich haben finanzielle Gründe davon abgehalten.«

»Was wissen Sie über dieses Land?«, fragte ich begierig.

Lächelnd erwiderte er: »So gut wie nichts, außer dass es manchmal als das größte Wunder aller Zeiten beschrieben wird. Aber ich bin noch nie jemandem begegnet, der dieses Land mit eigenen Augen gesehen hat.«

Eine innere Stimme sagte mir, dass ich es sein würde, der als Erster das Gaballand erkunden und sein Geheimnis lüften würde.

»Bleiben Sie längere Zeit in Maschrik?«

»Nur zehn Tage, dann ziehe ich mit der Karawane von Al-Kani Ibn Hamdis weiter.«

»Fein, also schauen Sie sich alles an und genießen Sie Ihre Zeit. Übrigens reicht es, wenn Sie einen Lendenschurz tragen.«

»Ich kann doch nicht ohne Abaja[6] auf die Straße gehen«, erwiderte ich unangenehm berührt.

Er lachte. »Überzeugen Sie sich selbst. Nun habe ich doch tatsächlich vergessen, Sie nach Ihrem werten Namen zu fragen.«

»Kindil Mohammed al-Innabi.«

Er hob grüßend die Hand und ließ mich allein.

Es war schon Vormittag, als ich hinausging. Ich trug eine leichte, luftdurchlässige Abaja und einen Turban, um den Kopf vor der Sonne zu schützen. Die Hitze war unerträglich. Ich fragte mich, wie es wohl im Sommer sein mochte, wenn es schon im Frühling so heiß war. Draußen vor dem Eingang versetzten mich zwei Dinge in Angst und Schrecken — die Nacktheit und die Ödnis.

Alle Menschen, Frauen wie Männer, liefen so herum, wie ihre Mütter sie auf die Welt gebracht hatten. Offenbar war das ein völlig übliches Gebaren, denn niemand schaute hin oder kümmerte sich darum. Jeder ging seines Wegs, und nur einer wie ich, ein Fremder, der in Kleidern steckte, erregte Aufmerksamkeit. Die Menschen, deren Haut bronzefar-ben glänzte, waren mager, aber das schien mir weniger mit einem Schönheitsideal zu tun zu haben als mit Nahrungsmangel. Dennoch machten die meisten einen zufriedenen, ja fröhlichen Eindruck. Es fiel mir schwer, mich wegen meiner Kleidung, in der ich umherstolzierte, nicht als absonderlich zu empfinden. Aber noch viel schwieriger war, den Blick von besonders aufregenden Körpern abzuwenden, damit mein Blut nicht ständig ins Sieden geriet. Ich stöhnte im Innern über dieses Land, das einen jungen Mann, wie ich es war, unentwegt ins Feuer der Verführung stieß.

Das Zweite, das mich entsetzte, war diese Ödnis. Es kam mir vor, als hätte ich eine Wüste hinter mir gelassen, nur um in die nächste zu gelangen. Sollte das tatsächlich die Hauptstadt des Maschriklands sein? Wo waren die Paläste? Wo die Häuser? Wo die Straßen? Wo die Viertel mit ihren Gassen? Es gab nichts außer Weideland, und hier und da standen Zelte beieinander, wobei mir ihre Anordnung völlig willkürlich erschien. Vor den Zelten saßen Frauen und Mädchen, die beim Spinnen waren oder die Kühe und Ziegen melkten. Natürlich trugen auch sie keine Kleidung, und konnte man ihre Körper auch durchaus als schön bezeichnen, wurde jegliche Bewunderung im nächsten Moment im Keim erstickt: Sie waren schmutzig, ungepflegt und unterernährt. Aber vielleicht ging ich mit meiner harschen Kritik an diesem heidnischen Land zu weit, denn immerhin konnte man die Verhältnisse damit erklären, dass es sich bei diesen Menschen um Ungläubige handelte. Gab es nicht in meinem islamischen Land ähnliche Zustände, für die es keine solche Entschuldigung gab? Das Einzige, was du tun kannst, sagte ich mir, ist, alles genau zu beobachten, zu notieren und die bitteren Wahrheiten hinzunehmen.

Während ich mich überrascht, ja aufgewühlt umschaute, überkam mich plötzlich eine leidenschaftliche Sehnsucht nach Liebe. Sie musste aus dem tiefen Innern des Liebenden aufgestiegen sein, der sein Sehnen bislang immer zu verbergen wusste. Übermächtig überfiel mich die Erinnerung an Halima, und ihr Bild verschmolz mit der weiten Landschaft, auf die die sengenden Strahlen der Sonne herniederbrannten. Eine Zeit lang stand ich völlig verloren herum, doch dann fiel mein Blick auf ein Mädchen, das aus der Richtung des Gasthauses blitzschnell zu einer Gruppe von Männern und Frauen stürzte und im nächsten Moment im Gemenge verschwunden war. Vielleicht hatte ich sie zuvor schon bemerkt, vielleicht war ich aber auch so stark mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, dass ich mich sozusagen in einem Dämmerzustand befunden hatte. Wie es auch immer sein mochte — dieses Mädchen hatte mein Gemüt in Aufruhr versetzt. Natürlich sah sie wie alle anderen Mädchen aus, sie hatte die gleiche bronzefarbene Haut, aber das Gesicht ähnelte auf bestürzende Weise dem von Halima, meiner verlorenen Liebe. In diesem Moment setzte sich in mir der Gedanke fest, dass dieses Mädchen die Halima von Maschrik sei und ich sie ganz bestimmt wieder sehen würde.

Ich schlenderte herum, lief mal hierhin, mal dorthin. Es gab nichts Neues zu entdecken. Allmählich überkam mich Trägheit, ich wurde immer teilnahmsloser. Trübsal und Schmerz setzten meinem Herzen zu, und meine Fantasie versuchte vergeblich, mir das Bild der Halima von Maschrik heraufzubeschwören. Es war, als würde die Fremde einen anderen Menschen aus mir machen. Aus verborgenen Winkeln meiner Seele krochen kühne Versuchungen hervor; sie drängten mich, mir meine Wünsche zu erfüllen und den Mut zu haben, mich auf Abenteuer einzulassen. Eine Zivilisation aufzugeben, um mich einer neuen zu überlassen. Ein Leben ohne Aufpasser auszukosten, diesen selbst ernannten Wächtern, die sich nach außen so gefestigt geben, aber im Innern wahre Stürme erleben.

Es war schon Nachmittag, als ich mich in einer völlig neuen Umgebung wiederfand. Ich wusste nicht, wie mich meine müden Füße dorthin gebracht hatten. Es war eine Ebene, auf der kein Vieh weidete und keine Hirten zu sehen waren. Die Zelte machten einen sauberen Eindruck. An zwei Seiten standen gewaltige Bäume, solche Ungetüme hatte ich nie zuvor gesehen. In der Tiefe der Ebene stand ein Palast, den eine hohe Mauer umgab; das Tor bewachten Reiter, die von Kopf bis Fuß bewaffnet waren. Es gab hier kein Gewimmel von Menschen, nur ein paar Fremde starrten wie ich staunend zu dem Palast hinüber. Wie kam diese Pracht mitten unter die Zelte? Zweifelsohne war es der Königspalast, und man durfte ihn nicht besuchen. Ich hatte geglaubt, dass irgendein Stammesführer das Land regierte, der entsprechend seiner Stellung in einem großen und stattlichen Zelt lebte.

»Ist das der Königspalast?«, fragte ich einen Mann.

»Sieht so aus«, erwiderte er und starrte neugierig weiter.

Um ehrlich zu sein, stand dieser Prachtbau dem Sultansschloss in meiner Heimat in nichts nach; merkwürdig war nur, dass er in dieser Umgebung völlig fremd wirkte. Die Luft hatte sich ein wenig abgekühlt, nun zeigte der Frühling sein wahres Gesicht. Aber plötzlich überfielen mich wie ein Dämon Müdigkeit und Hunger, und ich beschloss, ins Gasthaus zurückzukehren. Am Eingang saß auf einem Polster, das aus Palmwedeln gemacht war, Herr Fam. Freundlich lächelnd fragte er mich, ob ich auf dem Markt zu Mittag gegessen hätte.

»Keineswegs«, erwiderte ich. »Den Markt habe ich noch gar nicht entdeckt, und nun frisst mich der Hunger auf.«

Ich setzte mich vor meine Kammer, und wenig später kam Herr Fam und brachte mir Brot, eine Scheibe Rindfleisch, gebraten in Öl mit einem Schuss Essig, und obendrein noch einen Teller mit Datteln, Quitten und Weintrauben.

»Soll ich Ihnen ein Glas Dattelwein bringen?«, fragte er.

»Gott bewahre!«, brachte ich gerade noch heraus, bevor ich mich gierig auf das Essen stürzte.

»Aber der Wein versüßt uns doch erst das Reisen«, murmelte er.

Nachdem ich mich satt gegessen hatte, bat ich Herrn Fam, mich zu ihm setzen zu dürfen. Er hieß mich herzlich willkommen, und so verbrachten wir den Abend gemeinsam. Der Mond war nahe daran, voll und rund zu sein, und es wehte ein so laues Lüftchen, dass die drückende Hitze des Tages kaum noch vorstellbar war. Schon wenig später kam ich zur Ruhe, und ich fühlte mich angenehm entspannt.

»Es gibt Zelte, in denen man sich bei Musik und Tanz amüsieren kann. Reisende mögen doch so etwas«, sagte Herr Fam.

»Ein andermal vielleicht, heute nicht«, erwiderte ich.

»Hat Ihnen gefallen, was Sie gesehen haben?«

»Das einzig Sehenswerte ist der Palast. Ich würde gern mehr darüber wissen, aber von den Leuten auf der Straße ist wohl kaum etwas zu erfahren.«

»Da haben Sie Recht.«

»Der Palast des Königs ist das reinste Wunder.«

Er lächelte. »Es gibt keinen König im Maschrik-land.« Offenbar sah er mir an, wie überrascht ich war, denn im gleichen Atemzug fuhr er fort: »Dieses Land besteht aus der Hauptstadt und vier weiteren Städten. Jede Stadt hat ihren Herrscher, und ihm gehört alles — das Weideland, das Vieh, die Hirten. Die Menschen sind seine Sklaven, und sie gehorchen ihrem Herrn, weil er sie ernährt und beschützt. Das Schloss, das Sie gesehen haben, gehört dem Gebieter der Hauptstadt. Er ist der Größte und Reichste, aber er besitzt keine Oberhoheit über die anderen Herrscher. Jeder von ihnen verfügt über ein bewaffnetes Heer, das aus gedungenen Soldaten besteht. Üblicherweise rekrutiert man sie bei den Wüstenbewohnern.«

Was für ein seltsames System! Es erinnerte mich an die Stämme aus vorislamischer Zeit, oder an die Großgrundbesitzer, die es in meiner Heimat gab, aber verglichen mit den hiesigen Verhältnissen waren die Unterschiede nicht zu übersehen. Dennoch gab es auch etwas Gemeinsames, dass nämlich all diese Entwicklungsstufen auf diese oder jene Weise von Ungerechtigkeit geprägt waren. Deshalb musste ich ehrlicherweise zugeben, dass wir, die Menschen im Land der Offenbarung, größere Schuld auf uns luden als alle anderen Menschen. Doch ich war auf der Hut, wollte mich, wie es einem Fremden zustand, mit kritischen Bemerkungen zurückhalten. Stattdessen fragte ich, wie denn dieses prächtige Schloss gebaut werden konnte, wenn die Untertanen alle einfache Hirten sind.

»Die Ingenieure und Arbeiter hat der Gebieter aus dem Hairaland geholt, und aus dem Halbaland hat er die kostbarsten Möbel und Kunstwerke herangeschafft, die dort zu finden sind«, sagte Herr Fam, und der Stolz, der in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören.

Ich wartete ein wenig ab, bevor ich ihn bat, etwas über die Religion zu erzählen, an die die Menschen in diesem Land glauben.

»Das ganze Maschrikland betet den Mond an. Bei Vollmond zeigt sich Gott in seiner ganzen Größe, und dann eilen alle hinaus ins Freie, bilden um den Priester einen Kreis und beten. Danach beginnen die rituellen Handlungen, es wird getanzt, gesungen, getrunken und Liebe gemacht.«

Ich starrte ihn ungläubig an. »Und damit wollen sich die Menschen das ewige Leben im Paradies sichern?«

»Wir kennen weder etwas wie das ewige Leben noch wie das Paradies. Einzig wichtig ist für uns die Nacht, in der sich der Vollmond zeigt.«

Ich zögerte kurz. »Wie sieht es mit der medizinischen Versorgung und der Bildung aus?«

Er zuckte geringschätzig mit den Achseln. »Die Söhne des Gebieters werden in der Reitkunst und in der Lehre vom Gott des Mondes unterwiesen. In jedem Schloss steht ein Arzt zur Verfügung, der aus Haira oder Halba stammt. Ansonsten sind die Menschen der Natur überlassen. Wird einer krank, sondert er sich von den anderen so lange ab, bis er wieder gesund ist. Oder er stirbt und wird von den wilden Tieren gefressen.« Auf meinen fragenden Blick hin fuhr er fort: »Das ist das Gebot des Mondes. Seine Lehren stehen in völligem Einklang mit dem Leben. Deshalb sind wir meistens fröhlich und zufrieden, kein Volk könnte glücklicher sein, Herr Kin-dil.«

In meinen Augen war das nicht mehr und nicht weniger als ein Zustand geistiger Umnachtung, aber das sagte ich natürlich nicht. Stattdessen gratulierte ich Herrn Fam zu diesem seinem Volk und seinem Leben.

Die Nacht verbrachte ich teils mit der Niederschrift meiner Reiseeindrücke, teils mit Grübeleien. Ich dachte darüber nach, welchem Leid der Mensch in diesem Leben ausgesetzt ist. Die Frage quälte mich, ob das Allheilmittel tatsächlich im Ga-balland zu finden sei.

Die Tage vergingen, ohne dass sonderlich Neues geschah. Die einzige Veränderung bestand darin, dass ich den Mut fand, auf einige Kleidungsstücke zu verzichten und in kurzen Hosen und mit einem Käppchen auf dem Kopf herumzulaufen. Eines schönen Morgens drangen ungewöhnliche Geräusche an mein Ohr. Hastige Schritte eilten den Gang entlang, und etliche Gäste tuschelten aufgeregt miteinander. Ich lief schnurstracks zu Herrn Fam, der, kaum hatte ich meine Frage gestellt, freudig rief: »Heute ist die Nacht des Vollmonds! Heute erscheint uns Gott, heute beten und feiern wir.«

Ich war begeistert, vor allem nachdem Herr Fam mir versicherte, dass sich jedem, der dem Fest beiwohne, ein großartiges Schauspiel bieten würde. Auf der Stelle ging ich zum Markttor, in dessen Nähe die Kaufleute ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ich wollte meinen Reisegefährten die Neuigkeit mitteilen. Tagsüber arbeiteten sie, nachts besuchten sie die verschiedenen Vergnügungsstätten. Sie zeigten viel Geschick beim Handel, aber mir war aufgefallen, dass sie keinerlei Geschäfte mit den Einwohnern betrieben, sondern nur mit den Bevollmächtigten des Herrschers. Er war der alleinige Käufer und Verkäufer. Der so genannte Markt bestand lediglich aus zwei Reihen von Zelten, in denen man Nahrungsmittel und alltägliche Dinge wie Kämme, kleine Spiegel und billigen Perlenschmuck kaufen konnte.

Ich aß im Gasthaus zu Mittag, ruhte mich bis kurz vor Sonnenuntergang aus und machte mich dann auf den Weg zum Festplatz. Es herrschte ein entsetzliches Gedränge; Männer und Frauen strömten herbei und stellten sich im Kreis auf. Ihre nackten, bronzefarbenen Körper waren schweißbedeckt, und in der Luft lag ein aufregender, die Sinne betörender Duft. Die Sonne sandte ihre letzten Strahlen herab, da zogen am blauen Firmament ein paar Wolken auf, und für ungefähr fünf Minuten setzte ein leichter Regen ein. Die Menschen, erfüllt von Glauben und lauernd auf ein großes Ereignis, brachen in Jubel aus. Kaum war die Sonne in die eine Richtung verschwunden, zeigte sich aus der anderen Richtung der Mond in seiner vollen Schönheit und erhabenen Größe. Da jauchzten die Menschen auf, und das Freudengeschrei war so laut, dass es die Vögel in Angst und Schrecken versetzte. Der Mond stieg höher, verströmte sein goldenes Licht über die nackten Leiber, und die Menschen streckten die Arme aus, als wollten sie den schwebenden Glanz mit Händen greifen. Es trat demütige Stille ein, und sie hielt an, bis der Mond den Zenit erklommen hatte. In diesem Augenblick erscholl von irgendwoher der lang gezogene, warnende Klang einer Trompete, und auf einmal teilte sich die Menge am nördlichen Rand des Kreises und machte den Weg frei für eine Ehrfurcht gebietende Gestalt — groß, nackt, mit wallendem, zerzaustem Bart. Der Mann schritt, auf einen Stock gestützt, in die Mitte des Kreises und verharrte dort. Alle Augen waren auf ihn, den Priester des Mondes, gerichtet, kein Laut war zu hören. Für eine Weile stand der Mann wie erstarrt da, dann ließ er den Stock fallen, hob Kopf und Arme gen Himmel, und im gleichen Moment reckten sich tausende von Armen in die Höhe. Der Priester klatschte in die Hände, und die Menge hob auf einen Schlag einen Gesang an — eine Hymne, ergreifend und mächtig, als hätten sich Erde, Himmel und alles, was da kreucht und fleucht, vereinigt, als wäre jeder und alles vom Zauber des Gesangs und von der Sehnsucht der Liebenden berauscht. Ein heißer Schauder überlief mich, drang bis in die kleinste Faser meines Körpers, machte mich wild und hungrig und ließ mich zugleich vor Furcht und Wonne zittern. In meiner Brust tobten die heftigsten Gefühle, schon glaubte ich, vor lauter Erregtheit bersten zu müssen, da kam ganz sachte eine Schlaffheit über mich, die sich meinen Körper Stückchen für Stückchen eroberte, ihn ruhig und schläfrig machte. Der Priester senkte die Arme, und die Menschen taten es ihm nach. Erwartungsvoll richteten sich alle Blicke auf ihn. Mit der ihm eigenen Würde hob er den Stock auf, hielt ihn fest umklammert mit der linken Hand und begann zu reden. »Hier und jetzt zeigt sich uns Gott in all seiner Schönheit und Erhabenheit, erscheint Er uns zu der von Ihm vorgegebenen Zeit, vergisst Er keinen seiner Diener. Wie wunderbar ist Gottes Gnade, wie gesegnet seine Dienerschar.«

Aus dem Meer der Menschen stieg Gemurmel auf — Worte des Danks.

»Gott will uns mit seinem Lauf bedeuten, dass das Leben vergänglich ist und seinem Dahinschwinden zustrebt. Aber dem Gütigen beschert es Gutes, dem Lächelnden lächelt es zu, so verschleudert nicht den Reichtum des Lebens durch törichtes Tun.«

Aus tausenden Kehlen stiegen Freudentriller auf, und rhythmisches Klatschen erfüllte die Luft.

»Hütet euch vor Zwist und Streit, seht euch vor dem Bösen vor. Hass frisst die Leber auf, Gier schlägt auf den Magen und macht krank, Habsucht ist ein unheilvolles Leiden. Also seid fröhlich und vergnügt euch, besiegt alle bösen Einflüsterungen, indem ihr zufrieden seid.«

Kaum war der letzte Satz gesprochen, setzte das Schlagen der Trommeln ein. Die Menschen zuckten im Takt, wackelten mit dem Gesäß und den Brüsten. Wie eine Woge breitete sich das Wiegen und Stampfen im Mondenlicht immer weiter aus. Die Erde tanzte, und der volle Mond gab ihr seinen Segen. Aus dem Tanzen wurden Umarmungen, die Masse versank in leidenschaftlichem Verlangen, und ich stand da und schaute fassungslos zu. Ich kam mir wie in einem Traum vor, der einen als Halbwüchsigen bedrängt. Das Blut kochte mir in den Adern, ein Verlangen jagte das andere, mein Herz gierte nach Wahnsinn. Da machte ich kehrt und ging, vor Erregung taumelnd, von Wollust besessen, zurück zum Gasthaus. In meiner Kammer zündete ich eine Kerze an und machte ein paar Notizen. Ich grübelte über die vielen Heimsuchungen nach, die meinen Glauben und meine Gottesfurcht auf eine schwere Probe stellen wollten. Ich erinnerte mich an die Zeit meiner religiösen und geistigen Unterweisung durch Scheich Marara al-Gibaili. Mir war elend zumute, und müde und matt überließ ich mich meinen Gedanken. Plötzlich zerriss ein Schrei die Stille, irgendjemand rief um Hilfe. Ich sprang auf, um mich herum war es stockdunkel. Da begriff ich, dass ich geschlafen hatte, mehr noch, alle Welt lag in tiefem Schlaf.

Ich wachte früh auf. Als ich mich anschickte, aus dem Gasthaus zu gehen, fragte ich Herrn Fam, ob es einem Fremden wie mir möglich sei, den Weisen des Landes aufzusuchen.

»Da müssen Sie zum Mondpriester gehen«, erwiderte er. »Er empfängt gern Gäste. Ich werde mich darum kümmern.«

Ich ging zum Markt, traf aber nur Al-Kani Ibn Hamdis an. Die Kaufleute seien alle in den Palast gegangen, weil sie beim Kammerherrn des Gebieters einige Formalitäten zu erledigen hätten, erklärte er. Ob ich beschlossen hätte, mit der Karawane aufzubrechen, wollte er wissen.

»Sicher, hier gibts ja nichts weiter zu sehen.« »Da hast du Recht, es ist ein armes Land. Dafür werden dir aber die nächsten Ziele viel Sehenswertes bieten.«

»Am meisten interessiert mich das Gaballand.« Er lächelte. »Möge dich Gott die schönsten Dinge genießen lassen, die Er erschuf.«

Es war heiß geworden, und ich langweilte mich. Also beschloss ich, auf dem Markt noch ein wenig umherzuschlendern. Der Zufall wollte es, dass ich bei einem Zelt, vor dem ein alter Mann Datteln anbot, stehen blieb. Plötzlich entdeckte ich, dass drinnen im Zelt das verführerische Mädchen, die Halima von Maschrik, saß. Sie fütterte eine Taube. Ihre nackte, bronzefarbene Haut glänzte, und ihr anmutiger Körper zeigte eine noch unverdorbene Reife. Ich stand wie gelähmt da, starrte das Mädchen selbstvergessen an und dachte an Halima — das runde Gesicht, schön wie der Mond, die schwarzen Augen, der lange Hals. Das ganze Leid meines Herzens sah ich plötzlich körperlich vor mir, und auf einmal fügte sich alles zusammen: die zum Leben erwachte Vergangenheit, der Zauber der Gegenwart und der Traum von der Zukunft. Was für ein einzigartiges Zusammentreffen! Was für ein Labsal für meine Seele! Was für ein Ruf, was für Fesseln! Ich starrte und starrte, als wollte ich mich gleichsam in dieses Wesen versenken. Alles vergaß ich — den alten Mann, die mir eigene Schüchternheit, die mühsam erworbenen sittsamen Zwänge, die Langeweile, die Hitze, alle Pläne, alle Träume, sogar den Traum vom Gaballand, ja selbst die Hoffnungen, die ich mit meiner Rückkehr ins Heimatland verknüpfte. Ich konnte alles vergessen, weil ich alles gewonnen hatte: Gelassenheit, Heiterkeit, unermesslichen Reichtum.

Das Mädchen verbarg sich in der Tiefe des Zelts, ich konnte sie nicht mehr sehen. Plötzlich spürte ich den starren Blick des alten Mannes auf mir. Mein glücklicher Irrsinn verrauschte, das alltägliche Leben mit seinem Schweiß und seinen Versuchungen hielt mich wieder gefangen. Ich wollte weitergehen, da rief der Alte: »He du, Fremder!«

Jetzt musst du auf der Hut sein, dachte ich und drehte mich zögerlich um.

»Komm her«, sagte er freundlich.

Ich trat verschämt näher.

»Hat dir meine Tochter Arusa nicht gefallen?«

Vor Schreck brachte ich kein Wort heraus.

»Nun sag schon, gefällt sie dir nicht? In ganz Ma-schrik gibts nichts Hübscheres.«

»Entschuldigung, aber…«, stammelte ich.

»Jeder junge Mann verliebt sich auf der Stelle in sie«, erklärte er stolz.

Ich wusste nicht, ob er sich über mich lustig machte. Auf jeden Fall schien es mir geraten, vorsichtig auszuweichen. »Ich hatte nichts Böses vor.«

»Ich versteh die Fremden nicht«, fuhr er mich unwillig an. »Hat sie dir nun gefallen oder nicht?«

Ich druckste eine Weile herum, dann sagte ich: »Sie verdient höchste Bewunderung.«

»Dann gefällt sie dir also?«

Ich nickte.

»Komm rein.« Da ich mich nicht von der Stelle rührte, stand er auf und zog mich an der Hand ins Zelt. Er rief seine Tochter, und als sie kam, nackt natürlich, fragte er sie: »Wie findest du diesen Fremden? Er ist verliebt in dich.«

Ohne in Verlegenheit zu geraten und ohne zu zögern, erwiderte sie: »Er gefällt mir.«

Der Vater lachte. »Hat dich der Mond endlich doch erleuchtet!«

Er führte uns in einen Winkel des Zelts und ließ, als er wegging, einen Vorhang herunterfallen. Da war ich nun mit ihr allein, ohne dass ich Angst zu haben brauchte, aber ich war so verwirrt, dass es mir jegliches Glücksgefühl verdarb. Ging in diesem Land auf diese Art eine Hochzeit vonstatten? Gehörte das zu dem zügellosen Benehmen, das ich mit eigenen Augen in der Nacht des Vollmonds mit ansehen musste? Sie schaute mich stumm an, wartete ab. Nach außen hin gab ich mich ernst und besorgt, obwohl ich ihr am liebsten auf der Stelle meine ganze Liebe gezeigt hätte.

»Was geht hier vor? Was hat das zu bedeuten, Arusa?«

»Wie heißt du, und woher kommst du?«

»Ich heiße Kindil und komme aus dem Land des Islam.«

»Was genau willst du denn wissen?«

»Der Mann da draußen, ist er dein Vater?«

»Ja.«

»Was geschieht hier mit uns beiden?«

»Mein Vater hat gemerkt, dass ich dir gefalle, und da hat er dich zu mir gebracht.«

»Ist das hier so üblich?«

»Ja, sicher.«

»Und was passiert hinterher?«

»Weiß ich nicht. Wieso hast du das komische Ding da an?« Sie lächelte spöttisch und fing an, mir die Hose auszuziehen. Wir standen uns gegenüber und starrten uns an. Da konnte ich nicht anders: Ich schob alle quälenden Gedanken weit von mir, kniete nieder und umfasste mit beiden Armen ihre Beine.

Zur Mittagszeit sagte ihr Vater: »Lad uns zum Essen ein.«

Ich zog los und kehrte mit Fleisch und Obst zurück. Es wurde alles redlich geteilt, wie bei einer richtigen Familie. Nach dem Essen ruhten wir uns eine Weile aus. »Geh in Frieden«, sagte ihr Vater dann.

»Darf ich morgen wiederkommen?«, fragte ich ein wenig verunsichert.

Ohne eine Miene zu verziehen, antwortete er: »Das geht nur dich und Arusa etwas an.«

Ich hatte Herz und Verstand verloren, all mein Sinnen und Trachten galt einzig und allein Arusa. Zurück im Gasthaus, bat ich Herrn Fam, mich darüber aufzuklären, welcher Art das Verhältnis von Mann und Frau in diesem Land sei.

»Es gibt keinerlei Vorschriften. Wenn einer Frau ein Mann gefällt, lädt sie ihn ein. Sie tut es nicht heimlich, sondern im Einverständnis mit ihrer Familie. Will sie von ihm nichts mehr wissen, schickt sie ihn weg. Falls es Kinder gibt, bleiben sie bei ihr. Sie gehören ihr.«

Ich hörte mit wachsendem Widerwillen zu, aber Herr Fam ließ mir keine Zeit zum Nachdenken. »Am Nachmittag gehen wir zum Priester, er freut sich auf die Begegnung.«

Auch wenn ich nicht mehr sonderlich erpicht darauf war, ihn zu treffen, entschloss ich mich dazu. Das Gespräch mit dem Mondpriester würde meinen Reisenotizen dienlich sein. Herr Fam brachte mich zu einem Zelt, das auf einem großen, leeren Platz stand. Der Mann saß vor dem Eingang mit gekreuzten Beinen auf einem Fell. Er schaute mich prüfend an und bat mich, mich zu setzen. Er wartete ab, bis Herr Fam gegangen war, dann sagte er: »Fam hat mir erzählt, dass Sie Kindil Mohammed al-Innabi heißen und aus dem Land des Islam kommen.«

»So ist es.«

Sein Blick wurde noch eindringlicher. »Wie jeder Fremde möchten natürlich auch Sie möglichst viel über dieses Land erfahren.«

»Ein weiser Mann wie Sie kann einem bestimmt vieles erzählen, das auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist.«

»Sprechen Sie ganz offen, haben Sie keine Angst. Nur wer den Dingen ernsthaft und ohne Scheu auf den Grund gehen will, bekommt eine Antwort.«

Ich dachte eine Weile nach, bevor ich mich entschloss, direkt auf das Thema, das mich am meisten interessierte, zu kommen.

»Was mich hier im Maschrikland am stärksten verwundert, ist die Beziehung zwischen Mann und Frau.«

Er lächelte. »Die Hälfte aller schmerzlichen Vorkommnisse, wenn nicht sogar alle, rühren in den anderen Ländern von den engen Fesseln her, die man der fleischlichen Lust anlegt. Wird die sinnliche Begierde befriedigt, ist das Leben harmonisch.«

»In meinem Land gebietet uns Gott, anders zu handeln«, erwiderte ich vorsichtig.

»Ich weiß eine ganze Menge über Ihr Land. Bei euch muss man heiraten, auch wenn eine solche Ehe nur allzu oft in ein trauriges Schicksal mündet. Und wo das nicht der Fall ist, liegt das meistens daran, dass sich die Partner in Geduld üben. Nein, mein Freund, da ist unser Leben sehr viel einfacher und glücklicher.«

»Aber was passiert, wenn die Frau den Mann nicht mehr liebt, er sie aber immer noch begehrt?«

»Frauen gibt es viele, und Trost findet man überall. Eure Schwierigkeiten rühren einzig und allein davon her, dass ihr ständigen Entbehrungen unterliegt.«

»Aber selbst bei den Tieren gibt es Eifersucht!«

Wieder lächelte er. »Dann müssen wir eben besser als die Tiere sein.« — Es gelang mir nur mit größter Mühe, mir meinen Abscheu nicht anmerken zu lassen. »Offenbar gehen da unsere Auffassungen zu weit auseinander«, murmelte ich.

»Das gebe ich gerne zu, aber Sie sollten zumindest versuchen, uns zu verstehen. Uns geht es um Einfachheit und spielerische Heiterkeit, und unser Gott mischt sich in unsere Angelegenheiten nicht ein. Das Einzige, was er uns sagt, ist, dass nichts beständig ist und alles vergeht, auch das Leben. Er weist uns in aller Zurückhaltung darauf hin, dass wir unser Leben als Spiel empfinden und darin Befriedigung erfahren sollten.«

Von der Eindringlichkeit seiner Worte ermutigt, erklärte ich hitzig: »Ich habe Ihre Predigt gehört, und meiner Meinung nach steht sie keineswegs im Einklang mit dem, was der oberste Gebieter, dem hier alles gehört, treibt.« — Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Nun ja, darüber regen sich die Fremden gerne auf. Aber Sie sollten wissen, dass es unser Gebieter ist, der die Stadt vor den Angriffen der Nomaden verteidigt. Er und die anderen Gebieter lassen uns hoffen, dem habgierigen Trachten anderer Länder, zum Beispiel des Hairalands, zu widerstehen. Ja, wir leben mit der drohenden Kriegsgefahr, und die Gebieter des Landes halten sich ständig bereit, das Land zu verteidigen. Sie gehen auch gegen jegliche gewalttätige Auseinandersetzung im Innern des Landes vor und sichern den Sklaven damit ein friedliches Leben. Wenn Sie wissen, dass unsere Gebieter die Waffen und Söldner bezahlen, missgönnen Sie es ihnen dann immer noch, dass sie alles besitzen?«

Ich sah ihn herausfordernd an. »Es gibt eine bessere Gesellschaftsform, die nämlich, die den Menschen ihre Rechte sichert und sie auf die Verteidigung ihres Landes vorbereitet.«

Der Priester verzog abfällig den Mund. »Es gibt vier Arten von Lebewesen in diesem Land — Pflanzen, Tiere, Sklaven und Herren. Jede Art besitzt ihren eigenen Ursprung und hat mit den anderen nichts zu tun.«

»Bei uns sind alle Menschen Brüder«, erklärte ich aufgebracht, »ganz so, als hätten sie den gleichen Vater und die gleiche Mutter. Zwischen Oben und Unten gibt es nicht den geringsten Unterschied.«

Er winkte verächtlich ab. »Sie sind nicht der erste Moslem, mit dem ich rede. Ich weiß eine Menge über euer Leben und kenne auch diese Parole. Wollen Sie wirklich behaupten, dass diese verkündete Brüderlichkeit im Verhalten der Menschen eine Rolle spielt?«

Der Hieb saß, trotzdem entgegnete ich voller Inbrunst : »Das ist keine Behauptung, sondern unser fester Glauben.«

Er lächelte spöttisch. »Unser Glauben verlangt nichts, was sich nicht umsetzen lässt.«

Die Offenheit, mit der er sprach, forderte mich heraus. »Sie sind ein kluger Mann, und deshalb verwundert es mich umso mehr, dass Sie den Mond anbeten und ihn für einen Gott halten.«

Mit großem Ernst, und zum ersten Mal auch etwas schärfer im Ton, erklärte er:

»Wir können ihn sehen, und wir verstehen, was er uns zu sagen hat. Können Sie Ihren Gott sehen?«

»Er steht über allem körperlichen und sinnlichen Begreifen.«

Ein Lächeln umspielte seinen Mund. »Dann ist er also ein Nichts.«

Am liebsten hätte ich ihn geohrfeigt, aber ich unterdrückte meinen Zorn und bat meinen Herrgott um Vergebung. »Ich werde Gott bitten, Sie auf den rechten Weg zu führen.«

Er lächelte noch immer. »Und ich werde meinen Gott bitten, Sie zu erleuchten.«

Ich reichte ihm die Hand und verabschiedete mich. Völlig aufgelöst und mit schmerzerfülltem Herzen kehrte ich ins Gasthaus zurück. Ich nahm mir fest vor, fortan auf meiner Reise viel zuzuhören und wenig, am besten überhaupt nicht, zu diskutieren. Ich seufzte bekümmert, bedrückte mich doch der Gedanke, dass meine Religion groß und erhaben ist, wir aber dennoch nicht besser als die Heiden leben.

Am nächsten Tag ging ich zeitig zum Markt, genauer gesagt zu Arusas Zelt. Der Alte hieß mich lächelnd willkommen, während Arusa mich mit der koketten Klage empfing, dass ich spät komme und sie schon geglaubt habe, sie würde mich überhaupt nicht mehr sehen. Mit einem Kuss verschloss ich ihr den Mund, da nahm sie meine Hand und wollte mich in unsere Ecke ziehen. Aber ich blieb stehen und schaute ihren Vater an. »Ich bitte Sie, Arusa heiraten zu dürfen.«

Er brach in schallendes Gelächter aus und riss dabei den Mund so weit auf, dass ich seine schlechten Zähne sehen konnte. Nach Luft schnappend, fragte er: »Etwa so, wie ihr das in eurem Land tut?«

»Gewiss. Ich würde sie mit auf meine Reise nehmen und danach mit ihr in meine Heimat zurückkehren.«

»Was meinst du dazu, Arusa?«, fragte der Alte.

»Ich bin dazu gern bereit, allerdings nur unter der Bedingung, dass du mich, wenn es mein Wunsch ist, wieder ins Maschrikland zurückbringst.«

Ohne zu zögern, entgegnete ich: »Versprochen.«

»Allerdings liegt die Entscheidung nicht bei mir, weil wir ja alle unserem Gebieter gehören. Er ist unser gesetzmäßiger Herr. Geh zum Palast und erkläre dem Kammerherrn, dass du mich kaufen willst.«

Mit einem solchen Hindernis hatte ich nicht gerechnet, doch war mir klar, dass ich es überwinden musste. Aber zunächst verbrachte ich den halben Tag mit Arusa in höchstem Glück und seligster Entspannung. Ins Gasthaus zurückgekehrt, erzählte ich Fam von dem schwierigen Unterfangen. Er bot mir an, mich zu begleiten. So kam es, dass ich durch das Tor des Palastes schritt und einen Blick auf die Blumenpracht und die stolzen Palmen werfen konnte. Wir betraten einen großen Saal, in dessen Mitte ein gewaltiges, mit Kissen und Schlummerrollen übersätes Sofa aus Rosenholz stand. Darauf thronte der Kammerherr. Er musste über sechzig Jahre alt sein und war ziemlich beleibt. Sein mürrischer Blick sprach von hochmütiger Verschlossenheit. Herr Fam küsste seine Hand, und kaum hatte er mein Anliegen vorgebracht, winkte der Kammerherr ab und sagte: »Der Verkauf von Sklaven ist untersagt, weil wir nicht genug haben.« Er sah mich an. »Sie können sich uns jedoch anschließen, so wie Fam. Dann gehören Sie zur Schar der Sklaven und haben alles auf einmal — Sicherheit, Wohlergehen und das Mädchen.«

Ich dankte ihm für seine Güte und zog enttäuscht und niedergeschlagen von dannen.

Unterwegs sagte Fam: »Ach, Bruderherz, genieß doch einfach dein Mädchen, bis du satt bist. Und du wirst dich wundern, wie schnell das geht.«

Diese Art Trost machte mich nur noch trauriger.

»Wir haben einen schlechten Zeitpunkt erwischt«, fuhr er fort. »Es gibt Anzeichen, dass uns das Hairaland angreifen will.«

»Und warum?«

Er stieß ein bitteres Lachen aus. »Weil sie nach den Schätzen der Gebieter und Großgrundbesitzer gieren. An einem Vor wand wirds ihnen nicht mangeln.«

Nicht nur, dass mir das Herz schwer war, jetzt überkam mich auch noch Besorgnis. In der Nähe des Markts trennten wir uns, ich wollte sofort mit Arusa reden.

Ihr Vater sah mich prüfend an. »Heiliger Mond, du hast nichts erreicht.«

»So ist es«, erklärte ich traurig und schaute Arusa befremdet an, weil sie lachte. Der Alte zwinkerte mir zu. »Nun geh schon, sie wartet auf dich.«

»Es tut mir weh, dass unsere Beziehung nur vorübergehend sein soll.«

»Jede Beziehung ist vorübergehend.«

»Aber ich hätte sie gern für immer gehabt.«

Er lachte laut los. »Was bist du doch für ein Egoist! Hüte dich, die Dinge unnötig zu erschweren, denn wir sind einfache Menschen und mögen es, wenn uns das Leben leicht gemacht wird.«

»Mir scheint, ihr wisst nicht, was Liebe ist.«

»Wir wissen, dass sie einen für eine Nacht, eine Woche, einen Monat oder ein Jahr vor Wonne verrückt macht. Was willst du mehr?«

Ich sah ihn mit großem Ernst an. »Und was schlagen Sie einem Verrückten wie mir vor?«

»Verding sie dir für eine Weile, und läuft die Frist ab, erneuerst du den Vertrag.«

»Muss ich dafür wieder zum Kammerherrn gehen?«

»Nein, das kann ich als Vater selbst entscheiden. Für wie lange willst du Arusa haben?«

»So lange es nur irgend geht.«

»Gut, dann erneuern wir monatlich den Vertrag.«

»Einverstanden.«

»Allerdings wird der Vertrag, falls Arusa das wünscht, sofort gekündigt, Fremder.«

Ich nickte.

»Du zahlst pro Monat drei Dinar.«

Damit trat der Vertrag in Kraft, und ich nahm Arusa ins Gasthaus mit. Nichts sollte mir mein Glück zerstören, jede Stunde würde ich auskosten, als bedeute sie das Leben. Als ich Arusa bat, ihren wunderbaren Körper zu verhüllen, reagierte sie verärgert. Sie habe nicht die Absicht, sich zum Gespött der Leute zu machen, sagte sie. Von da an fügte ich mich ergeben in alles. Arusa war für mich der Traum vom Glück, der nicht enden sollte — eine Gefahr, die im Verborgenen lauerte. Ich kostete das Vergnügen mit all meinen Sinnen aus, doch die Angst vor dem drohenden Abschied ließ nicht von mir ab. Jeder Tag, den ich mit diesem bezaubernden Mädchen verbringen durfte, machte mich glücklich. Herz und Verstand wiegten sich mehr und mehr in dem beruhigenden Gefühl, dass das Leben immer so weitergehen würde. Arusa liebte es, draußen herumzutollen und auf dem Markt spazieren zu gehen.

Eines Tages begegnete uns Al-Kani Ibn Hamdis. Die Karawane, sagte er, breche am nächsten Morgen in aller Frühe auf.

»Ich bleibe«, erwiderte ich ein wenig verschämt.

Er lachte. »Nun gut, alle zehn Tage gibt es eine andere Karawane, der du dich anschließen kannst.«

Ich ging in meiner Liebe so auf, dass ich die Zeit nicht mehr wahrnahm. Meine Mission, das Reisen -all das hatte seine Bedeutung verloren. Selbst wenn ich bis ans Ende meines Lebens bliebe, würde es mich, dessen war ich mir sicher, nicht danach verlangen.

Wieder kam die Nacht des Vollmonds. Die Menschen eilten zum Gebetsplatz. Wie ein altes Ehepaar machten auch wir uns auf den Weg. Als wir mitten im Gedränge standen, sagte Arusa: »Das ist die Nacht Gottes, in der sich Mann und Frau trennen.« Wie ein Pfeil schoss sie davon, und im gleichen Augenblick war sie auch schon in der Menge untergetaucht. Wütend und verstört blieb ich zurück, allen Willens und aller Freude beraubt. Das Ritual nahm seinen Lauf, und die Frage, was Arusa mit einem völlig fremden Menschen treiben würde, ließ mich nicht los. Als die Zeit des Umarmens kam, stellte sich eine etwa vierzigjährige, recht gut aussehende Frau mit ausgebreiteten Armen vor mich hin. Was dir jetzt hier geschieht, schoss mir durch den Kopf, das passiert auch irgendwo mit Arusa. Mundschenke reichten Dattelwein, ich trank ein Glas. Meines Verstands beraubt, stimmte ich in das Gebet ein. Als der Morgen dämmerte, fand ich mich vor dem Gasthaus wieder. Offenbar war ich hingefallen, denn ich hockte auf dem Boden. Arusa kam schwankend auf mich zu. Ohne etwas zu sagen, stand ich auf. Sie hakte mich unter und zog mich in unsere Kammer.

»Hast du eine nette Frau gefunden?«, fragte sie.

»Wir haben eine heilige Beziehung besudelt, Arusa«, stieß ich bitter hervor.

Sie verzog das Gesicht. »Du bist eben kein richtiger Gläubiger, was soll ich da machen?« Sie trat näher, lächelte. »Ich liebe dich noch immer, nur du bist mein Mann.«

Ich muss gestehen, dass meine Liebe zu Arusa kein bisschen weniger geworden war und die Angst vor der Trennung sie noch mehr entfachte. Arusa bedeutete beides für mich — Glück und Elend.

Die ersten Boten der Mutterschaft kündeten sich an. Das Herz jubilierte, der Körper litt. Um den Wechselfällen der Gefühle und der unbändigen Lust zu entkommen, flüchtete ich mich in den Stolz, Vater zu werden. Es erschien mir höchst erstrebenswert, ein beständiges Leben zu führen, selbst wenn das bedeutete, dass ich bis ans Ende meiner Tage im Maschrikland leben und meine Mission und meine Träume aufgeben musste. Offenbar bist du, witzelte ich über mich selbst, nicht fürs Reisen, sondern für die Liebe geschaffen.

Es wurde Sommer, und ich litt unter der quälenden Hitze. Es war die Hölle. Da die Weiden verdorrten, musste das Vieh Heu fressen. Der Herbst brachte ein wenig Linderung, und von Zeit zu Zeit gab es sogar einen kleinen Schauer. Erst mit dem Winter kamen angenehmere Temperaturen. Es goss in Strömen. Die Erde lebte auf, das Vieh freute sich, und die Menschen liefen weiterhin nackt herum. Arusa brachte einen Jungen zur Welt. Als hätte ich nichts mit dem Kind zu tun, entschied sie, wie es heißen sollte: Ram Ibn Arusa.

Ihr Vater wunderte sich. »Du bist hier nun schon das zweite Jahr«, sagte er, »und sie liebt dich noch immer. Bist du ein Zauberer, Fremder?«

Arusa wurde zum zweiten Mal schwanger. Sie gebar einen Sohn, den sie Am Ibn Arusa nannte. Das dritte Kind, wieder ein Junge, hieß Lam Ibn Arusa. Als sie zum vierten Mal schwanger wurde, hielten die Leute unsere Beziehung für unnatürlich. Es hieß, ich würde Arusa mit Zauberei an mich binden, weil ich im Land des Islam die Magie erlernt hätte.

Innerlich fühlte ich mich dazu verpflichtet, meinen ersten Sohn, Ram, nach islamischen Grundsätzen zu erziehen. Er war größer und stärker als seine Altersgenossen, was zweifelsohne daran lag, dass ich für ihn besonders sorgte und ihn gut ernährte. Für mich zeigteer geradezu beispielhaft, was aus den hiesigen Kinderni hätte werden können, wenn sie nicht als Sklaven lebenmüssten. Mit seiner Erziehung zum Moslem versuchte ich wohl, die Vernachlässigung meines Glaubens wieder gutzumachen, zu der ich mich, aus Achtung für mein Gastland, gezwungen sah. Arusa beobachtete mein Treiben mit größtem Missfallen. »Du erziehst ihn zur Gottlosigkeit«, warf sie mir vor, »und bescherst ihm damit in diesem Land ein elendes Leben.«

Freundlich, aber bestimmt erwiderte ich: »Ich rette einzig und allein seine Seele, so wie ich es mir für dich gewünscht hätte.«

»Ich werde das nicht länger dulden.«

In der darauf folgenden Zeit verhielt sie sich dermaßen widerspenstig und abweisend, dass ich um unsere Liebe fürchtete. Als wir ihren Vater besuchten, erzählte sie ihm, dass sie sich wegen Ram Sorgen mache. Der Alte geriet außer sich und schrie mich an: »Halte dich fern von unserem Sohn, Fremder!«

Offenbar hatte sich die Geschichte herumgesprochen, obwohl nur wir davon wussten. Zeigte ich mich auf der Straße, trafen mich empörte Blicke. Das Gebäude droht einzustürzen, dachte ich voll Furcht.

Meine Vermutung sollte sich als richtig erweisen. Fam kam zu mir und bat mich, ihn in sein Zimmer zu begleiten. Ein Offizier wartete auf mich. »Sind Sie Kindil Mohammed al-Innabi?«

Der Mund wurde mir trocken. »So ist es.«

»Es hat sich herausgestellt, dass Sie Ihren ältesten Sohn zur Gottlosigkeit erziehen.«

Beklommenen Herzens fragte ich: »Wer behauptet das?«

»Wir kennen unsere Pflichten und wissen, was zu tun ist. Ich bin nicht hier, um mit Ihnen herumzustreiten. Unser Gebieter hat befohlen, dass Sie sich von Ihrer Gefährtin und den Kindern zu entfernen haben. Sie werden das Land mit der nächsten Karawane verlassen.«

Ich wollte etwas sagen, aber da schnauzte er mich an: »Schluss, kein Wort! Sie stehen unter meiner Aufsicht, bis die Frau mit ihren Kindern zum Vater gezogen ist. Bis zur Abreise der Karawane haben Sie Hausarrest.«

»Bitte, lassen Sie mich wenigstens von meiner Familie Abschied nehmen«, flehte ich.

»Seien Sie dankbar, dass Sie keine schlimmere Strafe getroffen hat«, fuhr er mich barsch an.

Eine Stunde später durfte ich in meine Kammer gehen, mein Gefängnis. Nichts war mehr da — keine Arusa, keine Kinder, keine Liebe, keine Hoffnung. Schwermut überkam mich, hatte mich doch das Leben jeglichen Traums, jeglicher trügerischen Hoffnung beraubt. Fam, der mich begleitet hatte, sah mich voller Mitgefühl an. »Trag dein Schicksal mit der Würde, die eines Reisenden geziemt.«

»Ich bin sehr, sehr traurig, Fam«, sagte ich mit bebender Stimme.

Er schaute mich lange an, dann murmelte er: »Lass deinen Tränen ihren Lauf, auch Männer weinen manchmal.«

Bemüht, nicht laut loszuschluchzen, seufzte ich: »Verflogen sind die Freuden des Lebens…«

»Es wird neue Freuden geben, bei denen du Trost findest.« Er legte mir die Hand auf die Schulter und fuhr fort: »Du solltest wissen, dass man sich als Reisender besser auf keine festen Beziehungen einlässt.«

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