Teil vier DAS DACH DER WELT

Kapitel achtzehn NACH WESTEN

1

An die Fahrt von Boston zum Motel Crown erinnerte Dan sich später nicht mehr besonders gut, weil die vier Insassen von John Daltons SUV nur sehr wenig sprachen. Ihr Schweigen war nicht peinlich oder feindselig, sondern erschöpft – die Stille von Menschen, die über vieles nachzudenken, aber nicht viel zu besprechen hatten. Am besten erinnerte er sich daran, was geschehen war, als sie ihr Ziel erreicht hatten.

Dan wusste, dass Abra sie erwartete, denn auf der Fahrt war er oft in Kontakt mit ihr gewesen. Die beiden hatten so kommuniziert, wie sie es sich angewöhnt hatten, halb in Worten und halb in Bildern. Als Johns Wagen in den Parkplatz einbog, saß sie auf der hinteren Stoßstange von Billys altem Pick-up. Sobald sie Johns Wagen kommen sah, sprang sie winkend auf. In diesem Augenblick riss die dünner gewordene Wolkendecke auf, und Abra stand im Sonnenlicht. Es war wie ein kleiner Gruß des Himmels.

Lucy stieß einen Ruf aus, der fast ein Schrei war. Noch bevor John den Wagen ganz zum Halten gebracht hatte, hatte sie ihren Gurt gelöst und die Tür geöffnet. Wenige Sekunden später schlang sie die Arme um ihre Tochter und küsste sie auf den Scheitel – mehr war nicht möglich, weil Abras Gesicht zwischen ihren Brüsten steckte. Nun beschien die Sonne Mutter und Kind.

Mother and Child Reunion, dachte Dan. Das Lächeln, das dieser Gedanke auslöste, fühlte sich auf seinem Gesicht merkwürdig an. Seit er das letzte Mal gelächelt hatte, war viel Zeit vergangen.

2

Lucy und David wollten Abra nach New Hampshire zurückbringen. Dagegen hatte Dan nichts einzuwenden, aber da sie nun alle zusammen waren, mussten sie erst einmal Kriegsrat abhalten. An der Rezeption saß wieder der Fettkloß mit dem Pferdeschwanz; statt Porno genehmigte er sich heute einen MMA-Kampf. Er war gern bereit, ihnen Zimmer 24 weiterzuvermieten; ob sie die Nacht dort verbrachten oder nicht, war ihm egal. Billy fuhr in die Stadt, um ein paar Pizzas zu besorgen. Anschließend informierten Dan und Abra die anderen abwechselnd über alles, was bisher geschehen war, und alles, was noch geschehen würde. Wenn es so lief, wie sie hofften, jedenfalls.

»Nein, das ist viel zu gefährlich«, sagte Lucy sofort. »Für euch beide.«

John verzog den Mund zu einem trüben Lächeln. »Am gefährlichsten wäre es, diese … diese Kreaturen zu ignorieren. Rose sagt, wenn Abra nicht zu ihr kommt, dann kommt sie zu Abra.«

»Die ist sozusagen auf Abra fixiert«, sagte Billy und wählte ein Stück Pizza mit Peperoni und Champignons. »Bei Irren kommt so was häufig vor. Da haben sie neulich was im Fernsehen darüber gebracht.«

Lucy sah ihre Tochter vorwurfsvoll an. »Du hast sie aufgestachelt. Das war gefährlich, aber wenn sie sich beruhigt hat, wird sie vielleicht …«

Obwohl niemand sie unterbrach, verstummte sie. Offenbar war ihr klar geworden, wie unwahrscheinlich diese Erwartung war.

»Sie wird nicht aufgeben, Mama«, sagte Abra. »Sie nicht und die anderen auch nicht.«

»Abra wird nicht in Gefahr geraten«, sagte Dan. »Es gibt so etwas wie ein Rad, ein besserer Ausdruck dafür fällt mir nicht ein. Wenn es gefährlich wird oder gar schiefläuft, wird Abra dieses Rad verwenden, um sich davonzumachen. Sie wird sich aus der Situation herausziehen. Das hat sie mir versprochen.«

»Genau«, sagte Abra. »Ich hab’s versprochen.«

Dan warf ihr einen strengen Blick zu. »Und dieses Versprechen wirst du halten, richtig?«

»Ja«, sagte Abra mit fester Stimme, aber doch deutlich widerstrebend. »Das werde ich.«

»Wir müssen auch an diese ganzen Kinder denken«, sagte John. »Wer weiß, wie viele diese Bande im Lauf der Jahre umgebracht hat. Vielleicht Hunderte.«

Wenn die Mitglieder des Wahren Knotens so lange lebten, wie Abra glaubte, waren es wohl eher Tausende, dachte Dan. »Und das würde so weitergehen«, sagte er. »Selbst wenn sie Abra in Frieden lassen.«

»Immer vorausgesetzt, sie krepieren nicht alle an den Masern«, sagte Dave hoffnungsvoll. Er sah John an. »Du hast gesagt, das wäre durchaus möglich.«

»Sie wollen mich schnappen, weil sie denken, ich kann ihre Masern heilen«, sagte Abra. »Endlich geschnallt?«

»Kein Grund, ausfällig zu werden«, sagte Lucy abwesend. Sie nahm das letzte Stück Pizza, betrachtete es und warf es in die Schachtel zurück. »An die anderen Kinder will ich nicht denken. Ich denke an Abra. Ich weiß, wie schlimm sich das anhört, aber es ist die Wahrheit.«

»Wenn du die ganzen kleinen Fotos in der Zeitung gesehen hättest, würdest du wahrscheinlich anders denken«, sagte Abra. »Mir gehen sie jedenfalls nicht aus dem Kopf. Manchmal träume ich davon.«

»Falls diese Irre einigermaßen logisch denkt, weiß sie, dass Abra nicht alleine kommt«, sagte Dave. »Die kann ja nicht einfach nach Denver fliegen und dort einen Wagen mieten. Schließlich ist sie erst zwölf Jahre alt.« Er warf seiner Tochter einen halb amüsierten Seitenblick zu. »Endlich geschnallt?«

»Durch das, was am Wolkentor geschehen ist, weiß Rose schon, dass Abra Freunde hat«, sagte Dan. »Allerdings weiß sie nicht, dass mindestens einer davon dieselbe Gabe hat wie sie.« Er sah Abra fragend an, und diese nickte bestätigend. »Daher, Lucy … und Dave – ich glaube, gemeinsam können Abra und ich dieser …« Er suchte nach dem richtigen Wort und fand nur ein einziges, das passte. »… dieser Seuche ein Ende bereiten. Einer von uns allein …« Er schüttelte den Kopf.

»Außerdem kannst weder du noch Dad mich daran hindern«, sagte Abra. »Ihr könnt mich zwar in meinem Zimmer einsperren, aber meinen Kopf einsperren könnt ihr nicht!«

Lucy warf Abra einen drohenden Blick zu. Von der Sorte, die Mütter exklusiv für ihre rebellischen Töchter reservierten, und er hatte bisher immer gewirkt, selbst wenn Abra einen ihrer Tobsuchtsanfälle hatte. Diesmal versagte er. Abra sah ihre Mutter ruhig an. In ihrem Blick lag eine Traurigkeit, bei der es Lucy kalt ums Herz wurde.

Dave ergriff Lucys Hand. »Ich glaube, es geht nicht anders.«

Im Raum breitete sich Schweigen aus. Es war Abra, die es brach. »Wenn niemand das letzte Stück Pizza da haben will, nehme ich es. Ich bin nämlich noch echt hungrig

3

Sie sprachen den Plan noch mehrere Male durch, und bezüglich mancher Details gab es Einwände, aber im Grunde war alles gesagt. Mit einer Ausnahme, wie sich herausstellte. Als sie das Zimmer verlassen hatten, weigerte sich Billy, in Johns Auto zu steigen.

»Ich fahre mit«, sagte er zu Dan.

»Billy, das weiß ich zwar zu schätzen, aber es ist keine gute Idee.«

»Wer in meinem Wagen sitzt, bestimme ich. Außerdem, wie willst du es alleine bis Montagnachmittag nach Colorado schaffen? Das ist völlig lächerlich. Du siehst nämlich beschissen aus.«

»Das haben mir in letzter Zeit schon mehrere Leute erklärt«, sagte Dan. »Aber noch nie auf so elegante Weise.«

Billy grinste nicht einmal ansatzweise. »Ich kann dir helfen. Ich bin zwar alt, aber tot bin ich noch lange nicht.«

»Nimm ihn mit«, sagte Abra. »Er hat recht.«

Dan sah sie aufmerksam an.

(weißt du etwas Abra)

Die Antwort kam auf der Stelle.

(nein aber ich spüre etwas)

Das reichte Dan. Er breitete die Arme aus. Abra warf sich hinein und drückte das Gesicht an seine Brust. Er hätte sie lange so umarmen können, aber er ließ sie los und trat einen Schritt zurück.

(sag mir wenn du bald da bist Onkel Dan dann komme ich)

(du musst ganz behutsam sein vergiss das nicht)

Statt eines ausformulierten Gedankens schickte sie ihm ein Bild: einen Rauchmelder, der piepte, weil seine Batterie leer war. Sie wusste genau, wie sie sich verhalten musste.

Während sie zu Johns Wagen gingen, sagte Abra zu ihrem Vater: »Auf der Rückfahrt müssen wir irgendwo anhalten und eine Genesungskarte kaufen. Julie Cross hat sich gestern beim Fußballtraining das Handgelenk gebrochen.«

Stirnrunzelnd sah Dave sie an. »Woher willst du das denn wissen?«

»Ich weiß es eben«, sagte sie.

Er zog sie sanft an einem ihrer Pferdeschwänzchen. »Du hast tatsächlich nichts davon verlernt, stimmt’s? Ich weiß bloß nicht, wieso du uns nie etwas davon erzählt hast, Abba-Doo.«

Dan, der ebenfalls mit dem Shining aufgewachsen war, hätte die Frage sofort beantworten können.

Manchmal mussten Eltern eben beschützt werden.

4

Damit trennten sich ihre Wege. Johns SUV fuhr nach Osten, Billys Pick-up nach Westen, mit seinem Besitzer am Steuer. »Kannst du wirklich fahren, Billy?«, fragte Dan.

»Nachdem ich derartig lang gepennt hab? Junge, ich könnte bis Kalifornien fahren!«

»Weißt du überhaupt, wo es hingeht?«

»Als ich in der Stadt auf die Pizza gewartet hab, hab ich einen Autoatlas gekauft.«

»Also warst du da schon fest entschlossen. Und du wusstest, was Abra und ich vorhaben.«

»Na ja … mehr oder weniger. Manchmal hab ich so ein Gefühl.« Er grinste. »Ich glaube, das hab ich dir schon an dem Tag gesagt, als wir uns kennengelernt haben.«

»In Ordnung, aber wenn ich dich ablösen soll, melde dich«, sagte Dan, legte den Kopf ans Seitenfenster und schlief augenblicklich ein. Er versank in einem immer tiefer werdenden Abgrund voll verstörender Bilder. Zuerst kamen die Heckentiere im Garten des Overlooks, die sich bewegten, wenn man nicht hinsah. Es folgte Mrs. Massey aus Zimmer 217, der nun ein Zylinder schräg auf dem Kopf saß. Noch tiefer sinkend, befand er sich wieder in der Schlacht am Wolkentor. Als er jedoch diesmal in den Winnebago stürmte, lag dort Abra mit aufgeschlitzter Kehle auf dem Boden. Über ihr stand Rose, ein tropfendes Rasiermesser in der Hand. Als sie Dan sah, verzog die untere Hälfe ihres Gesichts sich zu einem obszönen Grinsen, in dem ein einzelner langer Zahn glänzte. Ich hab ihr gesagt, dass es so endet, aber sie hat nicht zugehört, sagte sie. Leider tun Kinder das selten.

Darunter kam nur noch Dunkelheit.

Als er aufwachte, sah er eine Dämmerung, in deren Mitte eine durchbrochene weiße Linie leuchtete. Sie fuhren auf einer Interstate.

»Wie lange hab ich geschlafen?«

Billy warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Elf Stunden und ein paar Zerquetschte. Fühlst du dich besser?«

»Ja.« Das stimmte, aber nur teilweise. Sein Kopf war klar, aber er hatte grausame Bauchschmerzen. Angesichts dessen, was er morgens im Spiegel gesehen hatte, war das kein Wunder. »Wo sind wir?«

»Hundertfünfzig Meilen östlich von Cincinnati, jedenfalls ungefähr. Hab inzwischen zweimal getankt, aber du hast einfach weitergepennt. Außerdem schnarchst du.«

Dan setzte sich auf. »Wir sind schon in Ohio? Wahnsinn! Wie viel Uhr ist es?«

Billy sah noch einmal auf seine Uhr. »Viertel nach sechs. War nicht weiter schwierig, wenig Verkehr und kein Regen. Wenn Engel reisen …«

»Gut, aber jetzt suchen wir uns ein Motel. Du musst dich aufs Ohr legen, und ich muss pissen wie ein Stier.«

»Kein Wunder.«

An der nächsten Ausfahrt mit Schildern, die auf Tankstellen, Lokale und Motels hinwiesen, verließ Billy die Schnellstraße. Er hielt bei Wendy’s und besorgte zwei Hamburger und etwas zu trinken, während Dan die Toilette aufsuchte. Als sie wieder im Wagen saßen, biss Dan in seinen Burger, steckte ihn wieder in die Tüte und nippte vorsichtig an seinem Kaffee-Milchshake. Den schien sein Magen zu akzeptieren.

Billy sah ihn geschockt an. »Mann, du musst was essen! Was ist denn los mit dir?«

»Ich glaube, Pizza zum Frühstück war keine gute Idee.« Weil Billy ihn immer noch ansah, fügte er hinzu: »Der Milchshake ist okay. Mehr brauche ich gar nicht. Schau auf die Straße, Billy. Wenn wir auf der Intensivstation landen, sind wir für Abra keine Hilfe mehr.«

Fünf Minuten später parkte Billy seinen Pick-up unter dem Vordach eines Fairfield Inn, über dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift ZIMMER FREI blinkte. Er stellte den Motor ab, stieg jedoch nicht aus. »Da ich mein Leben mit dir aufs Spiel setze, Junge, will ich wissen, was mit dir los ist.«

Fast hätte Dan darauf hingewiesen, dass Billy selber auf die Idee gekommen war, sein Leben aufs Spiel zu setzen, aber das wäre unfair gewesen. Daher erklärte er es. Billy lauschte schweigend und mit großen Augen.

»Ich glaub, mich tritt ein Pferd«, sagte er, als Dan fertig war.

»Hier in Ohio ist das nicht ganz unwahrscheinlich«, sagte Dan. »Na, gehst du zur Rezeption, oder soll ich das machen?«

Billy blieb an Ort und Stelle sitzen. »Weiß Abra darüber Bescheid?«

Dan schüttelte den Kopf.

»Aber sie könnte es herausbekommen.«

»Ja, aber das tut sie nicht. Sie weiß, dass es falsch ist, ungefragt in jemand hineinzuschauen, besonders wenn es sich um jemand handelt, der einem wichtig ist. Genauso wenig würde sie ihren Eltern nachspionieren, wenn die miteinander im Bett liegen.«

»Hast du das als Kind auch so gehalten?«

»Ja. Manchmal sieht man automatisch ein bisschen – das kann man nicht vermeiden –, aber dann wendet man sich eben davon ab.«

»Und was wird jetzt mit dir geschehen, Danny?«

»Ich halte durch.« Er dachte an die Fliegen, die ihm träge über Lippen, Wangen und Stirn gekrochen waren. »Lange genug.«

»Und dann?«

»Darüber mache ich mir später Sorgen. Eins nach dem anderen. Gehen wir schlafen. Wir müssen früh weiter.«

»Hast du was von Abra gehört?«

Dan lächelte. »Der geht es gut.«

Bisher zumindest.

5

Aber es ging ihr nicht gut, nicht richtig.

Abra saß an ihrem Schreibtisch, ein zur Hälfte gelesenes Buch – Der Fixer – in der Hand, und versuchte, den Blick nicht zum Fenster wandern zu lassen, damit dort nicht eine gewisse Person zu ihr hereinschaute. Sie wusste, dass mit Dan etwas nicht stimmte, und sie wusste, dass sie nicht erfahren sollte, was es war; und obwohl sie sich im Lauf der Jahre beigebracht hatte, sich nicht um die Angelegenheiten von Erwachsenen zu kümmern, fühlte sie sich versucht, in ihn hineinzublicken. Zwei Dinge hielten sie bisher davon ab. Zum einen die Tatsache, dass sie ihm damit jetzt nicht helfen konnte, ob ihr das passte oder nicht. Zum anderen (und das war wichtiger) wusste sie, dass er sie womöglich in seinem Kopf wahrnähme, und dann wäre er enttäuscht von ihr.

Wahrscheinlich ist es sowieso in einem Kästchen eingeschlossen, dachte sie. Das kann er ja. Er ist ziemlich stark.

Allerdings nicht so stark, wie sie es war. Anders gesagt sah er die Dinge nicht so hell wie sie. Sie hätte seine mentalen Schließfächer durchaus öffnen können, um sich anzuschauen, was darin war, aber das war möglicherweise gefährlich für sie beide. Einen konkreten Grund dafür konnte sie nicht angeben, es war bloß ein Gefühl, aber dem vertraute sie, so wie sie auch dem Gefühl vertraut hatte, dass es gut war, wenn Billy Freeman mit nach Colorado fuhr. Außerdem war das, was Dan gerade plagte, wahrscheinlich etwas, was ihnen helfen konnte. Zumindest hoffte sie das. Hoffnung ist schnell und fliegt mit Schwalbenschwingen – das war noch so ein Zitat von Shakespeare.

Und schau nicht zum Fenster hin. Wag es nicht!

Nein. Auf keinen Fall. Niemals. Trotzdem tat sie es, und da war Rose und grinste sie an. Rose mit ihrem verwegen auf die wogenden Haare gesetzten Hut, ihrer blassen Porzellanhaut, ihren dunklen, irren Augen und ihren vollen Lippen, hinter denen sich der einzelne fiese Zahn verbarg. Der Hauer.

Du wirst laut schreiend sterben, du kleines Aas.

Abra schloss die Augen, dachte angestrengt

(nicht da nicht da nicht da)

und öffnete sie wieder. Das grinsende Gesicht am Fenster war verschwunden. Aber nicht ganz und gar. Irgendwo hoch oben in den Bergen – auf dem Dach der Welt – dachte Rose gerade an sie. Und wartete.

6

Das Motel bot ein Frühstücksbüfett an. Weil sein Reisegefährte ihn beobachtete, aß Dan demonstrativ eine Schale Cornflakes mit Joghurt. Billy sah erleichtert aus. Während er die Rechnung zahlte, schlenderte Dan zur nächsten Toilette. Sobald er drin war, schloss er ab, sank auf die Knie und erbrach alles, was er zu sich genommen hatte. Die unverdauten Cornflakes schwammen samt dem Joghurt in einem roten Schaum.

»Alles klar?«, fragte Billy, als Dan zur Rezeption zurückkehrte.

»Und ob«, sagte Dan. »Machen wir uns auf den Weg.«

7

Laut Billys Autoatlas waren es von Cincinnati nach Denver etwa zwölfhundert Meilen. Sidewinder lag etwa fünfundsiebzig Meilen weiter westlich, und der Weg dorthin führte über kurvenreiche Straßen neben steilen Abhängen. Dan setzte sich eine Weile ans Steuer, wurde jedoch schnell müde und übergab wieder an Billy. Er schlief ein, und als er aufwachte, war der Sonntagnachmittag schon vorbei. Die Sonne ging unter. Sie waren in Iowa, der Heimat des toten Bradley Trevor.

(Abra?)

Er hatte gefürchtet, die mentale Kommunikation könnte sich diesmal schwierig gestalten, aber Abra meldete sich sofort und so stark wie eh und je; wäre sie eine Radiostation gewesen, dann eine, die mit hunderttausend Watt sendete. Sie saß in ihrem Zimmer am Computer und tippte an irgendeiner Hausaufgabe. Als Dan wahrnahm, dass sie ihren Stoffhasen Hoppy auf dem Schoß hatte, war er zugleich amüsiert und traurig. Was sie da gemeinsam unternahmen, belastete Abra so sehr, dass sie in einen jüngeren Zustand zurückgekehrt war, zumindest in emotionaler Hinsicht.

Da die Verbindung zwischen ihnen weit offen war, fing sie diesen Gedanken auf.

(mach dir keine Sorgen um mich mir geht’s gut)

(prima weil du bald einen Anruf machen musst)

(ja okay aber wie geht es dir)

(gut)

Sie wusste es besser, fragte jedoch nicht nach, und genau so wollte er es haben.

(hast du das)

Sie schuf ein Bild.

(noch nicht es ist Sonntag da hat kein Laden offen)

Ein weiteres Bild, bei dem er lächeln musste. Ein Walmart … nur dass das Schild über dem Eingang ABRA’S MEGAMARKT lautete.

(die würden uns sowieso nicht verkaufen was wir wollen aber wir finden bestimmt einen Laden der es tut)

(ja glaub schon)

(du weißt doch was du zu ihr sagen sollst)

(klar)

(sie wird versuchen dich in ein langes Gespräch zu verwickeln und herumzuschnüffeln lass das nicht zu)

(tu ich bestimmt nicht)

(melde dich gleich danach damit ich mir keine Sorgen mache)

Natürlich würde er sich massenhaft Sorgen machen.

(ja sicher hab dich lieb Onkel Dan)

(hab dich auch lieb)

Er malte einen Kuss. Abra sandte einen zurück: große, rote Comiclippen. Die spürte er fast auf seiner Wange. Dann war sie fort.

Billy starrte ihn an. »Du hast gerade mit ihr gesprochen, stimmt’s?«

»Ja, stimmt. Sieh auf die Straße.«

»Ja, ja. Du hörst dich an wie meine Exfrau.«

Billy betätigte den Blinker, wechselte auf die Überholspur und rollte an einem riesigen, schwerfälligen Wohnmobil vorbei, einem Fleetwood Pace Arrow. Während Dan es vorüberziehen sah, fragte er sich, wer wohl darin saß und ob jemand durch die getönten Scheiben spähte.

»Ich will noch etwa hundert Meilen schaffen, bevor wir uns aufs Ohr legen«, sagte Billy. »So wie ich die restliche Strecke berechnet hab, hast du dann morgen eine ganze Stunde Zeit für deinen Einkauf, und wir sind trotzdem zu dem Zeitpunkt in den Bergen, den ihr für den Showdown vorgesehen habt. Aber dafür müssen wir auf jeden Fall vor Tagesanbruch los.«

»Gut. Du hast doch verstanden, wie es laufen wird, oder?«

»Ich hab nur kapiert, wie es laufen soll.« Billy warf ihm einen kurzen Blick zu. »Hoffen wir doch mal, dass die uns nicht mit dem Fernglas beobachten, falls sie eins haben. Meinst du eigentlich, dass wir lebendig aus der ganzen Sache rauskommen? Sag mir die Wahrheit! Wenn die Antwort nein lautet, werde ich mir nämlich nachher das größte Steak aller Zeiten bestellen. Die letzte Rechnung kann Mastercard gern bei meinen Verwandten eintreiben, und weißt du was? Ich hab gar keine Verwandten. Falls du nicht meine Ex dazurechnest, und die würde keinen Finger für mich krumm machen.«

»Klar werden wir es überleben«, sagte Dan, aber das hörte sich ziemlich matt an. Er fühlte sich zu miserabel, als dass er eine tapfere Miene hätte aufsetzen können.

»Tatsächlich? Na, vielleicht bestelle ich mir trotzdem ein anständiges Steak. Was ist mit dir?«

»Ich glaube, ich könnte etwas Suppe runterbringen. Solange es sich um klare Brühe handelt.« Bei der Vorstellung nämlich, etwas zu essen, bei dem man nicht auf den Grund des Tellers sah – Tomaten- oder Champignoncremesuppe etwa –, zog sich sein Magen sofort wieder zusammen.

»Na gut. Wie wär’s, wenn du wieder die Augen zumachst?«

Dan wusste, dass er nicht tief schlafen konnte, egal wie erschöpft und krank er sich fühlte – nicht solange Abra mit dieser uralten Kreatur fertigwerden musste, die wie eine Frau aussah –, aber er schaffte es einzudösen. So seicht dieser Schlaf auch war, er brachte weitere Träume hervor, zuerst vom Overlook (nun ging es um den Aufzug, der sich mitten in der Nacht von selbst in Gang gesetzt hatte) und dann von seiner Nichte. Diesmal war Abra mit einem Stromkabel erdrosselt worden. Mit hervorquellenden, vorwurfsvollen Augen starrte sie Dan an. Es war nur allzu leicht zu erkennen, wie der Vorwurf lautete. Du hast gesagt, du wirst mir helfen. Du hast gesagt, du rettest mich. Wo warst du?

8

Abra schob das, was sie zu tun hatte, immer wieder auf, bis ihr klar wurde, dass ihre Mutter sie bald drängeln würde, sich schlafen zu legen. In die Schule würde sie morgen zwar nicht gehen, aber was sie erwartete, war ein großer Tag. Und vielleicht eine sehr lange Nacht.

Etwas aufzuschieben macht es nur schlimmer, cara mia.

Das war ein typischer Spruch von Momo. Abra blickte zum Fenster und wünschte sich, dort ihre Urgroßmutter zu sehen statt Rose. Das wäre schön gewesen.

»Momo, ich hab furchtbare Angst«, sagte sie. Aber nachdem sie zweimal tief durchgeatmet hatte, um sich zu beruhigen, griff sie nach ihrem iPhone und wählte die Nummer der Overlook Lodge auf dem Bluebell Campground. Ein Mann meldete sich, und als Abra sagte, dass sie mit Rose sprechen wolle, fragte er sie nach ihrem Namen.

»Sie wissen doch, wer ich bin«, sagte sie. Und fügte mit einer hoffentlich provokant wirkenden Neugier hinzu: »Sind Sie eigentlich schon krank, Mister?«

Darauf gab der Mann am anderen Ende (es war Toady Slim) keine Antwort, aber sie hörte, wie er jemand etwas zumurmelte. Einen Moment später war Rose am Telefon, inzwischen wieder deutlich gefasster.

»Hallo, meine Liebe. Wo bist du?«

»Auf dem Weg«, sagte Abra.

»Tatsächlich? Das ist fein, meine Liebe. Also würde ich nicht feststellen, dass der Anruf aus New Hampshire kommt, wenn ich das nachher überprüfen würde?«

»Oje, doch das würdest du«, sagte Abra. »Ich rufe nämlich mit meinem Handy an. Wir leben inzwischen im 21. Jahrhundert, du Intelligenzbestie.«

»Was willst du?« Nun klang die Stimme barsch.

»Dafür sorgen, dass du die Regeln kennst«, sagte Abra. »Ich werde morgen um fünf Uhr nachmittags da sein. Ich komme in einem alten, roten Pick-up.«

»Wer fährt den?«

»Mein Onkel Billy«, sagte Abra.

»Ist das einer von denen, die meinen Leuten eine Falle gestellt haben?«

»Nein, er war bei mir und deinem Crow. Hör auf, mir Fragen zu stellen. Halt einfach die Klappe, und hör zu.«

»Wie unhöflich«, sagte Rose betrübt.

»Er stellt seinen Wagen am Parkplatzende vor dem Schild ab, auf dem steht, dass alle Kinder umsonst was zu essen bekommen, wenn eine Mannschaft aus Colorado gewonnen hat.«

»Ich sehe, du hast dir unsere Website angeschaut. Das ist aber nett. Oder war es vielleicht dein Onkel? Übrigens ist es sehr tapfer von ihm, sich als Chauffeur zur Verfügung zu stellen. Ist er der Bruder von deinem Vaters oder von deiner Mutter? Tölpelfamilien sind nämlich ein Hobby von mir. Ich zeichne liebend gern Stammbäume.«

Sie wird versuchen herumzuschnüffeln, hatte Dan gesagt und damit vollkommen recht gehabt.

»Hab ich dir nicht gesagt, du sollst die Klappe halten und zuhören? Ist das so schwer zu kapieren? Willst du nun, dass ich komme, oder nicht?«

Keine Antwort, nur erwartungsvolles Schweigen. Unheimliches erwartungsvolles Schweigen.

»Vom Parkplatz aus werden wir alles sehen können: den Campingplatz, die Lodge und das Dach der Welt ganz oben auf dem Hang. Wäre besser, wenn mein Onkel und ich dich da oben stehen sehen und nirgendwo diese Typen von deinem Wahren Knoten. Die werden schön in der Lodge bleiben, während wir aufeinandertreffen. In dem großen Raum dort, ist das klar? Onkel Billy wird zwar nicht wissen, ob die nicht da sind, wo sie sein sollen, aber ich schon. Wenn ich merke, dass auch nur ein Einziger von denen irgendwo anders ist, sind wir sofort wieder weg.«

»Dein Onkel wird wohl in seinem Wagen bleiben?«

»Nein. Ich bleibe im Wagen, bis er sich gründlich umgesehen hat. Dann steigt er wieder ein, und ich komme zu dir. Ich will nämlich nicht, dass er in deine Nähe kommt.«

»In Ordnung, meine Liebe. Es wird genau so sein, wie du gesagt hast.«

Nein, wird es nicht. Du lügst.

Das tat Abra jedoch auch, weshalb sie eigentlich quitt waren.

»Ich habe noch eine wirklich wichtige Frage, meine Liebe«, sagte Rose freundlich.

Fast hätte Abra sich erkundigt, wie diese Frage lautete, aber dann erinnerte sie sich an den Rat ihres Onkels. Ihres echten Onkels. Eine Frage, klar. Die zu einer weiteren führen würde … und zu noch einer … und noch einer.

»Erstick dran«, sagte sie und legte auf. Ihre Hände begannen zu zittern. Dann ihre Beine, Arme und Schultern.

»Abra?« Mama. Die stand unten an der Treppe. Sie spürt es. Bloß ein wenig, aber sie spürt es tatsächlich. Ist das so ein Mütterding, oder hat sie auch ein kleines bisschen Shining? »Ist alles in Ordnung, Schatz?«

»Klar, Mama! Ich mache mich gerade bettfertig!«

»Zehn Minuten, dann kommen wir hoch, um dir gute Nacht zu sagen. Bis dahin bist du im Schlafanzug.«

»Bin ich!«

Wenn die wüssten, mit wem ich gerade gesprochen habe, dachte Abra. Aber das wussten sie nicht. Sie bildeten sich nur ein zu wissen, was abging. Weil Abra in ihrem Zimmer war und weil alle Türen und Fenster im Haus abgeschlossen waren, dachten sie, Abra wäre in Sicherheit. Selbst ihr Vater dachte das, obwohl er den Wahren Knoten in Aktion gesehen hatte.

Aber Dan wusste Bescheid. Sie schloss die Augen und dachte an ihn.

9

Dan und Billy standen wieder unter dem Vordach eines Motels. Immer noch keine Nachricht von Abra. Das war schlecht.

»Komm schon, Junge«, sagte Billy. »Gehen wir rein. Du brauchst jetzt endlich …«

Da war sie. Gott sei Dank.

»Sei mal einen Moment still«, sagte Dan und lauschte. Zwei Minuten später drehte er sich zu Billy um und strahlte ihn an. Als Billy das sah, hatte er das Gefühl, endlich wieder den echten Dan Torrance vor sich zu haben.

»War sie das?«, fragte Billy.

»Ja.«

»Wie ist es gelaufen?«

»Laut Abra ausgezeichnet. Wir sind im Geschäft.«

»Keine Fragen über meine Wenigkeit?«

»Bloß danach, von welcher Seite der Familie du stammst. Hör mal, Billy, die Idee mit dem Onkel war ein kleiner Fehler. Schließlich bist du viel zu alt, um der Bruder von Lucy oder David zu sein. Wenn wir morgen anhalten, um unseren Einkauf zu machen, musst du dir eine Sonnenbrille kaufen. Eine große. Und zieh deine Mütze bis zu den Ohren runter, damit man deine Haare nicht sieht.«

»Vielleicht sollte ich mir auch gleich eine Tube Haartönung besorgen, wenn ich schon dabei bin.«

»Werd bloß nicht frech, du alter Sack!«

Darüber musste Billy grinsen. »Lass uns an die Rezeption gehen, und dann bestellen wir uns was zu essen. Du siehst schon ein bisschen besser aus als vorhin. Als könntest du tatsächlich was vertragen.«

»Suppe«, sagte Dan. »Hat keinen Sinn, mein Glück überzustrapazieren.«

»Gut, dann eben Suppe.«

Er aß seinen Teller leer. Langsam. Und da er sich währenddessen daran erinnerte, dass es in vierundzwanzig Stunden vorüber sein würde – auf die eine oder andere Weise –, schaffte er es, sich nicht zu übergeben. Sie aßen in Billys Zimmer, und als Dan endlich fertig war, streckte er sich auf dem Teppichboden aus. Die Schmerzen in seinem Bauch ließen sich dadurch etwas besänftigen.

»Was machst du denn da?«, erkundigte sich Billy. »Ist das irgend so ein Yoga-Mist?«

»Genau. Hab ich mir von Yogi Bär abgeschaut. Und jetzt geh bitte noch mal alles durch.«

»Ich hab’s schon kapiert, Junge, mach dir keine Sorgen. Allmählich hörst du dich an wie Casey Kingsley.«

»Eine erschreckende Vorstellung. Und jetzt geh noch mal alles durch.«

»Abra pingt die Gegend von Denver ab, wie ihr das nennt. Wenn die jemand haben, der Abra empfangen kann, wissen sie, dass sie kommt. Und dass sie nun in der Nähe ist. Wir kommen etwas früher nach Sidewinder – sagen wir um vier statt um fünf – und fahren einfach an der Abzweigung zum Campingplatz vorbei. Sie werden unseren Wagen nicht sehen. Außer sie haben an der Straße einen Wachposten aufgestellt.«

»Ich glaube nicht, dass sie das tun.« Dan dachte an einen weiteren Sinnspruch der Anonymen Alkoholiker: Wir sind machtlos gegenüber Menschen, Orten und Dingen. Wie die meisten AA-Weisheiten war das zu siebzig Prozent wahr und zu dreißig Prozent Schwachsinn. »Abgesehen davon haben wir eben nie alles in der Hand. Sprich weiter.«

»Etwa eine Meile nach der Abzweigung kommt ein Picknickplatz. Den kennst du, weil du mit deiner Mama ein paarmal dort warst, bevor ihr für den Rest des Winters eingeschneit wurdet.« Billy unterbrach sich. »Sag mal, warst du da bloß mit ihr? Nie mit deinem Dad?«

»Der war beschäftigt. Hat an einem Theaterstück gearbeitet. Weiter.«

Billy gehorchte. Dan hörte ihm aufmerksam zu, dann nickte er. »Okay. Du hast verstanden.«

»Hab ich doch gesagt! Kann ich jetzt eine Frage stellen?«

»Klar.«

»Wirst du morgen Nachmittag eigentlich noch in der Lage sein, eine Meile weit zu marschieren?«

»Werde ich.«

Hoffentlich.

10

Dank einem frühen Start – um vier Uhr morgens, lange vor der Dämmerung – sahen Dan Torrance und Billy Freeman kurz nach neun eine Wolke, die sich über den ganzen Horizont spannte. Eine Stunde später, als sich das blaugraue Gebilde in eine Bergkette aufgelöst hatte, hielten sie in einem Kaff namens Martenville, Colorado. Dort, in der kurzen (und weitgehend verlassenen) Hauptstraße, sah Dan zwar nicht, worauf er gehofft hatte, aber dafür etwas noch Besseres: einen Laden für Kinderbekleidung namens Kids’ Stuff. Ein Stück weiter stand ein Drugstore, flankiert von einem verstaubt aussehenden Leihhaus und einer Videothek, an deren Schaufenster ein Hinweis gepinselt war: RÄUMUNGSVERKAUF – ALLES MUSS RAUS! Dan schickte Billy in den Drugstore, damit der sich dort eine Sonnenbrille besorgte, und trat dann durch die Tür von Kids’ Stuff.

Im Laden herrschte eine triste, hoffnungslose Atmosphäre. Er war der einzige Kunde. Hier ging eine gute Idee, die jemand gehabt hatte, unweigerlich baden, wahrscheinlich wegen den großen Kettenfilialen in den Einkaufszentren von Sterling und Fort Morgan. Wieso sollte man im eigenen Wohnort einkaufen, wenn man nur ein paar Meilen fahren musste, wollte man billigere Klamotten für das nächste Schuljahr besorgen? War doch egal, wenn das Zeug in Mexiko oder Costa Rica produziert wurde. Eine matt aussehende Frau mit einer matt aussehenden Frisur kam hinter der Theke hervor und schenkte Dan ein mattes Lächeln. Sie fragte, ob sie ihm helfen könne. Er sagte, das könne sie. Als er ihr erklärte, was er wolle, bekam sie große Augen.

»Ich weiß, dass es ein bisschen ungewöhnlich ist«, sagte Dan. »Aber es wäre nett, wenn Sie mir entgegenkommen. Ich zahle auch in bar.«

Er bekam, was er wollte. In kleinen, hoffnungslosen Läden abseits der großen Straßen wusste man Bargeld zu schätzen.

11

Als sie sich Denver näherten, nahm Dan Kontakt zu Abra auf. Er schloss die Augen und visualisierte das Rad, das sie nun beide kannten. Zu Hause in Anniston tat Abra dasselbe. Diesmal war es leichter. Als er die Augen wieder öffnete, blickte er über den abfallenden Garten der Stones auf den Saco River, der in der Nachmittagssonne glänzte. Abra wiederum sah die Rocky Mountains vor sich.

»Wow, Onkel Billy, das ist aber ein tolles Panorama, was?«

Billy warf einen Blick auf den Mann, der neben ihm saß. Dan hatte die Beine so gekreuzt, wie er es sonst nie tat, und wippte mit einem Fuß. Seine Wangen hatten wieder Farbe, und in seinen Augen lag eine helle Klarheit, die auf der Fahrt nach Westen nicht da gewesen war.

»Finde ich auch, Liebes«, stimmte Billy zu.

Dan lächelte und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, verblasste die gesunde Farbe, die Abra in sein Gesicht gebracht hatte. Wie eine Rose ohne Wasser, dachte Billy.

»Und?«

»Ping«, sagte Dan. Er lächelte, diesmal jedoch müde. »Wie ein Rauchmelder, bei dem die Batterie gewechselt werden muss.«

»Meinst du, sie haben es gehört?«

»Das will ich doch hoffen«, sagte Dan.

12

Rose schritt neben ihrem EarthCruiser auf und ab, als Token Charlie angerannt kam. Die Wahren hatten am Morgen Steam genommen, alle vorrätigen Flaschen bis auf eine, und zusammen mit dem, was Rose in den vergangenen Tagen allein inhaliert hatte, machte sie das so kribbelig, dass sie nicht einmal daran denken konnte, sich hinzusetzen.

»Was ist?«, fragte sie. »Hoffentlich was Gutes!«

»Ich hab sie erwischt! Na, ist das gut oder nicht?« Selber wie unter Strom stehend, packte Charlie Rose an den Armen und wirbelte sie herum, dass ihre Haare flogen. »Ich hab sie erwischt! Bloß ein paar Sekunden lang, aber sie war es!«

»Hast du den Onkel gesehen?«

»Nein, sie hat durch die Windschutzscheibe auf die Berge geschaut. Sie hat gesagt, das wäre ein tolles Panorama, und …«

»Ist es ja auch«, sagte Rose. Ein Grinsen trat auf ihre Lippen. »Meinst du nicht auch, Charlie?«

»… und er hat ihr zugestimmt. Sie kommen, Rosie! Sie kommen wirklich!«

»Hat sie gemerkt, dass du da warst?«

Er ließ sie los und runzelte die Stirn. »Da bin ich mir nicht so sicher … Grampa Flick hätte wahrscheinlich …«

»Sag mir einfach, was du denkst.«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Das reicht mir schon. Geh jetzt irgendwohin, wo es ruhig ist, damit du dich ungestört konzentrieren kannst. Setz dich hin und lausche. Gib mir Bescheid, sobald du sie wieder auffängst. Ich will vermeiden, dass wir ihre Spur verlieren. Wenn du mehr Steam brauchst, sag’s mir einfach. Ich hab ein bisschen aufgespart.«

»Nein, nein, ich hab genug. Ich werde lauschen. Und wie ich lauschen werde!« Token Charlie stieß ein wildes Lachen aus und lief davon. Offenbar hatte er keine Ahnung, wo er hinwollte, doch das war Rose egal. Solange er weiter lauschte.

13

Gegen Mittag hatten Dan und Billy die Ausläufer der Flatirons erreicht. Während Dan die Rocky Mountains näher kommen sah, dachte er an die vielen Jahre seiner Wanderschaft, in denen er ihnen ausgewichen war. Dabei fiel ihm ein Gedicht ein, in dem es darum ging, dass man Jahre damit verbringen konnte wegzulaufen, am Ende aber doch immer sich selbst gegenüberstand – in einem Hotelzimmer mit einer nackten Glühbirne an der Decke und einem Revolver auf dem Tisch.

Weil sie Zeit hatten, verließen sie die Schnellstraße und fuhren nach Boulder hinein. Billy war hungrig. Dan nicht … aber er war neugierig. Billy bog in den Parkplatz einer Subway-Filiale ein, doch als er Dan fragte, was er ihm mitbringen solle, schüttelte der nur den Kopf.

»Ehrlich? Du hast allerhand vor dir.«

»Ich esse was, wenn es vorbei ist.«

»Tja …«

Billy ging hinein, um sich ein Buffalo Chicken zu holen. Inzwischen nahm Dan Kontakt mit Abra auf. Das Rad drehte sich.

Ping.

Als Billy herauskam, deutete Dan mit dem Kinn auf das eingewickelte Sandwich. »Heb dir das noch ein paar Minuten auf. Da wir schon in Boulder sind, will ich mir was ansehen.«

Fünf Minuten später waren sie in der Arapahoe Street. Zwei Querstraßen von dem schäbigen kleinen Kneipenviertel entfernt forderte Dan Billy auf anzuhalten. »Jetzt kannst du reinhauen. Ich brauche nicht lange.«

Dan stieg aus, stellte sich auf den rissigen Gehweg und betrachtete einen vernachlässigten dreistöckigen Wohnblock. In einem Fenster hing ein Schild mit der Aufschrift EINZIMMERAPPARTEMENTS STUDENTEN WILLKOMMEN. Der Rasen vor dem Haus verkümmerte vor sich hin, in den Rissen des Gehwegs wucherte Unkraut. Er hatte bezweifelt, dass dieses Haus noch da sein würde, hatte erwartet, stattdessen eine Straße mit Eigentumswohnungen vorzufinden, bevölkert von wohlhabenden Yuppies, die Kaffee von Starbucks tranken, täglich ein halbes Dutzend Mal ihren Facebook-Account checkten und wie die Irren twitterten. Aber da war es, und es sah – soweit er das beurteilen konnte – noch genauso aus wie damals.

Billy trat mit dem Sandwich in der Hand zu ihm. »Wir haben noch fünfundsiebzig Meilen vor uns, Danno. Da sollten wir uns allmählich in Bewegung setzen.«

»Stimmt«, sagte Dan, ohne den Blick von dem Gebäude mit der abblätternden grünen Farbe abzuwenden. Hier hatte einmal ein kleiner Junge gelebt, und einmal hatte der genau auf dem Bordstein gehockt, auf dem nun Billy Freeman stand und sein Footlong-Sub mampfte. Ein kleiner Junge, der darauf wartete, dass sein Daddy von einem Einstellungsgespräch im Hotel Overlook zurückkehrte. Er hatte ein Modellflugzeug aus Balsaholz, der kleine Junge, aber ein Flügel war kaputt. Das machte nichts. Wenn sein Daddy heimkam, würde er den schon mit Klebeband und Leim reparieren. Dann würden sie das Flugzeug vielleicht zusammen segeln lassen. Sein Vater war ein Mensch gewesen, der einem Angst machen konnte, aber der kleine Junge hatte ihn sehr lieb gehabt.

»Hier hab ich mit meinen Eltern gewohnt, bevor wir ins Overlook gezogen sind«, sagte Dan. »Macht nicht viel her, was?«

Billy zuckte die Achseln. »Ich hab schon Schlimmeres gesehen.«

Während seiner Wanderjahre hatte Dan ebenfalls Schlimmeres gesehen. Die Wohnung von Deenie in Wilmington zum Beispiel.

Er deutete nach links. »In der Richtung waren ein paar Kneipen. Eine hieß Broken Drum. Sieht ganz so aus, als hätte man diese Gegend bei der Stadterneuerung vergessen, also ist sie vielleicht noch da. Wenn mein Vater mit mir daran vorbeiging, blieb er immer stehen, um ins Fenster zu schauen. Da konnte ich spüren, wie durstig er war und wie sehr er hineinwollte. So durstig, dass es mich auch durstig gemacht hat. Ich hab viele Jahre lang getrunken, um diesen Durst zu stillen, aber der legt sich nie vollständig. Das wusste mein Dad damals schon.«

»Trotzdem hast du ihn wohl gemocht, oder?«

»Ja, das stimmt.« Sein Blick lag immer noch auf dem schäbigen, heruntergekommenen Wohnblock. Der machte wirklich nicht viel her, aber Dan fragte sich, wie das Leben seiner kleinen Familie sich wohl entwickelt hätte, wenn sie dort geblieben wären. Wenn das Overlook sie nicht in die Falle gelockt hätte. »Er hatte gute und schlechte Seiten, und ich hab beide geliebt. Du lieber Himmel, ich glaube, das tue ich immer noch.«

»Wie die meisten Kinder«, sagte Billy. »Kinder lieben ihre Eltern und hoffen das Beste. Was bleibt ihnen denn sonst übrig? Komm jetzt, Dan. Wenn wir die Sache durchziehen wollen, müssen wir los.«

Eine halbe Stunde später lag Boulder hinter ihnen, und die Straße stieg steil an. Sie waren in den Rockies.

Kapitel neunzehn GEISTERLEUTE

1

Es war kurz vor Sonnenuntergang – zumindest in New Hampshire –, aber Abra hockte immer noch auf der Treppe zum Garten und blickte auf den Fluss hinab. Hoppy saß in der Nähe auf dem Deckel des Komposters. Lucy und David kamen heraus und setzten sich links und rechts neben ihre Tochter. John Dalton beobachtete die drei mit einer Tasse kalten Kaffee in der Hand von der Küche aus. Seine schwarze Arzttasche stand auf einem Schränkchen, aber darin befand sich nichts, was er an diesem Abend hätte verwenden können.

»Du solltest reinkommen und was essen«, sagte Lucy, obwohl sie wusste, dass Abra das nicht tun würde, bis alles vorüber war. Wahrscheinlich konnte sie es gar nicht. Dennoch hielt man sich eben gern an das Bekannte. Weil alles normal aussah und weil die Gefahr mehr als tausend Meilen entfernt war, fiel ihr das leichter als ihrer Tochter. Bisher war Abras Gesichtshaut rein gewesen – so makellos wie in ihrer Zeit als Säugling –, aber nun blühte Akne neben den Nasenflügeln, und am Kinn hatte sie mehrere hässliche Pickel. Das lag wohl an dem veränderten Hormonhaushalt, der den Beginn der echten Pubertät ankündigte; jedenfalls hätte Lucy das gern geglaubt, weil es normal gewesen wäre. Aber Akne wurde auch durch Stress verursacht. Von Abras bleicher Haut und den dunklen Ringen unter ihren Augen ganz zu schweigen. Sie sah fast so krank aus wie Dan, als Lucy ihn zuletzt gesehen hatte. Da war er mit qualvoller Langsamkeit in Billy Freemans Pick-up gestiegen.

»Ich kann jetzt nichts essen, Mama. Keine Zeit. Wahrscheinlich könnte ich’s sowieso nicht drinbehalten.«

»Wie lange dauert es noch, bis es losgeht, Abby?«, fragte David.

Abra sah keinen der beiden an. Stattdessen blickte sie starr auf den Fluss, aber Lucy wusste, dass sie den eigentlich auch nicht sah. Sie war weit weg, an einem Ort, wo keiner von ihnen ihr helfen konnte. »Nicht mehr lang. Ihr solltet mir jetzt beide einen Kuss geben und dann reingehen.«

»Aber …«, fing Lucy an, sah jedoch, wie David den Kopf schüttelte. Nur einmal, aber sehr deutlich. Sie seufzte, nahm eine von Abras Händen (wie kalt die war!) und gab ihrer Tochter einen Kuss auf die linke Wange. David nahm die rechte.

»Denk immer dran, was Dan gesagt hat«, sagte Lucy. »Wenn etwas schiefläuft …«

»Ihr solltet jetzt wirklich reingehen. Sobald es losgeht, nehme ich Hoppy und setze ihn mir auf den Schoß. Wenn ihr das seht, dürft ihr mich nicht mehr stören. Auf gar keinen Fall. Sonst muss Onkel Dan vielleicht sterben und Billy vielleicht auch. Kann sein, dass ich umkippe, als ob ich in Ohnmacht falle, aber das tue ich dann in Wirklichkeit gar nicht, deshalb fasst mich nicht an und lasst auch nicht zu, dass Dr. John mich anfasst. Lasst mich einfach in Ruhe, bis es vorüber ist. Ich glaube, Dan kennt einen Ort, wo wir zusammentreffen können.«

»Ich kapiere überhaupt nicht, wie das klappen soll«, sagte ihr Vater. »Diese Frau – Rose – wird doch sehen, dass da kein Mädchen kommt, sondern …«

»Ihr müsst jetzt reingehen«, sagte Abra.

Sie gehorchten. In der Küche angekommen, warf Lucy John einen flehenden Blick zu, aber der konnte nur die Achseln zucken und den Kopf schütteln. Dann standen sie zu dritt am Fenster, die Arme umeinandergelegt, und blickten hinaus auf das Mädchen, das mit um die Knie geschlungenen Armen auf der Treppe saß. Es war nichts Gefährliches zu sehen, alles war friedlich. Als Lucy sah, wie Abra – ihre kleine Tochter – nach Hoppy griff und den alten Stoffhasen auf ihren Schoß setzte, stöhnte sie auf. John drückte sie an der Schulter. David zog sie enger an sich, und sie griff panisch nach seiner Hand.

Bitte mach, dass meiner Tochter nichts passiert. Wenn etwas passieren muss … etwas Schlimmes … dann soll es diesem Halbbruder passieren, den ich nie gekannt habe. Nicht ihr.

»Es wird schon klappen«, sagte Dave.

Lucy nickte. »Natürlich wird es das tun. Natürlich wird es klappen.«

Sie beobachteten das Mädchen auf der Treppe. Lucy begriff, dass Abra keine Antwort geben würde, wenn man sie rief. Abra war verschwunden.

2

Um zwanzig vor vier Ortszeit erreichten Billy und Dan die Abzweigung zum Stützpunkt des Wahren Knotens in Colorado, womit sie dem Zeitplan ein gutes Stück voraus waren. Über der unasphaltierten Zufahrt war ein gebogenes Holzschild im Ranch-Stil angebracht. In eingebrannten Lettern stand darauf: WILLKOMMEN AUF DEM BLUEBELL CAMPGROUND! BLEIB EINE WEILE DA, PARTNER! Das Schild am offen stehenden Tor war weniger gastfreundlich: BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN.

Billy fuhr vorbei, ohne den Fuß vom Gas zu nehmen, blickte sich jedoch eifrig um. »Ich sehe niemand. Nicht mal auf dem Rasen. Allerdings haben sie wahrscheinlich jemand in der Empfangshütte da drüben versteckt. Du lieber Himmel, Danny, du siehst einfach furchtbar aus.«

»Ein Glück, dass ich vorläufig an keinem Schönheitswettbewerb teilnehme«, sagte Dan. »Jetzt ist es noch eine Meile, vielleicht auch ein bisschen weniger. Auf dem Schild steht Panorama und Picknickplatz.«

»Was, wenn sie da jemand postiert haben?«

»Haben sie nicht.«

»Wie kannst du dir da so sicher sein?«

»Weil weder Abra noch ihr Onkel Billy was von dem Rastplatz wissen können; schließlich sind sie noch nie hier gewesen. Und von mir wissen die Wahren nichts.«

»Das steht zu hoffen.«

»Abra sagt, alle sind da, wo sie sein sollen. Sie hat es überprüft. Jetzt sei mal eine Minute still, Billy. Ich muss nachdenken.«

Genauer gesagt wollte er an Hallorann denken. Nach dem grausigen Winter im Overlook hatten Danny Torrance und Dick Hallorann sich über mehrere Jahre hinweg oft unterhalten. Manchmal von Angesicht zu Angesicht, öfter nur mental. Sosehr Danny seine Mutter liebte, es gab Dinge, die sie nicht verstand, weil sie sie nicht verstehen konnte. Zum Beispiel das mit den Schließfächern, in die man die gefährlichen Erscheinungen, die von Dannys Shining manchmal angezogen wurden, einsperren konnte. Nicht dass das mit den Schließfächern immer klappte. Er hatte mehrfach versucht, eines für das Trinken zu schaffen, aber dieser Versuch war immer kläglich gescheitert (vielleicht weil er das so gewollt hatte). Aber bei Mrs. Massey … und bei Horace Derwent …

Inzwischen war noch ein drittes Schließfach vorhanden, das allerdings nicht so stabil wie die beiden war, die er als Kind geschaffen hatte. Vielleicht weil er nicht mehr so stark war? Oder weil es etwas anderes einschloss als die ruhelosen Geister von Toten, die so unklug gewesen waren, ihn aufzusuchen? Oder beides? Das wusste er nicht. Er wusste nur, dass es undicht war. Wenn er es öffnete, konnte das, was darin war, ihn umbringen. Aber …

»Was meinst du damit?«, fragte Billy.

»Hä?« Dan sah sich um. Er hatte eine Hand auf den Bauch gepresst, der nun sehr wehtat.

»Du hast gerade gesagt: ›Es bleibt keine andere Wahl.‹ Was hast du damit gemeint?«

»Nicht so wichtig.« Sie hatten den Rastplatz erreicht, und Billy bog darin ein. Auf der Lichtung vor ihnen standen Picknicktische und gemauerte Grills. Diese Stelle erinnerte Dan an den Platz am Wolkentor, nur ohne den Fluss. »Allerdings … wenn es schiefläuft, steig in deinen Wagen, und fahr wie der Teufel.«

»Meinst du, das würde was helfen?«

Dan gab keine Antwort darauf. Seine Eingeweide brannten wie verrückt.

3

Kurz bevor es an jenem Montagnachmittag Ende September vier Uhr wurde, ging Rose auf die Treppe zu, die zum Dach der Welt hinaufführte. Begleitet wurde sie von Silent Sarey.

Rose trug eng anliegende Jeans, die ihre langen, wohlgeformten Beine betonten. Obwohl es kühl war, trug Silent Sarey nur ein unauffälliges, hellblaues Schürzenkleid, das ihr um die stämmigen, in Stützstrümpfen steckenden Beine flatterte. Rose blieb stehen, um ein Schild an einem Granitpfosten zu betrachten, der am Anfang der etwa drei Dutzend zur Aussichtsplattform führenden Stufen aufgestellt war. Es informierte darüber, dass hier früher das historische Hotel Overlook gestanden hatte, das vor etwa fünfunddreißig Jahren niedergebrannt war.

»Sehr starke Gefühle hier, Sarey.«

Sarey nickte.

»Du weißt doch, dass es heiße Quellen gibt, an denen direkt aus dem Boden Dampf aufsteigt, oder?«

»Lawoll.«

»So ähnlich ist das hier mit dem Steam.« Rose bückte sich, um an dem Gras und den Feldblumen zu schnuppern. Hinter deren Aroma lag der Eisengeruch uralten Blutes. »Starke Emotionen – Hass, Furcht, Vorurteile, Wollust. Das Echo von Morden. Keine Nahrung mehr – zu alt –, aber dennoch erfrischend. Eine berauschende Duftmischung.«

Sarey sagte nichts, beobachtete Rose jedoch genau.

»Und das da!« Rose deutete mit der Hand auf die steile Holztreppe, die zur Plattform führte. »Sieht wie ein Richtplatz aus, oder nicht? Man bräuchte bloß noch eine Falltür.«

Kein Wort von Sarey. Kein lautes jedenfalls. Ihr Gedanke

(kein Galgen und kein Strick)

war deutlich genug.

»Das stimmt, meine Liebe, aber trotzdem wird eine von uns dort hängen. Entweder ich oder dieses kleine Aas, das die Nase in unsere Angelegenheiten gesteckt hat. Siehst du das da?« Rose zeigte auf den kleinen, etwa sechs Meter entfernten Schuppen.

Sarey nickte.

Rose trug einen Reißverschlussbeutel am Gürtel. Sie öffnete ihn, kramte darin herum und zog dann einen Schlüssel heraus, den sie Sarey reichte. Der pfiff das Gras um die dicke, fleischfarbene Strumpfhose, während sie zum Schuppen ging. Der Schlüssel passte in das Vorhängeschloss an der Tür. Als Sarey die Tür aufzog, fiel das Licht der tief stehenden Sonne in eine Kammer, die nicht viel größer als ein Abort war. Sie enthielt einen Rasenmäher und einen Plastikeimer mit einer Sichel und einer Harke. An der Rückwand lehnten ein Spaten und eine Spitzhacke. Sonst war da nichts – und schon gar nichts, hinter dem man sich verstecken konnte.

»Rein mit dir«, sagte Rose. »Mal schauen, was du zustande bringst.« Und mit dem ganzen Steam, den du intus hast, solltest du mich eigentlich in Erstaunen versetzen.

Wie die anderen Mitglieder des Wahren Knotens besaß Silent Sarey ihr eigenes kleines Talent.

Sie trat in den kleinen Schuppen, schnupperte und sagte: »Staubig.«

»Kümmere dich nicht darum. Zeig mal, was du kannst. Beziehungsweise – zeig dich nicht.«

Das war nämlich Sareys Talent. Sie war zwar nicht fähig, sich unsichtbar zu machen (das brachte keiner von ihnen zuwege), aber sie konnte eine Art Düsterkeit erzeugen, die gut zu ihrer unauffälligen Gestalt passte. Sie drehte sich zu Rose um, bevor sie auf ihren Schatten hinabblickte. Dann bewegte sie sich – nicht viel, nur einen halben Schritt –, und ihr Schatten verschmolz mit dem, den der Bügel des Rasenmähers warf. Dann regte sie sich überhaupt nicht mehr, und der Schuppen war leer.

Rose kniff die Augen zu, um sie dann weit aufzureißen, und da stand Sarey neben dem Rasenmäher, die Hände sittsam vor dem Bauch gefaltet wie ein schüchternes Mädchen, das hoffte, zum Tanz aufgefordert zu werden. Rose wandte den Blick ab und richtete ihn auf die Berge, und als sie wieder zum Schuppen blickte, war dieser leer – nichts als ein winziger Lagerraum, in dem man sich nirgendwo verstecken konnte. Im hellen Sonnenlicht war nicht einmal ein Schatten sichtbar. Bis auf jenen, den der Bügel des Rasenmähers warf, natürlich. Nur …

»Leg den Ellbogen an«, sagte Rose. »Den sehe ich. Bloß ein kleines Stückchen.«

Silent Sarey tat wie befohlen, und einen Moment lang war sie wirklich ganz verschwunden, zumindest bis Rose sich konzentrierte. Als sie das tat, war Sarey wieder da. Aber natürlich wusste sie, dass Sarey da war. Wenn es losging – und bis dahin dauerte es nicht mehr lange –, würde das kleine Aas bestimmt nichts sehen.

»Prima, Sarey!«, sagte sie warmherzig (beziehungsweise so nahe an warmherzig, wie sie das bewerkstelligen konnte). »Vielleicht brauche ich dich ja gar nicht. Falls doch, nimmst du die Sichel. Und wenn du das tust, denk an Andi. Alles klar?«

Als Andis Name fiel, verzog sich Sareys Mund zu einem tieftraurigen Flunsch. Nachdenklich starrte sie auf die Sichel in dem Plastikeimer und nickte.

Rose ging zum Schuppen und griff nach dem Vorhängeschloss. »Ich werde dich jetzt einsperren. Das kleine Aas wird die anderen wahrnehmen, die in der Lodge sind, aber dich nicht. Da bin ich mir sicher. Weil du eine ganz Stille bist. Ist doch so, oder?«

Wieder nickte Sarey. Ja, sie war eine ganz Stille, war sie immer schon gewesen.

(was ist mit dem)

Rose lächelte. »Mit dem Schloss? Mach dir darum keine Sorgen. Kümmere dich nur darum, still zu sein. Still und reglos. Hast du verstanden?«

»Lawoll.«

»Und du weißt auch, was du mit der Sichel machen sollst?« Eine Schusswaffe hätte Rose Sarey nicht anvertraut, selbst wenn der Wahre Knoten eine besessen hätte.

»Die Sischel. Lawoll.«

»Wenn ich das kleine Aas niederzwinge – und so voller Steam, wie ich es jetzt bin, sollte das kein Problem sein –, dann bleibst du da, wo du bist, bis ich dich herauslasse. Aber wenn du mich rufen hörst … mal überlegen … wenn du mich Sonst muss ich zu anderen Mitteln greifen rufen hörst, dann weißt du, dass ich Hilfe brauche. Ich sorge dafür, dass die Kleine dem Schuppen den Rücken zuwendet. Du weißt doch, was dann geschieht, oder?«

(ich steige die Treppe rauf und)

Aber Rose schüttelte den Kopf. »Nein, Sarey, das brauchst du nicht. Die Kleine wird nicht mal in die Nähe der Plattform da oben kommen.«

Den verfügbaren Steam zu verlieren wäre noch bedauerlicher gewesen, als die Chance zu verpassen, das kleine Aas eigenhändig zu töten … nachdem sie es ausgiebig hatte leiden lassen. Aber man durfte die Vorsicht nicht einfach über Bord werfen. Das Mädchen war tatsächlich sehr stark.

»Auf welchen Satz sollst du achten, Sarey?«

»Sonst muss ich su andelen Mitteln gleifen.«

»Und was wirst du dann denken?«

Die halb von dem zottigen Pony verborgenen Augen funkelten. »Lache!«

»Genau. Rache für Andi, die von den Freunden dieses kleinen Miststücks ermordet wurde. Aber erst wenn ich dich brauche, denn eigentlich will ich es selber tun.« Rose ballte so heftig die Fäuste, dass ihre Fingernägel sich in die tiefen, blutverkrusteten Wunden bohrten, die sie ihren Handflächen bereits zugefügt hatte. »Aber wenn ich dich brauche, dann kommst du. Zögere nicht, und lass dich von nichts aufhalten. Lass nicht locker, bis du der Kleinen die Sichel in den Hals gehackt hast und das spitze Ende aus ihrer verfluchten Kehle ragen siehst.«

Sareys Augen funkelten noch stärker. »Lawoll.«

»Gut.« Rose küsste sie, dann drückte sie die Tür zu und ließ das Vorhängeschloss zuschnappen. Sie steckte den Schlüssel in die Tasche und lehnte sich an die Tür. »Hör zu, Liebes. Wenn alles gut läuft, bekommst du den ersten Steam. Versprochen. Und es wird der beste sein, den du je hattest.«

Rose ging zurück zur Treppe und atmete mehrmals tief und ruhig durch, bevor sie die Stufen erklomm.

4

Dan stand da, die Hände auf einen der Picknicktische gestützt. Er hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen.

»Es so zu machen ist einfach bekloppt«, sagte Billy. »Ich sollte mit dir mitgehen.«

»Das geht nicht. Schließlich hast du selbst eine Aufgabe zu erledigen.«

»Was, wenn du mitten auf dem Weg umkippst? Und selbst wenn das nicht passiert, wie willst du denn mit diesem ganzen Haufen fertigwerden? So, wie du gerade aussiehst, könntest du es nicht mal mit einem Fünfjährigen aufnehmen.«

»Ich glaube, ich werde mich bald wesentlich besser fühlen. Und stärker. Fahr los, Billy. Du weißt doch noch, wo du halten sollst?«

»Ganz am Ende vom Parkplatz an dem Schild, auf dem steht, dass alle Kinder umsonst was zu futtern kriegen, wenn eine Mannschaft aus Colorado gewonnen hat.«

»Korrekt.« Dan hob den Kopf und betrachtete die riesige Sonnenbrille, die Billy trug. »Zieh deine Mütze über den Kopf, so fest es geht. Bis zu den Ohren. Du musst jung aussehen.«

»Vielleicht hab ich einen Trick parat, mit dem ich noch jünger aussehe. Falls ich den überhaupt noch hinkriege.«

Dan hörte nur mit halbem Ohr zu. »Jetzt brauche ich noch eins.«

Er richtete sich auf und breitete die Arme aus. Billy hätte ihn am liebsten ganz fest an sich gedrückt, wagte es jedoch nicht. Deshalb umarmte er ihn behutsam.

»Abra hatte die richtige Ahnung – ohne dich wäre ich nie bis hierher gelangt«, sagte Dan. »Und jetzt mach’s gut!«

»Mach’s selber gut«, sagte Billy. »Ich zähle drauf, dass du an Thanksgiving bereitstehst, um die Riv zum Wolkentor zu steuern.«

»Mache ich gern«, sagte Dan. »Ist schließlich die beste Modelleisenbahn, die ich als Junge nie hatte.«

Billy sah ihm zu, wie er mit auf den Bauch gepressten Händen langsam zu dem Wegweiser am Ende der Lichtung ging. Dort waren zwei pfeilförmige Holzschilder angebracht. Das eine wies nach Westen zum nächsten Aussichtspunkt. Das andere wies in östlicher Richtung hangabwärts. Es trug die Aufschrift ZUM BLUEBELL CAMPGROUND.

Dan betrat den Wanderweg. Eine kleine Weile konnte Billy noch sehen, wie er langsam und unter Schmerzen durch die leuchtenden Blätter der Zitterpappeln ging, den Blick auf den Boden gerichtet, um nicht zu stolpern. Dann war er verschwunden.

»Pass gut auf meinen Jungen auf«, sagte Billy. Er war sich nicht sicher, ob er mit Gott oder mit Abra sprach. Das war wohl auch egal; wahrscheinlich waren beide an diesem Nachmittag zu beschäftigt, sich um Leute wie ihn zu kümmern.

Er ging zu seinem Pick-up zurück und holte ein Mädchen von der Ladefläche. Sie hatte starre, kobaltblaue Augen und steife, blonde Locken. Sie wog nicht viel; wahrscheinlich war sie innen hohl. »Na, wie geht’s, Abra? Bist hoffentlich nicht allzu sehr herumgekullert.«

Das Mädchen trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck COLORADO ROCKIES und blaue Shorts. Die Füße waren nackt, was völlig in Ordnung war. Da es sich um eine Schaufensterpuppe aus einem todgeweihten Kindermodeladen in Martenville handelte, war sie nie auch nur einen einzigen Schritt gegangen. Aber sie hatte bewegliche Knie, weshalb Billy sie problemlos auf den Beifahrersitz setzen konnte. Er schnallte sie an und wollte schon die Tür schließen, als ihm noch etwas einfiel. Als er den Kopf nach vorn drückte, bewegte sich der Hals, wenn auch nur ein kleines Stück. Er trat einen Schritt zurück, um die Wirkung zu begutachten. Nicht schlecht. So schien die Puppe etwas in ihrem Schoß zu betrachten. Oder um Kraft in dem nahenden Kampf zu beten. Gar nicht schlecht.

Vorausgesetzt, diese Typen hatten keine Ferngläser.

Billy stieg ein und wartete, um Dan genügend Zeit zu lassen. Falls der nicht auf dem Weg zum Campingplatz doch noch umgekippt war.

Um Viertel vor fünf ließ Billy den Motor an und bog in die Straße ein, die er heraufgekommen war.

5

Dan ging mit gleichmäßigen Schritten durch den Wald, obwohl die Hitze in seinem Bauch ständig zunahm. Es fühlte sich an, als hätte sich da drinnen eine Ratte eingenistet, die in Flammen stand und trotzdem eifrig an ihm nagte. Ginge der Weg nach oben statt nach unten, hätte er es vermutlich nicht geschafft.

Um zehn vor fünf kam er zu einer Biegung und blieb stehen. Ein kleines Stück weiter ging der Wald in einen grünen, gepflegten Rasenhang über, an dessen unterem Ende zwei Tennisplätze angelegt waren. Dahinter sah Dan die Wohnmobilstellplätze und ein langes Blockhaus: die Overlook Lodge. Jenseits davon stieg das Gelände wieder an. Dort, wo einst das Hotel Overlook gestanden hatte, erhob sich eine hohe, gerüstartige Plattform vor dem hellen Himmel. Das Dach der Welt. Während er es betrachtete, kam ihm derselbe Gedanke

(Galgen)

der Rose the Hat gekommen war. Am Geländer stand die Silhouette einer einzelnen Gestalt, die südwärts zum Parkplatz blickte. Eine Frau. Auf ihrem Kopf saß schräg ein Zylinder.

(Abra bist du da)

(ja bin ich)

Ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie die Ruhe selbst. Genau so wollte er es haben.

(hören sie dich)

Das löste eine vage, kitzelnde Empfindung aus: ihr Lächeln. Das zornige.

(wenn die mich nicht hören sind sie taub)

Das genügte.

(du musst jetzt zu mir kommen aber denk dran wenn ich dir sage geh dann GEHST DU)

Sie antwortete nicht, und bevor er es ihr noch einmal sagen konnte, war sie da.

6

Die beiden Stones und John Dalton sahen hilflos zu, wie Abra zur Seite sank, bis sie mit dem Kopf auf den Bohlen der Treppe ruhte. Die Beine lagen gespreizt auf den Stufen darunter. Hoppy fiel aus ihrer erschlaffenden Hand. Sie sah nicht so aus, als würde sie schlafen oder wäre in Ohnmacht gefallen – so lag man da, wenn man bewusstlos oder tot war. Lucy wollte zu ihr stürzen, aber Dave und John hielten sie zurück.

Sie wehrte sich. »Lasst mich los! Ich muss ihr helfen!«

»Das kannst du nicht«, sagte John. »Jetzt kann nur Dan ihr helfen. Das heißt, die beiden müssen sich gegenseitig helfen.«

Sie starrte ihn mit panisch aufgerissenen Augen an. »Atmet sie überhaupt noch? Kannst du das sehen?«

»Sie atmet«, sagte Dave, was sich jedoch selbst in seinen Ohren unsicher anhörte.

7

Als Abra zu ihm stieß, ließen die Schmerzen zum ersten Mal seit Boston nach. Was Dan nicht besonders tröstete, denn nun litt Abra ebenfalls. Das sah er an ihrem Gesicht, aber er sah auch die Verwunderung in ihren Augen, als sie sich in dem Raum, in dem sie sich nun befand, umblickte. Er besaß mit Fichte getäfelte Wände und enthielt ein Etagenbett. Auf dem mit Kakteen und anderen Wüstenpflanzen bestickten Teppich und auf dem unteren Bett lag allerhand billiges Spielzeug. Auf einem kleinen Tisch in der Ecke lagen Bücher und ein Puzzle mit großen Einzelteilen. In der hinteren Ecke des Zimmers klopfte und zischte ein Heizkörper.

Abra ging zum Schreibtisch und nahm eines der Bücher in die Hand. Auf dem Einband jagte ein Hündchen hinter einem kleinen, auf einem Dreirad sitzenden Mädchen her. Der Titel lautete Lesespaß mit Dick und Jane.

Dan trat mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen zu ihr. »Das kleine Mädchen auf dem Einband heißt Sally. Dick und Jane sind ihre Geschwister. Und der kleine Hund heißt Jip. Eine Weile waren die vier meine besten Freunde. Meine einzigen Freunde, genauer gesagt. Mit Ausnahme von Tony natürlich.«

Sie legte das Buch weg und wandte sich ihm zu. »Was ist dieser Ort, Dan?«

»Eine Erinnerung. Früher stand hier ein Hotel, und das hier war mein Zimmer. Jetzt ist es ein Ort, an dem wir zusammen sein können. Du kennst ja das Rad, das sich dreht, wenn man in jemand andres hineinschlüpft.«

»Mhm …«

»Dies ist seine Mitte. Die Nabe.«

»Am liebsten würde ich hierbleiben. Es fühlt sich … sicher an. Von dem da einmal abgesehen.« Abra zeigte auf eine Doppeltür mit langen Glasscheiben. »Die fühlt sich nicht so an wie alles andere.« Ihr Blick war fast anklagend. »Die war früher nicht da. Stimmt doch, oder? Damals, als du ein Kind warst, meine ich.«

»Nein. Mein Zimmer hatte keine Fenster, und die einzige Tür führte in die Hausmeisterwohnung, zu der es gehörte. Das habe ich verändert. Ich musste es tun. Weißt du, warum?«

Sie betrachtete ihn mit ernstem Blick. »Weil das damals war, und dies ist jetzt. Weil die Vergangenheit vorüber ist, auch wenn sie die Gegenwart bestimmt.«

Er lächelte zufrieden. »Das hätte ich auch nicht besser sagen können.«

»Du musstest es nicht sagen. Du hast es gedacht.«

Er zog sie zu der Glastür, die nie existiert hatte. Durch die Scheiben sahen sie den Rasen, die Tennisplätze, die Overlook Lodge und das Dach der Welt.

»Ich sehe sie«, flüsterte Abra. »Sie ist da oben, und sie sieht nicht hierher, oder?«

»Hoffentlich nicht«, sagte Dan. »Tut es sehr weh, Kleines?«

»Ja, sehr«, antwortete sie. »Aber das ist mir egal. Weil …«

Sie musste den Satz nicht vollenden. Er wusste, was sie meinte, und sie lächelte. Dieses spezielle beiderseitige Zusammengehörigkeitsgefühl war einzigartig, und trotz den damit verbundenen Schmerzen – Schmerzen jeder Art – war es gut. Es war sogar sehr gut.

»Dan?«

»Ja, Kleines.«

»Da draußen sind Geisterleute. Ich kann sie zwar nicht sehen, aber ich spüre sie. Du auch?«

»Ja.« Er spürte sie schon jahrelang. Weil die Vergangenheit die Gegenwart bestimmte. Er legte Abra den Arm um die Schultern, und ihr Arm schob sich langsam um seine Taille.

»Was tun wir jetzt?«

»Auf Billy warten. Ich hoffe, er kommt rechtzeitig. Und dann wird alles sehr schnell gehen.«

»Onkel Dan?«

»Was, Abra?«

»Was ist da in dir? Das ist kein Geist. Es ist wie …« Er spürte, wie sie schauderte. »Es ist wie ein Monster

Er sagte nichts.

Sie richtete sich auf und trat von ihm weg. »Sieh mal! Da drüben!«

Ein alter Ford-Pick-up rollte auf den Besucherparkplatz.

8

Rose stand da, die Hände auf das hüfthohe Geländer der Aussichtsplattform gestützt, und beobachtete den Pick-up, der auf den Parkplatz fuhr. Der Steam hatte ihren Blick geschärft, aber sie wünschte sich trotzdem, ein Fernglas dabeizuhaben. Bestimmt waren welche im Lager, für Gäste, die auf Vogelbeobachtung gehen wollten. Wieso also hatte sie keines mitgenommen?

Weil ich so viel anderes im Kopf hatte. Die Krankheit … die Ratten, die das Schiff verlassen haben … Crow, den dieses kleine Aas auf dem Gewissen hat …

Ja, das stimmte alles – ja, ja, ja –, aber sie hätte trotzdem daran denken sollen. Einen Moment lang fragte sie sich, was sie wohl sonst noch vergessen hatte, doch dann schob sie den Gedanken beiseite. Sie hatte die Sache völlig im Griff, sie war bis unter die Schädeldecke voller Steam und in absoluter Bestform. Alles lief genau wie geplant. Bald würde das Mädchen zu ihr heraufkommen, weil sie wie jeder Teenager zu viel Selbstvertrauen hatte und zu stolz auf die eigenen Fähigkeiten war.

Ich aber bin im Vorteil, meine Liebe, und zwar in jeder Hinsicht. Falls ich nicht allein mit dir fertigwerde, hole ich mir Unterstützung von den anderen Wahren. Die haben sich alle in der Lodge versammelt, weil du das für eine tolle Idee gehalten hast. Aber dabei hast du etwas nicht bedacht. Wenn wir zusammen sind, dann sind wir miteinander verbunden, wir sind ein Wahrer Knoten, und das macht uns zu einer gewaltigen Batterie. Den ganzen Saft kann ich anzapfen, wenn es nötig ist.

Und falls alles andere scheiterte, war da noch Silent Sarey. Bestimmt hatte die inzwischen schon die Sichel in der Hand. Sie war zwar keine große Leuchte, aber sie war erbarmungslos, mordlüstern und – sobald sie eine Aufgabe begriffen hatte – vollkommen gehorsam. Außerdem hatte sie selber ein spezielles Interesse daran, dass das kleine Aas tot vor der Treppe zur Plattform lag.

(Charlie)

Token Charlie reagierte sofort, und obwohl er normalerweise ein schwacher Sender war, meldete er sich jetzt – gestärkt durch die anderen in der Lodge – laut, klar und fast irre vor Erregung.

(ich empfange sie gleichmäßig und stark das tun wir alle sie muss ganz in der Nähe sein du musst sie auch spüren)

Das tat Rose, obgleich sie sich immer noch gewaltig anstrengte, ihre Gedanken verschlossen zu halten, damit das kleine Aas nicht in sie eindringen und sie durcheinanderbringen konnte.

(schon gut sag den anderen sie sollen bereit sein wenn ich Hilfe brauche)

Viele Stimmen antworteten, alle durcheinander. Sie waren bereit. Selbst jene, die krank waren, wollten helfen, so gut sie konnten. Dafür liebte Rose sie.

Sie spähte zu der blonden Gestalt im Pick-up hinunter. Die hatte den Blick nach unten gerichtet. Las sie etwas? Nahm sie sich zusammen? Betete sie vielleicht zum Gott der Tölpel? Ach, eigentlich war das egal.

Komm zu mir, du kleines Aas. Komm zu Tante Rose.

Aber wer ausstieg, war nicht das Mädchen, es war der Onkel. Genau wie das kleine Aas es angekündigt hatte. Um die Lage zu sondieren. Mit langsamen Schritten ging er um die Kühlerhaube herum, wobei er in alle Richtungen äugte. Er beugte sich ins Beifahrerfenster, sagte etwas zu dem Mädchen und ging dann ein kleines Stück von dem Wagen weg. Zuerst wanderte sein Blick zur Lodge, dann wandte er sich der in den Himmel ragenden Plattform zu … und winkte. Dieses unverschämte Arschloch winkte ihr doch tatsächlich zu.

Rose erwiderte das Winken nicht. Sie runzelte die Stirn. Ein Onkel. Wieso hatten die Eltern des Mädchens eigentlich einen Onkel geschickt, statt sie selber herzubringen? Und wieso hatten sie ihrem verfluchten Balg überhaupt erlaubt hierherzukommen?

Das kleine Aas hat sie davon überzeugt, dass das die einzige Lösung ist. Hat ihnen gesagt, wenn sie nicht zu mir kommt, dann komme ich zu ihr. Das ist der Grund, und der ist völlig einleuchtend.

Das war er auch, dennoch spürte sie ein wachsendes Unbehagen. Sie hatte dem kleinen Aas erlaubt, die Spielregeln festzulegen. Zumindest in dieser Hinsicht hatte sie sich manipulieren lassen. Das hatte sie zugelassen, weil sie sich hier auf vertrautem Terrain befand und weil sie Vorkehrungen getroffen hatte, aber vor allem, weil sie wütend gewesen war. Verflucht wütend.

Sie starrte angestrengt auf den Mann neben dem Wagen. Nun ging er wieder umher, blickte hierhin und dorthin, um sich zu vergewissern, dass Rose allein war. Völlig vernünftig; so hätte sie sich auch verhalten, aber dennoch nagte die Ahnung an ihr, dass er in Wirklichkeit nur Zeit gewinnen wollte. Zu welchem Zweck, war ihr allerdings völlig schleierhaft.

Rose sah noch genauer hin. Nun fiel ihr auf, wie der Mann sich bewegte. Offenbar war er nicht so jung, wie sie anfangs gemeint hatte. Er ging sogar wie jemand, der alles andere als jung war. So als würde er an einer anständigen Arthritis leiden. Und weshalb saß das Mädchen so reglos da?

Sie spürte einen ersten Anflug echter Beunruhigung.

Da stimmte irgendwas nicht.

9

»Sie beobachtet Mr. Freeman«, sagte Abra. »Wir sollten los.«

Er öffnete die Glastür, zögerte jedoch. Da war was in ihrer Stimme. »Was ist los, Abra?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht gar nichts, aber irgendwas gefällt mir nicht. Sie beobachtet ihn einfach zu genau. Wir müssen sofort los.«

»Vorher muss ich noch etwas tun. Versuch, bereit zu sein, und hab keine Angst.«

Dan schloss die Augen und begab sich in den Lagerraum ganz hinten in seinem Kopf. Echte Schließfachkassetten wären nach all den Jahren mit Staub bedeckt gewesen, aber die beiden, die er als Kind dort untergebracht hatte, sahen aus wie neu. Was nicht weiter erstaunlich war, bestanden sie doch aus reiner Imagination. Die dritte – die neue – war von einem feinen, rosafarbenen Dunst umgeben, und er dachte: Kein Wunder, dass ich krank bin.

Egal. Das Ding musste vorläufig dort bleiben, wo es war. Auf alles vorbereitet, öffnete er die ältere der anderen beiden Kassetten, aber er fand … nichts. Beziehungsweise fast nichts. In dem Schließfach, wo zweiunddreißig Jahre lang Mrs. Massey eingesperrt gewesen war, lag ein Häufchen dunkelgrauer Asche. Aber in dem anderen …

Schlagartig wurde ihm klar, wie töricht es gewesen war, Abra zu sagen, sie solle keine Angst haben.

Abra schrie auf.

10

Auf der Gartentreppe ihres Elternhauses in Anniston begann Abra zu zucken. Ihre Beine verkrampften sich, die Füße trommelten auf die Stufen, eine der Hände, die wie ein am Flussufer sterbender Fisch zappelte, wischte den armen, unschuldigen Hoppy beiseite.

»Was geschieht da mit ihr?«, schrie Lucy und wollte zur Tür rennen.

Vom Anblick seiner zuckenden Tochter gelähmt, stand David reglos da, aber John schaffte es, Lucy mit beiden Armen von hinten zu packen und festzuhalten. Sie sträubte sich mit aller Kraft. »Lass mich los! Ich muss zu Abra!«

»Nein!«, brüllte John. »Nein, Lucy, das darfst du nicht!«

Sie hätte sich losgerissen, doch nun hielt David sie ebenfalls fest.

Lucy gab auf. Zuerst sah sie John an. »Wenn sie da draußen stirbt, sorge ich dafür, dass du ins Gefängnis kommst.« Dann richtete ihr Blick sich stumpf und feindselig auf ihren Mann. »Und dir werde ich niemals vergeben.«

»Sie wird schon wieder ruhiger«, sagte John.

Draußen auf der Treppe ließ Abras Zucken nach und hörte schließlich ganz auf. Ihre Wangen waren jedoch nass, und zwischen ihren geschlossenen Lidern quollen Tränen hervor. Im schwindenden Tageslicht hingen sie an ihren Wimpern wie winzige Diamanten.

11

In dem Zimmer, wo Danny Torrance als Kind gewohnt hatte und das nun nur noch aus Erinnerungen bestand, klammerte sich Abra an Dan, das Gesicht fest an seine Brust gepresst. »Das Ungeheuer – ist es fort?«, fragte sie mit gedämpfter Stimme.

»Ja«, sagte Dan.

»Schwörst du das bei allem, was dir lieb ist?«

»Das tue ich.«

Sie hob den Kopf und warf zuerst einen Blick auf Dans Gesicht, um sich zu vergewissern, dass er die Wahrheit sagte. Dann wagte sie es, sich im Zimmer umzublicken. »Dieses Grinsen.« Sie schauderte.

»Ja«, sagte Dan. »Ich glaube … er ist froh, wieder zu Hause zu sein. Abra, bist du bereit? Weil wir es nämlich jetzt sofort tun müssen. Es ist so weit.«

»Ich bin bereit. Aber was ist, wenn … es … wiederkommt?«

Dan dachte an das Schließfach. Nun stand es zwar offen, aber es konnte problemlos wieder geschlossen werden. Vor allem, da Abra ihm nun dabei helfen konnte. »Ich glaube nicht, dass er … dass es irgendwas mit uns zu tun haben will, Kleines. Komm. Und denk dran: Wenn ich dir sage, du sollst nach New Hampshire zurück, dann gehst du

Wieder antwortete sie nicht darauf, und es war keine Zeit für Diskussionen. Es war so weit. Er trat durch die Glastür. Sie führte zum Ende des Wegs. Abra ging neben ihm, aber ihr Körper verlor die Stabilität, die er in dem Raum aus Dans Erinnerung gehabt hatte, und begann zu flackern.

Hier draußen ist sie fast selber ein Geist, dachte Dan. Dabei wurde ihm klar, in welche Gefahr sie sich begeben hatte. Er wollte jetzt lieber nicht darüber nachdenken, wie unsicher ihre Kontrolle über den eigenen Körper jetzt wohl war.

Mit raschen Schritten – aber ohne loszulaufen; damit hätten sie Rose auf sich aufmerksam gemacht, und sie mussten mindestens sechzig Meter zurücklegen, bevor sie hinter der Overlook Lodge verschwinden konnten – überquerten Dan und seine geisterhafte Gefährtin den Rasen und den mit Steinplatten belegten Weg zwischen den Tennisplätzen.

Als sie die Rückseite der Küche erreicht hatten, waren sie von der Plattform aus endlich nicht mehr sichtbar. Ein Ventilator ratterte; aus den Mülltonnen stieg der Gestank von verdorbenem Fleisch auf. Dan drehte am Knauf der Hintertür und stellte fest, dass sie nicht abgeschlossen war, hielt jedoch einen Moment lang inne, bevor er sie aufzog.

(sind sie alle)

(ja alle aber Rose … sie … beeil dich Dan beeil dich weil)

Abras Augen, die wie ein alter Schwarz-Weiß-Film flackerten, waren weit geöffnet. Bestürzung lag in ihnen. »Sie weiß, dass etwas nicht stimmt.«

12

Rose richtete ihre Aufmerksamkeit auf das kleine Aas, das immer noch auf dem Beifahrersitz des Pick-ups saß, mit geneigtem Kopf und völlig reglos. Die Kleine beobachtete weder ihren Onkel – falls er überhaupt ihr Onkel war –, noch machte sie irgendwelche Anstalten auszusteigen. Die Alarmanzeige in Rose’ Kopf wechselte von Gelb auf Rot.

»He!« Die Stimme schwebte durch die dünne Luft zu ihr empor. »He, du alte Schachtel! Schau mal her!«

Ihr Blick zuckte zu dem Mann zurück, der auf dem Parkplatz stand. Nahezu verdattert starrte sie zu ihm hinunter, während er die Hände über den Kopf hob und dann ein großes, ungelenkes Rad schlug. Sie dachte schon, er würde auf dem Hintern landen, aber das Einzige, was auf den Asphalt fiel, war seine Mütze. Darunter kam die dünne, weiße Haartracht eines Mannes in den Siebzigern zum Vorschein. Vielleicht sogar in den Achtzigern.

Rose richtete den Blick wieder auf die Gestalt im Wagen, die weiterhin reglos mit geneigtem Kopf dasaß. Das Mädchen hatte keinerlei Interesse an den Kunststücken seines Onkels. Plötzlich machte es klick, und Rose begriff, was sie sofort gesehen hätte, wenn der Trick nicht so hanebüchen gewesen wäre: Das war eine Schaufensterpuppe.

Aber das Mädchen ist hier! Token Charlie spürt es, alle in der Lodge spüren es, sie sind alle zusammen, und sie wissen …

Alle waren zusammen in der Lodge. Alle an einem Ort. War das eigentlich ihre Idee gewesen? Nein. Diese Idee stammte von dem …

Rose rannte auf die Treppe zu.

13

Die verbliebenen Mitglieder des Wahren Knotens hatten sich an den beiden Fenstern versammelt, durch die man hinunter auf den Parkplatz blicken konnte. Sie sahen, wie Billy Freeman zum ersten Mal seit über vierzig Jahren ein Rad schlug (und beim letzten Mal war er besoffen gewesen). Petty the Chink lachte sogar. »Was um Himmels willen …«

Da sie der Tür zur Küche den Rücken zuwandten, sahen sie weder Dan, der in den Raum trat, noch die flackernde Gestalt des Mädchens an seiner Seite. Dan hatte Zeit, zwei Kleiderbündel auf dem Boden zu bemerken und daraus zu schließen, dass Bradley Trevors Masern immer noch fleißig am Werk waren. Im nächsten Augenblick kehrte er in sich selbst zurück, drang ganz tief ein und fand das dritte Schließfach – das undichte. Er riss es auf.

(Dan was tust du da)

Er stützte die Hände auf die Oberschenkel und beugte sich vor. Sein Magen brannte wie glühendes Metall, als er den letzten Hauch der alten Dichterin ausatmete, den sie ihm bereitwillig mit einem sterbenden Kuss geschenkt hatte. Aus seinem Mund kam eine lange Wolke aus rosafarbenem Dunst, der sich in der Luft zusehends rot färbte. Als die giftigen Überreste von Concetta Reynolds ihn verließen, nahm er zunächst nichts anderes mehr wahr als die wunderbare Erleichterung in seiner Körpermitte.

»Momo!«, kreischte Abra.

14

Oben auf der Plattform riss Rose die Augen auf. Das kleine Aas war in der Lodge.

Und jemand war bei ihr.

Sie sprang in diesen neuen Gedankenstrom, ohne darüber nachzudenken. Sie suchte. Ignorierte die Signale, die auf starken Steam hinwiesen, versuchte nur, diesen Jemand aufzuhalten, bevor er tun konnte, was immer er vorhatte. Ignorierte die furchtbare Möglichkeit, dass es bereits zu spät war.

15

Als die Wahren Abras Aufschrei hörten, drehten sie sich zu ihr um. Jemand – es war Long Paul – sagte: »Was zum Teufel ist das denn?«

Der rote Dunst verdichtete sich zu einer weiblichen Gestalt. Für einen Moment – sicher nicht länger – blickte Dan in Concettas wirbelnde Augen und sah, dass diese jung waren. Noch schwach und ganz vom Anblick dieses Phantoms eingenommen, nahm er nicht wahr, wie jemand in seine Gedanken eindrang.

»Momo!«, rief Abra wieder. Sie streckte die Arme aus.

Womöglich sah die Frau in der Dunstwolke sie an. Womöglich lächelte sie sogar. Dann war die Gestalt von Concetta Reynolds verschwunden, und der Dunst wallte auf die zusammengedrängten Mitglieder des Wahren Knotens zu. Viele klammerten sich fassungslos und verängstigt aneinander. Die rote Substanz breitete sich aus wie Blut in Wasser.

»Das ist Steam«, sagte Dan. »Ihr habt davon gelebt; nun saugt ihn ein, und verreckt daran!«

Seit ihm der Plan in den Sinn gekommen war, hatte er gewusst, dass es schnell gehen musste, wenn er den Erfolg noch erleben wollte. Er hätte sich jedoch nie vorgestellt, dass es so schnell gehen würde. Vielleicht lag es daran, dass die Wahren teilweise schon von den Masern geschwächt waren, denn einige hielten ein bisschen länger stand als die anderen. Dennoch war es in wenigen Sekunden vorbei.

Sie heulten in seinem Kopf wie sterbende Gespenster. Für Dan war das ein entsetzliches Geräusch, für seine Gefährtin jedoch nicht.

»Gut!«, rief Abra und schüttelte die geballten Fäuste. »Na, wie schmeckt es? Wie schmeckt meine Momo? Gut, ja? Saugt so viel von ihr ein, wie ihr wollt. SAUGT ALLES EIN!«

Sie begannen zu kreisen. Durch den roten Dunst hindurch sah Dan, wie zwei von ihnen die Stirn aneinanderdrückten und sich umarmten, und trotz allem, was sie getan hatten – trotz allem, was sie waren –, ging der Anblick ihm nahe. Er sah die Worte Ich liebe dich auf Short Eddies Lippen, sah, wie Big Mo etwas erwidern wollte; dann waren sie verschwunden, und ihre Kleidungsstücke schwebten zu Boden. So schnell ging alles.

Er wandte sich Abra zu, um ihr zu sagen, dass sie es jetzt sofort zu Ende bringen müssten, aber da begann Rose the Hat zu kreischen, und einige Augenblicke – bis Abra sie abblocken konnte – löschten diese Schreie voller Wut und irrsinniger Trauer alles andere aus, selbst die wunderbare Erleichterung, keine Schmerzen mehr zu haben. Und, wie er inständig hoffte, auch keinen Krebs mehr. Das würde er allerdings erst dann mit Sicherheit wissen, wenn er sein Gesicht im Spiegel betrachten konnte.

16

Rose stand am oberen Ende der Treppe, die von der Plattform herabführte, als der tödliche Dunst den Wahren Knoten erfasste und die Überreste von Abras Momo ihr rasches, endgültiges Werk vollbrachten.

Ihr Inneres war ein Leichentuch unerträglichen Leidens. Schreie schossen durch ihren Kopf wie Schrapnells. Verglichen mit diesen Schreien, die von den sterbenden Wahren stammten, waren jene des nach New Hampshire entsandten Stoßtrupps nichts als eine blasse Erinnerung. Rose taumelte zurück, als wäre sie von einer Keule getroffen worden. Sie stieß ans Geländer, prallte davon ab und stürzte auf die Bretter. Irgendwo in der Ferne leierte eine Frau – ihrer zittrigen Stimme nach zu urteilen sehr alt – unablässig nein, nein, nein, nein, nein.

Das bin ich. Das muss ich sein, denn ich bin die Einzige, die noch übrig ist.

Nicht das Mädchen war einem übersteigerten Selbstvertrauen zum Opfer gefallen, sondern Rose selbst. Sie dachte an etwas

(in die eigene Falle tappen)

was dieses kleine Aas gesagt hatte, und spürte, wie es in ihr vor Wut und Bestürzung brannte. Ihre alten Freunde und Reisegefährten waren tot. Vergiftet. Mit Ausnahme der Feiglinge, die Reißaus genommen hatten, war Rose the Hat alles, was vom Wahren Knoten geblieben war.

Doch nein, das stimmte ja gar nicht. Da war noch Sarey.

Unter dem kühlen Himmel auf der Plattform liegend, nahm Rose Kontakt mit ihr auf.

(bist du)

Der Gedanke, der zurückkam, war voller Verwirrung und Entsetzen.

(ja aber … Rose … sind sie … können sie denn)

(denk nicht an sie erinnere dich einfach Sarey erinnerst du dich)

(»sonst muss ich zu anderen Mitteln greifen«)

(gut Sarey gut)

Wenn das Mädchen nicht flüchtete … wenn sie den Fehler machte, ihr mörderisches Tagwerk zu vollenden …

Und das würde sie tun. Da war Rose sich sicher, und in den Gedanken des Mannes, der das kleine Aas begleitete, hatte sie genug gesehen, dass sie zweierlei wusste: wie die beiden dieses Gemetzel zustande gebracht hatten und wie sich diese spezielle Verbindung gegen sie verwenden ließ.

Zorn war ausgesprochen machtvoll.

Kindheitserinnerungen ebenfalls.

Mühsam kam Rose auf die Beine, versetzte ihrem Hut wieder die gewohnte kecke Neigung, ohne darüber nachzudenken, und ging zum Geländer. Der Mann aus dem Pick-up starrte zu ihr herauf, aber sie achtete kaum auf ihn. Der hatte seine heimtückische kleine Aufgabe erledigt. Vielleicht würde sie sich später mit ihm beschäftigen, aber vorläufig hatte sie nur Augen für die Overlook Lodge. Das Mädchen war dort, gleichzeitig jedoch weit davon entfernt. Seine körperliche Anwesenheit auf dem Campingplatz des Wahren Knotens war kaum mehr als die eines Phantoms. Vollständig anwesend war nur dieser Mann – ein realer Mensch, ein Tölpel –, den sie noch nie gesehen hatte. Er war ein Steamhead. Seine Stimme in ihrem Kopf war klar und kalt.

(hallo Rose)

In der Nähe gab es einen Ort, an dem das Mädchen zu flackern aufhören würde. Wo es seinen physischen Körper annehmen würde. Wo es getötet werden konnte. Später konnte sich Sarey um den Mann kümmern, aber erst nachdem dieser Mann sich um das kleine Aas gekümmert hatte.

(hallo Danny hallo mein kleiner Junge)

Geladen mit Steam, griff sie in ihn hinein und beförderte ihn mit einem brutalen Schlag an die Nabe des Rades. Während sie sich umdrehte, um ihm zu folgen, hörte sie in der Ferne Abras entsetzte Schreie.

Und als Dan dort war, wo Rose ihn haben wollte, als er einen Moment lang so überrascht war, dass er seine Deckung vernachlässigte, ließ sie ihre ganze Wut in ihn hineinströmen, als wäre es reiner Steam.

Kapitel zwanzig NABE DES RADES, DACH DER WELT

1

Dan Torrance schlug die Augen auf. Durch sie hindurch schoss Sonnenlicht in seinen schmerzenden Kopf und drohte, sein Gehirn in Brand zu setzen. Das war der übelste Kater aller Zeiten. Lautes Schnarchen neben ihm, ein hässliches, lästiges Geräusch, bei dem es sich nur um eine besoffene Tusse handeln konnte, die am falschen Ort ihren Rausch ausschlief. Dan drehte den Kopf in die entsprechende Richtung und sah die Frau, die neben ihm platt auf dem Rücken lag. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Dunkle Haare, die wie ein Heiligenschein um sie ausgebreitet waren. Sie trug ein zu großes T-Shirt mit dem Logo der Atlanta Braves.

Das ist nicht real. An diesem Ort bin ich gar nicht. Ich bin in Colorado, am Dach der Welt, und ich muss der Sache jetzt ein Ende bereiten.

Die Frau drehte sich um, öffnete die Augen und starrte ihn an. »Scheiße, mein Kopf«, sagte sie. »Hol mir doch mal was von dem Koks, Daddy. Es ist im Wohnzimmer.«

Verblüfft und zunehmend zornig starrte er sie an. Dieser Zorn schien von nirgendwoher zu kommen, aber war es nicht schon immer so gewesen? Es war ein Zorn, der selbständig war, ein unlösbares Rätsel. »Koks? Wer hat denn Koks besorgt?«

Sie grinste, wobei in ihrem Mund nur ein einzelner, verfärbter Zahn sichtbar wurde. Da wusste er, wer sie war. »Das warst du, Daddy. Jetzt geh und hol es. Sobald ich wieder klar im Kopf bin, kriegst du einen geilen Fick.«

Irgendwie war er wieder in dieser schäbigen Wohnung in Wilmington, nackt, neben Rose the Hat.

»Was hast du getan? Wie bin ich hierhergekommen?«

Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Ach, gefällt es dir hier etwa nicht? Komisch, diesen Ort hab ich aus deinem Kopf geholt. Und jetzt tu, was ich dir gesagt hab, Arschloch. Hol das verfluchte Koks.«

»Wo ist Abra? Was hast du mit Abra gemacht?«

»Die hab ich umgebracht«, sagte Rose gleichgültig. »Sie hat sich solche Sorgen um dich gemacht, dass sie sich eine Blöße gegeben hat, und da hab ich sie von der Kehle bis zum Bauch aufgeschlitzt. Leider konnte ich nicht so viel von ihrem Steam einsaugen, wie ich wollte, aber eine Menge hab ich doch …«

Alles um Dan herum wurde rot. Er umklammerte mit beiden Händen ihren Hals und begann zu würgen. Ein einziger Gedanke pulsierte ihm durch den Kopf: Verfluchte Schlampe, jetzt kriegst du, was du verdienst, verfluchte Schlampe, jetzt kriegst du, was du verdienst, verfluchte Schlampe, jetzt ist es aus mit dir.

2

Sein Steam war kraftvoll, aber nicht mit dem des Mädchens zu vergleichen. Er stand breitbeinig da, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen, die zu Fäusten geballten Hände gehoben – das Musterbild eines Mannes, der vor mörderischer Wut den Kopf verloren hatte. Wut machte Männer leicht beherrschbar.

Es war unmöglich, seinen Gedanken zu folgen, weil diese eine rote Färbung angenommen hatten. Das war in Ordnung, das war absolut okay, denn das Mädchen war da, wo Rose sie haben wollte. Dank Abras entsetztem, geschocktem Zustand war es ganz leicht gewesen, sie an die Nabe des Rades zu befördern. Lange würde sie allerdings nicht mehr entsetzt und geschockt sein, denn jemand würgte das kleine Aas, was das Zeug hielt. Bald würde sie tot sein, weil sie in die eigene Falle getappt war.

(Onkel Dan nein hör auf das ist nicht Rose)

Doch, das ist sie, dachte Rose, während sie noch fester zudrückte. Ihr Zahn kroch aus ihrem Mund und durchbohrte die Unterlippe. Blut floss an ihrem Kinn hinab auf ihre Bluse. Das spürte sie kaum stärker als den Bergwind, der mit ihrem üppigen, schwarzen Haar spielte. Ich bin es tatsächlich. Du warst mein Daddy, hast mich in der Kneipe freigehalten, ich hab dich dazu gebracht, deine Brieftasche für ein Säckchen mieses Koks zu leeren, und jetzt ist es der Morgen danach, und ich muss kriegen, was ich verdiene. Das wolltest du schon tun, als du damals in Wilmington neben dieser besoffenen Schlampe aufgewacht bist; das hättest du damals getan, wenn du ein Fünkchen Mumm gehabt hättest, mit ihr und mit ihrem jämmerlichen Balg gleich obendrein. Dein Vater wusste, wie man mit dämlichen, ungehorsamen Frauen umgeht, und dein Großvater ebenfalls. Manchmal muss eine Frau einfach kriegen, was sie verdient. Sie muss …

Ein Dröhnen, ein sich näherndes Motorengeräusch. Es war so unwichtig wie der Schmerz in ihrer Lippe und der Geschmack von Blut in ihrem Mund. Das Mädchen erstickte, zappelte. Dann explodierte in ihrem Gehirn ein Gedanke, laut wie ein Donnerschlag, ein verwundetes Brüllen:

(MEIN VATER WUSSTE NICHTS DAVON!)

Rose war noch damit beschäftigt, ihren Kopf von diesem Gebrüll zu befreien, als Billy Freemans Pick-up an einen Stützpfosten der Plattform krachte. Die Erschütterung holte sie von den Beinen. Ihr Hut flog davon.

3

Es war gar nicht die Wohnung in Wilmington. Es war sein schon lange verschwundenes Zimmer im Hotel Overlook – die Nabe des Rades. Es war gar nicht Deenie, die Frau, neben der er in jener Wohnung aufgewacht war, und es war nicht Rose.

Es war Abra. Er hatte die Hände um ihren Hals gelegt, und ihre Augen traten aus den Höhlen.

Einen Moment lang begann sie sich wieder zu verändern, weil Rose versuchte, sich in ihn zurückzuschleichen, um ihm ihren Zorn einzuflößen und seinen eigenen zu verstärken. Dann geschah etwas, und sie war wieder fort. Aber sie würde zurückkommen.

Abra starrte ihn hustend an. Er hätte erwartet, dass sie geschockt gewesen wäre, aber für ein Mädchen, das um ein Haar erwürgt worden war, sah sie merkwürdig gefasst aus.

(tja … wir wussten es wird nicht leicht werden)

»Ich bin nicht mein Vater!«, rief Dan ihr zu. »Ich bin nicht mein Vater!«

»Das ist wahrscheinlich gut so«, sagte Abra. Sie lächelte sogar. »Du bist ganz schön jähzornig, Onkel Dan. Offenbar sind wir tatsächlich verwandt.«

»Ich hab dich fast umgebracht«, sagte Dan. »Das reicht. Zeit, dass du von hier verschwindest. Geh sofort nach New Hampshire zurück.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das muss ich zwar gleich tun – für eine Weile, nicht lange –, aber jetzt im Moment brauchst du mich.«

»Abra, das ist ein Befehl!«

Sie kreuzte die Arme und blieb an Ort und Stelle auf dem Kaktusteppich stehen.

»Oje.« Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »Du bist ein ganz schön harter Brocken.«

Sie ergriff seine Hand. »Wir werden es gemeinsam zu Ende bringen. Komm jetzt. Wir wollen raus aus diesem Zimmer. Hier gefällt es mir nämlich doch nicht so besonders.«

Die Finger der beiden flochten sich ineinander, und das Zimmer, in dem er eine Weile als Kind gewohnt hatte, löste sich auf.

4

Dan hatte Zeit zu registrieren, dass die vordere Stoßstange von Billys Pick-up sich um einen der dicken Pfosten gewickelt hatte, die das Dach der Welt trugen. Aus der Kühlerhaube stieg Dampf auf. Er sah die Schaufensterpuppenversion von Abra aus dem Beifahrerfenster hängen, einen Kunststoffarm keck in die Luft gereckt. Er sah, wie Billy versuchte, die lädierte Fahrertür zu öffnen. An einer Seite seines Gesichts lief Blut herab.

Etwas packte Dan am Kopf. Kräftige Hände, die den Kopf drehten und versuchten, ihm das Genick zu brechen. Dann waren Abras Hände da und rissen die von Rose weg. Abra blickte nach oben. »Da musst du dich schon mehr anstrengen, du feige alte Hexe!«

Rose stand am Geländer und blickte herab. Sie hatte ihren hässlichen Hut aufgehoben und rückte ihn auf dem Kopf wieder zurecht. »Na, war das fein, die Hände deines Onkels an der Gurgel zu spüren? Was denkst du jetzt von ihm?«

»Das warst du, nicht er.«

Rose grinste. Ihr blutiges Maul klaffte auf. »Keineswegs, meine Liebe. Ich hab nur das verwendet, was in ihm ist. Das solltest du eigentlich wissen, bist du doch genau wie er.«

Sie versucht, uns abzulenken, dachte Dan. Aber wovon? Von dem da?

Es war ein kleiner, grüner Bau – vielleicht eine Außentoilette, vielleicht auch ein Schuppen, in dem irgendetwas aufbewahrt wurde.

(kannst du)

Er musste den Gedanken nicht vollenden. Abra wandte sich dem Schuppen zu und richtete den Blick darauf. Das Vorhängeschloss ächzte, schnappte auf und fiel ins Gras. Die Tür schwang auf. Bis auf ein paar Werkzeuge und einen alten Rasenmäher war der Schuppen leer. Dan glaubte zwar, etwas darin zu spüren, aber das lag wohl nur an seinen überreizten Nerven. Als die beiden wieder nach oben blickten, war Rose nicht mehr zu sehen. Sie hatte sich vom Geländer zurückgezogen.

Billy schaffte es endlich, die Tür seines Wagens aufzudrücken. Er stieg aus, taumelte, blieb jedoch stehen. »Danny? Alles in Ordnung?« Und dann: »Ist das Abra? Menschenskind, die ist ja kaum vorhanden!«

»Hör zu, Billy. Schaffst du es, bis zu dem Blockhaus da zu gehen?«

»Glaub schon. Was ist mit den Leuten da drin?«

»Die gibt’s nicht mehr. Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn du dich jetzt sofort auf den Weg machst.«

Billy widersprach nicht. Wie ein Betrunkener schwankend, stapfte er den Abhang hinauf. Dan deutete auf die Plattformtreppe und hob fragend die Augenbrauen. Abra schüttelte den Kopf

(genau das will sie)

und führte Dan rund um die Stützpfosten bis an eine Stelle, wo sie den oberen Rand von Rose’ Zylinder sehen konnten. Dadurch lag der kleine Geräteschuppen nun in ihrem Rücken, was Dan jedoch nicht störte. Schließlich hatte er gesehen, dass niemand darin lauerte.

(Dan ich muss jetzt nach Hause bloß eine Minute ich muss mich um)

Ein Bild tauchte in ihm auf: ein Feld voller Sonnenblumen, die alle gleichzeitig aufgingen. Sie musste sich um ihren physischen Körper kümmern, und das war gut. Das war richtig.

(geh nur)

(ich komme zurück sobald)

(geh nur Abra ich schaffe es schon)

Und wenn er Glück hatte, war es vorüber, wenn sie wiederkam.

5

In Anniston sahen John Dalton und die Stones, wie Abra tief Atem holte und die Augen aufschlug.

»Abra!«, rief Lucy. »Ist es vorbei?«

»Bald.«

»Was ist denn das da an deinem Hals? Sind das etwa blaue Flecke?«

»Mama, bleib, wo du bist! Ich muss wieder zurück. Dan braucht mich.«

Sie griff nach Hoppy, aber bevor sie den alten Stoffhasen fassen konnte, klappten ihre Augen zu, und ihr Körper regte sich nicht mehr.

6

Rose, die vorsichtig über das Geländer gespäht hatte, sah Abra verschwinden. Das kleine Aas konnte nur begrenzte Zeit dableiben, dann musste sie zurück, um sich ein wenig zu erholen. Sie war auf dem Campingplatz auf dieselbe Weise anwesend wie damals im Supermarkt, bloß war die jetzige Erscheinung wesentlich kraftvoller. Und weshalb? Weil dieser Mann sie unterstützte. Weil er ihre Kraft verstärkte. Wenn er in dem Moment, in dem das Mädchen zurückkehrte, tot wäre …

Rose blickte zu Dan hinunter. »An deiner Stelle würde ich Reißaus nehmen, solange du die Chance dazu hast, Danny«, rief sie. »Sonst muss ich zu anderen Mitteln greifen!«

7

Silent Sarey war so damit beschäftigt, was sich am Dach der Welt abspielte – sie lauschte nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit jedem Punkt ihres freilich beschränkten Intelligenzquotienten –, dass ihr die Veränderung zuerst nicht aufgefallen war: Sie war nicht mehr allein im Schuppen. Es war der Geruch, der sie schließlich darauf aufmerksam machte, der Geruch von etwas Verdorbenem. Nicht der von Abfall allerdings. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, da die Tür offen stand und der Mann da draußen sie sonst womöglich bemerkt hätte. Deshalb blieb sie mit der Sichel in der Hand reglos stehen.

Sarey hörte, wie Rose dem Mann sagte, er solle Reißaus nehmen, solange er die Chance dazu habe, und in diesem Augenblick schloss sich die Tür wieder, ganz von allein.

»Sonst muss ich zu anderen Mitteln greifen!«, rief Rose. Das war das Stichwort, bei dem Sarey aus ihrem Versteck stürmen und diesem lästigen, bösartigen Mädchen die Sichel in den Hals hacken sollte, aber da das Mädchen nicht mehr da war, musste sie sich mit dem Mann begnügen. Doch bevor sie eine Bewegung machen konnte, schob sich eine schlüpfrige, kalte Hand über das Handgelenk mit der Sichel. Schob sich darüber und schloss sich zu einem Klammergriff.

Sie drehte sich um – das konnte sie jetzt, da die Tür zu war, gefahrlos tun –, und bei dem, was sie in dem trüben Licht sah, das durch die Ritzen zwischen den alten Brettern drang, entfuhr ihrer normalerweise stillen Kehle ein Schrei. Während sie mit dem Geschehen draußen beschäftigt gewesen war, hatte sich eine Leiche zu ihr in den Werkzeugschuppen gesellt. Es war ein Mann, dessen grinsendes, raubtierhaftes Gesicht die feuchte, weißlich grüne Färbung einer verdorbenen Avocado hatte. Die Augen schienen fast aus ihren Höhlen herauszuhängen, und sein Anzug war mit Schimmelflecken übersät … aber das bunte Konfetti auf seinen Schultern war neu.

»Tolle Party, was?«, sagte er, und als er grinste, spalteten sich seine Lippen.

Sarey schrie wieder auf und hackte ihm die Sichel in die linke Schläfe. Das gebogene Blatt fuhr tief hinein und blieb stecken, aber es trat keinerlei Blut aus.

»Gib mir doch mal ’nen Kuss, Süße«, sagte Horace Derwent. Zwischen seinen Lippen kam der wackelnde weiße Überrest einer Zunge hervor. »Es ist schon lange her, dass ich mit einer Frau zusammen war.«

Während seine zerfetzten, vor Verwesung glänzenden Lippen sich auf die von Sarey pressten, schlossen seine Hände sich um ihre Kehle.

8

Rose sah, wie die Tür des Schuppens zuschwang, hörte den Schrei und begriff, dass sie nun wirklich allein war. Bald, wahrscheinlich schon in Sekunden, würde das Mädchen zurückkommen, und dann stand es zwei gegen eine. Das durfte sie nicht zulassen.

Sie blickte auf den Mann hinab und sammelte ihre ganze, vom Steam verstärkte Kraft.

(erwürg dich selber und zwar JETZT)

Seine Hände bewegten sich auf seine Kehle zu, aber zu langsam. Er kämpfte gegen Rose an, mit einem Erfolg, der sie rasend machte. Von dem kleinen Aas hätte sie Widerstand erwartet, aber der Tölpel da unten war ein Erwachsener. Das bisschen übrig gebliebener Steam in ihm hätte sie eigentlich beiseitewischen sollen wie einen Nebelhauch.

Dennoch setzte sie sich durch.

Seine Hände hoben sich zu seiner Brust … auf Schulterhöhe … und schließlich zu seiner Kehle. Dort hielten sie zitternd inne – Rose hörte den Mann vor Anstrengung keuchen. Sie verstärkte den Druck, und die Hände schlossen sich um die Kehle und drückten die Luftröhre zu.

(gut so du Bastard warum hast du dich eingemischt drück zu drück zu DRÜCK)

Etwas prallte auf sie auf. Keine Faust, eher fühlte es sich wie ein stark komprimierter Luftstoß an. Sie blickte sich um und sah nur ein Schimmern, das kurz vorhanden und dann wieder verschwunden war. Weniger als drei Sekunden lang war es da gewesen, aber das reichte aus, um ihre Konzentration zu stören, und als sie sich wieder dem Geländer zuwandte, war das Mädchen zurückgekehrt.

Diesmal war es kein Luftstoß, sondern es waren Hände, die sich gleichzeitig groß und klein anfühlten. Sie machten sich an ihrem unteren Rücken zu schaffen. Sie schoben. Das kleine Aas und sein Freund arbeiteten zusammen – genau das hatte Rose verhindern wollen. In ihrem Magen machte sich Entsetzen breit. Sie versuchte, vom Geländer zurückzuweichen, schaffte es jedoch nicht. Es bedurfte all ihrer Kraft, einfach stehen zu bleiben, und da kein Mitglied des Wahren Knotens mehr übrig war, das sie hätte unterstützen können, würde sie auch dazu nicht mehr lange in der Lage sein. Gar nicht mehr lange.

Wenn dieser Luftstoß nicht gekommen wäre … der weder der Mann noch das Mädchen gewesen war …

Eine der Hände löste sich von ihrem Kreuz und schlug ihr den Hut vom Kopf. Ob dieser Demütigung heulte Rose auf – niemand berührte ihren Hut, niemand! – und brachte einen Moment lang genügend Kraft auf, rückwärts vom Geländer weg in die Mitte der Plattform zu taumeln. Dann legten die beiden Hände sich wieder an ihr Kreuz und begannen erneut, sie vorwärtszuschieben.

Sie blickte hinunter zu den beiden. Der Mann hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich so stark, dass die Sehnen an seinem Hals hervortraten. An seinen Wangen rann Schweiß herab wie Tränen. Die Augen des Mädchens hingegen waren weit geöffnet und erbarmungslos. Sie starrte zu Rose hinauf. Und sie lächelte.

Rose stemmte sich mit aller Kraft dagegen, aber es war, als würde sie sich mit einer Steinmauer anlegen. Einer Mauer, die sie unerbittlich nach vorn ans Geländer drückte. Sie hörte es ächzen.

Einen Augenblick lang dachte sie daran, dem Mädchen ein Angebot zu machen. Ihr vorzuschlagen, gemeinsam einen neuen Knoten zu gründen. Damit Abra Stone tausend Jahre leben konnte, statt 2070 oder 2080 zu sterben. Oder zweitausend Jahre. Aber was hätte das geholfen?

Hatte es je einen Teenager gegeben, der sich nicht ohnehin schon unsterblich fühlte?

Statt zu verhandeln oder zu betteln, schleuderte sie den beiden ihren Trotz entgegen. »Zur Hölle mit euch! Zur Hölle mit euch beiden!«

Das furchtbare Lächeln des Mädchens wurde breiter. »Aber nicht doch«, sagte sie. »Wer zur Hölle fährt, bist du!«

Diesmal ächzte es nicht; es krachte wie ein Gewehrschuss, und dann stürzte Rose the Hat in die Tiefe.

9

Sie schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf und begann sofort zu kreisen. Ihr Kopf saß schräg (wie ihr Hut, dachte Dan) auf ihrem zertrümmerten Hals, was fast keck aussah. Dan hielt Abras Hand und spürte, wie diese sich abwechselnd bildete und verschwand, während Abra zwischen der Treppe ihres Elternhauses und dem Dach der Welt hin- und herwechselte. Gemeinsam beobachteten sie, was geschah.

»Na, tut es weh?«, fragte Abra die Sterbende. »Das hoffe ich jedenfalls. Ich hoffe, es tut anständig weh.«

Die Lippen von Rose verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen. Ihre menschlichen Zähne waren verschwunden; geblieben war nur der einzelne, verfärbte Hauer. Darüber schwebten ihre entkörperlichten Augen wie lebendige blaue Steine. Dann war sie verschwunden.

Abra wandte sich Dan zu. Sie lächelte immer noch, doch nun war keinerlei Zorn oder Gemeinheit mehr in ihrem Blick.

(ich hatte Angst um dich ich hatte Angst sie könnte)

(das hat sie fast geschafft aber da war etwas)

Er deutete auf die Stelle, wo hoch über ihnen die zerbrochenen Enden des Geländers in den Himmel ragten. Abra blickte hinauf, dann sah sie Dan verdutzt an. Er konnte nur den Kopf schütteln.

Nun war sie an der Reihe, ihm etwas zu zeigen, aber sie zeigte nicht nach oben, sondern auf den Boden.

(es lebte einst ein Magier der einen Hut wie den da hatte er hieß Mysterio)

(und du hast Löffel an die Decke gehängt)

Abra nickte, ohne den Kopf zu heben. Sie betrachtete immer noch den Zylinder.

(den musst du vernichten)

(aber wie)

(verbrenn ihn Billy behauptet zwar er raucht nicht mehr aber das stimmt nicht ich hab’s in seinem Wagen gerochen also hat er vielleicht Streichhölzer)

»Du musst es unbedingt tun«, sagte sie. »Ja? Versprichst du’s mir?«

»Ja.«

(ich hab dich lieb Onkel Dan)

(ich dich auch)

Sie umarmte ihn. Er legte die Arme um sie und erwiderte die Umarmung. Während er das tat, wurde ihr Körper zu Regen. Dann zu Dunst. Dann war er verschwunden.

10

Auf der Hintertreppe ihres Elternhauses in Anniston, New Hampshire, mitten in der Dämmerung, die bald zur Nacht werden würde, richtete Abra sich auf, kam auf die Beine und schwankte, als wollte sie gleich in Ohnmacht fallen. Aber es bestand keine Gefahr, dass sie zu Boden stürzte; ihre Eltern waren sofort bei ihr. Gemeinsam trugen sie sie in die Küche.

»Alles in Ordnung«, sagte Abra. »Ihr könnt mich runterlassen.«

Das taten sie, wenn auch vorsichtig. David Stone blieb neben ihr, um sie beim leichtesten Wackeln ihrer Knie aufzufangen, aber sie blieb sicher stehen.

»Was ist mit Dan?«, fragte John.

»Dem geht es gut. Mr. Freeman hat seinen Pick-up demoliert – das ging nicht anders –, und er hat eine Schnittwunde am …« Sie legte sich eine Hand an die Wange. »… aber ich glaube, sonst ist ihm nichts passiert.«

»Und diese Leute? Der Wahre Knoten?«

Abra hob die flache Hand zum Mund und blies darauf.

»Hinüber.« Und dann: »Was gibt’s zu essen? Ich hab einen Wahnsinnshunger.«

11

Dass es Dan gutgehe, war eher eine leichte Übertreibung. Er schleppte zu Billys Pick-up und setzte sich in die offene Tür, um wieder zu Atem zu kommen. Und zu Verstand.

Wir waren im Urlaub, reimte er sich eine Geschichte zusammen. Ich wollte unser altes Viertel in Boulder wiedersehen. Dann sind wir hier heraufgefahren, um einen Blick vom Dach der Welt zu werfen. Als ich gesehen hab, dass der Campingplatz verlassen war, wurde ich übermütig und hab mit Billy gewettet, ich könnte seinen Wagen den Abhang hoch bis zur Treppe der Plattform fahren. Dabei war ich zu schnell und hab die Kontrolle verloren. Bin an einen der Stützpfosten gekracht. Tut mir echt leid. Das war ein wirklich dämlicher Einfall.

Es war zwar eine anständige Geldstrafe zu erwarten, aber einen Lichtblick hatte die Story: Den Alkoholtest würde er mit Bravour bestehen.

Dan warf einen Blick ins Handschuhfach und fand eine Dose mit Feuerzeugbenzin. Kein Zippo – das steckte bestimmt in Billys Hosentasche –, aber da lagen tatsächlich zwei angebrochene Streichholzbriefchen. Er ging dorthin, wo der Zylinder lag, und übergoss ihn ausgiebig mit dem Feuerzeugbenzin. Dann hockte er sich hin, riss ein Streichholz an und warf es in die umgedrehte Innenseite des Huts. Der brannte nicht lange und züngelte im Wind, bis er nur noch Asche war.

Es roch nach Fäulnis.

Als Dan aufblickte, sah er Billy auf sich zutrotten. Sein Freund wischte sich mit dem Ärmel über das blutige Gesicht. Während sie gemeinsam durch die Asche trampelten, damit kein Funke mehr übrig war, der einen Waldbrand auslösen konnte, trug Dan die Geschichte vor, die sie der Polizei erzählen würden.

»Die Reparatur von dem Ding da werde ich bezahlen müssen, und die ist bestimmt nicht billig«, sagte er. »Gut, dass ich was angespart hab.«

Billy schnaubte. »Wer soll dich wegen dem Schaden denn verklagen? Von diesem Wahren Knoten sind bloß noch die Klamotten übrig. Hab’s mir angeschaut.«

»Leider gehört das Dach der Welt dem großen Staate Colorado«, sagte Dan.

»Scheiße«, sagte Billy. »Das ist nicht fair, immerhin hast du Colorado und dem Rest der Welt gerade einen ziemlichen Gefallen getan. Wo ist eigentlich Abra?«

»Wieder zu Hause.«

»Gut. Und es ist vorbei? Wirklich vorbei?«

Dan nickte.

Billy starrte auf die Asche von Rose’ Zylinder. »Das Ding ist verflucht schnell verbrannt. War fast wie einer dieser Spezialeffekte im Film.«

»Wahrscheinlich war der Hut sehr alt.« Und voller Magie, dachte er, ohne es auszusprechen. Der von der schwarzen Sorte.

Dan ging zum Pick-up und setzte sich ans Lenkrad, um im Rückspiegel sein Gesicht zu betrachten.

»Siehst du irgendwas, was nicht da sein sollte?«, fragte Billy. »Das hat meine Mama immer gefragt, wenn ich belämmert in den Spiegel geschaut hab.«

»Nichts«, sagte Dan. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das müde, aber echt war. »Absolut nichts.«

»Na, dann rufen wir mal die Polizei an und erzählen von unserem Unfall«, sagte Billy. »Normalerweise hab ich mit den Typen lieber nichts zu tun, aber momentan ist mir ein bisschen Gesellschaft ganz lieb. Hier gruselt es mich irgendwie.« Er warf Dan einen verschmitzten Blick zu. »Massenhaft Geister, stimmt’s? Deshalb haben die Typen auch diesen Ort ausgewählt.«

Das war zweifellos der Grund gewesen. Aber man musste kein Ebenezer Scrooge sein, um zu wissen, dass es nicht nur böse Geister gab, sondern auch gute. Auf dem Weg zum Parkplatz blieb Dan stehen, drehte sich um und warf einen Blick auf das Dach der Welt. Er war nicht besonders überrascht, auf der Plattform einen Mann am zerbrochenen Geländer stehen zu sehen. Der Mann hob die Hand, durch die der Gipfel des Pawnee Mountain sichtbar war, und hauchte einen fliegenden Kuss, an den Dan sich aus seiner Kindheit erinnerte. Er erinnerte sich gut daran. Es war ihr spezieller Gruß am Ende des Tages gewesen.

Gute Nacht, Doc. Schlaf gut. Träum von ’nem Drachen, und erzähl mir morgen früh davon.

Dan wusste, dass er weinen würde, aber noch hielt er es zurück. Es war nicht die richtige Zeit dafür. Er hob die flache Hand zum Mund und erwiderte den Luftkuss.

Sein Blick ruhte noch eine kleine Weile auf dem, was von seinem Vater geblieben war. Dann ging er mit Billy zum Parkplatz hinab. Als sie dort angekommen waren, blickte er noch einmal zurück.

Das Dach der Welt war leer.

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