10 Flucht. Der weiße Hirsch

Die Gefährten stolperten so schnell sie konnten durch den dichten Wald und erreichten bald den Wildpfad. Caramon übernahm die Führung, das Schwert in der Hand. Sein Bruder folgte und hielt eine Hand auf Caramons Schulter, seine Lippen in grimmiger Entschlossenheit zusammengepreßt. Die anderen kamen mit gezogenen Waffen hinterher.

Aber von den Kreaturen war nichts mehr zu sehen.

»Warum verfolgen sie uns nicht?« fragte Flint nach einer Stunde.

Tanis kratzte sich den Bart - dasselbe hatte er sich auch gefragt. »Das haben sie nicht nötig«, antwortete er schließlich. »Wir sitzen sowieso in der Falle. Ich bin sicher, daß sie alle Ausgänge dieses Waldes blockiert haben, ausgenommen den Düsterwald...« »Düsterwald!« wiederholte Goldmond leise. »Müssen wir wirklich diesen Weg nehmen?«

»Vielleicht nicht«, antwortete Tanis. »Wir werden vom Betenden Gipfel einen guten Ausblick haben.« Plötzlich hörten sie Caramon rufen. Tanis lief nach vorn. Raistlin war zusammengebrochen.

»Es ist alles in Ordnung«, wisperte der Magier. »Aber ich muß mich ausruhen.«

»Eine Rast können wir alle gebrauchen«, sagte Tanis. Keiner sagte etwas. Alle sanken müde nieder und schöpften in schnellen Zügen Atem. Sturm schloß seine Augen und lehnte sich gegen einen mit Moos bewachsenen Stein. Sein Gesicht war leichenblaß. An seinem langen Schnurrbart und in seinen Haaren klebte Blut. Tanis wußte, daß der Ritter eher sterben würde, als ein Wort der Klage von sich zu geben.

»Keine Sorge«, sagte Sturm plötzlich barsch. »Laßt mir nur einen Augenblick Ruhe.« Tanis ergriff kurz die Hand des Ritters, dann setzte er sich zu Flußwind. Beide sprachen einige Minuten kein Wort, dann fragte Tanis: »Du hast schon einmal gegen diese Kreaturen gekämpft, nicht wahr?«

»In der zerstörten Stadt.« Fluß wind erschauerte. »Es kam mir alles wieder zu Bewußtsein, als ich in den Karren sah und dieses... Ding mich höhnisch angrinste! Zumindest...« Er hielt inne und schüttelte den Kopf. Dann lächelte er Tanis zu. »Zumindest weiß ich jetzt, daß ich nicht verrückt bin. Diese entsetzlichen Kreaturen existieren wirklich.« »Ohne Zweifel«, murmelte Tanis. »Diese Kreaturen verbreiten sich also auf ganz Krynn, oder deine zerstörte Stadt ist hier in der Nähe.«

»Nein. Ich kam aus dem Osten nach Que-Shu. Sie war von Solace weit entfernt, hinter den Ebenen meiner Heimat.« »Was haben diese Kreaturen wohl gemeint, als sie davon sprachen, sie hätten dich bis zu unserem Dorf verfolgt?« fragte Goldmond langsam, während sie eine Hand auf seinen Arm legte.

»Sorge dich nicht«, sagte Flußwind und nahm ihre Hand in seine. »Die Kämpfer dort sind sicher mit ihnen fertig geworden.« »Flußwind, du wolltest etwas sagen...«, half sie nach. »Ja, du hast recht«, erwiderte Flußwind und streichelte ihr silbriggoldenes Haar. Er sah zu Tanis und lächelte. Für einen Moment lüftete sich die ausdruckslose Maske, und Tanis sah eine tiefe Wärme in den braunen Augen des Mannes. »Ich danke dir, Halb-Elf, und auch euch anderen.« Sein Blick fiel auf die Freunde. »Ihr habt unser Leben mehr als einmal gerettet, und ich bin euch sehr dankbar dafür. Aber« – er stockte – »es ist alles so seltsam!«

»Und es wird noch seltsamer werden.« Raistlins Stimme klang unheilvoll.

Die Gefährten kamen dem Betenden Gipfel immer näher. Sie konnten ihn schon vom Weg aus erkennen, wie er sich über die Wälder emporhob. Sein gespaltenes Haupt sah wie zwei im Gebet zusammengelegte Hände aus - daher der Name. Der Regen hatte aufgehört. Der Wald war von einer tödlichen Stille durchzogen. Den Gefährten wurde bewußt, daß die Tiere und Vögel des Waldes aus dem Land verschwunden waren und ein leeres, drohendes Schweigen hinterlassen hatten. Alle fühlten sich äußerst unbehaglich, außer vielleicht Tolpan, spähten ständig über ihre Schultern oder zogen beim kleinsten Schatten ihre Schwerter.

Sturm hatte darauf bestanden, die Nachhut zu bilden, aber er fiel zurück, als der Schmerz in seinem Kopf wieder zunahm. Ihm wurde schwindelig und übel. Er verlor jedes Gefühl dafür, wo er war und was er tat. Er wußte nur, daß er weiterlaufen mußte, einen Fuß vor den anderen setzen und sich vorwärts bewegen wie einer von Tolpans Automaten. Wie war denn Tolpans Geschichte noch mal? Sturm versuchte, sich zwischen zwei Schmerzwellen zu erinnern. Diese Automaten dienten einem Zauberer, der einen Dämonen herbeigerufen hatte, damit er die Kender forttragen sollte. Bestimmt war es genau wie all die anderen Geschichten des Kenders. Sturm setzte einen Fuß vor den anderen. Unsinn. Wie die Geschichten des alten Mannes - des alten Mannes im Wirtshaus. Geschichten vom weißen Hirsch und uralten Göttern – von Paladin. Geschichten von Huma. Sturm drückte seine Hände gegen die pochenden Schläfen... Huma...

Als Junge hatte Sturm Geschichten über Huma verschlungen. Seine Mutter - Tochter eines Ritters von Solamnia und selbst mit einem Ritter verheiratet - hatte nur diese Geschichten gekannt und sie ihrem Sohn erzählt. Sturms Gedanken gingen zu seiner Mutter, seine Schmerzen ließen ihn an ihre liebevolle Pflege denken, wenn er krank oder verletzt war. Sturms Vater hatte sein Weib und seinen Sohn ins Exil geschickt, weil der Junge - der einzige Nachkomme - eine Zielscheibe für jene darstellte, die die Ritter von Solamnia für immer aus dem Antlitz von Krynn verbannen wollten. Sturm und seine Mutter hatten in Solace Zuflucht gefunden. Der Junge hatte schnell Freundschaften geschlossen, insbesondere mit einem anderen Knaben, Caramon, der seine Interessen an Kampfesdingen teilte. Aber für Sturms stolze Mutter waren alle Leute in Solace unter ihrer Würde. Und als das Fieber sie verzehrte, starb sie einsam, nur ihr Sohn war bei ihr. Vor ihrem Tod hatte Sturm ihr versprechen müssen, seinen Vater aufzusuchen - aber er bezweifelte allmählich, daß dieser noch lebte. Nach dem Tod seiner Mutter entwickelte sich der junge Mann unter Tanis' und Flints Anleitung zu einem erfahrenen Kämpfer. Die beiden nahmen sich Sturms an, so wie sie sich insgeheim auch Caramons und Raistlins angenommen hatten. Zusammen mit Tolpan, und gelegentlich mit Kitiara, der wilden und wunderschönen Halbschwester der Zwillinge, begleiteten Sturm und seine Freunde Flint, der als Metallschmied arbeitete, auf seinen Reisen durch die Länder von Abanasinia.

Vor fünf Jahren jedoch hatten sich die Gefährten entschlossen, sich zu trennen, um Gerüchten nachzugehen, nach denen sich das Böse im Lande vermehrt haben sollte. Sie legten einen Eid ab, nach Ablauf von fünf Jahren im Wirtshaus Zur letzten Bleibe wieder zusammenzukommen.

Sturm war in den Norden nach Solamnia gereist, entschlossen, seinen Vater und sein Erbe zu suchen. Er fand nichts und entkam nur knapp dem Tod – mit dem Schwert und der Rüstung seines Vaters. Die Reise in seine Heimat war ein qualvolles Erlebnis gewesen. Sturm hatte gewußt, daß die Ritter in Schmach und Schande lebten, aber er war erschrocken gewesen zu sehen, wie tief ihre Verbitterung ging. Huma, Lichtbringer, Ritter von Solamnia, hatte vor Jahren, während des Zeitalters der Träume, die Finsternis verdrängt. Darauf folgte das Zeitalter der Allmacht. Dann kam die Umwälzung, als die Götter die Menschen verließen – wie es landläufig hieß. Die Menschen hatten sich hilfesuchend an die Ritter gewandt - so wie sie sich in der Vergangenheit an Huma gewandt hatten. Aber Huma war lange tot. Und die Ritter konnten nur hilflos zusehen, wie der Schrecken vom Himmel herabregnete und Krynn in zwei Hälften spaltete. Die Menschen hatten um Hilfe geschrien, aber die Ritter konnten nichts tun, und die Menschen hatten ihnen das nie vergessen. Sturm hatte vor der zerstörten Burg seiner Familie gestanden und geschworen, die Ehre der Ritter von Solamnia wiederherzustellen - auch wenn es ihn sein Leben kosten würde.

Aber wie sollte er diesen Haufen von Kreaturen bekämpfen, fragte er sich verzweifelt. Der Weg verschwamm vor seinen Augen. Er stolperte, fing sich aber schnell wieder. Huma hatte Drachen bekämpft. Gebt mir Drachen, träumte Sturm. Er schaute auf. Die Blätter verschwammen zu einem goldenen Nebel, und er wußte, er würde gleich ohnmächtig werden. Dann blinzelte er. Plötzlich sah er alles scharf und überdeutlich.

Vor ihm erhob sich der Betende Gipfel. Sie hatten den Fuß des alten Gletschergebirges erreicht. Er konnte Pfade sehen, die sich an den bewaldeten Hängen hochschlängelten, von den Bewohnern Solace' benutzte Wege, um Ausflugsplätze an der Ostseite des Gebirges aufzusuchen. Neben einem der Pfade stand ein weißer Hirsch. Sturm erstarrte. Noch nie hatte der Ritter ein so wundervolles Tier gesehen. Stolz hielt es seinen Kopf hoch, sein prachtvolles Geweih glänzte wie eine Krone. Seine tiefbraunen Augen standen im Kontrast zum schneeweißen Fell des Hirsches, und er blickte aufmerksam zum Ritter herüber, als würde er ihn kennen. Dann machte er eine leichte Kopfbewegung und sprang in südwestlicher Richtung fort. »Halt!« rief der Ritter heiser.

Die anderen wirbelten beunruhigt herum und zogen ihre Waffen. Tanis kam auf ihn zugerahnt. »Was ist los, Sturm?« Der Ritter legte unwillkürlich eine Hand auf seinen schmerzenden Kopf. »Tut mir leid, Sturm«, sagte Tanis. »Mir war nicht klar, daß es dir so schlecht geht. Wir können uns ausruhen. Wir sind nun am Fuß des Betenden Gipfels. Ich werde hochsteigen und sehen ...« »Nein! Sieh doch!« Der Ritter faßte nach Tanis' Schulter, drehte ihn herum und zeigte nach oben. »Siehst du? Der weiße Hirsch!«

»Der weiße Hirsch?« Tanis starrte in die Richtung, in die der Ritter deutete. »Wo? Ich...«

»Dort«, sagte Sturm leise. Er ging ein paar Schritte weiter, auf das Tier zu, das angehalten hatte und auf ihn zu warten schien. Der Hirsch nickte mit seinem riesigen Kopf. Wieder sprang er fort, nur ein paar Schritte, dann wandte er sich wieder dem Ritter zu. »Er will, daß wir ihm folgen«, keuchte Sturm. »Wie einst Huma!«

Die anderen hatten sich inzwischen um den Ritter versammelt und bedachten ihn mit Blicken, die von tief besorgt bis zweifelnd reichten.

»Ich sehe keinen Hirsch«, sagte Flußwind, dessen dunkle Augen den Wald absuchten. »Kopfwunde.« Caramon nickte wie ein hinterlistiger Kleriker. »Sturm, leg dich hin und ruh dich aus...«

»Du großer verdammter Narr!« fauchte der Ritter Caramon an. »Mit deinem Gehirn im Bauch ist es klar, daß du den Hirsch nicht siehst. Und wenn, würdest du ihn wahrscheinlich töten und braten! Ich sage euch – wir müssen ihm folgen!«

»Der Irrsinn bei Kopfwunden«, flüsterte Flußwind Tanis zu. »Das habe ich schon oft erlebt.«

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Tanis. Er schwieg einige Augenblicke. Dann erklärte er, offensichtlich widerstrebend: »Obwohl ich den weißen Hirsch nicht gesehen habe, war ich mal mit jemandem zusammen, der ihn gesehen hatte, und wir sind ihm gefolgt wie in der Geschichte des alten Mannes.« Seine Hand streifte unwillkürlich den Ring an seiner linken Hand, seine Gedanken waren bei dem goldhaarigen Elfenmädchen, das geweint hatte, als er Qualinesti verlassen hatte.

»Du schlägst also vor, einem Tier zu folgen, das wir nicht einmal sehen können?« fragte Caramon mit offenem Mund. »Es wäre nicht unsere seltsamste Tat«, kommentierte Raist-lin sarkastisch mit flüsternder Stimme. »Obwohl wir nicht vergessen sollten, daß es der alte Mann war, der die Geschichte mit dem weißen Hirsch erzählt hat, und der alte Mann war es, der uns in diese...«

»Es war unsere eigene Entscheidung, die uns in diese Geschichte brachte«, sagte Tanis. »Wir hätten auch dem Obersten Theokraten den Stab überreichen und uns aus der mißlichen Lage reden können. Ich meine, wir sollten Sturm folgen. Offenbar wurde er auserwählt, so wie Flußwind auserwählt wurde, den Stab zu tragen...«

»Aber er führt uns nicht einmal in unsere Richtung!« argumentierte Caramon. »Du weißt genausogut wie ich, daß es durch den westlichen Teil des Waldes keinen Pfad gibt. Niemand ist dort je gewesen!« »Um so besser«, ließ sich plötzlich Goldmond vernehmen. »Tanis sagte, daß die Kreaturen vermutlich alle Wege blockiert haben. Vielleicht ist dies ein Ausweg. Ich denke auch, wir sollten dem Ritter folgen.« Sie wandte sich um und machte sich mit Sturm auf den Weg. Sie sah nicht einmal zu den anderen zurück - offenbar gewöhnt, daß man ihr gehorchte. Flußwind zuckte die Schultern und schüttelte finster den Kopf, aber ging Goldmond hinterher, und die anderen folgten.

Der Ritter ließ die Trampelpfade zum Betenden Gipfel links liegen und bewegte sich in südwestlicher Richtung den Abhang hoch. Zuerst schien es, als hätte Caramon recht gehabt – es gab dort keinen Pfad. Sturm kämpfte sich wie ein Wahnsinniger durch das Gebüsch. Dann plötzlich öffnete sich vor ihnen ein ebener, breiter Weg. Tanis starrte ihn erstaunt an. »Wer oder was könnte diesen Pfad angelegt haben?« fragte er Flußwind, der ebenfalls etwas verwirrt dreinschaute. »Ich weiß es nicht«, sagte der Barbar. »Er ist alt. Dieser umgestürzte Baum da liegt schon lange hier, denn er ist zur Hälfte im Sand versunken und mit Moos und Schlingpflanzen bewachsen. Aber es gibt keine Spuren - nur die von Sturm. Es gibt keinerlei Zeichen dafür, daß hier Menschen oder Tiere durchgegangen wären. Aber warum ist er dann nicht überwachsen?«

Tanis blieb weder Zeit, eine Antwort zu geben, noch darüber nachzudenken. Sturm kämpfte sich geschwind voran, und die anderen mußten sich ranhalten, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

»Goblins, Boote, Echsenmenschen, unsichtbare weiße Hirsche - was kommt wohl als nächstes?« beklagte sich Flint beim Kender.

»Ich wünschte, ich könnte den Hirsch sehen«, sagte Tolpan sehnsüchtig.

Die Gefährten folgten Sturm, der mit wilder Begeisterung weiterkletterte. Verletzung und Schmerzen waren vergessen. Tanis hatte seine Schwierigkeiten, den Ritter einzuholen. Als es ihm gelang, war er über den fiebrigen Glanz in Sturms Augen beunruhigt. Aber der Ritter wurde offenbar von etwas geleitet. Der Pfad führte sie nach oben zum Betenden Gipfel. Tanis sah, daß er sie zu der Spalte zwischen den »Händen« aus Stein lenkte. Soweit er wußte, hatte diesen Spalt niemals zuvor jemand betreten.

»Wartet einen Moment«, keuchte er und heftete sich wieder an Sturms Fersen. Es war fast Mittag, vermutete er, obwohl die Sonne immer noch hinter den ausgefransten grauen Wolken verborgen war. »Laßt uns ausruhen. Ich werde mir von dort oben einen Ausblick verschaffen.« Er zeigte auf einen Felssims, der seitlich des Gipfels vorsprang.

»Ausruhen...«, wiederholte Sturm geistesabwesend, hielt an und holte Atem. Er starrte einen Moment nach vorn, dann wandte er sich Tanis zu. »Ja. Laßt uns ausruhen.« Seine Augen leuchteten.

»Geht es dir gut?«

»Ja«, sagte Sturm geistesabwesend, schritt umher und strich sanft an seinem Schnurrbart. Tanis beobachtete ihn einen Moment unentschlossen, dann ging er zu den anderen zurück, die gerade über den Kamm einer kleinen Anhöhe kamen.

»Wir werden uns hier ausruhen«, sagte der Halb-Elf. Raistlin atmete erleichtert auf und ließ sich ins nasse Laub fallen. »Ich werde mich weiter oben umsehen«, fügte Tanis hinzu. »Ich komme mit dir«, bot Flußwind an.

Tanis nickte, und die beiden verließen den Pfad und steuerten auf den Felssims zu. Tanis sah kurz zu dem hochgewachsenen Krieger. Er fing an, sich bei dem finsteren, ernsten Barbaren wohl zu fühlen. Fluß wind respektierte die Privatsphäre der anderen und würde niemals daran denken, die Grenzen zu testen, die Tanis in seiner Seele aufgestellt hatte. Dies war für den Halb-Elf genauso wohltuend wie eine durchschlafene Nacht. Er wußte, daß seine Freunde – einfach weil sie seine Freunde waren und ihn nun seit Jahren kannten - sich Gedanken über seine Beziehung zu Kitiara machten. Warum hatte er sich entschieden, diese Beziehung vor fünf Jahren abrupt abzubrechen? Und warum war er so enttäuscht, als sie nicht zum Treffen erschienen war? Flußwind wußte natürlich nichts über Kitiara, aber Tanis hatte das Gefühl, auch wenn er Bescheid wüßte, wäre es einerlei: es war Tanis' Angelegenheit und nicht seine.

Als sie in Sichtweite der Haven-Straße gelangten, krochen sie die letzten Meter und schoben sich Zentimeter für Zentimeter auf dem nassen Gestein vorwärts, bis sie den Rand des Felsüberhangs erreichten. Tanis sah nach unten und nach Osten und konnte die alten Ausflugspfade erkennen. Flußwind machte ihm Zeichen, und Tanis stellte fest, daß sich Kreaturen auf den Ausflugspfaden bewegten. Das erklärte die unheimliche Stille im Wald! Tanis preßte grimmig seine Lippen zusammen. Die Kreaturen warteten wohl, um sie aus dem Hinterhalt zu überfallen. Wie es aussah, hatten Sturm und sein weißer Hirsch ihnen das Leben gerettet. Aber es würde nicht lange dauern, bis die Schreckenswesen den neuen Pfad entdeckten. Tanis sah nach unten und blinzelte – der Pfad war verschwunden! Dort war nur dichter, undurchdringlicher Wald. Der Weg hatte sich hinter ihnen geschlossen! Ich phantasiere, dachte er und richtete seine Augen wieder auf die HavenStraße und auf die vielen Kreaturen. Sie haben nicht lange gebraucht, um sich zu sammeln, dachte er. Er starrte weiter nach Norden und sah die stillen, friedlichen Gewässer des Krystalmir-Sees. Dann wanderte sein Blick zum Horizont. Tanis runzelte die Stirn. Irgend etwas stimmte nicht. Er wußte nicht genau, was es war, darum sagte er nichts zu Flußwind, sondern starrte weiter zum Horizont. Im Norden brauten sich Gewitterwolken dichter zusammen, lange, graue Finger, die das Land durchzogen... Und stiegen, um sich zu treffen -das war es! Tanis ergriff Flußwinds Arm und zeigte mit der anderen Hand nach Norden. Flußwind sah hin, zwinkerte, erkannte zuerst nichts. Dann sah er es - schwarzer Rauch, der in den Himmel zog. Seine dichten, schweren Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Lagerfeuer«, sagte Tanis.

»Hunderte von Lagerfeuern«, fügte Flußwind leise hinzu. »Die Feuer des Krieges. Das ist ein Soldatenlager.«

»Also stimmen die Gerüchte«, sagte Sturm, als sie zurückgekehrt waren. »Dort im Norden ist eine Armee.« »Aber was für eine Armee? Von wem? Und warum? Was haben sie vor? Niemand würde eine Armee nach diesem Stab ausschicken.« Caramon hielt inne. »Oder doch?«

»Es geht nicht nur um den Stab«, zischte Raistlin. »Erinnert euch an die Sterne!«

»Kindergeschichten!« Flint rümpfte die Nase. Er entkorkte den leeren Weinschlauch, schüttelte ihn und seufzte.

»Meine Geschichten sind nicht für Kinder«, sagte Raistlin bissig und schlängelte sich aus dem Laub hoch wie eine Schlange. »Und du tätest gut daran, meine Worte ernst zu nehmen, Zwerg!« »Da ist er! Da ist der Hirsch!« sagte Sturm plötzlich, seine Augen starrten auf einen riesigen Felsen - so schien es zumindest seinen Gefährten. »Es ist Zeit aufzubrechen.« Der Ritter begann zu laufen. Die anderen sammelten hastig ihre Ausrüstung zusammen und eilten ihm hinterher. Als sie immer weiter den Pfad hochkletterten – der sich vor ihnen beim Gehen herauszubilden schien —, drehte sich der Wind und begann aus südlicher Richtung zu wehen. Es war eine warme Brise, die den Duft von spätblühenden Wildblumen mit sich trug. Sie trieb die Gewitterwolken zurück, und gerade als sie den Spalt zwischen den zwei Hälften des Gipfels erreichten, brach die Sonne hervor.

Es war schon Nachmittag, als sie eine weitere kurze Rast einlegten, bevor sie den Aufstieg durch den engen Spalt zwischen den Wänden des Betenden Gipfels wagten. Sturm bestand darauf, daß das der Weg des Hirschs war. »Wir müssen bald etwas essen«, sagte Caramon. Er stieß einen genußvollen Seufzer aus und starrte auf seine Füße. »Ich könnte meine Stiefel verspeisen!«

»Ich finde sie auch sehr appetitlich«, sagte Flint verdrießlich. »Ich wünschte, dieser Hirsch wäre aus Fleisch und Blut.« »Halt den Mund!« Sturm fuhr den Zwerg in einem plötzlichen Wutanfall an und ballte die Fäuste. Tanis erhob sich schnell, legte seine Hand auf die Schulter des Ritters, um ihn zurückzuhalten. Sturm funkelte den Zwerg weiter wütend an, sein Schnurrbart bebte, dann riß er sich von Tanis los. »Laßt uns weitergehen«, brummte er.

Als die Gefährten den engen Paß erreichten, konnten sie den klaren blauen Himmel auf der anderen Seite sehen. Der Südwind pfiff durch die steilen weißen Wände des Gebirges. Vorsichtig gingen sie weiter, kleine Steine ließen sie mehr als einmal ausrutschen. Glücklicherweise war der Paß so schmal, daß sie sich an den steilen Wänden abstützen konnten.

Nach mehr als einer halben Stunde traten sie an der anderen Seite des Betenden Gipfels heraus. Sie blieben stehen und starrten ins Tal. Saftiges Weideland ergoß sich in grünen Wellen unter ihnen, um in die Gestade eines hellgrünen Espenwaldes weit im Süden überzugehen. Die Gewitterwolken lagen weit weg, und die Sonne strahlte im klaren blauen Himmel.

Zum ersten Mal wurden ihnen die Umhänge zu schwer, außer Raistlin, der seinen roten Kapuzenmantel anbehielt. Flint hatte den ganzen Morgen damit verbracht, sich über den Regen zu beklagen, und nun beschwerte er sich über die Sonne - sie war zu stark und blendete ihn, brannte auf seinen Helm.

»Ich schlage vor, wir werfen den Zwerg den Berg hinunter«, knurrte Caramon Tanis zu.

Tanis grinste. »Er würde den ganzen Weg hinunterklappern und unsere Position verraten.«

»Wer würde ihn hier schon hören?« fragte Caramon und zeigte auf das Tal. »Ich wette, wir sind die ersten Lebewesen, die dieses Tal erblicken.«

»Die ersten Lebewesen«, hauchte Raistlin. »In diesem Punkt hast du recht, mein Bruder. Denn du schaust auf den Düsterwald.« Niemand sprach. Flußwind bewegte sich unruhig, Goldmond ging zu ihm hinüber. Sie starrte mit aufgerissenen Augen auf die grünen Bäume. Flint räusperte sich, schwieg dann und strich über seinen langen Bart. Sturm betrachtete den Wald ruhig, ebenso Tolpan.

»Er sieht gar nicht so schlimm aus«, sagte der Kender fröhlich. Er saß im Schneidersitz auf dem Boden, ein Pergamentbogen war auf seinen Knien ausgebreitet, mit einem Stück Kohle zeichnete er eine Karte über ihren Weg zum Betenden Gipfel. »Anblicke sind genauso irreführend wie diebische Kender« wisperte Raistlin grob.

Tolpan runzelte die Stirn, wollte gerade eine scharfe Antwort zurückgeben, als er Tanis' Blick gewahrte und sich wieder seiner Zeichnung zuwandte. Tanis ging zu Sturm hinüber. Der Ritter stand an einem Felsvorsprung.

»Sturm, wo ist der Hirsch? Siehst du ihn?«

»Ja«, antwortete Sturm. Er zeigte nach unten. »Er läuft über die Wiesen; ich kann seine Spur im hohen Gras erkennen. Er ist dort in den Espenwald gelaufen.«

»In den Düsterwald«, murmelte Tanis.

»Wer sagt, daß es der Düsterwald ist?« Sturm wandte sein Gesicht zu Tanis.

»Raistlin.«

»Pah!«

»Er ist Magier«, sagte Tanis.

»Er ist verrückt«, erwiderte Sturm. Dann zuckte er die Schultern. »Aber schlag hier ruhig Wurzeln, wenn du willst, Tanis. Ich werde dem Hirsch folgen – wie Huma —, auch wenn er mich in den Düsterwald führt.« Er zog seinen Umhang fester um sich, kletterte den Fels hinunter und begann, dem Pfad, der sich am Berg hinunterschlängelte, zu folgen.

Tanis ging zu den anderen. »Der Hirsch führt ihn auf direktem Weg in den Wald«, sagte er. »Wie sicher bist du dir, daß dieser Wald der Düsterwald ist, Raistlin?«

»Wie sicher ist man sich der Dinge überhaupt, Halb-Elf?« entgegnete der Magier. »Ich bin mir nicht einmal meines nächsten Atemzugs sicher. Aber gehe nur. Geh in den Wald, aus dem kein Lebewesen je herausgekommen ist. Der Tod ist die einzige große Sicherheit im Leben, Tanis.«

Der Halb-Elf spürte einen plötzlichen Drang, Raistlin den Berg hinunterzustoßen. Er starrte Sturm nach, der schon fast die Hälfte des Weges zum Tal geschafft hatte.

»Ich gehe mit Sturm«, sagte er plötzlich. »Aber ich trage diese Entscheidung nur für mich. Ihr anderen könnt folgen, wenn ihr wollt.«

»Ich komme mit!« Tolpan rollte seine Karte zusammen und verstaute sie. Er rappelte sich auf und rutschte auf einem lockeren Stein aus. »Geister!« knurrte Flint Raistlin an, schnippte spöttisch mit den Fingern, dann stampfte er zum Halb-Elf. Goldmond folgte, ohne zu zögern, obwohl ihr Gesicht blaß war. Flußwind gesellte sich langsamer zu der Gruppe, sein Gesicht war nachdenklich. Tanis war erleichtert – er wußte, daß sich die Barbaren viele beängstigende Legenden über den Düsterwald erzählten. Und schließlich bewegte sich auch Raistlin so schnell vorwärts, daß sein Bruder völlig überrumpelt war. Tanis bedachte den Magier mit einem leichten Lächeln. »Warum kommst du mit?« entfuhr es ihm.

»Weil du mich brauchen wirst, Halb-Elf«, zischte der Magier. »Außerdem, wohin sollten wir gehen? Du hast es zugelassen, uns bis hierher zu führen - es gibt kein Zurück. Du bietest uns die Wahl der Oger an, Tanis. ›Stirb schnell oder stirb langsame « Er sah zu Caramon. »Kommst du, Bruder?«

Die anderen warfen Tanis unbehagliche Blicke zu, als die Brüder losgingen. Der Halb-Elf kam sich wie ein Narr vor. Raistlin hatte natürlich recht. Er hatte sie bis hierher geführt, dann ließ er es so aussehen, als ob alles weitere ihre eigene Entscheidung und nicht die seine wäre, damit er selbst mit ruhigem Gewissen weitergehen konnte. Wütend hob er einen Stein auf und warf ihn den Berg hinunter. Warum trug er überhaupt die Verantwortung? Warum war er überhaupt in diese Sache verstrickt, da er doch eigentlich nur Kitiara suchen wollte, um ihr seine Liebe zu gestehen. Er konnte jetzt ihre menschlichen Schwächen akzeptieren, so wie er gelernt hatte, seine eigenen zu akzeptieren.

Aber Kit war nicht zu ihm zurückgekehrt. Sie hatte einen »neuen Herrn«, vielleicht war das der Grund, warum er... »Ho, Tanis!« rief ihm der Kender zu.

»Ich komme«, murmelte er.

Die Sonne begann schon im Westen unterzugehen, als die Gefährten den Waldrand erreichten. Tanis rechnete sich aus, daß sie noch mindestens drei bis vier Stunden Tageslicht haben würden. Falls der Hirsch sie weiterhin auf gut angelegten Pfaden führen würde, könnten sie vor Einbruch der Dunkelheit den Wald durchquert haben.

Sturm wartete auf sie unter den Espen, behaglich im grünen Schatten ruhend. Die Gefährten verließen langsam die Wiese, keiner von ihnen hatte es eilig, den Wald zu getreten. »Der Hirsch ist hier durchgegangen«, sagte Sturm, erhob sich und zeigte ins hohe Gras.

Tanis sah keinerlei Spuren. Er nahm einen Schluck aus seinem fast leeren Wasserschlauch und starrte in den Wald. Wie schon Tolpan gesagt hatte, der Wald wirkte keineswegs bösartig. In der Tat sah er nach dem grellen Sonnenlicht kühl und einladend aus. »Vielleicht gibt es dort Wild«, sagte Caramon und schaukelte auf seinen Fersen. »Natürlich keine Hirsche«, fügte er hastig hinzu. »Hasen vielleicht.«

»Erlegt nichts. Eßt nichts. Trinkt nichts im Düsterwald«, flüsterte Raistlin. Tanis sah zu dem Magier, dessen Stundenglasaugen weit aufgerissen waren. Die metallische Haut leuchtete gespenstisch im grellen Sonnenlicht. Raistlin stand auf seinen Stab gelehnt und zitterte, als ob er frieren würde.

»Kindergeschichten«, murrte Flint, obwohl seine Stimme nicht gerade überzeugend klang. Obwohl Tanis Raistlins Vorliebe fürs Dramatische kannte, hatte er den Magier noch nie so beunruhigt gesehen.

»Was spürst du, Raistlin?« fragte er ruhig.

»Über diesem Wald liegt ein großer und mächtiger Zauber«, flüsterte Raistlin.

»Böse?« fragte Tanis.

»Nur für die, die das Böse in den Wald hineinbringen.« »Dann bist du der einzige, der diesen Wald fürchten muß«, schleuderte Sturm dem Magier kalt ins Gesicht.

Caramons Gesicht rötete sich, seine Hand tastete nach seinem Schwert. Sturms Hand fuhr zu seiner Klinge. Tanis griff Sturms Arm, während Raistlin seinen Bruder zurückhielt. Der Magier starrte den Ritter an, seine goldenen Augen leuchteten. »Wir werden sehen«, sagte Raistlin, seine Worte waren nicht mehr als zischende Geräusche zwischen seinen Zähnen. »Wir werden sehen.« Dann stützte er sich schwer auf seinen Stab und wandte sich seinem Bruder zu. »Kommst du?«

Caramon blickte wütend zu Sturm und betrat dann an der Seite seines Bruders den Wald. Die anderen folgten ihnen und ließen Tanis und Flint im hohen Gras zurück.

»Ich werde für solche Sachen zu alt, Tanis«, sagte der Zwerg unvermittelt.

»Unsinn«, erwiderte der Halb-Elf lächelnd. »Du hast gekämpft wie ein...«

»Nein, ich meine nicht die Knochen und die Muskeln« - der Zwerg sah auf seine schwieligen Hände -, »obwohl die natürlich alt sind. Ich meine den Geist. Vor Jahren, als die anderen noch gar nicht auf der Welt waren, wären wir beide durch einen verzauberten Wald gelaufen, ohne daran irgendeinen Gedanken zu verschwenden. Jetzt...«

»Laß den Kopf nicht hängen«, sagte Tanis. Er versuchte, fröhlich zu klingen, obwohl er über die ungewöhnliche Düsterheit des Zwerges tief beunruhigt war. Er musterte Flint zum ersten Mal seit ihrem Treffen in Solace eingehend. Der Zwerg sah alt aus, aber Flint hatte immer alt ausgesehen. Sein Gesicht, zumindest was man durch den dichten grauen Bart und die überhängenden weißen Augenbrauen erkennen konnte, war braun und runzelig und rissig wie altes Leder. Der Zwerg murrte und beschwerte sich, aber Flint hatte immer gemurrt und sich beschwert. Die Veränderung lag in seinen Augen. Der feurige Glanz war verschwunden.

»Laß dich nicht von Raistlin beunruhigen«, sagte Tanis. »Heute abend werden wir am Feuer sitzen und über seine Geistergeschichten lachen.« »Das glaube ich auch.« Flint seufzte. Einen Moment schwieg er, dann sagte er: »Eines Tages werde ich dir zur Last fallen, Tanis. Ich möchte nicht, daß du denkst, warum plage ich mich mit diesem murrenden alten Zwerg überhaupt ab?«

»Weil ich dich brauche, du murrender alter Zwerg«, sagte Tanis und legte seine Hand auf die Schulter des Zwergs. Er winkte in den Wald, den anderen nach. »Ich brauche dich, Flint. Sie sind alle so... so jung. Du bist wie ein fester Stein, gegen den ich meinen Rücken lehnen kann.«

Flint errötete vor Freude. Er zog an seinem Bart, dann räusperte er sich. »Ja, du warst schon immer sentimental. Nun komm! Wir verschwenden nur unsere Zeit. Ich will so schnell wie möglich diesen verflixten Wald durchqueren.« Dann murrte er: »Ich bin nur froh, daß es noch hell ist.«

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