Das Hairaland

Noch vor Morgengrauen brach die Karawane auf. Mein Herz sehnte sich zurück, und meine Kehle war vor Trauer und Tränen wie zugeschnürt. Sterne übersäten den Himmel; sie schauten auf uns herab, und wir starrten zu ihnen empor. Nirgendwo zeigte sich auch nur die kleinste Spur von Trost. Da hatte ich vor fünf Jahren wegen des Verrats von Mutter, Geliebten und Herrschenden die Heimat verlassen, und nun brach ich wieder auf, um ferne Lande zu erkunden. Aber wo blieb das Herz? Wo der Verstand? Die Sterne schienen mir in greifbarer Nähe zu sein, Arusa und die Kinder hingegen unendlich fern. Karawanen über Karawanen ziehen mit Reichtümern und Hoffnungen ihrer Wege, welche aber trägt den Schmerz mit sich fort?

Die Dunkelheit wich, Licht brach herein, und eine schier endlose Wüste erstreckte sich vor uns, unermesslich wie das Entschwinden ins Nichts. Was würde man wohl zu Hause über mich reden? Warum war ich Al-Kani Ibn Hamdis nicht noch einmal begegnet? Sei es, wie es sei, sagte ich mir, das Beste, was du jetzt tun kannst, ist, genau hinzusehen und zuzuhören und alles zu notieren. Lass dich nicht auf unliebsame Erfahrungen ein, kehr zurück zu deinen Träumen vom Gaballand, bring deiner Heimat die Mittel, die seine Wunden heilen können.

Die Entfernung zwischen Maschrik und Haira legten wir in vier Wochen zurück. In der Nähe der Zamam-Oase machten wir bis zum Abend eine Rast. In der Dämmerung gingen wir weiter und erreichten gegen Mitternacht die Stadtmauer von Haira. Im funkelnden Licht der Sterne rückten wir auf das große Tor zu. Von Fackeln erleuchtet, zeichnete sich der Umriss eines Mannes ab, der, bekleidet mit Helm, Brustpanzer und kurzem Lendenschurz, offenbar der für den Zoll zuständige Kommandant war. Mit donnernder Stimme erklärte er: »Willkommen in Haira, der Hauptstadt des Hairalands! Ihr werdet überall Polizisten antreffen, die ihr nach allem, was euch interessiert, fragen könnt. Um unliebsame Zwischenfälle zu vermeiden, solltet ihr euch an die polizeilichen Anweisungen genauestens halten.«

Begrüßung und Warnung in einem, dachte ich. Das Tor öffnete sich, wir betraten die Stadt. Die Kaufleute zogen in Richtung des Markts, weil sich dort ihre Unterkunft befand; mich geleitete ein Führer zu einem Gasthaus für fremde Reisende. Hier und da erhellten Fackeln die Finsternis. Auch der Eingang des Gasthauses wurde von Fackeln erleuchtet. Ich stand vor einem großen, eingeschossigen Ziegelsteingebäude, und hinter einigen Fenstern brannte Licht. Ein Diener übernahm mein Gepäck, ich eilte ihm nach. In meinem Zimmer angekommen, sah ich mich um: In dem Raum, er war von mittlerer Größe, gab es ein kleines Sofa, einen Kleiderschrank und ein Bett, dessen Liegefläche sich ungefähr eine Elle hoch über dem Boden erhob. Die purpurfarbene Schlafdecke war genau das Richtige für die milden Herbsttemperaturen. Auf dem Boden lag ein fein gewebter Teppich, und ein Leuchter mit einer dicken Kerze spendete Licht. Zweifelsohne gab es hier eine gewisse Kultur, der Unterschied zum Maschrikland war jedenfalls gewaltig. Kaum hatte ich meine Reisekleidung abgelegt und das Nachthemd angezogen, da stolzierte, bekleidet mit einer leichten Abaja, ein mittelgroßer, dunkelhäutiger Mann herein; meiner Meinung nach musste er so an die fünfzig Jahre alt sein.

»Mein Name ist Ham, ich bin der Besitzer des Gasthauses.«

Ich reichte ihm die Hand und stellte mich vor. »Möchten Sie zu Abend essen?« »Nein, danke, ich habe unterwegs gegessen.« Er lächelte mich freundlich an. »Pro Nacht kosten Zimmer und Verpflegung einen Dinar, es wird im Voraus bezahlt.«

Ich hielt zehn Tage für eine angemessene Zeit, also gab ich ihm zehn Dinar.

»Aus welchem Land kommen Sie?«

»Aus dem Land des Islam.«

»Hier in Haira«, sagte er mit warnendem Unterton, »existiert nur der Haira-Glaube.«

Dies weckte Erinnerungen an die Tragödie, die ich in Maschrik erlebt hatte. »Und worauf begründet sich dieser Glauben, verehrter Herr Ham?«, fragte ich vorsichtig.

»Auf unseren König, er ist unser Gott.« Er grüßte kurz und verschwand.

Ich löschte die Kerze und legte mich ins Bett. Erst der Mond, jetzt ein König, dachte ich, wie kann man bloß derart in die Irre gehen! Langsam, mein Freund, verhält sich der Sultan in deinem Land nicht auch wie ein Gott? Hör besser auf nachzudenken, und genieße nach den Strapazen der Reise die Ruhe. Flüchte dich vor den Sorgen des Lebens in den Schlaf.

Viel zu früh wachte ich wieder auf. Von der Straße drang gewaltiger Lärm in mein Zimmer, und da war mir klar, dass mir das den Schlaf geraubt hatte. Ich öffnete das Fenster und erblickte im Licht des noch jungfräulichen Morgens eine riesige Truppe von Soldaten, die teils auf Pferden ritten, teils zu Fuß marschierten. Im dröhnenden Takt der Trommeln zogen sie in Richtung des großen Stadttors ab. Verwundert schaute ich dem Treiben zu. Was mochte der Grund für den Aufmarsch sein? Als die Straße wieder frei war, bestellte ich das Frühstück. Auf dem Messingtablett, das ein Diener hereintrug, gab es Milch, Butter, Käse, Brot und Weintrauben. Ich war versucht, ihn zu fragen, was es mit den Soldaten auf sich habe, aber die Vorsicht hielt mich zurück. Nach dem Frühstück machte ich mich fertig zum Ausgehen, aber ich kam nur bis zur Tür. Vor dem Ausgang gab es einen großen Auflauf, die Menschen redeten heftig aufeinander ein.

»Das ist der Krieg, viele haben damit gerechnet…« »Es geht los, gegen das Maschrikland…« »Um das Volk von den fünf Tyrannen zu befreien!« »Auf dass auch dort unter der Herrschaft eines gerechten Gottes eine neue Zeit anbrechen kann!«

Mir wurde beklommen zu Mute, und meine Gedanken kreisten um Arusa und die Kinder. Was würde aus ihnen werden? Welches Schicksal erwartete sie? O nein, dieser Krieg wurde nicht geführt, um das Maschrikvolk zu befreien, sondern es ging einzig und allein um das Weideland und die Schätze der fünf Gebieter. Mit roher Gewalt würden die Menschen gezwungen werden, nicht mehr den Mond, sondern den neuen Herrscher anzubeten. Es würde Tote geben, vielen Menschen würden Schmach und Schande angetan werden, Tausende würden alle Habe verlieren und herumvagabundieren müssen. Aber geschieht das nicht auch in Kriegen, die Menschen, die den gleichen Glauben haben, um der brüderlichen Vereinigung willen führen?

Ich wollte das Gasthaus verlassen, da eilte Herr Ham auf mich zu. »Es ist gerade beschlossen worden, die Tagesgebühr um einen halben Dinar zu erhöhen, um einen Beitrag zu den Kriegskosten zu leisten.«

Widerwillig gab ich ihm fünf Dinar.

»Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass es um die Befreiung von Sklaven geht«, erklärte Herr Ham lächelnd.

Insgeheim verfluchte ich ihn und all diese verlogenen Sprüche. Von Unruhe getrieben, hoffte ich darauf, den einen oder anderen Reisegefährten in deren Gasthaus anzutreffen. Tatsächlich saßen sie alle im Vorraum beisammen und redeten heftig aufeinander ein.

»Zeiten des Krieges sind immer unsicher!«

»Wir könnten alles bis auf den letzten Dirham[7] verlieren…«

»Andererseits werden die Preise steigen.«

»Und was ist mit den zusätzlichen Steuern?«

»Kriege wird es immer geben«, erklärte der Besitzer der Karawane, »und dem Handel nützen sie mehr als sie schaden. Ich glaube nicht, dass dieser Krieg lange dauern wird. Haira ist viel stärker als Maschrik. Binnen einer Woche ist alles vorbei.«

All meine Sorge galt meiner Familie. Ich beschloss, in Haira zu bleiben, und zwar einfach deshalb, weil ich dem Maschrikland möglichst nahe sein wollte. Denn eine neue Hoffnung ließ mich glauben, dass ich, war das Maschrikland dem Hairaland erst einmal angeschlossen, dorthin zurückkehren könnte. Gott in seiner unendlichen Güte würde mich dann gewiss mit meiner Familie vereinigen, und vielleicht könnte ich ja auch Arusa heiraten und mit ihr und den Kindern in ein neues Land mit einer neuen Religion ziehen. Erfüllt von dieser Hoffnung, fand ich am Leben wieder Gefallen. Es bereitete mir Vergnügen herumzulaufen und die Stadt Haira zu erkunden. Ich war ständig unterwegs — schaute, lauschte, machte Notizen. Die Stadt sah aus wie jede andere Stadt. Es gab Plätze, Gärten, Straßen, Sackgassen, große Gebäude, Häuser, Schulen, Hospitäler. Es wimmelte von Menschen, und überall standen Polizisten herum. Es gab eine Menge Lokale, in denen getanzt und gesungen wurde, und auf dem großen, weitläufigen Markt wurden Waren aus Haira, aber auch aus vielen anderen Ländern angeboten. Die milde Herbstluft weckte in mir ungeahnte Kräfte, und so machte ich mich immer wieder auf zu neuen Erkundungsgängen. Von Zeit zu Zeit kehrte ich in das Gasthaus am Markt ein; ich setzte mich zu meinen Reisegefährten oder unterhielt mich mit dem Besitzer der Karawane. Als ich auf das Wetter zu sprechen kam, sagte er: »Die Temperaturen sind hier meistens angenehm. Der Sommer ist erträglich, und der Winter ist nicht allzu kalt.«

Ich wunderte mich laut über die vielen Polizisten, aber er winkte ab. »Sie schützen den Staat, für Sicherheit ist jedenfalls gesorgt.«

Nun war es so, dass ich mir sowohl die Viertel der Reichen als auch die der Armen angesehen hatte. Die Reichen wohnten ruhig und schön, ihre Paläste glichen Museen, sie ließen sich in Sänften herumtragen. Die Armen vegetierten in Hütten und Ruinen, in unerträglichem Elend und ohne jede Hoffnung. Als ich wieder einmal mit dem Karawanenbesitzer zusammensaß, sagte ich: »Statt angeblich die Sklaven in Maschrik befreien zu wollen, sollte man lieber die eigenen Sklaven, hier in Haira, befreien.«

Leise, fast schon flüsternd, fragte er: »Und was sagst du über unser Land — das Land der göttlichen Offenbarung?«

Ich schaute ihn bedrückt an. »Wann immer ich auf meiner Reise auf ein Übel stieß, fühlte ich mich an unser armes Land erinnert.«

»Du solltest dir auf jeden Fall das Schloss des göttlichen Königs ansehen.«

Das wollte ich mir nicht entgehen lassen, also machte ich mich auf den Weg. Da stand es — stolz und erhaben, auf freiem Grund, weiträumig umschlossen von Palmen und Wachposten. Es glich dem Sultansschloss in meiner Heimat, nur dass es ein wenig prächtiger war. Auf der einen Seite zogen sich die Baracken der Wachleute entlang, auf der anderen Seite ragte der Tempel des göttlichen Königs empor. Mein Blick fiel auf ein Feld, das voller Stangen stand und mit einem Eisenzaun umgeben war. Ich ging näher heran, aber im nächsten Moment erstarrte ich: Auf jeder dieser Stangen steckte ein menschlicher Kopf. Ein Schauer des Entsetzens überlief mich. Dabei will ich nicht leugnen, dass ich als Junge in meiner Heimat ähnlich Grausames gesehen habe, allerdings nicht in diesem Ausmaß. Das Aufspießen der Köpfe von Verbrechern sollte eine abschreckende Wirkung haben und damit zur Erziehung beitragen.

Ich fragte einen Wachtposten, ob es möglich sei, den Grund für diese Hinrichtungen zu erfahren.

»Auflehnung gegen den göttlichen König«, antwortete er barsch.

Ich dankte ihm höflich und ging weiter. Für mich stand fest, dass diese Menschen für Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft hatten; solche vorgeschobenen Begründungen waren auch im Land der göttlichen Offenbarung die Regel. Die Welt war wirklich seltsam, voller Verrücktheit, und es käme einem Wunder gleich, würde ich im Gaballand das heiß ersehnte Allheilmittel finden.

Ich fragte Herrn Ham, ob es außerhalb der Haupt-Stadt noch Sehenswürdigkeiten gebe, die ich mir anschauen sollte. Er verneinte, sagte, dass da alles flaches Land sei. Also widmete ich mich gänzlich meinen Aufzeichnungen, was mich auch davon ablenkte, ständig an Arusa und die Kinder zu denken. Einen Abend verbrachte ich in einer Schänke. Voller Entsetzen sah ich mit an, wie die Leute im volltrunkenen Zustand zu raufen begannen und keinerlei Scham mehr kannten. Ich wollte darüber schreiben, aber meine Feder versagte mir den Dienst. Als ich am Markt vorbeikam, teilte mir der Besitzer der Karawane mit, dass man am nächsten Morgen in aller Frühe aufbrechen wolle. Ob ich mich anschließen würde, fragte er. Ich erwiderte, dass ich gedenke, noch eine Weile zu bleiben. Der Grund dafür war Arusa, aber ich sah eine schwere Zeit auf mich zukommen, würde ich doch schrecklich einsam sein.

Am nächsten Tag wachte ich früh auf. Ich glaubte die Karawane zu sehen, wie sie sich bedächtig, vom Gesang der Kameltreiber ermuntert, in Gang setzte. Aber eine innere Stimme, ein Ruf des Schicksals, riet mir zu bleiben. Die Hoffnung, einmal doch wieder glücklich zu sein, wollte nicht erlöschen.

Um die Zeit nicht ungenützt verstreichen zu lassen, beschloss ich, meinen Kenntnisstand mit Informationen zu bereichern, die ich durch bloßes Besichtigen nicht erhalten konnte. Leider nahm sich Herr Ham nicht so viel Zeit für Gespräche wie mein Wirt im Maschrikland, also begnügte ich mich mit der Frage, ob er mir, falls das überhaupt gestattet sei, eine Begegnung mit dem Weisen des Landes ermöglichen könnte.

»Kann ich, hab ich für andere auch schon getan«, lautete seine Antwort.

Am Nachmittag des folgenden Tages machte ich mich zum Haus des Weisen auf; sein Name lautete Desing. Es war ein stattliches Haus, das inmitten eines Gartens voller Blumen und Obstbäume stand. Der weise Desing empfing mich mit freundlichem Lächeln und bat mich, neben ihm auf dem Sofa Platz zu nehmen. Er mochte an die fünfzig Jahre alt sein, war von kräftiger Statur und besaß klar geschnittene Gesichtszüge. Das weiße Käppchen auf dem Kopf passte bestens zu der weißen Abaja. Auf seine Bitte hin stellte ich mich vor. Ich nannte meinen Namen, sagte, was mein Begehr sei, und woher ich komme.

»Oh, da kommen Sie ja aus einem Land, das ebenfalls groß und mächtig ist«, erklärte er. »Was gefällt Ihnen hier, in unserem Land?«

Auf keinen Fall wollte ich meine ehrliche Meinung sagen, also erwiderte ich: »Es sind so viele Dinge, das kann ich alles gar nicht aufzählen. Die hohe Kultur, die Schönheit, die Stärke, die Ordnung.«

In seiner Stimme schwang Stolz mit, als er fragte: »Was halten Sie von dem Krieg, bei dem wir, um der Befreiung eines anderen Landes willen, das Leben unserer Söhne opfern?«

»Ähnlich Großes habe ich nie zuvor vernommen.«

»Wir stellen für die Menschen das Ideal eines glücklichen, ehrenhaften Landes dar«, tönte er mit großer Überzeugung.

Ich nickte zustimmend.

»Sie werden sich fragen, worin das Geheimnis unseres Erfolgs besteht? Nun ja, man hat Sie zu mir geschickt, weil ich der Weise dieses Landes bin. Aber in Wirklichkeit bin ich nichts anderes als ein Schüler. Der wahre Weise ist unser Gebieter, er ist Gott, er ist die Quelle aller Weisheit und allen Wohls. Gerade hat er noch auf dem Thron gesessen und regiert, da zieht er sich im nächsten Moment in einen entlegenen Flügel des Palasts zurück und fastet so lange, bis er zu leuchten beginnt. So also weiß er, dass ihn Göttlichkeit erfüllt und er der anbetungswürdige Gott geworden ist. Das lässt ihn seine Mission erfüllen, und da er alles mit göttlichem Auge sieht, empfangen wir von ihm ewige Weisheit. Alles, was von uns dafür verlangt wird, sind Glauben und Gehorsam.«

Ich hörte aufmerksam zu, allerdings nicht ohne im tiefen Innern meinen Herrgott um Verzeihung zu bitten.

»Er ist es, der die Armee aufstellt und die führenden Offiziere bestimmt, auf dass der Sieg gewiss ist. Er ist es, der aus seiner heiligen Familie die Gouverneure ernennt und aus den höheren Schichten die leitenden Kräfte für die Arbeit in den Fabriken und auf dem Land einsetzt. Was das Fußvolk betrifft, so verfügt es weder über irgendetwas Erhabenes noch über irgendwelche Fähigkeiten. Diese Menschen verrichten einfache Arbeiten, und wir lassen ihnen ihr täglich Brot zukommen. In der Rangfolge kommen gleich nach ihnen die Tiere, und nach den Tieren sind da die Pflanzen und die unbelebten Dinge. Das ist also ein genau geregeltes System, in dem jeder seinen Platz hat, und so widerfährt allen Gerechtigkeit.«

Er hielt inne und schaute mich ein Weilchen an. Dann fuhr er fort: »Was die Vermittlung philosophischer Werte betrifft, gehen wir zwei unterschiedliche Wege. Die Elite sprechen wir mit Gedanken an, die ihre Kraft, ihre Dominanz und ihren stetigen Reifeprozess stärken. Diese Menschen kommen deshalb in den Genuss aller nur denkbarer Bildungs- und Gesundheitsmittel. Allen anderen Leuten vermitteln wir Werte wie Demut, Gehorsam und Genügsamkeit, übrigens alles Eigenschaften, die bei jedem, der zur Masse gehört, bereits angelegt sind, sodass man sie als moralischen Schatz nur noch bewusst machen muss. Sie weisen also einen hohen Grad an Geduld, Fleiß und Friedfertigkeit auf. Mit dieser doppelten Moral gelingt es uns, die Disposition des Einzelnen zu berücksichtigen und entsprechend zu verfahren. Auf diese Weise sind alle glücklich, ja, wahrscheinlich sind wir das glücklichste Volk auf der ganzen Welt.«

Ich dachte nach über das, was er gesagt und was er nicht gesagt hatte. Schließlich fragte ich: »Wem gehören der Boden und die Fabriken?«

»Gott, dem Schöpfer und König.«

»In welchem Verhältnis steht die Elite dazu?«

»Sie nimmt stellvertretend die Rechte des Besitzers wahr. Der Gewinn wird zu gleichen Teilen vergeben.«

Mutig geworden, entschloss ich mich, einen neuen Punkt anzusprechen. »Was geschieht mit dem Vermögen Gottes?«

Zum ersten Mal lachte er laut los. »Kann man Gott fragen, was er tut?«

»Und wer kommt für die Kosten der Schulen und Krankenhäuser auf?«

»Die Elite. Jede Generation sieht das als ihre Pflicht an.« Er lächelte stolz. »Ist das nicht ein absolut vollkommenes System?«

Ich gab mir Mühe, mir meine wahren Gefühle nicht anmerken zu lassen. »Als >vollkommen< wird eigentlich immer das Gaballand bezeichnet.«

»Aber das Gaballand«, rief er empört, »ist doch nichts anderes als das Hairaland!«

»Da werden Sie wohl Recht haben, verehrter Weiser.«

»Das höchste Glück besteht für den Menschen darin, dass er sich von Gottes Geboten leiten lässt und danach lebt.«

»Umso mehr bin ich über diese aufsässigen Männer erstaunt, deren Köpfe aufgespießt wurden.«

»Die menschliche Natur«, ereiferte er sich, »ist von Verdorbenheit und Bösem nicht frei. Aber es sind nur wenige, die sich davon leiten lassen.«

Am Ende unseres Gesprächs bot er mir einen Apfel und ein Glas Milch an, und wenig später kehrte ich nachdenklich ins Gasthaus zurück. Vor meinem inneren Auge sah ich meinen alten Lehrer Marara al-Gibaili, und aus der Ferne stellte ich ihm die Frage, wer der größere Übeltäter sei — der, der aus Dummheit Göttlichkeit für sich beansprucht, oder der, der den Koran für seine eigenen Interessen ausnützt.

Die nächsten Tage verbrachte ich einsam und untätig, aber dann traf die Nachricht ein, dass die Haira-Armee gesiegt habe und das Maschrikland als südliche Provinz dem Hairaland angegliedert worden sei. Die Leute drängten sich in den Gassen, und die Ärmsten der Armen feierten den Sieg, als wären sie es, die die Früchte ernten würden. Von Unruhe erfüllt, fragte ich mich, wie es nun wohl Arusa und den Kindern ergehen würde.

Es kam der Tag, an dem das siegreiche Heer zurückkehren sollte. Ich stand zeitig auf und stellte mich unweit des Gasthauses auf jene Straße, die vom Stadttor bis zum Palast des Königs führte. Es herrschte ein fürchterliches Gedränge, offenbar war niemand zu Hause oder an seinem Arbeitsplatz geblieben. Gegen Mittag hörten wir plötzlich Trommeln, und dann war es so weit — die Prozession näherte sich. Angeführt wurde sie von fünf Reitern, auf deren Speeren die Köpfe jener Männer aufgespießt waren, die über die Maschrikstädte geherrscht hatten. Da sah ich nun also zum ersten Mal den obersten Gebieter, dessen Kammerherrn ich aufgesucht hatte, um den Kauf von Arusa auszuhandeln. Nach den Reitern kam eine lange Kolonne von Gefangenen, von Soldaten flankiert. Sie waren nackt, und die Hände hatte man ihnen gefesselt. Als dann die Reiterei und die Fußtruppen aufzogen, brach ein Sturm von Hochrufen aus. Es war der Tag des Sieges und der Freude, doch was für blutige Spuren dieser Sieg hinterlassen hatte, das wusste nur Gott. Was für ein seltsames Treiben, das sich mit zwei Wörtern beschreiben lässt — Blut und Freudentriller. Nach den Truppen tauchte, wiederum von Soldaten bewacht, eine lange Schlange von gefangen genommenen Frauen auf. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, denn auf einmal stieg das Bild in mir auf, wie ich einst Halima zum ersten Mal gesehen hatte, damals, als sie ihren Vater in jene Gasse führte, die zum Zeugen meiner Geburt werden sollte. Fieberhaft suchte mein Blick die stumpfen Gesichter ab, glitt über die nackten Leiber, und plötzlich sollte meine Furcht zur traurigen Wahrheit werden — ich erblickte Arusa! Sie war es, sie und niemand anders, mit ihrem gertenschlanken Körper und diesem bildschönen, und nun, ach so traurigen Gesicht. Sie schritt dahin, bot mir das Bild der verkörperten Verzweiflung. Auf einmal wurde ich von einem nicht zu zügelnden Tatendrang ergriffen. Ich behielt Arusa fest im Blick und lief los. Es kümmerte mich nicht, ob ich jemanden anrempelte, ob jemand schimpfte oder ob man mich beschuldigte, den nackten Frauen hinterherzulaufen. Ich rief ihren Namen, immer wieder, obwohl mir klar war, dass meine Stimme gegen den tosenden Jubel nichts ausrichten konnte. Es wollte mir einfach nicht gelingen, sie auf mich aufmerksam zu machen, ihren Blick auf mich zu ziehen. Dann hielt mich die Wache auf; die Prozession hatte den Platz vor dem Palast erreicht, und den durften nur die betreten, die zu den besseren Schichten gehörten. Wie ein Stern war Arusa erschienen und verglüht, und ich — ich blieb zurück, verzweifelt und dem Wahnsinn nahe. Wo waren die Kinder? Lebten sie nun unter dem Schutz ihres Großvaters?

Um mir das Herz ein wenig zu erleichtern, vertraute ich dem Wirt, Herrn Ham, mein Geheimnis an.

»Möglicherweise wird die Frau auf dem Sklavenmarkt angeboten«, erklärte er.

Ich schaute ihn ungläubig an. »Aber das war doch ein Befreiungskrieg?«

»Nun ja, die Kriegsgefangenen werden gesondert behandelt.«

Ich empfand diese Scheinheiligkeit als einen Segen, zeichnete sich doch damit ein Fünkchen Hoffnung ab. Mehr denn je war ich entschlossen zu bleiben. Jeden Tag strich ich aufs Neue auf dem Sklavenmarkt herum, und der Traum, mit Arusa wieder vereinigt zu sein, trieb meine Verzweiflung auf den Höhepunkt.

Eines Abends empfing mich Herr Ham mit einem ermutigenden Lächeln. »Morgen werden die Gefangenen auf dem Markt angeboten.«

Ich schlief schlecht, wachte immer wieder auf. In aller Herrgottsfrühe machte ich mich auf den Weg, ich war der Erste auf dem Markt. Als Arusa aufgerufen wurde, stand für mich fest, dass ich bei der Versteigerung auf keinen Fall aufgeben würde. Zum ersten Mal sah ich sie in einem Kleid, es war grün. Trotz ihrer Traurigkeit sah sie wunderschön aus. Ihr Blick war nach innen gerichtet, auf ihr gebrochenes Selbst. Von dem, was um sie herum vorging, nahm sie nichts wahr, ganz zu schweigen davon, dass sie mich bemerkt hätte. Zum Schluss steigerte nur noch ein Kunde mit, der, wie ich es tuscheln hörte, der Vertreter des weisen Desing sein solle. Bei dreißig Dinar erhielt ich den Zuschlag. Man brachte sie zu mir, und kaum hatte sie mich erkannt, warf sie sich in meine Arme. Sie schluchzte so heftig los, dass uns die Umstehenden anstarrten. Da der Markt nicht der rechte Ort zum Reden war, führte ich sie eiligst fort. Als wir endlich auf der Straße standen, konnte ich mich nicht mehr beherrschen. »Wie gehts den Kindern, Arusa?«, fragte ich aufgeregt.

Sie war viel zu verstört, um antworten zu können. Also wartete ich ab, bis wir in meinem Zimmer allein waren. Da schloss ich sie inniglich in die Arme, bevor ich sie aufs Sofa setzte, damit sie wieder zu sich kam.

»Es drückt mir das Herz ab, dass du so leiden musstest«, sagte ich.

»Du weißt nicht, was geschehen ist. Du warst nicht dabei«, erwiderte sie, und ihre Stimme klang sehr seltsam.

»Erzähl mir alles, Arusa, ich werde sonst noch verrückt.«

Die Tränen flössen ihr übers Gesicht. »Was soll ich dir erzählen? Es war entsetzlich. Sie stürmten ins Zelt und töteten ohne jeden Grund meinen Vater. Dann packten sie mich. Wo sind die Kinder? Ich weiß es nicht. Haben sie sie getötet? Irren sie irgendwo herum? Ich bin es, die verrückt werden will.«

Angst überkam mich, ich versuchte dagegen anzukämpfen. »Warum sollten sie Kinder töten? Sie werden irgendwo sein, und wir werden sie schon finden.«

»Das sind wilde Tiere. Warum haben sie uns gequält, obwohl sie unsere Armee längst besiegt hatten? Es sind Wilde. Das alles geschah in der Nacht des Vollmonds, Gott war da. Er hat alles gesehen und gehört, aber nichts getan.«

Um sie ein wenig zu trösten, sagte ich: »Auf jeden Fall sind wir wieder beisammen. Mein Herz sagt mir, dass wir Erbarmen finden werden.«

»Es gibt kein Erbarmen! Ich werde meine Kinder nie wiedersehen!«

»Arusa, Liebste! Das Leben birgt viel Böses in sich, aber es bringt auch viel Gutes.«

»Das glaube ich nicht.«

»Du wirst sehen. Wir brechen mit der ersten Karawane ins Maschrikland auf und suchen die Kinder.«

»Wann zieht die Karawane los?«

»In zehn Tagen.«

Sie starrte traurig vor sich hin, und mein Herz war von solcher Zärtlichkeit erfüllt, dass es wie eine übermütig sprudelnde Quelle überzulaufen drohte.

Wir verbrachten die lange Zeit des Wartens damit, dass wir durch die Stadt spazierten, ihre Sehenswürdigkeiten betrachteten und uns, unsere Hoffnungen immer wieder heraufbeschwörend, auf die Reise vorbereiteten. Noch ahnte ich nicht, dass Herr Ham mit einer höchst unangenehmen Überraschung auf mich wartete. Eines Tages bat er mich, zu ihm zu kommen. Ich spürte, dass er nur ungern mit der Sprache herausrückte. Er druckste herum, schließlich sagte er: »Ich habe schlechte Nachrichten.«

»Habe ich nicht schon genug davon?«, spottete ich.

Er sah mich fest an. »Der weise Desing will dein Mädchen haben.«

Ich zuckte zusammen. »Ich möchte darum bitten, dass Sie das >Mädchen< als meine Frau betrachten«, erwiderte ich scharf.

»Er wird Ihnen das Geld zurückgeben.«

»Meine Frau ist keine Ware.«

»Desing ist ein mächtiger Mann«, sagte er mit warnendem Unterton. »Er gehört zu denen, die Gott sehr nahe stehen.«

Ich rang um Fassung. »Ich dachte immer, dass fremde Gäste in Ihrem Land sicher sind?«

»Seine Meinung steht fest, daran wird sich auch nichts ändern.«

Ich wusste nicht ein noch aus. Sollte ich Arusa von diesem Gespräch erzählen? Durfte ich ihr, die ohnehin schon schwermütig war, neuen Schmerz zufügen? Den einzigen Traum, der ihr geblieben war, mochte ich nicht zerstören. Ich stellte mir die bange Frage, ob dieser Desing tatsächlich genug Einfluss hatte, um mir Arusa zu entreißen. Der Kammerherr des Sultans fiel mir ein, der mir Halima weggenommen hatte. Ich kam nicht zur Ruhe, konnte mich zu keinem Entschluss durchringen. Ständig hatte ich in den nächsten Tagen das Gefühl, dass etwas Bedrohliches auf mich zukam. Dass mein Glück auf keinen festen Boden begründet war. Dass es keine Flügel hatte.

Vier Tage vor der Abreise bat mich ein Diener, zu Herrn Ham zu kommen. In seinem Zimmer fand ich einen Offizier vor, der mir, nachdem Herr Ham mich ihm vorgestellt hatte, erklärte, dass er für mich eine Vorladung zum Polizeipräsidenten habe. Auf meine Frage, worum es sich handle, behauptete er, es nicht zu wissen. Ich müsse erst noch meine Frau verständigen, sagte ich, aber der Offizier winkte ab. Das würde Herr Ham für mich erledigen.

Wir gingen in die Königsstraße, wo sich das Polizeipräsidium befand. Ich wurde in den Raum des Präsidenten geführt. Er saß zwischen zwei Adjutanten auf einem Sofa. Der Blick, den er mir zuwarf, machte mir das Herz nicht gerade leichter.

»Sind Sie Kindil Mohammed al-Innabi, der sich hier als Reisender aufhält?«

Ich nickte.

»Sie werden beschuldigt, sich über die Religion des Landes lustig gemacht zu haben, dessen Gastrecht Sie genießen.«

»Diese Beschuldigung entbehrt jeglicher Grundlage«, erklärte ich mit fester Stimme.

»Es gibt Zeugen«, erwiderte er eisig.

»Niemand, der auch nur über ein Mindestmaß von Gewissen verfügt, kann so etwas behaupten!«, rief ich empört.

»Verleumden Sie nicht ehrenwerte Menschen, überlassen Sie es dem Richter, ein Urteil zu fällen.«

Ich wurde verhaftet. Am nächsten Morgen kam ich vor Gericht, wo man die Anklage verlas. Ich erklärte, unschuldig zu sein, aber da wurden die Zeugen aufgerufen. Es waren fünf, und der Erste, der den Saal betrat, war Herr Ham. Nachdem sie den Eid abgelegt hatten, machten sie ihre Aussage; es hörte sich an, als hätten sie sie auswendig gelernt. Das Gericht verurteilte mich zu lebenslanger Haft, mein Hab und Gut wurde beschlagnahmt. Arusa wurde in Gewahrsam genommen. Das alles war von einem Tag auf den anderen geschehen. Ich kostete bitterste Verzweiflung, musste begreifen, dass dieser Albtraum Wirklichkeit war und keine Abenteuergeschichte. Arusa war verloren, die Abreise vereitelt, und der schöne Traum vom Gaballand hatte sich in nichts aufgelöst. Ich selbst, mein ganzes Leben, waren für null und nichtig erklärt worden.

Das Gefängnis befand sich außerhalb der Stadt in einer Wüstengegend. Es bestand aus einem weitläufigen System von Gräben und Höhlen unter der Erde. Große Steinquader dienten als Wände, der Boden war Sand, und für die Luftzufuhr sorgten enge Schächte. Jeder Häftling erhielt eine Hose und ein Fell, mehr nicht. Die Luft war zum Ersticken, es roch modrig. Das ständige Zwielicht gab einem das Gefühl, als würde die Sonne nie aufgehen und der Morgen ewig vor sich hindämmern. Ich schaute mich benommen um und murmelte: »Hier werde ich also den Rest meines Lebens verbringen.« Die anderen Gefangenen starrten mich neugierig an und wollten wissen, was ich verbrochen hätte. Sie fragten, ich fragte, und schließlich verstand ich, dass die politischen Verhältnisse uns hier zusammengebracht hatten. Das tröstete mich in gewisser Weise, falls das in meiner Lage überhaupt möglich war. Es waren allesamt freidenkerische Männer, denen die sittlich verkommenen Verhältnisse zum Verhängnis geworden waren. Nachdem sie sich meine Geschichte angehört hatten, sagte einer: »Jetzt sogar Fremde…«

Keiner von ihnen hatte je Gott infrage gestellt, das wäre ein Verbrechen gewesen, für das sie geköpft worden wären. Man hatte sie wegen kritischer Fragen angezeigt, bei denen es um Gerechtigkeit und die Freiheit des Menschen ging. Ich sah einen alten Mann, der über achtzig Jahre alt war. Er saß bereits fünfzig Jahre im Gefängnis, war also noch unter dem Vorgänger des jetzigen Königs eingesperrt worden. Er hatte den Verstand verloren und wusste weder wo noch warum er sich hier befand. Völlig abgemagert lag er den ganzen Tag ausgestreckt auf seinem Fell.

»Wenn hier einer unseren Glückwunsch verdient, dann er«, sagte einer der Männer.

Ich glaubte ihm aufs Wort. Unsere Gedanken kreisten um das Wohl und Wehe des Menschen in dieser Welt.

»Es gibt kein glückliches Land.«

»Das Leiden vereint die Menschen.«

»Und wir, wir wissen uns nicht zu helfen, angesichts der hässlichen Wirklichkeit und eines Traums, der nie in Erfüllung gehen wird.«

»Aber es gibt Länder, die zumindest besser als unseres sind.«

»Ach was, dass die Menschen glücklich und zufrieden leben, das ist ein unerreichtes Ziel.«

»Und das Gaballand?«

Als ich dieses magische Wort hörte, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Voller Wehmut erinnerte ich mich an das Ziel meiner Reise, das ich nie mehr erreichen würde. »Was wisst ihr über das Gaballand?«, fragte ich begierig.

»Nicht viel mehr als das Übliche, dass es angeblich das Land der Vollkommenheit sei.«

»Vielleicht hat einer etwas darüber gelesen? Oder hat jemanden getroffen, der dieses Land besucht hat?«

»Leider nicht, wir kennen es nur vom Hörensagen.«

»Wer kann denn diesen Traum je wahr machen?!«

»Der Mensch. Das kann nur der Mensch.«

Ich war müde der Reden, müde der Seufzer, müde der trügerischen Hoffnungen. Im Innern sagte ich mir, dass dieses Gefängnis für alle Zeiten meine Welt sein würde.

Seltsamerweise bot mir die geistige Haltung meines alten Lehrers, Scheich Marara, keinen Halt; das logische Denken, das ich bei ihm gelernt hatte, nützte mir nichts. Dafür half mir aber die Schlichtheit meiner Mutter über meine Verzweiflung ein wenig hinweg. Ihre Art zu denken schien wie geschaffen fürs Gefängnis. Ich ergab mich in mein Schicksal und sagte mir, dass alles Gottes Wille sei. >Was mir geschieht, kommt von Ihm.< Ich übte mich in Demut, verabschiedete mich endgültig von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Das Einzige, worauf ein Gefangener wie ich hoffte, war, jegliche Hoffnung ersticken zu können. Es hieß, sich an das Grab zu gewöhnen, das mich verschlungen hatte, und mich der Verzweiflung zu überlassen, die jede Zelle meines Körpers beherrschte. Fort mit den Gespenstern der Vergangenheit, wie auch immer sie heißen mögen -Heimat, Mutter, Arusa, Kinder, Gaballand. Gewöhn dich an den modrigen Geruch, denn einen anderen gibt es nicht. Finde dich mit dem Halbdunkel ab, denn heller wirds nicht mehr. Kümmere dich nicht um das Ungeziefer, denn das ist sein angestammter, rechtmäßiger Platz.

Schmerz und Langeweile waren die treuen Gefährten; immer öfter tauchte ich in Tiefen ab, die bodenlos waren. Es herrschte grenzenlose Stille. Qualen wurden zur Gewohnheit, doch aus der Verzweiflung erwuchs eine seltsame Kraft, die einem Geduld verlieh und einen weiterleben ließ.

Eine Stimme zerriss das Schweigen. »Vor grauen Zeiten soll ein Gefangener auf einmal eine solche Kraft verspürt haben, dass es ihm gelang, die Mauer zu durchbrechen, sich in die Luft aufzuschwingen und über alle Grenzen hin wegzufliegen.«

Ich nahm dieses Geschwätz gleichgültig hin. Einen Tag später, oder ein Jahr später, sagte eine andere Stimme: »Vielleicht kommt es zwischen dem Hairaland und dem Halbaland zu einem Krieg, dann könnten wir wieder ans Licht kriechen.«

Ich verzieh es, dass mich jemand ans Licht erinnerte, denn das Einzige, woran mir lag, war, den Verstand zu verlieren und glücklich wie der alte Mann zu sein. Stufe um Stufe stieg ich in dunkle Gefilde hinab; jegliches Gefühl für Zeit ging verloren, alle Bindung ans Leben zerriss, alles Vergangene war verschwunden. Ich kümmerte mich nicht um Stunde, Tag, Monat, Jahr. Nichts ließ mich aufmerken, mein Dasein war mir zu einem einzigen Rätsel geworden. Ich wurde älter und älter, zählte nicht mehr mit. Wie ich aussah, wusste ich nicht. Nur wenn ich meine Leidensgefährten ansah, ahnte ich, was für ein Ausbund von Hässlichkeit und Dreck ich geworden war. Die einzigen Wesen, die sich in diesem dunklen Loch glücklich fühlten, waren die Läuse, Wanzen, Schaben und was sonst noch so herumkroch. Generation um Generation, Epoche um Epoche würden wir die Vergänglichkeit in ihrer erhabenen Ewigkeit auskosten müssen. So ging alles weiter und weiter und weiter… Aber plötzlich geschah doch etwas — ein neuer Gefangener wurde in unser Loch geworfen. Wie Ungeziefer krochen wir an ihn heran und bestaunten das Wesen, das aus der anderen Welt kam. Es war ein alter Mann, er sah erbärmlich aus, aber irgendwie kam es mir vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen. Unser greiser Gefährte war vor etlicher Zeit gestorben, nun sollte also dieser Mann seinen Platz einnehmen. Er schaute uns an und begann zu weinen.

»Heul nicht, das schadet den Läusen«, sagte jemand.

»Wer bist du?«, wollte ein anderer wissen.

»Ich bin der weise Desing«, erwiderte der Alte weinerlich.

Auf einen Schlag erwachte ich aus meinem stumpfen Dahindämmern, und mit einer Stimme, die mir selbst fremd vorkam, rief ich: »Desing! Wie konnte ich dich nur vergessen!«

»Wer bist du?«

Die Vergangenheit hatte mich eingeholt. »Ich bin dein Opfer!«, schrie ich.

Fast demütig flehend stammelte er: »Im Unglück sind wir alle gleich.«

»O nein, das sind wir keineswegs!«

»Die Welt ist aus den Fugen geraten«, jammerte er. »Der Führer des Heers hat gegen den König rebelliert und ihn umgebracht. Jetzt sitzt er auf seinem Thron.«

Meine Leidensgefährten und ich spürten, wie das Leben in uns zurückkehrte. Ein Freudenschauder überlief mich.

»Was ist jetzt da oben los?«, fragte jemand.

»Die Anhänger des Königs sind alle tot, mich hat man zu lebenslanger Haft verurteilt.«

Erfüllt von den schönsten Hoffnungen, ließen die Männer den neuen Gott hochleben.

»Erinnerst du dich nicht mehr an mich?«, fuhr ich den Alten wütend an.

»Wer bist du?«, fragte er ängstlich.

»Ich bin der Besitzer von Arusa, erinnerst du dich jetzt an mich?«

Erschrocken wich er zurück.

»Was ist mit ihr passiert, du Schurke?«

»Wir wollten mit einer Karawane ins Halbaland fliehen«, flüsterte er. »Aber dann hat man mich verhaftet, und sie ist allein abgereist.«

»Was ist mit ihren Kindern?«

»Ich bin mit ihr ins Maschrikland gefahren, um die Kinder zu suchen. Aber wir haben sie nicht gefunden. Das ist alles schon sehr lange her.«

Ich vergaß meine Traurigkeit und manch anderes auch, doch meine Wut stieg ins Unermessliche. »Du bist kein Weiser, sondern ein hundsgemeiner Verbrecher!«, schrie ich. »Es hat dir nichts ausgemacht, ein falsches Zeugnis abzulegen, nur um mir meine Frau zu nehmen. Gut, dass du hier sitzt, ein schneller Tod wäre eine zu leichte Strafe für dich.«

Von oben durch den Schacht rief der Wächter, dass ich mich von ihm entfernen solle. Plötzlich übermannte mich frischer Lebensmut, und das war wohl zu viel für meinen geschwächten Körper, denn ich taumelte, als ich an meinen Platz zurückging. Ich setzte mich auf mein Fell, lehnte mich mit dem Rücken an die Mauer an und streckte die Beine aus. Wieder verspürte ich den warmen Hauch des Lebens. Ich hätte den Kerl gerne gefragt, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, aber der Gedanke, noch einmal mit ihm ins Gespräch zu kommen, war mir verhasst. Er hingegen wandte den Blick nicht von mir ab, und schließlich sagte er: »Es tut mir Leid, und ich bereue, was ich getan habe.«

»Einem wie dir steht Reue nicht zu«, stieß ich verbittert hervor.

»Ich habe meine Strafe schon seit langem bekommen«, fuhr er fort. »Weil ich mit einer Frau gelebt habe, die nie aufgehört hat, mich zu hassen.« Leise, als spreche er mit sich selbst, murmelte er: »Zwanzig Jahre lang versuchte ich vergeblich, ihr Herz zu erobern.«

Zwanzig Jahre! Wie viele Jahre verlorenen Lebens.

Da hatte ich die Antwort auf meine nicht gestellte Frage, und sie traf mich wie ein Dolchstoß. Was für ein seltsamer Reisender, der bereits Mitte vierzig war und eines Tages in diesem Loch sterben würde, ohne auch nur ein Ziel erreicht zu haben, ohne das Vergnügen am Leben ausgekostet zu haben, ohne auch nur einer Pflicht nachgekommen zu sein. Und dass sich dieser Schurke hier bei mir, in diesem Grab, befand, machte mein Elend nur noch größer. Er war die leibhaftige Erinnerung an meine Fehlschläge, an mein Unglück, an mein Scheitern. Die Gesichter meiner Leidensgefährten hingegen glühten vor Freude, hofften sie doch allen Ernstes darauf, in der nächsten Stunde begnadigt zu werden.

Was ich nicht für möglich gehalten hatte, geschah. Eines Tages erschien der Gefängnisdirektor und erklärte : »Es ist der Wille des neuen Gottes, den Opfern des abgesetzten, falschen Königs die Freiheit zu schenken.«

Wir sprangen auf, brachten Hochrufe auf den neuen Gott aus und schworen ihm Treue. Einer nach dem anderen trat ins Freie, nur der alte Desing blieb an seinem Platz. Da wir uns an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bedeckten wir, um uns vor dem hellen, schmerzenden Licht zu schützen, die Augen mit den Händen. Ein Offizier brachte mich zum Fremdenbüro, wo mich der Direktor empfing. »Es tut uns Leid«, sagte er, »dass Ihnen solch schweres Unrecht angetan wurde. Damit wurde gegen alle Gesetze und Prinzipien des Hairalands verstoßen. Wir haben beschlossen, Ihnen Ihr Hab und Gut zurückzuerstatten, mit Ausnahme der Sklavin. Sie hat das Land verlassen.«

Auf der Stelle suchte ich ein öffentliches Bad auf und ließ mir Kopf und Körper rasieren. Ich nahm ein heißes Bad und rieb meinen Körper mit Balsam ein, um die Läuse und Wanzen zu vertreiben. Danach ging ich zum Gasthaus. Ich war gespannt, wie die Begegnung mit Herrn Ham ausfallen würde. Doch leider traf ich ihn nicht an, er war gestorben. Sein Neffe, er hieß Tad, hatte Herrn Hams Tochter geheiratet und leitete nun das Gasthaus. Die Überraschung, vor Herrn Ham zu treten, fiel also aus, dafür bot sich mir eine andere, nämlich ich selbst, als ich. vor den Spiegel trat. Das also war Kindil, der zwanzig Jahre lang in einem Grab gelegen hatte und nun vom Tod auferstanden war. Vor mir stand ein Mann in reifem Alter, Kopf und Bart frisch rasiert, abgemagert bis auf die Knochen, eingesunkene, düstere Augen, stumpfer Blick, hervorstehende Wangenknochen. Da beschloss ich, so lange in Haira zu bleiben, bis Körper und Geist wieder zu Kräften gekommen waren. Ich trat hinaus auf die Straße, um einen Spaziergang zu machen. Es ging mir nicht darum, Neues zu entdecken, sondern meine Füße ans Gehen zu gewöhnen.

Meine Gedanken kreisten um die Frage, wie meine Zukunft aussehen würde. Sollte ich in die Heimat mit leeren Händen zurückkehren oder meine Reise fortsetzen, um Neues zu erkunden und an die Türen des Schicksals zu klopfen? Ich hasste den Gedanken, als Versager zurückzukehren. Außerdem sagte mir mein Herz, dass man mich bestimmt für tot hielt und niemand auf mich wartete oder sich Gedanken um meine Heimkehr machte. Es war ja durchaus möglich, dass die Menschen, an denen mir etwas lag, gestorben waren. Dann würde ich nichts Vertrautes, sondern nur Fremdes wiederfinden. Nein, zurückkehren würde ich nicht. Ich wollte nicht zurückschauen. Als Reisender war ich aufgebrochen, also würde ich meine Reise auch fortsetzen. Dazu hatte ich mich entschieden, und das war mein Schicksal. Traum und Tat gehören zusammen wie Anfang und Ende. Also auf ins Halbaland, und weiter und weiter, bis ins Gaballand. Ach, meine liebste Arusa, wie magst du wohl nun, mit vierzig Jahren, aussehen?

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