6 Flints Abschied. Pfeile fliegen. Botschaft in den Sternen

Tanis schwang sich über die Veranda und ließ sich durch die Äste auf den Boden fallen. Die anderen warteten in der Dunkelheit verborgen, abseits vom Licht der Straßenlaternen. Ein kühler Nordwind war aufgekommen. Tanis sah sich um und bemerkte andere Lichter, die Lampen der Suchtrupps. Er zog die Kapuze über sein Gesicht und eilte vorwärts. »Der Wind hat sich gedreht«, sagte er. »Spätestens morgen wird es regnen.« Er schaute zu der kleinen Gruppe, auf die das unheimliche, wild tanzende Licht der vom Wind hin- und hergeschaukelten Laternen fiel. Goldmonds Gesicht war vor Müdigkeit verzerrt, Flußwinds Gesicht eine unerschütterliche Maske der Stärke, aber seine Schultern waren nach vorn gesunken. Raistlin stand zitternd an einen Baum gelehnt und holte keuchend Luft.

Tanis zog seinen Kopf vor dem Wind ein. »Wir müssen eine Zuflucht suchen«, sagte er. »Einen Platz zum Ausruhen.« »Tanis...« Tolpan zog am Umhang des Halb-Elfs. »Wir könnten ein Boot nehmen. Der Krystalmir-See ist nicht weit entfernt. Auf der anderen Seite sind Höhlen, und wir kürzen unseren morgigen Marsch ab.«

»Das ist eine gute Idee, Tolpan, aber wir haben kein Boot.« »Kein Problem.« Der Kender grinste. Sein kleines Gesicht und seine spitzen Ohren ließen ihn in dem unheimlichen Licht noch spitzbübischer aussehen. Tolpan genießt das alles, dachte Tanis. Ich sollte den Kender durchschütteln und ihm klarmachen, in welcher Gefahr wir uns befinden. Aber der Halb-Elf wußte, daß das sinnlos war: Kender sind gegen Angst immun. »Das mit dem Boot ist eine gute Idee«, wiederholte Tanis nach kurzer Überlegung. »Du führst uns. Und sag Flint nichts davon«, fügte er hinzu. »Ich kümmere mich schon um ihn.« »In Ordnung«, kicherte Tolpan und glitt zu den anderen zurück. »Folgt mir«, rief er gedämpft und flitzte los. Flint, der in seinen Bart brummte, stapfte hinter dem Kender. Goldmond folgte dem Zwerg. Flußwind warf einen kurzen durchdringenden Blick auf jeden einzelnen und ging dann der Frau nach. »Ich denke, er traut uns nicht«, bemerkte Caramon.

»Würdest du es?« fragte Tanis und blickte kurz zu dem riesigen Mann. Caramons Drachenhelm schimmerte im flackernden Licht; sein Kettenpanzer wurde sichtbar, sobald der Wind seinen Umhang zurückblies. Sein Langschwert schlug gegen seine kräftigen Oberschenkel, ein kurzer Bogen und ein Köcher mit Pfeilen baumelten über seine Schulter, ein Dolch ragte aus seinem Gürtel. Sein Schild trug die Beulen und Dellen vieler Kämpfe. Der Riese war zu allem bereit.

Tanis sah zu Sturm hinüber, der stolz das Waffenkleid einer Ritterschaft trug, die vor dreihundert Jahren in Ungnade gefallen war. Obwohl Sturm nur vier Jahre älter war als Caramon, hatten sein strenges, diszipliniertes Leben, die Härten der Armut und seine melancholische Suche nach seinem geliebten Vater ihn über die Jahre hinaus altern lassen. Mit seinen neunund-zwanzig Jahren sah er wie vierzig aus. Tanis dachte, ich glaube nicht, daß ich einem von uns trauen würde.

»Wie sieht der Plan aus?« fragte Sturm.

»Wir fahren mit einem Boot«, antwortete Tanis.

»Oh!« kicherte Caramon. »Hast du es Flint schon gesagt?« »Nein. Überlaß das nur mir.«

»Woher bekommen wir ein Boot?« fragte Sturm argwöhnisch. »Du wirst glücklicher sein, wenn du es nicht weißt«, antwortete der Halb-Elf. Der Ritter runzelte die Stirn. Seine Augen folgten dem Kender, der weit vorn war und von einem Schatten zum nächsten huschte. »Mir gefällt das nicht, Tanis. Erst sind wir Mörder, und jetzt werden wir auch noch Diebe.«

»Ich betrachte mich nicht als Mörder«, schnaubte Caramon verächtlich. »Goblins zählen nicht.«

Tanis sah, wie der Ritter Caramon anstarrte. »Mir gefällt es auch nicht, Sturm«, sagte er hastig und hoffte, einen Streit zu verhindern. »Aber man zwingt uns dazu. Nimm die Barbaren – ihr Stolz ist das einzige, was sie noch aufrecht hält. Nimm Raistlin...« Ihre Augen fuhren zum Magier, der durch das Laub schlurfte und sich dabei nur im Schatten bewegte, gestützt auf seinen Stab. Gelegentlich peinigte ein trockener Husten seinen zerbrechlichen Körper.

Caramons Gesicht verdüsterte sich. »Tanis hat recht«, sagte er leise. »Raist schafft es kaum noch. Ich muß zu ihm.« Er verließ Ritter und Halb-Elf und eilte nach vorn, um die verhüllte, gebeugte Gestalt seines Zwillingsbruders einzuholen. »Laß mich dir helfen, Raist«, hörten sie Caramon wispern. Raistlin schüttelte seinen Kopf und entzog sich der Berührung seines Bruders. Caramon zuckte zusammen und ließ seinen Arm fallen. Aber der Krieger blieb dicht bei seinem schwachen Bruder, bereit, ihm im Notfall beizuspringen.

»Warum läßt er sich das gefallen?« fragte Tanis leise. »Familie. Blutsbande.« Sturm klang nachdenklich. Er schien mehr sagen zu wollen, aber seine Augen richteten sich auf Tanis' Elfengesicht mit dem menschlichen Barthaar, und er schwieg. Tanis sah den Blick und wußte, was der Ritter gedacht hatte: Familie, Blutsbande – Dinge, von denen der verwaiste Halb-Elf keine Ahnung hatte.

»Komm weiter«, sagte Tanis abrupt. »Wir fallen zu weit zurück.« Bald hatten sie die Vallenholzbäume von Solace hinter sich gelassen und betraten den Kiefernwald, der den Krystalmir-See umgab. Tanis konnte weit hinter sich gedämpfte Schreie hören. »Sie haben die Leichen gefunden«, vermutete er. Sturm nickte düster. Plötzlich schien sich Tolpan aus der Dunkelheit direkt unter der Nase des Halb-Elfen zu materialisieren.

»Der Pfad verläuft etwas mehr als eine Meile zum See«, sagte Tolpan. »Ich werde euch dort treffen.« Er machte eine vage Handbewegung und verschwand wieder, bevor Tanis irgend etwas sagen konnte. Der Halb-Elf sah nach Solace zurück. Es schienen jetzt noch mehr Lichter zu sein, und sie bewegten sich in ihre Richtung. Die Straßen waren wahrscheinlich schon dichtgemacht.

»Wo ist der Kender?« brummte Flint, als sie in den Wald eintauchten. »Tolpan wird uns am See treffen«, erwiderte Tanis.

»See?« Flints Augen wurden vor Unruhe größer. »Was für ein See?«

»Es gibt hier nur einen See, Flint«, sagte Tanis und bemühte sich angestrengt, Sturm nicht zuzugrinsen. »Komm schon. Wir sollten lieber weitergehen.« Seine Elfenaugen sichteten den breiten roten Umriß von Caramon und den schmaleren roten Schatten seines Bruders, die in den dichten Wald verschwanden. »Ich dachte, wir würden uns ein ruhiges Plätzchen im Wald suchen.« Flint schob sich an Sturm vorbei, um sich bei Tanis zu beschweren.

»Wir werden ein Boot nehmen.« Tanis ging weiter.

»O nein!« knurrte Flint. »Ich werde kein Boot besteigen!« »Dieser Unfall ist vor zehn Jahren passiert!« sagte Tanis wütend. »Sieh mal! Caramon wird ganz ruhig sitzen.« »Absolut nicht!« sagte der Zwerg entschieden. »Keine Boote. Ich habe ein Gelübde abgelegt.«

»Tanis«, flüsterte Sturm von hinten. »Lichter.«

»Angriff!« Der Halb-Elf hielt inne und drehte sich um. Er mußte einen Augenblick warten, bis er die Lichter durch die Bäume schimmern sehen konnte. Ihre Verfolger waren näher gekommen. Er eilte nach vorn, um Caramon, Raistlin und die Barbaren einzuholen.

»Lichter!« rief er in einem durchdringenden Flüstern. Caramon blickte zurück und fluchte. Flußwind hob bestätigend die Hand. »Leider müssen wir jetzt schneller gehen, Caramon...«, begann Tanis.

»Wir schaffen das schon«, erwiderte der Krieger gelassen. Er stützte jetzt seinen Bruder, sein Arm lag um Raistlins schmalen Körper, praktisch trug er ihn. Raistlin hustete leise, aber er bewegte sich nicht. Sturm erreichte Tanis. Als sie ihren Weg durch das Gebüsch schlugen, konnten sie Flint hören, der hinter ihnen keuchte und ärgerlich Selbstgespräche führte. »Er wird nicht mitkommen, Tanis«, sagte Sturm. »Flint hat eine Todesangst vor Booten, seitdem Caramon ihn damals versehentlich fast ertränkt hat. Du warst nicht dabei. Du hast ihn nicht erlebt, als wir ihn wieder herauszogen.«

»Er wird mitkommen«, sagte Tanis schwer atmend. »Er kann uns junges Gemüse nicht allein der Gefahr überlassen.« Sturm schüttelte zweifelnd den Kopf.

Tanis sah sich wieder um. Er konnte jetzt keine Lichter erkennen, wußte aber, daß sie nun tief im Wald waren. Truppführer Toede würde wohl niemanden mit seiner Intelligenz beeindrucken, aber man brauchte auch nicht viel Intelligenz, um sich auszurechnen, daß ihre Gruppe sich für den Wasserweg entscheiden würde. Tanis hielt plötzlich inne, um nicht mit jemandem zusammenzustoßen. »Was ist das?« flüsterte er. »Wir sind da«, antwortete Caramon. Tanis atmete erleichtert auf, als er den Krystalmir-See erblickte. Der Wind peitschte das Wasser zu weißen Schaumkronen auf.

»Wo ist Tolpan?«

»Dort drüben, glaube ich.« Caramon deutete auf einen dunklen Umriß, der dicht am Ufer trieb. Tanis konnte den Kender in dem großen Boot kaum ausmachen.

Die Sterne strahlten mit eisiger Helligkeit vom blauschwarzen Himmel. Lunitari, der rote Mond, stieg wie ein blutiger Fingernagel aus dem Wasser empor. Solinari, sein Partner im Nachthimmel, war bereits aufgegangen und markierte den See wie mit geschmolzenem Silber.

»Was für herrliche Zielscheiben wir abgeben werden!« sagte Sturm gereizt.

Tanis konnte Tolpan erkennen, der suchend auf ihre Richtung zusteuerte. Der Halb-Elf bückte sich, um einen Stein in der Dunkelheit zu suchen. Nachdem er einen gefunden hatte, warf er ihn ins Wasser. Er spritzte nur einige wenige Meter vor dem Boot auf. Tolpan reagierte auf Tanis' Signal und steuerte das Boot auf das Ufer zu.

»Du willst uns alle in ein Boot setzen!« sagte Flint voller Angst. »Du bist verrückt, Halb-Elf!«

»Es ist ein großes Boot«, erwiderte Tanis.

»Nein! Da mache ich nicht mit. Selbst wenn es eines der legendären weißgeflügelten Boote von Tarsis wäre, würde ich immer noch nicht einsteigen. Lieber lasse ich es auf eine Begegnung mit dem Theokraten ankommen!«

Tanis ignorierte den aufgebrachten Zwerg. »Steigt alle so schnell wie möglich ein. Wir müssen in ein paar Minuten weg sein.«

»Es darf nicht zu lange dauern«, warnte Sturm. »Hört!« »Ich kann es hören«, sagte Tanis grimmig. »Geh weiter.« »Was sind das für Geräusche?« fragte Goldmond den Ritter, als er zu ihr trat.

»Suchtrupps der Goblins«, antwortete Sturm. »Mit diesen Flöten halten sie untereinander Kontakt, wenn sie sich trennen. Sie sind schon sehr nahe.«

Goldmond nickte verstehend. Sie sprach einige Worte zu Flußwind in ihrer eigenen Sprache, offensichtlich eine Unterhaltung, die Sturm unterbrochen hatte. Der riesige Barbar runzelte die Stirn und gestikulierte in Richtung Wald. Er versucht sie zu überzeugen, sich von uns zu trennen, erkannte Sturm. Vielleicht verfügt er über ausreichende Kennt' nisse, um sich tagelang vor den Goblins in den Wäldern zu verbergen; aber er bezweifelte das. »Flußwind, gue-lando!« sagte Goldmond scharf. Sturm hörte Flußwind vor Wut knurren. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich um und ging auf das Boot zu. Goldmond seufzte und sah ihm nach, in ihrem Gesicht war tiefe Trauer.

»Kann ich Euch helfen, meine Dame?« fragte Sturm sanft. »Nein«, erwiderte sie. Dann sagte sie traurig, mehr zu sich »Er beherrscht mein Herz, aber ich bin seine Herrscherin. Einst als wir noch Kinder waren, dachten wir, daß wir das vergessen könnten. Aber ich bin schon zu lange die Tochter des Stammeshäuptlings.«

»Warum traut er uns nicht?« fragte Sturm.

»Er hat alle Vorurteile unseres Volkes«, erwiderte Goldmond. »Die Barbaren trauen den nichtmenschlichen Wesen nicht.« Sie sah zurück. »Tanis kann trotz seines Bartes seine Elfenherkunft nicht verbergen. Und dann sind da noch der Zwerg: und der Kender.«

»Und wie steht es mit Euch?« fragte Sturm. »Warum traut Ihr uns? Habt Ihr nicht dieselben Vorurteile?«

Goldmond wandte ihm ihr Gesicht zu. Er konnte ihre Augen sehen, dunkel und schimmernd wie der See hinter ihr. »Als ich ein Mädchen war«, sagte sie mit tiefer, leiser Stimme, »war ich die Prinzessin meines Volkes. Ich war Priesterin. Sie verehrten mich als Göttin. Ich glaubte ihnen. Ich betete sie an. Dann pas-sierte etwas...« Sie brach ab, ihre Augen füllten sich mit Erinnerungen.

»Was passierte?« drängte Sturm sanft.

»Ich verliebte mich in einen Schäfer«, antwortete Goldmond und sah zu Flußwind. Sie seufzte und ging zum Boot.

Sturm sah Fluß wind in das Wasser waten, um das Boot näher an das Ufer zu ziehen. Raistlin umklammerte zitternd sein Gewand. »Meine Füße dürfen nicht naß werden«, flüsterte er heiser. Caramon antwortete nicht. Er legte einfach seine riesigen Arme um seinen Bruder und hob ihn wie ein Kind sanft hoch und setzte ihn ins Boot. Der Magier verkroch sich im hinteren Teil des Bootes, ohne ein Wort des Dankes.

»Ich halte es fest«, sagte Caramon zu Fluß wind. »Steig ein.« Flußwind zögerte einen Moment und kletterte dann schnell über die Bootswand. Caramon half Goldmond ins Boot. Die Barbaren setzten sich ins Heck hinter Tolpan.

Caramon wandte sich an Sturm, als der Ritter näher kam. »Was geschieht da drüben?«

»Flint sagt, daß er sich eher verbrennen läßt, als in ein Boot zu steigen – zumindest würde er dann an Hitze sterben und nicht an Nässe und Kälte.«

»Ich gehe zu ihm und zwinge ihn ins Boot«, sagte Caramon. »Du wirst alles nur noch schlimmer machen. Schließlich warst du derjenige, der ihn fast ertränkt hat, erinnerst du dich? Laß das Tanis machen - er ist da geschickter.«

Caramon nickte. Beide Männer warteten schweigend. Sturm sah Goldmond, wie sie Flußwind stumm anflehte, aber der Barbar beachtete ihren Blick nicht. Tolpan zappelte auf seinem Platz herum und wollte gerade eine schrille Frage stellen, aber ein strenger Blick des Ritters hielt ihn davon ab. Raistlin wikkelte sich tief in sein Gewand und versuchte, einen Hustenanfall zu unterdrücken. »Ich werde mal nachsehen«, sagte Sturm schließlich. »Dieses Pfeifen kommt immer näher. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.« Aber in diesem Moment sah er, wie Tanis und der Zwerg sich die Hand gaben und der Halb-Elf allein auf das Boot zulief. Flint blieb nahe am Waldrand zurück. Sturm schüttelte den Kopf. »Ich habe Tanis gesagt, daß der Zwerg nicht kommen würde.«

»Dickköpfig wie ein Zwerg, sagt ein altes Sprichwort«, grunzte Caramon.

»Und dieser Zwerg verbrachte hundertachtundvierzig Jahre damit, noch dickköpfiger zu werden.« Der Riese schüttelte traurig den Kopf. »Nun, wir werden ihn vermissen, das steht fest. Er hat mehr als einmal mein Leben gerettet. Laßt mich gehen, um ihn zu holen. Ein Schlag gegen das Kinn, und er wird nicht wissen, ob er im Boot oder im Bett liegt.«

Tanis rannte keuchend auf sie zu und hörte die letzte Bemerkung. »Nein, Caramon«, sagte er. »Flint würde uns das nie verzeihen. Mach dir keine Sorgen um ihn. Er geht in die Berge zurück. Steig in das Boot. Es sind jetzt noch mehr Lichter geworden. Wir haben eine Spur durch den Wald hinterlassen, der selbst ein blinder Gossenzwerg folgen könnte.«

»Es hat keinen Sinn, wir werden alle naß werden«, sagte Caramon. »Du und Sturm, ihr steigt ein. Ich werde das Boot schieben.«

Sturm war bereits im Boot. Tanis klopfte Caramon auf die Schulter und stieg ein. Der Kämpfer schob das Boot aufs Wasser hinaus. Er stand bis zu den Knien im Wasser, als sie einen Schrei vom Ufer hörten.

»Haltet an!« Es war Flint, der von einem Baum kletterte, eine vage, sich bewegende schwarze Gestalt gegen den vom Mond beleuchteten Uferrand. »Haltet an! Ich komme mit!«

»Halt!« rief Tanis. »Caramon! Warte auf Flint!«

»Seht!« deutete Sturm, der halb aufgestanden war. Die Lichter kamen aus den Bäumen immer näher, rauchende Fackeln der Goblinwachen.

»Goblins, Flint!« gellte Tanis. »Hinter dir! Lauf!« Der Zwerg duckte sich und suchte krampfhaft den Strand, eine Hand am Helm, damit dieser nicht wegfliegen konnte.

»Ich decke ihn«, sagte Tanis und nahm seinen Bogen. Mit seinen Elfenaugen war er der einzige, der die Goblins hinter den Fackeln erkennen konnte. Während Tanis einen Pfeil auflegte, hielt Caramon das große Boot bereit. Tanis schoß auf den Umriß des ersten Goblin. Der Pfeil bohrte sich in seine Brust, und er sackte zusammen. Die anderen Goblins verlangsamten ihre Schritte und griffen nach ihren Bogen. Tanis hatte einen weiteren Pfeil aufgelegt, als Flint das Ufer erreichte. »Wartet! Ich komme!« keuchte der Zwerg, tauchte in das Wasser und versank wie ein Stein.

»Pack ihn!« schrie Sturm. »Tolpan, rüder zurück. Hier ist er! Die Luftblasen...« Caramon planschte hektisch im Wasser herum und suchte den Zwerg. Tolpan versuchte zurückzurudern, aber das Gewicht des Bootes war zu schwer für den Kender. Tanis schoß wieder, verfehlte sein Ziel und fluchte. Er zog einen weiteren Pfeil heraus. Die Goblins schwärmten den Hügel hinunter.

»Ich hab' ihn!« schrie Caramon und zog den tropfenden und spuckenden Zwerg am Kragen seiner Ledertunika heraus. »Hör auf zu kämpfen«, sagte er zu Flint, dessen Arme in alle Richtungen fuchtelten. Aber der Zwerg befand sich in einem völlig panischen Zustand. Caramon wurde an seinem Kettenhemd von einem Goblinpfeil getroffen. Der Pfeil blieb stecken wie eine dünne Feder.

»Das war's wohl!« grunzte der Kämpfer atemlos, und mit einem heftigen Ruck seiner muskulösen Arme warf er den Zwerg ins Boot. Flint blieb irgendwo liegen, seine Beine hingen noch über den Bootsrand. Sturm griff ihn am Gürtel und zog ihn ganz ins Boot, worauf es beunruhigend schaukelte. Tanis verlor beinahe das Gleichgewicht und war gezwungen, seinen Bogen fallen zu lassen, um sich festzuhalten. Ein Goblinpfeil traf den Bootsrand und verfehlte Tanis' Hand um Haaresbreite. »Rudere zu Caramon zurück, Tolpan!« gellte Tanis.

»Ich kann nicht!« schrie der Kender von seinem Platz. Der Schlag eines außer Kontrolle geratenen Ruders stieß Sturm fast über Bord.

Der Ritter zog den Kender von seinem Platz weg. Er ergriff die Ruder und brachte das Boot dorthin, wo Caramon sich an einer Seite festhalten konnte.

Tanis half dem Kämpfer beim Einsteigen, dann schrie er Sturm zu. »Ruder!« Der Ritter ruderte aus voller Kraft. Das Boot schoß vom Ufer fort, begleitet vom Heulen der wütenden Goblins. Noch mehr Pfeile zischten um das Boot, als sich der triefende Caramon neben Tanis niederließ.

»Heute abend üben die Goblins Ziele treffen«, murrte Caramon, als er den Pfeil aus seinem Panzer zog. »Wir heben uns vorteilhaft gegen das Wasser ab.«

Tanis tastete nach seinem fallengelassenen Bogen, als er bemerkte, daß Raistlin sich erhob. »Halte dich in Deckung!« warnte Tanis, und Caramon wollte seinen Bruder wieder herunterziehen, aber der Magier, der beide finster anblickte, ließ seine Hand in einen Beutel an seinem Gürtel gleiten. Seine zarten Finger zogen etwas hervor, als ein Pfeil neben ihm niederging. Raistlin reagierte nicht. Tanis wurde gewahr, daß er in der Konzentration versunken war, die für einen Magier notwendig war, um einen Zauber zu bewirken. Ihn jetzt zu stören, könnte drastische Folgen haben und dazu führen, daß der Magier den Zauber vergaß oder – noch schlimmer – den Zauber verfehlte.

Tanis knirschte mit den Zähnen und sah nur noch zu. Raistlin hob seine dünne Hand und ließ die Zaubermaterie, die er aus seinem Beutel genommen hatte, langsam zwischen seinen Fingern auf das Deck rieseln. Sand, stellte Tanis fest. »Ast tasarak sinuralan krynawi«, murmelte Raistlin und bewegte dann seine rechte Hand langsam bogenförmig parallel zum Ufer. Tanis sah zum Land zurück. Die Goblins ließen einer nach dem anderen ihre Bogen fallen und purzelten zu Boden, als ob Raistlin sie nacheinander berührt hätte. Keine Pfeile zischten mehr. Goblins, die weiter entfernt waren, heulten vor Wut und stürzten vor. Aber zu dieser Zeit hatten Sturms kräftige Ruderstöße das Boot bereits außer Reichweite getragen.

»Gute Arbeit, kleiner Bruder!« sagte Caramon herzlich, Raistlin blinzelte und schien wieder in die Welt zurückzukehren, dann sank der Magier vornüber. Caramon fing ihn auf und hielt ihn einen Moment fest. Raistlin setzte sich auf, holte tief Luft und löste damit einen Hustenanfall aus. »Mit mir ist alles in Ordnung«, flüsterte er und zog sich von Caramon zurück.

»Was hast du mit ihnen angestellt?« fragte Tanis, als er die feindlichen Pfeile aus dem Boot zog und sie ins Wasser warf; Goblins vergifteten gelegentlich die Pfeilspitzen.

»Ich habe sie eingeschläfert«, zischte Raistlin durch die Zähne, die vor Kälte klapperten. »Und jetzt muß ich mich ausruhen.« Er sank gegen die Bootsflanke.

Tanis sah auf den Magier. Raistlin hatte in der Tat an Macht und Geschick gewonnen. Ich wünschte mir, ich könnte ihm vertrauen, dachte der Halb-Elf.

Das Boot glitt über den von Sternen befunkelten See. Tolpan entkorkte den Weinschlauch, den Flint irgendwie bewahrt hatte, und versuchte, dem eiskalten, zitternden Zwerg einen Schluck einzuflößen. Aber Flint, der zusammengekauert auf dem Boden lag, konnte nur schaudernd auf das Wasser starren. Goldmond versank tief in ihren Fellumhang. Ihre Stiefel waren aus weichem Leder. Wasser war in das Boot eingedrungen, als Caramon Flint ins Boot geworfen hatte. Das Wasser hatte das Leder aufgeweicht, und bald fror und zitterte auch sie. »Nimm meinen Umhang«, sagte Fluß wind in ihrer Sprache und nahm seinen Bärenfellmantel ab.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Du hast noch Fieber. Ich werde niemals krank, das weißt du. Aber« - sie sah zu ihm hoch und lächelte - »du kannst deinen Arm um mich legen, Krieger. Die Wärme unserer Körper wird uns beiden gut tun.« »Ist das ein königlicher Befehl?« flüsterte Flußwind. »So ist es«, sagte sie und lehnte sich zufrieden seufzend gegen seinen starken Körper. Sie sah zum sternenklaren Himmel hoch, versteifte sich dann und hielt beunruhigt den Atem an. »Was ist denn?« fragte Flußwind und sah hoch.

Die anderen im Boot hatten die Unterhaltung zwar nicht verstanden, aber sie hörten Goldmonds Keuchen und sahen ihre Augen auf irgend etwas im Nachthimmel gerichtet.

Caramon stieß seinen Bruder an und fragte: »Raist, was ist denn? Ich sehe überhaupt nichts!«

Raistlin erhob sich, warf seine Kapuze zurück und hustete. Als der Anfall vorüber war, untersuchte er den Nachthimmel. Dann wurde auch er steif, und seine Augen weiteten sich. Er streckte seine dünne, knochige Hand aus, umklammerte Tanis' Arm und hielt ihn fest umgriffen, als der Halb-Elf sich unwillkürlich dem knöchernen Griff des Magiers entziehen wollte. »Tanis...« Raistlin keuchte, er atmete kaum noch. »Die Konstellationen...« »Was?« Tanis war wirklich erschrocken über die Blässe der metallgoldenen Haut des Magiers und das fiebrige Glänzen in seinen seltsamen Augen. »Was ist mit den Konstellationen?« »Vorbei!« krächzte Raistlin und fiel in einen Hustenanfall zurück. Caramon legte seinen Arm um ihn, hielt ihn eng an sich gedrückt, fast als ob er versuchen wollte, den zerbrechlichen Körper seines Bruders zusammenzuhalten. Raistlin erholte sich, wischte mit seiner Hand über den Mund. Tanis sah, daß seine Finger von Blut dunkel gefärbt waren. Raistlin holte tief Luft, dann sprach er.

»Die eine Konstellation ist bekannt als die Königin der Finsternis und die andere als der tapfere Krieger. Beide sind jetzt verschwunden. Sie ist nach Krynn gekommen, Tanis, und er auch, um sie zu bekämpfen. All die schrecklichen Gerüchte, die wir gehört haben, haben sich bewahrheitet. Krieg, Tod, Zerstörung ...« Seine Stimme erstarb in einem weiteren Hustenanfall.

Caramon hielt ihn fest. »Raist«, sagte er besänftigend. »Laß dich nicht so aufwühlen. Es ist nur ein Sternenhaufen.« »Nur ein Sternenhaufen«, wiederholte Tanis ausdruckslos. Sturm nahm das Rudern wieder auf und steuerte schnell auf das gegenüberliegende Ufer zu.

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