Teil drei FRAGEN UM LEBEN UND TOD

Kapitel dreizehn AM WOLKENTOR

1

Die Niederlassung von EZ Mail Services befand sich in einem Einkaufszentrum zwischen Starbucks und O’Reillys Autoteilehandel. Crow betrat sie kurz nach zehn Uhr vormittags, zeigte seinen Ausweis mit dem Namen Henry Rothman vor, unterschrieb den Empfang eines Päckchens von der Größe eines Schuhkartons und ging damit unter dem Arm wieder hinaus. Trotz der Klimaanlage stank es im Winnebago inzwischen nach Barrys Krankheit, aber sie hatten sich daran gewöhnt und rochen es kaum noch. Das Päckchen trug den Absender eines Sanitärversands in Flushing, New York. Die betreffende Firma existierte tatsächlich, hatte mit der Sendung jedoch nichts zu tun. Crow, Snakebite Andi und Jimmy Numbers sahen zu, während Nut mit seinem Schweizer Offiziersmesser das Packband aufschlitzte und den Deckel aufklappte. Er holte erst ein Stück Luftpolsterfolie heraus, dann eine doppelte Watteschicht. Darunter lagen in einer Styroporform eine große, unetikettierte Flasche mit einer strohfarbenen Flüssigkeit, acht Spritzen, acht Injektionspfeile und der dazugehörige Schussapparat.

»Heiliger Strohsack, das reicht ja aus, eine ganze Schulklasse nach Mittelerde zu befördern«, sagte Jimmy.

»Rose hat großen Respekt vor dieser kleinen Göre«, sagte Crow. Er nahm die Betäubungspistole aus ihrem Styroporbett, untersuchte sie und legte sie wieder zurück. »Also nehmen wir uns ein Beispiel daran.«

»Crow!« Barrys Stimme klang belegt und heiser. »Komm mal her!«

Crow überließ Walnut den Inhalt der Schachtel und ging zu dem auf dem Bett schwitzenden Kranken. Der war inzwischen mit Hunderten hellroter Flecke bedeckt. Die Augen waren fast zugeschwollen, die verfilzten Haare klebten ihm an der Stirn. Crow spürte, wie das Fieber in ihm wütete, aber Barry war wesentlich kräftiger, als Grampa Flick es gewesen war. Er kreiste immer noch nicht.

»Geht’s euch noch gut?«, fragte Barry. »Kein Fieber? Keine Flecke?«

»Nichts dergleichen. Mach dir keine Sorgen um uns, du musst dich ausruhen. Vielleicht ein bisschen schlafen.«

»Ich schlafe, wenn ich tot bin, und das bin ich noch nicht.« Barrys blutunterlaufene Augen glänzten. »Ich kann sie jetzt auffangen.«

Crow ergriff Barrys Hand, ohne weiter nachzudenken, nahm sich vor, sie später mit heißem Wasser und viel Seife zu waschen, und fragte sich dann, was das wohl nützen könnte. Schließlich atmeten sie alle die Luft ein, die Barry ausatmete, und hatten ihm alle abwechselnd geholfen, aufs Klo zu gehen. Sie hatten ihn überall angefasst. »Weißt du, welches der drei Mädchen es ist? Kennst du ihren Namen?«

»Nein.«

»Weiß sie, dass wir sie holen kommen?«

»Nein. Hör auf, Fragen zu stellen, und lass mich endlich sagen, was ich wirklich weiß. Sie denkt an Rose, deshalb konnte ich sie anpeilen, aber sie weiß ihren Namen nicht. ›Die Frau mit dem Hut und dem einen langen Zahn‹, so nennt sie sie. Die Kleine …« Barry drehte sich zur Seite und hustete in sein feuchtes Taschentuch. »Die Kleine fürchtet sich vor Rose.«

»Nicht ohne Grund«, sagte Crow grimmig. »Sonst noch was?«

»Schinkensandwichs. Russische Eier.«

Crow wartete.

»Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich glaube … sie plant irgendwo ein Picknick. Vielleicht mit ihren Eltern. Dort fahren sie mit einer … einer Spielzeugeisenbahn hin?« Barry runzelte die Stirn.

»Was für eine Spielzeugeisenbahn? Wo?«

»Keine Ahnung. Wenn wir näher kommen, weiß ich es. Ganz bestimmt.« Barrys Hand drehte sich in der von Crow und drückte diese plötzlich so fest nach unten, dass es fast wehtat. »Vielleicht kann sie mir helfen, Daddy. Wenn ich durchhalte und ihr sie schnappen könnt … wenn ihr sie genügend foltert, dass sie etwas Steam ausatmet … dann werde ich vielleicht …«

»Ja, kann gut sein«, sagte Crow, aber als er nach unten blickte, sah er – nur eine Sekunde lang – die Knochen in Barrys klammernden Fingern.

2

An diesem Freitag verhielt Abra sich in der Schule außergewöhnlich still. Keiner der Lehrer fand das merkwürdig, obwohl sie normalerweise lebhaft und ein ziemliches Plappermaul war. Ihr Vater hatte am Morgen bei der Schulschwester angerufen und sie gebeten, allen Lehrern zu sagen, sie sollten Abra etwas schonen. Sie wolle in die Schule gehen, aber sie hätten gestern schlechte Nachrichten über Abras Urgroßmutter erhalten. »Damit muss sie erst einmal fertigwerden«, hatte Dave gesagt.

Die Schwester hatte ihr Verständnis geäußert und ihm versichert, es weiterzugeben.

In Wirklichkeit brauchte Abra an diesem Tag alle Konzentration, um zur selben Zeit an zwei Orten zu sein. Das war, wie sich gleichzeitig den Kopf zu tätscheln und den Bauch zu reiben; anfangs schwer, aber nicht allzu schwierig, wenn man den Dreh einmal heraushatte.

Ein Teil von ihr musste bei ihrem physischen Körper bleiben, um im Unterricht gelegentlich eine Frage zu beantworten (obwohl sie sich von der ersten Klasse an gern selbst gemeldet hatte, fand sie es heute ärgerlich, aufgerufen zu werden, wenn sie mit auf dem Tisch gefalteten Händen dasaß), sich beim Mittagessen mit ihren Freundinnen zu unterhalten und Mrs. Rennie zu fragen, ob sie wohl heute auf den Sportunterricht verzichten und stattdessen in die Bibliothek gehen dürfe. »Ich habe Bauchweh«, sagte sie, was unter den weiblichen Neuntklässlern die Umschreibung für Ich habe meine Periode war.

Als sie nach der Schule mit Emma nach Hause ging, verhielt sie sich weiterhin still, was kein großes Problem darstellte. Emma kam aus einer lesewütigen Familie und war derzeitig damit beschäftigt, sich zum dritten Mal durch die Trilogie Die Tribute von Panem zu schmökern. Mr. Deane versuchte, mit Abra zu plaudern, als er von der Arbeit nach Hause kam, gab es jedoch irgendwann auf und versenkte sich in die neueste Ausgabe des Economist, weil Abra nur einsilbige Antworten gab und Mrs. Deane ihm schon einen warnenden Blick zuwarf.

Zwar nahm Abra am Rande wahr, dass Emma ihr Buch beiseitelegte und sie fragte, ob sie Lust habe, mit ihr ein bisschen in den Garten zu gehen, aber vor allem war sie bei Dan: Sie sah durch seine Augen und spürte seine Hände und Füße an den Hebeln und auf den Pedalen der kleinen Lokomotive, von der die Helen Rivington gezogen wurde; sie schmeckte das Schinkensandwich, das er aß, und die Limonade, mit der er den letzten Bissen hinunterspülte. Wenn Dan mit ihrem Vater sprach, so war es eigentlich Abra, von der die Worte kamen. Und Dr. John? Der saß ganz hinten im Zug, weshalb er praktisch nicht vorhanden war. Nur sie beide waren im Zug, Vater und Tochter, die sich nach den schlechten Nachrichten über Momo gegenseitig trösteten, so innig, wie es nur möglich war.

Gelegentlich wandten ihre Gedanken sich der Frau mit dem Hut zu, die den Baseballjungen gefoltert hatte, bis er gestorben war, um dann mit ihrem entstellten, gierigen Mund sein Blut aufzulecken. Dagegen konnte Abra nichts tun, wusste jedoch nicht recht, ob es darauf ankam. Wenn Barry wahrnahm, was sie gerade dachte, konnte es ihn eigentlich nicht überraschen, dass sie Angst vor Rose hatte, oder?

Wäre der Finder des Wahren Knotens gesund gewesen, so hätte sie ihn wohl nicht hinters Licht führen können, aber Barry war sehr, sehr krank. Er merkte nicht, dass sie Rose beim Namen kannte. Er wunderte sich nicht einmal, dass ein Mädchen, das erst 2015 den Führerschein machen durfte, die Teenytown-Eisenbahn durch den Wald westlich von Frazier steuerte. Hätte es ihn gewundert, so hätte er wohl angenommen, dass der Zug im Grunde gar keinen Lokführer brauchte.

Weil er meint, es ist ein Spielzeug.

»… Scrabble?«

»Hm?« Sie blickte sich nach Emma um, zuerst nicht einmal sicher, wo sie sich überhaupt befand. Dann sah sie, dass sie einen Basketball in den Händen hielt. Okay, im Garten. Sie spielten H-O-R-S-E.

»Ich hab gefragt, ob du lieber mit mir und meiner Mama Scrabble spielen willst, weil das hier total öde ist.«

»Du gewinnst, stimmt’s?«

»Hallo? Alle drei Spiele. Bist du überhaupt richtig da?«

»’tschuldigung, ich hab mir bloß Sorgen wegen meiner Momo gemacht. Scrabble klingt gut.« Es klang sogar super. Emma und ihre Mutter waren die langsamsten Scrabble-Spieler im bekannten Universum und hätten lautstark protestiert, wenn man vorgeschlagen hätte, mit einem Timer zu spielen. Dadurch hatte Abra mehr als genug Gelegenheit, ihre Anwesenheit hier weiterhin auf ein Minimum zu beschränken. Barry war krank, aber er war noch nicht tot, und wenn er spitzkriegte, dass Abra ihn mit einer Art telepathischer Bauchrednerei foppte, konnte das schlimm ausgehen. Dann fand er nämlich vielleicht heraus, wo sie gerade wirklich steckte.

Jetzt dauert es nicht mehr lange. Bald werden sie aufeinanderstoßen. Lieber Gott, lass es gut ausgehen.

Während Emma im Spielzimmer das auf dem Tisch liegende Zeug wegräumte und Mrs. Deane das Spiel aufbaute, verzog Abra sich auf die Toilette. Da musste sie tatsächlich hin, aber zuerst machte sie einen kurzen Abstecher ins Wohnzimmer, um aus dem Erkerfenster zu spähen. Auf der anderen Straßenseite stand Billys Pick-up. Als er sah, wie sich die Vorhänge bewegten, hob er kurz den Daumen. Abra erwiderte die Geste. Dann ging der kleine Teil von ihr, der sich im Haus befand, auf die Toilette, während der Rest in der Lokomotive der Helen Rivington saß.

Wir essen unser Picknick, sammeln den Abfall ein, betrachten den Sonnenuntergang, und dann fahren wir zurück.

(essen unser Picknick sammeln den Abfall ein betrachten den Sonnenuntergang und dann)

Etwas Unangenehmes und Unerwartetes brach in ihre Gedanken ein, so heftig, dass ihr Kopf zurückzuckte. Ein Mann und zwei Frauen. Der Mann hatte einen Adler auf dem Rücken, die Frauen trugen beide ein Arschgeweih. Die Tattoos konnte Abra sehen, weil die drei nackt waren und neben einem Pool Sex hatten, während dämliche alte Discomusik spielte. Die Frauen gaben ständig ein künstliches Stöhnen von sich. Worauf zum Teufel war sie denn da gestoßen?

Der Schock über das, was diese Leute taten, zerstörte ihren heiklen Balanceakt, und einen Moment lang war Abra ganz an einem Ort, ganz da. Vorsichtig blickte sie wieder hin und sah, dass die Leute am Pool ganz verschwommen waren. Nicht echt. Fast wie Geisterleute. Und weshalb? Weil Barry fast selber eine Art Geist war und kein Interesse daran hatte, Leute zu beobachten, die Sex an einem …

Diese Leute sind nicht an einem Pool, sie sind im Fernseher.

Wusste Barry the Chink, dass sie ihn beobachtete, wie er sich einen Pornofilm im Fernsehen ansah? Er und die anderen? Abra war sich nicht sicher, aber sie glaubte, eher nicht. Allerdings hatten sie mit der Möglichkeit gerechnet. O ja. Sie wollten Abra gegebenenfalls so schocken, dass sie sich zurückzog, sich verriet oder beides.

»Abra, wo bleibst du?«, rief Emma. »Wir können jetzt anfangen zu spielen!«

Wir spielen schon, und es ist ein wesentlich spannenderes Spiel als Scrabble.

Sie musste ihr Gleichgewicht wiedergewinnen, und zwar schnell. Weg mit dem Fernsehporno und der dämlichen Discomusik. Sie saß in der kleinen Eisenbahn. Sie steuerte den kleinen Zug. Das fand sie ganz besonders toll. Es machte einen Riesenspaß.

Wir werden essen, wir werden unseren Abfall einsammeln, wir werden den Sonnenuntergang anschauen, und dann fahren wir zurück. Ich habe Angst vor der Frau mit dem Hut, aber nicht zu sehr, weil ich nicht zu Hause bin, sondern mit meinem Dad zum Wolkentor fahre.

»Abra! Bist du ins Klo gefallen?«

»Ich komme!«, rief sie. »Will mir bloß noch kurz die Hände waschen!«

Ich bin mit meinem Dad zusammen. Ich bin mit meinem Dad zusammen, sonst nichts.

Abra sah sich im Spiegel an. »Halt diesen Gedanken fest«, flüsterte sie.

3

Jimmy Numbers saß am Lenkrad, als sie auf den Rastplatz von Bretton Woods einbogen, von dem es nicht mehr weit bis nach Anniston war, der Stadt, in der dieses nervige Mädchen lebte. Nur war sie gerade nicht da. Laut Barry befand sich die Kleine in einer Stadt namens Frazier, die etwas weiter südöstlich lag. Bei einem Picknick mit ihrem Dad. Sie hatte Reißaus genommen, aber das würde ihr nicht viel nützen.

Snakebite Andi schob das erste Video in den DVD-Player. Es trug den Titel Kennys Abenteuer am Swimmingpool. »Wenn die Kleine das sieht, kann sie ’ne Menge lernen«, sagte sie und drückte die Playtaste.

Nut saß neben Barry und flößte ihm weiteren Saft ein … wenn das gerade möglich war. Barry war jetzt richtig am Kreisen. Er hatte wenig Interesse an Saft und überhaupt keines an dem Getümmel am Pool. Auf den Bildschirm blickte er nur, weil Rose es ihm befohlen hatte. Jedes Mal wenn er in seinen festen Zustand zurückkehrte, stöhnte er lauter.

»Crow«, sagte er. »Komm mal her, Daddy.«

Sofort war Crow bei ihm und schob Walnut mit dem Ellbogen beiseite.

»Beug dich zu mir«, flüsterte Barry, und – nach einem bangen Moment – tat Crow, worum er gebeten worden war. Er ergriff sogar Barrys Hand, obwohl man sich leicht vorstellen konnte, dass die von Tölpelkeimen wimmelte.

Barry öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, begann der nächste Zyklus. Seine Haut wurde milchig und dann so dünn, dass sie transparent aussah. Crow konnte die zusammengebissenen Zähne sehen, die Höhlen der von Schmerz erfüllten Augen und – das war am schlimmsten – die schattigen Furchen und Wölbungen des Gehirns. Er wartete, in seinen Fingern eine Hand, die keine Hand mehr war, sondern nur noch ein Knochengeflecht. Irgendwo in weiter Ferne spielte diese beschissene Discomusik immer weiter. Die müssen auf Drogen sein, dachte Crow. Sonst könnten sie bei der Musik unmöglich ficken.

Langsam, ganz langsam stabilisierte Barry the Chink sich wieder. Diesmal schrie er auf, als er zurückkam, und packte Crows Hand fester. Auf seiner Stirn stand der Schweiß zwischen den roten Flecken, die nun so hell waren, dass sie wie Blutstropfen aussahen.

Er befeuchtete die Lippen mit der Zunge und sagte dann: »Hör zu.«

Crow hörte zu.

4

Dan versuchte, seine Gedanken so gut wie möglich zu leeren, damit Abra sie füllen konnte. Er hatte die Riv oft genug zum Wolkentor gesteuert, dass er das praktisch im Schlaf tun konnte, und John saß mit den Waffen (zwei automatischen Pistolen und Billys Jagdflinte) im letzten Wagen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Zumindest fast. Selbst wenn man schlief, konnte man sich nicht vollständig verlieren, aber Abras Gegenwart war so stark, dass es ihm irgendwie Angst machte. Wenn sie lange genug in seinem Kopf blieb und mit ihrer derzeitigen Intensität sendete, besorgte er sich beim nächsten Einkaufsbummel womöglich schicke Sandälchen und passende Accessoires. Und schwärmte für die coolen Jungs von ’Round Here, Abras liebster Boygroup.

Im letzten Augenblick hatte sie noch darauf bestanden, dass er Hoppy, ihren alten Stoffhasen, mitnahm. »Dann hab ich etwas, worauf ich mich konzentrieren kann«, hatte sie gesagt – ohne zu wissen, dass ein nicht richtig menschlicher Gentleman mit dem Tölpelnamen Barry Smith das nur zu gut verstanden hätte. Den Trick hatte er nämlich von Grampa Flick gelernt und schon oft angewendet.

Hilfreich war auch, dass Dan von Dave Stone unablässig mit Familiengeschichten gefüttert wurde, die Abra größtenteils noch nie gehört hatte. Dennoch hätte das alles eventuell nichts genützt, wenn der Kerl, der den Auftrag hatte, Abra zu finden, nicht krank gewesen wäre.

»Sind die anderen nicht ebenfalls in der Lage, dich zu lokalisieren?«, hatte er sie gefragt.

»Die Frau mit dem Hut schon, obwohl sie so weit weg ist, aber die hält sich raus.« Wieder hatte dieses beunruhigende Lächeln um Abras Lippen gespielt und die Spitzen ihrer Zähne entblößt. Es ließ sie wesentlich älter aussehen. »Rose hat Angst vor mir.«

Abra war nicht ständig in Dans Kopf anwesend. Ab und zu spürte er, wie sie ihn verließ, um anderswo hinzugehen. Dann tastete sie sehr, sehr vorsichtig nach dem Mann, der einmal so töricht gewesen war, sich Bradley Trevors Baseballhandschuh anzuziehen. Nachdem der Stoßtrupp der Wahren von der Schnellstraße abgebogen war, hatte er in einer Stadt namens Starbridge angehalten, teilte sie Dan mit (der sich ziemlich sicher war, dass sie Sturbridge meinte). Nun bewegte er sich über kleinere Straßen auf das helle Leuchtfeuer von Abras Bewusstsein zu. Später hatten die Verfolger an einem Café haltgemacht, um etwas zu essen. Auf dieser letzten Etappe hatten sie keine Eile. Sie glaubten jetzt zu wissen, wo Abra gerade hinfuhr, und waren gern bereit, sie dort ankommen zu lassen, weil das Wolkentor ein abgeschiedener Ort war. Sie erwarteten, deshalb leichteres Spiel zu haben, was gut war, aber diesen Eindruck aufrechtzuerhalten war eine heikle Sache, vergleichbar mit einer Art telepathischer Laserchirurgie.

Einen Moment lang war Dan beunruhigt gewesen, weil ein pornografisches Bild – Gruppensex an einem Swimmingpool – in ihm aufgetaucht war. Es war jedoch gleich wieder verschwunden. Wahrscheinlich hatte er einen Blick in Abras Unbewusstes erhascht, wo – wenn man Sigmund Freud Glauben schenkte – allerhand urtümliche Bilder lauerten. Diese Vermutung würde er später bedauern, sich jedoch keine Vorwürfe deshalb machen; sein Grundsatz war eben, nicht in den Privatangelegenheiten anderer Leute herumzuschnüffeln.

Mit einer Hand hielt Dan das Steuerhorn der Riv, die andere lag auf dem abgewetzten Stoffhasen in seinem Schoß. Auf beiden Seiten zog dichter, nun allmählich in bunten Farben leuchtender Wald vorüber. Auf dem Sitz neben ihm, dem sogenannten Schaffnersitz, erzählte Dave seiner Tochter eine Familiengeschichte nach der anderen, wobei er mehr als eine Leiche aus dem Keller holte.

»Als deine Mama gestern Morgen anrief, hat sie mir von einem Koffer erzählt, den sie im Keller von Momos Haus gefunden hat. Darauf steht Alessandra. Du weißt doch, wer das ist, oder?«

»Oma Sandy«, sagte Dan. Mensch, selbst seine Stimme hörte sich höher an. Jünger.

»Genau. Ich will dir jetzt mal was erzählen, was du wahrscheinlich noch nicht weißt, und wenn das der Fall sein sollte, hast du es nicht von mir gehört. Klar?«

»Natürlich, Daddy.« Dan spürte, wie seine Mundwinkel sich nach oben zogen, weil Abra in Emmas Haus über ihren aktuellen Vorrat an Scrabble-Steinen schmunzelte: SPROLTZ.

»Deine Oma Sandy hat in Albany an der State University von New York ihren Abschluss als Lehrerin gemacht und dann an einer teuren Privatschule ein Praktikum angefangen. Irgendwo in Vermont, Massachusetts oder New Hampshire, ich hab vergessen, wo. Als sie gerade mal die Hälfte ihrer acht Wochen hinter sich hatte, hat sie das Handtuch geworfen. Sie ist aber noch eine Weile dort geblieben. Hat vielleicht einen Job gehabt, als Kellnerin oder so. Auf jeden Fall ist sie auf viele Konzerte und Partys gegangen. Sie hat sich eben gern …«

5

(verlustiert)

Bei diesem Ausdruck dachte Abra an die drei Lustmolche am Swimmingpool, die sich bei alter Discomusik verlustiert hatten. Pfui Teufel. Manche Leute hatten eine äußerst merkwürdige Vorstellung davon, was lustig war.

»Abra?« Das war Mrs. Deane. »Du bist dran, Liebes.«

Wenn sie noch lange so weitermachen musste, bekam sie einen Nervenzusammenbruch. Allein zu Hause wäre es wesentlich leichter gewesen. Das hatte sie ihrem Vater auch vorgeschlagen, aber der hatte nichts davon hören wollen. Nicht einmal wenn Mr. Freeman sie bewachte.

Sie verwendete ein I auf dem Brett, um SPRIT zu legen.

»Danke, Abba-Doofi, da wollte ich hin«, sagte Emma. Sie drehte das Brett mit der Schrift zu sich und begann es mit Knopfaugen zu studieren, als säße sie bei einer Abschlussprüfung. Bestimmt ging das mindestens fünf Minuten so weiter. Vielleicht sogar zehn. Anschließend legte sie dann wahrscheinlich etwas total Langweiliges wie ROT oder TOR.

Abba kehrte in die Riv zurück. Was ihr Vater gerade erzählte, war ziemlich interessant, wenngleich sie mehr darüber wusste, als er dachte.

(Abby? hörst du)

6

»Abby? Hörst du mir überhaupt zu?«

»Klar«, sagte Dan. Ich musste bloß mal eine kleine Pause machen, damit ich ein Wort legen kann. »Das finde ich echt interessant.«

»Jedenfalls wohnte Momo damals in Manhattan, und als Alessandra im Juni zu Besuch kam, war sie schwanger.«

»Schwanger mit Mama?«

»Ganz recht, Abba-Doo.«

»Also wurde Mama unehelich geboren?«

Das klang völlig überrascht, vielleicht sogar ein winziges bisschen übertrieben. Dan, der sich in der eigenartigen Position befand, an dem Gespräch sowohl teilzunehmen wie es zu belauschen, erkannte etwas, was er gleichermaßen anrührend wie komisch fand: Abra wusste sehr gut, dass ihre Mutter ein außereheliches Kind war. Das hatte Lucy ihr schon vor einem Jahr erzählt. So merkwürdig es war, Abra nahm gerade Rücksicht auf die Ahnungslosigkeit ihres Vaters.

»So ist es, Schatz. Aber das ist kein Verbrechen. Manchmal ist man eben … wie soll ich sagen … ein bisschen durcheinander. Deshalb können an einem Familienstammbaum merkwürdige Äste wachsen, und es gibt keinen Grund, wieso du das nicht wissen solltest.«

»Oma Sandy ist einige Monate nach Mamas Geburt gestorben, stimmt’s? Bei einem Autounfall?«

»Ja, das stimmt. An jenem Nachmittag hat Momo auf Lucy aufgepasst, und dann hat sie sie großgezogen. Das ist der Grund, weshalb sich die beiden so nahestehen und warum es so schwer für deine Mama ist, dass Momo alt und krank geworden ist.«

»Wer war denn der Mann, von dem Oma Sandy schwanger geworden ist? Hat sie das mal erzählt?«

»Gute Frage«, sagte Dave. »Aber wenn Alessandra es tatsächlich mal verraten hat, dann hat Momo es für sich behalten.« Er hob den Arm und deutete auf die schmale Straße, die durch den Wald führte. »Sieh mal, Schatz, gleich sind wir da!«

Sie kamen an einem Schild vorbei, das über die Entfernung bis zum Picknickplatz am Wolkentor informierte. Es waren noch zwei Meilen.

7

In Anniston machte Crows Stoßtrupp kurz halt, um den Winnebago aufzutanken, aber nicht in der Nähe vom Richland Court, sondern mindestens eine Meile davon entfernt am unteren Ende der Main Street. Während sie die Stadt wieder verließen – mit Snakebite Andi am Steuer und einem Epos mit dem Titel Studentinnen im Swinger-Paradies im DVD-Player –, rief Barry Jimmy Numbers an sein Bett.

»Ihr müsst jetzt Tempo machen«, sagte Barry. »Sie sind gleich da. Der Ort heißt Wolkentor. Hab ich euch das schon gesagt?«

»Ja, hast du.« Jimmy hätte Barry fast die Hand getätschelt, überlegte es sich jedoch anders.

»Dann haben sie bald ihr Picknick ausgepackt. In dem Moment solltet ihr zuschlagen – wenn sie sich hingesetzt haben und am Essen sind.«

»Das schaffen wir schon«, versprach Jimmy. »So rechtzeitig, dass wir der Kleinen genügend Steam abzapfen können, um dir zu helfen. Da kann Rose nichts dagegen haben.«

»Natürlich nicht«, sagte Barry. »Aber für mich ist es zu spät. Für euch möglicherweise noch nicht.«

»Wieso?«

»Schau dir mal deine Arme an.«

Das tat Jimmy und sah auf der zarten, weißen Haut an der Innenseite seiner Ellbogen die ersten Flecke aufblühen. Der rote Tod. Bei diesem Anblick bekam er einen trockenen Mund.

»O Gott, jetzt ist es vorbei«, stöhnte Barry, und plötzlich sanken seine Klamotten auf einen Körper, der nicht mehr da war. Jimmy sah ihn schlucken … und dann war seine Kehle verschwunden.

»Weg da«, sagte Nut. »Lass mich zu ihm.«

»So? Was willst du denn tun? Der ist erledigt.«

Jimmy ging nach vorn und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, den Crow geräumt hatte. »Nimm die Route 14-A, das ist die Umfahrung von Frazier«, sagte er. »Geht schneller, als mitten durch die Stadt zu gurken. Wir stoßen dann auf die Saco River Road …«

Andi tippte auf das Navi. »Hab ich alles schon einprogrammiert. Meinst du, ich bin blind oder bloß dämlich?«

Jimmy hörte sie kaum. Er wusste nur, dass er nicht sterben durfte. Er war zu jung zum Sterben, nicht zuletzt deshalb, weil in nächster Zeit unglaubliche Entwicklungen im Internet zu erwarten waren. Und die Vorstellung zu kreisen, die brutalen Schmerzen jedes Mal, wenn man zurückkam …

Nein. Nein. Auf gar keinen Fall. Unmöglich.

Das späte Nachmittagslicht fiel schräg durch die Windschutzscheibe des Winnebagos. Wunderschönes Herbstlicht. Der Herbst war Jimmys liebste Jahreszeit, und er hatte vor, noch am Leben zu sein und mit dem Wahren Knoten durchs Land zu reisen, wenn diese Jahreszeit das nächste Mal kam. Das übernächste Mal. Und das überübernächste. Glücklicherweise war er bei den richtigen Leuten, um das zu schaffen. Crow Daddy war tapfer, einfallsreich und gerissen. Die Wahren hatten schon härtere Zeiten erlebt. Crow würde sie erfolgreich auch durch diese Krise führen.

»Achte auf das Schild, das an der Abzweigung zum Picknickplatz steht. Verpass es nicht. Barry sagt, die sind gleich dort.«

»Jimmy, du machst mich kirre«, sagte Andi. »Setz dich nach hinten. Wir sind in einer Stunde da, vielleicht schon früher.«

»Tritt aufs Gas«, sagte Jimmy Numbers.

Snakebite Andi grinste und tat es.

Sie bogen gerade in die Saco River Road ein, als Barry the Chink auskreiste. Übrig blieben nur seine Kleider. Die waren immer noch warm von dem Fieber, das ihn verzehrt hatte.

8

(Barry ist tot)

In diesem Gedanken lag keinerlei Grauen, als er Dan erreichte. Und auch kein Quentchen Mitgefühl. Nur Befriedigung. Abra Stone mochte zwar wie ein gewöhnliches amerikanisches Mädchen aussehen, hübscher als viele andere und gescheiter als die meisten, aber wenn man unter die Oberfläche blickte – wobei man nicht sehr tief gehen musste –, dann war da eine junge Wikingerin mit einer grimmigen und blutdürstigen Seele. Schade, dachte Dan, dass sie keine Geschwister bekommen hat. Die hätte sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens beschützt.

Dan legte den niedrigsten Gang ein, als die Riv den dichten Wald verließ und einen mit einem Zaun gesicherten Abhang entlangfuhr. In der Tiefe leuchtete der Saco in der untergehenden Sonne wie golden. Die Bäume, die auf den steil abfallenden Ufern des Flusses standen, waren ein Feuerwerk aus satten Orange-, Rot-, Gelb- und Purpurtönen. Darüber trieben Schäfchenwolken hinweg, scheinbar so nah, sie berühren zu können.

An dem Schild mit der Aufschrift STATION WOLKENTOR brachte Dan den Zug mit schnaufenden Luftdruckbremsen zum Stehen, dann stellte er den Dieselmotor ab. Einen Moment lang hatte er keine Ahnung, was er sagen sollte, aber dann sagte Abra es an seiner Stelle mit seinem Mund. »Danke, dass ich am Steuer sitzen durfte, Daddy! Jetzt hab ich richtig Lust auf unser Holz.« Im Haus der Deanes hatte Abra dieses Wort gerade aufs Brett gelegt. »Auf unser Picknick, meine ich.«

»Nach dem ganzen Zeug, das du auf der Fahrt gefuttert hast, kann ich kaum glauben, dass du Hunger hast«, neckte Dave sie.

»Hab ich aber. Bist du nicht froh, dass ich nicht magersüchtig bin?«

»Doch«, sagte Dave. »Das bin ich tatsächlich.«

Aus den Augenwinkeln sah Dan, wie John Dalton mit gesenktem Blick über die Lichtung ging. Seine Füße bewegten sich lautlos über den weichen Waldboden. In einer Hand hatte er eine Pistole, in der anderen Billy Freemans Flinte. Nachdem er einen kurzen Blick zurückgeworfen hatte, verschwand er zwischen den Bäumen, die den kleinen Parkplatz für motorisierte Besucher begrenzten. Im Sommer wären der Parkplatz und sämtliche Picknicktische belegt gewesen. An diesem Septembernachmittag mitten in der Woche waren sie die einzigen am Wolkentor.

Dave sah Dan an. Der nickte. Abras Vater – eigentlich agnostisch veranlagt, aber katholisch verheiratet – schlug in der Luft das Kreuz, dann folgte er John in den Wald.

»Es ist so schön hier, Daddy«, sagte Dan. Seine unsichtbare Begleiterin sprach nun zu Hoppy, denn sonst war niemand mehr da. Dan setzte den abgewetzten, einäugigen Hasen auf einen der Tische, dann ging er zum ersten Wagen, um den Picknickkorb zu holen. »Schon okay«, sagte er zu der leeren Lichtung. »Ich kann ihn holen, Daddy.«

9

Im Haus der Deanes schob Abra den Stuhl zurück und stand auf. »Ich muss noch mal auf die Toilette. Mir ist furchtbar übel. Und danach gehe ich lieber nach Hause.«

Emma verdrehte die Augen, aber Mrs. Deane war voller Anteilnahme. »Ach, Liebes, hast du etwa deine … Du weißt schon.«

»Ja, und es ist ziemlich schlimm.«

»Hast du alles, was du brauchst?«

»In meinem Rucksack. Es geht schon. Tut mir leid.«

»Das lieb ich«, sagte Emma. »Einfach aufhören, wenn man am Gewinnen ist.«

»Em-ma!«, rief ihre Mutter.

»Ist schon okay, Mrs. Deane. Sie hat mich beim Basketball geschlagen.« Abra stieg die Treppe hoch, wobei sie sich eine Hand an den Bauch drückte, was hoffentlich nicht zu sehr nach Schmu aussah. Sie warf wieder einen Blick aus dem Fenster und sah den Pick-up von Mr. Freeman, verzichtete diesmal jedoch darauf, ihm ein Zeichen zu geben. Sobald sie im Bad war, verriegelte sie die Tür und setzte sich auf den geschlossenen Toilettendeckel. Es war eine ungeheure Erleichterung, nun nicht mehr mit so vielen verschiedenen Versionen ihrer selbst jonglieren zu müssen. Barry war tot, Emma und ihre Mutter waren im Erdgeschoss; nun ging es nur noch um die Abra hier im Badezimmer und die Abra am Wolkentor. Sie schloss die Augen.

(Dan)

(ich bin da)

(du musst nicht mehr so tun als wärst du ich)

Sie spürte seine Erleichterung und lächelte. Onkel Dan hatte sich alle Mühe gegeben, war aber nun einmal kein Mädchen.

Ein leises, zögerliches Klopfen an der Tür. »Abra?« Es war Emma. »Alles in Ordnung? Tut mir leid, dass ich gemein gewesen bin.«

»Mir geht’s ganz gut, aber ich will nach Hause, eine Ibuprofen nehmen und mich ins Bett legen.«

»Ich dachte, du bleibst über Nacht?«

»Ach, muss nicht sein.«

»Ist dein Dad nicht weggefahren?«

»Ich schließe einfach alle Türen ab, bis er zurückkommt.«

»Tja … soll ich dich dann wenigstens nach Hause bringen?«

»Nicht nötig.«

Sie wollte allein sein, damit sie ungestört jubeln konnte, wenn Dan, ihr Vater und Dr. John diese Dinger erledigten. Das würden sie nämlich tun. Da Barry nun tot war, waren die anderen blind. Nichts konnte mehr schiefgehen.

10

Kein Windhauch brachte die trockenen Blätter zum Rascheln, und da der Motor der Riv abgestellt war, herrschte Stille auf dem Picknickplatz am Wolkentor. Man hörte nur das gedämpfte Murmeln des Flusses unten, das Schreien einer Krähe und das Motorengeräusch eines näher kommenden Fahrzeugs. Das waren sie. Die Leute, die von der Frau mit dem Hut geschickt worden waren. Von Rose. Dan klappte einen der zwei Deckel des Picknickkorbs auf, griff hinein und schloss die Hand um die Glock .22, die Billy ihm besorgt hatte – aus welcher Quelle, wusste Dan nicht, und es war ihm auch egal. Wichtig war nur, dass man damit fünfzehn Schüsse abgeben konnte, ohne nachzuladen, und falls fünfzehn Schüsse nicht ausreichten, war er geliefert. Eine gespenstische Erinnerung an seinen Vater tauchte in ihm auf. Jack Torrance setzte sein überaus charmantes schiefes Grinsen auf und sagte: Wenn das nicht klappt, fällt mir auch nichts mehr ein. Dan blickte auf Abras alten Stoffhasen.

»Bereit, Hoppy? Das hoffe ich. Hoffentlich sind wir es beide.«

11

Billy Freeman saß zusammengesunken am Lenkrad seines Pick-ups, setzte sich jedoch eilends auf, als Abra aus dem Haus der Deanes kam. Ihre Freundin – Emma – blieb in der Tür stehen. Die beiden Mädchen verabschiedeten sich, indem sie erst über dem Kopf und dann unten abklatschten. Dann ging Abra auf ihr eigenes Haus zu, das vier Nummern weiter auf der anderen Straßenseite lag. Das war nicht so vorgesehen, und als sie ihm einen Blick zuwarf, hob er beide Hände, wie um zu fragen: Was ist los?

Sie lächelte und hob kurz den Daumen. Offensichtlich meinte sie damit, dass alles in bester Ordnung sei, aber Billy war es gar nicht recht, sie hier draußen allein herumwandern zu sehen, selbst wenn der Feind zwanzig Meilen weit entfernt war. Sie war zwar ein echtes Kraftpaket, und vielleicht wusste sie, was sie tat, aber schließlich war sie erst zwölf.

Während Billy sie mit dem Rucksack auf dem Rücken durch den Garten zu ihrem Haus gehen und dabei in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramen sah, beugte er sich zur Seite und drückte auf die Taste seines Handschuhfachs. Darin lag seine eigene Glock .22. Die Pistolen hatte er von einem Typen geliehen, der Ehrenmitglied bei den Road Saints, Chapter New Hampshire, war. In jüngeren Jahren war Billy mit denen manchmal durch die Gegend gefahren, dem Club aber nie beigetreten. Alles in allem war er froh darüber, wusste jedoch um die Anziehungskraft, die so eine Gruppe hatte. Die Kameradschaft. Wahrscheinlich hatten Dan und John ein ähnliches Verhältnis zum Trinken.

Abra verschwand in ihrem Haus und schloss die Tür. Billy nahm weder die Glock noch sein Mobiltelefon aus dem Handschuhfach – noch nicht –, aber er schloss das Fach auch nicht. Er wusste zwar nicht, ob es das war, was Dan als Shining bezeichnete, aber irgendwie hatte er ein mulmiges Gefühl. Abra hätte bei ihrer Freundin bleiben sollen.

Sie hätte sich an den Plan halten sollen.

12

Sie reisen in Campingbussen und Winnebagos, hatte Abra gesagt, und dort fuhr ein Winnebago auf den Parkplatz, an dem die Zufahrtsstraße zum Wolkentor in einer Sackgasse endete. Dan saß da, eine Hand im Picknickkorb, und beobachtete die Szene. Da es nun so weit war, fühlte er sich ziemlich ruhig. Er drehte den Korb so, dass das eine Ende auf das gerade angekommene Wohnmobil gerichtet war, und löste mit dem Daumen die Sicherung der Glock. Die Tür des Winnebagos ging auf, und Abras Möchtegernkidnapper stiegen aus, einer nach dem anderen.

Die hätten komische Namen – Piratennamen –, hatte Abra gesagt, aber diese Leute sahen ganz gewöhnlich aus. Die Männer waren die ältliche Sorte, die man immer in Wohnmobilen durch die Gegend ziehen sah; die Frau war jung und auf eine typisch amerikanische Weise gut aussehend. Bei ihr dachte Dan an frühere Cheerleader, die noch zehn Jahre nach dem Highschool-Abschluss und ein oder zwei Geburten ihre Figur behielten. Sie hätte die Tochter eines der beiden Männer sein können. Einen Moment lang überkamen ihn Zweifel. Schließlich war dieser Ort eine Touristenattraktion, und der berühmte Indian Summer in Neuengland hatte begonnen und ließ das Laub in allen Farben erstrahlen. Hoffentlich ballerten John und David nicht gleich los, das wäre schrecklich, falls es sich bloß um unbeteiligte …

Da sah er die Klapperschlange, die am linken Arm der Frau die Zähne zeigte, und die Spritze in deren rechter Hand. Der Mann mit den krausen, weißen Haaren, der sich dicht neben ihr hielt, hatte ebenfalls eine Spritze. Und der Mann, der vorausging, trug in seinem Gürtel etwas, was sehr nach einer Pistole aussah. Knapp hinter den Birkenpfosten, die den Eingang zum Picknickplatz markierten, blieben sie stehen. Der Anführer befreite Dan von seinen letzten Zweifeln, indem er seine Pistole zog. Die sah nicht wie eine normale Waffe aus. Dazu war sie zu schmal.

»Wo ist das Mädchen?«

Mit der Hand, die nicht im Picknickkorb steckte, deutete Dan auf Hoppy, den Stoffhasen. »Das ist alles, was ihr von ihr zu Gesicht bekommen werdet.«

Der Mann mit der merkwürdigen Pistole war untersetzt und hatte eine joviale Buchhaltervisage mit Geheimratsecken. Über den Gürtel hing ihm ein gut genährter Bauch. Er trug Chinos und ein T-Shirt mit der Aufschrift WENN GOTT STRESS HAT GEHT ER ANGELN.

»Ich hab da eine Frage an dich, Süßer«, sagte die Frau.

Dan hob die Augenbrauen. »Nur zu.«

»Bist du nicht müde? Willst du nicht einschlafen?«

Das wollte er tatsächlich. Urplötzlich waren seine Augenlider schwer wie Blei. Die Hand, die sich um die Pistole schloss, entspannte sich. Zwei weitere Sekunden, und er hätte den Kopf auf die mit eingeschnitzten Initialen verunzierte Platte des Picknicktischs gelegt und losgeschnarcht. Aber in diesem Augenblick stieß Abra einen Schrei aus.

(WO IST CROW? DEN SEHE ICH NIRGENDS!)

13

Dan zuckte zusammen wie jemand, der unsanft beim Einschlafen gestört wurde. Die Hand im Picknickkorb verkrampfte sich, ein Schuss ging los, und eine Wolke aus Korbteilchen stob in die Luft. Obwohl die Kugel sie weit verfehlte, zuckten die Leute aus dem Winnebago erschrocken zusammen, und die Schläfrigkeit verließ Dans Kopf samt der Illusion, die sie darstellte. Die Frau mit dem Schlangentattoo und der Mann mit dem weißen Kraushaar wichen zurück, der Mann mit der merkwürdigen Pistole jedoch stürmte los und brüllte: »Auf ihn! Auf ihn!«

»Halt, ihr verfluchten Kidnapper!«, brüllte Dave Stone. Er trat aus dem Wald und begann zu feuern. Die meisten Geschosse gingen weit daneben, aber eines traf Walnut am Hals, und der Arzt des Wahren Knotens stürzte auf den mit Fichtennadeln übersäten Boden, wobei ihm die Spritze aus der Hand flog.

14

Den Wahren Knoten anzuführen brachte Verantwortung mit sich, aber auch gewisse Vorteile. Einer war Rose’ gigantischer EarthCruiser, der mit unglaublichen Kosten aus Australien importiert und anschließend auf Linkslenkung umgebaut worden war. Den Frauenduschraum des Bluebell Campground ganz für sich zu haben, wenn sie wollte, war ein weiterer. Nach vielen Monaten unterwegs gab es nichts Schöneres als eine lange heiße Dusche in dem großen, gefliesten Raum, in dem man die Arme ausbreiten und sogar umhertanzen konnte, wenn man Lust dazu hatte. Und wenn das warme Wasser nicht schon nach vier Minuten alle war.

Rose schaltete gern das Licht aus, um im Dunkeln zu duschen. Sie fand, dass sie dann am besten denken konnte, und genau aus diesem Grund war sie sofort zum Duschen gegangen, nachdem sie um ein Uhr nachmittags Ortszeit einen beunruhigenden Anruf erhalten hatte. Zwar glaubte sie grundsätzlich immer noch, dass alles wunderbar lief, aber es waren wie Löwenzahn auf einem bislang makellosen Rasen doch einige Zweifel gesprossen. Wenn das Mädchen noch schlauer war, als sie gedacht hatte … oder wenn es Hilfe bekommen hatte …

Nein. Das war unmöglich. Die Kleine war zwar definitiv ein Steamhead – der größte Steamhead aller Zeiten –, aber trotzdem nur ein Kind. Ein Tölpelkind. Wie auch immer, momentan konnte Rose nichts anderes tun, als die weitere Entwicklung abzuwarten.

Nach fünfzehn erfrischenden Minuten trat sie aus der Dusche, trocknete sich ab, wickelte sich in ein flauschiges Badetuch und machte sich mit ihren Klamotten in der Hand auf den Rückweg zu ihrem Wohnmobil. Short Eddie und Big Mo waren damit beschäftigt, nach einem weiteren exzellenten Mittagessen den offenen Grillplatz zu reinigen. Es war nicht ihr Fehler, dass niemand großen Hunger hatte, da bei zwei weiteren Mitgliedern des Knotens diese verfluchten roten Flecke aufgetaucht waren. Sie winkten ihr zu. Rose hob gerade die Hand, um den Gruß zu erwidern, als in ihrem Kopf ein Bündel Dynamit explodierte. Sie stürzte mit ausgebreiteten Armen zu Boden, Hose und Bluse flogen ihr aus der Hand. Ihr Badetuch wickelte sich auf.

Das alles bekam Rose kaum mit. Dem Stoßtrupp war etwas zugestoßen. Etwas Schlimmes. Sobald sie wieder einigermaßen klar im Kopf war, griff sie nach ihrer zerknautschten Jeans, um ihr Handy herauszuholen. Noch nie im Leben hatte sie sich so sehr (und so verbittert) gewünscht, dass Crow Daddy die Fähigkeit gehabt hätte, über weite Strecken eine telepathische Verbindung aufzubauen. Aber mit wenigen Ausnahmen, zu denen sie selbst gehörte, schien dieses Talent auf Tölpel-Steamheads wie dieses Mädchen in New Hampshire beschränkt zu sein.

Eddie und Mo rannten auf sie zu. Dahinter kamen Long Paul, Silent Sarey, Token Charlie und Harpman Sam. Rose drückte eine Schnellwahltaste. Tausend Meilen weit entfernt läutete Crows Telefon nur ein einziges Mal.

»Hallo, dies ist die Mailbox von Henry Rothman. Ich bin momentan leider nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nummer und eine kurze Nachricht …«

Verfluchte Scheiße. Das hieß, dass er entweder gerade telefonierte oder dass er das Ding ausgeschaltet hatte. Wahrscheinlich Letzteres. Nackt im Dreck kniend, spürte Rose, wie ihre Fersen sich in die Rückseite ihrer langen Oberschenkel bohrten, während sie sich mit der freien Hand an die Stirn schlug.

Crow, wo bist du? Was tust du gerade? Was ist da los?

15

Der Mann in dem Angler-T-Shirt richtete seine merkwürdige Pistole auf Dan. Es zischte, und plötzlich steckte ein Pfeil in Hoppys Rücken. Dan zog die Glock aus den Trümmern des Picknickkorbs und drückte ab. Mitten in die Brust getroffen, kippte der Angreifer hintenüber und grunzte, während feine Blutstropfen durch sein T-Shirt spritzten.

Andi Steiner war die Letzte, die noch übrig war. Sie drehte sich um, sah Dave Stone erstarrt und mit verstörtem Blick dastehen und stürzte auf ihn zu, die Injektionsspritze in der Faust wie einen Dolch. Ihr Pferdeschwanz schwang hin und her. Sie kreischte. Dan sah die Szene so, als hätte sich alles verlangsamt und an Klarheit gewonnen. Er hatte Zeit zu sehen, dass auf der Nadel der Spritze noch die Plastikkappe steckte, und er hatte Zeit zu denken: Was sind das denn für Trottel? Die Antwort lautete natürlich, dass es ganz und gar keine Trottel waren. Es waren lediglich Jäger, für die es völlig ungewohnt war, dass ihre Beute Widerstand leistete. Allerdings bestand diese Beute normalerweise aus Kindern, die zudem völlig ahnungslos waren.

Dave starrte die kreischende Hyäne an, die auf ihn zustürmte. Vielleicht war seine Waffe leer, wahrscheinlich aber hatte ihn der eine Feuerstoß völlig verausgabt. Dan hob die Pistole, drückte jedoch nicht ab. Das Risiko, die tätowierte Lady zu verfehlen und Abras Vater zu treffen, war einfach zu groß.

In diesem Augenblick kam John aus dem Wald gerannt und rempelte Dave von hinten an, wodurch dieser auf die Angreiferin prallte. Ihre Schreie (Wut? Entsetzen?) verstummten in einem Schwall gewaltsam ausgestoßener Luft. Beide gingen zu Boden, und die Spritze flog davon. Während die Tattoo-Frau auf Händen und Knien loskrabbelte, um sie wieder an sich zu reißen, hob John Billys Gewehr und ließ ihr den Kolben seitlich ans Gesicht krachen. Es war ein kraftvoller, adrenalingesättigter Schlag, und ihr Kiefer brach mit einem Knirschen. Ihre Gesichtszüge verzerrten sich nach links, ein Auge quoll verblüfft starrend halb aus seiner Höhle. Sie brach zusammen und drehte sich auf den Rücken. Aus ihren Mundwinkeln rann Blut. Ihre Hände ballten und öffneten, ballten und öffneten sich.

John ließ die Flinte fallen und drehte sich entsetzt zu Dan um. »So hart wollte ich nicht zuschlagen! Mensch, ich hab solche Angst gehabt!«

»Sieh dir mal den mit den weißen Locken an«, sagte Dan. Er erhob sich auf Beine, die sich zu lang und nicht ganz vorhanden anfühlten. »Sieh ihn dir an, John.«

John gehorchte. Walnut lag in einer Blutlache und hielt eine Hand an den zerfetzten Hals. Er kreiste in raschen Zyklen. Abwechselnd sanken seine Kleider in sich zusammen, um sich dann gleich wieder aufzublähen. Das durch seine Finger strömende Blut verschwand und wurde wieder sichtbar. Mit den Fingern geschah dasselbe. Er sah aus wie eine wahnsinnig gewordene Röntgenaufnahme.

John wich zurück, die Hände auf Mund und Nase gepresst. Dan hatte immer noch dieses Gefühl von Langsamkeit und vollkommener Klarheit. Er hatte Zeit zu sehen, wie das Blut der Tattoo-Frau, das samt einer Strähne ihrer blonden Haare am Kolben der Jagdflinte klebte, ebenfalls verschwand und wieder auftauchte. Dabei fiel ihm ein, wie ihr Pferdeschwanz hin- und hergeschwungen hatte, als sie

(Dan wo ist Crow? WO IST DIESER CROW???)

auf Abras Vater zugestürzt war. Abra hatte gesagt, Barry würde kreisen. Nun begriff Dan, was sie damit gemeint hatte.

»Der in dem Angler-T-Shirt tut dasselbe«, sagte Dave Stone. Seine Stimme war nur leicht zittrig, und Dan hatte eine Ahnung, woher die stählernen Nerven seiner Tochter stammten. Aber das war jetzt nicht so wichtig. Abra hatte ihm gerade mitgeteilt, dass sie nicht die ganze Mannschaft erwischt hatten.

Er rannte zum Winnebago. Die Tür stand noch offen. Er stürmte die Treppe hinauf, hechtete auf den Teppichboden und schaffte es, sich den Kopf so heftig an dem Pfosten unter dem Esstisch anzuschlagen, dass ihm Sterne vor den Augen tanzten. Im Kino läuft das nie so, dachte er und drehte sich auf die Seite, darauf gefasst, von dem Kerl, der als Nachhut im Wohnmobil geblieben war, erschossen oder zertrampelt zu werden oder irgendwelches Zeug injiziert zu bekommen. Von Crow, wenn Abra den Namen richtig verstanden hatte. Offenbar waren diese Typen doch nicht vollständig dämlich und überheblich.

Oder vielleicht doch. Der Winnebago war leer.

Schien leer zu sein.

Dan rappelte sich auf und eilte durch die Kochnische. Er kam an einem zerwühlten Klappbett vorbei. Ein Teil seines Bewusstseins registrierte die Tatsache, dass in der Kabine ein pestilenzialischer Gestank herrschte, obwohl die Klimaanlage lief. Es gab einen Kleiderschrank, aber die Tür stand weit offen, und im Innern hingen nur Klamotten. Er bückte sich, um festzustellen, ob Füße zu sehen waren. Keine Füße. Schließlich ging er ganz nach hinten und stellte sich neben die Nasszelle.

Er dachte: Scheiße, wieder wie im Film, riss die Tür auf und ging dabei in die Hocke. Die Toilette des Winnebagos war leer, was ihn nicht überraschte. Hätte jemand versucht, sich da drin zu verstecken, wäre er inzwischen tot gewesen. Schon der Gestank hätte ihn umgebracht.

(vielleicht ist jemand hier drin gestorben vielleicht dieser Crow)

Sofort meldete sich Abra wieder, voller Panik diesmal. Sie sendete mit solcher Wucht, dass sie seine eigenen Gedanken regelrecht zersprengte.

(nein nur Barry ist gestorben wo ist Crow du musst Crow finden)

Dan verließ das Wohnmobil. Die beiden Männer, die Abra hatten kidnappen wollen, waren verschwunden; nur ihre Kleidungsstücke waren noch übrig. Die Frau, die versucht hatte, ihn einzuschläfern, war noch da, aber bestimmt nicht mehr lange. Sie war zu dem Picknicktisch mit dem zerfetzten Korb gekrochen und hatte sich mit dem Rücken an eine der Bänke gelehnt. Mit ihrem frisch verbogenen Gesicht glotzte sie Dan, John und Dave an. Aus Nase und Mund rann Blut und bildete einen roten Ziegenbart. Die Vorderseite der Bluse war mit Blut getränkt. Während Dan auf sie zuging, schmolz die Haut von ihrem Gesicht, und ihre Kleider sanken nach innen an das Gebälk des Skeletts. Von den Schultern nicht mehr festgehalten, hingen die BH-Träger schlaff herab. Von den weichen Teilen ihres Körpers waren nur noch die Augen vorhanden, die Dan weiterhin beobachteten. Dann baute die Haut sich wieder auf, und die Kleider füllten sich mit dem Körper. Die BH-Träger schnitten in die Oberarme, wobei der linke die Klapperschlange würgte, dass sie nicht mehr beißen konnte. Aus den Fingerknochen, die den zerschmetterten Kiefer umklammerten, wurde eine Hand.

»Ihr habt uns reingelegt«, sagte Snakebite Andi. »Wir haben uns von einem Haufen Tölpel leimen lassen. Ich fasse es nicht.«

Dan deutete auf Dave. »Der Tölpel da ist der Vater von dem Mädchen, das ihr kidnappen wolltet. Falls dich das irgendwie interessiert.«

Andi brachte ein gequältes Grinsen zustande. Die Zähne waren mit Blut gerändert. »Das ist mir scheißegal. Für mich ist er bloß ein Schwanz mit Beinen. Selbst der Papst in Rom hat so ein Ding, und keiner von euch schert sich drum, wo er es reinsteckt. Verfluchte Männer. Ihr müsst gewinnen, oder? Immer müsst ihr ge…«

»Wo ist der Vierte von euch? Wo ist Crow?«

Andi hustete. An ihren Mundwinkeln quollen Blutbläschen hervor. Einst war sie verloren gewesen und dann gefunden worden. In einem dunklen Kino war sie gefunden worden – von einer Göttin mit einer Gewitterwolke aus dunklem Haar. Nun lag sie im Sterben, und sie hätte nichts anders machen wollen. Die Jahre zwischen dem Schauspielerpräsidenten und dem schwarzen Präsidenten waren gut gewesen; und jene eine magische Nacht mit Rose war die Krönung gewesen. Sie grinste den großen, gut aussehenden Mann, der über ihr stand, an. Es tat weh zu grinsen, aber sie tat es trotzdem.

»Ach der. Der ist in Reno. Tölpel-Flittchen ficken.«

Sie begann wieder zu verschwinden. Dan hörte John Dalton flüstern: »O Gott, seht euch das an. Eine Hirnblutung. Ich kann sie tatsächlich sehen.«

Dan wartete geduldig, ob die Frau mit dem Tattoo wieder zurückkam. Nach einer Weile tat sie es tatsächlich, begleitet von einem langen Stöhnen durch ihre zusammengebissenen, blutigen Zähne. Offenbar verursachte das Kreisen noch stärkere Schmerzen als der dafür verantwortliche Schlag mit dem Gewehrkolben, aber Dan glaubte, dagegen etwas unternehmen zu können. Er zog die Hand der Frau von ihrem zerschmetterten Kinn weg und krallte seine Finger darum. Als er das tat, spürte er, wie sich der ganze Schädel verschob; es war, als hätte er eine zersprungene, nur noch von ein paar Streifen Klebeband zusammengehaltene Vase in der Hand. Diesmal stöhnte die Frau nicht nur. Sie heulte auf und zerrte schwach an Dan, der aber gar nicht darauf achtete.

»Wo ist Crow?«

»In Anniston!«, kreischte Snakebite Andi. »Er ist in Anniston ausgestiegen! Bitte tu mir nicht mehr weh, Daddy! Bitte nicht, ich mach alles, was du willst!«

Dan musste daran denken, was diese Ungeheuer Bradley Trevor aus Iowa angetan hatten, wie sie ihn und weiß Gott wie viele andere gefoltert hatten, und er spürte den fast unbeherrschbaren Drang, diesem mordgierigen Miststück die untere Hälfte des Gesichts abzureißen. Um mit dem Kieferknochen auf den blutenden, zerborstenen Schädel einzuschlagen, bis Schädel und Knochen verschwanden.

Aber dann – so absurd es angesichts der Umstände war – dachte er daran, wie der Junge in dem Braves-T-Shirt die Hand nach dem übrig gebliebenen Häufchen Kokain auf der glänzenden Zeitschrift ausgestreckt hatte. Zucka, hatte er gesagt. Diese Frau da hatte mit dem Jungen nichts zu tun, überhaupt nichts, aber es nützte nichts, sich das zu sagen. Sein Zorn war plötzlich verraucht, und er fühlte sich krank, schwach und leer.

Tu mir nicht mehr weh, Daddy.

Er stand auf, wischte sich an seinem Hemd die Hand ab und ging blindlings auf die Riv zu.

(Abra bist du da)

(ja)

Jetzt hörte sie sich nicht mehr so panisch an, und das war gut.

(sag der Mutter deiner Freundin sie soll bei der Polizei anrufen und sagen dass du in Gefahr bist Crow ist in Anniston)

Die Polizei in eine Sache hineinzuziehen, die im Grunde einen übernatürlichen Charakter hatte, war alles andere als ideal, doch in diesem Augenblick sah er keine andere Wahl.

(ich bin nicht mehr)

Bevor Abra den Gedanken vollenden konnte, wurde er von dem kraftvollen, wütenden Schrei einer Frauenstimme ausgelöscht.

(DU KLEINES MISTSTÜCK)

Plötzlich war die Frau mit dem Hut wieder in Dans Kopf, diesmal nicht als Teil eines Traums, sondern als loderndes Bild direkt hinter seinen wachen Augen: eine Kreatur von schrecklicher Schönheit, die in diesem Augenblick nackt war. Die feuchten Haare lagen in Medusenlocken auf ihren Schultern. Dann öffnete sich ihr Mund, und augenblicklich verschwand alle Schönheit. Da war nur noch ein dunkles Loch, aus dem ein einzelner verfärbter Zahn ragte. Wie ein Hauer.

(WAS HAST DU GETAN)

Dan taumelte und stützte sich mit der Hand am ersten Wagen des Zugs ab. Die Welt in seinem Kopf drehte sich. Nun verschwand die Frau mit dem Hut, und mit einem Mal hatte sich eine Schar aus besorgten Gesichtern um ihn versammelt. Die ihn fragten, ob es ihm nicht gutgehe.

Er erinnerte sich daran, dass Abra zu erklären versucht hatte, wie die Welt sich nach der Entdeckung von Bradley Trevors Foto im Anniston Shopper gedreht hatte; wie Abra plötzlich durch die Augen der Frau mit dem Hut geblickt hatte und umgekehrt. Nun begriff er, was los war. Es passierte wieder, aber diesmal saß er mit auf der Drehscheibe.

Rose lag am Boden. Über ihr breitete sich der Abendhimmel aus. Die Leute, die um sie herumstanden, gehörten zweifellos zu ihrer Sekte von Kindesmördern. Das war das Bild, das Abra sah.

Die Frage lautete: Was sah Rose gerade?

16

Snakebite Andi kreiste aus und kam wieder zurück. Wie das brannte. Sie blickte auf den Mann, der vor ihr kniete.

»Kann ich vielleicht irgendetwas für Sie tun?«, fragte John. »Ich bin Arzt.«

Trotz ihren Schmerzen lachte Snakebite Andi. Da bot dieser Arzt, der zu den Leuten gehörte, die gerade den Arzt der Wahren erschossen hatten, ihr doch tatsächlich seine Hilfe an. Was hätte wohl Hippokrates davon gehalten? »Schieß mir eine Kugel in den Kopf, Arschgesicht. Das ist das Einzige, was mir einfällt.«

Der verfluchte Intellektuellentyp, der Walnut erschossen hatte, trat zu dem, der behauptete, Arzt zu sein. »Verdienen würdest du es«, sagte er. »Habt ihr gedacht, ich lasse so einfach meine Tochter kidnappen? Damit ihr sie foltert und umbringt wie diesen armen Jungen in Iowa?«

Darüber wussten die Bescheid? Wie war das möglich? Aber das war jetzt egal, zumindest für Andi. »Ihr schlachtet Schweine, Rinder und Schafe. Ist das, was wir tun, irgendwas anderes?«

»Meiner bescheidenen Meinung nach ist es etwas völlig anderes, ein menschliches Wesen zu töten«, sagte John. »So töricht und sentimental das auch klingen mag.«

Andis Mund war voller Blut und irgendwelchem klumpigem Scheißdreck. Wahrscheinlich Zähne. Auch das war egal. Letztlich war das Ganze wohl weniger schlimm als das, was Barry durchgemacht hatte. Auf jeden Fall würde es schneller gehen. Eines musste jedoch klargestellt werden. Einfach damit diese Arschlöcher Bescheid wussten. »Die wahren menschlichen Wesen sind wir. Ihr seid bloß … Tölpel.«

Dave lächelte, aber sein Blick war hart. »Trotzdem bist du es, die mit Dreck im Haar und blutgetränkter Bluse auf dem Boden liegt. Ich hoffe, in der Hölle ist es heiß genug für dich.«

Andi spürte, wie der nächste Zyklus nahte. Wenn sie Glück hatte, war es der letzte, aber vorläufig klammerte sie sich an ihrer physischen Gestalt fest. »Ihr habt doch keine Ahnung, was mit mir los war. Vorher, meine ich. Und wie es mit uns steht. Wir sind nur wenige, und wir sind krank. Wir haben …«

»Ich weiß schon, was ihr habt«, sagte Dave. »Die Masern. Hoffentlich lassen die eure ganze elende Sekte von innen heraus verfaulen.«

»Was wir sind, haben wir uns genauso wenig ausgesucht, wie ihr das getan habt«, sagte Andi. »An unserer Stelle würdet ihr dasselbe tun.«

John schüttelte langsam den Kopf. »Nie. Niemals.«

Snakebite Andi begann auszukreisen. Allerdings brachte sie noch vier weitere Wörter heraus. »Verfluchte Männer.« Ein letztes Keuchen, während sie die beiden aus ihrem verschwindenden Gesicht heraus anstarrte. »Verfluchte Tölpel.«

Dann war sie verschwunden.

17

Langsam und vorsichtig ging Dan auf John und Dave zu, wobei er sich mit einer Hand an den Picknicktischen abstützte, um sich im Gleichgewicht zu halten. Er hatte Abras Stoffhasen mitgenommen, ohne es zu merken. In seinem Kopf wurde es allmählich klarer, aber das war ein entschieden zweifelhafter Segen.

»Wir müssen zurück nach Anniston, und zwar schleunigst. Ich kann keinen Kontakt zu Billy herstellen. Vorher hat das funktioniert, aber jetzt nehme ich ihn nicht mehr wahr.«

»Und Abra?«, fragte Dave. »Was ist mit Abra?«

Dan hätte ihn am liebsten nicht angesehen – in Daves Gesicht stand blanke Furcht –, zwang sich jedoch dazu. »Die ist auch weg. Die Frau mit dem Hut ebenfalls. Beide sind nicht mehr erreichbar.«

»Und was bedeutet das?« Dave packte Dan mit beiden Händen am Hemd. »Was bedeutet das?«

»Ich weiß es nicht.«

Das war die Wahrheit, aber er hatte Angst.

Kapitel vierzehn CROW

1

Komm mal her, Daddy, hatte Barry the Chink gesagt. Beug dich zu mir.

Das war, kurz nachdem Snakebite Andi die erste Porno-DVD aus dem Laden in Sidewinder gestartet hatte. Crow setzte sich zu Barry und hielt ihm sogar die Hand, während der Sterbende sich durch seinen nächsten Zyklus kämpfte. Und als er zurückkam …

Hör zu. Sie hat uns beobachtet. Erst als der Porno angefangen hat …

Jemand, der selbst kein Findertalent besaß, so etwas zu erklären war schwer, besonders wenn man todkrank war, aber Crow kapierte das Wesentliche. Die fröhlichen Ficker am Pool hatten das Mädchen geschockt, wie Rose es gehofft hatte, aber sie hatten nicht dazu geführt, dass die Kleine zu spionieren aufhörte und sich zurückzog. Ein, zwei Lidschläge lang hatte Barry den Ort, an dem das Mädchen sich befand, mit doppelter Intensität wahrgenommen. Es war weiterhin mit seinem Vater in dieser Miniatureisenbahn auf dem Weg zum Picknick, aber der Schock rief ein zweites Bild hervor, das keinen Sinn ergab. Auf diesem Bild saß das Mädchen in einem Badezimmer auf dem heruntergeklappten Toilettendeckel.

»Vielleicht hast du eine Erinnerung gesehen«, sagte Crow. »Wäre das möglich?«

»Schon«, sagte Barry. »Tölpel denken allerhand komischen Mist. Wahrscheinlich hat es keine Bedeutung. Aber irgendwie kam es mir so vor, als wären es Zwillinge, verstehst du?«

Crow verstand zwar nicht so recht, nickte jedoch.

»Bloß dass es das auch nicht ist. Möglicherweise führt die Kleine uns irgendwie hinters Licht. Zeig mir mal die Straßenkarte.«

Jimmy Numbers hatte ganz New Hampshire auf seinem Laptop, den Crow Barry nun unter die Nase hielt.

»Da ist sie«, sagte Barry und tippte auf den Bildschirm. »Mit ihrem Dad auf dem Weg zu diesem Wolkental.«

»Tor«, sagte Crow. »Wolkentor.«

»Ist doch scheißegal.« Barry fuhr mit dem Finger in Richtung Nordosten. »Und da ist das zweite Bild hergekommen.«

Crow nahm den Laptop und blickte durch den zweifellos infizierten Schweißtropfen, den Barry auf dem Bildschirm hinterlassen hatte. »Anniston? Da wohnt sie, Barry. Wahrscheinlich hat sie dort überall Gedankenspuren hinterlassen. Wie Schuppen.«

»Klar. Erinnerungen. Tagträume. Allerhand komischen Mist. Wie schon gesagt.«

»Und jetzt ist alles verschwunden.«

»Ja, aber …« Barry packte Crow am Handgelenk. »Wenn sie so stark ist, wie Rose sagt, dann ist es theoretisch möglich, dass sie uns tatsächlich hinters Licht führt. So etwa wie eine Bauchrednerin.«

»Bist du denn jemals auf einen Steamhead gestoßen, der so was konnte?«

»Nein, aber es gibt für alles ein erstes Mal. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mit ihrem Vater zusammen ist, aber du musst entscheiden, ob das ausreicht, um …«

In diesem Augenblick begann Barry wieder zu kreisen, womit jede sinnvolle Kommunikation beendet war. Crow stand vor einer schwierigen Entscheidung. Dies war seine Mission, und er traute sich zu, damit umzugehen, aber der Plan stammte von Rose, und – wichtiger noch – die war davon besessen. Wenn er die Sache verbockte, dann war er geliefert.

Crow warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Fünfzehn Uhr hier in New Hampshire, dreizehn Uhr in Sidewinder. Auf dem Campingplatz waren sie jetzt wahrscheinlich gerade mit dem Mittagessen fertig, und Rose war erreichbar. Das gab den Ausschlag. Er wählte ihre Nummer. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie gelacht und ihn als alten Angsthasen bezeichnet hätte, doch das tat sie nicht.

»Du weißt, wir können Barry nicht mehr ganz vertrauen«, sagte sie. »Aber dir vertraue ich. Was ist dein Bauchgefühl?«

Sein Bauch fühlte weder so noch so; deshalb hatte er ja angerufen. Das sagte er ihr und wartete.

»Ich überlasse es dir«, sagte sie. »Bau bloß keinen Mist.«

Danke, das hättest du dir sparen können, Süße. Das dachte er … und hoffte dann, dass sie es nicht aufgefangen hatte.

Er saß mit dem zugeklappten Telefon in der Hand da, schaukelte mit der Bewegung des Wagens von einer Seite zur anderen, atmete den Geruch von Barrys Krankheit ein und fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis auch bei ihm auf Armen, Beinen und Brust die ersten Flecke auftauchten. Schließlich ging er nach vorn und legte Jimmy die Hand auf die Schulter.

»Wenn wir in Anniston sind, halt an.«

»Wieso?«

»Weil ich dort aussteige.«

2

Crow Daddy stand in Anniston an der Tankstelle und sah den Winnebago davonfahren. Er wehrte den Impuls ab, Snake einen Gedanken zu senden, bevor sie außer Reichweite war (bei ihm funktionierte das nur auf kurze Entfernung): Kommt zurück, und nehmt mich wieder mit, das ist ein Irrtum.

Aber wenn es doch keiner war?

Als die anderen fort waren, warf er einen kurzen, sehnsüchtigen Blick auf die triste kleine Reihe von Gebrauchtwagen, die an der Waschanlage neben der Tankstelle zum Verkauf standen. Egal was nun in Anniston geschah, er brauchte einen fahrbaren Untersatz, um die Stadt zu verlassen. Er hatte mehr als genug Bargeld in der Brieftasche, sich einen Wagen zu kaufen, der ihn zu dem abgesprochenen Treffpunkt an der I-87 nahe Albany brachte; das Problem war die Zeit. Um alle Formalitäten zu erledigen, brauchte er mindestens eine halbe Stunde, und das war unter Umständen zu lang. Bis er sich sicher war, dass es sich um einen falschen Alarm handelte, musste er einfach improvisieren und sich auf seine Überredungskünste verlassen. Die hatten noch nie versagt.

Vorläufig nahm Crow sich die Zeit, den Laden der Tankstelle zu betreten, um sich eine Mütze in den Farben der Red Sox zu besorgen. Ein wenig Tarnung schadete nicht. Er überlegte, ob er dem Outfit eine Sonnenbrille hinzufügen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Dank Fernsehen hielt ein gewisser Teil der Bevölkerung jeden gestandenen Mann für einen Killer. Die Mütze musste ausreichen.

Er ging die Hauptstraße entlang bis zur Bücherei, wo Abra und Dan Kriegsrat abgehalten hatten. Schon im Eingangsbereich fand er, was er suchte. Unter einem Schild mit der Aufschrift UNSERE STADT hing ein Stadtplan von Anniston, auf dem jedes Sträßchen dargestellt war. Er vergewisserte sich, wo genau das Haus des Mädchens sich befand.

»Tolles Spiel gestern Abend, was?«, sagte ein Mann. Er trug einen Packen Bücher unter dem Arm.

Einen Moment hatte Crow keine Ahnung, wovon der Mann redete, dann fiel ihm seine neue Mütze ein. »Kann man wohl sagen«, stimmte er zu, ohne den Blick vom Stadtplan abzuwenden.

Er ließ dem Sox-Fan Zeit, sich zu verziehen, bevor er die Bücherei verließ. Die Mütze tat ihre Wirkung, aber er hatte keine Lust, über Baseball zu fachsimpeln. Seiner Meinung nach war das ein stinklangweiliges Spiel.

3

Der Richland Court war ein kurzes Sträßchen mit hübschen Eigenheimen im regionalen Stil, das an einem kreisförmigen Wendeplatz endete. Unterwegs hatte Crow sich eine Gratiszeitung namens The Anniston Shopper gegriffen, und nun stand er an der Ecke, lehnte sich an einen praktischen Eichbaum und tat so, als würde er in dem Blättchen lesen. Die Eiche schirmte ihn von der Straße ab, was vielleicht ganz gut war, denn ein Stück weiter parkte ein roter Pick-up mit einem Mann am Steuer. Auf der Ladefläche des Wagens, einem älteren Modell, lagen allerhand Gartenwerkzeuge und ein Ding, das wie eine Motorhacke aussah. Es konnte sich also um einen Gärtner handeln – die Leute, die in solchen Straßen wohnten, konnten sich einen leisten –, aber wieso hockte der Typ dann einfach bloß da?

Betätigte er sich vielleicht als Babysitter?

Plötzlich war Crow froh, dass er Barry ernst genommen hatte und ausgestiegen war. Die Frage war, was nun. Er konnte Rose anrufen und um Rat fragen, aber das letzte Gespräch hatte nicht mehr gebracht als ein Blick in die Glaskugel.

Er stand immer noch halb verborgen hinter der praktischen alten Eiche und grübelte über seinen nächsten Schachzug nach, als die Vorsehung, die dem Wahren Knoten immer einen Vorteil gegenüber den Tölpeln verschaffte, einschritt. Ein paar Häuser weiter ging eine Haustür auf, und zwei Mädchen traten heraus. Crows Augen waren genauso scharf wie die einer Krähe, weshalb er ja auch so genannt wurde, und diese Augen erkannten die beiden sofort als zwei der drei Mädchen auf den von Billy ausgedruckten Fotos. Die in dem braunen Rock war Emma Deane. Die in der schwarzen Hose war Abra Stone.

Er sah sich nach dem Pick-up um. Bisher hatte der Fahrer, ebenfalls ein älteres Modell, zusammengesunken hinter dem Lenkrad gesessen. Nun richtete er sich auf. Putzmunter, wie die Tölpel sagten. Alarmbereit. Also hatte das Mädchen sie tatsächlich an der Nase herumgeführt. Crow wusste zwar noch nicht, welche der beiden der Steamhead war, aber eines war klar: Seine Gefährten im Winnebago jagten einem Phantom hinterher.

Crow zog sein Telefon heraus, hielt es jedoch einen Moment lang nur in der Hand, während er das Mädchen in der schwarzen Hose durch den Vorgarten zur Straße gehen sah. Das Mädchen im Rock wartete kurz, bevor sie ins Haus zurückging. Das Mädchen in der Hose – Abra – überquerte die Straße, und während sie das tat, hob der Mann in dem Pick-up die Hände, also wollte er fragen: Was ist los? Das Mädchen erwiderte, indem es den Daumen hob: Keine Sorge, alles ist okay. Crow spürte Triumph in sich aufsteigen, heiß wie ein Schluck Whiskey in der Kehle. Nun war alles klar. Abra Stone war der Steamhead. Da bestand kein Zweifel mehr. Sie wurde bewacht, und der Wächter war ein alter Knacker mit einem absolut akzeptablen Pick-up. Crow war zuversichtlich, dass er samt einem gewissen jugendlichen Fahrgast damit problemlos bis nach Albany gelangen konnte.

Er drückte die Schnellwahltaste von Snakebite Andi, war jedoch weder überrascht noch beunruhigt, als er die Nachricht erhielt, der Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar. Das Wolkentor war eine regionale Landschaftsattraktion, weshalb es dort sicher keine Mobilfunkmasten gab, von denen die Erinnerungsfotos der Touristen verschandelt worden wären. Aber das machte nichts. Wenn er mit einem alten Mann und einem Mädchen nicht allein fertigwurde, war es an der Zeit, den Löffel abzugeben. Er betrachtete sein Handy einen Augenblick, dann schaltete er es aus. In den nächsten zwanzig Minuten wollte er mit niemand sprechen, nicht einmal mit Rose.

Es war seine Mission, seine Verantwortung.

Er hatte vier gefüllte Injektionsspritzen dabei, zwei in der linken Tasche seiner leichten Jacke, zwei in der rechten. Mit seinem besten Henry-Rothman-Lächeln auf dem Gesicht – das er aufsetzte, wenn er für den Wahren Knoten exklusiv Campingplätze oder Motels reservierte – trat er hinter dem Baum hervor und schlenderte die Straße entlang. In der linken Hand hielt er immer noch die zusammengefaltete Ausgabe vom Anniston Shopper. Die rechte Hand steckte in der Jackentasche und war damit beschäftigt, von einer der Nadeln die Plastikkappe abzuziehen.

4

»Verzeihung, Sir, ich habe mich offenbar verlaufen. Könnten Sie mir vielleicht weiterhelfen?«

Billy Freeman war nervös. Er spürte den Anflug einer unheilvollen Ahnung … aber die vergnügte Stimme und das breite, vertrauenswürdige Lächeln lullten ihn ein. Nur zwei Sekunden lang, aber das reichte aus. Während er die Hand nach dem offenen Handschuhfach ausstreckte, spürte er einen leichten Stich am Hals.

Ein Mückenstich, dachte er, dann sank er zur Seite. Seine Augen drehten sich nach oben, bis nur noch das Weiße sichtbar war.

Crow öffnete die Tür und stieß den Fahrer zur anderen Seite. Der Kopf des Alten knallte ans Beifahrerfenster. Crow hob dessen schlaffe Beine über den Mitteltunnel und schlug das Handschuhfach zu, um Platz zu schaffen. Dann setzte er sich ans Lenkrad und zog die Tür zu. Er holte tief Luft und sah sich um, für alles bereit, aber es war nichts zu sehen, wofür er hätte bereit sein müssen. Der Richland Court lag im Nachmittagsschlummer da, und das war wunderbar.

Der Schlüssel steckte in der Zündung. Crow ließ den Motor an, und im Radio grölte Toby Keith was von Bier und dass Gott Amerika schützen solle. Als er zum Radio griff, um es auszuschalten, blendete ihn vorübergehend ein schreckliches weißes Licht. Crow hatte nur sehr begrenzte telepathische Fähigkeiten, aber er war eng mit dem Wahren Knoten verbunden; dessen Mitglieder waren sozusagen Glieder eines gemeinsamen Organismus, und gerade war eines gestorben. Das Wolkentor war nicht nur eine falsche Spur gewesen, sondern ein verfluchter Hinterhalt.

Bevor er entscheiden konnte, was er unternehmen sollte, kam das weiße Licht wieder und nach einer Pause noch ein drittes Mal.

Hatte es alle erwischt?

Du lieber Himmel, alle drei? Das war nicht möglich … oder doch?

Er atmete tief durch, einmal und noch einmal. Zwang sich, der Tatsache ins Auge zu blicken, dass es durchaus möglich war. Und falls ja, dann wusste er, wer die Schuld daran trug.

Das verfluchte Mädchen.

Er blickte zu Abras Haus hinüber. Dort war alles ruhig. Wenigstens etwas. Er hatte eigentlich vorgehabt, mit dem Wagen direkt in die Einfahrt des Hauses zu fahren, aber das kam ihm jetzt plötzlich nicht mehr so intelligent vor, zumindest vorläufig. Er stieg aus, beugte sich noch einmal hinein und packte den bewusstlosen alten Knacker an Hemd und Gürtel. Dann zerrte er ihn wieder hinters Lenkrad und nahm sich Zeit, ihn abzutasten. Keine Waffe. Was ein Pech. Er hätte nichts dagegen gehabt, vorübergehend eine zur Verfügung zu haben.

Er legte dem Alten den Sicherheitsgurt an, damit der Kerl nicht nach vorn sank und versehentlich die Hupe betätigte. Dann ging er ohne Eile auf das Haus des Mädchens zu. Hätte er dessen Gesicht an einem der Fenster gesehen – oder auch nur das kurze Zucken eines Vorhangs –, dann wäre er losgerannt, aber nichts regte sich.

Es war immer noch möglich, dass er seine Mission erfüllte, aber diese Überlegung war durch die schrecklichen weißen Blitze zweitrangig geworden. Vor allem wollte er sich dieses elende Miststück greifen, das dem Wahren Knoten so viel Unglück gebracht hatte, und es schütteln, bis es den Verstand verlor.

5

Schlafwandlerisch ging Abra durch den unteren Flur. Die Stones hatten zwar ein Wohnzimmer, aber eigentlich erfüllte die Küche diese Funktion. Sie war der Ort, an dem die Familie sich geborgen fühlte, und Abra ging dorthin, ohne darüber nachzudenken. Dann stand sie da, stützte sich mit gespreizten Händen auf den Küchentisch, an dem sie so oft mit ihren Eltern gegessen hatte, und starrte mit großen, leeren Augen auf das Fenster über der Spüle. Sie war im Grunde überhaupt nicht da. Sie war am Wolkentor und sah die Kidnapper aus dem Winnebago kommen: Snakebite Andi, Walnut und Jimmy Numbers. Die Namen hatte sie durch Barry erfahren. Aber etwas stimmte nicht. Einer fehlte.

(WO IST CROW? DEN SEHE ICH NICHT!)

Keine Antwort, denn Dan, ihr Vater und Dr. John waren beschäftigt. Sie machten die Kidnapper unschädlich, einen nach dem anderen: zuerst Walnut – den erledigte ihr Vater, gut für ihn –, dann Jimmy Numbers und schließlich diese Snake. Jede tödliche Verwundung spürte Abra als dröhnenden Schlag tief im Kopf. Diese Schläge, die sich anhörten wie ein schwerer Hammer, der wiederholt auf ein Eichenbrett niedersauste, waren schrecklich in ihrer Endgültigkeit, aber nicht ganz unangenehm. Weil …

Weil sie es verdienen; sie töten Kinder, und sonst hätte nichts sie aufhalten können. Aber …

(Dan wo ist Crow? WO IST DIESER CROW???)

Jetzt hörte er sie. Gott sei Dank. Sie sah den Winnebago. Dan dachte, Crow könnte da drin sein, und vielleicht hatte er recht. Allerdings …

Sie eilte durch den Flur und spähte durch eines der Fenster neben der Haustür. Der Gehweg lag verlassen da, aber der Pick-up von Mr. Freeman stand genau dort, wo er hingehörte. Das Gesicht ihres Wächters konnte sie nicht erkennen, weil die Sonne auf die Windschutzscheibe schien, aber sie sah ihn hinter dem Lenkrad sitzen, und das bedeutete, dass alles noch in Ordnung war.

Wahrscheinlich war es in Ordnung.

(Abra bist du da)

Dan. Es war so schön, ihn zu hören. Sie wünschte, er wäre bei ihr, aber ihn in ihrem Kopf zu haben war fast genauso gut.

(ja)

Sie warf noch einen letzten Blick auf den leeren Gehweg und auf den Wagen von Mr. Freeman, vergewisserte sich, dass sie die Haustür abgeschlossen hatte, und ging wieder auf die Küche zu.

(sag der Mutter deiner Freundin sie soll bei der Polizei anrufen und sagen dass du in Gefahr bist Crow ist in Anniston)

Sie blieb mitten im Flur stehen. Ihre Hand hob sich und begann, den Mund zu reiben. Dan wusste nicht, dass sie nicht mehr im Haus der Deanes war. Wie hätte er das wissen sollen? Dazu war er zu beschäftigt gewesen.

(ich bin nicht mehr)

Bevor sie den Gedanken vollenden konnte, donnerte ihr die Stimme von Rose the Hat durch den Kopf und löschte alle Gedanken aus.

(DU KLEINES MISTSTÜCK WAS HAST DU GETAN)

Der vertraute Flur, der von der Haustür zur Küche führte, glitt zur Seite. Als sich die Welt das letzte Mal gedreht hatte, war sie darauf vorbereitet gewesen. Diesmal war sie es nicht. Abra versuchte, den Vorgang aufzuhalten, schaffte es jedoch nicht. Ihr Haus war verschwunden. Anniston war verschwunden. Sie lag auf dem Boden und blickte in den Himmel. Da wurde ihr klar, dass der Tod der drei Wahren am Wolkentor Rose buchstäblich von den Beinen geholt hatte, und einen Moment lang überkam sie eine wilde Freude. Sie suchte krampfhaft nach etwas, womit sie sich verteidigen konnte. Dafür blieb ihr nicht viel Zeit.

6

Der Körper von Rose lag lang ausgestreckt zwischen dem Duschgebäude und der Overlook Lodge, aber ihre Gedanken waren in New Hampshire und strömten durch den Kopf des Mädchens. Diesmal war da keine geträumte Reiterin mit Hengst und Lanze, o nein. Diesmal waren da nur ein erschrockenes kleines Küken und Rosie, und Rosie wollte Rache. Töten würde sie das Mädchen nur, falls unbedingt nötig, dafür war diese Göre zu wertvoll, aber sie wollte ihr schon einmal einen Vorgeschmack auf das geben, was sie erwartete. Einen Vorgeschmack auf das, was gerade eben auch die Gefährten von Rose erlitten hatten. Im Hirn von Tölpeln gab es viele weiche, verletzliche Orte, und die kannte Rose nur allzu g…

(HAU AB DU AAS LASS MICH IN RUHE


ODER ICH BRINGE DICH UM!)

Es war, als wäre hinter Rose’ Augen eine Blendgranate explodiert. Sie zuckte zusammen und schrie auf. Big Mo, die sich gebückt hatte, um sie zu trösten, zog sich erschrocken zurück. Rose bemerkte das nicht, sie sah Mo nicht einmal. Offenbar unterschätzte sie die Kraft des Mädchens immer noch. Sosehr sie auch versucht hatte, sich in ihrem Kopf festzusetzen, das kleine Miststück warf sie doch tatsächlich einfach raus. Schlimmer noch, sie spürte, wie ihre Hände sich auf ihr Gesicht zubewegten. Hätten Mo und Short Eddie sie nicht festgehalten, so hätte das Mädchen Rose wahrscheinlich dazu gebracht, sich die Augen auszukratzen.

Zumindest vorläufig musste sie aufgeben und sich zurückziehen. Aber bevor sie das tat, sah sie durch die Augen des Mädchens etwas, was sie mit Erleichterung durchflutete. Es war Crow Daddy, und der hielt eine Spritze in der Hand.

7

Abra setzte die ganze Kraft ein, die sie aufbringen konnte, mehr als an dem Tag, an dem sie nach Bradley Trevor gesucht hatte, mehr, als sie in ihrem ganzen Leben je angewandt hatte, aber das reichte trotzdem kaum aus. Gerade als sie den Eindruck hatte, sie würde es nicht schaffen, die Frau mit dem Hut aus ihrem Kopf zu verjagen, begann die Welt sich wieder zu drehen. Das brachte sie selbst zustande, aber es war irrsinnig schwer – wie ein großes Rad aus Stein zu schieben. Der Himmel und die auf sie herabblickenden Gesichter glitten weg. Ein Moment der Dunkelheit trat ein, in dem sie

(dazwischen)

im Nirgendwo war, und dann kam der Flur ihres Elternhauses wieder in Sicht. Aber sie war nicht mehr allein. In der Küchentür stand ein Mann.

Nein, nicht irgendein Mann. Es war Crow.

»Hallo, Abra«, sagte er lächelnd und stürzte sich auf sie. Noch ganz benommen von ihrer Begegnung mit Rose, versuchte Abra gar nicht erst, ihn mit ihren Gedanken abzuwehren. Sie drehte sich einfach um und rannte los.

8

Unter starkem Stress waren Dan Torrance und Crow Daddy sich sehr ähnlich, obwohl keiner der beiden das je erfahren würde. Crow erlebte nun denselben klaren Blick, den Dan am Wolkentor gehabt hatte, dasselbe Gefühl, dass alles wunderbar zeitlupenhaft ablief. Er sah das rosa Silikonband an Abras linkem Handgelenk und hatte Zeit Brustkrebs – Wissen hilft zu denken. Als Abra sich hektisch umdrehte, sah er ihren Rucksack zur Seite rutschen und wusste, dass der voller Bücher war. Er hatte sogar Zeit, ihre Haare zu bewundern, die als heller Schweif hinter ihr herflogen.

Crow erwischte sie an der Tür, während sie versuchte, den Drehverschluss zu betätigen. Als er ihr den linken Arm um den Hals legte und sie zurückriss, spürte er ihre ersten Versuche – verwirrt, schwach –, ihn mit ihren Gedanken wegzuschieben.

Nicht die ganze Spritze, sonst bringe ich sie vielleicht um, sie wiegt bestimmt nicht mehr als fünfzig Kilo.

Während Abra sich wand und wehrte, injizierte Crow ihr das Mittel knapp unterhalb des Schlüsselbeins. Er hätte sich gar keine Sorgen machen müssen, dass er die Kontrolle verlieren und ihr aus Versehen die ganze Dosis verpassen könnte, denn ihr linker Arm zuckte nach oben und schlug ihm die Spritze aus der rechten Hand. Das Ding fiel zu Boden und rollte davon. Aber die Vorsehung war dem Wahren Knoten grundsätzlich günstiger gesinnt als den Tölpeln, so war es immer schon gewesen, und so war es auch jetzt. Es war ihm gelungen, ihr genügend von dem Mittel zu injizieren. Er spürte, wie der schwache Griff, mit dem sie sein Denken gepackt hatte, erst nachließ und dann ganz davonglitt. Ihre Hände taten dasselbe. Mit erschrockenen, ziellos umherwandernden Augen blickte sie ihn an.

Crow tätschelte ihr die Schulter. »Wir machen einen Ausflug, Abra. Du wirst äußerst interessante Leute kennenlernen.«

Unglaublicherweise brachte sie ein Lächeln zustande. Dieses Lächeln wirkte ziemlich beängstigend. Schließlich war sie noch so jung, dass sie gut als Junge hätte durchgehen können, wenn sie ihre Haare unter einer Mütze verborgen hätte. »Diese Monster, die du deine Freunde nennst, sind alle tot. Sie …«

Das letzte Wort war nur noch ein verwaschenes Stammeln. Abras Augen verdrehten sich, ihre Knie gaben nach. Crow war versucht, sie einfach fallen zu lassen – das hätte sie wirklich verdient gehabt –, aber er unterdrückte den Impuls und schob ihr stattdessen die Arme unter die Achseln. Schließlich war sie wertvolles Eigentum.

Wahres Eigentum.

9

Crow war durch die Hintertür gekommen, wobei er das praktisch nutzlose Schnappschloss mit einer einzigen Abwärtsbewegung von Henry Rothmans American Express Platinum Card geknackt hatte, aber er hatte nicht die Absicht, das Haus auf demselben Wege wieder zu verlassen. Am Ende des abschüssigen Gartens kam nichts als ein hoher Zaun und dahinter ein Fluss. Außerdem stand sein fahrbarer Untersatz in der anderen Richtung. Er trug Abra durch die Küche in die leere Garage. Vielleicht waren beide Eltern bei der Arbeit … falls sie nicht draußen am Wolkentor standen und hämisch die Überreste von Andi, Billy und Nut begafften. Vorläufig war ihm das scheißegal; wer auch immer dem Mädchen geholfen hatte, konnte warten. Um die konnte man sich später kümmern.

Er schob Abras Körper unter die Werkbank, auf der die paar Werkzeuge ihres Vaters lagen. Dann drückte er auf die Taste, mit der das Garagentor geöffnet wurde, und trat hinaus, nicht ohne daran zu denken, vorher sein bewährtes Henry-Rothman-Lächeln aufzusetzen. Der Schlüssel dazu, in der Welt der Tölpel zu überleben, bestand darin, so auszusehen, als ob man dazugehörte und überdies immer bester Laune wäre, und niemand gelang das besser als Crow. Er ging eilig zum Pick-up hinüber und schob den alten Knacker wieder zur Seite, diesmal auf die Mitte der durchgehenden Sitzbank. Als Crow mit dem Wagen in die Einfahrt der Stones einbog, lag Billys Kopf schlaff auf seiner Schulter.

»Na, was sind denn das für Annäherungsversuche, Alter?«, sagte Crow und lachte, während er den roten Pick-up in die Garage lenkte. Seine Gefährten waren tot, und die Lage war äußerst bedenklich, aber dafür gab es einen tollen Ausgleich: Zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren fühlte er sich vollkommen lebendig und klar. Die Welt erstrahlte in allen Farben und summte wie eine Stimmgabel. Er hatte die Kleine erwischt, bei Gott. Trotz all ihrer unheimlichen Kraft und ihren üblen Tricks hatte er sie in der Hand. Jetzt würde er sie zu Rose bringen. Als ganz spezielle Liebesgabe.

»Jackpot«, sagte er und verpasste dem Armaturenbrett einen harten, triumphierenden Schlag.

Er stieg aus, streifte Abra den Rucksack von den Schultern und ließ ihn unter der Werkbank liegen. Dann hob er sie durch die Beifahrertür in den Wagen und schnallte seine zwei schlummernden Passagiere an. Er hatte zwar durchaus überlegt, ob er dem Alten den Hals brechen und seine Leiche in der Garage lassen sollte, aber möglicherweise war der Kerl ja noch zu irgendetwas nütze. Falls die Droge ihn nicht umbrachte. Crow tastete an der Seite des faltigen, mit grauen Härchen übersäten Halses nach dem Puls und spürte tatsächlich einen. Langsam, aber stark. Was die Kleine anging, war alles klar; sie lehnte am Seitenfenster, und er sah, wie sich durch ihren Atem die Scheibe beschlug. Ausgezeichnet.

Crow nahm sich kurz Zeit für eine Bestandsaufnahme seiner Ausrüstung. Keine Pistole – der Wahre Knoten reiste nie mit Schusswaffen –, aber er hatte noch zwei Spritzen mit dem Betäubungsmittel. Wie weit das reichen würde, wusste er nicht. Priorität hatte auf jeden Fall das Mädchen. Crow hatte so eine Ahnung, dass der Zeitraum, in dem sich der Alte als nützlich erweisen konnte, äußerst begrenzt sein würde. Na ja. Tölpel kamen, und Tölpel gingen.

Er zog sein Handy aus der Tasche, und diesmal drückte er die Schnellwahlnummer von Rose. Sie meldete sich, als er sich schon darauf vorbereitet hatte, eine Nachricht zu hinterlassen. Ihre Worte kamen langsam, ihre Aussprache klang verwaschen. Es war fast so, als würde man mit einer Betrunkenen sprechen.

»Rose? Was ist denn mit dir los?«

»Die Kleine hat mir irgendwie heftiger dazwischengefunkt, als ich erwartet hätte, aber es geht schon wieder. Ich höre sie nicht mehr. Sag mir, dass du sie hast!«

»Das habe ich, und sie macht gerade eine kleine Siesta, aber sie hat Freunde. Auf die will ich momentan nicht treffen. Deshalb fahre ich sofort nach Westen, und ich hab keine Zeit, irgendwelche Karten zu studieren. Irgendjemand muss mir die Nebenstraßen raussuchen, über die ich durch Vermont nach Upstate New York gelange.«

»Das wird Toady Slim erledigen.«

»Rosie, du musst sofort jemand nach Osten schicken, der mir entgegenfährt – mit allem, was ihr beschaffen könnt, um dieses Nitro-Paket ruhigzustellen. Sieh in Nuts Vorräten nach. Der muss doch irgendwas gehabt haben …«

»Ich weiß selber, was ich tun muss«, fuhr Rose ihn an. »Toady wird alles koordinieren. Kennst du dich so weit aus, dass du losfahren kannst?«

»Ja. Hör mal, Rosie-Darling, das mit dem Picknickplatz war eine Falle. Dieses verfluchte Balg hat uns reingelegt. Was ist, wenn ihre Freunde die Polizei rufen? Ich sitze in einem alten F-150 mit zwei Zombies neben mir. Da könnte ich mir gleich Kidnapper auf die Stirn tätowieren lassen.«

Aber er grinste. Und ob er grinste! Am anderen Ende herrschte Schweigen. Crow saß in der Garage der Stones am Lenkrad und wartete.

Schließlich sagte Rosie: »Wenn du hinter dir Blaulicht oder vor dir eine Straßensperre siehst, strangulier die Kleine und saug so viel Steam aus ihr heraus, wie du kannst, während sie krepiert. Dann kannst du dich verhaften lassen. Später holen wir dich irgendwann raus, das weißt du ja.«

Nun war es Crow, der kurz schwieg. »Bist du dir sicher, dass das die richtige Taktik ist, mein Schatz?«, fragte er dann.

»Bin ich.« Ihre Stimme war wie aus Stein. »Sie ist am Tod von Jimmy, Nut und Snakebite schuld. Ich trauere um alle, aber am schlimmsten ist für mich der Tod von Andi, weil ich sie selber umgewandelt habe, und sie hat unser Leben nur so kurz genossen. Und was Sarey angeht …«

Sie endete mit einem Seufzer. Crow schwieg wieder. Es gab einfach nichts zu sagen. In ihren frühen Jahren bei den Wahren hatte Andi Steiner mit verschiedenen Frauen geschlafen – nicht verwunderlich, der Steam ließ Neulinge immer besonders spitz werden –, aber die letzten zehn Jahre hatte sie mit Silent Sarey verbracht, und die beiden waren sich treu ergeben gewesen. In mancher Hinsicht war Andi eher Sareys Tochter gewesen als ihre Bettgefährtin.

»Sarey ist untröstlich«, sagte Rose. »Und Black-Eyed Susie vermisst Nut. Dieses kleine Biest wird dafür büßen müssen, dass es uns die drei weggenommen hat. So oder so, ihr Leben als Tölpel ist vorüber. Noch irgendwelche Fragen?«

Crow hatte keine.

10

Crow Daddy erregte keine besondere Aufmerksamkeit, als er Anniston mit seinen schlafenden Fahrgästen auf dem alten Granite State Highway in Richtung Westen verließ. Mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen (scharfsichtige alte Damen und Kinder waren am schlimmsten) war das Amerika der Tölpel erstaunlich unachtsam, obwohl seit zwölf Jahren offiziell das dunkle Zeitalter des Terrorismus herrschte. Wann immer du was siehst, zeig es an war ein toller Slogan, aber zuerst musste man etwas sehen.

Als sie Vermont erreichten, wurde es dunkel, und die entgegenkommenden Fahrzeuge sahen nur Crows Scheinwerfer, die er absichtlich aufgeblendet ließ. Toady Slim hatte schon dreimal angerufen und ihn mit Wegbeschreibungen versorgt. Hauptsächlich benutzte er Nebenstraßen, oft sogar welche ohne Nummer. Außerdem hatte Toady ihm mitgeteilt, dass Diesel-Doug, Dirty Phil und Apron Annie unterwegs waren. Sie fuhren einen Caprice, Baujahr 2006, der zwar wie ein Schrotthaufen aussah, aber zweihundertsechzig PS unter der Haube hatte. Das Tempolimit war kein Problem, denn dank dem inzwischen verstorbenen Jimmy Numbers hatten sie Ausweise des Heimatschutzministeriums dabei, die jeder Prüfung standhalten würden.

Pea und Pod, die Little-Zwillinge, überwachten mithilfe des exzellenten Satellitenkommunikationssystems der Wahren den Polizeifunk im Nordosten, und bisher war nichts über ein gekidnapptes Mädchen zu hören gewesen. Das war erfreulich, kam aber nicht unerwartet. Freunde, die clever genug waren, einen Hinterhalt zu legen, hatten wahrscheinlich genug Grips zu wissen, was ihrem Schützling zustoßen konnte, wenn sie an die Öffentlichkeit gingen.

Gedämpft läutete ein anderes Telefon. Ohne den Blick von der Straße abzuwenden, beugte Crow sich über seine schlafenden Fahrgäste, griff ins Handschuhfach und fand das Handy. Zweifellos das von dem alten Knacker. Er hielt es sich vor die Nase. Auf dem Display tauchte kein Name auf, also war der Anrufer nicht im Adressbuch gespeichert, aber die Vorwahl wies auf eine Nummer aus New Hampshire hin. Einer der Beschützer, der wissen wollte, wie es Billy und dem Mädchen ging? Höchstwahrscheinlich.

Crow überlegte, ob er abheben sollte, entschied sich jedoch dagegen. Allerdings würde er sich später vergewissern, ob der Anrufer eine Nachricht hinterlassen hatte. Information war Macht.

Als er sich wieder nach rechts beugte, um das Telefon ins Handschuhfach zurückzulegen, berührte er etwas aus Metall. Er legte das Handy ins Fach und zog eine Pistole heraus. Ein netter Bonus und ein glücklicher Fund. Wäre der Alte irgendwie früher als erwartet aufgewacht, so hätte er möglicherweise nach der Waffe gegriffen, bevor Crow seine Absichten erkannt hätte. Crow schob die Glock unter seinen Sitz, dann klappte er das Handschuhfach wieder zu.

Waffen waren ebenfalls Macht.

11

Inzwischen war es ganz dunkel, und sie fuhren auf dem Highway 108 durch die Green Mountains, als Abra sich zu regen begann. Crow, der sich immer noch fantastisch lebendig und wach fühlte, hatte nichts dagegen. Zum einen war er neugierig. Und zum anderen bewegte die Benzinanzeige sich gegen null, und irgendjemand musste den Tank auffüllen.

Allerdings durfte er kein Risiko eingehen.

Mit der rechten Hand zog er eine der zwei übrigen Spritzen aus der Tasche und ließ die Hand damit auf dem Oberschenkel ruhen. Er wartete, bis die Augen des Mädchens – noch matt und benommen – sich geöffnet hatten. »Guten Abend, junge Dame«, sagte er dann. »Ich bin Henry Rothman. Verstehst du mich?«

»Sie sind …« Abra räusperte sich, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und setzte noch einmal zum Sprechen an. »Sie sind nicht Henry oder so. Sie sind Crow.«

»Dann weißt du also Bescheid. Das ist gut. Du fühlst dich gerade ziemlich matschig im Kopf, kann ich mir vorstellen, und dabei wird es auch bleiben, weil das nämlich ganz in meinem Sinn ist. Es wird aber nicht nötig sein, dich wieder vollständig schachmatt zu setzen, solange du schön brav bist. Hast du das kapiert?«

»Wo fahren wir hin?«

»Nach Hogwarts, um uns das internationale Quidditch-Turnier anzuschauen. Dort kaufe ich dir einen magischen Hotdog und eine Stange magische Zuckerwatte. Beantworte meine Frage. Wirst du schön brav sein?«

»Ja.«

»So eine unverzügliche Zustimmung ist Musik in meinen Ohren, aber du wirst mir verzeihen, wenn ich dir nicht ganz traue. Ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen, damit du nichts Törichtes tust, was du hinterher bereuen könntest. Siehst du die Spritze, die ich hier habe?«

»Ja.« Abras Kopf lag immer noch am Fenster, aber ihr Blick war auf die Spritze gerichtet. Ihre Augen schlossen sich, dann gingen sie ganz langsam wieder auf. »Ich bin durstig.«

»Das liegt sicherlich an der Droge. Ich hab aber nichts zu trinken dabei, wir mussten etwas überstürzt aufbrechen …«

»Ich glaube, in meinem Rucksack ist noch ein Trinkpäckchen mit Saft.« Heiser. Leise und langsam. Immer noch öffneten die Augen sich nach jedem Blinzeln nur mit großer Mühe.

»Der ist leider in deiner Garage liegen geblieben. Eventuell bekommst du in dem nächsten Städtchen, das wir erreichen, etwas zu trinken – wenn du ein braves kleines Mädchen bist. Bist du jedoch ein böses kleines Mädchen, dann kannst du die restliche Nacht die eigene Spucke schlucken. Kapiert?«

»Ja …«

»Falls du auf die Idee kommen solltest, in meinem Kopf herumzustöbern – ja, ich weiß, dass du das kannst –, oder falls du versuchst, jemand auf uns aufmerksam zu machen, wenn wir anhalten, jage ich dem alten Herrn hier diese Spritze in den Leib. Zusammen mit dem, was er schon intus hat, wird er danach so tot wie Amy Winehouse sein. Haben wir uns da ebenfalls verstanden?«

»Ja.« Sie fuhr sich wieder mit der Zunge über die Lippen, dann rieb sie diese mit der Hand. »Tun Sie ihm bitte nicht weh.«

»Das hängt von dir ab.«

»Wo bringen Sie mich hin?«

»Goldlöckchen? Liebes?«

»Was?« Benommen blinzelte sie ihn an.

»Halt einfach die Klappe, und genieß die Fahrt.«

»Hogwarts«, sagte sie. »Zucker … watte.« Als sich diesmal die Augen schlossen, blieben die Lider unten. Sie begann leise zu schnarchen. Es war ein entspanntes Geräusch, irgendwie angenehm. Crow hatte zwar nicht den Eindruck, dass sie irgendetwas vortäuschte, hielt die Spritze jedoch weiterhin neben dem Bein des Alten, um auf Nummer sicher zu gehen. Wie Gollum einmal über Frodo Beutlin gesagt hatte, waren solche Leute tückisch, mein Schatz. Sehr tückisch sogar.

12

Abra verlor nicht vollständig die Besinnung; sie hörte noch den Motor des Pick-ups, aber der war weit weg. Er schien sich über ihr zu befinden. Dabei erinnerte sie sich daran, wie sie und ihre Eltern an heißen Sommernachmittagen zum Lake Winnipesaukee gefahren waren und wie man dort das ferne Dröhnen der Motorboote gehört hatte, wenn man den Kopf unter Wasser steckte. Sie wusste, dass man sie gekidnappt hatte, und sie wusste, dass das Anlass zur Besorgnis war, aber sie fühlte sich dennoch heiter und war damit zufrieden, zwischen Schlafen und Wachen zu schweben. Die Trockenheit in Mund und Kehle war allerdings entsetzlich. Ihre Zunge fühlte sich an wie ein Streifen staubiger Teppichboden.

Ich muss etwas unternehmen. Er wird mich zu der Frau mit dem Hut bringen, und ich muss etwas unternehmen. Wenn ich das nicht tue, bringen sie mich um, wie sie den Baseballjungen umgebracht haben. Oder sie tun mir was noch Schlimmeres an.

Ja, sie würde tatsächlich etwas unternehmen. Sobald sie etwas zu trinken bekommen hatte. Und sobald sie noch ein wenig geschlafen hatte …

Das Motorengeräusch war aus einem Dröhnen zu einem entfernten Summen geworden, als Licht durch ihre geschlossenen Augenlider drang. Dann verstummte das Geräusch vollständig, und Crow knuffte sie ins Bein. Zuerst leicht, dann stärker. So stark, dass es wehtat.

»Wach auf, Goldlöckchen. Du kannst später weiterschlafen.«

Mühsam öffnete sie die Augen und zuckte zusammen, weil alles so hell war. Sie standen neben einer Reihe von Zapfsäulen. Darüber brannten Neonlampen. Sie schirmte die Augen gegen das grelle Licht ab. Jetzt war sie nicht nur durstig, sie hatte auch noch Kopfschmerzen. Es war wie …

»Was ist denn so lustig, Goldlöckchen?«

»Hä?«

»Du lächelst.«

»Ich hab gerade rausgefunden, was mit mir los ist. Ich habe einen Kater.«

Crow überlegte kurz, dann grinste er. »Tja, das dürfte stimmen, und dabei hast du noch nicht mal einen Affen sitzen gehabt. Bist du wach genug, mich zu verstehen?«

»Ja.« Zumindest dachte sie das. Oh, aber das Dröhnen in ihrem Kopf. Furchtbar.

»Nimm das hier.«

Er hielt ihr etwas vor die Nase, wobei er mit der linken Hand am Körper vorbeigriff. In der rechten, die neben dem Bein von Mr. Freeman lag, hatte er immer noch die Spritze.

Abra kniff die Augen zusammen. Es war eine Kreditkarte. Mit einer Hand, die sich zu schwer anfühlte, griff sie danach. Als ihre Augen sich wieder schlossen, verpasste Crow ihr eine Ohrfeige. Ihre Augen flogen auf, weit und erschrocken. Sie war noch nie im Leben geschlagen worden, jedenfalls nicht von einem Erwachsenen. Allerdings war sie auch noch nie gekidnappt worden.

»Au! Au!«

»Steig aus. Folg den Anweisungen an der Zapfsäule – du bist ein kluges Kind, das schaffst du bestimmt –, und füll den Tank. Dann hängst du die Zapfpistole auf und steigst wieder ein. Wenn du das alles wie ein braves kleines Goldlöckchen erledigst, dann fahren wir nachher zu dem Getränkeautomaten da drüben.« Er deutete auf die hintere Ecke des Gebäudes mit dem Shop. »Dort kannst du dir eine schöne, große Cola besorgen. Oder Mineralwasser, wenn dir das lieber ist; ich sehe mit meinen Äuglein, dass man das da wahrscheinlich bekommt. Wenn du jedoch ein böses kleines Goldlöckchen bist, bringe ich den alten Knacker hier um und gehe dann in den Shop, um den Knaben an der Kasse zu erschießen. Ganz einfach. Dein Freund hatte eine Pistole, die sich jetzt in meinem Besitz befindet. Wenn ich da reingehen muss, nehme ich dich mit, damit du zusehen kannst, wie das Gehirn des besagten Knaben in alle Richtungen spritzt. Es liegt also ganz an dir, okay? Kapiert?«

»Ja«, sagte Abra. Sie war jetzt etwas wacher. »Kann ich eine Cola und ein Wasser haben?«

Diesmal war sein Grinsen breit und liebenswürdig. Trotz ihrer Situation, trotz ihren Kopfschmerzen, ja sogar trotz der Ohrfeige, die er ihr verpasst hatte, fand Abra es charmant. Wahrscheinlich taten das viele Leute, vor allem Frauen. »Ein bisschen gierig, aber so was ist nicht immer negativ«, sagte er. »Sehen wir mal, wie brav du sein kannst.«

Sie löste den Verschluss ihres Gurts – dazu brauchte sie drei Versuche, schaffte es jedoch schließlich – und öffnete die Tür. Bevor sie ausstieg, sagte sie: »Hören Sie auf, Goldlöckchen zu mir zu sagen. Sie kennen meinen Namen, und ich kenne Ihren.«

Bevor er etwas erwidern konnte, schlug sie die Tür zu und trat (leicht schwankend) zur Zapfsäule. Sie hatte nicht nur Steam, sondern auch ganz schön Mumm. Fast hätte er sie bewundert. Aber angesichts dessen, was mit Snake, Walnut und Jimmy geschehen war, war fast das höchste der Gefühle.

13

Zuerst konnte Abra die Anweisungen nicht lesen, weil die Buchstaben sich ständig verdoppelten und umherrutschten. Als sie die Augen zusammenkniff, wurde die Schrift deutlicher. Crow beobachtete sie. Sie spürte seinen Blick wie ein feines, warmes Gewicht an ihrem Hinterkopf.

(Dan?)

Kein Kontakt, was sie nicht überraschte. Wie konnte sie hoffen, Dan zu erreichen, wenn sie kaum herausbekam, wie man mit dieser dämlichen Zapfsäule umging? In ihrem ganzen Leben hatte sie sich nie weniger hellsichtig gefühlt.

Nach einer Weile gelang es ihr schließlich, die Pumpe in Gang zu bringen, nachdem sie die Kreditkarte beim ersten Mal verkehrt herum eingesteckt und wieder von vorn hatte anfangen müssen. Das Tanken schien ewig zu dauern, aber die Mündung der Zapfpistole war mit einer Gummimanschette ausgerüstet, um die Dämpfe zurückzuhalten, und in der Nachtluft bekam Abra einen klareren Kopf. Am Himmel standen Milliarden Sterne. Normalerweise weckten die mit ihrer Schönheit und Fülle ein ehrfürchtiges Gefühl in Abra, aber heute machte es ihr nur Angst, sie zu betrachten. Sie waren ganz weit weg. Sie sahen Abra Stone nicht.

Als der Tank endlich voll war, studierte sie mit zusammengekniffenen Augen den neuen Text, der auf dem Display erschienen war. Sie drehte sich zu Crow um. »Wollen Sie eine Quittung?«

»Ich glaube, darauf können wir verzichten, meinst du nicht?« Crow setzte wieder sein umwerfendes Lächeln auf, das einen einfach glücklich machte, wenn man es hervorgerufen hatte. Bestimmt hatte er eine Menge Freundinnen.

Nein. Er hat nur eine. Seine Freundin ist die Frau mit dem Hut. Rose. Wenn er noch eine andere hätte, würde Rose die umbringen. Wahrscheinlich mit ihren Zähnen und Fingernägeln.

Sie trottete zur Beifahrertür zurück und stieg ein.

»Das war großartig«, sagte Crow. »Du kriegst den Hauptgewinn – eine Cola und ein Mineralwasser. Na … was sagt man da zu seinem Daddy?«

»Danke«, sagte Abra teilnahmslos. »Aber Sie sind nicht mein Daddy.«

»Wieso nicht? Für Mädchen, die nett zu mir sind, kann ich ein richtig guter Daddy sein. Für brave Mädchen.« Er stoppte den Wagen vor dem Getränkeautomaten und gab Abra einen Fünfdollarschein. »Bring mir eine Fanta mit, wenn’s so was gibt. Wenn nicht, auch eine Cola.«

»Sie trinken Fanta wie ganz normale Menschen?«

Er zog eine gespielt gekränkte Miene. »Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht?«

»Shakespeare, stimmt’s?« Sie rieb sich wieder den Mund. »Romeo und Julia.«

»Der Kaufmann von Venedig, Dummerchen«, sagte Crow … aber mit einem Lächeln. »Wie es weitergeht, weißt du wahrscheinlich nicht, oder?«

Sie schüttelte den Kopf. Das war ein Fehler. Das Pochen in ihrem Kopf, das allmählich nachgelassen hatte, war wieder voll da.

»Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?« Er tippte mit der Nadel der Spritze an Mr. Freemans Bein. »Denk darüber nach, während du unsere Getränke holst.«

14

Er beobachtete sie genau, während sie den Automaten betätigte. Die Tankstelle befand sich am bewaldeten Rand einer Kleinstadt, und es bestand ein gewisses Risiko, dass die Kleine auf die Idee kam, den alten Knacker seinem Schicksal zu überlassen und auf die Bäume zuzurennen. Crow dachte an die Pistole, ließ sie jedoch liegen, wo sie war. Angesichts von Abras Zustand war es vermutlich kein großes Problem, sie einzuholen. Aber sie warf nicht einmal einen Blick in Richtung Wald. Sie schob den Geldschein in den Automaten und holte die Getränke heraus, eines nach dem anderen, wobei sie einen Augenblick pausierte, um einen tiefen Zug aus der Flasche Wasser zu nehmen. Dann kam sie zurück und öffnete die Beifahrertür, stieg aber nicht ein. Sie deutete auf die Seite des Shops.

»Ich muss pinkeln.«

Crow war perplex. Daran hatte er nicht gedacht, obwohl es zu erwarten gewesen war. Sie hatte unter Drogen gestanden, und nun musste ihr Körper sich von dem Gift reinigen. »Kannst du damit nicht noch ein bisschen warten?« Bestimmt würde ein paar Meilen weiter ein Rastplatz kommen, an dem er halten und sie hinter einen Busch gehen lassen konnte. Solange er ihren Schopf dahinter sah, war das in Ordnung.

Aber sie schüttelte den Kopf. Natürlich tat sie das.

Er dachte nach. »Okay, hör zu. Du kannst in die Damentoilette gehen, wenn sie nicht abgeschlossen ist. Sonst musst du hinter dem Haus verschwinden und dort pinkeln. Reingehen und nach dem Schlüssel fragen lasse ich dich jedenfalls nicht.«

»Und wenn ich hinters Haus muss, werden Sie mich beobachten, stimmt’s? Perversling.«

»Da steht bestimmt ein Müllcontainer, hinter den du dich hocken kannst. Es wäre zwar kaum auszuhalten, deinen süßen kleinen Hintern nicht zu Gesicht zu bekommen, aber ich werd’s überleben. Und jetzt steig ein.«

»Aber Sie haben doch gesagt …«

»Steig ein, oder ich sag wieder Goldlöckchen zu dir.«

Sie gehorchte, und er lenkte den Wagen neben die Toilettentüren, ohne diese vollständig zu blockieren. »Jetzt streck die Hand aus.«

»Wieso?«

»Tu’s einfach.«

Widerstrebend streckte sie ihm eine Hand hin. Er nahm sie. Als sie die Spritze sah, wollte sie ihm die Hand wieder entreißen.

»Keine Sorge, nur ein Tröpfchen. Schließlich darfst du nicht auf schlimme Gedanken kommen, stimmt’s? Oder welche irgendwohin senden. Du kannst sowieso nichts dagegen unternehmen, also mach keine Fisimatenten.«

Sie gab ihren Widerstand auf. Es war leichter, es einfach geschehen zu lassen. Sie spürte einen kurzen Stich auf ihrem Handrücken, dann ließ Crow sie los. »Auf jetzt«, sagte er. »Mach Pipi, und zwar zackig. Nicht umsonst heißt es in einem alten Countrysong: ›We’ve got a long way to go and a short time to get there.‹«

»Den Song kenne ich nicht.«

»Kein Wunder. Schließlich kannst du nicht mal den Kaufmann von Venedig und Romeo und Julia auseinanderhalten.«

»Sie sind gemein.«

»Muss ich nicht sein«, sagte er.

Sie stieg aus, blieb einen Moment neben dem Wagen stehen und atmete tief durch.

»Abra?«

Sie sah ihn an.

»Versuch nicht, dich einzuschließen. Du weißt ja, wer dafür büßen müsste, oder?« Er tätschelte Billy Freeman das Bein.

Sie wusste es.

Ihr Kopf, der allmählich klarer geworden war, umnebelte sich wieder. Hinter dem charmanten Grinsen verbarg sich ein grässlicher Mensch – ein grässliches Ding. Und clever war er. Er dachte an alles. Sie griff nach der Toilettentür, die sich ohne Weiteres öffnen ließ. Wenigstens musste sie nicht draußen ins Unkraut pinkeln, das war doch schon was. Sie ging hinein, zog die Tür zu und erleichterte sich. Dann blieb sie einfach auf der Toilette sitzen und ließ benommen den Kopf hängen. Sie erinnerte sich daran, wie sie im Bad von Emmas Haus törichterweise geglaubt hatte, alles würde glattgehen. Wie lange das nun scheinbar schon her war.

Ich muss etwas unternehmen.

Aber sie stand unter Drogen und fühlte sich wirr im Kopf.

(Dan)

Das sandte sie mit aller Kraft aus, die sie aufbrachte … was nicht viel war. Wie viel Zeit Crow ihr wohl lassen würde? Sie fühlte, wie die Verzweiflung sie überkam und den geringen Widerstandswillen, der noch in ihr übrig war, aushöhlte. Sie wollte nur noch die Hose zuknöpfen, in den Pick-up steigen und wieder einschlafen. Dennoch versuchte sie es noch ein weiteres Mal.

(Dan! Dan bitte!)

Und wartete auf ein Wunder.

Stattdessen hörte sie einen kurzen Hupton. Die Botschaft war klar: Die Zeit ist um.

Kapitel fünfzehn KLEIDERTAUSCH

1

Du wirst dich an das erinnern, was vergessen war.

Nach dem Hinterhalt am Wolkentor wurde Dan von diesem Satz verfolgt wie von einer irritierenden, sinnlosen Tonfolge, die einem in den Sinn kam und sich festsetzte, sodass man sie selbst dann unwillkürlich summte, wenn man mitten in der Nacht zur Toilette stolperte. Irritierend war zwar auch dieser Satz, aber nicht völlig sinnlos. Aus irgendeinem Grund brachte Dan ihn mit Tony in Verbindung.

Du wirst dich an das erinnern, was vergessen war.

Es war klar, dass keiner von ihnen den Winnebago des Wahren Knotens zu ihren Autos zurückfahren würde, die am Stadtpark vor dem Bahnhof Teenytown standen. Selbst wenn sie nicht gefürchtet hätten, beobachtet zu werden oder forensisch verwertbare Spuren zu hinterlassen, brauchten sie darüber gar nicht erst abzustimmen. Das Wohnmobil roch nicht nur nach Krankheit und Tod, es roch nach Unheil. Dan hatte noch einen anderen Grund. Er wusste nicht, ob die Mitglieder des Wahren Knotens als Geister wiederkehrten, und er wollte es auch nicht herausfinden.

Sie warfen die leeren Kleidungsstücke und die Injektionsspritzen daher in den Saco, wo all das, was nicht versank, weiter flussabwärts nach Maine treiben würde, und fuhren alle auf die gleiche Weise zurück, wie sie gekommen waren, in der Helen Rivington.

David Stone ließ sich auf den Schaffnersitz fallen, sah, dass Dan immer noch Abras Stoffhasen hielt, und streckte die Hand danach aus. Als Dan ihm Hoppy bereitwillig überreichte, sah er, was Abras Vater in der anderen Hand hielt: sein Blackberry.

»Was haben Sie damit vor?«

Dave blickte auf den Wald, der an beiden Seiten der Schmalspurgleise vorbeizog, dann sah er Dan an. »Sobald wir irgendwohin kommen, wo ich Empfang habe, rufe ich bei den Deanes an. Falls sich da niemand meldet, kontaktiere ich die Polizei. Und falls sich jemand meldet, und Emma oder ihre Mutter sagen mir, dass Abra verschwunden ist, kontaktiere ich ebenfalls die Polizei. Falls die Deanes das nicht schon getan haben.« Sein Blick war kühl, abschätzend und alles andere als freundlich, aber wenigstens hielt er seine – sicher entsetzliche – Furcht um seine Tochter in Schach, und das flößte Dan Respekt ein. Außerdem konnte man dadurch vernünftiger mit ihm reden.

»Für das, was geschehen ist, mache ich Sie verantwortlich, Mr. Torrance. Es war Ihr Plan. Ihr irrwitziger Plan.«

Sinnlos, darauf hinzuweisen, dass sie diesem irrwitzigen Plan alle zugestimmt hatten. Oder dass ihm und John wegen Abras fortgesetztem Schweigen fast so übel war wir ihrem Vater. Im Grunde hatte er recht.

Du wirst dich an das erinnern, was vergessen war.

War das eine weitere Erinnerung an das Overlook? Er hatte ganz den Eindruck. Aber weshalb kam sie jetzt? Weshalb an diesem Ort?

»Dave, man hat sie entführt, das ist so gut wie sicher.« Das war John Dalton. Er hatte sich in den Wagen direkt hinter ihnen gesetzt. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne drangen durch die Bäume und spielten flackernd über sein Gesicht. »Wenn das der Fall ist und du die Polizei informierst, was wird da wohl mit Abra geschehen?«

Gott sei Dank, dachte Dan. Wenn das von mir gekommen wäre, hätte er mir wohl kaum zugehört. Im Grunde bin ich für ihn nämlich ein Fremder, der sich heimlich mit seiner Tochter getroffen hat. Er wird nie völlig davon überzeugt sein, dass ich sie nicht in diese Sache reingeritten habe.

»Was können wir denn sonst tun?«, sagte Dave, und dann stürzte seine brüchige Ruhe in sich zusammen. Er weinte los und drückte sich dabei Abras Stoffhasen ans Gesicht. »Was soll ich bloß meiner Frau sagen? Dass ich damit beschäftigt war, am Wolkentor irgendwelche Leute abzuknallen, während jemand unsere Tochter entführt hat?«

»Alles der Reihe nach«, sagte Dan. Bekannte AA-Slogans wie Jede dunkle Nacht hat ein helles Ende oder Es gibt eine Lösung wären bei Abras Vater jetzt wohl nicht so gut angekommen. »Sie sollten tatsächlich bei den Deanes anrufen, sobald Sie Empfang haben. Ich glaube, Sie werden Emma und ihre Mutter erreichen, und denen wird nichts geschehen sein.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Bei meiner letzten Verbindung mit Abra habe ich ihr gesagt, dass sie die Mutter ihrer Freundin dazu bringen soll, die Polizei zu rufen.«

Dave blinzelte. »Das haben Sie wirklich getan? Oder sagen Sie das bloß, um sich aus der Patsche zu ziehen?«

»Ich habe es ihr wirklich gesagt. Abra hat auch angefangen zu antworten. ›Ich bin nicht mehr‹, hat sie gesagt, und dann hab ich sie verloren. Aber ich glaube, sie wollte mir sagen, dass sie nicht mehr bei den Deanes war.«

»Ist sie noch am Leben?« Mit einer Hand, die eiskalt war, packte Dave ihn am Ellbogen. »Ist meine Tochter noch am Leben?«

»Ich habe seither nichts von ihr gehört, aber am Leben ist sie bestimmt.«

»Was sollten Sie sonst auch sagen«, flüsterte Dave. »Immer schön den eigenen Arsch retten, was?«

Dan verschluckte seine Erwiderung. Wenn sie jetzt zu streiten anfingen, war die kleine Chance, Abra zu befreien, im Nu vertan.

»Es liegt doch nahe«, sagte John. Obwohl er noch bleich war und seine Hände leicht zitterten, sprach er mit seiner ruhigen Arztstimme. »Tot nützt sie dem, der sie entführt hat, nicht das Geringste. Lebendig ist sie eine Geisel. Außerdem wollen die sie lebendig haben, weil … tja …«

»Sie wollen sie wegen ihrer Essenz«, sagte Dan. »Wegen dem, was sie Steam nennen.«

»Noch etwas«, sagte John. »Was willst du der Polizei über die Leute sagen, die wir umgebracht haben? Dass sie abwechselnd sichtbar und unsichtbar wurden, bis sie schließlich vollständig verschwunden sind? Und dass wir dann entsorgt haben, was von ihnen übrig war?«

»Ich kann kaum glauben, dass ich mich da hab reinziehen lassen.« Dave drehte den Stoffhasen mit beiden Händen ständig hin und her. Wenn das so weiterging, platzte Hoppys Fell bald auf, und die Füllung quoll heraus. Dan wusste nicht recht, ob er den Anblick ertragen hätte.

»Hör mal, Dave«, sagte John. »Um deiner Tochter willen musst du dich jetzt zusammennehmen. Abra steckt in dieser Sache drin, seit sie das Foto von dem toten Jungen im Shopper gesehen und versucht hat, mehr über ihn herauszufinden. Sobald diese Frau mit dem Hut, wie Abra sie nennt, über sie Bescheid wusste, war sie in großer Gefahr. Ich weiß zwar nicht, was dieser Steam ist, und ich weiß nur sehr wenig über das, was Dan Shining nennt, aber ich weiß, dass Leute wie die, mit denen wir es zu tun haben, keine Zeugen hinterlassen. Und was den Jungen in Iowa angeht, ist deine Tochter genau das – eine Zeugin.«

»Rufen Sie bei den Deanes an, aber verraten Sie denen nichts Konkretes«, sagte Dan.

»Nichts Konkretes? Nichts Konkretes?« Er wirkte wie jemand, der ein schwieriges schwedisches Wort aussprechen wollte.

»Sagen Sie einfach, Sie wollen Abra fragen, ob Sie auf dem Heimweg noch was einkaufen sollen – Brot oder Milch oder so was. Wenn man Ihnen sagt, dass sie schon nach Hause gegangen ist, sagen Sie nur: Gut, dann rufe ich sie da an.«

»Und dann?«

Das wusste Dan auch nicht. Er wusste nur, dass er nachdenken musste. Er musste über das nachdenken, was vergessen war.

John wusste eine Antwort. »Dann versuchst du, Billy Freeman zu erreichen.«

Es dämmerte, und der Scheinwerfer der Riv warf bereits einen deutlich sichtbaren Kegel auf den Schienenstrang, als die ersehnten Balken auf dem Display von Daves Handy auftauchten. Er wählte die Nummer der Deanes. Während des Gesprächs rannen Schweißtropfen an seinem Gesicht herab, und er umklammerte den inzwischen deformierten Hoppy wie mit einem Schraubstock, aber Dan fand, dass er seine Sache recht gut machte. Ob Abby kurz ans Telefon kommen und ihm sagen könne, ob sie noch etwas vom Supermarkt brauchten? Ach? Tatsächlich? Dann werde er es zu Hause probieren. Er lauschte noch einen Moment, sagte, das werde er bestimmt tun, und beendete den Anruf. Mit Augen, die wie weiß geränderte Löcher aussahen, blickte er Dan an.

»Mrs. Deane hat gesagt, ich soll Abra fragen, wie es ihr geht. Bevor sie nach Hause gegangen ist, hat sie offenbar über Menstruationskrämpfe geklagt.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich wusste nicht mal, dass sie schon die Periode hat. Lucy hat es mir nicht erzählt.«

»Manches müssen Väter eben nicht unbedingt wissen«, sagte John. »Versuch es doch jetzt mal bei Billy.«

»Ich weiß seine Nummer doch gar nicht.« Dave stieß ein kurzes, abgehacktes Lachen aus. »Wir sind vielleicht ein trauriger Haufen!«

Dan wusste die Nummer auswendig und sagte sie auf. Vor ihnen lichtete sich der Wald, und man sah das Funkeln der Lampen an der Hauptstraße von Frazier.

Dave wählte und lauschte. Er ließ das Telefon eine Weile am Ohr, dann beendete er den Anruf. »Die Mailbox.«

Die drei Männer schwiegen, während die Riv den Wald verließ und die letzten zwei Meilen bis Teenytown in Angriff nahm. Dan versuchte erneut, Abra zu erreichen. Obwohl er alle Energie, die er aufbrachte, in seine mentale Stimme legte, erhielt er keine Antwort. Wahrscheinlich hatte der Mann, den sie als Crow bezeichnete, sie irgendwie ausgeknockt. Die drei im Winnebago hatten Injektionsspritzen dabeigehabt. Wahrscheinlich hatte Crow auch welche dabei.

Du wirst dich an das erinnern, was vergessen war.

Der Ursprung dieses Gedankens lag weit hinten in seinem Kopf, wo er die Schließfächer mit den furchtbaren Erinnerungen an das Overlook und die darin hausenden Geister verwahrte.

»Es war der Kessel.«

Vom Schaffnersitz aus starrte Dave ihn an. »Was?«

»Nichts.«

Die Heizungsanlage des Overlooks war uralt gewesen. Deshalb musste der Dampfdruck in regelmäßigem Abstand gesenkt werden, sonst stieg er so stark an, dass der Kessel explodieren und das gesamte Hotel in die Luft sprengen konnte. Als Jack Torrance immer tiefer im Wahnsinn versunken war, hatte er das vergessen, aber sein kleiner Sohn war gewarnt worden. Von Tony.

War dies wieder eine Warnung oder nur eine peinigende Erinnerung, hervorgerufen durch Stress und Schuldgefühle? Schuldig fühlte Dan sich nämlich allemal. Abra wäre zwar in jedem Fall ins Fadenkreuz des Wahren Knotens geraten, da hatte John schon recht, aber solche rationalen Schlussfolgerungen hatten keinerlei Auswirkungen auf Dans Gefühle. Es war sein Plan gewesen, der Plan war fehlgeschlagen, und deshalb war er verantwortlich.

Du wirst dich an das erinnern, was vergessen war.

War das die Stimme seines alten Freundes, die versuchte, ihm etwas über die derzeitige Lage mitzuteilen, oder war es nur das Grammophon?

2

Dave und John fuhren gemeinsam zum Haus der Stones zurück. Dan, der in seinem Wagen folgte, war froh, mit seinen Gedanken allein zu sein. Es brachte allerdings nicht viel. Er war sich ziemlich sicher, dass da etwas war, etwas Reales, aber es kam einfach nicht zum Vorschein. Er versuchte sogar, Tony zu rufen, was er seit seiner Jugend nicht mehr getan hatte. Aber auch damit erreichte er nicht das Geringste.

Billys Pick-up stand nicht mehr am Richland Court. Das wunderte Dan nicht. Der Stoßtrupp des Wahren Knotens war offenbar gemeinsam mit dem Winnebago gekommen. Wenn man Crow in Anniston abgesetzt hatte, dann war er zu Fuß gewesen und hatte ein Fahrzeug gebraucht.

Die Garage stand offen. Noch bevor Johns Wagen ganz zum Stehen gekommen war, sprang Dave heraus und rannte – Abras Namen rufend – hinein. Von den Scheinwerfern von Johns Suburban in grelles Licht getaucht wie ein Schauspieler auf der Bühne, hob er etwas vom Boden auf und stieß einen Laut aus, der ein Mittelding zwischen Stöhnen und Schrei war. Als Dan neben dem SUV stoppte, sah er, was es war: Abras Rucksack.

In diesem Augenblick stieg ein Verlangen nach Alkohol in Dan auf, noch stärker als an dem Abend, an dem er John vom Parkplatz der Cowboy-Kneipe aus angerufen hatte, stärker als in all den Jahren, seit er bei seinem ersten AA-Treffen einen weißen Chip bekommen hatte. Er spürte den Drang, seinen Wagen einfach zurückzustoßen, ohne auf etwaige Rufe der anderen zu achten, und nach Frazier zu fahren. Dort gab es eine Kneipe namens Bull Moose. Er war schon oft daran vorbeigefahren und hatte dabei immer die typischen Spekulationen eines früheren Säufers angestellt: Wie es da drin wohl aussah? Welche Sorte Bier gab’s vom Fass? Was für Musik lief in der Jukebox? Was für Whiskey stand auf dem Regal hinter dem Tresen, und was war die Hausmarke? Waren irgendwelche gut aussehenden Frauen da? Und wie würde wohl der erste Schluck schmecken? Hätte man dabei das Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein? Er konnte zumindest einige dieser Fragen klären, bevor Dave Stone die Polizei rief und man ihn verhaftete, um ihn über ein gewisses verschwundenes Mädchen zu befragen.

Irgendwann wird eine Zeit kommen, hatte Casey ihm in den ersten, dramatischen Tagen gesagt, in der deine mentalen Schutzmaßnahmen versagen, und dann wird deine höhere Macht das Einzige sein, was noch zwischen dir und einem Glas Schnaps steht.

Mit der Vorstellung einer höheren Macht hatte Dan keine Probleme, weil er über ein paar Insiderinformationen verfügte. Gott blieb zwar eine unbewiesene Hypothese, aber Dan wusste, dass es tatsächlich eine andere Ebene der Existenz gab. Wie Abra hatte Dan die Geisterleute gesehen. Daher lag Gott durchaus im Bereich des Möglichen. Angesichts der kurzen Blicke, die Dan in die Welt jenseits der Welt geworfen hatte, fand Dan dessen Existenz sogar wahrscheinlich … allerdings: Welche Art Gott saß einfach daneben, während sich ein solcher Scheiß ereignete?

Als ob du der Erste wärst, der diese Frage stellt, dachte er.

Casey Kingsley hatte ihn aufgefordert, sich zweimal am Tag auf den Boden zu knien, um morgens um Hilfe zu bitten und abends danke zu sagen. Das sind die ersten drei Schritte: Ich kann nicht, Gott kann, überlass es ihm! Denk nicht zu viel darüber nach.

Neulingen, die zögerten, diesen Rat anzunehmen, erzählte Casey gern eine Geschichte über den Filmregisseur John Waters. In Pink Flamingos, einem von dessen frühen Filmen, hatte Divine, Dragqueen und Hauptdarsteller, ein Stück Hundekot gegessen. Noch Jahre später löcherte man Waters wegen diesem glorreichen Moment der Filmgeschichte. Schließlich hatte er genug. »Es war bloß ein kleines Stück Hundescheiße«, sagte er zu einem Reporter. »Und trotzdem hat es Divine zum Star gemacht.«

Knie dich deshalb hin und bitte um Hilfe, auch wenn es dir nicht passt, endete Casey immer. Schließlich ist es bloß ein kleines Stück Hundescheiße.

Am Lenkrad seines Wagens konnte Dan sich nicht gut hinknien, aber abgesehen davon nahm er die automatische Standardhaltung seines morgendlichen und abendlichen Gebets an. Er schloss die Augen und presste sich eine Hand an die Lippen, als wollte er jedes Tröpfchen des verführerischen Gifts fernhalten, das zwanzig Jahre seines Lebens verwüstet hatte.

Gott, hilf mir, nicht zu tri…

Er kam nur so weit, bis das Licht durchbrach.

Es war, was Dave Stone auf dem Weg zum Wolkentor gesagt hatte. Es war Abras zorniges Lächeln (er fragte sich, ob Crow dieses Lächeln wohl schon gesehen und – falls ja – wie er es interpretiert hatte). Vor allem aber war es das Gefühl seiner eigenen Haut, seiner Lippen, die sich an die Zähne pressten.

»Um Himmels willen«, flüsterte er. Als er aus dem Wagen stieg, gaben seine Beine nach. Dadurch sank er nun doch noch auf die Knie, erhob jedoch sofort wieder und lief in die Garage, wo die beiden anderen dastanden und auf Abras verlassenen Rucksack starrten.

Dan packte Dave Stone an der Schulter. »Rufen Sie Ihre Frau an. Sagen Sie ihr, dass Sie sie besuchen kommen.«

»Dann wird sie wissen wollen, worum es geht«, sagte Dave. Sein zitternder Mund und sein gesenkter Blick verrieten, wie sehr er sich vor diesem Gespräch fürchtete. »Sie übernachtet in Chettas Wohnung. Ich erzähle ihr … Mensch, ich hab keine Ahnung, was ich ihr erzählen soll!«

Dan verstärkte den Griff um Daves Schulter, bis dieser den Blick hob und ihn ansah. »Wir fahren alle gemeinsam nach Boston, aber John und ich haben dort etwas anderes zu erledigen.«

»Etwas anderes? Ich verstehe nicht.«

Dan verstand. Nicht alles, aber viel.

3

Sie nahmen Johns Suburban. Dave saß auf dem Beifahrersitz, Dan lag hinten, den Kopf auf einer Armlehne, die Füße auf dem Boden.

»Lucy hat ständig versucht, mir aus der Nase zu ziehen, worum es geht«, sagte Dave. »Sie hat gesagt, ich mache ihr Angst. Und natürlich dachte sie, dass es um Abra geht, weil sie ein bisschen von deren Gabe besitzt. Das hab ich schon immer gewusst. Ich hab ihr gesagt, Abby würde bei Emma übernachten. Wisst ihr, wie oft ich meine Frau angelogen habe, seit wir verheiratet sind? Das könnte ich an einer Hand abzählen, und in drei Fällen ging es darum, wie viel ich bei den Pokerrunden verloren habe, die der Dekan meiner Fakultät immer am Donnerstagabend veranstaltet. So was wie jetzt hab ich noch nie getan. Und in kaum drei Stunden werde ich damit konfrontiert.«

Natürlich wussten Dan und John, was Dave über Abra erzählt hatte und wie aufgebracht Lucy gewesen war, weil ihr Mann beharrlich behauptet hatte, die Angelegenheit sei zu wichtig und zu komplex, um am Telefon darüber zu sprechen. Schließlich waren sie beide während des Anrufs in der Küche gewesen. Aber Dave musste sich aussprechen. Das, was er empfand, mit den anderen teilen, wie es im AA-Jargon hieß. John kümmerte sich um die nötige Rückmeldung, indem er Dinge wie Mhm und Ich weiß und Versteh ich sagte.

Irgendwann brach Dave mitten im Satz ab und drehte sich zum Rücksitz um. »Sagen Sie mal, schlafen Sie etwa gerade?«

»Nein«, sagte Dan, ohne die Augen zu öffnen. »Ich versuche, Kontakt zu Ihrer Tochter aufzunehmen.«

Das setzte Daves Monolog ein Ende. Nun hörte man nur noch das Summen der Reifen, während der Suburban auf der Route 16 durch eine Reihe kleiner Städte nach Süden fuhr. Es herrschte nicht viel Verkehr, und sobald aus den zwei Fahrspuren vier wurden, hielt John die Tachonadel kontinuierlich auf sechzig Meilen.

Dan bemühte sich nicht, Abra zu rufen; er war sich nicht sicher, ob das überhaupt funktioniert hätte. Stattdessen versuchte er, seine Gedanken voll und ganz zu öffnen. Sich in einen Horchposten zu verwandeln. So etwas hatte er noch nie versucht, und das Ergebnis war regelrecht unheimlich. Es war, als hätte er den stärksten Kopfhörer der Welt aufgesetzt. Er hörte ein stetes, leises Rauschen und hatte den Eindruck, dass es sich um das Summen menschlicher Gedanken handelte. Er hielt sich bereit, irgendwo in dieser kontinuierlich wogenden Brandung Abras Stimme zu hören, obwohl er es eigentlich nicht erwartete. Aber was konnte er sonst tun?

Kurz nachdem sie die erste Mautstelle auf dem Spaulding Turnpike passiert hatten und nur noch sechzig Meilen von Boston entfernt waren, fing er sie endlich auf.

(Dan)

Leise. Kaum vorhanden. Zuerst hielt er es für reine Einbildung – für Wunschdenken –, aber er drehte sich trotzdem in die Richtung, aus der es kam, und versuchte, seine Konzentration zu einem Suchscheinwerfer zu verengen. Da kam es wieder, diesmal etwas lauter. Es war real. Es war Abra.

(Dan! Dan bitte!)

Wie erwartet, stand sie unter Drogen, und er hatte noch nie auch nur annähernd etwas versucht wie das, was nun geschehen musste … aber Abra kannte sich darin aus. Sie musste ihm zeigen, wie es ging, so umnebelt sie auch war.

(Abra schieb an du musst mir helfen)

(womit helfen wie helfen)

(Kleider tauschen)

(???)

(hilf mir die Welt zu drehen)

4

Auf dem Beifahrersitz war Dave damit beschäftigt, vor der nächsten Mautstelle die in der Ablage der Mittelkonsole gesammelten Münzen zu sortieren, als Dan ihn von hinten ansprach. Nur war es eigentlich gar nicht Dan.

»Lassen Sie mir noch einen Moment Zeit, ich muss meinen Tampon wechseln!«

Der Wagen geriet leicht ins Schleudern, weil John sich mit einem Ruck aufsetzte und am Lenkrad riss. »Was soll das denn?«

Dave löste seinen Gurt, kniete sich auf den Sitz und drehte sich nach Dan um, der immer noch auf der Rückbank lag. Dessen Augenlider waren halb geschlossen, doch als Dave den Namen seiner Tochter sagte, gingen sie auf.

»Nein, Daddy, jetzt nicht, ich muss jetzt helfen … muss versuchen …« Dans Körper krümmte sich. Eine Hand hob sich, um den Mund zu reiben – eine Geste, die Dave unzählige Male gesehen hatte –, und sank wieder zurück. »Sag ihm, ich hab gesagt, er soll mich nicht so nennen. Sag ihm …«

Dans Kopf neigte sich zur Seite, bis er auf der Schulter zu liegen kam. Er stöhnte; seine Hände zuckten, ohne etwas zu ergreifen.

»Was geht da vor sich?«, rief John. »Was soll ich tun?«

»Keine Ahnung«, sagte Dave. Er griff zwischen den Sitzen durch, nahm eine der zuckenden Hände und hielt sie fest.

»Weiterfahren«, sagte Dan. »Einfach weiterfahren.«

Dann begann der Körper auf dem Rücksitz sich aufzubäumen und zu verdrehen. Mit Dans Stimme stieß Abra einen Schrei aus.

5

Er fand die Verbindung zu ihr, indem er dem trägen Strom ihrer Gedanken folgte. Er sah das steinerne Rad, weil Abra es sich vorstellte, aber sie war viel zu schwach und desorientiert, es zu drehen. Sie brauchte schon alle mentale Kraft, die sie aufbringen konnte, um ihr Ende der Verbindung offen zu halten. Damit er in ihre Gedanken gelangen konnte und sie in seine. Aber er war weiterhin hauptsächlich in Johns SUV, über dessen Dachhimmel das Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Wagen strich. Hell … dunkel … hell … dunkel.

Das Rad war so schwer.

Irgendwo hämmerte es plötzlich, begleitet von einer Stimme. »Komm raus da, Abra. Zeit ist um. Wir müssen weiter.«

Das machte ihr Angst, wodurch sie ein bisschen zusätzliche Kraft aufbrachte. Das Rad begann sich zu bewegen und zog ihn tiefer in die Nabelschnur, die sie verband. Es war das seltsamste Gefühl, das Dan in seinem ganzen Leben verspürt hatte, und es wirkte beglückend, so furchtbar die Lage auch war.

In der Ferne hörte er Abra sagen: »Lassen Sie mir noch einen Moment Zeit, ich muss meinen Tampon wechseln!«

Das Dach von Johns Wagen glitt davon. Es drehte sich weg. Dann herrschte Dunkelheit, das Gefühl, in einem Tunnel zu sein, und er hatte Zeit zu denken: Wenn ich mich hier drin verirre, werde ich nie wieder zurückfinden. Dann ende ich irgendwo in der Psychiatrie, Diagnose unheilbare Schizophrenie.

Aber dann nahm die Welt wieder Gestalt an, nur war es nicht mehr derselbe Ort. Der Suburban war verschwunden. Dan befand sich auf einmal in einer stinkenden Toilette mit schmutzigen blauen Fliesen und einem Schild neben dem Waschbecken: NUR KALTES WASSER. WIR BITTEN UM VERSTÄNDNIS. Er saß auf der Klobrille.

Bevor er daran denken konnte aufzustehen, flog die Tür so gewaltsam auf, dass einige der alten Fliesen zersprangen, und ein Mann schritt herein. Dem Augenschein nach war er etwa fünfunddreißig. Sein Haar war pechschwarz und aus der Stirn gekämmt, sein Gesicht kantig, aber von einer rauen, knochigen Schönheit. In einer Hand hielt er eine Pistole.

»Klar musst du deinen Tampon wechseln«, sagte er. »Woher hattest du denn einen frischen, Schätzchen, etwa aus deiner Hosentasche? Muss wohl so sein, denn dein Rucksack ist ganz woanders.«

(sag ihm ich hab gesagt er soll mich nicht so nennen)

»Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich nicht so nennen«, sagte Dan.

Crow schwieg und betrachtete das auf der Toilette sitzende Mädchen, das leicht hin und her schwankte. Das kam von der Droge. Klar. Aber wieso hörte die Stimme der Kleinen sich so komisch an? Lag das ebenfalls an der Droge?

»Was ist denn mit deiner Stimme los? Du klingst ja ganz anders als sonst?«

Dan versuchte, mit Abras Schultern zu zucken, was ihm jedoch nur mit einer gelangt. Crow packte Abras Arm und zerrte Dan auf Abras Beine. Das tat weh, und er schrie auf.

Irgendwo – viele Meilen entfernt – rief eine leise Stimme: Was geht da vor sich? Was soll ich tun?

»Weiterfahren«, sagte Dan zu John, während Crow ihn aus der Tür zog. »Einfach weiterfahren.«

»Klar, ich fahre weiter, darauf kannst du dich verlassen«, sagte Crow, während er Abra neben den schnarchenden Billy Freeman in den Pick-up stieß. Dann griff er sich ein Büschel von Abras Haaren, verdrehte es mit der Faust und zog. Dan schrie mit Abras Stimme, wohl wissend, dass es nicht ganz ihre Stimme war. Fast, aber nicht ganz. Crow hörte den Unterschied, wusste jedoch nicht recht, was er damit anfangen sollte. Die Frau mit dem Hut hätte es begriffen; schließlich war sie es gewesen, die Abra diesen mentalen Tauschtrick beigebracht hatte, ohne es zu wollen.

»Bevor wir losfahren, werden wir eine Abmachung treffen. Keine Lügen mehr, das ist die Abmachung. Wenn du deinen Daddy noch einmal anlügen solltest, dann ist der alte Knacker, der da neben dir schnarcht, nämlich mausetot. Dazu werde ich nicht mal die Spritze nehmen. Ich fahre auf einen Privatweg und schieße dem Kerl eine Kugel in den Bauch. Dann dauert es eine Weile, und du kannst zuhören, wie er schreit. Hast du mich verstanden?«

»Ja«, flüsterte Dan.

»Das hoffe ich, Kleine, denn ich wiederhole mich nicht gern, verdammt noch mal.«

Crow schlug die Tür zu und eilte auf die Fahrerseite. Dan schloss Abras Augen. Er dachte an die Löffel bei ihrer Geburtstagsparty. Und daran, wie sie Schubladen aufgezogen und zugeschlagen hatte. Körperlich war Abra zu schwach, als das sie sich gegen den Mann, der sich nun ans Lenkrad setzte und den Motor anließ, hätte wehren können, aber ein Teil von ihr war stark. Wenn er diesen Teil finden konnte … den Teil, der Löffel bewegt, Schubladen geöffnet und in der Luft Musik gespielt hatte … der aus der Entfernung Nachrichten auf seine Tafel geschrieben hatte … wenn er den finden und sich zu eigen machen konnte …

So wie Abra sich einmal als Kriegerin mit Lanze und Hengst gesehen hatte, stellte Dan sich nun eine Reihe von Schaltern an der Wand eines Kontrollraums vor. Mit einigen konnte man Abras Hände, mit anderen ihre Beine oder das Zucken ihrer Achseln betätigen. Noch wichtiger waren jedoch andere. Eigentlich musste er in der Lage sein, alle zu betätigen; er besaß zumindest teilweise dieselben Schaltkreise wie sie.

Der Pick-up bewegte sich, zuerst rückwärts, dann in einer Kurve. Wenig später waren sie wieder auf der Straße.

»Gut so«, sagte Crow grimmig. »Schlaf nur ein. Was zum Teufel hattest du da drin eigentlich vor? Wolltest du in die Kloschüssel springen und dich nach Hause spü…«

Seine Worte verklangen, denn da waren die Schalter, nach denen Dan gesucht hatte. Die speziellen Schalter, die mit den roten Handgriffen. Er wusste nicht, ob sie tatsächlich vorhanden und mit Abras Kräften verbunden waren oder ob er nur eine mentale Solitärpartie spielte. Er wusste nur, dass er es versuchen musste.

Volle Kraft voraus, dachte er und zog sie alle gleichzeitig.

6

Billy Freemans Pick-up rollte sechs bis acht Meilen westlich der Tankstelle auf der 108 durch die dunkle Landschaft von Vermont, als Crow den Schmerz zum ersten Mal spürte. Es fühlte sich an wie ein kleiner Silberring rund um sein linkes Auge, kalt und drückend. Crow hob die Hand, um die Empfindung zu berühren, doch bevor ihm das gelang, verschob sie sich nach rechts und ließ seinen Nasenrücken erstarren, als hätte man dort Novocain injiziert. Dann umschloss ein zweiter Ring auch noch sein anderes Auge. Es war wie ein kleines Fernglas aus Metall.

Oder wie Augenschellen.

Nun begann es in seinem linken Ohr zu klingeln, und plötzlich war seine linke Wange taub. Er drehte den Kopf und sah, dass das Mädchen ihn anblickte. Abras geweitete Augen wirkten wach. Sie sahen überhaupt nicht benebelt aus. Genauer gesagt sahen sie nicht einmal wie ihre eigenen Augen aus, sondern älter. Klüger. Und so kalt, wie sein Gesicht sich jetzt anfühlte.

(anhalten)

Crow hatte die Spritze mit ihrer Kappe gesichert und weggelegt, aber die Pistole, die er unter dem Sitz hervorgeholt hatte, als Abra zu lange auf dem Klo geblieben war, lag auf seinem Schoß. Er ergriff sie und hob sie, um den alten Knacker zu bedrohen und Abra dazu zu zwingen, mit diesen Spielchen aufzuhören, aber ganz plötzlich fühlte seine Hand sich an, als hätte er sie in eiskaltes Wasser gesteckt. Außerdem wurde die Pistole immer schwerer: zwei Kilo, vier Kilo, gefühlte zehn Kilo. Mindestens zehn. Und während er sich noch abmühte, sie zu heben, hob sich sein rechter Fuß vom Gaspedal, und seine linke Hand drehte das Lenkrad so, dass der Pick-up von der Straße abkam und, während er allmählich langsamer wurde, über den breiten Seitenstreifen holperte. Die rechten Räder näherten sich schon dem Graben.

»Was machst du da mit mir?«

»Was du verdienst. Daddy.«

Der Pick-up kollidierte mit einem umgestürzten Birkenstamm, zerlegte ihn in zwei Teile und blieb stehen. Das Mädchen und der Alte waren angeschnallt, aber Crow hatte seinen Gurt vergessen. Er prallte vorwärts ans Lenkrad, wodurch er ungewollt die Hupe betätigte. Als er den Blick senkte, sah er, dass die Pistole des Alten sich in seiner Faust drehte. Ganz langsam drehte sie sich auf ihn zu. So etwas hätte eigentlich nicht geschehen dürfen; die Droge hätte es verhindern sollen. Verdammt, die Droge hatte es ja auch verhindert. Aber vorhin, in der Toilette, hatte sich etwas verändert. Wer immer jetzt hinter diesen Augen steckte, war bei völlig klarem Verstand.

Und furchtbar stark.

Rose! Rose, hilf mir!

»Ich glaube nicht, dass sie dich hören kann«, sagte die Stimme, die nicht Abra gehörte. »Gewisse Gaben magst du ja haben, du Bastard, aber was Telepathie angeht, bringst du offenbar nicht viel zustande. Wenn du mit deiner Freundin sprechen willst, musst du wohl das Telefon nehmen.«

Mit aller Kraft versuchte Crow die Pistole wieder in die andere Richtung zu drehen. Nun schien sie zwanzig Kilo zu wiegen. Seine Halssehnen strafften sich wie Kabel. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen, von denen ihm einer ins Auge rann. Das brannte, aber Crow blinzelte es weg.

»Ich … erschieße … deinen Freund da«, sagte er.

»Nein«, sagte die Person im Innern von Abra. »Das lasse ich nicht zu.«

Aber Crow merkte, dass der andere sich nun anstrengen musste, und das machte ihm Hoffnung. Er steckte alles, was ihm zu Gebote stand, in den Versuch, die Mündung der Pistole auf den Bauch des Alten zu richten, und hatte es schon fast geschafft, als die Waffe sich wieder in die andere Richtung zu drehen begann. Nun konnte er das kleine Miststück keuchen hören. Verdammt, er keuchte ebenfalls. Es hörte sich an wie zwei Marathonläufer, die sich nebeneinander der Ziellinie näherten.

Ein Wagen fuhr vorbei, ohne abzubremsen. Keiner der beiden bemerkte es. Sie blickten sich unverwandt an.

Crow senkte die linke Hand, um die rechte zu fassen und zu unterstützen. Jetzt ließ die Pistole sich wieder etwas leichter drehen. Er würde sich durchsetzen, bei Gott. Aber seine Augen! Aaah!

»Billy!«, rief Abra. »Billy, du musst uns helfen!«

Billy schnaubte. Er öffnete die Augen. »Was war …«

Einen Moment lang war Crow abgelenkt. Die Kraft, die er ausübte, ließ nach, worauf die Waffe sich sofort wieder auf ihn zudrehte. Seine Hände waren kalt, eiskalt. Außerdem pressten die Metallringe sich auf seine Augen und drohten, diese in Gelee zu verwandeln.

Der erste Schuss löste sich, als die Pistole gerade in der Mitte war. Knapp über dem Radio blies er ein Loch ins Armaturenbrett. Abrupt kam Billy zu sich. Er schlug mit den Armen um sich wie jemand, der aus einem Albtraum erwachte. Mit einer Hand traf er Abra an der Schläfe, die andere prallte Crow an die Brust. Die Kabine war von blauem Dunst und dem Gestank von verbranntem Schießpulver erfüllt.

»Was war das? Was zum Teufel war …«

»Nein!«, knurrte Crow. »Nein, du Aas! Nein!«

Er drehte die Waffe wieder nach rechts, und während er das tat, spürte er, wie Abra allmählich die Kontrolle verlor. Das musste der Schlag an ihren Kopf gewesen sein. Crow sah Bestürzung und Furcht in ihren Augen und spürte eine wilde Freude.

Muss sie töten. Darf ihr keine weitere Chance geben. Aber kein Kopfschuss. In den Bauch. Dann sauge ich den Steam …

Billy rammte Crow seine Schulter in die Seite. Die Waffe zuckte nach oben und ging zum zweiten Mal los. Diesmal schlug das Geschoss direkt über Abras Kopf ein Loch ins Dach. Bevor Crow die Waffe wieder tiefer richten konnte, legten sich riesenhafte Hände auf seine. Er hatte noch Zeit für die Erkenntnis, dass sein Gegner bisher nur einen Bruchteil der Kraft verwendet hatte, die ihm zur Verfügung stand. Durch die Panik hatte sich ihm eine große, vielleicht sogar unermessliche Reserve erschlossen. Als die Pistole sich diesmal auf ihn zudrehte, brachen Crows Handgelenke wie morsches Holz. Einen Moment lang sah er, wie ihn ein einzelnes schwarzes Auge anstarrte, und es war Zeit für einen halben Gedanken:

(Rose ich liebe d…)

Ein greller weißer Blitz, dann Dunkelheit. Vier Sekunden später war nichts mehr von Crow Daddy übrig als seine Klamotten.

7

Steamhead Steve, Baba the Red, Bent Dick und Greedy G spielten in dem Bounder, den Greedy und Dirty Phil sich teilten, unkonzentriert Canasta, als die Schreie ertönten. Da die vier extrem nervös waren – was momentan auf den ganzen Wahren Knoten zutraf –, ließen sie sofort ihre Karten fallen und stürzten zur Tür.

Alle kamen aus ihren Wohnwagen, um nachzusehen, was los war, erstarrten jedoch bei dem Anblick von Rose the Hat, die im strahlend hellen, gelbweißen Licht der rund um die Overlook Lodge angebrachten Strahler stand. Rose’ Augen stierten wild umher, während sie wie eine alttestamentarische Prophetin, die von einer gewaltsamen Vision ergriffen war, an ihren Haaren zerrte.

»Dieses verfluchte Aas hat meinen Crow getötet!«, kreischte sie. »Ich bringe sie um! ICH BRINGE SIE UM UND VERSCHLINGE IHR HERZ!«

Dann sank sie auf die Knie, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte.

Betäubt stand der Wahre Knoten da. Niemand wusste, was er sagen oder tun sollte. Schließlich trat Silent Sarey zu Rose, wurde von ihr jedoch rüde weggestoßen. Sarey landete auf dem Rücken, stand auf und ging zu Rose zurück, ohne zu zögern. Diesmal hob Rose den Kopf und sah, wer sie trösten wollte: eine Frau, die in dieser unfassbaren Nacht ebenfalls einen schweren Verlust erlitten hatte. Sie umarmte Sarey und drückte sie so fest an sich, dass die anderen Knochen knacken hörten. Aber Sarey wehrte sich nicht, und nach einigen Augenblicken halfen die beiden Frauen sich gegenseitig auf die Beine. Rose blickte von Sarey auf Big Mo, dann auf Heavy Mary und Token Charlie. Es war, als hätte sie ihre Gefährten noch nie gesehen.

»Komm, Rosie«, sagte Mo. »Das war ein schlimmer Schock. Du musst dich hinlegen und …«

»NEIN!«

Sie trat von Silent Sarey weg und klatschte sich die Hände an die Wangen. Der heftige Doppelschlag stieß ihr den Hut vom Kopf. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, und als sie den Blick über die versammelten Wahren schweifen ließ, stand wieder etwas Vernunft in ihren Augen. Sie dachte an Diesel-Doug, Dirty Phil und Apron Annie, die sie ausgeschickt hatte, um Crow Daddy entgegenzufahren.

»Ich muss mit Diesel sprechen. Ihm sagen, dass er und die anderen umkehren sollen. Wir müssen jetzt alle zusammen sein. Wir müssen Steam nehmen. Eine Menge. Sobald wir voll davon sind, werden wir uns dieses Miststück holen

Die anderen sahen sie nur mit besorgter, unsicherer Miene an. Der Anblick all dieser furchtsamen Augen und dämlich gaffenden Münder machte Rose wütend.

»Habt ihr etwa Zweifel an mir?« Silent Sarey hatte sich wieder neben sie geschlichen. Rose stieß sie so heftig weg, dass Sarey fast zum zweiten Mal zu Boden gegangen wäre. »Wer Zweifel an mir hat, der trete vor!«

»Niemand hat Zweifel an dir, Rose«, sagte Steamhead Steve. »Aber vielleicht sollten wir trotzdem die Finger von diesem Mädchen lassen.« Er sprach mit Bedacht und schaffte es nicht ganz, Rose in die Augen zu blicken. »Wenn Crow tatsächlich hinüber ist, dann sind es jetzt schon fünf Tote. Wir haben noch nie fünf Leute an einem Tag verloren. Nicht mal in …«

Rose machte einen Schritt vorwärts, worauf Steve sofort zurückwich und die Schultern wie ein Kind, das eine Ohrfeige erwartete, bis zu den Ohren hochzog. »Wollt ihr etwa vor einem Mädchen wegrennen? Nach all den Jahren wollt ihr den Schwanz einziehen und vor einem Tölpel Reißaus nehmen?«

Niemand traute sich, etwas zu erwidern, Steve am allerwenigsten, aber in den Augen ihrer Gefährten sah Rose die Wahrheit. Sie wollten klein beigeben. Das wollten sie tatsächlich. Sie hatten viele gute Jahre hinter sich. Fette Jahre. Jahre, in denen sie leichte Beute gemacht hatten. Nun waren sie auf jemand gestoßen, der nicht nur außergewöhnlich viel Steam hatte, sondern auch wusste, wer sie waren und was sie taten. Statt Crow Daddy – der sie gemeinsam mit Rose durch gute und schlechte Zeiten geführt hatte – zu rächen, wollten sie den Schwanz einziehen und sich jaulend davonschleichen. In diesem Augenblick wollte Rose sie am liebsten alle umbringen. Das spürten sie und wichen weiter zurück, um ihr mehr Platz zu lassen.

Alle außer Silent Sarey, die Rose wie hypnotisiert anstarrte. Ihr Mund stand sperrangelweit offen. Rose packte sie an den dürren Schultern.

»Nein, Rosie!«, kreischte Mo. »Tu ihr nicht weh!«

»Wie steht’s mit dir, Sarey? Dieses Mädchen ist für den Mord an der Frau verantwortlich, die du geliebt hast. Willst du da auch die Flucht ergreifen?«

»Nee«, sagte Sarey. Sie sah Rose direkt in die Augen. Selbst jetzt, da alle sie beobachteten, war Sarey kaum mehr als ein Schatten.

»Willst du es diesem Aas heimzahlen?«

»Lawoll«, sagte Sarey. Und dann: »Lache.«

Sie hatte eine leise Stimme (fast eine Stimme, die keine war) und einen Sprachfehler, aber alle hörten sie, und alle wussten, was sie sagte.

Rose sah sich um. »Wer von euch nicht will, was Sarey will, wer sich bloß auf den Bauch schmeißen und davonkriechen will …«

Sie drehte sich zu Big Mo um und packte deren schwabbeligen Arm. Vor Furcht und Überraschung kreischte Mo auf und versuchte, sich ihr zu entziehen. Rose hielt den Arm fest und hob ihn an, damit die anderen ihn sehen konnten. Er war mit roten Flecken bedeckt. »Könnt ihr wirklich vor dem da wegkriechen?«

Murmelnd wichen die anderen ein oder zwei Schritte weiter zurück.

»Es ist in uns«, sagte Rose.

»Die meisten von uns sind gesund!«, rief Sweet Terri Pickford. »Ich hab nichts! Nicht ein einziges Fleckchen!« Demonstrativ streckte sie ihre glatten Arme aus.

Rose richtete ihre brennenden, tränennassen Augen auf Terri. »Ja, jetzt. Aber wie lange noch?« Terri erwiderte nichts, wendete jedoch das Gesicht ab.

Rose legte den Arm um Silent Sarey und ließ den Blick über die anderen schweifen. »Walnut hat gesagt, dieses Mädchen ist vielleicht unsere einzige Chance, die Krankheit loszuwerden, bevor wir uns alle angesteckt haben. Weiß irgendjemand hier was Besseres? Falls ja, soll er es sagen!«

Niemand meldete sich.

»Wir werden warten, bis Diesel, Annie und Dirty Phil wieder da sind, dann nehmen wir Steam. So viel Steam wie noch nie. Wir werden die Flaschen leeren!«

Darauf reagierten die anderen mit überraschten Blicken und weiterem unruhigem Gemurmel. Ob die sie wohl für verrückt hielten? Sollten sie doch. Es waren nicht nur die Masern, die sich in den Wahren Knoten hineinfraßen, es war auch blanke Furcht, und das war wesentlich schlimmer.

»Wenn wir alle zusammen sind, werden wir einen Kreis bilden. Wir werden stark werden. Lodsam hanti, wir sind die Auserwählten – habt ihr das etwa vergessen? Sabbatha hanti, wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort. Sagt es mit mir zusammen.« Ihre Blicke bohrten sich in die anderen. »Sagt es!«

Sie sagten es, nachdem sie sich an den Händen genommen und einen Kreis gebildet hatten. Wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort. Ein Fünkchen Entschlossenheit trat in ihre Augen. Ein wenig Zuversicht. Schließlich waren die Flecke erst an etwa einem halben Dutzend aufgetreten, also war noch Zeit.

Rose und Silent Sarey gingen auf den Kreis zu. Terri und Baba ließen sich los, damit sich die beiden einreihen konnten, aber Rose führte Sarey in die Mitte. Im Licht der versetzt stehenden Strahler warfen die Gestalten der beiden Frauen mehrere Schatten, die wie die Speichen eines Rads aussahen. »Wenn wir stark sind – wenn wir wieder eins sind –, dann werden wir dieses Mädchen finden und ergreifen. Das sage ich euch als eure Anführerin. Und selbst wenn ihr Steam die Krankheit, die uns verzehrt, nicht heilt, wird es wenigstens das Ende dieses verfluchten …«

Da sprach das Mädchen im Innern ihres Kopfs. Das zornige Lächeln von Abra Stone konnte Rose zwar nicht sehen, aber sie spürte es.

(spar dir die Mühe zu mir zu kommen Rose)

8

Auf dem Rücksitz von John Daltons Suburban sprach Dan Torrance mit Abras Stimme vier klare Wörter.

»Ich komme zu dir.«

9

»Billy? Billy!«

Billy Freeman stierte das Mädchen an, das sich nicht so recht wie ein Mädchen anhörte. Erst sah er es doppelt, dann scharf, dann wieder doppelt. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Augenlider fühlten sich schwer an, und seine Gedanken schienen irgendwie zusammenzukleben. Er kapierte überhaupt nicht, was los war. Auf jeden Fall war es nicht mehr hell, und in Abras Straße waren sie definitiv auch nicht mehr. »Wer ballert da in der Gegend rum? Und wer hat mir ins Maul geschissen? Menschenskind!«

»Billy, du musst aufwachen. Du musst dich ans …«

Du musst dich ans Steuer setzen, hatte Dan sagen wollen, aber daraus wurde nichts. Vorläufig jedenfalls. Billys Augen gingen langsam zu, ein Augenlid langsamer als das andere. Dan rammte ihm Abras Ellbogen in die Rippen, wodurch er wieder wacher wurde. Zumindest momentan.

Scheinwerferlicht drang durch die Windschutzscheibe, als ein Fahrzeug sich aus der Gegenrichtung näherte. Dan hielt Abras Atem an, aber auch dieser Wagen fuhr vorbei, ohne abzubremsen. Vielleicht eine Frau, die allein unterwegs war, oder ein Vertreter, der eilig nach Hause wollte. Auf jeden Fall ein schlechter Samariter, und das war gut für sie, aber ein drittes Mal hatten sie womöglich nicht so viel Glück. Auf dem Land kümmerten die Leute sich im Allgemeinen umeinander. Ganz zu schweigen davon, dass sie neugierig waren.

»Bleib wach«, sagte er.

»Wer bist du?« Billy versuchte, sich auf das Mädchen zu konzentrieren, aber das war unmöglich. »Wie Abra hörst du dich nämlich überhaupt nicht an.«

»Das ist kompliziert. Konzentrier dich vorläufig bloß darauf, wach zu bleiben.«

Dan stieg aus und ging rund ums Heck zur Fahrertür, wobei er mehrmals stolperte. Ihre Beine, die bei ihrer ersten Begegnung so lang gewirkt hatten, waren einfach zu kurz. Er hoffte nur, dass die ganze Sache nicht so lange dauerte und er sich richtig an sie gewöhnen musste.

Auf dem Fahrersitz lag die Kleidung, die Crow getragen hatte. Seine Leinenschuhe standen auf der schmutzigen Fußmatte; die Socken hingen heraus. Alles an Blut und Gehirnmasse, was ihm auf T-Shirt und Jacke gespritzt war, war inzwischen verschwunden, hatte jedoch feuchte Flecke hinterlassen. Dan sammelte die Sachen ein und griff nach kurzer Überlegung auch nach der Pistole. Die hätte er zwar lieber behalten, aber wenn die Polizei den Wagen anhielt …

Das Bündel trug er vors Auto und verbarg es unter einem Haufen altem Laub. Dann ergriff er einen Teil des umgestürzten Birkenstamms, den der Wagen zerlegt hatte, und zerrte ihn über das Grab. Mit Abras Armen umzugehen war schwer, aber er schaffte es.

Er stellte fest, dass er nicht einfach in die Kabine steigen konnte; er musste sich am Lenkrad hochziehen. Und als er endlich am Lenkrad saß, reichten ihre Füße nicht bis zu den Pedalen. Scheiße.

Billy gab ein polterndes Schnarchen von sich, und Dan stieß ihm wieder den Ellbogen in die Rippen. Daraufhin machte Billy die Augen auf und sah sich um. »Wo sind wir? Hat dieser Kerl mich irgendwie schachmatt gesetzt?« Dann: »Ich glaube, ich muss wieder einschlafen.«

Während des erbitterten Kampfs um die Herrschaft über die Pistole war Crows ungeöffnete Fanta-Flasche auf den Boden gefallen. Dan beugte sich zur Seite, hob sie auf und hielt dann inne, Abras Hand schon an der Verschlusskappe. Er erinnerte sich daran, was geschah, wenn kohlensäurehaltige Getränke unsanft auf dem Boden aufschlugen. Von irgendwoher sagte Abra etwas zu ihm

(oje)

und sie lächelte, aber es war kein zorniges Lächeln. Das gefiel Dan.

10

Ihr dürft mich nicht einschlafen lassen, sagte die aus Dans Mund kommende Stimme, weshalb John die Ausfahrt zur Fox Run Mall nahm, wo er dann den Wagen vor dem Kaufhaus Kohl’s abstellte. Dann gingen er und Dave mit Dans Körper auf und ab, jeder auf einer Seite. Es war wie einen Besoffenen am Ende einer harten Nacht zwischen sich zu haben – ab und zu sank Dans Kopf auf die Brust und hob sich dann wieder ruckartig. Beide erkundigten sich abwechselnd bei ihrem Schützling, was geschehen sei, was jetzt gerade geschehe und wo es geschehe, aber Abra schüttelte nur Dans Kopf. »Crow hat mir was in die Hand gespritzt, bevor ich auf die Toilette gehen durfte. Der Rest ist total verschwommen. Und jetzt pst! Ich muss mich konzentrieren.«

Bei dem dritten großen Kreis, den sie um Johns Wagen machten, verzog Dans Mund sich zu einem Grinsen, und ein sehr abramäßiges Kichern kam heraus. Dave warf John am Körper ihres dahintaumelnden Schützlings vorbei einen fragenden Blick zu. John zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf.

»Oje«, sagte Abra. »Fanta.«

11

Dan neigte die Flasche und schraubte die Kappe ab. Mit Hochdruck schoss ein orangefarbener Schwall heraus und traf Billy mitten ins Gesicht. Der hustete und stammelte, war jedoch fürs Erste hellwach.

»Menschenskind! Wieso hast du das denn getan?«

»Hat doch funktioniert, oder?« Dan reichte ihm die immer noch blubbernde Flasche. »Trink den Rest. Tut mir leid, aber du darfst jetzt nicht wieder einschlafen, auch wenn du das unbedingt willst.«

Während Billy die Flasche an den Mund setzte und schluckte, beugte Dan sich vor und suchte den Hebel, um den Sitz zu verstellen. Er zog mit einer Hand daran, während er mit der anderen am Lenkrad riss. Die Sitzbank schnellte vorwärts, was Billy dazu brachte, sich Fanta übers Kinn zu schütten (und einen Ausdruck zu äußern, den Erwachsene normalerweise nicht in Anwesenheit junger Damen aus New Hampshire verwendeten), aber nun erreichten Abras Füße die Pedale. Gerade mal so. Dan legte den Rückwärtsgang ein und ließ den Wagen langsam schräg auf die Fahrbahn rollen. Als sie dort angelangt waren, stieß er einen erleichterten Seufzer aus. Im Graben einer wenig befahrenen Landstraße festzustecken hätte sie nicht recht weitergebracht.

»Weißt du überhaupt, was du da tust?«, erkundigte sich Billy.

»Durchaus. Tue ich schon seit Jahren … allerdings gab’s eine kleine Pause, als mir der Staat Florida den Führerschein entzogen hat. Damals habe ich zwar in einem anderen Staat gewohnt, aber leider gibt’s so was wie Amtshilfe. Der Fluch aller reisenden Säufer in diesem großen, schönen Land.«

»Du bist Dan!«

»Schuldig im Sinne der Anklage«, sagte er und spähte über den Rand des Lenkrads. Eigentlich hätte er ein dickes Buch als Sitzunterlage gebraucht, aber da er keines hatte, musste es auch so gehen. Er stellte den Wählhebel auf D und trat aufs Gas.

»Wie bist du in sie reingekommen?«

»Frag nicht.«

Crow hatte etwas von Privatwegen gesagt (oder es nur gedacht, das wusste Dan nicht so genau), und nachdem sie auf der Route 108 etwa vier Meilen zurückgelegt hatten, kamen sie an eine Abzweigung, an der ein rustikales Holzschild an eine Kiefer genagelt war: BOBS UND DOTS KLEINES PARADIES. Das war ein Privatweg, wie er im Buche stand. Dan bog ab, wobei er angesichts von Abras Armen froh über die Servolenkung war, und schaltete das Fernlicht ein. Eine Viertelmeile weiter war der Weg mit einer schweren Kette versperrt, an der ein weiteres, weniger rustikales Schild hing: ZUFAHRT VERBOTEN. Die Kette war erfreulich. Sie bedeutete, dass Bob und Dot nicht beschlossen hatten, das Wochenende in ihrem kleinen Paradies zu verbringen, und man war hier weit genug von der Straße entfernt, dass man nicht gesehen wurde. Es gab noch einen weiteren Vorteil: eine Betonrohrleitung, aus der Wasser rieselte.

Dan schaltete Scheinwerfer und Motor aus, dann sah er Billy an. »Siehst du die Rohre da? Da kannst du dir die Limo vom Gesicht waschen. Klatsch dir ordentlich Wasser ins Gesicht. Du musst so wach sein, wie es irgend geht.«

»Ich bin doch wach«, sagte Billy.

»Nicht wach genug. Pass auf, dass dein Hemd nicht nass wird. Und wenn du fertig bist, kämm dir die Haare. Du musst präsentabel aussehen.«

»Wo sind wir?«

»In Vermont.«

»Und wo ist der Kerl, der mich gekidnappt hat?«

»Tot.«

»Na, das geschieht ihm recht!«, rief Billy aus. Dann wurde er nachdenklich. »Was ist mit der Leiche? Wo ist die?«

Eine ausgezeichnete Frage, die Dan jedoch nicht beantworten wollte. Er wollte etwas ganz anderes – dass es vorbei war. Es war erschöpfend und brachte ihn völlig durcheinander. »Verschwunden. Und viel mehr brauchst du eigentlich nicht zu wissen.«

»Aber …«

»Nicht jetzt. Wasch dir das Gesicht, und geh dann ein paarmal den Weg da auf und ab. Lass die Arme schwingen, atme tief durch, und sorg dafür, dass du einen möglichst klaren Kopf bekommst.«

»Der tut übrigens verflucht weh.«

Dan war nicht überrascht. »Wenn du wiederkommst, ist dieses Mädchen wahrscheinlich wieder ein Mädchen, was bedeutet, dass du dich selbst ans Lenkrad setzen musst. Wenn du meinst, du bist wieder so weit auf dem Damm, dass du dich verständlich machen kannst, fahr in die nächste Stadt, wo ein Motel ist, und nimm dir ein Zimmer. Du machst eine kleine Reise mit deiner Enkeltochter, klar?«

»Klar«, sagte Billy. »Meine Enkeltochter. Abby Freeman.«

»Sobald du in deinem Zimmer bist, rufst du mich auf meinem Handy an.«

»Weil du dann da sein wirst, wo … wo der Rest von dir ist.«

»Genau.«

»Verdammt, das ist ja völlig abgedreht, Kumpel.«

»Ja, das ist es«, sagte Dan. »Unsere Aufgabe besteht darin, es wieder aufzudrehen.«

»Okay. Wie heißt überhaupt die nächste Stadt?«

»Keine Ahnung. Ich will nicht, dass du einen Unfall baust, Billy. Wenn du dich nicht in der Lage fühlst, zwanzig bis dreißig Meilen zu fahren und dann in ein Motel einzuchecken, ohne dass der Typ an der Rezeption die Cops ruft, müsst ihr beide die Nacht hier im Wagen verbringen. Bequem ist das zwar nicht, aber es wird euch wohl nichts passieren.«

Billy öffnete die Beifahrertür. »Lass mir zehn Minuten Zeit, dann schaffe ich es, für nüchtern durchzugehen. Ist nicht das erste Mal.« Er zwinkerte dem Mädchen am Lenkrad zu. »Schließlich arbeite ich für Casey Kingsley, und der hasst Alkohol bekanntlich wie die Pest.«

Dan beobachtete noch, wie Billy zur Rohrleitung ging und sich davorkniete, dann schloss er Abras Augen.

Auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums schloss Abra die von Dan.

(Abra)

(da bin ich)

(bist du wach)

(mehr oder weniger)

(wir müssen wieder das Rad drehen kannst du mir helfen)

Diesmal konnte sie es.

12

»Lasst mich los, Jungs«, sagte Dan. Seine Stimme war wieder seine eigene. »Mir geht’s blendend. Glaube ich.«

John und Dave ließen los. Sie hielten sich bereit, ihn wieder zu stützen, falls er stolperte, doch das tat er nicht. Stattdessen betastete er sich: Haare, Gesicht, Brust, Beine. Dann nickte er. »Ja«, sagte er. »Ich bin tatsächlich da.« Er sah sich um. »Und wo sind wir hier?«

»Bei einem Einkaufszentrum in Newington«, sagte John. »Etwa sechzig Meilen von Boston entfernt.«

»Gut, machen wir uns wieder auf die Socken.«

»Abra«, sagte Dave. »Was ist mit Abra?«

»Abra geht’s gut. Sie ist wieder da, wo sie hingehört.«

»Sie gehört nach Hause«, sagte Dave mehr als nur leicht verärgert. »In ihr Zimmer. Damit sie mit ihren Freundinnen chatten oder auf ihrem iPod diese dämliche Boygroup hören kann.«

Sie ist zu Hause, dachte Dan. Wenn der Körper eines Menschen sein Zuhause ist, dann ist sie da.

»Sie ist bei Billy. Der wird sich um sie kümmern.«

»Was ist mit dem Kerl, der sie gekidnappt hat. Mit diesem Crow?«

Dan, der am Heck von Johns Wagen angelangt war, blieb kurz stehen. »Um den müssen Sie sich keine Sorgen mehr machen. Jetzt geht es um jemand andres – um Rose.«

13

Das Motel Crown stand schon auf der anderen Seite der Grenze von Vermont, in Crownville, New York. Es war ein heruntergekommener Schuppen mit einer flackernden Neonreklame, die ZIMM R FREI und MEGA-AUS AHL KAB L-TV! verkündete. Auf den etwa dreißig Stellplätzen parkten nur vier Autos. Der Mann an der Rezeption war ein wahrer Fettberg, dem ein nach unten immer dünner werdender Pferdeschwanz den halben Rücken hinunterhing. Er zog Billys Visa-Karte durchs Lesegerät und gab ihm die Schlüssel zu zwei Zimmern, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, auf dem zwei Frauen sich auf einem roten Samtsofa unermüdlich abknutschten.

»Sind die miteinander verbunden?«, fragte Billy. »Die Zimmer, meine ich«, fügte er nach einem Blick auf die beiden Frauen hinzu.

»Ja, klar, die sind alle verbunden, schließen Sie einfach die Türen auf.«

»Danke.«

Billy fuhr am Gebäude entlang bis zu Nummer 23 und 24 und parkte dort. Abra lag zusammengekauert auf ihrem Sitz, den Kopf auf den Arm gelegt, und schlief tief und fest. Er schloss die Zimmer auf, knipste das Licht an und öffnete die Verbindungstüren. Die Unterkunft sah schäbig, aber nicht ganz katastrophal aus. Ohnehin wollte Billy nur noch Abra auf ihr Zimmer schaffen und sich aufs Ohr hauen. Am liebsten zehn Stunden lang. Sein Alter machte ihm nur selten zu schaffen, aber heute fühlte er sich steinalt.

Als er Abra aufs Bett legte, wachte sie halb auf. »Wo sind wir?«

»In Crownville, New York. Hier sind wir sicher. Ich bin im Nebenzimmer.«

»Ich will zu meinem Dad. Und Dan.«

»Bald.« Hoffentlich stimmte das.

Ihre Augen gingen zu, dann öffneten sie sich langsam wieder. »Ich hab mit dieser Frau gesprochen. Mit dieser miesen Schlampe

»Ach ja?« Billy hatte keine Ahnung, was sie meinte.

»Sie weiß, was wir getan haben. Sie hat es gespürt. Und es hat wehgetan.« In Abras Augen stand ein kaltes Funkeln. Es war, fand Billy, wie ein kurzer Blick auf die Sonne am Ende eines kalten, wolkenverhangenen Februartags. »Ich bin froh darüber.«

»Schlaf jetzt, Kleines.«

In Abras bleichem, müdem Gesicht leuchtete immer noch ein kaltes Winterlicht. »Sie weiß, dass ich hinter ihr her bin.«

Billy überlegte, ob er ihr die Haare aus den Augen streichen sollte, aber was, wenn sie ihm dabei in die Hand biss? Wahrscheinlich war das ein alberner Gedanke, aber … dieses Licht in ihren Augen. So hatte seine Mutter manchmal ausgesehen, kurz bevor sie die Beherrschung verloren und einem der Kinder eins übergezogen hatte. »Morgen früh geht es dir bestimmt besser. Ich würde zwar am liebsten noch heute Nacht zurückfahren – schon wegen deinem Dad –, aber in meiner Verfassung kann ich mich nicht lange ans Steuer setzen. Hatte schon Glück, dass ich’s bis hierher geschafft hab, statt irgendwo unterwegs im Graben gelandet zu sein.«

»Wenn ich bloß mit meiner Mama und meinem Dad sprechen könnte …«

Billys Mutter und Vater, die selbst in ihren besten Zeiten nie Kandidaten für die Eltern des Jahres gewesen waren, waren schon lange tot, und er wollte endlich schlafen gehen. Sehnsüchtig blickte er durch die offene Tür auf das Bett im Nebenzimmer. Bald, aber noch nicht jetzt. Er zog sein Handy aus der Tasche und klappte es auf. Es läutete zweimal, dann meldete sich Dan. Nach einer kleinen Weile reichte Billy das Telefon an Abra weiter. »Dein Vater. Bitte sehr.«

Abra grapschte nach dem Telefon. »Dad? Dad?« In ihre Augen traten Tränen. »Ja, mir … stopp, Dad, mir geht’s gut. Bin bloß so müde, dass ich kaum …« Sie erschrak. »Was ist überhaupt mit dir?«

Sie lauschte. Billys Augen gingen von selber zu, sodass er sie mühsam wieder aufreißen musste. Inzwischen weinte Abra aus tiefster Seele, worüber er irgendwie froh war. Die Tränen löschten dieses Funkeln in ihren Augen.

Sie gab ihm das Telefon zurück. »Das ist Dan. Er will noch mal mit dir sprechen.«

Billy hörte zu. »Abra«, sagte er dann, als ihre Tränen verebbt waren. »Dan will wissen, ob du meinst, dass noch andere von denen unterwegs sind. Und falls ja, ob sie schon so nah sind, dass sie heute Nacht hier eintreffen.«

»Nein. Ich glaube, Crow wollte sich mit ein paar anderen treffen, aber die sind noch weit weg. Und ohne dass Crow es ihnen sagt …« Sie unterbrach sich für ein gewaltiges Gähnen. »… können sie nicht rauskriegen, wo wir sind. Sag Dan, dass uns nichts passieren kann. Und sag ihm, er soll das auch meinem Dad klarmachen.«

Billy übermittelte diese Nachricht. Als er auflegte, lag Abra bereits auf dem Bett, hatte die Knie zur Brust gezogen und schnarchte leise. Billy holte eine Decke aus dem Schrank und breitete sie über sie, dann ging er zur Tür und legte die Kette vor. Er dachte nach und klemmte zur Sicherheit noch den Schreibtischstuhl unter den Knauf. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, hatte sein Vater gern gesagt.

14

Rose öffnete das Geheimfach unter der Fußmatte und holte eine der Flaschen heraus. Zwischen den Vordersitzen des EarthCruisers kniend, schraubte sie das Ventil auf und stülpte den Mund über die zischende Öffnung. Ihr Unterkiefer dehnte sich bis zur Brust, und der untere Teil ihres Gesichts wurde zu einem dunklen Loch, aus dem ein einzelner Zahn ragte. Ihre normalerweise nach oben gewandten Augen drehten sich nach unten und verfinsterten sich. Ihr Gesicht wurde zu einer tristen Totenmaske, unter der der Schädel deutlich sichtbar war.

Sie nahm Steam.

Als sie fertig war, stellte sie die Flasche zurück, setzte sich ans Lenkrad ihres Wohnmobils und blickte geradeaus. Spar dir die Mühe, zu mir zu kommen, Rose – ich komme zu dir. Das hatte das Mädchen gesagt. Das hatte es zu ihr, Rose O’Hara, Rose the Hat, zu sagen gewagt. Die Kleine war also nicht nur stark, sondern stark und rachsüchtig. Zornig.

»Komm nur, Schätzchen«, sagte sie. »Und bleib ruhig zornig. Je zorniger du bist, desto tollkühner wirst du sein. Komm nur zu deiner Tante Rose.«

Es knackte. Sie blickte nach unten und sah, dass sie die untere Hälfte des Lenkrads abgebrochen hatte. Steam verlieh Kraft. Ihre Hände bluteten. Rose warf den schartigen Bogen aus Kunststoff beiseite, hob die Hände ans Gesicht und leckte sie ab.

Kapitel sechzehn WAS VERGESSEN WAR

1

Noch während Dan sein Handy zuklappte, sagte Dave: »Holen wir Lucy ab, und dann auf zu Abra!«

Dan schüttelte den Kopf. »Sie sagt, es geht ihnen gut, und ich glaube ihr.«

»Allerdings hat man sie unter Drogen gesetzt«, wandte John ein. »Da ist ihr Urteilsvermögen momentan möglicherweise nicht das beste.«

»Sie war wach genug, mir zu helfen, diesen Crow auszuschalten«, sagte Dan. »Und deshalb vertraue ich ihr. Lassen wir die beiden schlafen, um das Zeug loszuwerden, das dieser Bastard ihnen injiziert hat. Wir haben was anderes zu tun, und zwar was Wichtiges. Ihr müsst mir da ein wenig Vertrauen schenken. Sie werden schon bald bei Ihrer Tochter sein, David. Jetzt hören Sie mir aber bitte erst einmal gut zu. Wir werden Sie an der Wohnung absetzen, in der Ihre Frau ist. Bringen Sie sie zum Krankenhaus. Wir fahren schon mal vor.«

»Ich weiß gar nicht, ob sie mir glauben wird, wenn ich ihr erzähle, was heute geschehen ist. Keine Ahnung, wie überzeugend ich wirke, wo ich das Ganze selbst kaum glauben kann.«

»Sagen Sie ihr, die Erklärungen müssten warten, bis wir alle zusammen sind. Dazu gehört auch Abras Momo.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass man euch zu ihr lässt.« Dave warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Die Besuchszeit ist schon lange vorbei, und Chetta ist sehr krank.«

»Wenn ein Patient dem Ende nahe ist, nimmt das Personal es mit den Besuchsvorschriften meist nicht mehr so genau«, sagte Dan.

Dave sah John an, der die Achseln zuckte. »Der Mann arbeitet in einem Hospiz. Ich glaube, da kennt er sich mit solchen Dingen aus.«

»Vielleicht ist sie nicht mal bei Bewusstsein«, sagte Dave.

»Darüber brauchen wir jetzt nicht zu spekulieren.«

»Was hat Chetta überhaupt mit alledem zu tun? Sie weiß doch nicht mal was davon!«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mehr weiß, als Sie denken«, sagte Dan.

2

Sie setzten Dave an der Wohnanlage in der Marlborough Street ab und beobachteten vom Auto aus, wie er die Treppe hochging, die Doppelreihe von Klingeln studierte und dann auf eine drückte.

»Er sieht wie ein kleiner Junge aus, der weiß, dass man ihm gleich den nackten Hintern versohlen wird«, sagte John. »Diese Geschichte wird seine Ehe ganz schön unter Druck setzen, egal wie die Sache ausgeht.«

»Bei einer Naturkatastrophe gibt man auch niemand die Schuld.«

»Bloß dass Lucy Stone es nicht so sehen wird. Sie wird denken: ›Du hast deine Tochter allein gelassen, und dann hat ein Irrer sie gekidnappt.‹ In gewisser Weise wird sie das immer denken.«

»Vielleicht bringt Abra sie dazu, ihre Meinung zu ändern. Jedenfalls haben wir heute getan, was wir konnten, und bisher läuft es gar nicht so schlecht.«

»Aber es ist noch nicht vorüber.«

»Noch lange nicht.«

Dave läutete zum zweiten Mal und spähte dabei in den Hausflur, als der Aufzug aufging und seine Frau herausgelaufen kam. Ihr bleiches Gesicht wirkte angespannt. Sobald sie die Tür geöffnet hatte, begann Dave auf sie einzureden. Und umgekehrt. Schließlich packte Lucy ihn an beiden Armen und zog ihn abrupt ins Haus.

»O Mann«, sagte John leise. »Das erinnert mich an mehr als eine Nacht, in der ich um drei Uhr morgens besoffen nach Hause gekommen bin.«

»Entweder er schafft es, sie zu überzeugen, oder nicht«, sagte Dan. »Wir müssen weiter.«

3

Als Dan Torrance und John Dalton am Massachusetts General Hospital eintrafen, war es kurz nach halb elf. Auf der Intensivstation war nicht viel los. Ein schlaffer, mit Helium gefüllter Luftballon, auf dem in bunten Lettern GUTE BESSERUNG stand, trieb halbherzig an der Decke des Korridors entlang und warf einen quallenartigen Schatten. Dan ging direkt zum Schwesternzimmer, stellte sich als Mitarbeiter des Hospizes vor, in das Ms. Reynolds verlegt werden solle, präsentierte seinen Dienstausweis und erklärte, John Dalton sei der Hausarzt der Familie (was nicht ganz stimmte, aber auch nicht ganz gelogen war).

»Wir müssen vor dem Transport den Zustand der Patientin überprüfen«, sagte Dan. »Und dabei wollen zwei Familienmitglieder anwesend sein. Es handelt sich um die Enkelin von Ms. Reynolds und ihren Mann. Tut mir leid, dass wir so spät kommen, aber es ging nicht anders. Die Angehörigen werden auch bald hier sein.«

»Ich habe die beiden schon kennengelernt«, sagte die Oberschwester. »Wirklich sehr nette Leute. Vor allem Lucy hat sich rührend um ihre Großmutter gekümmert. Concetta ist ein besonderer Mensch. Ich habe einige Gedichte von ihr gelesen, und die sind wirklich wunderschön. Aber falls Sie von ihr irgendeine Reaktion erwarten sollten, meine Herren, werden Sie enttäuscht sein. Sie ist ins Koma gefallen.«

Das werden wir ja sehen, dachte Dan.

»Und …« Die Schwester sah John zweifelnd an. »Tja … es steht mir eigentlich nicht zu, etwas dazu zu sagen …«

»Nur zu«, sagte John. »Ich bin noch nie auf eine Oberschwester getroffen, die nicht genau wusste, was Sache war.«

Sie strahlte ihn an, dann wandte sie sich an Dan. »Ich hab viel Gutes von Ihrem Hospiz gehört, aber ich zweifle sehr daran, dass Concetta dort landen wird. Selbst wenn sie am Montag noch lebt, weiß ich nicht recht, ob es irgendeinen Sinn hat, sie zu verlegen. Womöglich ist es besser für sie, wenn man sie ihre Reise hier beenden lässt. Falls ich mich jetzt zu weit vorgewagt haben sollte, bitte ich um Verständnis.«

»Haben Sie nicht«, sagte Dan. »Und wir werden das in unsere Überlegungen einbeziehen. John, gehen Sie bitte zum Eingang, um die Stones hierherzubegleiten, wenn sie eintreffen? Ich kann schon mal ohne Sie anfangen.«

»Sind Sie sich sicher, dass …«

»Ja«, sagte Dan und sah ihm unverblümt in die Augen. »Das bin ich.«

»Sie ist in Zimmer neun«, sagte die Oberschwester. »Das ist am Ende vom Flur. Wenn Sie mich brauchen, drücken Sie einfach die Ruftaste dort.«

4

An der Tür von Zimmer 9 stand Concettas Name, aber das Fach für ärztliche Anweisungen war leer, und der oben angebrachte Monitor mit den Vitalfunktionen zeigte nichts Hoffnungsvolles. Dan trat in Gerüche, die er gut kannte: Lufterfrischer, Desinfektionsmittel und tödliche Erkrankung. Letzterer summte in seinem Kopf wie eine Geige, die nur eine Note spielen konnte. An den Wänden hingen Fotos, darunter viele von Abra in unterschiedlichem Alter. Auf einem sah man einen Haufen kleiner Kinder, die mit offenem Mund zuschauten, wie ein Magier ein weißes Kaninchen aus einem Hut zog. Das war bestimmt bei jener berühmten Geburtstagsparty aufgenommen worden, am Tag der Löffel.

Umgeben von diesen Bildern, schlief hier eine bis aufs Skelett abgemagerte Frau mit offenem Mund und einem zwischen die Finger geflochtenen Rosenkranz. Die ihr verbliebenen Haare waren so fein, dass sie auf dem Kissen fast nicht zu sehen waren. Ihre früher olivfarbene Haut war inzwischen gelb; die schmale Brust hob und senkte sich nur unmerklich. Ein Blick reichte Dan aus, um zu erkennen, dass die Oberschwester tatsächlich genau wusste, was Sache war. Wäre Azzie da gewesen, so hätte er bereits neben der Frau in diesem Zimmer gelegen und auf die Ankunft von Doctor Sleep gewartet. Damit er seine nächtliche Patrouille durch Flure wieder aufnehmen konnte, die bis auf nur für Katzen sichtbare Dinge leer waren.

Als Dan sich auf die Bettkante setzte, sah er, dass die einzige Infusion eine Salzlösung enthielt. Es gab nur eine Medizin, die dieser Frau noch helfen konnte, und die hatte die Krankenhausapotheke nicht auf Lager. Die Kanüle hatte sich verschoben. Dan brachte sie wieder in die richtige Position, dann nahm er ihre Hand und blickte in das schlafende Gesicht.

(Concetta)

In ihre Atmung kam ein leichtes Stocken.

(Concetta kommen Sie zurück)

Unter den dünnen, blutunterlaufenen Lidern bewegten sich die Augen. Vielleicht hatte sie gelauscht, vielleicht hatte sie auch ihre letzten Träume geträumt. Von Italien wahrscheinlich. Wie sie sich über den Brunnen ihres Elternhauses gebeugt hatte, um einen Eimer kühles Wasser hochzuziehen, die heiße Sommersonne auf dem Rücken.

(Kommen Sie zurück Abra braucht Sie und ich auch)

Das war alles, was er tun konnte, und er war sich nicht sicher, ob es ausreichen würde, bis sich tatsächlich langsam ihre Augen öffneten. Zuerst waren sie leer, dann gewannen sie die Fähigkeit zur Wahrnehmung wieder. Das hatte Dan schon oft gesehen, dieses Wunder des zurückkehrenden Bewusstseins. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, von woher es kam und wohin es ging, wenn es verschwand. Der Tod war nicht weniger ein Wunder als die Geburt.

Die Hand, die er hielt, schloss sich um seine. Concettas Blick richtete sich auf Dan, und sie lächelte. Es war ein zaghaftes Lächeln, aber doch vorhanden.

»O mio caro! Sei tu? Sei tu? Come è possibile? Sei morto? Sono morta anch’io? … Siamo fantasmi?«

Dan sprach kein Italienisch, aber das war auch nicht nötig. Was sie sagte, hörte er mit vollkommener Klarheit in seinem Kopf:

Ach, mein Lieber, bist du es? Bist du es? Wie ist das möglich? Bist du tot? Bin ich es auch?

Dann, nach einer Pause:

Sind wir Geister?

Er beugte sich zu ihr, bis seine Wange die ihre berührte.

Er flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Nach einer Weile erwiderte sie sein Flüstern.

5

Das Gespräch war kurz, aber aufschlussreich. Concetta sprach hauptsächlich auf italienisch. Schließlich hob sie die Hand – mit großer Mühe, aber sie schaffte es – und streichelte Dan die stoppelige Wange. Sie lächelte.

»Sind Sie bereit?«, fragte er.

»Sì. Bereit.«

»Sie brauchen vor nichts Angst zu haben.«

»Sì, das weiß ich. Ich bin so froh, dass Sie gekommen sind. Sagen Sie mir noch einmal Ihren Namen, Signore.«

»Daniel Torrance.«

»Sì. Sie hat der liebe Gott geschickt, Daniel Torrance. Sei un dono di Dio.«

Dan hoffte, dass das stimmte. »Werden Sie mir schenken, worum ich Sie gebeten habe?«

»Sì, natürlich. Alles, was Sie brauchen, per Abra.«

»Und ich werde Ihnen auch etwas schenken, Concetta. Wir werden gemeinsam aus dem Brunnen trinken.«

Sie schloss die Augen.

(ich weiß)

»Sie werden einschlafen, und wenn Sie aufwachen …«

(wird alles besser sein)

Die Kraft war noch stärker als in der Nacht, in der Charlie Hayes hinübergegangen war; er spürte sie zwischen sich und Concetta, während er sanft ihre Hände in seine nahm und die glatten Perlen ihres Rosenkranzes sich an seine Handflächen schmiegten. Irgendwo wurden Lichter gelöscht, eines nach dem anderen. Das war in Ordnung so. In Italien holte ein Mädchen in einem braunen Kleid und Sandalen Wasser aus dem kühlen Schlund eines Ziehbrunnens. Das kleine Mädchen sah aus wie Abra. Ein Hund bellte. Il cane. Ginata. Il cane si rotolava sull’erba. Er wälzte sich bellend im Gras. Drollig war ihr Hund gewesen, ihre Ginata.

Concetta war sechzehn und verliebt; sie war dreißig und schrieb am Küchentisch einer stickigen Wohnung in Queens ein Gedicht, während auf der Straße unten Kinder tobten; sie war sechzig, stand im Regen und blickte in hunderttausend Fäden aus reinem, herabfallendem Silber. Sie war ihre Mutter und ihre Urenkelin, und es war Zeit für ihre große Veränderung, ihre große Reise. Ginata wälzte sich im Gras und die Lichter

(beeil dich bitte)

gingen nacheinander aus. Eine Tür öffnete sich

(bitte beeil dich es ist Zeit)

und dahinter konnten sie beide den ganzen geheimnisvollen, duftenden Atem der Nacht riechen. Darüber standen alle Sterne, die es je gegeben hatte.

Er küsste ihre kühle Stirn. »Alles ist richtig so, cara. Du musst nur einschlafen. Durch den Schlaf wird alles besser werden.«

Dann wartete er auf ihren letzten Atemzug.

Der schließlich kam.

6

Er saß immer noch da, ihre Hände in seinen, als abrupt die Tür aufging und Lucy Stone hereingeschritten kam. Ihr Mann und John Dalton folgten, aber nicht allzu dicht hinter ihr; es war, als hätten sie Angst davor, von der Furcht, der Wut und der verwirrten Empörung verbrannt zu werden, die Lucy als knisternde, fast sichtbare Aura umgaben.

Als sie Dan an der Schulter packte, gruben sich ihre Fingernägel wie Klauen durch sein Hemd in seine Haut. »Weg hier! Sie kennen diese Frau nicht. Sie haben nicht mehr mit meiner Großmutter zu schaffen als mit meiner Toch…«

»Sprechen Sie leiser«, sagte Dan, ohne sich umzudrehen. »Sie sind im Angesicht des Todes.«

Der Zorn, der ihren Körper verkrampft hatte, strömte so plötzlich aus ihr heraus, dass ihre Gelenke erschlafften. Sie sank neben Dan aufs Bett und blickte auf das wächserne Bild, zu dem das Gesicht ihrer Großmutter geworden war. Dann betrachtete sie den hageren, unrasierten Mann, der dasaß und die toten Hände hielt, in die immer noch der Rosenkranz geflochten war. Unbemerkt rollten Tränen in großen, klaren Tropfen an Lucys Wangen herab.

»Ich kapiere nicht einmal die Hälfte von dem, was die beiden da mir erzählen wollten. Nur dass Abra gekidnappt wurde, aber nun in Sicherheit ist – angeblich –, dass sie mit einem Mann namens Billy in einem Motel ist und dass die beiden jetzt schlafen.«

»Das stimmt alles«, sagte Dan.

»Dann verschonen Sie mich bitte mit Ihren Moralsprüchen. Ich werde um meine Momo trauern, sobald ich Abra sehe. Sobald ich sie in die Arme genommen habe. Jetzt will ich erst mal wissen … ich will …« Sie brach ab, warf einen Blick auf ihre tote Großmutter und sah dann wieder Dan an. Ihr Mann stand hinter ihr. John hatte die Tür von Zimmer 9 geschlossen und sich mit dem Rücken darangelehnt. »Sie heißen Torrance? Daniel Torrance?«

»Ja.«

Wieder wanderte ihr Blick langsam von dem reglosen Gesicht ihrer Großmutter zu dem Mann, der bei deren Tod zugegen gewesen war. »Wer sind Sie, Mr. Torrance?«

Dan ließ Concettas Hände los und ergriff die von Lucy. »Kommen Sie mit. Es ist nicht weit. Nur dort hinüber.«

Den Blick nun unverwandt auf sein Gesicht gerichtet, stand sie ohne Widerspruch auf. Er führte sie zur Badezimmertür, die offen stand. Dort schaltete er das Licht ein und deutete auf den Spiegel über dem Waschbecken, in dem ihre Gesichter gerahmt waren wie auf einer Fotografie. Wenn man sie so sah, konnte es kaum einen Zweifel geben. Eigentlich gar keinen.

»Mein Vater war auch dein Vater, Lucy«, sagte er. »Ich bin dein Halbbruder.«

7

Nachdem sie die Oberschwester über den Todesfall auf der Station informiert hatten, gingen sie in den kleinen, nichtkonfessionellen Andachtsraum des Krankenhauses. Lucy kannte den Weg; obwohl sie nicht besonders gläubig war, hatte sie ziemlich viele Stunden dort verbracht, um nachzudenken und sich zu erinnern. Es war ein tröstlicher Ort, das zu tun, etwas, was nötig war, wenn ein geliebter Mensch sich dem Ende seines Lebens näherte. Um diese Tageszeit hatten sie den Raum ganz für sich.

»So, nun eins nach dem anderen«, sagte Dan. »Ich muss erst mal fragen, ob du mir glaubst. Wir können später einen DNA-Test machen lassen, aber … müssen wir das wirklich tun?«

Lucy schüttelte benommen den Kopf, ohne den Blick von seinem Gesicht abzuwenden. Sie schien damit beschäftigt zu sein, es sich einzuprägen. »Meine Güte. Ich krieg kaum Luft.«

»Schon als ich dich das erste Mal gesehen habe, bist du mir irgendwie bekannt vorgekommen«, sagte Dave. »Jetzt weiß ich, warum. Ich hätte es wahrscheinlich früher gemerkt, wenn es nicht … du weißt schon …«

»Direkt vor deiner Nase gewesen wäre«, mischte sich John ein. »Dan, weiß Abra eigentlich Bescheid?«

»Klar.« Dan lächelte, weil er sich an Abras Relativitätstheorie erinnerte.

»Hat sie das in deinen Gedanken gelesen?«, fragte Lucy. »Mit ihren telepathischen Fähigkeiten?«

»Nein, ich wusste es ja nicht. Selbst jemand mit so viel Shining wie Abra kann nichts lesen, was nicht da ist. Aber auf einer tieferen Ebene haben wir es beide gewusst. Himmel, wir haben es sogar ausgesprochen. Wenn jemand gefragt hätte, was wir miteinander zu schaffen haben, dann hätten wir gesagt, ich wäre ihr Onkel. Was ich tatsächlich bin. Ich hätte es auch früher erkennen sollen.«

»Das ist ein Zufall, wie es ihn im Grunde gar nicht geben kann«, sagte Dave kopfschüttelnd.

»Es ist keiner. Von Zufall kann nicht die Rede sein. Lucy, mir ist klar, dass du verwirrt und zornig bist. Ich werde dir alles erzählen, was ich weiß, aber das wird etwas Zeit brauchen. Dank John, deinem Mann und Abra – vor allem dank ihr – haben wir die glücklicherweise.«

»Unterwegs«, sagte Lucy. »Du kannst es mir auf dem Weg zu Abra erzählen.«

»Einverstanden«, sagte Dan. »Dann unterwegs. Aber zuerst brauchen wir drei Stunden Schlaf.«

Noch bevor er den Satz beendet hatte, schüttelte sie den Kopf und ergriff seine Hand. An der Kälte ihrer Hände war zu spüren, dass sie einen tiefen, elementaren Schock erlitten hatte. »Nein, jetzt gleich. Ich muss sie so bald wiedersehen, wie es irgend geht. Begreifst du das nicht? Sie ist meine Tochter, man hat sie entführt, und ich muss sie wiedersehen!«

»Sie war entführt, das stimmt, aber jetzt ist sie in Sicherheit«, sagte Dan.

»Das sagst du, natürlich sagst du das, aber du weißt es eigentlich gar nicht.«

»Abra sagt es«, erwiderte er. »Und die weiß es durchaus. Hör mal, Lucy, sie schläft gerade, und sie braucht ihren Schlaf.« Ich übrigens auch. Ich habe eine lange Reise vor mir, und ich glaube, die wird schwer werden. Sehr schwer.

Lucy betrachtete ihn aufmerksam. »Was ist mit dir?«, fragte sie.

»Bin bloß müde.«

»Das sind wir alle«, sagte John. »Es war ein … stressiger Tag.« Er stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus, dann hielt er sich beide Hände vor den Mund wie ein Kind, das ein unartiges Wort gesagt hat.

»Das heißt, ich kann Abra nicht einmal anrufen, um ihre Stimme zu hören«, sagte Lucy. Sie sprach langsam, als versuchte sie, ein nur schwer zu befolgendes Gebot zu artikulieren. »Weil sie schlafen muss, um die Drogen loszuwerden, die dieser Mann … den sie Crow nennt … ihr gespritzt hat.«

»Bald«, sagte Dave. »Du wirst sie ganz bald sehen.« Er legte seine Hand auf ihre. Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Lucy ihn abschütteln. Dann umklammerte sie die Hand stattdessen.

»Ich kann mit meiner Geschichte anfangen, während wir zur Wohnung deiner Großmutter fahren«, sagte Dan und erhob sich. Es kostete ihn einige Mühe. »Gehen wir.«

8

Er hatte genug Zeit, Lucy zu erzählen, wie er ganz verloren in einem Bus aus Massachusetts gesessen hatte, um dann – kurz nach der Grenze von New Hampshire – seine letzte Flasche Schnaps in einen Mülleimer mit der Aufschrift WENN SIE’S NICHT MEHR BRAUCHEN, LASSEN SIE’S HIER zu werfen. Er erzählte, wie sein Kindheitsfreund Tony zum ersten Mal seit Jahren zu ihm gesprochen hatte, als der Bus in Frazier angekommen war. Das ist der Ort, hatte Tony gesagt.

Von da aus machte er einen Sprung zurück zu der Zeit, als er noch Danny statt Dan gewesen war (und manchmal Doc wie in Is’ was, Doc?). Damals war sein unsichtbarer Freund Tony absolut notwendig für ihn gewesen, denn sein Shining war nur eine der Bürden, die Tony ihm tragen half, und nicht die größte. Die größte war sein Alkoholikervater, ein seelisch gestörter und letztlich gefährlicher Mann, den Danny und dessen Mutter sehr geliebt hatten – vielleicht ebenso wegen wie trotz seinen Schwächen.

»Er war schrecklich jähzornig, und man brauchte keine telepathischen Fähigkeiten, um zu wissen, wann es ihn wieder übermannte. Normalerweise war er dann betrunken. Auf jeden Fall war er das an dem Abend, als er mich in seinem Arbeitszimmer dabei erwischt hat, wie ich sein Manuskript auf dem Boden verteilte. Da hat er mir den Arm gebrochen.«

»Wie alt warst du da?«, fragte Dave. Er saß neben seiner Frau auf dem Rücksitz.

»Vier, glaube ich. Vielleicht sogar noch jünger. Wenn er auf dem Kriegspfad war, hatte er die Angewohnheit, sich den Mund zu reiben.« Er führte es vor. »Kennt ihr vielleicht jemand, der das auch tut, wenn er durcheinander ist?«

»Abra«, sagte Lucy. »Ich dachte, das hat sie von mir.« Sie hob die rechte Hand zum Mund, fing sie dann mit der linken ein und legte sie wieder in den Schoß. Als Dan und Abra auf der Bank vor der Stadtbücherei von Anniston zum ersten Mal zusammengekommen waren, hatte Abra genau dasselbe getan. »Und ich dachte, sie hat ihr Temperament von mir. Manchmal bin ich nämlich ganz schön … schroff.«

»Als ich das erste Mal gesehen hab, wie Abra sich den Mund rieb, hab ich an meinen Vater gedacht«, sagte Dan. »Aber ich hatte andere Dinge im Kopf, deshalb hab ich es vergessen.« Dabei fiel ihm Watson ein, der reguläre Hausmeister des Overlooks, der seinem Vater den wenig vertrauenswürdigen Heizkessel des Hotels gezeigt hatte. Passen Sie gut auf das Ding auf, hatte Watson gesagt. Der Druck kriecht langsam höher. Aber am Ende hatte Jack Torrance das vergessen. Das war der Grund, weshalb Dan noch am Leben war.

»Willst du etwa sagen, du bist durch diese kleine Angewohnheit darauf gekommen, dass wir verwandt sind? Eine ganz schöne Leistung, vor allem weil ja wir zwei uns ähnlich sehen, nicht du und Abra – die schlägt bekanntlich mehr nach ihrem Vater.« Lucy hielt nachdenklich inne. »Aber natürlich habt ihr beide eine andere Eigenschaft, die offenbar in der Familie liegt – Dave sagt, du nennst es Shining oder Hellsichtigkeit. Dadurch hast du es erkannt, stimmt’s?«

Dan schüttelte den Kopf. »In dem Jahr, als mein Vater starb, habe ich einen Freund gewonnen. Er hieß Dick Hallorann und war der Koch im Hotel Overlook. Er hatte dieselbe Gabe wie ich, und er hat mir gesagt, viele Menschen besäßen ein wenig davon. Damit hatte er recht. In meinen Leben bin ich auf allerhand Leute gestoßen, die mehr oder weniger hellsichtig waren. Zum Beispiel gehört Billy Freeman dazu, und das ist auch der Grund, weshalb er jetzt bei Abra ist.«

John lenkte den Suburban auf den kleinen Parkplatz hinter Concettas Wohnanlage, aber vorläufig stieg niemand aus. Obwohl sie sich Sorgen um ihre Tochter machte, war Lucy von der Geschichte fasziniert. Dan musste sie gar nicht ansehen, um das zu erkennen.

»Aber wenn es nicht euer Shining war, was dann?«

»Als wir mit der Riv zum Wolkentor gefahren sind, hat Dave erwähnt, dass du im Keller von Concettas Haus einen gewissen Koffer gefunden hast.«

»Ja. Der stammt von meiner Mutter. Ich hatte keine Ahnung, dass Momo etwas von ihr aufbewahrt hat.«

»Dave hat John und mir erzählt, deine Mutter hätte sich gern auf Partys herumgetrieben.« In Wirklichkeit hatte Dave das nicht Dan erzählt, sondern seiner Tochter, die telepathisch mit Dan verbunden gewesen war, aber solche Details brauchte Dans frisch entdeckte Halbschwester nicht zu wissen, zumindest vorläufig nicht.

Lucy warf Dave jenen vorwurfsvollen Blick zu, den aus der Schule plaudernde Ehemänner bestens kannten, schwieg jedoch.

»Außerdem hat er erzählt, nach ihrem Studium in Albany hätte deine Mutter in Vermont oder Massachusetts ein Praktikum an einer Privatschule gemacht. Mein Vater hat in Vermont Englisch unterrichtet, bis man ihn rauswarf, weil er einen Schüler geschlagen hat. An einer Privatschule in Stovington. Und laut meiner Mutter ist er damals ebenfalls gern auf Partys gegangen. Sobald ich wusste, das Abra und Billy in Sicherheit sind, hab ich mir alles zusammengereimt. Aber ich dachte, wenn jemand es genau weiß, dann Alessandras Mutter. Deine Momo.«

»Und hat sie es gewusst?«, fragte Lucy. Sie hatte sich vorgebeugt und die Hände auf die Ablage zwischen den Vordersitzen gestützt.

»Nicht vollständig, und wir hatten nicht viel Zeit, aber sie wusste genug. In welcher Stadt deine Mutter ihr Praktikum gemacht hat, wusste sie nicht, aber dass es in Vermont war. Und dass sie eine kurze Affäre mit ihrem Betreuungslehrer hatte. Der, wie sie sagte, nebenbei Schriftsteller war.« Dan machte eine Pause. »Mein Vater war Schriftsteller. Er hatte zwar erst ein paar Kurzgeschichten veröffentlicht, aber teilweise in sehr bekannten Zeitschriften wie dem Atlantic Monthly. Nach seinem Namen hat Concetta nie gefragt, und Alessandra hat ihn auch nie von sich aus erwähnt, aber falls ihre Unterlagen in diesem Koffer im Keller sind, wird darin wahrscheinlich stehen, dass sie von John Edward Torrance betreut wurde.« Er gähnte und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Mehr kann ich jetzt beim besten Willen nicht erzählen. Gehen wir rauf. Drei Stunden Schlaf für uns alle, und dann auf nach Upstate New York. Die Straßen werden leer sein, also sollten wir gut vorankommen.«

»Schwörst du mir, dass sie in Sicherheit ist?«, fragte Lucy.

Dan nickte.

»Na gut, ich werde warten. Aber wirklich nur drei Stunden. Wenn du allerdings meinst, ich könnte einschlafen …« Sie lachte, doch in ihrer Stimme lag keinerlei Humor.

9

Als sie Concettas Wohnung betreten hatten, schritt Lucy direkt zur Mikrowelle in der Küche, stellte den Timer ein und zeigte darauf. Dan nickte, dann gähnte er wieder. »Halb vier, dann geht’s los.«

Sie betrachtete ihn mit ernster Miene. »Weißt du, am liebsten würde ich ohne euch losfahren. Gleich in dieser Minute.«

Er lächelte schwach. »Ich glaube, du solltest lieber erst den Rest der Geschichte hören.«

Sie nickte grimmig. »Das und die Tatsache, dass meine Tochter sich von dieser Droge erholen muss, sind die einzigen Dinge, die mich aufhalten. Und jetzt legt euch hin, bevor ihr mitten im Zimmer umfallt.«

Dan und John nahmen das Gästezimmer. An der Tapete und den Möbeln war zu erkennen, dass es hauptsächlich für den Besuch einer gewissen jungen Dame bereitgestanden hatte, aber gelegentlich hatte Concetta offenbar auch andere Gäste gehabt, denn es gab zwei Betten.

Als sie im Dunkeln lagen, sagte John: »Es ist wohl kein Zufall, dass dieses Hotel, in dem du als Kind warst, auch in Colorado stand, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Dann hält der Wahre Knoten, wie du ihn nennst, sich an demselben Ort auf?«

»Genau.«

»Und in dem Hotel hat’s gespukt, wie du mir erzählt hast.«

Die Geisterleute, dachte Dan. »Ja.«

Daraufhin sagte John etwas, was Dan überraschte und ihn vorübergehend vom Rand des Schlafes zurückholte. Dave hatte recht gehabt – am leichtesten übersah man etwas, was sich direkt vor der eigenen Nase befand. »Eigentlich ist das ganz logisch, denke ich … jedenfalls sobald man die Vorstellung akzeptiert, dass es übernatürliche Wesen unter uns gibt, die sich von uns ernähren. Ein unheilvoller Ort muss unheilvolle Kreaturen anziehen. Die fühlen sich dort ganz zu Hause. Meinst du, diese Leute verfügen anderswo im Land über ähnliche Orte? Orte, die ebenfalls eine … wie soll ich es nennen … kalte Energie ausstrahlen?«

»Bestimmt.« Dan legte den Arm über die Augen. Sein ganzer Körper schmerzte, und ihm dröhnte der Kopf. »John, ich würde gern die ganze Nacht mit dir quatschen wie zwei Jungs bei einer Pyjamaparty, aber ich brauche wirklich mal eine Mütze Schlaf.«

»Klar, aber …« John stützte sich auf einen Ellbogen. »Eigentlich hätten wir gleich vom Krankenhaus aus starten können, wie Lucy es wollte. Weil dir Abra doch genauso am Herzen liegt wie ihr. Du meinst zwar, dass sie in Sicherheit ist, aber da könntest du dich ja täuschen.«

»Tue ich nicht.« Er hoffte, dass dem so war. Das musste er hoffen, denn es war einfach so, dass er jetzt nicht losfahren konnte. Wäre es nur nach New York gegangen, vielleicht. Aber es war weiter, und er musste schlafen. Sein ganzer Körper rief danach.

»Was ist denn los mit dir, Dan? Du siehst nämlich schrecklich aus.«

»Nichts. Bin bloß müde.«

Dann versank er, erst in Dunkelheit und dann in einen wirren Albtraum, in dem er durch endlose Flure rannte, während ihm ein Schatten folgte. Der schwang einen Roque-Schläger von einer Seite zur anderen, sodass die Tapete platzte und Gipswolken in die Luft stoben. Komm her, du kleiner Scheißkerl, brüllte der Schatten. Komm her, du Nichtsnutz, und hol dir, was du verdienst!

Dann war Abra bei ihm. Er saß mit ihr in der spätsommerlichen Sonne auf der Bank vor der Stadtbücherei von Anniston. Sie hielt seine Hand. Hab keine Angst, Onkel Dan. Es ist alles gut. Bevor dein Vater gestorben ist, hat er diesen Schatten zerstört. Du musst keine …

Krachend flog die Tür der Bücherei auf, und eine Frau trat ins Sonnenlicht. Um ihren Kopf bauschten sich üppige dunkle Haare, aber ihr keck geneigter Zylinder fiel trotzdem nicht herunter. Er blieb sitzen wie festgezaubert.

»Ach, sieh mal an«, sagte sie. »Das ist ja Dan Torrance, der Mann, der einer schlafenden Frau ihr Geld gestohlen und zugelassen hat, dass ihr Kind totgeprügelt wurde.«

Sie lächelte Abra an, wobei sie einen einzelnen Zahn entblößte. Der sah so lang und scharf aus wie ein Bajonett.

»Was wird er dir wohl antun, Schätzchen? Was wird er dir wohl antun?«

10

Lucy weckte ihn um Punkt halb vier, schüttelte jedoch den Kopf, als er John wecken wollte. »Lass ihn noch ein wenig schlafen. Mein Mann schnarcht auch noch auf der Couch.« Sie lächelte sogar. »Dabei fällt mir die Geschichte vom Ölberg ein. Wie Jesus Petrus tadelt. ›Kannst du nicht einmal eine Stunde wach bleiben?‹, sagt er da. Oder so ähnlich. Aber Dave kann ich keinen Vorwurf machen, er hat es vorhin ja auch gesehen. Komm, ich hab Rührei gemacht. Du siehst aus, als könntest du was zu essen brauchen. Du bist dürr wie eine Bohnenstange.« Sie hielt inne. »Bruder«, fügte sie dann hinzu.

Dan war nicht besonders hungrig, folgte ihr jedoch gehorsam in die Küche. »Was hat Dave vorhin auch gesehen?«, fragte er.

»Ich bin Momos Unterlagen durchgegangen, um mir irgendwie die Zeit zu vertreiben, als ich in der Küche was klappern gehört hab.«

Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zu der Ablage zwischen dem Herd und dem Kühlschrank. Dort stand eine Reihe altmodische Apothekergläser. Eines war umgefallen, und in dem Zucker, der sich daraus ergossen hatte, stand eine Botschaft.

Mir geht’s gut

Ich geh jetzt wieder schlafen

Hab euch lieb

J

Dan dachte an seine Schultafel, und obwohl er sich miserabel fühlte, musste er lächeln. Das war so typisch Abra.

»Offenbar ist sie kurz aufgewacht, um das zu schreiben«, sagte Lucy und machte sich daran, Rührei auf einen Teller zu schaufeln.

»Glaube ich nicht«, sagte Dan.

Sie hielt inne und sah ihn an.

»Also hast du sie aufgeweckt. Sie hat gespürt, dass du dir Sorgen gemacht hast.«

»Glaubst du das wirklich?«

»Ja.«

»Setz dich.« Sie überlegte. »Setz dich, Dan. Ich glaube, an den Namen muss ich mich erst gewöhnen. Setz dich und iss.«

Dan war immer noch nicht hungrig, brauchte aber Kraftstoff. Also tat er wie befohlen.

11

Sie saß ihm gegenüber und trank ein Glas Saft aus der allerletzten Flasche, die Concetta Reynolds sich in ihrem Leben von Dean & DeLuca hatte liefern lassen. »Ein etwas älterer Mann mit einem Alkoholproblem und eine jüngere Frau, die sich von ihm beeindrucken lässt. So stelle ich mir das in etwa vor.«

»Ich mir auch.« Dan schaufelte sich mechanisch Rührei in den Mund, ohne etwas zu schmecken.

»Kaffee, Mr. … Dan?«

»Bitte.«

Sie ging an dem verschütteten Zucker vorbei zur Kaffeemaschine. »Er ist verheiratet, kommt durch seinen Job aber häufig auf Lehrerpartys, wo sich viele hübsche Mädels herumtreiben. Ganz zu schweigen von einer sexuell aufgeladenen Atmosphäre, wenn es spät wird und man die Musik aufdreht.«

»Klingt einleuchtend«, sagte Dan. »Vielleicht ist meine Mutter anfangs zu solchen Partys mitgegangen, aber dann war ein Kind da, um das man sich kümmern musste, und kein Geld für einen Babysitter.« Sie reichte ihm eine Tasse Kaffee, den er schwarz schlürfte, bevor sie fragen konnte, ob er Zucker und Milch wollte. »Danke. Jedenfalls ist was zwischen ihnen gelaufen. Wahrscheinlich in einem Motel. Auf dem Rücksitz seines Wagens war es sicher nicht – wir hatten einen VW Käfer. Selbst zwei brünstige Zirkusakrobaten hätte da nichts zustande gebracht.«

»Die gute alte Partyaffäre«, kommentierte John, während er hereinkam. Sein Haar war vom Schlafen ganz verstrubbelt. »So was kommt vor. Ist vielleicht noch Rührei da?«

»Massenhaft«, sagte Lucy. »Abra hat auf der Ablage da eine Botschaft hinterlassen.«

»Tatsächlich?« John ging hinüber, um sie sich anzuschauen. »Das war sie?«

»Ja. Ihre Handschrift würde ich überall erkennen.«

»Wahnsinn! Wenn sich das durchsetzt, kann die Mobilfunkbranche dichtmachen.«

Lucy zeigte kein Lächeln. »Setz dich und iss, John. Du hast zehn Minuten Zeit, dann wecke ich das Murmeltier, das da drin auf dem Sofa liegt.« Sie setzte sich ebenfalls. »Sprich weiter, Dan.«

»Ich weiß nicht, ob sie dachte, dass mein Vater meine Mutter wegen ihr verlassen würde, und ich bezweifle, dass wir die Antwort darauf in ihrem Koffer finden werden. Falls sie kein Tagebuch hinterlassen hat. Nach allem, was ich von Dave weiß und was Concetta mir später erzählt hat, ist sie jedenfalls eine Weile dortgeblieben. Vielleicht hatte sie sich ernsthafte Hoffnungen gemacht, vielleicht hat sie auch einfach nur Party gemacht, vielleicht beides. Als sie festgestellt hat, dass sie schwanger war, hatte sie offenbar keine Erwartungen mehr. Höchstwahrscheinlich waren wir damals auch schon in Colorado.«

»Meinst du, deine Mutter hat je davon erfahren?«

»Keine Ahnung, aber sie hat sich bestimmt gefragt, ob er ihr treu war, vor allem in den Nächten, in denen er spät und besoffen nach Hause gekommen ist. Außerdem muss ihr klar gewesen sein, dass Säufer ihr schlechtes Benehmen nicht darauf beschränken, auf Pferde zu wetten und den Kellnerinnen im Twist and Shout Geldscheine in den Ausschnitt zu stecken.«

Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wie geht’s dir eigentlich? Du siehst erschöpft aus.«

»Ist schon in Ordnung. Aber du bist nicht die Einzige, die versucht, das Ganze zu verarbeiten.«

»Sie ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen«, sagte Lucy. Sie hatte sich von Dan abgewandt und den Blick auf die am Kühlschrank befestigte Pinnwand geheftet. Dort hing in der Mitte ein Foto von Concetta und der etwa vierjährigen Abra. Hand in Hand gingen die beiden durch eine Gänseblümchenwiese. »Der Mann, der am Steuer saß, war wesentlich älter als sie. Und besoffen. Sie sind zu schnell gefahren. Momo wollte mir nichts erzählen, aber als ich achtzehn war, wurde ich neugierig und hab sie so lange gelöchert, bis sie wenigstens ein paar Einzelheiten preisgegeben hat. Ich hab sie gefragt, ob meine Mutter auch betrunken war, aber sie sagte, das wüsste sie nicht. Die Polizei hätte keinen Grund, bei Unfällen ums Leben gekommene Beifahrer auf Alkohol testen zu lassen, bloß den Fahrer.« Sie seufzte. »Ist auch egal. Sparen wir uns die Familiengeschichten für später auf. Erzähl mir jetzt mal genauer, was mit meiner Tochter geschehen ist.«

Das tat er. Nach einer Weile drehte er sich um und sah in der Tür Dave Stone stehen, der sich das Hemd in die Hose stopfte und ihn beobachtete. Er sah ebenso grimmig wie verängstigt aus.

12

Dan begann damit, wie Abra Kontakt mit ihm aufgenommen habe, zuerst über Tony als Vermittlungsinstanz. Danach berichtete er, wie Abra auf den Wahren Knoten gestoßen sei – durch eine albtraumhafte Vision vom Schicksal Bradley Trevors, den sie den Baseballjungen nannte.

»An diesen Albtraum erinnere ich mich«, sagte Lucy. »Da bin ich durch ihr Schreien aufgewacht. Das kannte ich zwar schon von früher, aber damals war es das erste Mal seit zwei oder drei Jahren.«

Dave runzelte die Stirn. »Komisch, ich erinnere mich überhaupt nicht daran.«

»Du warst in Boston auf einer Konferenz.« Sie sah Dan an. »Mal sehen, ob ich es richtig verstanden habe. Diese Leute sind keine Menschen, sondern … was? Eine Art Vampire?«

»In gewisser Weise ja. Sie schlafen zwar nicht tagsüber in Särgen, um sich im Mondlicht in Fledermäuse zu verwandeln, und ich glaube auch nicht, dass man sie mit Kreuzen und Knoblauch einschüchtern kann, aber es sind Parasiten. Und menschlich sind sie auf keinen Fall.«

»Menschen lösen sich schließlich nicht einfach in Luft auf, wenn sie sterben«, sagte John trocken.

»Habt ihr das wirklich mit eigenen Augen gesehen?«

»Haben wir. Alle drei.«

»Jedenfalls hat der Wahre Knoten kein Interesse an gewöhnlichen Kindern«, fuhr Dan fort. »Nur an denen mit Shining.«

»Und das sind Kinder wie Abra«, sagte Lucy.

»Ja. Bevor sie sie töten, foltern sie sie – um den Steam zu reinigen, wie Abra sagt. Mir kommen da immer Schwarzbrenner in den Sinn, die ihr Gesöff destillieren.«

»Und du meinst, sie wollen Abra … inhalieren?«, sagte Lucy, die das offenbar immer noch nicht recht begreifen konnte. »Weil sie dieses Shining hat?«

»Ja, und zwar in besonderem Maße. Wenn man meine Fähigkeiten mit einer Taschenlampe vergleichen würde, dann wären ihre wie ein Leuchtturm. Außerdem weiß sie von diesen Leuten. Sie weiß, was sie sind.«

»Das ist noch nicht alles«, sagte John. »Was wir diesen Typen am Wolkentor angetan haben … für diese Frau namens Rose ist Abra daran schuld, egal wer tatsächlich geschossen hat.«

»Was denken die eigentlich?«, sagte Lucy empört. »Dass man sich nicht verteidigen darf? Um zu überleben?«

»Für Rose ist da einfach ein Mädchen, das sie herausgefordert hat«, sagte Dan.

»Herausgefordert?«

»Abra hat telepathisch Kontakt zu Rose aufgenommen. Sie hat ihr gesagt, dass sie zu ihr kommt.«

»Was hat sie getan?«

»Das ist ihr Temperament«, sagte Dave ruhig. »Ich hab ihr schon tausendmal gesagt, es wird sie noch in Schwierigkeiten bringen.«

»Sie wird bestimmt nicht in die Nähe dieser Frau und ihrer Mörderbande kommen«, sagte Lucy.

Dan dachte: Ja … und nein. Er nahm Lucys Hand. Die wollte sie ihm erst entziehen, tat es dann aber doch nicht.

»Du musst etwas ganz Einfaches verstehen«, sagte er. »Freiwillig werden diese Leute nie aufgeben.«

»Aber …«

»Kein Aber, Lucy. Unter anderen Umständen hätte diese Frau wahrscheinlich beschlossen, es dabei bewenden zu lassen – schließlich ist sie eine gewiefte Anführerin –, aber da ist noch ein weiterer Faktor.«

»Und der wäre?«

»Sie sind krank«, sagte John. »Abra meint, es sind die Masern. Möglicherweise haben sie sich bei diesem Jungen aus Iowa angesteckt. Weiß nicht, ob man das als Rache Gottes oder bloß als Ironie des Schicksals bezeichnen soll.«

»Die Masern?«

»Das hört sich vielleicht nicht so gefährlich an, aber glaub mir, da irrst du dich. Wenn früher ein Kind Masern bekam, haben sich alle seine Geschwister angesteckt. Falls das bei diesen Leuten passiert, werden sie dadurch womöglich ausgelöscht.«

»Großartig!«, rief Lucy. Das zornige Lächeln auf ihrem Gesicht kannte Dan nur zu gut.

»Nicht, wenn sie meinen, dass Abras außergewöhnlich starker Steam sie heilen wird«, sagte Dave. »Darum geht es ja gerade, Schatz. Das ist nicht bloß ein kleines Gerangel; diese Frau und ihre Leute kämpfen ums Überleben.« Er hatte sichtlich mit sich zu ringen, bevor er den Rest herausbrachte. Weil es gesagt werden musste. »Wenn diese Frau die Chance bekommt, wird sie unsere Tochter bei lebendigem Leib auffressen.«

13

»Wo sind die eigentlich?«, fragte Lucy. »Dieser Wahre Knoten, wo hält er sich auf?«

»In Colorado«, sagte Dan. »Auf einem Campingplatz in der Nähe der Stadt Sidewinder.« Dass sich dieser Campingplatz genau an dem Ort befand, an dem er fast durch die Hand seines Vaters gestorben wäre, wollte er nicht erwähnen, weil es zu weiteren Fragen und Zufall-oder-nicht-Spekulationen geführt hätte. Und er war sich ohnehin sicher, dass so etwas wie Zufall nicht existierte.

»In dieser Stadt muss es doch eine Polizeistation geben«, sagte Lucy. »Da rufen wir einfach an und sagen, was los ist.«

»Und was genau sagen wir da?« John klang dabei sanft und aufgeschlossen.

»Na, halt … dass …«

»Wenn wir die Cops tatsächlich dazu bringen sollten, zu diesem Campingplatz zu fahren, dann werden sie dort bloß einen Haufen mittelalter und älterer Amerikaner finden«, sagte Dan. »Harmlose Wohnmobilbesitzer, die Sorte, die einem immer Bilder von ihren Enkeln zeigen will. Die Papiere von denen sind vermutlich in bester Ordnung, von der Hundemarke bis zum Grundbucheintrag. Selbst wenn die Polizei einen Durchsuchungsbefehl bekäme – was nicht der Fall wäre, weil es dafür keinen plausiblen Grund gäbe –, würde sie keinerlei Schusswaffen finden, weil der Wahre Knoten so etwas nicht braucht. Seine Waffen befinden sich hier oben.« Er tippte sich an die Stirn. »Dich, Lucy, würde man für eine ausgeflippte Mutter aus New Hampshire halten, Abra für deine ausgeflippte Tochter, die von zu Hause weggelaufen ist, und uns für deine ausgeflippten Freunde.«

Lucy presste sich die Hände an die Schläfen. »Ich kann einfach nicht glauben, was gerade vor sich geht.«

»Wenn man in den Unterlagen stöbert, würde man wahrscheinlich feststellen, dass der Wahre Knoten – egal unter welchem Namen er offiziell firmiert – sich gegenüber diesem Ort in Colorado sehr großzügig gezeigt hat. Eine Hand wäscht die andere, und wer rechtzeitig vorsorgt, hat eine Menge Freunde, wenn es hart auf hart kommt.«

»Diese Typen treiben schon sehr lange ihr Unwesen, nicht wahr?«, sagte John. »Denn das Wichtigste, was sie durch diesen Steam bekommen, ist offenbar eine verlängerte Lebensdauer.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass deine Einschätzung zutrifft«, sagte Dan. »Und als gute Amerikaner haben sie sich die ganze Zeit über bestimmt fleißig damit beschäftigt, Geld zu machen. Genug, Räder zu schmieren, die wesentlich größer sind als die in Sidewinder. Auf Staats- und Bundesebene.«

»Und diese Rose … die wird nicht aufgeben.«

»Nein.« Dan dachte an die Vision, die er von ihr gehabt hatte. An den schief sitzenden Zylinder. Den aufgesperrten Mund. Den einzelnen Zahn. »Ihr Herz hängt an der Jagd auf eure Tochter.«

»Eine Frau, die sich am Leben hält, indem sie Kinder tötet, hat kein Herz«, sagte Dave.

»O doch, sie hat eines«, sagte Dan. »Aber es ist schwarz.«

Lucy erhob sich. »Genug geredet. Ich will jetzt sofort zu Abra. Alle Mann vorher auf die Toilette, sobald wir im Auto sitzen, halten wir nämlich nicht an, bevor wir an diesem Motel angekommen sind.«

»Gibt’s hier in der Wohnung einen Computer?«, fragte Dan. »Falls ja, muss ich mir vor der Abfahrt kurz was anschauen.«

Lucy seufzte. »Der steht im Arbeitszimmer, und das Passwort wirst du wohl erraten. Aber wenn du mehr als fünf Minuten brauchst, starten wir ohne dich.«

14

Rose lag stocksteif im Bett, zitternd vor Steam und wilder Wut.

Als um Viertel nach zwei ein Motor ansprang, hörte sie es. Steamhead Steve und Baba the Red. Um zwanzig vor vier hörte sie das nächste Motorengeräusch. Diesmal waren es Pea und Pod, die Little-Zwillinge. Begleitet wurden sie von Sweet Terri Pickford, die zweifellos nervös durchs Rückfenster spähte, ob Rose irgendwo zu sehen war. Big Mo hatte gefragt, ob sie mitkommen könne – sie hatte regelrecht darum gefleht –, war jedoch abgewiesen worden, weil sie die Krankheit im Leib hatte.

Rose hätte diese Typen aufhalten können, aber wozu? Die sollten ruhig herausfinden, wie das Leben in Amerika war, wenn sie auf sich selbst gestellt waren, ohne den Wahren Knoten, der sie im Lager beschützte und ihnen unterwegs den Rücken freihielt. Vor allem wenn ich Toady sage, er soll ihre Kreditkarten kündigen und ihre dicken Bankkonten leeren, dachte sie.

Mit Jimmy Numbers war Toady zwar nicht zu vergleichen, aber um so etwas konnte er sich durchaus kümmern, und zwar mit einem einzigen Knopfdruck. Und er würde verfügbar sein. Toady blieb bestimmt bei der Stange. Wie alle, die wirklich was draufhatten … beziehungsweise fast alle. Dirty Phil, Apron Annie und Diesel-Doug befanden sich nämlich nicht mehr auf dem Rückweg. Sie hatten abgestimmt und beschlossen, stattdessen in Richtung Süden zu fahren. Diesel hatte den anderen gesagt, man könne Rose nicht mehr vertrauen, außerdem sei es schon lange an der Zeit, den Knoten zu durchtrennen.

Viel Glück dabei, Süßer, dachte sie, während sie automatisch die Fäuste ballte und wieder öffnete.

Den Wahren Knoten zu spalten war eine furchtbare Vorstellung, aber es war gut, die Herde ein bisschen auszudünnen. Sollten die Schwächlinge doch davonlaufen und die Kranken sterben. Wenn auch dieses verfluchte Mädchen tot war und sie seinen Steam geschluckt hatten (die Illusion, es als Gefangene zu halten, hatte Rose inzwischen aufgegeben), dann würden die etwa fünfundzwanzig verbliebenen Wahren stärker sein denn je. Sie trauerte um Crow, und sie wusste, dass es niemand gab, der wirklich in seine Fußstapfen treten konnte, aber Token Charlie tat bestimmt sein Bestes. Das galt auch für Harpman Sam … Bent Dick … Fat Fannie und Long Paul … und für Greedy G, die zwar keine Leuchte, aber treu und gehorsam war.

Außerdem: Nachdem die anderen weg waren, würde der Steam, den sie noch in Reserve hatten, länger reichen und die Verbliebenen stärker machen. Stark mussten sie nämlich sein.

Komm nur her zu mir, du kleines Aas, dachte Rose. Mal sehen, wie stark du bist, wenn zwei Dutzend von uns gegen dich stehen. Mal sehen, wie es ist, wenn du alleine gegen den Wahren Knoten kämpfst. Wir werden deinen Steam essen und dein Blut auflecken. Aber zuerst trinken wir deine Schreie.

Rose starrte in die Dunkelheit hinauf und hörte die verklingenden Stimmen der Flüchtenden, der Treulosen.

Ein leises, schüchternes Klopfen an der Tür. Rose blieb schweigend noch ein Weilchen liegen und dachte nach, dann schwang sie die Beine vom Bett.

»Komm rein.«

Sie war nackt, machte jedoch keine Anstalten, sich zu verhüllen, als Silent Sarey hereingeschlichen kam, konturenlos in ihrem Nachthemd aus Flanell. Ihr mausgrauer Pony hing ihr bis fast über die Augen in die Stirn. Wie immer schien sie kaum vorhanden zu sein, obwohl sie da war.

»Bin laulig, Lose.«

»Weiß schon. Ich bin auch traurig.«

Das stimmte zwar nicht – sie tobte vor Wut –, aber es klang gut.

»Lose, isch vamisse Andi.«

Andi, ja – Tölpelname Andrea Steiner, deren Vater ihr die Menschlichkeit aus dem Hirn gefickt hatte, lange bevor sie auf den Wahren Knoten gestoßen war. Rose erinnerte sich an den Tag, an dem sie Andi im Kino beobachtet hatte, und daran, wie Andi später mit schierem Mumm und ihrer Willenskraft die Umwandlung überstanden hatte. Snakebite Andi wäre bei der Stange geblieben. Sie wäre durchs Feuer gegangen, wenn Rose sie aufgefordert hätte, es für den Wahren Knoten zu tun.

Sie streckte die Arme aus. Sarey huschte auf sie zu und legte ihr den Kopf an die Brust.

»Ohne Andi will isch stelben.«

»Nein, Liebes, das glaube ich nicht.« Rose zog das kleine Ding zu sich ins Bett und umarmte es fest. Sarey war nichts als ein Knochengerüst, das von etwas Fleisch zusammengehalten wurde. »Sag mir, was du wirklich willst.«

Unter den zottigen Haarsträhnen glommen zwei wilde Augen auf. »Lache.«

Rose küsste sie erst auf die eine Wange, dann auf die andere, dann auf ihre schmalen, trockenen Lippen. Sie beugte sich zurück und sagte: »Ja. Und die wirst du bekommen. Mach den Mund auf, Sarey.«

Gehorsam tat Sarey es. Die Lippen der beiden schmiegten sich aneinander. Rose the Hat, immer noch voller Steam, blies Silent Sarey ihren Atem in die Kehle.

15

Die Wände von Concettas Arbeitszimmer waren mit Notizzetteln, Fragmenten von Gedichten und Briefen gepflastert, die nie beantwortet werden würden. Dan tippte die vier Buchstaben des Passworts ein, startete Firefox und googelte den Bluebell Campground. Der hatte eine Website, die nicht besonders informativ war, wahrscheinlich weil die Besitzer nicht besonders daran interessiert waren, Besucher anzulocken. Das Ganze diente offenkundig nur als Tarnung. Immerhin gab es mehrere Fotos des Geländes, die Dan mit einer Faszination studierte, als hätte er gerade ein altes Familienalbum entdeckt.

Vom Overlook war keine Spur mehr vorhanden, aber Dan erkannte die Landschaft. Einmal, kurz bevor sie vom ersten Schneesturm für den Rest des Winters von der Außenwelt abgeschnitten worden waren, hatte er mit seinen Eltern auf der breiten Veranda des Hotels gestanden (die ohne die Hollywoodschaukeln und Korbstühle noch breiter ausgesehen hatte) und über die lange, ebenmäßig abfallende Rasenfläche geblickt. An deren unterem Ende, wo oft Rehe und Gabelböcke aus dem Wald getreten waren, stand nun ein langes, rustikales Gebäude. Laut Bildunterschrift trug es den Namen Overlook Lodge. Hier konnte man essen, Bingo spielen und am Freitag- und Samstagabend zu Livemusik tanzen. Am Sonntag fanden Gottesdienste statt, abwechselnd geleitet von männlichen und weiblichen Predigern verschiedener Konfessionen, die aus Sidewinder kamen.

Bis der Schnee kam, hat mein Vater den Rasen gemäht und die Hecken, die damals da standen, in Form geschnitten. Er hat gesagt, als Student hätte er einer Dame immer den Kunstgarten beschnitten. Ich habe den Scherz nicht kapiert, aber meine Mama hat darüber gelacht.

»Ein wirklich toller Scherz«, sagte er leise.

Auf den Fotos waren außerdem mehrere Reihen von auf Hochglanz polierten Anschlüssen zu sehen, luxuriöse Armaturen, um die Wohnmobile mit Gas und Elektrizität zu versorgen. Die Sanitärbauten für Männer und Frauen hätten für riesige Raststätten wie Little America und Pedro’s South of the Border ausgereicht. Für kleine Gäste gab es einen Spielplatz. (Dan fragte sich, ob die dort spielenden Kinder wohl manchmal beunruhigende Dinge sahen oder spürten wie damals Danny »Doc« Torrance auf dem Spielplatz vom Overlook.) Ein Softballplatz, eine Shuffleboard-Anlage, zwei Tennisplätze und eine Boccia-Bahn rundeten das Angebot ab.

Allerdings kein Roque-Platz – das nicht. Nicht mehr.

Auf halber Höhe des Hangs – wo sich damals die Heckentiere des Overlooks versammelt hatten – war eine Reihe glänzend weißer Satellitenschüsseln aufgestellt. Und ganz oben, wo das Hotel gestanden hatte, war eine hölzerne Plattform errichtet worden, zu der eine lange Treppe hinaufführte. Diese nun im Besitz des Staates Colorado befindliche Stätte trug den Namen Dach der Welt. Die Besucher des Campingplatzes konnten sie kostenlos besteigen oder die Wanderwege dahinter erkunden. Diese Wege sind nur für erfahrene Wanderer zu empfehlen, besagte die Bildunterschrift, aber das »Dach der Welt« empfängt jedermann. Der Ausblick ist spektakulär!

Daran zweifelte Dan nicht. Vom Speise- und vom Ballsaal des Overlooks aus war der Blick ebenfalls spektakulär gewesen … zumindest bis der sich immer höher auftürmende Schnee die Fenster verhüllt hatte. Im Westen ragten die höchsten Gipfel der Rocky Mountains wie Speere in den Himmel. Richtung Osten sah man bis nach Boulder, ach, sogar bis nach Denver und Arvada, jedenfalls an den seltenen Tagen, an denen die Luftverschmutzung nicht zu schlimm war.

Dass der Staat sich dieses Landstück angeeignet hatte, war nicht weiter erstaunlich. Wer hätte dort wohl wieder etwas erbauen wollen? Der Boden war verdorben, und man brauchte kaum über telepathische Fähigkeiten zu verfügen, um das wahrzunehmen. Aber der Wahre Knoten hatte sich so nah wie möglich an diesem Ort niedergelassen, und Dan vermutete, dass dessen gelegentlich auftauchende Gäste – die normalen – nur selten zu einem zweiten Besuch wiederkamen oder ihren Freunden den Campingplatz weiterempfahlen. Ein unheilvoller Ort muss unheilvolle Kreaturen anziehen, hatte John gesagt. Falls dem so war, dann galt auch umgekehrt: Wer gut war, musste sich davon abgestoßen fühlen.

»Dan?«, rief Dave. »Der Zug fährt ab!«

»Ich brauche noch eine Minute!«

Er schloss die Augen und presste sich eine Handfläche an die Stirn.

(Abra)

Seine Stimme weckte sie sofort.

Kapitel siebzehn DAS KLEINE AAS

1

Es war noch mindestens eine Stunde bis zur Morgendämmerung, und vor dem Motel Crown war es dunkel, als sich die Tür von Zimmer 24 öffnete und ein Mädchen heraustrat. Dichter Nebel lag über der Landschaft, sodass die Welt kaum vorhanden war. Das Mädchen trug eine schwarze Hose und ein weißes T-Shirt. Ihre Haare hatte sie zu zwei Zöpfen gebunden, und das Gesicht dazwischen sah sehr jung aus. Sie atmete tief ein, und die kühle, feuchte Luft wirkte Wunder gegen die immer noch vorhandenen Kopfschmerzen, tat jedoch nicht viel für Abras todtrauriges Herz. Momo war gestorben.

Aber wenn Onkel Dan recht hatte, war sie nicht richtig tot, nur irgendwo anders. Vielleicht gehörte sie nun zu den Geisterleuten, vielleicht auch nicht. Allerdings hatte Abra gerade keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Eventuell würde sie das später tun.

Dan hatte gefragt, ob Billy schlafe. Ja, hatte sie geantwortet, der schlafe tief und fest. Durch die offene Tür könne sie seine Füße unter der Decke hervorragen sehen und sein regelmäßiges Schnarchen hören. Es klinge wie ein vor sich hin tuckerndes Motorboot.

Außerdem hatte Dan gefragt, ob Rose oder jemand von deren Leuten irgendwie versucht habe, in ihre Gedanken einzudringen. Nein. Das hätte sie gemerkt. Ihre Fallen seien aufgestellt, und das müsse Rose ahnen. Dumm sei die schließlich nicht.

Ob ein Telefon in ihrem Zimmer sei, hatte die nächste Frage gelautet. Ja, da stehe eines. Woraufhin Onkel Dan ihr erklärt hatte, was sie tun solle. Es war ziemlich einfach. Angst machte ihr nur, was sie zu dieser schrecklichen Frau in Colorado sagen musste. Dennoch wollte sie es tun. Etwas in ihr hatte das tun wollen, seit sie die Todesschreie des Baseballjungen gehört hatte.

(ist dir klar was du mehrfach sagen musst)

Ja natürlich.

(weil du sie reizen musst das ist wichtig)

(hab verstanden)

Sie wütend machen. Sie zur Weißglut bringen.

Abra stand da und atmete in den Nebel hinein. Die Straße, auf der sie hergekommen waren, war kaum zu sehen, die Bäume dahinter waren vollständig verschwunden. Auch das Rezeptionsgebäude sah man nicht. Manchmal wünschte sie sich, auch so zu sein, ganz weiß im Innern. Aber nur manchmal. Im tiefsten Herzen bedauerte sie nie, was sie war.

Als sie sich bereit fühlte – so bereit, wie es ihr möglich war –, ging sie in ihr Zimmer zurück und schloss die Seitentür, um Mr. Freeman nicht zu stören, falls sie laut werden musste. Sie studierte die Anweisungen auf dem Telefon und drückte die Neun, um eine Verbindung nach draußen zu bekommen. Dann wählte sie die Auskunft und erkundigte sich nach der Nummer der Overlook Lodge auf dem Bluebell Campground in Sidewinder, Colorado. Die Nummer des Büros dort könnte ich dir zwar nennen, hatte Dan gesagt, aber da würde sich bloß der Anrufbeantworter melden.

An dem Ort, wo die Gäste ihre Mahlzeiten einnahmen und Karten spielten, läutete das Telefon lange vor sich hin. Das hatte Dan vorausgesehen und ihr gesagt, sie solle einfach warten. Schließlich sei es dort zwei Stunden früher als an der Ostküste.

Endlich sagte jemand mit brummiger Stimme: »Hallo? Wenn Sie das Büro sprechen wollen, haben Sie die falsche Num…«

»Das Büro interessiert mich nicht«, sagte Abra und hoffte, dass man ihr nicht anhörte, wie schnell und heftig ihr Herz schlug. »Ich will Rose sprechen. Rose the Hat.«

Eine Pause. Dann: »Wer spricht da?«

»Abra Stone. Sie kennen meinen Namen, stimmt’s? Ich bin das Mädchen, nach dem Rose sucht. Sagen Sie ihr, in fünf Minuten rufe ich noch mal an. Wenn sie dann da ist, sprechen wir miteinander. Wenn nicht, kann sie mich am Arsch lecken. Noch mal rufe ich nämlich nicht an.«

Abra legte auf, dann ließ sie den Kopf sinken, verbarg ihr glühendes Gesicht in den Händen und atmete tief und langsam durch.

2

Rose saß am Lenkrad ihres EarthCruiser, die Füße auf dem Geheimfach mit den Flaschen voll Steam, und trank Kaffee, als es an die Tür klopfte. Ein so frühes Klopfen konnte nur weitere Probleme bedeuten.

»Ja«, sagte sie. »Mach einfach die Tür auf.«

Es war Long Paul, der einen kindischen, mit Rennautos bedruckten Pyjama und darüber seinen Bademantel trug. »Das Münztelefon in der Lodge hat geläutet. Zuerst hab ich nicht reagiert, weil ich dachte, da hat sich jemand verwählt, außerdem war ich gerade in der Küche und hab Kaffee gekocht. Aber es hat nicht aufgehört, also hab ich abgehoben. Es war dieses Mädchen. Sie will mit dir sprechen. In fünf Minuten ruft sie noch mal an, hat sie gesagt.«

Hinten setzte Silent Sarey sich im Bett auf und blinzelte durch ihren Pony. Die Bettdecke hatte sie wie einen Schal um die Schultern gezogen.

»Raus«, sagte Rose zu ihr.

Sarey gehorchte stumm. Durch die breite Windschutzscheibe des EarthCruisers hindurch sah Rose, wie Sarey barfuß zu dem Bounder zurücktrottete, den sie sich mit Snakebite Andi geteilt hatte.

Das Mädchen.

Statt davonzulaufen und sich zu verstecken, machte dieses kleine Aas doch tatsächlich Telefonanrufe. Eiserne Nerven hatte die Kleine, das musste man zugeben. Aber war es ihre eigene Idee gewesen? Das war schwer zu glauben, oder nicht?

»Sag mal, wieso hast du dich eigentlich schon so früh in der Küche herumgetrieben?«

»Ich konnte nicht einschlafen.«

Sie wandte sich ihm zu. Er war ein groß gewachsener, älterer Kerl mit schütterem Haar und einer Bifokalbrille auf der Nase. Ein Tölpel hätte ihm monatelang täglich auf der Straße begegnen können, ohne ihn wahrzunehmen, aber er hatte durchaus gewisse Fähigkeiten. Paul besaß zwar kein Schläfertalent wie Snakebite es hatte, und er war auch kein Finder wie der verstorbene Grampa Flick, aber er war ein anständiger Überreder. Wenn er einem Tölpel suggerierte, dieser solle seiner Frau – oder einem Fremden – eine Ohrfeige verpassen, dann geschah genau das, und zwar flott. Jedes Mitglied des Wahren Knotens verfügte über sein eigenes kleines Talent; das war der Grund, weshalb sie überall durchkamen.

»Zeig mir mal deine Arme, Paulie.«

Er seufzte und schob die Ärmel seines Bademantels und seines Pyjamas bis zu den runzligen Ellbogen hoch. Da waren sie, die roten Flecke.

»Seit wann hast du die?«

»Die ersten paar hab ich gestern Nachmittag bemerkt.«

»Fieber?«

»Ja. Ein bisschen.«

Sie blickte in seine ehrlichen, vertrauensvollen Augen und hätte ihn am liebsten umarmt. Einige waren davongelaufen, aber Long Paul war noch da. Die meisten anderen ebenfalls. Auf jeden Fall waren es genug, dass man mit diesem kleinen Aas fertigwerden konnte, wenn es wirklich so leichtsinnig war, hier aufzutauchen. Was durchaus möglich war. Welches zwölfjährige Mädchen war nicht leichtsinnig?

»Du wirst wieder gesund«, sagte sie.

Er seufzte noch einmal. »Hoffentlich. Falls nicht, hatten wir eine verdammt gute Zeit.«

»So was will ich gar nicht erst hören. Jeder, der hier bei uns bleibt, wird gesund. Das verspreche ich, und ich halte meine Versprechen. Aber hören wir jetzt erst mal, was unsere kleine Freundin aus New Hampshire zu sagen hat.«

3

Kaum eine Minute nachdem Rose es sich auf dem Sessel neben der großen Bingo-Trommel gemütlich gemacht hatte (den langsam abkühlenden Becher Kaffee neben sich), gab das Münztelefon der Lodge ein noch aus dem 20. Jahrhundert stammendes Scheppern von sich, das sie zusammenfahren ließ. Sie ließ es zweimal läuten, bevor sie den Hörer schließlich von der Gabel nahm. »Hallo, meine Liebe«, sagte sie in dem gelassensten Ton, der ihr zur Verfügung stand. »Wieso hast du denn nicht mental Kontakt mit mir aufgenommen? Dann hättest du dir die Gebühren für das Ferngespräch sparen können.«

Es wäre allerdings äußerst leichtsinnig gewesen, wenn das kleine Aas das tatsächlich versucht hätte. Schließlich war Abra Stone nicht die Einzige, die Fallen stellen konnte.

»Ich komme zu dir«, sagte das Mädchen. Ihre Stimme klang so jung, so frisch! Rose dachte an all den nützlichen Steam, der mit dieser Frische verbunden war, und spürte in sich Gier aufsteigen wie ungestillten Durst.

»Das hast du mir bereits gesagt. Aber bist du dir wirklich sicher, dass du das tun willst, meine Liebe?«

»Wirst du da sein, wenn ich komme? Oder treffe ich bloß auf deine abgerichteten Ratten?«

Rose spürte ein Fünkchen Ärger. Das war zwar nicht hilfreich, aber sie war einfach kein Morgenmensch.

»Wieso sollte ich nicht da sein, meine Liebe?« Sie sorgte dafür, dass sich ihre Stimme weiterhin ruhig und ein wenig nachsichtig anhörte – so wie sie sich die Stimme einer Mutter vorstellte (selber war sie nie eine gewesen), die mit einem zu Tobsuchtsanfällen neigenden Kleinkind sprach.

»Weil du feige bist.«

»Ich wüsste gern, wie du auf so etwas kommst«, sagte Rose. Ihr Ton blieb derselbe – nachsichtig, leicht amüsiert –, aber ihre Hand umklammerte das Telefon und drückte es fester ans Ohr. »Du hast mich doch noch nie getroffen.«

»Klar hab ich das. In meinem Kopf, und da hast du sofort den Schwanz eingezogen und dich davongemacht. Außerdem tötest du Kinder. Bloß Feiglinge töten Kinder.«

Du musst dich vor einem Teenager nicht rechtfertigen, sagte Rose sich. Schon gar nicht, wenn es ein Tölpel ist. Dennoch hörte sie sich sagen: »Du weißt überhaupt nichts über uns. Du hast keine Ahnung, was wir sind und was wir tun müssen, um zu überleben.«

»Ein Haufen Feiglinge seid ihr«, sagte das kleine Aas. »Ihr meint, ihr seid so intelligent und stark, aber das Einzige, worin ihr wirklich gut seid, ist fressen und ein langes Leben haben. Ihr seid wie Hyänen. Ihr tötet die Schwachen, und dann lauft ihr weg. Feiglinge!«

Die Verachtung in Abras Stimme drang wie Säure in Rose’ Ohr. »Das ist nicht wahr!«

»Und du bist der Oberfeigling. Schließlich wolltest du nicht selber kommen, um mich zu holen, oder? Nein, du doch nicht. Stattdessen hast du deine Leute geschickt.«

»Wollen wir uns jetzt eigentlich normal unterhalten, oder …«

»Was ist normal daran, Kinder umzubringen, damit ihr das Zeug in ihrem Kopf stehlen könnt? Was ist normal daran, du feige alte Hexe? Du hast deine Leute geschickt, damit sie deine Arbeit tun, du hast dich hinter ihnen versteckt, und das war ziemlich clever von dir, denn jetzt sind sie alle tot.«

»Du dummes kleines Aas, du hast ja keine Ahnung!« Rose sprang auf, wobei sie mit den Oberschenkeln an den Tisch knallte. Ihr Becher fiel um, und der Kaffee ergoss sich unter die Bingo-Trommel. Long Paul lugte durch die Küchentür, sah den Ausdruck auf ihrem Gesicht und zog sich sofort wieder zurück. »Wer ist hier feige? Wer ist der echte Feigling? Am Telefon bist du natürlich mutig, aber mir das ins Gesicht zu sagen wagst du bestimmt nicht!«

»Na, wie viele Typen wirst du bei dir haben, wenn ich komme?«, höhnte Abra. »Wie viele, du feige Tussi?«

Rose erwiderte nichts. Sie musste sich wieder in die Gewalt bekommen, das wusste sie, aber sich von einem Tölpelmädchen im Neuntklässler-Slang beschimpfen zu lassen … und dann noch von einem Mädchen, das zu viel wusste. Viel zu viel.

»Hast du überhaupt genug Mumm, dich mir allein entgegenzustellen?«, fragte das kleine Aas.

»Wart’s nur ab!«, stieß Rose hervor.

Am anderen Ende entstand eine Pause, und als das kleine Aas wieder etwas sagte, hörte es sich nachdenklich an. »Bloß wir zwei? Nein, das traust du dich nicht. Zu so was hat ein Feigling wie du nie genügend Mumm. Nicht mal, wenn du’s mit jemand zu tun hast, der noch nicht erwachsen ist. Alles, was du kannst, ist bescheißen und lügen. Klar, manchmal siehst du ganz hübsch aus, aber ich hab dein echtes Gesicht gesehen. Du bist bloß eine feige alte Hexe.«

»Du … du …« Mehr brachte sie nicht heraus. Ihr Zorn war so stark, als könnte er sie erwürgen. Teilweise lag das daran, dass sie – Rose the Hat – von einer Göre heruntergeputzt wurde, die mit dem Fahrrad durch die Gegend gondelte und sich in den letzten Wochen wahrscheinlich hauptsächlich mit der Frage beschäftigt hatte, wann ihr endlich Busen wuchsen, die größer als zwei Mückenstiche waren.

»Na, vielleicht gebe ich dir ja eine Chance«, sagte das kleine Aas. Ihr Selbstvertrauen und ihre Tollkühnheit waren unglaublich. »Allerdings – wenn du drauf eingehst, wische ich mit dir den Boden auf. Um die anderen kümmere ich mich erst gar nicht, die sind bekanntlich schon am Sterben.« Worauf das Aas sogar lachte. »Die ersticken an dem Baseballjungen, und das geschieht ihnen recht.«

»Wenn du kommst, kille ich dich«, sagte Rose. Eine ihrer Hände griff ihr unwillkürlich an die Kehle, schloss sich darum und begann, rhythmisch zuzudrücken. Das würde blaue Flecke geben. »Wenn du davonläufst, suche ich dich. Und wenn ich dich gefunden habe, wirst du stundenlang schreien, bis du stirbst.«

»Ich laufe nicht davon«, sagte das Mädchen. »Und wir werden schon sehen, wer von uns beiden schreit.«

»Wie viele wirst denn du mitbringen, um dir den Rücken freizuhalten? Na, meine Liebe?«

»Ich werde allein sein.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Lies meine Gedanken«, sagte das Mädchen. »Oder fürchtest du dich sogar davor?«

Rose schwieg.

»Klar fürchtest du dich. Schließlich erinnerst du dich, was beim letzten Mal passiert ist, als du’s versucht hast. Da hab ich es dir zurückgezahlt, und das hat dir gar nicht gefallen, oder? Hyäne. Kindermörderin. Feige Sau.«

»Hör auf … mich … so … zu … nennen.«

»Da, wo du bist, ist oben am Hang eine Plattform. Ein Ausguck. Dach der Welt heißt der, das hab ich im Internet gesehen. Komm am Montagnachmittag um fünf da hin. Aber allein. Falls der Rest von deinem Hyänenrudel nicht in dieser Lodge bleibt, werde ich es merken. Und dann verschwinde ich wieder.«

»Ich finde dich«, wiederholte Rose.

»Ach, meinst du?« Richtig höhnisch klang das.

Rose schloss die Augen und sah das Mädchen. Sie sah es auf dem Boden liegen und sich winden, den Mund voll stechender Hornissen. Aus ihren Augen ragten glühende Stäbe. Niemand wagt es, so mit mir zu sprechen. Niemals.

»Na schön, nehmen wir mal an, du findest mich. Aber wenn du das tust, wie viele von deinen dämlichen Freunden werden dann noch übrig sein, um dir zu helfen? Ein Dutzend? Zehn? Oder bloß noch drei oder vier?«

Das war Rose auch schon in den Sinn gekommen. Dass ein Teenager, den sie noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, zu denselben Schlüssen kam wie sie, brachte sie irgendwie am allermeisten in Rage.

»Dieser Crow kannte sich mit Shakespeare aus«, sagte das kleine Aas. »Kurz bevor ich ihn erledigt hab, hat er was von ihm zitiert. Ich hab da auch ein bisschen Ahnung, weil es in der Schule mal um Shakespeare ging. Wir haben bloß ein Stück gelesen, Romeo und Julia, aber Ms. Franklin hat uns ein Arbeitsblatt mit allerhand berühmten Sprüchen aus seinen anderen Stücken gegeben. So was wie ›Sein oder nicht sein‹ und ›Das ist der Anfang vom Ende‹. Wusstest du, dass das von Shakespeare ist? Ich nicht. Interessant, oder?«

Rose schwieg.

»Du denkst überhaupt nicht an Shakespeare«, sagte das kleine Aas. »Du denkst daran, wie gern du mich umbringen willst. Um das zu wissen, brauche ich nicht mal deine Gedanken zu lesen.«

»An deiner Stelle würde ich schleunigst davonrennen«, sagte Rose bedächtig. »So schnell und so weit, wie deine Beinchen dich tragen. Es würde dir zwar überhaupt nichts nützen, aber wenigstens würdest du ein wenig länger leben.«

Das kleine Aas ließ sich nicht einwickeln. »Da war noch so ein Spruch. Bei dem ging es darum, in die eigene Falle zu tappen. Ich hab den Eindruck, dass das gerade mit deiner Meute von feigen Typen passiert. Ihr habt euch die falsche Sorte Steam reingezogen, und jetzt sitzt ihr in der Falle.« Eine Pause entstand. »Na, bist du noch da, Rose? Oder bist du schon weggelaufen?«

»Komm nur her zu mir, meine Liebe«, sagte Rose. Sie hatte die Ruhe wiedergewonnen. »Wenn du mich auf der Plattform treffen willst, werde ich dort auf dich warten. Dann können wir gemeinsam die Aussicht genießen, ja? Und sehen, wer die Stärkere ist.«

Rose legte auf, bevor das kleine Aas noch etwas sagen konnte. Sie hatte zwar die Beherrschung verloren, obwohl sie sich geschworen hatte, das nicht zu tun, aber immerhin hatte sie das letzte Wort gehabt.

Oder vielleicht auch nicht, denn ein Wort, das dieses Aas dauernd gesagt hatte, wurde in ihrem Kopf ständig weiter abgespielt, wie bei einem Grammophon, wenn die Nadel in einer schadhaften Rille hängen blieb.

Feige. Feige. Feige.

4

Abra legte den Telefonhörer behutsam wieder auf die Gabel. Dann sah sie ihn an; sie streichelte sogar seine glatte Kunststoffoberfläche, die warm von ihrer Hand und feucht von ihrem Schweiß war. Bevor sie wusste, was mit ihr geschah, brach sie in ein lautes, bellendes Schluchzen aus. Es stürmte durch sie hindurch, verkrampfte ihren Magen und schüttelte ihren Körper. Weinend lief sie ins Badezimmer, kniete sich vor die Toilette und übergab sich.

Als sie wieder herauskam, stand Mr. Freeman in der Verbindungstür. Das Hemd hing ihm aus der Hose, seine grauen Haare standen in wirren Korkenzieherlocken vom Kopf ab. »Was ist denn los? Ist dir von dem Zeug, das er uns gespritzt hat, schlecht geworden?«

»Nein, das war es nicht.«

Er trat zum Fenster und spähte in den dichten Nebel hinaus. »Sind es die? Kommen die etwa hierher?«

Vorübergehend unfähig zu sprechen, konnte sie nur den Kopf schütteln. Das tat sie so heftig, dass ihre Zöpfe flogen. Die kamen nicht hierher, sie selber würde zu ihnen gehen, und das machte ihr furchtbar Angst.

Nicht nur um sich selbst.

5

Rose saß reglos da und zwang sich zu tiefen Atemzügen, um sich zu beruhigen. Als sie sich wieder in der Gewalt hatte, rief sie Long Paul herbei. Nach wenigen Augenblicken steckte der vorsichtig den Kopf durch die Schwingtür, die in die Küche führte. Beim Anblick seines Gesichtsausdrucks musste sie unwillkürlich lächeln. »Keine Angst, du kannst reinkommen. Ich beiße dich schon nicht.«

Als er sich näherte, sah er den verschütteten Kaffee. »Moment, das wische ich gleich auf«, sagte er.

»Vergiss es. Wer ist der beste Finder, den wir noch haben?«

»Du, Rose.« Ohne zu zögern.

Rose hatte nicht die Absicht, sich dem kleinen Aas mental zu nähern, nicht einmal in der äußersten Not. »Außer mir.«

»Tja … da Grampa Flick hinüber ist … und Barry auch …« Er dachte nach. »Sue hat gewisse Fähigkeiten, Greedy G ebenfalls. Aber ich glaube, Token Charlie ist noch besser geeignet.«

»Ist der krank?«

»Gestern war er es noch nicht.«

»Schick ihn zu mir. Während ich auf ihn warte, werde ich den Kaffee aufwischen. Denn – das ist wichtig, Paulie – wer was verbockt, sollte es selber wieder in Ordnung bringen.«

Nachdem er gegangen war, blieb Rose noch eine Weile sitzen, die Hände unter dem Kinn verschränkt. Sie konnte wieder klar denken, und damit verbunden war auch die Fähigkeit zu planen. Wie’s aussah, würden die Wahren heute doch keinen Steam nehmen. Das konnte bis Montagmorgen warten.

Nach einer Weile ging sie in die Küche, um sich ein paar Papierhandtücher zu besorgen. Dann wischte sie die Schweinerei auf, die sie gemacht hatte.

6

»Dan!« Diesmal war es John. »Wir müssen los!«

»Komme gleich«, sagte er. »Ich will mir bloß noch das Gesicht waschen.«

Während er durch den Flur ging, lauschte er Abra und nickte leicht mit dem Kopf, als wäre sie tatsächlich da.

(Mr. Freeman will wissen wieso ich geweint hab und wieso ich gekotzt hab was soll ich ihm)

(vorläufig bloß dass er mir seinen Pick-up leihen soll wenn wir bei euch sind)

(weil wir nach Westen fahren werden)

(… tja …)

Es war kompliziert, aber sie begriff. Das Ganze musste nicht in Worte gefasst werden.

Neben dem Waschbecken stand ein Regal mit mehreren Zahnbürsten, die meisten noch eingepackt. Auf dem Griff der kleinsten – nicht eingepackten – stand in bunten Lettern ABRA. An einer Wand hing ein kleines Schild mit der Aufschrift EIN LEBEN OHNE LIEBE IST WIE EIN BAUM OHNE FRÜCHTE. Er betrachtete es einige Sekunden und überlegte, ob es im AA-Programm wohl etwas Ähnliches gab. Das Einzige, was ihm einfiel, war Wenn du heute niemand lieben kannst, versuch wenigstens, niemand zu verletzen. Aber das ließ sich eigentlich nicht vergleichen.

Er drehte das kalte Wasser auf und klatschte sich mit beiden Händen mehrere Ladungen ins Gesicht. Dann drehte er den Hahn zu, griff nach einem Handtuch und hob den Kopf. Diesmal war keine Lucy mit ihm im Rahmen; da war nur Dan Torrance, der Sohn von Jack und Wendy, der immer gedacht hatte, er wäre ein Einzelkind.

Sein Gesicht war mit Fliegen bedeckt.

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