»Warum denn nicht?«

»Nun, weil wir nicht steuern können, wenn ihr haltet. Ihr müßt das Boot im Zug halten!«

»In was halten?«

»Ja, im Zug halten müßt ihr das Boot!«

»O, jetzt versteh' ich; ich werde es den andern sagen. Machen wir's sonst recht?«

»O ja! Ganz nett macht ihr's, nur sollt ihr nicht anhalten!«

»O, die Arbeit scheint gar nicht so schwierig zu sein. Vorher dachte ich, es sei so schwer zu lernen.«

»Ach nein, es ist ganz einfach. Ihr braucht nur gleichmäßig fortzuziehn, das ist alles!«

Um wieder auf Georg zurückzukommen – nach einer guten Weile bekam auch er seine Leine wieder klar, und dann zog er uns ganz normal bis Penton-Hook. Da besprachen wir nun die wichtige Frage wegen des Nachtlagers. Wir hatten beschlossen, die Nacht an Bord zu schlafen; in diesem Fall mußten wir entweder bleiben, wo wir waren, oder noch bis Staines weiterfahren. Es schien uns noch zu früh, jetzt schon unter Dach zu gehen, da die Sonne noch am Himmel stand, so beschlossen wir denn, gerade noch bis Runnymead, drei und eine halbe Meile weiter stromaufwärts, zu schiffen, wo ein ruhiges, bewaldetes Plätzchen am Ufer einen guten Schutz für die Nacht versprach.

Nachmals wünschten wir indessen alle drei, daß wir lieber in Penton-Hook übernachtet hätten. Drei oder vier Meilen stromaufwärts zu rudern, ist am frühen Morgen eine Kleinigkeit, aber am Ende eines langen Tages eine schwere Arbeit. Während dieser letzten Meilen interessiert euch die schönste Landschaft nicht mehr, ihr mögt nicht mehr schwatzen und nicht mehr lachen. Jede halbe Meile erscheint euch so lang wie zwei ganze. Ihr könnt kaum begreifen, daß ihr erst da seid, und glaubt steif und fest, daß die Karte unrichtig sei; und wenn ihr euch mit Ach und Krach eine Strecke weiter gerudert habt, die euch zum wenigsten zehn Meilen weit dünkt, und die Schleuse dann noch immer nicht in Sicht ist, so fürchtet ihr im Ernst, irgend jemand müsse sie gestohlen oder fortgeschleppt haben. Ich erinnere mich, bei einer Fahrt den Fluß hinauf einmal schmählich aufgesessen zu sein – ich meine natürlich im figürlichen Sinne. Ich hatte eine junge Dame bei mir, eine Cousine mütterlicherseits. Wir waren auf dem Rückweg hinab nach Goring. Es war schon etwas spät, und es lag uns daher daran, zu rechter Zeit nach Hause zu kommen, d. h. meiner Base lag daran. Schon drohte die Dämmerung hereinzubrechen; da fing das Fräulein an, in Aufregung zu geraten. Sie meinte, zum Abendessen müsse sie zu Hause sein. Ich erwiderte ihr, auch ich verspürte so ein gewisses unbestimmtes Sehnen nach einem Abendbrote. Ich zog die mitgenommene Karte heraus und sah nach, wie weit wir jetzt noch hätten. Ich überzeugte mich, daß es gerade noch anderthalb Meilen bis zur nächsten Schleuse, bei Wallingford, seien, und von da noch fünf Meilen bis Cleeve.

»O, nur keine Angst!« sagte ich; »wir kommen noch vor sieben Uhr durch die nächste Schleuse, und dann gibt es nur noch eine weitere zu passieren.«

So legte ich mich denn wieder ins Zeug und ruderte in gleichmäßigem Tempo weiter. Wir fuhren unter der Brücke durch, und bald darauf fragte ich sie, ob sie die bewußte Schleuse sehe. Sie erwiderte mir aber: nein, sie sehe keine Schleuse; ich bemerkte hierauf: »O!« und ruderte weiter. Nach Verlauf von weiteren fünf Minuten bat ich sie, nun wieder auszuschauen. »Nein,« sagte sie, »ich sehe keine Spur von einer Schleuse.« »Aber bist du – bist du wirklich sicher, daß du weißt, was eine Schleuse ist, wenn du eine siehst?« fragte ich sie etwas zögernd, da ich sie nicht beleidigen wollte.

Aber es beleidigte sie doch, und sie meinte ärgerlich, ich sollte selbst ausschauen; so zog ich denn die Ruder ein und schaute aus. In gerader Richtung lag der Fluß vor uns da, ungefähr eine Meile weit sichtbar – aber weit und breit keine Spur von einer Schleuse.

»Du meinst doch nicht, daß wir den Weg verloren haben, wie?« fragte meine Gefährtin.

Wie dies hätte zugehen sollen, konnte ich zwar nicht einsehen; doch gab ich der Vermutung Ausdruck, wir seien vielleicht auf irgendeine Weise in den Wehrabfluß geraten und steuerten jetzt auf die Wasserfälle zu. Diesen guten Gedanken fand meine Base nicht im mindesten tröstlich; im Gegenteil, sie fing an zu weinen, und sagte, wir würden beide ertrinken, und dies wäre ein über sie verhängtes Strafgericht, weil sie mit mir ausgefahren sei. Das erschien mir nun doch eine ungebührlich harte Strafe zu sein; aber meiner Base kam es nicht so vor; sie äußerte die Hoffnung, es werde bald alles vorüber sein.

Ich versuchte ihr wieder etwas Lebensmut und Hoffnung einzuflößen und die Angelegenheit auf die leichte Achsel zu nehmen. Ich erklärte ihr, die ganze Geschichte rühre davon her, daß ich eben nicht so geschwind gerudert hätte, als ich geglaubt; aber wir würden nun bald die Schleuse erreichen. Dann ruderte ich noch eine Meile vorwärts.

Jetzt fing ich selbst an, unruhig zu werden. Ich schaute wieder auf die Karte. Da stand die Wallingfordschleuse ganz deutlich bezeichnet – anderthalb Meilen unter der Pensonsschleuse. Es war eine gute, verläßliche Karte, und überdies erinnerte ich mich der Schleuse noch ganz gut von früher her. Ich hatte sie schon zweimal passiert. Aber wo waren wir denn um des Himmels willen? Was war uns zugestoßen? Es kam mir zuletzt alles wie ein Traum vor; mir war's, als müsse ich schlafend im Bette liegen, um in der nächsten Minute mit dem Rufe, es sei zehn Uhr, aufgeweckt zu werden. Ich fragte meine Base, ob sie es für möglich hielte, daß dies alles nur ein Traum sei; sie meinte, sie habe diese Frage eben an mich richten wollen; dann fragten wir uns, ob wir beide wohl schliefen, und wenn dies der Fall wäre, wer von uns wirklich diesen Traum träume, und wer nur eine Traumgestalt für den andern sei. Es war dies eine ganz interessante Untersuchung.

Währenddessen ruderte ich immerzu, aber trotzdem kam noch immer keine Schleuse in Sicht. Der Fluß, von den dunkler werdenden Schatten der Nacht bedeckt, wurde immer düsterer und unheimlicher, überall schien es gespenstisch zu spuken. Ich dachte an Kobolde und Hexen, an Irrlichter und an jene bösen Mädels, die nächtlicherweile auf den Felsen sitzen und die Leute in die Wirbel der Fluten und in solches Zeug hineinlocken; und ich wünschte jetzt ein besserer Mensch gewesen zu sein und mehr fromme Lieder gelernt zu haben.

In solche Betrachtungen versunken, hörte ich auf einmal – wer beschreibt mein Entzücken – auf einer schlecht gespielten Ziehharmonika die Weise »Ach, ich hab' sie ja nur usw.« ertönen, und jetzt wußte ich, daß wir gerettet waren.

In der Regel schwärme ich nicht für die Töne der Ziehharmonika; aber wie herrlich erklangen sie uns beiden in diesem Augenblick! Weit, weit lieblicher als die Stimme des Orpheus oder Apollos Leier oder irgend etwas derartiges uns hätte erklingen können. Himmlische Musik hätte uns beide in unserem damaligen Gemütszustande nur noch tiefer beunruhigen können. Eine ergreifende, schön wiedergegebene Melodie würden wir ohne Zweifel für eine Geisterwarnung gehalten und alle Hoffnungen aufgegeben haben. Aber die Klänge des »Ach, ich hab' sie ja nur usw.«, das krampfhaft aus den Saiten gezerrt und mit unfreiwilligen Variationen vorgetragen wurde, waren unzweifelhaft von Menschenhänden hervorgebracht – ein unsagbar beruhigender Gedanke!

Die süßen Töne kamen näher, und bald lag das Boot, dem sie entströmten, an unserer Seite. Es enthielt eine Partie männlicher und weiblicher Insassen vom Lande, die eine Fahrt im Mondschein machen wollten. (Daß kein Mond scheinen wollte, war ja nicht ihre Schuld!) Ich habe in meinem ganzen Leben keine reizenderen, liebenswürdigeren Leute gesehen. Ich rief sie an und fragte, ob sie mir den Weg nach der Wallingfordschleuse weisen könnten, und teilte ihnen mit, daß ich schon seit zwei Stunden auf dem Lugaus nach dieser Schleuse sei. »Wallingfordschleuse?« riefen sie aus. »Na, Gott soll Ihnen helfen, Herr! Diese Schleuse ist schon seit über einem Jahr abgetragen worden, es gibt jetzt keine Wallingfordschleuse mehr, mein Herr. Sie sind jetzt ganz nahe bei Cleeve!«

»Hol' mich der Kuckuck! Da ist ein Herr, Willy, der nach der Wallingfordschleuse auslugt!«

Daran hatte ich niemals gedacht. Ich hätte allen um den Hals fallen und sie küssen mögen; aber der Fluß strömte zu stark, um das zu erlauben; so mußte ich mich begnügen, ihnen mit kalt klingenden Worten meine warme Dankbarkeit zu bezeigen.

Wieder und wieder dankten wir ihnen und sagten, es sei eine entzückende Nacht, und wir wünschten ihnen eine vergnügte Weiterfahrt; ja, ich glaubte gar, ich habe sie alle auf eine Woche zu mir eingeladen, und meine Base meinte, ihre Mutter würde sich so freuen, sie alle bei sich zu sehen. Dann sangen wir das Soldatenlied aus »Faust« und kamen noch rechtzeitig zum Abendessen nach Hause.

*

Harris und ich fingen an, zu befürchten, daß die Bell Weirschleuse auf die nämliche Art verschwunden sein dürfte wie die Wallingfordschleuse. Georg hatte uns bis oberhalb Staines hinaufgeschleppt; dort hatten wir das Boot zu schleppen übernommen; es däuchte uns, als ob wir fünfzig Tonnen zu ziehen hätten und vierzig Meilen stampfen müßten.

Es war halb acht Uhr, als wir es endlich hinter uns hatten; dann stiegen wir auch ein und ruderten uns dicht an das linke Ufer, indem wir uns nach einer Stelle zum Anhalten umschauten.

Wir hatten zuerst nach der Magna Charta-Insel schiffen wollen, einem freundlichen, hübschen Fleck im Flusse, wo sich dieser durch ein sanftes grünes Tal hindurchschlängelt; dort wollten wir zwischen einer der pittoresken Einfahrten, die sich zwischen dem Ufer befinden, kampieren.

Aber seltsam, wir hatten nun bei weitem nicht mehr solche Sehnsucht nach dem Pittoresken, wie wir sie früher am Tage empfunden hatten. Ein bißchen Wasser zwischen einer Kohlenbarke und einem Gaswerk würde uns für diese Nacht vollkommen genügt haben. Wir verlangten jetzt nach keiner Szenerie mehr. Wir verlangten nach unserem Abendessen und dann nach der Nachtruhe. Trotzdem ruderten wir vollends hinauf bis zu einem Orte namens »Picnic Point« und hielten an einem recht angenehmen Eckchen unter einem Ulmenbaum, an dessen hervorragenden Wurzeln wir unser Boot befestigten.

Dann gedachten wir unser Abendessen zu bereiten (den Fünfuhrtee hatten wir uns, um Zeit zu gewinnen, geschenkt), aber Georg sagte, nein, wir täten besser, erst die Leinwand aufzuspannen, ehe es ganz dunkel werde. Dann, meinte er, sei unsere ganze Arbeit getan, und wir könnten uns mit leichtem Herzen zum Essen niedersetzen.

Aber diese Leinwand aufzuwickeln, kostete mehr Arbeit, als einer von uns sich hatte träumen lassen. In abstracto sah sich die Sache so einfach an! Man nimmt fünf eiserne Bogen, riesigen Krocketringen ähnlich, befestigt sie an dem Bord des Boots, zieht die Decke darüber her und knüpft sie unten fest; das erfordert höchstens zehn Minuten, dachten wir.

Aber das war eine gewaltige Unterschätzung.

Wir stellten die Bogen auf und steckten deren Enden in die dafür angebrachten Augen. Wer dächte, daß dies ein gefährliches Geschäft sei? Aber wenn ich jetzt daran zurückdenke, so wundere ich mich, daß überhaupt noch einer von uns am Leben ist, um die Geschichte zu erzählen. Das waren keine Bogen, das waren Teufel!

Zuerst wollten sie nicht in die Augen hineinpassen; wir mußten mit den Füßen darauftrampeln, mit dem Boothaken daraufstoßen und hämmern, und nachdem sie endlich darinsteckten, zeigte es sich, daß sie nicht in den richtigen Augen steckten und wieder herausgezogen werden mußten.

Aber sie wollten nicht wieder heraus, und zwei von uns strengten sich fünf Minuten lang vergeblich an; plötzlich aber sprangen sie heraus und versuchten, uns ins Wasser zu werfen und zu ertränken.

Sie hatten Scharniere in der Mitte, und wenn wir nicht aufmerkten, so kneipten sie uns an delikaten Teilen des Leibes, und während wir auf der einen Seite des Boots mit den Bogen uns abmühten und sie zu überreden suchten, ihre Pflicht zu tun, kamen sie auf der anderen Seite wieder hinterlistig heraus und schlugen uns an die Köpfe.

Nun, zuletzt brachten wir es doch zuwege, und dann war weiter nichts zu tun, als die Decke darüber zu ziehen.

Georg rollte sie auseinander und befestigte das eine Ende an dem Schnabel des Boots.

Harris stand in der Mitte, um sie von Georg in Empfang zu nehmen und sie mir zuzurollen. Ich war am andern Ende des Boots und harrte der Decke, die da kommen sollte. Es dauerte aber etwas lange, bis sie endlich bei mir ankam.

Georg machte sein Teil ganz gut; aber für Harris war das eine neue Arbeit, und er verhunzte sie.

Wie er es anfing, weiß ich wirklich nicht; er konnte es auch selbst nicht erklären; aber auf irgendeine mysteriöse Weise gelang es ihm, nach ungefähr zehn Minuten übermenschlicher Anstrengung sich vollständig darin zu verwickeln. Er war so fest darin eingewickelt und in den Falten begraben, daß er sich nicht herauswinden konnte. Er machte natürlich verzweifelte Versuche loszukommen und seine Freiheit zu erlangen – das Recht jedes Engländers von Geburt an – und bei diesem Bestreben hieb er auf Georg ein; dann fluchte Georg auf Harris, begann ebenfalls zu ringen und wurde geradeso eingewickelt und eingerollt.

Von alledem wußte ich aber die ganze Zeit nichts; ich verstand auch nichts von dem ganzen Geschäft. Man hatte mich stehen heißen, wo ich stand, und warten, bis die Leinwand zu mir herüberkäme, und so standen Montmorency und ich da und warteten, beide so geduldig wie die Lämmer. Wir bemerkten wohl, daß die Leinwand sich zeitweise hob und heftig umhergeworfen wurde, aber wir dachten, das gehöre zum Geschäft, und mischten uns weiter nicht ein.

Wir hörten auch mancherlei höfliche und schmeichelhafte Zwiegespräche, aber wir wollten doch noch warten, bis sich die Sache etwas mehr abgeklärt haben würde, ehe wir uns damit befaßten.

So warteten wir eine ganze Weile, aber die Geschichte schien nur immer verwickelter zu werden, bis zuletzt Georgs Kopf an der Seite des Boots hervorkam und den Mund öffnete.

»So hilf uns doch ein bißchen!« rief er, »kannst du denn das nicht, du Kuckucksmensch! Steht der Kerl da wie eine ausgestopfte Mumie, und sieht doch, daß wir beide am Ersticken sind! O, du Schafskopf du!«

Ein Ruf nach Hilfe schlägt bei mir niemals an ein taubes Ohr; so ging ich denn und half ihnen sich herauswickeln. Es war auch die höchste Zeit, denn Harris war bereits ganz schwarz im Gesicht.

Es brauchte noch eine halbe Stunde harter Arbeit, bevor wir mit der Geschichte ordentlich zustande kamen; dann machten wir das Deck klar und schickten uns an, das Abendessen zu bereiten.

Am Schnabel des Boots hingen wir unsern Teekessel auf, dann gingen wir nach dem andern Ende, als ob uns der Kessel nichts anginge, und holten die zur Abendkost nötigen Sachen hervor.

Das ist das einzige Mittel, um bei einer Bootfahrt einen Teekessel zum Sieden zu bringen. Wenn der Kessel merkt, daß ihr auf ihn wartet und ungeduldig werdet, dann wird er gewiß nicht singen! Ihr müßt vielmehr ganz auf die Seite gehen, und tun, als ob ihr überhaupt gar keinen Tee verlangtet. Nicht einmal nach ihm umsehen müßt ihr euch; dann wird das Wasser sofort zu dampfen beginnen, und sich wie närrisch in Tee verwandeln.

Auch ist es ein guter Plan, wenn es auch sehr pressiert mit dem Tee, euch recht laut miteinander darüber zu unterhalten, daß ihr eigentlich keinen Tee nötig habt und keinen haben wollt. Dann begebt ihr euch in die Nähe des Kessels und sprecht so laut, daß er euch hören kann:

»Ich will keinen Tee! Willst du vielleicht Tee, Georg?«, worauf Georg dann zurückruft: »O nein! Ich mag keinen Tee; wir wollen statt dessen Limonade nehmen. Tee ist so schwer verdaulich!«

Dann kocht der Kessel auf einmal über und löscht das Feuer aus.

Wir hatten diesen harmlosen Betrug auch diesmal mit bestem Erfolg in Szene gesetzt. Als wir mit den übrigen Zurüstungen zu Ende waren, war auch der Tee fertig. Dann zündeten wir die Lampe an und setzten uns zum Abendessen nieder.

Wir waren dessen sehr bedürftig. Während fünfunddreißig Minuten war durch die ganze Länge und Breite des Boots auch nicht ein anderer Laut zu hören als der Klang von Messer und Gabeln und das Mahlen unserer vier Gebisse. Am Ende besagter fünfunddreißig Minuten stieß Harris den Ruf »Ah« aus, zog sein linkes Bein unter sich vor und placierte das rechte an dessen Stelle.

Fünf Minuten später stieß Georg ebenfalls sein »Ah« aus und warf seinen Teller ans Ufer hinaus; und nach Verlauf von drei weiteren Minuten gab Montmorency das erste Zeichen von Befriedigung, das er seit unserer Abfahrt geäußert, von sich, legte sich auf die Seite und streckte die Beine aus. Und dann kam auch mein »Ah«, während ich meinen Kopf zurückbog; dabei stieß ich ihn aber an einen der Reifen des Boots – ich machte mir indessen nichts daraus. Ich fluchte nicht einmal.

Wie gut ist doch der Mensch, wenn er satt ist. Wie zufrieden sind wir dann mit uns selbst und mit der Welt.

Leute von Erfahrung haben mir versichert, daß ein reines Gewissen den Menschen froh und glücklich mache. Aber ein voller Magen tut das auch, und das ist billiger und leichter zu beschaffen. Ja, man ist geneigt zu vergeben und zu vergessen, man ist so voll edler und großmütiger Gefühle – nach einer reichlichen und wohlverdauten Mahlzeit.

Es ist etwas recht Sonderbares um diese Herrschaft des Magens über unsern Verstand.

Wir können weder arbeiten noch denken, bis er es uns erlaubt. Er diktiert unsere Bewegungen und beherrscht unsere Leidenschaften.

Nach Eiern und Speck sagt er uns: »Jetzt arbeite!«

Nach einem Beefsteak und Porter ladet er uns zum Schlafen ein.

Nach einer Tasse Tee (NB. zwei Löffel Tee auf eine Tasse, aber nur drei Minuten ziehen lassen) sagt er zum Verstand: »Jetzt erhebe dich und zeige, was du kannst! Nun sei beredt, voll tiefer Gedanken und zärtlich! Schau mit klarem Auge in die Natur und das Leben! Breite die Flügel deiner schnellen Gedanken aus und schwebe auf wie ein göttlicher Geist, auf über die unter dir rollende Welt, schweife dahin zwischen dem Heer der flammenden Sterne bis an die Tore der Ewigkeit!«

Nach heißem Pfannkuchen spricht der Magen: »Sei dumm und unvernünftig wie das Vieh auf dem Felde – ein Tier ohne Sinn und Verstand, unerleuchtet von irgendeinem Strahl der Phantasie, der Hoffnung, der Furcht, der Liebe oder des Lebens!«

Und nach Brandy – nach einem genügenden Maß Brandy – sagt er: »Jetzt komm, Narr, grinse und stolpere, daß deine Mitmenschen über dich lachen! Geifere wie ein Toller, stoße sinnlose Worte hervor und zeige der Welt, was für ein nutzloses Geschöpf doch der Mensch ist, dessen Witz und Wille ersäuft sind – wie zwei junge Katzen – in einem halben Zoll Alkohol!«

Wir sind wahr und wahrhaftig die traurigsten Sklaven unseres Magens. O, meine Freunde, strebt doch nicht nach Moralität und Rechtschaffenheit. Wacht vielmehr so sorgsam als möglich über euren Magen und regelt eure Diät mit Verstand und Sorgfalt. Dann wird Tugend und Zufriedenheit in euren Herzen herrschen, ohne daß ihr euch besonders anstrengen müßt. Dann werden aus euch gute Bürger, liebende Gatten, zärtliche Väter – edle, brave Menschen!

Vor unserem Abendessen waren Harris, Georg und ich drei streitsüchtige, bissige, schlecht aufgelegte Kerle gewesen. Dagegen nachher – wie schauten wir einander so freundlich an! Ja, auch der Hund bekam jetzt einen freundlichen Blick. Wir liebten einander, wir liebten die ganze Welt. – Als Harris aufstand, trat er Georg auf die Hühneraugen. Wäre das vor dem Abendessen passiert, würde Georg wohl Wünsche betreffs Harris' Schicksal in dieser und jener Welt ausgedrückt haben, Wünsche, die einem ängstlichen Mann ein Schaudern erweckt hätten. Jetzt aber sagte er nur: »Langsam, altes Haus! Gib acht auf meine Hühneraugen.« Und Harris, der ihm vor dem Abendessen gewiß in seiner maliziösesten Weise gesagt haben würde, wie ein Mensch denn überhaupt vermeiden könne, jemand innerhalb zehn Meter auf den Fuß zu treten, wenn dieser jemand Georg heiße und Füße von solcher Länge in ein Boot von gewöhnlicher Größe mitbringe, und daß er ihm überhaupt raten würde, sie über Bord zu hängen – so sagte Harris jetzt ganz freundlich: »O, es ist mir leid, alter Herr; ich habe dir hoffentlich nicht weh getan!«

Und Georg versetzte: »O nein, gar nicht,« und fügte hinzu, es sei seine eigene Schuld gewesen. Und Harris sagte, nein, seine sei es gewesen. O, es war erquickend, ihnen zuzuhören.

Hierauf zündeten wir unsere Pfeifen an, schauten in die stille Nacht hinaus und schwatzten.

Georg sagte: »Warum können wir nicht immer so sein? Warum können wir nicht fern von der Welt und ihren Versuchungen ein nüchternes, ehrbares Leben führen und Gutes tun?« Da erwiderte ich: »Gerade das habe auch ich schon oft gewünscht;« und dann berieten wir, ob wir vier Geschöpfe uns nicht nach einem hübschen, wohl eingerichteten, weltabgekehrten Eiland einschiffen können, um dort im Walde zu leben.

Harris meinte, soviel er gehört habe, sei die Gefahr bei solchen weltabgekehrten Inseln die, daß sie so feucht seien; Georg aber sagte: »Durchaus nicht, wenn sie ordentlich drainiert werden.«

Und als wir auf die Drainage kamen, da fiel Georg eine lustige Geschichte ein, die einst seinem Vater passiert war. Er erzählte, sein Vater sei einst mit einem guten Bekannten durch Wales gereist; da hätten sie eines Abends in einem kleinen Wirtshause am Wege angehalten, in welchem sie noch andere Bekannte angetroffen, mit denen sie den Abend zubrachten.

Sie hatten einen sehr lustigen Abend und blieben lange sitzen und als sie endlich zu Bett gingen, waren sie ein ganz klein wenig angeheitert. (Georgs Vater war damals noch ein sehr junger Mann.) Er und sein Freund sollten in einem Zimmer schlafen, aber jeder hatte sein eigenes Bett. Sie nahmen das Licht und stiegen hinauf. Das Licht stieß an die Wand und verlöschte; da mußten sie sich im Finstern auskleiden und ins Bett kriechen. Das brachten sie denn auch endlich fertig; aber anstatt daß jeder in sein eigenes Bett stieg, wie sie glaubten, stiegen sie beide in das nämliche, ohne es zu bemerken, der eine den Kopf oben, der andere unten im Bett und die Füße auf dem Kissen.

Eine Zeit lang war alles ruhig; dann aber fing Georgs Vater an: »Joseph!«

»Was gibt's, Tom?« fragte der andere vom Fußende des Bettes her.

»Ei! es ist einer im Bett,« sagte Georgs Vater, »da streckt mir der Kerl seine Füße ohne viel Umstände einfach auf mein Kissen!«

»Wie sonderbar das doch ist, Tom, aber ich will verdammt sein,« sagte nun der andere, »wenn bei mir nicht auch einer im Bett liegt!«

»Ja, was willst du mit ihm anfangen?«

»Nun – ich werde ihn hinausschmeißen!« sagte Joseph.

»Das tue ich auch!« meinte tapfer Georgs Vater. Dann entspann sich ein kurzer Kampf, gefolgt von einem zweimaligen schweren Fall auf den Boden; dann sagte eine Stimme in etwas schmerzlichem Tone: »He, Tom, hörst du nicht?«

»Wohl!« sagte Tom.

»Bist du mit deinem fertig geworden?«

»Nun – die Wahrheit zu sagen, der Kerl hat mich hinausgeworfen!«

»Ja! So ist's mir auch gegangen. Ich sage dir, auf dieses Wirtshaus halte ich nicht viel.«

Hier unterbrach Harris den Erzähler:

»Wie hieß dieses Wirtshaus?«

»Das ›Schwein und die Pfeife‹« sagte darauf Georg. »Aber warum?«

»Ja – doch nein! Dann ist es doch nicht das nämliche!« sagte Harris.

»Was willst du damit sagen, Harris?« fragte Georg.

»Je nun, es ist so merkwürdig. Ganz die gleiche Geschichte passierte auch meinem Vater in einem Wirtshause auf dem Lande, wie er uns oft erzählte. Ich dachte, es möchte in demselben Wirtshaus« gewesen sein!«

*

Um zehn Uhr nachts zogen wir uns zum Schlafen zurück; ich hoffte, gut zu schlafen, denn ich war ordentlich müde; aber es war nichts damit. Sonst pflege ich mich auszukleiden und den Kopf aufs Kissen zu legen; dann klopft jemand an die Türe und sagt: »Stehen Sie auf, es ist halb neun Uhr!«

Aber heute nacht schien sich alles gegen mich verschworen zu haben. Die Neuheit der ganzen Begebenheit, das harte Lager im Boote, die zusammengekrümmte Lage (ich lag mit den Füßen unter der einen Sitzbank, während mein Kopf auf der andern ruhte); das Geräusch des rings an das Boot klatschenden Wassers, der Wind, der in dem Gebüsch des Ufers rauschte – alles störte meine Ruhe und hielt mich vom Schlafe ab.

Ich konnte endlich ein paar Stunden schlafen; dann schien es mir, als ob das Boot in der Nacht einen Auswuchs bekommen hätte – denn derselbe war sicher am Abend zuvor nicht dagewesen, und am Morgen war er auch wieder verschwunden – einen Auswuchs, der sich mir beständig in den Rücken eingrub. Ich schlief trotzdem fort und träumte, ich hätte einen Sovereign verschluckt, und man habe mir mit einem Bohrer ein Loch in den Rücken gebohrt, um ihn wieder herauszukriegen. Es schien mir das ziemlich unhold von den Leuten; ich sagte ihnen, ich wolle ihnen den Betrag schuldig bleiben, sie sollten ihn am Ende des Monats bekommen. Aber sie wollten nicht darauf hören und meinten, es sei viel besser, sie hätten ihn sofort, weil sonst die Zinsen zu hoch anwachsen würden. Nach einer Weile aber wurde mir das Ding zu arg, und ich sagte ihnen meine Meinung ganz unverhohlen; da stießen sie mir den Bohrer so heftig in den Leib, daß ich erwachte.

Das Boot schien so dumpf, und mein Kopf schmerzte. So dachte ich, ich würde besser tun, hinaus in die frische Nachtluft zu gehen. Ich warf an Kleidungsstücken um, was ich gerade finden konnte, etwas von meinen eigenen, das übrige von Harris und Georg – dann kroch ich unter der Leinwand hervor ans Ufer.

Es war eine wundervolle Nacht. Der Mond war schon hinab unter den Horizont und hatte die stille Erde mit den Sternen allein gelassen. Es war, als ob sie während der tiefen Stille mit der Mutter Erde eine leise Zwiesprach hielten, mit ihrer Schwester, deren Kinder schliefen; Zwiesprach über die tiefen Geheimnisse – in Worten zu hoch und zu tief, als daß die kindischen Ohren der Menschen ihren Sinn hätten fassen können.

Sie erfüllen uns mit Ehrfurcht, diese seltsamen Geschöpfe, diese kalten, klaren Sterne! Wir sind wie Kinder, deren kleine Füße sich in einen schwach erleuchteten Tempel verirrt haben, wo man sie gelehrt hat, jenen unbekannten Gott zu verehren; und da stehen sie nun in dem Dom, dessen ungeheurer Bogen das Halbdunkel umspannt, und schauen auf zu den Lichtern, teils in Hoffnung, teils in Grauen, eine wunderbare Vision wahrzunehmen.

Und doch scheint die Nacht so voll Trost und Stärkung zu sein. In ihrer ruhigen Pracht schleichen unsere Sorgen still und beschämt von dannen. Der Tag war so voll Streit und Sorge, unsre Herzen waren mit so bittern und schlimmen Gedanken beschwert, und die Welt erschien uns so hart und schlecht. Da kommt die Nacht und legt wie eine liebende Mutter ihre Hand auf unser fieberndes Haupt, richtet unser tränenfeuchtes Antlitz empor gegen das ihre und lächelt uns an; und obwohl sie nicht zu uns spricht, wissen wir doch, was sie uns sagen möchte; wir drücken unsre glühenden Wangen an ihren Busen, und dann schwindet aller Schmerz.

Ja! Oftmals ist unsere Pein wirklich tief, nicht bloß in der Einbildung; da stehen wir dann wohl stumm, weil wir keine Worte mehr dafür haben, sondern nur schmerzliche Seufzer. Aber die Nacht hat ein Herz voll Mitleids gegen ihre Kinder; sie kann uns unser Weh nicht wegnehmen, aber sie nimmt unsre zuckende Hand in die ihre. Dann schwindet die kleine Welt um uns her in weite Ferne und wird immer kleiner; in ihren Armen eingelullt übergibt sie uns für einen Augenblick einer höhern Gewalt als die ihrige ist, und in dem wunderbaren Licht dieser Himmelsgewalt liegt das ganze Menschenleben wie ein offenes Buch vor uns; wir wissen dann, daß Pein und Sorge nur Engel sind, von Gott gesandt.

Nur diejenigen, die die Dornenkrone des Leidens getragen haben, können dieses wunderbare Licht schauen; sie sprechen nicht von dem, was sie erschaut haben, und erzählen nichts von den Geheimnissen, die ihnen geoffenbart wurden.

Vor langen Jahren ritten einmal ein paar tapfere Degen durch ein fremdes Land; ihr Weg führte sie durch einen tiefen Wald, wo das Dornengestrüpp so dicht wurde, daß es ihnen das Fleisch vom Leibe riß, und sie den Weg verloren. Und das Laub der Bäume in diesem Wald war dunkel und dicht, so daß kein Lichtstrahl hindurchdringen konnte, um das traurige Düster zu erhellen.

Während ihres Marsches durch diesen Wald verloren sie einen ihrer Kameraden, der sich von ihnen entfernt hatte; er irrte in weiter Ferne und sie sahen ihn nicht wieder; sie trauerten sehr um ihn, während sie ihren Ritt fortsetzten und hielten ihn für tot. Und als sie nun das schöne Schloß, dem sie zustrebten, erreicht hatten, blieben sie da viele Tage lang und waren fröhlich und guter Dinge; eines Abends nun, als sie in der großen Halle in heiterem, gemütlichem Geplauder beim Feuer saßen und ein fröhliches Gelage hielten, trat auf einmal ihr verlorener Kamerad herein und grüßte sie. Sein Gewand war zerrissen wie eines Bettlers Gewand, und viele tiefe Wunden zeigte sein edler Leib; aber von seinem Antlitz erglänzte ein heller Strahl von Freude und Frieden.

Sie fragten ihn und wollten wissen, wie es ihm ergangen seit seiner Trennung von ihnen; da erzählte er denn, wie er sich in dem großen, dunkeln Walde verirrt habe, wie er viele Tage und Nächte gewandert sei, bis er, zerrissen und blutend, sich niedergelegt habe, um zu sterben.

Dann, als er dem Tode schon ziemlich nahe gewesen: Siehe! Da kam durch das düstere Dunkel plötzlich ein herrliches Frauenbild daher, das nahm ihn an der Hand und führte ihn durch verschlungene Pfade, die niemand zuvor gekannt, bis auf einmal ein wunderbares Licht in das Dunkel des Waldes hineindämmerte – ein Licht, vor dem das Licht der Sonne erblaßte – und der müde Wanderer in diesem himmlischen Lichte eine Erscheinung erblickte, so hehr und schön, daß er darüber seiner blutenden Wunden nicht mehr gedachte, sondern nur in staunender Bewunderung und Verzückung dastand und eine Freude fühlte, so tief wie das Meer, dessen Tiefe niemand ergründen kann!

Doch die Erscheinung schwand, und der Ritter kniete auf die Erde und dankte der guten heiligen Jungfrau, die seine Schritte durch den dunkeln Wald geleitet hatte, und ihn die Erscheinung hatte sehen lassen.

Und der Name des dunkeln Waldes heißt Sorge – aber von der Erscheinung, die der gute Ritter sah, wollte er nichts weiter erzählen.

*

Den andern Morgen erwachte ich um sechs Uhr und fand auch Georg schon erwacht. Wir legten uns auf die andere Seite und suchten noch einmal einzuschlafen; aber es ging nicht. Wäre irgendein besonderer Grund gewesen, weshalb wir nicht wieder hätten einschlafen, sondern aufstehen und uns anziehen sollen, so wären wir mit einem Blick auf unsere Uhren gewiß wieder in Schlaf versunken und hätten bis zehn Uhr fortgeschlafen.

Aber da wir auf der weiten Gotteswelt gar keine Veranlassung hatten, zum mindesten zwei Stunden zu früh aufzustehen, und dies denn auch wirklich die größte Absurdität gewesen wäre, so war es ja auch nur der verwünschten Widerspenstigkeit aller menschlichen Dinge zuzuschreiben, daß wir beide das Gefühl hatten, es würde unser Tod sein, wenn wir noch fünf Minuten länger liegen blieben.

Georg erzählte, daß ihm die nämliche Geschichte, nur noch schlimmer, vor achtzehn Monaten schon einmal passiert sei, als er bei einer gewissen Frau Gippings wohnte.

Seine Uhr sei einmal nicht in Ordnung gewesen und um Viertel auf neun stehen geblieben. Er habe dies aber damals nicht bemerkt, da er abends vergessen hatte, sie aufzuziehen (bei ihm ein ganz ungewöhnliches Vorkommnis). Er habe sie über seinem Bett aufgehängt, ohne nochmals darauf zu sehen. Es war im Winter, ganz nahe dem kürzesten Tag, als sich dies ereignete, und überdies war die ganze Woche über starker Nebel gewesen, so daß die Dunkelheit ihm kein Anhaltspunkt für die Zeit sein konnte, als er am andern Morgen erwachte. Er fuhr in die Höhe und holte seine Uhr herab. Sie zeigte viertel auf neun Uhr.

»O, jetzt umringt mich, all ihr guten Geister!« rief er aus, »ich muß ja bis um 9 Uhr in der City sein! Warum hat man mich denn nicht geweckt? O, es ist eine Schande!«

Er warf die Uhr zu Boden, sprang aus dem Bett, nahm ein kaltes Bad, wusch sich, kleidete sich an, rasierte sich mit kaltem Wasser, weil keine Zeit mehr war, auf heißes Wasser zu warten, und warf dann noch einen schnellen Blick auf die Uhr.

Ob nun die Erschütterung, welche die Uhr durch das Hinwerfen empfangen, sie in Gang versetzt, oder wie es sonst gekommen, konnte Georg nicht sagen; aber das war sicher, daß sie von viertel auf neun Uhr an wieder gegangen war und jetzt zwanzig Minuten vor neun Uhr zeigte.

Er steckte sie nun eilends ein und stürmte die Treppe hinab.

Im Wohnzimmer war noch alles dunkel und still; da war kein Feuer, kein Frühstück parat. Georg dachte bei sich selbst, das sei doch eine Erzschande für Frau Gippings, und war fest entschlossen, ihr verschiedenes zu sagen, wenn er abends zurückkäme. Dann zog er hastig einen Überrock an, stülpte den Hut auf den Kopf, griff nach dem Schirm und rannte hinab zu der Haustür. Sie war noch nicht einmal aufgeschlossen.

Georg verwünschte diese faule alte Frau Gippings ins Pfefferland und dachte, es sei doch sehr seltsam, daß die Leute nicht auch so anständig sein und zu rechter Zeit aufstehen könnten, – so schloß er denn selbst auf und eilte fort.

Eine Strecke weit rannte er in scharfem Trab, dann kam es ihm doch sehr sonderbar vor, daß so wenig Leute auf der Straße und noch keine Läden offen waren. Es war heute gewiß ein sehr finsterer und nebliger Tag; aber es war doch ungewöhnlich, daß deshalb alle Geschäfte stillstehen sollten! Er mußte doch auch ins Geschäft! Warum sollten denn andere Leute im Bett bleiben dürfen, nur weil es finster und neblig war? Endlich erreichte er Holborn, auch nicht ein einziger Laden war offen, kein einziger Omnibus zu erblicken. Nur drei Männer, wovon der eine ein Polizeidiener war, dann ein Marktkarren voll Gemüse und eine baufällige Kutsche waren zu sehen.

Georg zog wieder seine Uhr heraus; es war noch fünf Minuten bis neun Uhr. Er stand still und fühlte sich den Puls. Dann beugte er sich nieder und befühlte sich die Beine. Dann ging er, noch immer die Uhr in der Hand, auf den Polizeidiener zu und fragte ihn, ob er vielleicht wisse, wie spät es sei.

»Wie spät?« fragte der Mann, indem er Georg von oben bis unten musterte, da er ihn augenscheinlich für ein verdächtiges Subjekt hielt. »Ei, wenn Sie aufpassen, werden Sie gleich die Turmuhr schlagen hören.«

Georg lauschte, und eine benachbarte Glocke war sofort so gefällig zu schlagen.

»Ja, es hat aber nur drei geschlagen!« rief Georg ganz beleidigt aus.

»Nun, wieviel hätte es für Sie denn schlagen sollen?« fragte der Polizeidiener.

»I, nun – neun Uhr,« – sagte Georg, indem er auf die Uhr zeigte.

»Wissen Sie, wo Sie wohnen?« fragte der Mann des Gesetzes in strengem Tone.

Georg dachte etwas nach und gab ihm dann seine Adresse an.

»O, da wohnen Sie wirklich?« sagte der Mann. »Nun, ich denke, Sie folgen meinem Rat und gehen hübsch ruhig dahin, stecken diese Ihre Uhr wieder in die Tasche und lassen uns im übrigen ungeschoren.«

In tiefe Betrachtungen versunken, ging Georg heim und war wiederum sein eigener Portier. Zuerst wollte er sich wieder auskleiden und noch einmal zu Bette gehen – aber da dachte er, daß er sich dann ja noch einmal ankleiden und waschen und baden müßte, und so entschloß er sich, aufzubleiben und im Armstuhl zu schlafen. Aber es gelang ihm nicht, wieder in Schlaf zu fallen; er war in seinem ganzen Leben nie so munter gewesen. So zündete er sich denn die Lampe an, zog das Schachspiel heraus und spielte eine Partie Schach mit sich selbst. Aber auch das konnte keine rechte Freude in ihm erwecken. Er wußte nicht, wie es kam; aber diese Unterhaltung dünkte ihn nachgerade etwas langweilig; so gab er denn das Schachspiel auf und versuchte etwas zu lesen. Aber die Fähigkeit, sich für irgendein Buch zu interessieren, schien ihm plötzlich abhanden gekommen zu sein. So zog er denn seinen Überrock wieder an und trat hinaus, um einen Spaziergang zu machen.

Draußen war es schrecklich einsam und düster; alle Polizeidiener, die ihm begegneten, schauten ihn mit unverhohlenem Argwohn an, richteten ihre Laternen auf ihn und gingen ihm nach.

Das übte eine solch niederschmetternde Wirkung auf ihn aus, daß er sich zuletzt wie ein wirklicher Bösewicht vorkam und sich seitwärts in die Nebengäßchen schlug und an dunklen Einfahrtstoren verkroch, wenn er die heilige Hermandad anrücken hörte.

Natürlich machte dies Benehmen die Polizei nur noch mißtrauischer gegen ihn. Sie kamen, stöberten ihn hervor und fragten ihn, was er da zu tun habe; und wenn er nun antwortete: Nichts, er habe nur ein bißchen bummeln wollen – es war' jetzt vier Uhr morgens –, schauten sie ihn ungläubig an, und zwei dunkelgekleidete Konstabler begleiteten ihn nach Hause, um zu sehen, ob er wirklich da wohne, wo er angab. Als sie ihn mit seinem Schlüssel öffnen und hineingehen sahen, nahmen sie dem Hause gegenüber Aufstellung und beobachteten es.

Als er wieder in seiner Wohnung angekommen war, wollte er sich ein Feuer anzünden und sich ein kleines Frühstück bereiten, eben nur um sich die Zeit zu vertreiben; aber es schien ihm, als ob er unfähig sei, irgend etwas, ob es nun Kohlenschaufel oder Teelöffel hieß, in die Hand zu nehmen, ohne es fallen zu lassen oder darüber zu stolpern und einen solchen Lärm zu verursachen, daß er in Todesangst sein mußte, er würde Frau Gippings aufwecken; diese würde dann sicherlich glauben, es seien Einbrecher im Hause; sie würde das Fenster aufreißen und nach der Polizei schreien, und dann würden die zwei Geheimpolizisten hereinstürmen, ihm Handschellen anlegen und ihn nach der Polizeistation bringen.

Er hatte sich in eine tödliche Aufregung hineingearbeitet und malte sich jetzt das Verhör und seine ganz vergeblichen Versuche, dem Gerichtshofe die betreffenden Umstände klar zu machen, in den schwärzesten Farben aus – er sah sich im Geiste schon zu zwanzigjährigem Zuchthaus verurteilt und seine Mutter an gebrochenem Herzen sterben.

So gab er denn den Gedanken auf, sich ein Frühstück zu bereiten, hüllte sich in seinen Überrock und blieb im Lehnstuhl sitzen, bis Frau Gippings um halb acht Uhr herunterkam.

Georg sagte, seit jenem Morgen sei er nie wieder zu früh aufgestanden, so sehr habe er sich jenen Fall zur Warnung dienen lassen.

Während Georg mir diese wahrhaftige Geschichte erzählte, hatten wir, in unsere Pelze eingehüllt, dagesessen, und als er damit zu Ende war, machte ich mich daran, Harris mit einem Ruder aufzuwecken; der dritte Stoß hatte die beabsichtigte Wirkung; er legte sich auf die andere Seite und sagte, er werde im Augenblick hinunterkommen, man solle ihm heute seine Schnürstiefel bringen. Wir ließen ihn aber mit Hilfe des Boothakens bald merken, wo er sich befinde; er richtete sich plötzlich in die Höhe, indem er zugleich Montmorency, der mitten auf seiner Brust den Schlaf des Gerechten geschlafen, zappelnd und krabbelnd auf den Boden des Bootes warf.

Dann schlugen wir die Leinwand etwas zurück, streckten alle vier die Köpfe hinaus, sahen hinab auf das Wasser – und schauderten. Am Abend zuvor hatten wir den Gedanken gehabt, heute morgen früh aufzustehen, unsere Teppiche und Schals abzuwerfen, uns mit einem fröhlichen Sprung kopfüber in das Wasser zu stürzen und uns durch ein langes, köstliches Schwimmbad zu erfrischen. Aber sonderbar – jetzt am Morgen schien uns das Bad viel weniger verführerisch. Das Wasser sah so feucht und frostig aus, und der Wind war so kalt.

»Na!« sagte Harris, »wer wird der erste sein?« Es gab aber keinen edlen Wettstreit wegen des Vortritts. Georg kam sofort zu einem Entschluß, soweit ihn die Sache betraf. Er kehrte in die Mitte des Bootes zurück und zog seine Socken an.

Montmorency stieß unwillkürlich ein Geheul aus, als ob ihm schon der Gedanke an ein solches Frühbad Grausen erregt hätte. Harris meinte, es würde so schwierig sein, nach dem Bade wieder in das Boot zu steigen, wandte sich ebenfalls zurück und suchte sich seine Beinkleider aus.

Ich wollte mich nicht gerade feig zeigen, obschon auch mir das Frühbad nicht behagen wollte. Da unten könne es verborgene Pfosten oder Tang geben, dachte ich. Da entschloß ich mich zu einem Vergleich: ich wollte am Rande des Flusses nur eben ein bißchen Wasser über mich herspritzen. So ergriff ich denn ein Badetuch, stieg aus und kroch bis zu einem ins Wasser hängenden Ast eines Uferbaumes. Es war bitterlich kalt. Der Wind schnitt wie ein Messer. Ich dachte, ich wollte doch lieber kein Wasser über mich spritzen, sondern in das Boot zurückkehren und mich ankleiden.

Ich wandte mich, um dem Gedanken die Tat folgen zu lassen, aber beim Umkehren brach der dumme Zweig, an dem ich mich gehalten hatte, ab: ich stürzte samt dem Tuch mit einem fürchterlichen Platschen ins Wasser und war, ehe ich mich recht besinnen konnte, was geschehen war, draußen mitten im Strome, mit einem Maß Themsewasser im Leibe.

»Bei Gott! Der alte Jerome hat sich hineingewagt,« hörte ich Harris sagen, als ich spritzend und pustend wieder an die Oberfläche kam. »Ich hätte nicht gedacht, daß er so viel Mut haben würde; hättest du es ihm zugetraut?« »Ist es nett?« rief Georg zu mir herüber. »O herrlich!« sprudelte ich zurück. »Ihr seid recht dumm, wenn ihr nicht auch 'rein kommt. Nicht um die Welt würde ich auf dieses Vergnügen verzichten. Warum wollt ihr es denn nicht auch versuchen? Es braucht nur etwas Entschlossenheit!«

Aber ich konnte sie nicht überreden.

An diesem Morgen passierte uns beim Ankleiden noch eine heitere Geschichte. Mir war sehr kalt, als ich von meinem Bade wieder ins Boot stieg; wie ich nun hastig mein Hemd anziehen wollte, fiel es mir ins Wasser. Ich erboste mich schrecklich darüber, besonders weil Georg in ein furchtbares Gelächter ausbrach. Ich konnte doch gar nichts Lächerliches dabei finden, wie ich Georg auch auseinandersetzte, aber er lachte nur noch unbändiger. Ich habe niemals einen Menschen so lachen sehen. Ich geriet zuletzt ganz außer mir und bedeutete ihm, was für ein närrischer, hirnverbrannter, verschrobener, verrückter Kerl er sei; aber er lachte nur noch unsinniger. Da bemerkte ich, als ich eben das Hemd wieder herausgefischt hatte, daß es gar nicht mein Hemd war, sondern Georgs, das ich in der Eile mit dem meinigen verwechselt hatte. Das erweckte in mir plötzlich das Verständnis für den Humor der Sache, und nun fing ich an zu lachen. Und je länger ich Georgs nasses Hemd und dann wieder den aus vollem Halse lachenden Georg betrachtete, um so mehr belustigte mich die Geschichte, und ich lachte so sehr, daß mir das nasse Hemd wieder ins Wasser fiel. »Ei, willst du es denn nicht wieder herausfischen?« fragte Georg, noch halb erstickt vor Lachen. Eine geraume Weile konnte ich ihm vor Lachen keine Antwort geben; endlich aber stieß ich unter schallendem Gelächter die Worte hervor: »Es ist ja gar nicht mein Hemd! Es ist deines!«

In meinem Leben habe ich nie den Gesichtsausdruck eines Menschen so plötzlich wechseln sehen wie jetzt Georgs.

»Was?« rief er, in die Höhe springend, »du Einfaltspinsel! Was zum Teufel hast du dich nicht draußen am Ufer ankleiden können? Du gehörst nicht in ein Boot, du Dummkopf, gib mir den Boothaken!«

Ich versuchte, ihm den Spaß der Geschichte klar zu machen, aber es fehlte ihm an Verständnis. Georg ist manchmal zu vernagelt, um die Komik der Lage zu verstehen.

Jetzt schlug uns Harris Rührei zum Frühstück vor. Er sagte, er wolle es bereiten. Nach seinen Worten zu schließen, mußte er die Bereitung von Rührei sehr wohl verstehen. Er habe es bei Landpartien und Bootfahrten schon oft gemacht. Er sei in diesem Stück schon ganz berühmt geworden; Leute, die einmal von seinem Rührei gegessen, gab er uns zu verstehen, hätten nachher absolut nichts anderes mehr essen wollen oder können. Sie hätten sich fast zu Tode gegrämt, wenn sie es sich nicht verschaffen konnten.

Er machte uns mit diesen Berichten wirklich den Mund wässerig; so händigten wir ihm denn das Herdchen, die Bratpfanne und alle Eier, die noch nicht flöten gegangen waren, ein und baten ihn, ans Werk zu gehen.

Mit dem Aufschlagen der Eier haperte es etwas, d. h. das Aufschlagen brachte er schon fertig; aber sie richtig in die Pfanne zu bringen, wenn sie offen waren, sie nicht an seine Hosen zu schmieren, und sie nicht an den Ärmeln hinauflaufen zu lassen, das war die Schwierigkeit. Zuletzt brachte er doch ungefähr ein halbes Dutzend in die Pfanne hinein; nun hockte er neben dem Herde nieder und stupste dann mit einer Gabel darin herum.

Es schien ein schwieriges Geschäft zu sein, soviel Georg und ich die Sache beurteilen konnten. So oft er der Pfanne nahe kam, brannte er sich; dann ließ er alles fallen, was er in der Hand hatte, tanzte um den Ofen herum schnippte mit den Fingern und schimpfte weidlich auf das verwünschte Gerät. In der Tat, so oft Georg und ich nach ihm hinsahen, passierte ihm etwas Derartiges. Wir glaubten zuerst, das gehöre als etwas Wesentliches zu seiner kulinarischen Kunstentwicklung. Wir wußten damals noch nicht, was Rührei eigentlich ist, und dachten, es sei entweder irgendein von den Rothäuten oder den Sandwichinsulanern stammendes Gericht, bei dessen richtiger Zubereitung Tänze und Zaubersprüche unerläßlich seien. Montmorency war auch neugierig und steckte seine Nase darüber; da spritzte das Fett in die Höhe und verbrannte ihn, und nun begann der auch zu tanzen und zu schimpfen. Alles in allem war diese Eierbereitung einer der interessantesten Vorgänge, deren ich jemals Zeuge gewesen. Georg und ich bedauerten es lebhaft, als sie zu Ende war. Das Resultat entsprach indessen Harris' Erwartungen nicht ganz. »Viel Geschrei und wenig Wolle,« konnte man da sagen. Sechs Eier waren in die Pfanne gelangt, was herauskam, war ein Teelöffel voll verbrannten, unappetitlich aussehenden Gerichts. Harris sagte, die Bratpfanne sei schuld daran; die Sache wäre viel besser geworden, wenn wir einen Fischkessel und ein Gasherdchen gehabt hätten; da beschlossen wir denn, dies Gericht nicht wieder zu bereiten, ehe wir uns diese Haushaltungsgegenstände angeschafft hätten.

Die Sonne war inzwischen mächtiger geworden, auch der Wind hatte nachgelassen, als wir unser Frühstück beendigt hatten; der Morgen war so lieblich, als er nur sein konnte. Nur wenig war in Sicht, was uns an das neunzehnte Jahrhundert erinnern konnte; und als wir auf den Fluß hinausschauten, der so ruhig dahinfloß, konnten wir uns beinahe einbilden, daß die Jahrhunderte, die zwischen uns und jenem ewig denkwürdigen Junimorgen des Jahres 1215 liegen, versunken seien, und daß wir, die Söhne englischer Freisassen, in selbstgesponnener Kleidung, den Dolch im Gürtel, hier warteten, um zuzusehen, wie jene merkwürdige Seite der Geschichte geschrieben wurde, deren Sinn dem gemeinen Volk vier Jahrhunderte später durch einen gewissen Oliver Cromwell verständlich gemacht werden sollte. Es ist ein schöner Sommermorgen, sonnig, sanft und ruhig. Aber durch die Luft geht ein Hauch kommender Bewegung. Der König Johann hat in Duncroft-Hall übernachtet, und den ganzen Tag zuvor hat die kleine Stadt Staines widergehallt von dem Waffenklang der Ritterschaft, dem Hufschlag der schweren Rosse auf dem rauhen Pflaster, den Befehlen der Hauptleute, den grimmen Flüchen und rohen Scherzen der bärtigen Bogenschützen, Streitaxtbewaffneten, Lanzenreiter und seltsam sprechenden fremden Spießträger. Abteilungen buntgekleideter Ritter und Schildknappen sind hereingeritten, ganz bestaubt von der Reise.

Den ganzen Abend mußten die furchtsamen Einwohner ihre Wohnungen schleunigst öffnen, um immer noch weitere Haufen roher Söldnerscharen aufzunehmen, welchen sie Nahrung und Nachtquartier geben mußten, beides, so gut sie es irgend vermochten, oder wehe den Häusern und allem, was darin war! Denn in diesen stürmischen Zeiten ist das Schwert Richter, Kläger und Gerichtsvollzieher zugleich und bezahlt für das, was es nimmt, nur damit, daß es die am Leben läßt, welche es zuvor nach Belieben beraubt hat.

Um das Lagerfeuer auf dem Marktplatz lagern noch weitere Knappen der Barone, essen und trinken viel, brüllen dazu ihre rauhen Trinklieder und spielen und streiten bis tief in die Nacht hinein.

Das flackernde Wachtfeuer wirft sonderbare Lichter auf die aufgestellten Waffen und auf ihre ungeschlachten Gestalten. Und die Kinder der Stadt stellen sich herzu und staunen sie an; stattliche Landdirnen nähern sich lachend den Bierschenken, um ihren Scherz zu treiben mit den prahlenden Kriegern, die so ganz anders sind als ihre Liebhaber vom Dorfe, die jetzt verachtet beiseite stehen und nur ohnmächtigen Grimm auf ihren breiten Gesichtern zur Schau tragen.

Und draußen im Felde ringsum leuchten die Lichter der entfernteren Lagerfeuer, um die sich die Truppen einiger mächtiger Herren gelagert haben, und dort drücken sich des falschen Johann französische Söldner gleich schleichenden Wölfen um die Stadt herum.

Wachen stehen an allen dunklen Straßenecken, während ringsumher auf jeder Anhöhe die Wachtfeuer glimmen; so geht die Nacht hin; und über dieses schöne Tal der alten Themse ist der Morgen des großen Tages hereingebrochen, der mit dem Schicksal noch ungeborener Jahrhunderte geschwängert enden sollte.

Seit Tagesgrauen ertönt auf der unteren der beiden Inseln – gerade oberhalb unseres jetzigen Standorts – großer Lärm von den Werkzeugen der Zimmerleute. Das große Zelt, das gestern hereingebracht wurde, soll heute morgen aufgeschlagen werden; die Zimmerleute bringen ringsumher Sitzreihen an, während Londoner Ladenburschen mit vielfarbigen Stoffen, mit Seide und golddurchwirktem Tuch ankommen. Und jetzt, siehe, dort auf der Straße, die sich von Staines her längs des Flusses hinzieht, kommt ein Fähnlein stahlgepanzerter Hellebardiere, lachend und in tiefen Baßtönen miteinander scherzend, auf uns zu. Es sind die Leute einiger Barone; sie halten ein paar hundert Schritte oberhalb unseres Standorts am andern Ufer, lehnen sich auf ihre Waffen und warten.

Und so, von Stunde zu Stunde, marschieren immer weitere Truppen und Horden gewappneter Männer auf – ihre Helme und Stahlpanzer glänzen im Morgenlicht – bis, soweit das Auge reicht, der Weg dicht mit schimmernden Waffen und stolzen Rossen besetzt ist. Daher sprengen Reiter und geben von Gruppe zu Gruppe ihre Befehle; die kleinen Banner bewegen sich leicht im Winde, hie und da ist eine lebhaftere Bewegung in den Reihen zu bemerken, wenn sie Platz machen müssen, um irgendeinen großen Baron auf seinem Schlachtrosse, von einem Haufen seiner Knappen umgeben, seinen Stand in der Mitte seiner Diener und Vasallen einnehmen zu lassen. Und oben auf dem Coopersberge, uns gerade gegenüber, hat sich das staunende Land- und neugierige Stadtvolk versammelt, das von Staines herausrannte, wenn auch keiner weiß, was all das Getriebe bedeuten soll; aber jeder hat eine andere Erklärung für die Dinge, die da kommen sollen, und einige sagen, daß der heutige Tag dem Volke viel Gutes bringen werde, aber die alten Leute schütteln die Köpfe, denn sie haben solche Redensarten schon mehr gehört!

Und der ganze Fluß bis hinunter nach Staines wimmelt von kleinen Booten und Barken und winzigen ledernen Fischerkähnen, welch letztere jetzt mehr und mehr in Abgang kommen und nur noch von armen Leuten benutzt werden.

Über die Stromschnellen, wo nachmals die Bellweir-Schleuse errichtet werden sollte, sind sie mit Hilfe ihrer handfesten Rudersleute hinabgesteuert, und nun drängen sie sich, so nahe sie können, an die großen Barken, welche hier in Bereitschaft liegen, um den König Johann dahin zu bringen, wo die verhängnisvolle Charta seiner Unterschrift wartet.

Es ist Mittag, und wir inmitten der andern haben manche Stunde geduldig gewartet; nun geht ein Gerücht, der aalglatte Johann sei dem Griff der Barone abermals entschlüpft, habe sich, im Gefolge seiner Söldner, von Duncroft-Hall weggestohlen und werde bald anderes Werk betreiben, als Freiheitsurkunden für sein Volk unterzeichnen.

Aber nein! – Diesmal war es der Griff einer Eisenfaust gewesen; diesmal hat er vergeblich versucht, sich ihr zu entwinden und zu entschlüpfen. In der Ferne steigt eine kleine Staubwolke auf, die, je näher sie rückt, desto größer wird; der Hufschlag wird lauter, und durch die längs des Weges versammelten Haufen bricht sich ein glänzender Aufzug berittener buntgekleideter Herren und Ritter Bahn. Und vorn und hinten und zu beiden Seiten reiten die Vasallen der Barone und in deren Mitte – König Johann.

Er reitet dahin, wo die Barken in Bereitschaft liegen, und die großen Barone verlassen ihren Platz, um ihn zu begrüßen. Er begrüßt sie mit heiterem Lachen und honigsüßen Worten, als ob es sich um irgendein Fest handle, das ihm zu Ehren gegeben werde. Aber indem er sich erhebt, um abzusteigen, wirft er rasch noch einen Blick auf seine französischen Söldnerscharen, die sich ganz im Hintergrunde hatten aufstellen müssen, und auf die festgeschlossenen Reihen der Barone und ihrer Leute, die ihn auf allen Seiten einschließen.

Wäre es wirklich zu spät?

Ein kräftiger Schlag auf die ahnungslosen Reiter an seiner Seite, ein Kommandoruf an seine fränkische Garde, ein verzweifelter Angriff auf die unbereiten Linien vor ihm, und diese rebellischen Barone könnten den Tag bereuen müssen, an dem sie es wagten, seine Pläne zu kreuzen!

Eine kühnere Hand würde vielleicht das Spiel gewagt und selbst in diesem Augenblick noch gewonnen haben! Ja, wenn ein Richard anstatt eines Johann dagewesen wäre! Dann wäre vielleicht die Schale der Freiheit von Englands Lippen weggerissen und noch für ein Jahrhundert vorenthalten worden!

Aber König Johann fühlt sich entmutigt, wie er auf die entschlossenen Mienen der bewaffneten Männer schaut, sein erhobener Arm senkt sich, er steigt ab und nimmt seinen Platz in der vordersten Barke ein. Und die Barone folgen ihm, die eisenbehandschuhte Hand am Schwertgriff; dann ergeht der Befehl, vorwärts zu steuern.

Langsam verlassen die schweren, glänzend ausstaffierten Barken das Ufer von Runningmede. Langsam bewegen sie sich, im Kampf mit der starken Strömung, bis sie mit dumpfem Schürfen das Ufer der kleinen Insel streifen, die von diesem Tage an den Namen Magna Charta-Insel trägt. Nun ist König Johann ans Ufer gestiegen, und wir warten in atemloser Stille, bis ein weithin hallender Schrei die Luft durchzittert und wir nun sicher wissen, daß der große Eckstein zu Englands Freiheitstempel felsenfest gelegt ist.

*

Ich saß am Ufer, während ich die vorher beschriebenen Szenen vor meines Geistes Auge aus dem Dunkel der Jahrhunderte heraufbeschwor, da machte Georg die Bemerkung gegen mich, wenn ich vollständig ausgeruht habe, so werde es mir vielleicht nichts ausmachen, ein wenig beim Aufwaschen zu helfen; auf diese Weise aus den Tagen glorreicher Vergangenheit in die prosaische Gegenwart mit all ihrem Elend und all ihrer Sünde zurückgerufen, schlüpfte ich denn wieder ins Boot hinein, fegte die Bratpfanne mit einem Stück Holz, an welches ich ein Bündel Gras befestigt hatte, und rieb sie zuletzt mit Georgs nassem Hemd glänzend.

Wir gingen dann nach der Magna Charta-Insel hinüber und beschauten uns den Stein, der dort in der Hütte steht, auf welchem die große Charta unterzeichnet worden sein soll; ich möchte mich indessen nicht dafür verbürgen, daß dies wirklich hier und nicht am andern Ufer in Runningmede geschehen ist. Was meine eigene Meinung anbetrifft, so bin ich eher geneigt anzunehmen, daß es auf der Magna Charta-Insel, wie die Volkssage will, geschehen sei. –

Gewiß, wäre ich einer der Barone jener Zeit gewesen, so würde ich fest darauf bestanden haben, daß es sehr geraten sei, einen so schlüpfrigen Kameraden wie König Johann nach dem Eiland zu bugsieren, wo sich ihm weniger Gelegenheit für Überraschungen und Verrat darbot.

Auf dem Grund von Ankerwyke, nahe bei Picnic-Point, sieht man heute noch die Ruinen eines alten Klosters. In dieser Gegend soll Heinrich VIII. seine Zusammenkünfte mit Anna Boleyn gehabt haben. Aber er pflegte solche auch auf Bever Schloß in der Grafschaft Kent und auch irgendwo in der Gegend von St. Albans zu halten.

Es muß für das englische Volk damals ziemlich schwierig gewesen sein, einen Platz zu finden, wo dieses gedankenlose junge Volk sich nicht umhertrieb!

Wart ihr jemals in einem Hause, wo ein Liebespaar sich gerade aufhielt? O, das zählt schon zu dem Unangenehmsten auf dieser Welt. Ihr wollt euch ein Weilchen im Salon aufhalten und begebt euch dahin. Beim Öffnen der Tür hört ihr ein Geräusch, als ob sich jemand plötzlich nach einem zuvor vergessenen Gegenstand umsehen wollte, und wenn ihr dann eingetreten seid, so steht Emilie am Fenster und schaut voll Interesse nach der entgegengesetzten Seite der Straße, während euer Freund Johann Eduard am anderen Ende des Salons durch den Anblick von Photographien von Leuten, die er gar nicht kennt, völlig gebannt zu sein scheint.

»O,« sagt ihr und bleibt am Eingang stehen, »Verzeihung, ich wußte nicht, daß jemand hier sei.«

»O,« sagt Emilie in ihrem kühlsten Tone, der euch deutlich zu verstehen gibt, daß sie euch nicht glaubt; »Sie haben es nicht gewußt?«

Dann drückt ihr euch noch ein Weilchen herum und fragt dann:

»Warum habt ihr denn das Gas nicht angezündet? Es ist doch so dunkel hier!«

Und Johann Eduard sagt:

»O, ich habe es nicht bemerkt.«

Und Emilie setzt schnippisch hinzu:

»Papa liebt es nicht, wenn nachmittags das Gas angezündet wird.«

Nun erzählt ihr den jungen Leuten ein paar Tagesneuigkeiten oder gebt ihnen eure Ansicht über die irische Frage zum besten; aber all das scheint sie nicht im mindesten zu interessieren, alles, was sie über den Gegenstand bemerken, ist:

»O, wirklich! Nicht möglich. – Ach so! Was Sie nicht sagen!«

Und nachdem ihr zehn Minuten lang diese Art Unterhaltung genossen habt, drückt ihr euch allmählich gegen die Tür und schlüpft hinaus, wobei ihr mit Erstaunen bemerkt, daß sie sich unmittelbar hinter euch schließt, ohne daß ihr sie berührt habt.

Eine halbe Stunde später denkt ihr, im Wintergarten würde sich hübsch ein Pfeifchen rauchen lassen. Aber der einzige Stuhl darin ist von Emilien besetzt, und Eduard, wenn man sich auf die Sprache der Kleider verlassen darf, muß augenscheinlich auf dem Boden gesessen haben. Und sie sprechen nicht, aber sie sehen euch an mit Blicken, die alles ausdrücken, was man sich in zivilisierter Gesellschaft nicht sagen darf. Ihr nehmt einen schleunigen Rückzug und schließt die Tür hinter euch. Jetzt habt ihr aber wirklich Angst, eure Nase noch in irgendein Zimmer im Hause hineinzustecken; so geht ihr denn eine Weile die Treppe auf und ab, bis ihr euch entschließt, euch in eurem Schlafzimmer niederzusetzen. Das wird euch aber auf die Dauer recht langweilig; so setzt ihr denn euren Hut auf und geht hinaus in den Garten; euer Weg führt euch an dem Pavillon vorbei, und wie ihr da einen Blick hineinwerft, seht ihr darin in einer Ecke zusammengedrängt jene zwei närrischen jungen Leute. Und sie sehen euch auch und sind offenbar des Glaubens, daß ihr sie absichtlich und böswillig überallhin verfolgt.

»Warum hat man denn für dergleichen nicht ein besonderes Zimmer, wo sich solches Volk aufzuhalten verpflichtet wäre?« brummt ihr in eurem Ärger, rennt zurück nach dem Hause, greift nach eurem Regenschirm und geht aus.

Ähnlich muß es früher wohl auch schon zugegangen sein, als jener närrische Knabe, Heinrich VIII., seiner kleinen Anna den Hof machte. Die Leute aus der Grafschaft Buckingham haben sie wohl öfter überrascht, wenn sie um Windsor und Wraysbury ihre Mondscheinpromenaden machten.

Und wenn die Leute dann ausriefen: »O, Sie sind es!«, so pflegte wohl Heinrich errötend zu sagen: »Ja! Ich habe nach jemand sehen wollen«; und Anna pflegte dann wohl hinzuzusetzen: »O, wie freue ich mich, Sie zu sehen. Ist das nicht sonderbar, eben bin ich mit Herrn Heinrich VIII. auf diesem Feldweg zusammengetroffen, und nun, denken Sie sich nur, geht er denselben Weg wie ich.«

Dann pflegten jene Leute wohl zueinander zu sagen: »O, wir tun besser daran, uns aus dem Staub zu machen, solange dies Girren und Balzen hier herum zu hören ist. Wir wollen nach Kent hinab.« Und kamen sie dann nach Kent, so war das erste, was sie dort gewahrten, Heinrich VIII. und Anna, die Schloß Bever unsicher machten.

»O, daß doch ein Donnerwetter!« rufen sie nun wütend aus. »Wir wollen fort von hier. Ich kann das nicht länger mehr ertragen. Wir wollen nach St. Albans. Ein netter, ruhiger Ort, dieses St. Albans.«

Und wenn sie nun nach St. Albans kamen, wen trafen sie da? Wiederum jenes verwünschte Liebespärchen, das sich an der Mauer der alten Abtei herzte und küßte.

Da war es denn kein Wunder, wenn jene guten Leute die Gegend verließen und Seeräuber wurden, bis die Hochzeit vorbei war.

Von Picnic-Point aufwärts bis zur Schleuse bei Windsor bietet der Fluß ein reizendes Bild dar. Ein schattiger Weg, an dem dann und wann ein kleines grünumsponnenes Landhaus steht, zieht sich längs des Ufers hin bis zu den »Glocken von Onseley«, einem malerisch aussehenden Wirtshause (nebenbei bemerkt, die meisten dieser Wirtshäuser am Fluß sehen malerisch aus), wo ein gutes Glas Bier winkt, so sagt uns wenigstens Harris, und bei einer derartigen Sache kann man sich auf sein Wort verlassen. Das liebe, alte Windsor ist ein eigenartig berühmter Ort. Eduard der Bekenner hatte hier einen Palast; und hier wurde der mächtige Graf Godwin durch die damaligen Gerichte für schuldig befunden, den Tod des Bruders des Königs verschuldet zu haben. Der Graf Godwin brach ein Stückchen Brot ab und hielt es in die Höhe.

»Dies Brot soll mir den Tod bringen, wenn ich schuldig bin,« rief er aus; dann schob er das Brot in den Mund, aß es – und erstickte daran.

Als wir an Datched vorüberkamen, fragte mich Georg, ob ich mich auch noch unserer ersten Fahrt auf dem Flusse erinnere, und wie wir um zehn Uhr nachts in Datched gelandet, um dort zu übernachten.

»Na ob,« antwortete ich ihm. Es wird noch eine geraume Zeit dauern, bis ich es vergesse. Es war am Samstag vor dem Augustfeiertag.[Fußnote: An den sogenannten Bankfeiertagen, namentlich an dem im August, pflegt in England alles los und ledig zu sein.] Wir waren müde und hungrig – wir nämlichen drei – und als wir nach Datched kamen, zogen wir unseren Korb heraus sowie unsere zwei Koffer, Teppiche, Überzieher und dergleichen und begaben uns auf die Suche nach irgendeinem Unterschlupf. Wir kamen an ein ganz ordentlich aussehendes Wirtshaus, dessen Eingang mit Klematis und anderen Schlingpflanzen umsponnen war. Aber Geißblatt war nicht darunter; ich weiß nicht mehr, aus welchem Grund ich meinen Kopf nun einmal auf Geißblatt gesetzt hatte; aber auf Geißblatt gesetzt hatte ich ihn; deshalb erklärte ich meinen Gefährten:

»O, da wollen wir nicht hinein! Wir wollen etwas weiter gehen und sehen, ob nicht auch ein Wirtshaus kommt, das von Geißblatt umrankt ist.«

So gingen wir weiter, bis wir zu einem Hotel kamen. Auch das war ein ganz nettes Hotel, und es war auf der Seite mit Geißblatt überwachsen; aber Harris gefiel das Aussehen eines Menschen nicht, der am Eingange lehnte.

Harris sagte, der Mann sehe gar nicht liebenswürdig aus, und er habe so abscheuliche Stiefel an. So gingen wir denn weiter. Nachdem wir eine gute Weile marschiert waren und kein weiteres Hotel angetroffen hatten, ersuchten wir einen Vorübergehenden, uns nach einigen zu weisen.

Der Mann meinte: »Ei! Sie kommen ja von ihnen her! Sie müssen umkehren und gerade wieder zurückgehen, dann kommen Sie zum ›Hirschen‹«!

Wir darauf: »O, dort waren wir schon, aber es gefiel uns nicht; es ist ja kein Geißblatt daran!«

»Nun,« sagte der Mann, »dann ist ja dort das ›Herrenhaus‹ gerade gegenüber. Haben Sie es dort schon versucht?«

Harris sagte, dahin wollten wir nicht gehen; er habe da einen Mann gesehen, der ihm nicht gefallen habe; die Farbe seines Haares habe ihm nicht gefallen, seine Stiefel ebenfalls nicht.

»Ja, dann ist guter Rat teuer,« sagte unser Cicerone, »denn das sind die einzigen Wirtshäuser dieses Orts.«

»Sonst keine Wirtshäuser?!« rief Harris verzweiflungsvoll.

»Nein, keine!« entgegnete der Mann.

»Ja, um des Himmels willen! Was fangen wir denn jetzt an?«

Jetzt ergriff Georg das Wort; er sagte, Harris und ich, wir könnten uns ein Hotel, speziell für uns zwei, bauen und auch gleich die Kunden dafür backen lassen, wenn es uns beliebe. Er für sein Teil gehe zurück zum »Hirschen«.

Den größten Geistern gelingt es ja selten, ihre Ideale zu verwirklichen; da seufzten denn ich und Harris über die Hohlheit alles irdischen Strebens und folgten Georg.

Wir brachten unsere Sachen in den »Hirschen« und legten sie in der Vorhalle nieder. Der Wirt kam und sagte: »Guten Abend, meine Herren!« »O! Guten Abend!« sagte Georg. »Wir möchten drei Betten haben.«

»Tut mir leid, meine Herren!« sagte der Wirt, »aber ich fürchte, es wird nicht gehen.«

»Nun,« sagte Georg, »es macht nichts! Zwei Betten tun's auch! Zwei von uns können in einem Bett schlafen, nicht wahr?« Hierbei wandte er sich gegen Harris und mich.

Harris sagte: »O freilich«; er dachte, Georg und ich könnten wohl in einem Bett schlafen.

»Tut mir sehr leid,« wiederholte der Wirt, »aber wir haben in der Tat im ganzen Hause kein einziges Bett frei. Wir haben wirklich schon zwei und selbst drei Herren in einem Bett untergebracht!«

Dies machte uns denn doch etwas bedenklich, aber Harris, der schon viel gereist ist, zeigte sich jetzt in seiner ganzen Größe, indem er heiter lachend ausrief: »Ah, das läßt sich nun einmal nicht ändern. Sie müssen uns eben im Billardzimmer ein primitives Lager aufschlagen.«

»Tut mir sehr leid, mein Herr! Es liegen bereits drei Herren auf dem Billard,« sagte der Wirt, »und zwei im Kaffeesaal. Ich kann Sie heute unmöglich über Nacht behalten.«

Da nahmen wir unsere Sachen wieder auf und gingen hinüber nach dem »Herrenhaus«. Ich sagte, es gefalle mir doch besser als das andere, und Harris sagte: »O ja; es werde gewiß ganz nett sein; wir brauchten ja auch den Mann mit dem roten Haar nicht anzusehen; überdies könne der arme Teufel wahrscheinlich nichts dafür.«

Harris sprach ganz freundlich und verständig darüber. Aber die Wirtsleute im »Herrenhaus« ließen uns nicht lange Zeit zu unserer Unterhaltung.

Die Wirtin begrüßte uns schon auf der Treppe mit den Worten, wir seien bereits die vierzehnte Gesellschaft, die sie seit den letzten anderthalb Stunden habe abweisen müssen.

Auf unsere sanften Andeutungen betreffs Billardzimmer, Ställe oder Kohlenschuppen hatte sie nur ein überlegenes Lächeln; diese Schlupfwinkel seien alle schon längst weggeschnappt und belegt.

Ob sie vielleicht im Dorfe ein Plätzchen wüßte, wo wir über Nacht bleiben könnten?

Nun, wenn es uns nicht darauf ankäme, sie könne es zwar nicht empfehlen, gewiß nicht, aber eine Viertelstunde weiter auf dem Wege nach Eton, da sei eine kleine Bierschenke. Wir wollten nicht weiter hören, wir faßten den Korb, die Reisesäcke, die Überzieher, die Plaids und die Pakete und rannten davon.

Die Entfernung schien uns eher eine halbe denn eine Viertelstunde zu betragen; doch endlich erreichten wir die Schenke und stürmten atemlos hinein. Der Schenkwirt und seine Leute waren gefühllos. Sie lachten uns bloß aus. Es gäbe nur drei Betten im ganzen Haus und darin hätten sie schon sieben ledige Herren und zwei verheiratete Paare untergebracht. Ein gutmütiger Fischer, der gerade in der Schenkstube war, meinte, wir könnten es ja bei dem Krämer versuchen, der neben dem »Hirschen« wohne; so gingen wir denn wieder zurück.

Bei den Krämersleuten war alles besetzt. Eine alte Frau, die wir im Laden antrafen, war so gutherzig, uns ungefähr eine Viertelmeile weit zu einer alten Freundin von ihr, welche gelegentlich Zimmer an Fremde vermiete, mitzunehmen. Die alte Frau bewegte sich sehr langsam vorwärts, so daß wir wohl zwanzig Minuten unterwegs waren. Während wir so dahintrippelten, erheiterte sie uns durch die Beschreibung all der verschiedenen Gebresten, die sie in ihrem Rücken verspüre.

Aber ihrer Freundin Zimmer war vermietet; von dort wurden wir an Haus Nr. 27 gewiesen. Nr. 27 war besetzt und sandte uns zu Nr. 32. Auch dieses Haus war vermietet.

Jetzt gingen wir zurück auf die Landstraße, wo sich Harris mit der Erklärung, daß er nimmer weitergehe, auf den Korb niedersetzte. Er meinte, es sei hier ein ruhiges Plätzchen; hier werde er gerne sterben. Er ersuchte Georg und mich, seine Mutter noch einmal von ihm zu grüßen und zu küssen und allen seinen Freunden zu sagen, daß er ihnen vergeben habe und selig gestorben sei.

In diesem Augenblick kam uns ein Engel, zugesandt in der Gestalt eines kleinen Knaben (ich kann mir keine eines Engels würdigere Gestalt denken) mit einer Bierkanne in einer Hand und in der andern ein Etwas an einer Schnur, das er auf jeden Stein auf dem Wege auffallen ließ, um es dann wieder in die Höhe zu schnellen, was jedesmal einen wenig anziehenden, beinahe kläglichen Ton hervorbrachte. Wir fragten diesen himmlischen Boten (als einen solchen haben wir ihn nachmals erkannt), ob er hier herum irgendein einsames Haus wüßte, mit nur wenigen schwächlichen Bewohnern (ältliche Damen oder lahme Herren würden wir vorziehen), die man leicht so weit einschüchtern könnte, daß sie ihre Betten für diese Nacht an drei desperate Männer abtreten würden; aber im Fall es damit nichts wäre, ob er uns vielleicht einen leeren Schweinestall oder einen nicht mehr im Gebrauch stehenden Kalkofen oder irgend etwas Derartiges empfehlen könne. –

Nichts von alledem war ihm bekannt, wenigstens kein netter derartiger Ort; doch wenn wir mit ihm kommen wollten, sagte er, seine Mutter habe ein Schlafzimmer und könnte uns über Nacht behalten. Wir fielen dem Knaben um den Hals, während der Mond auf uns herniederschaute, und küßten ihn; es hätte ohne Zweifel ein schönes Gemälde abgegeben, wenn nur der Knabe nicht so sehr von unserer Rührung überwältigt worden wäre, daß er sich nicht mehr aufrecht halten konnte, sondern zu Boden fiel, und wir alle drei über ihn her.

Auch Harris war so sehr von der Freude übermannt, daß er ohnmächtig wurde und des Knaben Bierkanne erfassen und zur Hälfte leeren mußte, ehe er wieder zu sich selber kommen konnte; dann raffte er sich plötzlich auf und rannte davon, Georg und mir die Sorge für unser Gepäck überlassend. –

Es war ein kleines, vier Zimmer enthaltendes Häuschen, wo der Knabe mit seiner Mutter lebte; diese gute Seele gab uns gerösteten Speck zum Nachtessen. Es waren fünf Pfund, aber wir aßen ihn ganz auf, und ebenso einen Geleekuchen, – und zwei Töpfe Tee tranken wir leer.

Dann gingen wir zu Bett. Es waren zwei Betten in dem Zimmer. Das eine war ein zwei und einen halben Fuß breites Rollbett; in diesem schliefen Georg und ich; wir verhinderten unser Herausfallen dadurch, daß wir uns mit einem Leintuch zusammenbanden. Das andere war des Knaben Bett, das Harris ganz für sich allein bekam.

Am andern Morgen fanden wir ihn, wie seine nackten Beine zwei Fuß weit über die Bettstatt heraushingen; Georg und ich benützten diese Beine bei unserem Bade als Handtuchständer.

Als wir das nächste Mal wieder nach Datched kamen, waren wir nicht mehr so anspruchsvoll in bezug auf ein Hotel.

Aber – um auf unsere gegenwärtige Fahrt zurückzukommen – nichts Aufregendes geschah, und wir strebten in gleichmäßigem Trott vorwärts bis in die Nähe der »Affeninsel«, wo wir anhielten und unser Gabelfrühstück verzehrten. Wir machten uns über das kalte Roastbeef her und entdeckten, daß wir den Senf vergessen hatten. Ich glaube nicht, daß ich je in meinem Leben den Senf so sehr vermißt habe, wie damals. Ich mache mir sonst nicht viel aus Senf, ich esse ihn sogar sehr selten, – aber damals hätte ich eine Welt für ein bißchen Senf gegeben!

Ich weiß nicht, wie viele Welten es überhaupt im Universum geben mag, aber demjenigen, der mir einen Teelöffel voll Senf gebracht hätte, würde ich sie alle miteinander überlassen haben. Ich kann ganz rabiat werden, wenn ich etwas haben möchte und es nicht bekommen kann.

Harris meinte, auch er würde ein paar Welten für ein wenig Senf gegeben haben. Da hätte einer mit einem Topf Senf ein gutes Geschäft machen können; ja, da wäre einer für den Rest seines Lebens geborgen gewesen!

Aber, trau einer der Menschennatur! – Wir beide, Harris und ich, hätten bald den Handel wieder rückgängig machen wollen, sobald wir den Senf bekommen hätten. In der Aufregung macht man oft solch ausschweifende Anerbietungen, aber wenn man hinterher darüber nachdenkt, so wird einem natürlich die Lächerlichkeit einer solch übertriebenen Wertschätzung des gewünschten Gegenstandes klar. –

So hörte ich einmal einen Herrn, der in der Schweiz eine Bergtour machte, ausrufen: »Eine Welt für ein Glas Bier!« und als er bald darauf ein kleines Wirtshaus erreichte, in welchem Bier zu haben war, da schlug er einen Höllenlärm auf, weil man ihm für eine Flasche Bier fünf Franken abverlangte. Er schrie, es sei das eine schamlose Betrügerei und schrieb darüber einen Bericht an die »Times«.

Die Abwesenheit des Senfs warf einen düstern Schatten in unser Leben auf dem Boot. In aller Stille aßen wir unsern Rindsbraten. Unser Dasein erschien uns schal und öde. Wir gedachten der glücklichen Tage unsrer Kindheit und seufzten. Als wir aber bei der Apfeltorte angekommen waren, wurden wir doch wieder etwas heiterer, und als Georg eine Zinnbüchse mit Ananas aus dem Korb hervorzog und mitten in das Boot rollen ließ, fanden wir, daß dieses Leben doch wohl lebenswert sei.

Wir alle drei sind große Liebhaber von Ananas. Wir schauten mit freundlichen Blicken die Abbildung auf der Zinnbüchse an, gedachten des Saftes, den sie enthalten würde, und lächelten einander an; Harris hatte sofort seinen Löffel parat, dann suchten wir das Messer, um die Büchse zu öffnen. Wir lehrten den ganzen Korb danach um; dann leerten wir die Reisesäcke aus. Hernach hoben wir die Bretter des Boots in die Höhe. Hierauf schleppten wir alles ans Ufer und schüttelten es aus. Aber kein Büchsenmesser wollte sich finden.

Jetzt versuchte Harris die Büchse mit seinem Taschenmesser zu öffnen; aber dabei zerbrach er die Klinge und schnitt sich tief in die Hand; dann versuchte es Georg mit der Schere; aber diese schnellte in die Höhe und hätte ihm um ein Haar ein Auge ausgestochen. Während die beiden ihre Wunden verbanden, versuchte ich mit dem spitzen Ende des Bootshakens ein Loch in die Büchse zu bohren, aber der Haken entschlüpfte mir und warf mich über das Boot hinaus in zwei Fuß tiefes schmutziges Wasser, während die Büchse unversehrt davonrollte und eine Teetasse zerschlug.

Jetzt wurden wir alle drei fuchswild. Wir nahmen die heimtückische Büchse ebenfalls ans Ufer; Harris holte einen schweren, scharfkantigen Stein, und ich holte den Mast aus dem Boot; Georg hielt die Büchse und Harris die Spitze des Steines darauf, und ich schwang den Mast mit aller Kraft in die Höhe und schmetterte ihn nieder.

Georgs Strohhut war es, der ihm damals das Leben rettete! Er hat diesen Strohhut, d. h. was davon übrig blieb, als eine teure Erinnerung aufbewahrt; und an Winterabenden, wenn die Pfeifen glühen und die Jungen von ihren kühnen Streichen erzählen und von den Gefahren, denen sie glücklich entronnen sind, holt Georg ihn herbei und zeigt ihn den Anwesenden, und die aufregende Geschichte wird aufs neue, jedesmal mit erhabeneren Ausschmückungen, erzählt. Harris kam mit einer bloßen Fleischwunde davon. Daraufhin nahm ich die Büchse allein in Angriff und hieb mit dem Mast darauf, bis ich erschöpft und todestraurig niedersank, worauf Harris sie ergriff.

Wir schlugen sie flach, wir schlugen sie wieder zu einem Würfel, wir brachten sie in jede denkbare geometrische Form – aber wir konnten kein Loch hineinbekommen. Dann griff Georg wieder danach und klopfte sie in eine so seltsame, so unheimliche, in ihrer wilden Häßlichkeit so unirdische Form, daß ihm selbst bange davor wurde und er den Mast wegwarf. Jetzt setzten wir uns alle drei rings um das Ding herum und schauten es an. Quer über das obere Ende lief ein Einschnitt, der sich wie ein höhnisches Grinsen ausnahm und uns derart in Wut versetzte, daß Harris sich darauf losstürzte, es erfaßte und mit einem furchtbaren Schwung bis in die Mitte des Stromes hineinwarf, wohin wir ihm unsere Verwünschungen nachsandten. Dann stiegen wir wieder ins Boot, ruderten eilends hinweg von dem Ort und ruhten nicht eher, bis wir Maidenhead erreicht hatten.

Maidenhead selbst ist zu übertüncht, um ein angenehmer Aufenthalt zu sein. Es ist ein Aufenthalt für die den Fluß unsicher machenden Sonntagsstutzer mit ihren übertrieben gekleideten Duennas. Es ist eine Stadt voll aufgeputzter Hotels, hauptsächlich von Kommis und Ballettmädchen frequentiert. Es ist die Hexenküche, woraus jene den Fluß heimsuchenden Teufel, jene kleinen Dampfboote hervorgehen. Der Herzog, wie er in der »Londoner Zeitung« figuriert, hat immer sein »kleines Schlößchen« in Maidenhead; und die Heldin der dreibändigen Tagesromane speist regelmäßig dort, wenn sie mit dem Gatten einer andern einen lustigen Tag verbringen will.

Schnell passierten wir das schlüpfrige Maidenhead, dann verlangsamten wir die Fahrt, um die nun folgende herrliche Strecke mit Muße zu genießen. Am Abend hatte sich ein steifer Wind erhoben, diesmal merkwürdigerweise zu unseren Gunsten; denn fährt man auf dem Flusse, so ist einem in der Regel der Wind entgegen, welche Richtung man auch einschlagen mag. Wenn ihr auf einen ganzen Tag ausfahren wollt, müßt ihr am Morgen natürlich gegen den Wind fahren; ihr rudert nun eine tüchtige Strecke weit und denkt dabei, wie angenehm bei solchem Wind die Rückfahrt mit aufgehißtem Segel sein werde. Aber nach dem Nachmittagstee springt der Wind um und ihr dürft euch beim Heimfahren den ganzen Weg lang wieder ebenso tüchtig ins Zeug legen. Habt ihr aber vergessen, euch mit einem Segel zu versehen, dann bläst der Wind immer in eurer Richtung, ob ihr auf- oder abwärts fahrt! Aber das ist nun einmal so auf dieser Welt. Das Leben ist eine Prüfung, und der Mensch ist geboren zu arbeiten, daß die Funken stieben.

Aber an diesem Abend war augenscheinlich ein Mißgriff geschehen; der Wind blies uns in den Rücken, anstatt ins Gesicht. Wir waren deshalb auch mäuschenstill und hißten geschwind unser Segel auf, ehe Freund Äolus es merkte; dann suchte sich jeder einen bequemen Platz im Boot und nahm eine nachlässig gedankenvolle Haltung an. Da blähte und spannte sich das Segel, daß der Mast und die Spieren krachten und das Boot vor dem Winde dahinflog.

Ich steuerte. Es gibt meines Wissens keine den ganzen Körper mehr durchzitternde Erregung als die, die das Segeln in uns hervorbringt. Es grenzt das so nahe ans Fliegen, als der Mensch dem Fliegen bis jetzt überhaupt nahegekommen ist – ausgenommen im Traum! Auf Windesflügeln scheint man getragen zu werden, man weiß nicht wohin. Man ist nicht mehr der träge, schwache Erdenklotz, der, sich am Boden krümmend, dahinkriecht. Nein, man ist ein Teil der Natur. Unser Herz schlägt gegen das ihre. Sie schlingt ihre herrlichen Arme um uns und drückt uns an ihren Busen. Unser Geist ist eins mit dem ihren. Unsere Glieder werden leichter und leichter. Der Sphärengesang klingt an unser Ohr. Die Erde scheint uns in immer weitere Ferne gerückt, zuletzt winzig klein, und die Wolken dicht über unsern Häuptern sind unsre Geschwister, denen wir sehnend die Arme entgegenstrecken.

Wir hatten jetzt den Fluß für uns ganz allein; nur in weiter Ferne erblickten wir ein flaches Fischerboot, das ziemlich in der Mitte des Stromes vor Anker lag; drei Fischer saßen darin. Unser Boot tanzte über das Wasser hin, als wir an dem waldigen Ufer vorbeistrichen; keiner von uns sprach ein Wort. Ich saß am Steuer.

Als wir näher kamen, sahen wir, daß die drei Fischer alt und ehrwürdig dreinschauten. Sie hatten sich auf drei Stühlen niedergesetzt und schauten aufmerksam auf ihre Angelschnüre.

Die Abendröte warf einen mystischen Schein auf die Wasserflut, tauchte das Ufergehölz in feurige Glut und vergoldete die aufgetürmten Wolken. Es war eine Stunde voll tiefen Zaubers, voll süßer Hoffnung und Sehnsucht. Unser kleines Segel hob sich gegen den purpurnen Himmel ab, die Dämmerung umfing uns und hüllte die Welt in Schatten – und hinter uns schlich die Nacht einher.

Wir deuchten uns wie die Ritter einer alten Sage, die über einen Geistersee in das unbekannte Land der Dämmerung oder nach dem Lande der Abendröte segeln.

Wir fuhren aber nicht ins Land der Dämmerung, nein, wir fuhren – krach! – auf besagtes Boot mit den drei Fischern auf.

Wir wußten zuerst nicht, was geschehen war, weil uns das aufgespannte Segel die Aussicht benahm; aber die Art und Weise der Ausdrücke, die jetzt die Abendluft durchzitterten, brachte uns auf die Vermutung, daß wir uns nahe bei menschlichen Wesen befinden müßten, welche erbost und unzufrieden zu sein schienen.

Harris zog das Segel ein, und dann sahen wir, was geschehen war. Wir hatten jene drei alten Leute von ihren Sitzen auf den Grund des Bootes niedergeworfen, wo sie jetzt zu einem einzigen Haufen zusammengeballt lagen, während jeder mit großer Mühe sich aus dem Knäuel loszuwickeln und die Fische von sich abzuschütteln bemüht war. Dabei fluchten sie auf uns, nicht mehr in gewöhnlichen, menschlichen Flüchen, sondern in langen, wohlausgedachten Verwünschungen, welche unsere ganze Laufbahn umfaßten, noch bis auf die entfernteste Zukunft sich erstreckten, alle unsere Freunde, Verwandte und Bekannte, alles, was jemals mit uns in Verbindung war oder treten könnte, mit eingeschlossen – um es kurz zu sagen: echte, schwerwiegende Flüche!

Harris sagte zu ihnen, sie sollten uns vielmehr dankbar sein, daß wir ihnen etwas Abwechslung in die Langeweile ihres Daseins gebracht hätten; und er fügte hinzu, es habe ihn tief betrübt, daß Männer in ihrem Alter so ihren Leidenschaften die Zügel schießen ließen. Aber es half alles nichts – sie schimpften fort. Da erhob sich Georg und sagte, nunmehr wolle er steuern. Er meinte, von einem Geist wie dem meinigen sei nicht zu erwarten, daß er jemals werde ein Boot ordentlich steuern können; es sei besser, man lasse einen gewöhnlichen Sterblichen das Boot in Obhut nehmen, ehe wir alle mit bester Manier ersäuft würden – und damit ergriff er das Steuer und brachte uns nach Marlow. Dort ließen wir das Boot an der Brücke und gingen zum Übernachten in die »Krone.«

*

Unter den mir bekannten Städten an der Themse ist Marlow eine der hübschesten. Es ist eine geschäftige, lebhafte kleine Stadt; als Ganzes genommen, ist sie zwar nicht gerade sehr malerisch; aber es sind viele altertümliche Winkel und Erker darin. Eine liebliche Landschaft umgibt auch den Ort. Namentlich ladet ein reizendes Wäldchen zum Spazierengehen ein. Du liebes, altes Wäldchen! Wie duftig lebt mir heute noch die Erinnerung an die schönen, dort verlebten sonnigen Sommertage im Gemüte! Wie scheinen in deinen gründämmerigen Hallen lachende Gesichter spukgleich zu erstehen und zu verschwinden! Deine flüsternden Blätter erzählen uns so manche Sagen und Geschichten aus längst entschwundenen Tagen!

Von Marlow an wird es sogar noch schöner. Die große Abtei zu Bisham, deren Steinmauern vormals von den Rufen der Tempelritter widerhallten, wo einst Anna von Cleve und später die Königin Elisabeth Hof hielt, ist reich an romantischen Eigentümlichkeiten. Sie enthält ein mit Gobelins tapeziertes Schlafzimmer, und ein geheimes Gemach ist hoch oben zwischen dicken Mauern verborgen, wo der Geist der Lady Holy, die ihren kleinen Knaben zu Tode quälte, noch heute bei Nacht umgehen und versuchen soll, seine Geisterhände in einem Geisterbecken reinzuwaschen.

Hier ruht auch Warwick, der Königsmacher, und kümmert sich nun nicht mehr um solch kleinliche Dinge, wie die Könige und Königreiche dieser Welt. Auch Salisbury, der bei Poitiers so gute Dienste tat.

Unter den Buchen von Bisham fuhr Shelley, der damals in Marlow lebte (wo man sein Haus noch heute in der Weststraße sehen kann), in seinem Boote auf und ab und verfaßte seine »Revolution des Islam«.

Bei dem Wehr, von Hurley ein wenig weiter oben, habe ich oft gedacht: Hier könnte ich einen ganzen Monat bleiben, ohne daß mir die Zeit reichen würde, all die Schönheit der Landschaft in mich aufzunehmen. Das Dorf ist eines der ältesten am Flusse. Ein wenig weiter hinauf, in einer reizenden Biegung des Stromes, liegen die Trümmer der Medmenham-Abtei.

Die berüchtigten Mönche von Medmenham oder die »Höllenfeuergesellschaft«, wie sie gewöhnlich genannt wurden, bildeten eine Brüderschaft, deren Wahlspruch war: »Tu, was dir beliebt«; – und dieser Spruch ist heute noch auf dem zerfallenen Eingangstore zu lesen. Viele Jahre früher, ehe diese verrottete Abtei mit ihrer Verbrüderung von frechen Spöttern begründet wurde, stand auf demselben Platze ein Kloster von ernsthafterer Art, dessen Mönche einen anderen Typus vertraten als jene Epikureer, die fünfhundert Jahre später auf sie folgten. Die Zisterzienser, deren Abtei im dreizehnten Jahrhundert hier stand, trugen keine gewebten Kleider, sondern grobe Röcke und Kapuzen, aus Tierhäuten bereitet; sie aßen weder Fleisch noch Fisch, noch Eier. Sie schliefen auf Stroh und erhoben sich um Mitternacht, um Messe zu lesen. Ihre Tage verbrachten sie mit Arbeit, mit Lesen und Beten, und über ihrem ganzen Leben lag die tödlichste Stille ausgebreitet, denn keiner von ihnen sprach ein Wort.

Eine traurige Brüderschaft, die an diesem lieblichen Plätzchen, das Gott so schön erschaffen hatte, ein trauriges Leben führte!

Wie seltsam! Die Stimme der ganzen Natur ringsum, der sanfte Gesang des vorbeiflutenden Wassers, das Geflüster des Ufergrases, in dem der Wind spielt, sollte ihnen das alles nicht eine richtigere Lebensansicht beigebracht haben? Da lauschten sie den ganzen Tag in tiefsinnigem Schweigen und warteten auf eine Stimme vom Himmel, und den ganzen Tag lang und in der feierlichen Herrlichkeit der Nacht sprach diese Stimme in tausend und abertausend Tönen zu ihnen und dennoch hörten sie sie nicht.

Von Medmenham an ist der Fluß zunächst voll friedlicher Schönheit; von Greenlands an wird er etwas öde und eintönig, bis man über Henley hinaus ist.

Am Montag Morgen standen wir in Marlow ziemlich früh auf und wollten vor dem Frühstück noch ein Bad nehmen. Als wir davon zurückkamen, spielte sich unser Montmorency als ein furchtbarer Esel auf. Der einzige Gegenstand, worüber ich und Montmorency verschiedener Ansicht sind, das sind Katzen. Ich mag die Katzen, aber Montmorency mag sie nicht. Wenn ich einer Katze begegne, so bleibe ich stehen und schmeichle ihr: »Miezi, liebe Miezi«. Dann beuge ich mich zu ihr hinab und streichle sie sachte am Hinterkopf. Darauf krümmt die Katze wohlgefällig den Rücken, streckt ihren Schwanz bolzgerade in die Höhe, reibt ihre Nase an meinen Hosen und alles ist eitel Gefälligkeit und Frieden. Aber wenn Montmorency einer Katze begegnet, dann kommt die ganze Straße in Aufregung, und in zehn Sekunden werden da mehr wüste Ausdrücke verschwendet, als ein anderer ehrenwerter Mann sein ganzes Leben lang brauchen würde, wenn er sie ein wenig zu Rat hielte.

Ich tadle den Hund nicht; in der Regel begnüge ich mich, ihm eins an die Ohren zu hauen oder Steine nach ihm zu werfen, denn ich denke, es liegt dies nun einmal in seiner Natur. Foxterriers kommen mit mindestens viermal so viel Erbsünden auf die Welt als andere Hunde; und wir Christen brauchen Jahre um Jahre geduldiger Anstrengung, um eine nennenswerte Milderung der Sitten eines Foxterriers hervorzubringen. Ich erinnere mich, wie ich eines Tages in die Vorhalle des Haymarket Warenlagers trat und da eine Menge Hunde, die auf ihre drinnen in den Läden befindlichen, Einkäufe machenden Herren warteten, herumlungern sah. Da waren ein Bullenbeißer, ein paar Spitzhunde, ein Bernhardiner, einige Jagdhunde und Neufundländer, ein Rattenfänger, ein französischer Pudel mit dichtem Haar rings um den Kopf, aber sonst ganz kahl geschoren, eine Bulldogge, einige winzig kleine Schoßhündchen und ein paar Yorkshirehunde.

Da saßen und lagen sie alle friedfertig, gutmütig und in tiefe Gedanken versunken. Eine feierlich friedliche Stille schien in dieser Halle zu herrschen. Ein Zug von Ruhe und Ergebung, eine sanfte Trauer erfüllte den Raum. Nun trat eine reizende junge Dame herein; sie hatte einen sanft dreinschauenden kleinen Foxterrier an der Leine, welchen sie zwischen der Bulldogge und dem Pudel angebunden zurückließ. Das Hündchen legte sich nieder und schaute sich ungefähr eine Minute lang um. Dann richtete es seinen Blick in die Höhe und schien, nach dem Ausdruck seines Gesichts zu urteilen, an seine Mutter zu denken; hierauf gähnte es; dann schaute es wieder auf die andern Hunde, die alle so still, so ernst und würdevoll dalagen.

Es schaute die Bulldogge an, die zu seiner Rechten fest schlief. Es schaute den Pudel an, der aufrecht und vornehm zu seiner Linken sah. Und plötzlich, ohne jedwede Kriegserklärung, ohne auch nur im mindesten herausgefordert worden zu sein, biß es den Pudel in eines seiner Vorderbeine, und ein schmerzliches Geheul drang durch die vorher so friedliche Halle. Das Ergebnis dieses ersten Versuchs mußte dem Hündchen sehr befriedigend erschienen sein; denn es beschloß, in der Weise fortzufahren und etwas Leben in die Gesellschaft zu bringen. Es sprang über den Pudel weg und machte einen lebhaften Angriff auf einen Spitzer; dieser erwachte und fing sofort mit dem Pudel Streit an. Dann kam das liebe Hündchen wieder an seinen Platz zurück, packte die Bulldogge am Ohr und versuchte, sie zu vertreiben. Die Bulldogge ihrerseits, ein merkwürdig unparteiisches Vieh, schnappte ohne Unterschied nach allem, was sie erreichen konnte, den Aufseher der Vorhalle mit inbegriffen, was dem lieben, kleinen Hündchen das Feld frei ließ, um eine ununterbrochene Fehde mit einem ebenso streitlustigen Yorkshirehunde zu genießen.

Einem Kenner der Hundenatur braucht nicht erst gesagt zu werden, daß mittlerweile alle anwesenden Hunde so grimmig miteinander fochten, als ob sie Haus und Hof zu verteidigen hätten. Die großen Hunde fochten ohne Unterschied miteinander, die kleinen unter sich und füllten die Zeit, die ihnen dazwischen frei blieb, damit aus, die großen in die Beine zu beißen. Die ganze Halle war in einem Höllenaufruhr und der Lärm wahrhaft ohrenzerreißend. In der Straße draußen sammelten sich die Leute an und fragten, ob da Gemeindeversammlung gehalten werde, oder, wenn das nicht, wer denn ermordet worden sei, und warum? Männer kamen mit Stangen und starken Stricken herbei und versuchten, die Hunde auseinander zu bringen, einige liefen fort, um die Polizei zu holen.

Während der Aufruhr am wildesten tobte, kam die reizende junge Dame wieder heraus und nahm ihr liebes, kleines Hündchen wieder in die Arme. Es hatte eben den Yorkshirehund auf einen Monat lahm gebissen und schaute jetzt so unschuldig drein wie ein neugeborenes Lämmchen; dann küßte sie es und fragte es, ob man es denn gemordet habe, und was diese großen, wüsten Hunde ihm getan hätten; es schmiegte sich fest an sie und schaute sie an mit einem Blick, der zu sagen schien: »O, wie froh bin ich, daß du endlich gekommen bist, mich aus dieser schändlichen Gesellschaft fortzubringen!«

Und die reizende junge Dame meinte, die Leute hier hätten gar kein Recht, solch wilden Bestien wie diesen andern Hunden zu erlauben, sich hier in Gesellschaft von Hunden aus guten Häusern aufzuhalten, und sie hätte nicht übel Lust, deshalb eine Klage anzustrengen.

Item, so ist die Natur des Foxterriers, und deshalb tadle ich denn auch Montmorency nicht wegen seiner Neigung, sich mit Katzen zu raufen; aber nachmals wünschte er selbst, daß er an jenem Morgen seiner Neigung nicht gefrönt hätte.

Wir waren, wie oben erwähnt, von unserm Bade zurückgekehrt und eine Strecke weit die Hauptstraße hinaufgegangen, als eine Katze aus einem der vor uns liegenden Häuser herauskam und über die Straße wegspazierte.

Montmorency stieß ein Freudengeschrei aus – es war der Schrei eines tapfern Kriegers, der seinen Feind sich in die Hand gegeben sieht – so mag Cromwell geschrien haben, als er die Schotten von ihren Bergen herabsteigen sah – und stürzte sich auf seine Beute.

Sein Opfer war ein großer, schwarzer Kater. Ich habe in meinem Leben keine größere, keine häßlichere Katze gesehen als diese. Sie hatte schon den halben Schwanz, ein Ohr und ein beträchtliches Stück der Nase eingebüßt. Es war ein großes, kräftig aussehendes Tier, das ruhig und zufrieden dreinschaute.

Montmorency jagte mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Meilen in der Stunde hinter dieser armen Katze her, aber dessenungeachtet pressierte es der Katze gar nicht, sie schien die ihrem Leben drohende Gefahr gar nicht erkannt zu haben.

Sie schritt ganz ruhig weiter, bis ihr Mörder in spe nur noch einen Meter von ihr entfernt war; dann kehrte sie sich um, setzte sich mitten auf die Straße und schaute Montmorency mit einem freundlichen, fragenden Blick an, der auszudrücken schien:

»Ja? Sie wünschen?«

Montmorency fehlt es nicht an Mut; aber es war etwas in dem Blick dieses Katers, das auch das Herz des kühnsten Hundes hätte erbeben machen können. Er hielt plötzlich an und schaute sich meinen Kater an. Keines von beiden sprach ein Wort; aber was sie sich mit Blicken sagten, lautete gewiß folgendermaßen:

Die Katze: »Womit kann ich aufwarten?«

Montmorency: »Mit gar nichts. Ich danke Ihnen.«

Die Katze: »O, genieren Sie sich doch nicht, wenn Sie etwas wünschen. Ich bin wirklich gern bereit!«

Montmorency (der sich etwas zurückzieht): »O nein! Gewiß nicht! Bemühen Sie sich nicht. Ich – ich fürchte, ich habe mich geirrt. Ich glaubte Sie zu kennen. Ich bedauere, Sie gestört zu haben.«

Die Katze: »O, bitte recht sehr; es war mir ein großes Vergnügen! Aber wünschen Sie wirklich gar nichts?«

Montmorency (der sich noch immer zurückzieht): »Nein! Durchaus nichts! Ich danke Ihnen! Ich wünsche gar nichts, Sie sind sehr gütig! Guten Morgen!«

Die Katze: »So – nun denn guten Morgen auch!«

Montmorency kehrte mit sorgfältig eingezogenem Schwanze zu uns zurück und nahm eine bescheidene Stellung im Nachtrab ein.

Wenn man seitdem gegen Montmorency das Wort »Katze« gebraucht, so zittert er am ganzen Körper und schaut einen mit einem mitleiderregenden Blick an, als wollte er sagen:

»O bitte, sprecht mir doch nicht davon!«

Nach dem Frühstück gingen wir auf den Markt, um uns wieder auf drei Tage zu verproviantieren. Georg meinte, wir hätten auch Gemüse einzukaufen; es sei ungesund, sich der Gemüse zu enthalten, wir müßten auch vegetabilische Speisen zu uns nehmen. Er erklärte, das Kochen der Gemüse sei etwas ganz Leichtes, er werde das schon übernehmen; so schafften wir uns denn zehn Pfund Kartoffeln, einen Scheffel Erbsen und einige Kohlköpfe an; ferner kauften wir uns im Hotel eine Beefsteakpastete, ein paar Stachelbeertorten, eine Hammelkeule; Früchte, Backwerk, Brot und Butter, Schinken, Eier und andere Lebensmittel schafften wir uns nach und nach in den verschiedenen Läden der Stadt an.

Unsere Abreise von Marlow muß ich als einen unserer größten Erfolge bezeichnen. Sie war würdig und eindrucksvoll, ohne pomphaft zu sein. Wir hatten uns ausbedungen, daß uns alles, was wir eingekauft hatten, durch einen Laufburschen sofort nachgetragen würde; wir wollten keine lahmen Versicherungen hören, wie: »Ganz recht, mein Herr! ich werde es Ihnen sofort zusenden!« oder: »Der Laufbursche wird noch vor Ihnen drunten beim Boot sein!«

Damit hätten wir dann, an der Landungsbrücke wartend herumschlendernd, zweimal in die Kaufläden zurückrennen und uns mit den Leuten herumärgern können. Nein, dazu waren wir zu klug. Wir warteten, bis der Korb gepackt war, und nahmen dann den Jungen gleich mit uns. Wir gingen in viele Läden und verfuhren überall nach demselben Grundsatz; die Folge hiervon war, daß, als wir mit unsern Einkäufen zu Ende waren, wir eine ganz ansehnliche Auswahl von Jungen mit Körben, Paketen etc. als Gefolge beieinander hatten.

Als wir endlich die Hauptstraße hinunter nach der Landungsbrücke marschierten, da muß unser Zug ein so imponierendes Schauspiel geboten haben, wie die gute Stadt Marlow schon seit vielen Jahren keines gesehen hatte.

Die Ordnung des Zuges war folgende:

Montmorency, einen Stock im Maule tragend;


zwei schäbig aussehende Köter, Freunde Montmorencys;


Georg, mit den Überziehern und Teppichen beladen, eine kurze Pfeife im Munde;


Harris, der sich bemüht, mit leichter Anmut einherzuwandeln, während er in der einen Hand einen mehr als vollgestopften Gladstonekoffer, in der andern eine Flasche mit Limonadensaft hält;


der Gemüsehändler- und der Bäckerbursche mit Körben;


der Hausknecht aus dem Hotel, einen großen Korb tragend;


der Konditorjunge mit einem Korb;


der Bursche des Delikateßhändlers mit einem Korb;


ein langhaariger Hund;


der Junge des Käsehändlers mit einem Korb;


ein Hausknecht mit einem Sack;


der Busenfreund des genannten Hausknechts, die Hände in den Taschen, eine kurze Tonpfeife im Munde;


der Obsthändlersjunge mit einem Korbe;


ich selbst mit drei Hüten und einem Paar Stiefel, bemüht, mir den Anschein zu geben, als ob ich nichts davon wüßte;


sechs kleine Buben und vier herrenlose Hunde.

Als wir zum Landungsplatze kamen, sagte der dortige Schiffsvermieter:

»Verzeihen Sie, mein Herr, die Frage: Hatten Sie eine Dampfbarkasse oder eine Arche Noah gemietet?«

Auf unsere Erklärung, daß unser Boot ein zweirudriges Schiff sei, schien er ein wenig erstaunt zu sein.

Die Dampfboote machten uns an jenem Morgen wacker zu schaffen! Es war gerade die Woche vor den großen Wettfahrten bei Henley; deshalb sammelte sich viel Volks dort an; einige fuhren allein, andere zogen große Familienbarken im Schlepptau. Ich kann nun einmal die Dampfboote nicht ausstehen, und ich glaube, es geht jedem Ruderer so. Wenn ich ein Dampfboot zu Gesicht bekomme, so steigt jedesmal der fromme Wunsch in mir auf, es an einen einsamen abgelegenen Teil des Flusses zu locken und es dort in den Grund zu bohren!

In einem Dampfboot liegt solch eine herausfordernde Dreistigkeit, daß dadurch jeder böse Trieb meines Innern wachgerufen wird; da sehne ich mich denn nach den guten alten Zeiten zurück, da man mit einer Axt, mit Bogen und Pfeil einherschreiten und den Leuten den Standpunkt klar machen durfte.

Der Gesichtsausdruck jenes Mannes, der mit den Händen in der Tasche und der Zigarre im Munde gemütlich am Steuer des Fahrzeugs steht, genügt schon, um einen Friedensbruch zu entschuldigen; und das herrische Zeichen mit der Pfeife, daß man ihm aus dem Weg gehen solle, würde, glaube ich, jeden aus Ruderklubisten zusammengesetzten Gerichtshof zu dem Urteil veranlassen: »Durch Notwehr gerechtfertigter Totschlag!«

Sie hatten nun bei uns ständig zu pfeifen, daß wir ihnen ausweichen sollten. Wenn ich es sagen darf, ohne ruhmredig zu erscheinen, so haben wir nach meiner Meinung während dieser Woche den Dampfbooten mehr Störung, mehr Aufenthalt und Ärger verursacht als alle die andern Boote miteinander.

»Ein Dampfboot kommt!« pflegte einer von uns auszurufen, wenn er den Feind in der Ferne erblickte, und in einem Augenblick war alles bereit, ihn zu empfangen.

Ich ergriff das Steuer, während Harris und Georg sich mir zur Seite setzten, alle den Rücken dem Dampfboot zugekehrt; und so trieb unser Boot ruhig in die Strömung hinaus.

Daher dampft das Boot und pfeift, was es kann, und dahin fahren wir von der Strömung getrieben. Einige hundert Meter von uns entfernt fangen sie dann wie rasend an zu pfeifen; dann lehnen sie sich über die Brüstung und brüllen uns zu, aber wir hören eben nichts! Harris erzählt eben eine Anekdote von seiner Mutter, und Georg und ich wollen um alle Welt kein Wort davon verlieren.

Dann läßt das Boot seine Pfeife noch einen Verzweiflungsschrei ausstoßen, der den Kessel beinahe zum Platzen bringt, und muß umsteuern und sich rückwärts wenden; bei dieser Gelegenheit fährt es auf den Grund auf; dann rennen alle Insassen nach dem Lugaus und schreien gellend zu uns herüber, und die Leute am Ufer schreien ebenfalls; alle anderen Boote halten an und stimmen ebenfalls mit ein, bis meilenweit der ganze Fluß in der wildesten Aufregung ist.

Nun bricht Harris mitten im interessantesten Teil seiner Geschichte plötzlich ab, schaut mit leisem Erstaunen auf und sagt zu Georg:

»Ich glaube gar, Georg, es ist ein Dampfboot in der Nähe!«

Und dieser darauf: »Ach ja! Es war mir doch vorhin, als hätte ich etwas pfeifen hören!« Worauf wir dann ebenfalls in Aufregung geraten und nicht wissen, wie wir mit unserm Boot ausweichen sollen. Die Leute im Dampfboot drängen sich nun auf einen Haufen zusammen und geben uns Anweisungen.

»So fassen Sie doch das Steuer mit der Rechten, Sie Dummkopf! – Nein, zurück mit der Linken! – Nein! Nicht Sie! Der andere Herr! Lassen Sie doch das Steuer fahren! Können Sie nicht das Steuer fahren lassen? So, jetzt ziehen Sie an beiden Seiten! Nicht in der Richtung! O, Sie!«

Dann lassen sie ein kleines Boot von ihrem Schiffe nieder und kommen uns zu Hilfe, und nach einer Stunde mühevoller Arbeit schaffen sie uns aus dem Wege, so daß sie weiterfahren können, und wir bedanken uns recht schön und ersuchen sie, uns ein klein wenig ins Schlepptau zu nehmen. Aber dazu sind sie nicht zu bewegen.

Ein anderes gutes Mittel, die aristokratischen Dampfboote aus der Haut zu ärgern, entdeckten wir darin, daß wir vorgaben, sie für eine Gesellschaft Ladenschwengel und dergleichen zu halten, und sie fragten, ob sie der von Herrn Cubit zusammengetrommelte Ausflüglertrupp seien, oder zu den sogenannten »Tempelherren von Bermondsey« gehörten, und ob sie uns nicht eine Pfanne leihen könnten.

Ältliche Damen, die mit dem Fahren auf dem Flusse nicht vertraut sind, werden beim Begegnen von Dampfbooten immer entsetzlich aufgeregt. Ich erinnere mich, einmal von Staines nach Windsor gefahren zu sein; es ist dies eine Strecke, die an diesen Ungeheuern der Mechanik besonders reich ist; ich hatte drei Damen, auf welche oben erwähnte Bezeichnung paßte, bei mir. Es war recht unterhaltend. Wenn sie von weitem ein Dampfboot erblickten, so bestanden sie darauf, zu landen und sich am Ufer niederzusetzen, bis das Boot wieder außer Sicht war. – Sie sagten, es tue ihnen sehr leid, aber sie seien es ihren Familien schuldig, sich nicht tollkühn in Gefahr zu begeben.

Bei der Hambledon-Schleuse war unser Trinkwasservorrat zu Ende; deshalb nahmen wir unsern Krug und gingen nach dem Hause des Schleusenwärters, um ihn um etwas Wasser zu bitten.

Georg war unser Sprecher. Er zeigte sein gewinnendstes Lächeln und sagte:

»O, bitte, könnten Sie uns vielleicht etwas Wasser überlassen?«

»Gewiß!« erwiderte der alte Mann, »nehmen Sie sich, so viel Sie mögen, und lassen Sie den Rest zurück!«

»O, ich danke Ihnen recht sehr,« murmelte Georg. »Wo haben Sie Ihr Wasser?«

»O, es ist immer am nämlichen Ort, alter Junge,« war die dumme Antwort, »gerade hinter Ihnen.«

»Aber ich sehe keines,« sagte Georg, indem er sich umwandte.

»Aber bei Gott, wo haben Sie denn Ihre Augen?« war des Mannes Erklärung, indem er Georg herumdrehte und den Fluß hinauf- und hinabwies, »da ist doch genug Wasser zu sehen, sollt' ich meinen!«

»O,« sagte Georg, dem nun endlich das Verständnis aufging, »wir können doch den Fluß nicht trinken!«

»Nun, natürlich nicht, aber etwas davon,« antwortete der alte Bursche. »Seit fünfzehn Jahren habe ich nichts anderes getrunken!«

Georg erklärte ihm, daß sein Aussehen durchaus keine glänzende Reklame für die gute Marke sei, er würde immerhin Brunnenwasser vorziehen.

Wir bekamen welches in einem weiter oben gelegenen Häuschen. Ich glaube zwar, daß es auch nur Flußwasser war, aber wir wußten es nicht; daher fanden wir es ganz gut. Was das Auge nicht sieht, das greift den Magen nicht an.

Wir versuchten es noch ein andermal mit dem Flußwasser, aber der Erfolg war kein glänzender.

Wir fuhren den Strom hinab und hatten uns nahe bei Windsor in ein Hinterwasser begeben, um den Tee zu bereiten.

Unser Wasserkrug war leer; der Fall lag daher so, daß wir entweder ohne Tee zu Bett gehen oder Flußwasser dazu nehmen mußten.

Harris war für das letztere. Er meinte, das Wasser würde schon recht werden, wenn wir es kochten. Er sagte, die immer im Wasser enthaltenen Giftkeime würden durch das Sieden getötet. So füllten wir denn unsern Teekessel mit Themsewasser, kochten es und paßten scharf auf, ob es auch wirklich koche.

Unser Tee war fertig, und wir hatten uns eben ganz behaglich niedergesetzt, um ihn zu trinken, als Georg, die Tasse schon beinahe an den Lippen, plötzlich innehielt und ausrief: »Ho! Was ist denn das?«

»Was ist – was?« riefen Harris und ich in einem Atem.

»Nun, das da!« sagte Georg, indem er nach Westen schaute. Harris und ich folgten seinem Blicke und sahen in der schwachen Strömung einen Hund langsam dahertreiben. Es war der ruhigste, friedfertigste Hund, den ich jemals gesehen habe. Nie habe ich einen Hund gesehen, der zufriedener und gelassener aussah. Er schwamm träumerisch auf dem Rücken daher und streckte alle Viere gerade in die Höhe. Es war, wie man zu sagen pflegt, ein wohlgenährter, wohlgebauter Hund. Heran schwamm er, ruhig, würdig, still, bis er in die Nähe unseres Bootes kam; da verlangsamte er seine Fahrt, blieb gemütlich zwischen dem Schilf hängen und begehrte für diesen Abend keine weitere Platzveränderung.

Georg sagte, er wolle heute keinen Tee mehr, und leerte seine Tasse in den Fluß. Harris war auch nicht mehr durstig und folgte seinem Beispiel. Ich hatte meine Tasse schon zur Hälfte leer getrunken, aber ich wünschte, ich hätte es nicht getan! Ich fragte Georg, ob ich nun wohl den Typhus bekommen würde. Er meinte: »O nein!« Er dachte, für diesmal würde ich wohl noch davonkommen; auf jeden Fall würde ich in ungefähr vierzehn Tagen wissen, ob ich ihn hätte oder nicht. In diesem Hinterwasser fuhren wir bis Wargrave hinauf. Es ist dies ein kurzer Kanal, der vom rechten Ufer ungefähr eine halbe Meile oberhalb der Marsh-Schleuse beginnt. Es ist wohl der Mühe wert, diese Strecke zu befahren; denn sie ist gar hübsch und schattig und schneidet überdies noch eine halbe Meile Wegs ab. Natürlich ist die Einfahrt mit Ketten und Pfählen verrammelt; auch sind Tafeln angebracht, die jeden, der da zu rudern wagt, mit allen nur möglichen Folterqualen, Einkerkerung und Tod bedrohen!

Ich wundere mich nur, daß diese Strandräuber nicht auch die Luft auf dem Fluß für sich in Anspruch nehmen und jeden mit mindestens vierzig Schilling Strafe bedrohen, der es wagt, sie zu atmen.

Doch lassen sich ja die Pfähle und Ketten mit etwas Geschick leicht umgehen, und was die Verbottafeln anbelangt, so kann man, wenn es einem auf fünf Minuten Zeit gerade nicht ankommt und niemand um den Weg ist, einige davon herunterreißen und ins Wasser werfen.

Ungefähr auf dem halben Wege hielten wir an, um unser Gabelfrühstück einzunehmen. Bei diesem Frühstück war es, daß Georg und ich plötzlich in furchtbaren Schrecken versetzt wurden. Auch Harris wurde in Schrecken versetzt; aber ich glaube nicht, daß der seinige auch nur halb so schlimm war als der, welchen Georg und ich bei diesem Anlaß empfanden. Das ging so zu: Wir saßen auf einer Wiese, ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt, und hatten uns eben behaglich zum Essen niedergelassen, Harris hatte die Beefsteakpastete zwischen den Knien und wollte sie zerteilen. Georg und ich hielten unsre Teller in Bereitschaft. »Habt ihr vielleicht einen Löffel zur Hand?« fragte Harris; »ich brauche einen Löffel, um die Sauce herauszuschöpfen.« Der Korb war dicht hinter uns; da wandten wir beide, Georg und ich, uns um, um einen Löffel herauszuholen. Darüber waren keine fünf Sekunden vergangen. Als wir uns wieder umwandten, waren Harris und die Pastete verschwunden.

Es war ein weites, offenes Feld. Auf hundert Meter in der Runde war weder ein Baum noch eine Hecke zu sehen. In den Fluß konnte er auch nicht gefallen sein, weil wir dem Wasser näher waren als er, und er über uns hätte hinwegklettern müssen.

Georg und ich schauten uns überall um. Dann sahen wir einander an.

»Hat ihn denn der Himmel zu sich genommen?« fragte ich.

»Aber die Pastete würde er doch schwerlich mitgenommen haben,« meinte Georg.

Dieser Einwurf erschien uns von einigem Gewicht; wir kamen also von dem Gedanken der Himmelfahrt wieder ab.

»Ich glaube,« sagte Georg, der wieder zum Gemeinverständlichen und Natürlichen zurückkehrte, »das Wahrscheinlichste ist, daß ein Erdbeben stattgefunden hat.«

Und dann setzte er mit einer leisen Trauer im Tone hinzu: »Ich wollte, er hätte sich nicht mit dieser Pastete beschäftigt!«

Und mit einem Seufzer wandten wir uns wieder nach der Stelle zurück, wo wir Harris und die Pastete zum letztenmal auf Erden gesehen hatten. Da! das Blut erstarrte uns in den Adern, und die Haare standen uns zu Berg – sahen wir Harris' Kopf, nichts als seinen Kopf aus dem hohen Grase vorstehen, das Gesicht stark gerötet und große Entrüstung ausdrückend.

Georg faßte sich zuerst wieder.

»Sprich! um des Himmels willen!« rief er. »Und sage uns, ob du noch lebst oder schon tot bist. Und sag', wo ist denn dein übriger Mensch?«

»O, sei doch kein so brettdummer Esel,« antwortete Harris' Kopf, »ich glaube, ihr habt es absichtlich getan!«

»Was getan?« fragten Georg und ich zu gleicher Zeit.

»Nun, mich daher sitzen heißen – ein verdammt niederträchtiger Streich! Da, faßt einmal die Pastete!«

Und, wie es uns schien, mitten aus der Erde kam die Pastete heraus, ziemlich mit andern Dingen vermischt und beschädigt, und hinter ihr drein kabbelte Harris, beschmutzt und durchnäßt, heraus. Er hatte sich ahnungslos hart an den Rand eines kleinen Grabens gesetzt, der durch hohes Gras verborgen war und als er sich etwas zurücklehnte, war er hintenüber gepurzelt und mit ihm die Pastete und alles, was er in den Händen hatte. Er sagte, in seinem ganzen Leben sei er niemals so überrascht gewesen, als da er plötzlich den Boden unter sich weichen gefühlt habe, ohne sich auch nur im entfernt geringsten eine Vorstellung von dem, was geschehen war, machen zu können. Er habe gemeint, der Weltuntergang sei da.

Harris glaubt noch bis auf den heutigen Tag, Georg und ich hätten alles zuvor geplant. So folgt ungerechter Verdacht auch dem Allerunschuldigsten! Denn wie sagt der Dichter? »Wer mag der Verleumdung entgehen?« Ja, wer?

*

Nach dem Gabelfrühstück bekamen wir eine Brise, die uns ganz nett über Wargrave und Shiplake hinaus beförderte. In der Kirche zu Wargrave befindet sich der Grabstein einer gewissen Frau Sarah Hill, die ein Legat von 1 Lstrl. (zwanzig Mark) Jahresrente ausgesetzt hat, das an zwei Knaben und zwei Mädchen verteilt werden soll, welche »niemals ihren Eltern ungehorsam waren, niemals geflucht, niemals gelogen, noch gestohlen oder Fenster eingeworfen haben«. Nun bitte ich euch, für fünf Schilling jährlich soll man auf all das verzichten!? Das ist doch wahrhaftig nicht der Mühe wert!

In dem Städtchen erzählt man sich noch heute, daß vor vielen Jahren einmal ein solcher Knabe gelebt habe, der sich niemals eines der oben angeführten Vergehen habe zuschulden kommen lassen, oder – was ebensogut war – von dem wenigstens nichts Derartiges bekannt geworden sei, der somit die Ruhmeskrone erlangt habe.

Er wurde nachher drei Wochen lang unter Glas und Rahmen in der Stadthalle ausgestellt. Was seither aus dem Gelde geworden ist, kann niemand bestimmt angeben. Einige sagen, man habe es immer dem nächsten Wachsfigurenkabinett ausgefolgt.

Bescheidene Landleute und vornehme Städter haben wir bei Henley hinter uns gelassen, und das trübe, schmutzige Reading ist noch nicht erreicht. Dieser Teil des Flusses ist so recht dazu geeignet, von vergangenen Tagen zu träumen, von entschwundenen Gestalten, von all den Plänen, die sich hätten verwirklichen lassen können, und die sich doch nicht verwirklicht haben, hol' sie der Teufel!

In Sonning stiegen wir aus und machten einen Spaziergang durch das Dorf. Es ist dies wirklich der feenhafteste Ort am ganzen Flusse. Er gleicht mehr einem prähistorischen Pfahldorf als einem aus Stein und Mörtel erbauten Dorfe. Jedes Haus wird von Rosen förmlich erstickt, und eben jetzt zu Anfang Juni brachen sie mit all ihrem zauberischen Dufte auf.

Ungefähr eine Stunde lang hielten wir uns in und um Sonning auf, und da es dann zu spät war, um noch nach Reading zu gelangen, beschlossen wir, nach einer der Shiplake-Inseln zurückzufahren und dort zu übernachten. Es war noch ziemlich früh, als wir dort anlangten, weshalb Georg meinte, da wir jetzt genügend Zeit dazu hätten, so könnten wir die Gelegenheit benutzen, uns ein ordentliches, vollständiges Abendessen zu bereiten. Er sagte, er wolle uns einmal zeigen, was man auf einer Flußfahrt in der höheren Kochkunst zu leisten imstande sei, und machte den Vorschlag, wir sollten mit den Gemüsen, den Überresten von kaltem Roastbeef und den verschiedenen sonstigen Überbleibseln ein »Irish Stew« anfertigen.

Die Idee entzückte uns. Georg las etwas Holz zusammen und zündete ein Feuer an; Harris und ich machten uns daran, die Kartoffeln zu schälen. Ich hätte niemals geglaubt, daß das Kartoffelschälen ein so schmieriges Geschäft sei. Die Sache erwies sich in der Folge als eine der schwersten Unternehmungen, in welche ich jemals verwickelt war. Je mehr wir schälten, desto mehr Haut schien an den Kartoffeln hängen zu bleiben; und als wir endlich alle Schalen und alle Augen weg hatten, da war von der Kartoffel nichts mehr übrig, d. h. so gut wie nichts mehr. Georg kam herzu und schaute die Sache an. Es war ein ungefähr haselnußgroßes Stück übrig. »Oho!« sagte er, »das geht so nicht. Ihr verderbt ja alles! Ihr müßt sie schaben!«

So schabten wir sie nun, aber das war ein noch weit schwierigeres Unternehmen als das Schälen. Sie haben eine so eigentümliche Form, die Kartoffeln, lauter Berge und Täler und Auswüchse. Wir arbeiteten ohne aufzuschauen volle fünfundzwanzig Minuten und brachten vier Kartoffeln fertig. Dann streikten wir und erklärten Georg, den Rest des Abends würden wir brauchen, um uns selbst zu schaben. Es ist doch nichts so geeignet, aus einem anständigen Menschen einen schmutzigen Kerl zu machen, als das Kartoffelschälen. Es war kaum glaublich, daß die Kartoffelabfälle, in welchen Harris und ich, halb erstickt, standen, von nur vier Kartoffeln herrühren sollten. Ein Beweis dafür, was nicht alles mit Sparsamkeit erreicht werden kann.

Georg sagte, es sei lächerlich, nur vier Kartoffeln zu einem »Irish Stew« nehmen zu wollen; so wuschen wir noch ein halbes Dutzend und fügten sie ungeschält hinzu. Weitere Zutaten waren ein Kohlkopf und eine Schüssel voll Erbsen. Georg rührte das alles untereinander, und dann meinte er, die Backschüssel sei noch lange nicht voll. So kehrten wir denn die Körbe um, lasen alle Überbleibsel und alles, was dazu zu passen schien, aus und steckten es auch noch hinein. Es war noch eine halbe Schweinspastete und etwas gekochter Speck da; das wurde auch sofort hineingemengt. Dann fand Georg noch eine zur Hälfte gefüllte Büchse mit Lachskonserve und leerte sie noch dazu.

Er sagte, das sei eben der Vorteil bei einem Irish Stew, daß man da all die alten Sachen los werde. Ich fischte noch ein paar zerbrochene Eier auf, die wir auch noch beifügten. Georg meinte, das werde die Tunke gehörig dick machen. Was wir sonst noch alles hineinmengten, weiß ich heute nicht mehr; nur das weiß ich, daß nichts weggeworfen wurde; auch erinnere ich mich, daß Montmorency, der den ganzen Vorgang aufmerksamen Auges verfolgt hatte, gegen Ende desselben mit ernsthafter, gedankenvoller Miene davontrollte – und ein paar Minuten später mit einer toten Wasserratte in der Schnauze wiederkehrte, welche er augenscheinlich als seinen Beitrag zur Mahlzeit darbringen wollte; – ob es in einem Anflug von Sarkasmus geschah, oder ob er wirklich von dem aufrichtigen Wunsch zu helfen beseelt war, vermag ich nicht zu sagen.

Wir berieten darüber, ob die Ratte auch noch in das Gericht aufgenommen werden sollte oder nicht. Harris meinte, es könnte nicht schaden, wenn sie unter die anderen Zutaten gemischt würde, man müsse für jeden Beitrag zur Mahlzeit dankbar sein; aber Georg wehrte sich dagegen.

Er sagte, in seinem Rezept zur Bereitung von Irish Stew stehe nichts von Wasserratten; er wolle lieber den Sicheren spielen und keine unnützen Versuche machen.

Harris meinte: »Wenn man niemals etwas Neues versucht, wie soll man da wissen, was daraus werden kann? Solche Geschöpfe wie du, Georg, hemmen den Fortschritt der Menschheit. Denkt doch nur jenes großen Mannes, der zuerst deutsche Würste erfand!«

Auf unser »Irish Stew« aber können wir stolz sein. Ich glaube nicht, daß mir jemals eine Mahlzeit besser gemundet hat! Es war etwas so Frisches, Pikantes daran! Der Gaumen wird zuletzt der gewöhnlichen, landläufigen Gerichte überdrüssig. Hier hatten wir ein Gericht mit einer ganz neuen, nichts auf der Welt vergleichbaren Würze vor uns. Und obendrein war es auch recht nahrhaft; war doch, wie Georg sich ausdrückte, »etwas Ordentliches« darin. Die Erbsen und die Kartoffeln hätten allerdings etwas weicher sein dürfen, aber wir hatten ja alle gute Zähne, und so machte das nicht viel aus; und was die Tunke anbelangte – ah, die war »glanzreich, duftig, stillverklärt wie erste Liebe!«, für einen schwachen Magen vielleicht etwas allzu würzig, aber nahrhaft!

Wir beschlossen unser Mahl mit Tee und Kirschtorte. Montmorency war inzwischen mit dem Teekessel in Streit geraten und dabei schlecht weggekommen. Während des ganzen Ausflugs hatte er in bezug auf den Teekessel große Neugierde an den Tag gelegt. Wenn man ihn (nicht den Hund, sondern den Kessel) aufs Feuer brachte, so pflegte Montmorency sich dazuzusetzen und ihn mit mißtrauischen Blicken zu beobachten und dann und wann durch ein kurzes Gebell aus seiner Ruhe aufzustören. Als jener nun zu summen und zu dampfen anfing, betrachtete er dies als eine Herausforderung zum Kampf, die er sofort annehmen wollte. Aber in diesem Augenblick pflegte regelmäßig jemand herbeizuspringen und ihm seine Beute vor der Nase wegzuschnappen.

Heute war er fest entschlossen, schneller bei der Hand zu sein. Beim ersten Laut, den der Kessel von sich gab, sprang er auf und stellte sich kampfbereit und laut bellend ihm gegenüber. Es war nur ein kleiner Kessel; aber er war voll Mut und Feuer; er dampfte und spie nach ihm.

»Ah! Wart', ich will dir« – grollte Montmorency, die Zähne fletschend. »Ich will dich Mores lehren! Meinst du, ein hart arbeitender, ehrenwerter Hund lasse sich so von dir behandeln? Du elender, langnasiger, schmutziger Schuft! Nur mal ran!«

Und er stürzte wie ein Drache auf den armen kleinen Kessel los und faßte ihn bei der Schnauze.

Da ertönte plötzlich durch die Abendstille ein langgezogenes, unser Blut erstarrenmachendes Geheul, und Montmorency verließ das Boot und rannte mit einer Eile von fünfunddreißig Meilen die Stunde dreimal um die Insel, indem er dann und wann anhielt, um seine Nase in eine kühlende Pfütze zu stecken. Von der Zeit an betrachtete Montmorency den Teekessel mit einem Gemisch von Ehrfurcht, Mißtrauen und Haß. So oft er ihn sah, knurrte er und zog sich mit eingezogenem Schwanz rasch zurück. Aber sobald der Kessel ans Feuer gesetzt wurde, pflegte er geschwind aus dem Boot zu klettern und am Ufer sitzen zu bleiben, bis das ganze Teegeschäft zu Ende war.

Nach dem Abendessen zog Georg sein Banjo aus dem Futteral und wollte spielen; aber Harris widersetzte sich; er sagte, er habe Kopfschmerz und könne die Musik nicht ertragen. Georg meinte, die Musik würde ihm im Gegenteil gut tun; denn oft besänftige sie die aufgeregten Nerven und vertreibe die Kopfschmerzen; und er klimperte ein paar Noten, nur um Harris zu zeigen, wie es klinge. Harris meinte, er wolle lieber seine Kopfschmerzen haben.

Georg hatte bis auf den heutigen Tag nicht gelernt, das Banjo zu spielen. Auf allen Seiten ist er nichts als Schwierigkeiten begegnet. Er versuchte während unserer Flußfahrt, an zwei oder drei Abenden, sich ein wenig zu üben, aber es wollte nie recht gelingen. Harris' Ausdrucksweise genügte vollständig, um den stärksten Charakter seinen Entschlüssen untreu werden zu lassen; dazu kam noch, daß Montmorency während des Vortrags jederzeit ein furchtbares Geheul anhob. Das hieß doch wahrhaftig dem Manne keine Ermutigung zur Selbstentfaltung geben. »Was braucht das Vieh so zu heulen, wenn ich spiele!« konnte Georg entrüstet ausrufen, während er mit einem Stiefel nach ihm zielte. »Was brauchst du so zu spielen, wenn der Hund heult?« kam von Harris die Gegenfrage, indem er den daherfliegenden Stiefel auffing. »Laß du mir den Hund in Ruhe. Er kann nichts dafür, er muß heulen. Er ist musikalisch veranlagt, und dein Spiel macht ihn heulen!«

So beschloß denn Georg, die Banjostudien aufzugeben, bis er wieder nach Hause käme. Aber auch da wurde ihm nicht viel Gelegenheit dazu. Frau Poppets kam dann wohl herauf und erklärte, es tue ihr zwar sehr leid – denn sie selbst liebe die Musik – aber die Dame im oberen Stock sei großer Schonung bedürftig, und der Doktor befürchte, es könne dem Kinde schaden.

Dann versuchte Georg, das Banjo spät abends mitzunehmen und auf dem freien Platze nebenan sein Heil zu probieren. Aber die Anwohner beklagten sich bei der Polizei, und eines Abends wurde er von einer ihm auflauernden Wache abgefaßt. Der Tatbestand zeugte klar gegen ihn; er mußte geloben, sechs Monate lang Frieden zu halten.

Nach diesem Erlebnis verging ihm der Mut, das Geschäft weiter zu betreiben; er machte zwar nach Ablauf dieser sechs Monate noch einige schwache Versuche; aber er begegnete immer derselben kühlen Aufnahme, demselben Mangel an Verständnis und Mitgefühl von seiten der Welt.

Nach einiger Zeit verzweifelte er gänzlich an jedem Erfolge und setzte das Instrument mit bedeutendem Schaden zum Verkauf aus – »da kein Gebrauch mehr von selbigem gemacht werde,« – und lernte dann anstatt Banjo spielen – Kartenkunststücke! Ja, ja, es muß schon etwas entmutigend sein, das Erlernen eines Instruments! Man sollte denken, die Gesellschaft sollte in ihrem eigenen Interesse einen Menschen, der ein Instrument spielen lernen will, in jeder Weise unterstützen – aber sie tut's nicht!

*

Ich kannte einen jungen Mann, der das Dudelsackblasen lernen wollte; es ist wahrhaft erstaunlich, welchem Widerstande er dabei auf allen Seiten begegnete. Nicht einmal bei seiner eigenen Familie fand er die nötige tatkräftige Unterstützung. Sein Vater war von Anfang an taub gegen diese Musik und sprach über den Gegenstand in ganz roher, gefühlloser Weise. Mein Freund wollte die frühen Morgenstunden zu seinen Übungen benutzen; aber er mußte den Plan aufgeben seiner Schwester wegen. Diese hatte einen etwas religiösen Hang und sagte, es sei doch furchtbar gottlos, den Tag so zu beginnen.

So blieb er denn bei Nacht auf und fing an zu spielen, nachdem die Familie zu Bett gegangen; aber das ging auch nicht; denn das Haus kam dadurch in so üblen Ruf.

Späte Nachhausegänger hielten davor an, um zu horchen, und sprengten den andern Morgen das Gerücht durch die Stadt, in der letzten Nacht müsse in Herrn Jeffersons Hause ein schrecklicher Mord begangen worden sein; denn man habe das Geschrei des Opfers und die gräßlichen Flüche und Verwünschungen des Mörders und dazwischen die Bitten um Schonung und das letzte Röcheln des Sterbenden von außen gehört!

So ließ man ihn denn während des Tages in der abgelegenen Waschküche seine Übungen machen, nachdem alle Fenster und Türen verschlossen worden waren; aber die Passagen, die ihm besser gelangen, konnten gewöhnlich trotz dieser Vorsichtsmaßregeln im Wohnzimmer vernommen werden und brachten seine Mutter bis zu Tränen.

Sie sagte, es erinnere sie an ihren armen seligen Vater (der seinerzeit beim Baden an der Küste von Neu-Guinea von einem Haifisch verschlungen worden war); woher ihr diese Ideenverbindung kam, konnte sie zwar nicht angeben. Dann zimmerte man ihm ein kleines Gehäuse in der Ecke des Gartens zurecht, ungefähr zehn Minuten vom Hause entfernt, und hieß ihn seine Maschine dorthin schaffen und dort bearbeiten, wenn er das Bedürfnis danach empfinde; aber manchmal pflegte ein Besuch ins Haus zu kommen, der nichts von der Sache wußte und den man darauf vorzubereiten versäumt hatte; ging der dann im Garten spazieren und kam nun auf einmal in Hörweite dieses Dudelsacks, dann mußte es schon ein besonders starker Mann sein, wenn er nur einen Nervenzufall bekam; aber Personen von nicht mehr als gewöhnlichem Verstand konnten denselben bei dieser Gelegenheit völlig einbüßen.

Es ist – ich muß es gestehen – etwas Trauriges um die ersten Versuche eines Dudelsackbläsers. Ich habe das selbst empfunden, wenn ich meines jungen Freundes Versuchen zuhörte.

Es schien mir ein äußerst schwer zu spielendes Instrument. Man muß, ehe man zu blasen anfängt, erst Atem für das ganze Lied holen; so kam es mir wenigstens vor, wenn ich meinem Freunde Jefferson zuschaute. – Er konnte prachtvoll mit einem wilden, vollen, einem Schlachtruf ähnlichen Ton einsetzen, der einen völlig fortriß; aber im Verlauf des Vortrages ward ein immer schwächeres Piano daraus, und mitten im letzten Satz brach er plötzlich mit einem schrillen Pfeifen ab.

Wer den Dudelsack blasen will, der muß eine robuste Gesundheit haben. – Der junge Jefferson brachte es überhaupt nur zu einer Melodie auf dem Dudelsack; gleichwohl hörte ich niemals eine Klage darüber, daß sich sein Repertoire nicht weiter erstrecke. Das einzige Lied, das er blasen konnte, war: »Die Campbells kommen – Hurra! Hurra!« Wenigstens behauptete der junge Jefferson, daß es dieses Lied sei, das er blase; aber sein Vater behauptete stets, es sei: »Die blauen Glocken von Schottland«. Niemand war ganz sicher, was es eigentlich wäre; aber alle stimmten darin überein, daß es schottisch klinge. Den Fremden erlaubte man, dreimal zu raten, und gewöhnlich riet jeder jedesmal etwas anderes.

Nach dem Abendessen war Harris ziemlich schlecht aufgelegt. Ich vermute, daß ihm das Irish Stew zu schaffen machte; er ist eben die feinere Küche nicht gewöhnt; daher ließen wir – Georg und ich – ihn an Bord und stiegen aus, um einen Wandel nach Henley zu machen. Harris meinte, er wolle sich ein Glas Whisky und eine Pfeife gönnen und unser Boot für die Nacht zurüsten. Wir sollten ihm bei unserer Zurückkunft zurufen, dann wolle er von der Insel herüberrudern und uns abholen.

»Aber daß du uns ja nicht einschläfst, alter Bursche,« sagten wir ihm noch zum Abschied.

»Das hat keine Gefahr,« erwiderte Harris, »solange ich das Irish Stew im Leibe habe,« und schiffte brummend zurück.

Henley machte sich zur Regatta[Fußnote: In Henley finden alljährlich die großen Ruderregatten statt, ein Ereignis, das in ganz England schon wochenlang zuvor das Tagesgespräch bildet.] bereit und war voll Leben.

Unter den angekommenen Gästen trafen wir eine Menge alter Bekannter, in deren angenehmer Gesellschaft uns die Zeit schnell verging, so daß es nahezu elf Uhr war, als wir unsern vier Meilen weiten Rückweg von der Stadt zu unserem »Heim«, wie wir jetzt unser kleines Fahrzeug zu nennen pflegten, antraten.

Es war eine ungemütliche Nacht; ein feiner Regen fiel hernieder; und als wir so durch die dunkeln, stillen Wiesen dahintrabten, uns leise miteinander unterhielten und ungewiß waren, ob wir uns wohl auf dem richtigen Wege befänden oder nicht, dachten wir unseres behaglichen Bootes mit seinem durch die festgezogene Leinewand durchschimmernden Lampenlicht. Wir dachten an Harris und Montmorency und an den Whisky und wünschten, wir wären an Bord.

Wir beschworen vor unseres Geistes Auge das Bild unseres lieben, trauten Bootes herauf, wie es, ein riesiger Glühwurm, aus dem trüben Wasser unter den überhängenden Bäumen hervorschimmert. Drinnen behagliche Wärme und freundliche Helle, und wir selbst darin, ein wenig hungrig und müde. Wir bildeten uns ein, wir säßen beim Abendessen, ließen uns den kalten Braten trefflich munden und reichten uns gegenseitig riesige Stücke Brot; wir hörten das freundliche Klirren unsrer Messer und Gabeln, unsre lachenden Stimmen, die in der Stille der Nacht hinausdrangen, und beeilten uns, die Vision zur Wahrheit zu machen.

Endlich erreichten wir den Leinpfad, und das machte uns ganz glücklich – vorher hatten wir in der Tat nicht mehr gewußt, ob wir uns dem Flusse näherten oder uns von ihm entfernten; wenn man müde ist und gern zu Bett gehen möchte, regt einen eine derartige Ungewißheit etwas auf. Wir kamen an Shiplake vorbei, als die Turmuhr eben dreiviertel auf zwölf schlug. Da sagte Georg nachdenklich: »Erinnerst du dich wohl, an welcher der Inseln wir vor Anker gingen?« »Nein,« erwiderte ich, indem ich nun auch nachdenklich wurde, »ich erinnere mich nicht. Wie viele Inseln sind es denn?« »Bloß vier,« antwortete Georg, »wir finden uns sofort zurecht, wenn er noch wach ist!« »Aber wenn nicht, was dann?« fragte ich; doch unterließen wir, uns auf die Frage Antwort zu geben. Wir riefen aus Leibeskräften, als wir zu der ersten Insel kamen – aber da war keine Stimme noch Antwort; so gingen wir in die Nähe der zweiten – aber mit demselben Erfolg.

»O, jetzt erinnere ich mich,« sagte Georg, »es war die dritte.«

Hoffnungsvoll rannten wir nach der dritten und ließen unser Hallo ertönen.

Keine Antwort!

Jetzt wurde der Fall wirklich ernst! – Es war nun Mitternacht vorüber. Die Hotels in Shiplake und Henley waren mittlerweile sicherlich überfüllt, und wir konnten doch nicht wohl mitten in der Nacht von Haus zu Haus gehen und um ein Zimmer anfragen. Georg schlug als Auskunftsmittel vor, wir sollten zurück nach Henley gehen, dort einen Polizeidiener angreifen, und auf diese Weise freies Quartier auf der Polizeistation erlangen. Aber dann war die Frage, ob er uns am Ende nicht bloß zurücktreiben und sich weigern würde, uns einzusperren. Wir konnten uns doch nicht die ganze Nacht mit dem Polizisten herumschlagen! Überdies hegten wir kein Verlangen, die Sache auf die Spitze zu treiben und schließlich sechs Monate lang brummen zu müssen. In der Verzweiflung versuchten wir es noch mit dem, was wir für die vierte Insel hielten, aber ohne besseren Erfolg. Der Regen fiel nunmehr reichlicher und schien recht andauernd werden zu wollen. Wir waren naß bis auf die Haut und fühlten uns kalt und elend. Nachgerade waren wir auch im Zweifel, ob es wirklich nur vier Inseln seien, und ob wir uns wohl in deren Nähe befänden, oder ob wir überhaupt nach der Gegend gegangen seien, nach der wir strebten; ob wir uns nicht nach einem ganz anderen Teil des Flusses verirrt hätten, so fremd und seltsam erschien uns alles in der Dunkelheit. Wir begriffen jetzt, was die »Kinder im Walde« ausgestanden haben müssen.

Doch als wir schon alle Hoffnung aufgegeben hatten – ja, ich weiß wohl, das ist in Romanen und Novellen immer der Augenblick, in dem dann das rettende Ereignis eintritt – aber ich kann's nicht ändern; als ich dies Buch zu schreiben anfing, gelobte ich mir, in allen Dingen streng bei der Wahrheit zu bleiben, und so soll es sein, und wenn ich dabei auch abgedroschene Phrasen anwenden müßte.

Wir hatten wirklich und wahrhaftig schon alle Hoffnung aufgegeben; ich kann mich daher nicht anders fassen.

Als wir dann gerade alle Hoffnung aufgegeben hatten, da glaubte ich plötzlich in der Ferne einen eigentümlich schaurigen Lichtschimmer zu gewahren, der zwischen den Bäumen des entgegengesetzten Ufers hervorzubrechen schien. Einen Moment lang dachte ich an Geister; denn es war ein solch schattenhaftes, unheimliches Licht. Aber im nächsten Augenblick durchzuckte mich der Gedanke, daß das unser Boot sein könnte. – Da schickte ich einen solch gellenden Ruf über das Wasser hin, der die Nacht selbst hätte aus ihrer Ruhe erwecken können. Eine Minute lang warteten wir in atemloser Spannung. Dann – o du himmlische Musik in der Dunkelheit – hörten wir das antwortende Gebell Montmorencys. Wir brüllten jetzt zusammen, laut genug, um die Siebenschläfer zu erwecken; ich habe übrigens nie verstehen können, warum es mehr Lärm brauchen sollte, um sieben Schläfer zu erwecken, als für einen einzigen. Da, es schien uns eine Stunde zu währen, in Wahrheit mögen es etwa fünf Minuten gewesen sein, da sahen wir das erleuchtete Boot langsam über die dunkle Wasserflut daherschweben und hörten Harris' verschlafene Stimme fragen, wo wir seien.

Es war etwas unerklärlich Seltsames in Harris' Wesen; es war mehr als seine gewöhnliche Schläfrigkeit. Er ruderte das Boot an eine Stelle des Ufers, an welcher es uns ganz unmöglich war einzusteigen – und schlief dann sofort wieder ein. Wir brauchten ein unendliches Gebrüll, um ihn wieder aufzuwecken und ihm etwas Verstand beizubringen; doch zuletzt gelang es uns, und wir kamen sicher an Bord.

Wir bemerkten jetzt, daß Harris' Gesicht einen sonderbar traurigen Ausdruck hatte. Er sah aus wie ein Mensch, der Schweres durchgemacht hat. Wir fragten ihn, ob ihm irgend etwas passiert sei. Er antwortete: »Schwäne.«

Wir hatten uns, wie es schien, in der Nähe eines Schwanennestes vor Anker gelegt, und bald nach meinem und Georgs Abgang war die Schwanenmutter heimgekehrt und hatte sofort einen Skandal darüber angefangen. Harris hatte sie davongejagt; da war sie gegangen, den Herrn Gemahl herbeizuholen.

Mit diesen zwei Schwänen, erzählte Harris weiter, habe er eine wirkliche Schlacht gehabt, aber Mut und Geschicklichkeit hätten am Ende obgesiegt, und er habe sie abgetrieben. Eine halbe Stunde später seien sie dann mit achtzehn weiteren Schwänen zurückgekehrt. Es muß ein furchtbarer Kampf gewesen sein, soviel wir aus Harris' Bericht entnehmen konnten. Die Schwäne hatten versucht, das Boot zu kentern und ihn und Montmorency zu ertränken; und er hatte wie ein Held vier Stunden lang alle Angriffe abgeschlagen und das ganze feindliche Heer unschädlich gemacht, so daß sie schließlich davongeschwommen seien, um zu sterben.

»Wieviel Schwäne, sagtest du, waren da?« fragte Georg.

»Zweiunddreißig,« gab Harris schläfrig zurück.

»Aber gerade vorhin sagtest du doch achtzehn,« sagte Georg.

»Nein, so sagte ich nicht,« brummte Harris, »ich sagte zwölf, meinst du denn, ich könne nicht zählen?«

Wie es sich in der Tat mit diesen Schwänen verhielt, das konnten wir nie ausfindig machen. Als wir Harris am andern Morgen über die Sache befragten, antwortete er: »Was für Schwäne?« Er glaubte augenscheinlich, es habe Georg und mir geträumt.

O, wie köstlich war es nun, nach all unsern nächtlichen Gefahren und Abenteuern sicher und wohlgeborgen im Boot zu sein! Wir aßen noch herzhaft zu Nacht. Georg und ich hätten uns nachher gerne noch einen Grog gemacht, wenn wir die Whiskyflasche hätten finden können, aber wir fanden sie nicht. Wir fragten Harris, wo er sie denn hingesteckt habe, aber er schien nicht zu begreifen, was wir mit dem Worte Whisky bezeichnen wollten, oder wovon wir überhaupt sprachen. Montmorency schaute drein, als ob er etwas davon wüßte, aber er sagte nichts.

Ich schlief recht gut in jener Nacht und hätte noch besser geschlafen, wenn Harris nicht gewesen wäre. Ich habe noch eine dunkle Erinnerung, daß ich mindestens zwölfmal von Harris, der die ganze Nacht mit der Laterne in der Hand im Boot hin und her wanderte und seine Kleider suchte, aufgeweckt wurde. Er schien wegen seiner Kleider in Unruhe zu sein. Zweimal störte er Georg und mich auf, um nachzusehen, ob wir nicht auf seinen Beinkleidern lägen. Beim zweitenmal wurde Georg fuchsteufelswild: »Was zum Donner brauchst du jetzt mitten in der Nacht deine Hosen?« fuhr er ihn an, »warum legst du dich denn nicht aufs Ohr und schläfst?«

Das nächstemal, als er mich aufweckte, war er auf der Suche nach seinen Socken; das letzte, dessen ich mich noch dunkel erinnere, ist, daß er mich auf die Seite drehte, und ich ihn murmeln hörte, er möchte doch zum Kuckuck wissen, wo sein Regenschirm hingekommen sei.

*

Ungefähr um elf Uhr bekamen wir Reading in Sicht. Der Fluß ist hier trübe und schmutzig. Um Reading herum hält man sich nicht gern lange auf. Die Stadt selbst ist ein berühmter alter Ort, der schon in den sagenhaften Zeiten des Königs Ethelred bestanden haben soll, als die Dänen mit ihren Kriegsschiffen in Kennet vor Anker lagen und von Reading aus die ganze Grafschaft Wessex verheerten; aber hier kämpften Ethelred und sein Bruder Alfred gegen sie und besiegten sie in gemeinschaftlicher, redlich geteilter Arbeit – Ethelred besorgte das Beten und Alfred das Fechten. In späteren Jahren scheint Reading als ein angenehmer Zufluchtsort betrachtet worden zu sein, wenn einem das Pflaster in London zu heiß geworden war.

Namentlich das Parlament ging gern dahin, wenn in Westminster[Fußnote: Das Parlamentsgebäude steht im Stadtteil Westminster.] eine Seuche ausgebrochen war, und im Jahre 1625 zog sich der ganze Gerichtshof dahin, weshalb alle Gerichtssitzungen dort gehalten wurden. Damals muß es noch der Mühe wert gewesen sein, eine kleine Seuche in London zu haben, wenn man dadurch alle Advokaten und das ganze Parlament auf einmal los wurde.

Bei der Readingschleuse trafen wir mit einem Dampfboot zusammen, das ein paar Freunden von mir gehörte; sie nahmen uns bis Streatley hinauf ins Schlepptau.

Von einem Dampfboot gezogen zu werden, ist ein Göttervergnügen. Es ist mir sogar noch lieber als das Rudern.

Die Fahrt würde noch himmlischer gewesen sein, wenn nicht so eine verdammte Rotte von kleinen Booten beständig unserem Schiff in den Weg gekommen wäre, so daß wir, um sie nicht in den Grund zu bohren, unaufhörlich ausweichen oder anhalten mußten.

Es ist wirklich höchst ärgerlich, in welch widerwärtiger Weise diese kleinen Ruderboote den Dampfbooten das Leben sauer machen; es sollte sicherlich etwas geschehen, um diesem Unfug Einhalt zu tun. Und sie sind zu alledem noch so verdammt unverschämt. Man kann pfeifen, bis beinahe der Kessel platzt, ehe es ihnen beliebt, aus dem Wege zu gehen. Wenn es nach mir gegangen wäre, so hätten wir hier und da ein solches Satansboot in den Grund gebohrt, nur um sie ein bißchen Mores zu lehren.

Etwas oberhalb Reading wird der Fluß wieder sehr reizend.

Meiner Freunde Dampfboot überließ uns nun wieder unserm Schicksal.

Da wollte Harris herausgefunden haben, daß jetzt die Reihe zu rudern wieder an mir sei. Das schien mir eine völlig unbegründete Behauptung. Wir waren doch am Morgen dahin übereingekommen, daß ich das Boot etwa drei Meilen über Reading hinaufzubringen habe.

Und nun waren wir hier etwa zehn Meilen oberhalb Reading. Was konnte klarer sein, als daß nun wieder an ihnen die Reihe war.

Aber ich konnte weder Georg noch Harris dahin bringen, die Sache in ihrem wahren Lichte zu betrachten; um weitere Erörterungen abzuschneiden, ergriff ich daher die Ruder.

Kaum hatte ich eine Minute lang gerudert, als Georg etwas Schwarzes im Wasser dahertreiben sah. Wir steuerten darauf los, und Georg lehnte sich über, um es zu erfassen, aber mit einem Schrei und mit geisterbleichem Gesicht fuhr er zurück.

Es war die Leiche einer Frau, die vom Wasser getragen wurde; sie hatte ein zartes und ruhiges Antlitz.

Schön war das Gesicht nicht; dazu sah es zu früh gealtert, zu schmal und hager aus; aber es war ein sanftes, liebes Gesicht, trotz der deutlichen Spuren von Armut und Sorge; und ein Ausdruck von Ruhe und Frieden lag darauf, wie er mitunter bei Sterbenden wahrgenommen wird, wenn der letzte Schmerz überwunden ist.

Zum Glück für uns, denn wir hätten uns nicht gerne vor den Leichenschauer zitieren lassen, ein Zeugnis abzulegen – hatten einige Leute am Ufer den Körper auch gesehen und kamen nun, ihn in gerichtliche Verwahrung zu bringen.

Später wurde uns die Geschichte jener Frau erzählt. Es war das alte, alte, traurige Lied. Sie hatte geliebt und war dann getäuscht worden, oder hatte selbst getäuscht. Jedenfalls hatte sie gesündigt – zuweilen kommt das vor – da wurden ihr die Türen ihrer natürlich tief entrüsteten Familie und der Bekannten verschlossen.

Allein im Kampf mit der Welt, mit dem Schwergewicht ihrer Schande beladen, war sie immer tiefer gesunken. Eine Zeitlang hatte sie den Unterhalt für sich und das Kind mit dem kargen Lohn einer harten zwölfstündigen Arbeit verdient.

Aber sechs Schilling die Woche wollen nicht recht ausreichen, Seele und Leib zusammenzuhalten; sie wollen auseinander, wenn nur ein so schwaches Band sie verbindet; eines Tags muß wohl der Schmerz und das ganze Elend ihrer Lage lebhafter als gewöhnlich ihr vor Augen gestanden und das drohende Gespenst sie erschreckt haben.

Noch eine letzte verzweiflungsvolle Bitte hatte sie an die Ihrigen gerichtet; aber an der kalten Mauer ihrer Wohlanständigkeit prallte die Stimme der irrenden Ausgewiesenen ungehört ab; dann war sie zu ihrem Kinde gegangen, hatte es in einer absonderlich müden und dumpfen Stimmung in den Armen gehalten und geküßt; dann hatte sie es verlassen, nachdem sie ihm ein Zehnpfennigbüchschen mit Schokolade, das sie ihm gekauft, ins Händchen gesteckt; hierauf hatte sie mit ihrem letzten Gelde eine Fahrkarte nach Goring gekauft.

Es schien, daß die bittersten Erinnerungen ihres Lebens mit den waldigen Hängen und lichtgrünen Wiesen um Goring verknüpft gewesen sein müssen. Aber sonderbar! Die Frauen drücken das Messer, das sie durchbohrt, liebevoll an die Brust, und vielleicht mögen sich zu all den bitteren auch sonnige Erinnerungen von süßen Stunden, die in diesen schattigen Gründen unter den hohen Bäumen verlebt wurden, gedrängt haben. So war sie in dem Gehölze am Flußrand den ganzen Tag umhergewandert; und als nun der Abend kam und das graue Zwielicht sein dämmeriges Gewand über die Wasserfläche ausbreitete, da streckte sie ihre Arme aus nach dem stillen Flusse, der um ihren Kummer und ihre Freude gewußt hatte. Und der alte Fluß hat sie in seinen sanften Arm genommen, ihr müdes Haupt an seine Brust gelegt und allen Schmerz von ihr genommen.

So hatte sie gesündigt, im Leben und im Sterben gesündigt! Gott sei ihr gnädig, ihr und allen andern Sündern – sofern es deren noch andere gibt!

Goring auf dem linken und Streatley am rechten Ufer sind beides reizende Orte, in denen man sich gern ein paar Tage aufhält. Die Talgründe hinab nach Pangbourne laden einen förmlich ein zu einer Segelfahrt beim hellen Sonnenschein oder zu einer Ruderfahrt beim sanften Mondlicht, denn ringsumher ist die Landschaft wunderbar schön. Wir hatten beabsichtigt, an diesem Tage noch bis Wallingford zu rudern, aber das süße, lächelnde Antlitz des Flusses verlockte uns, noch eine Weile hier zu säumen; wir ließen unser Boot an der Brücke, gingen hinauf nach Streatley und frühstückten im »Ochsen«, worüber Montmorency sehr zufrieden war.

Goring ist bei weitem nicht so hübsch zum Verweilen wie Streatley, aber das Städtchen ist in seiner Art auch nicht übel und hat den Vorteil, näher bei der Eisenbahn zu liegen für den Fall, daß man sich aus dem Staube machen möchte, ohne seine Hotelrechnung bezahlt zu haben.

*

In Streatley blieben wir zwei Tage und ließen unsere Sachen waschen. Wir hatten versucht, sie unter Georgs Oberaufsicht selbst zu waschen, hatten aber dabei Fiasko gemacht. Es war in der Tat ein jämmerliches Fiasko; denn nach der Wäsche waren wir schlimmer daran als zuvor. Ehe wir sie gewaschen hatten, waren unsere Kleider allerdings sehr, sehr schmutzig gewesen, aber man konnte sie doch noch tragen. Aber nachdem wir sie gewaschen hatten – nun um es kurz zu sagen, der Fluß zwischen Reading und Henley war nach unserer Wäsche viel sauberer als zuvor! Allen Schmutz, den das Wasser zwischen diesen beiden Orten enthielt, sammelten und saugten und wirkten wir in unsere Kleider hinein.

Die Waschfrau in Streatley sagte, sie sei es sich unbedingt schuldig, das Dreifache des gewöhnlichen Preises für diese Wäsche zu fordern. Sie meinte, das sei keine Wäsche mehr gewesen, sondern schon mehr eine Art Ausgrabung.

Wir bezahlten die Rechnung ohne Murren.

Die Nachbarschaft von Streatley und Goring ist ein Hauptpunkt fürs Fischen. Es läßt sich hier wirklich ausgezeichnet gut fischen. Der Fluß enthält eine Menge Hechte, Rochen, Weißfische, Gründlinge und Aale, und man kann ganze Tage dasitzen und fischen. Es gibt auch Leute, die das tun. Aber sie fangen niemals Fische! Ich habe die Themse entlang noch niemand kennen gelernt, der etwas anderes fing als Elritzen und tote Katzen; aber das hat doch mit der Fischerei nichts zu schaffen und ist doch nicht der Zweck des Fischens!

Auch sagt der »Führer für Fischer auf der Themse« kein Wort über das Fischefangen! Alles, was er sagt, ist: »Die Gegend ist ausgezeichnet zum Fischen geeignet,« und soviel ich von ihr gesehen habe, kann ich diese Mitteilung nur bestätigen.

Es gibt gewiß keinen Ort in der Welt, wo man sich besser dem Fischen hingeben, oder wo man länger dabei verweilen möchte. Manche Fischer kommen hierher und fischen einen Tag, andere fischen einen Monat lang. Man kann aber auch ein ganzes Jahr hier mit Fischen verbummeln – das Resultat wird immer dasselbe – nämlich Null sein. Der »Führer für Angler auf der Themse« sagt: »Auch werden dort Fluß- und Kaulbarsche gefangen« – aber da ist der »Führer für Angler« nicht ganz orientiert. Ja, es mag schon Fluß- und Kaulbarsche da herum geben; ich kann sogar mit Bestimmtheit sagen, daß es deren gibt. Man kann sie in ganzen Haufen beisammen sehen, wenn man am Ufer spazieren geht; sie kommen heran, halten sich halb über Wasser und sperren das Maul auf, um etwas Zwieback zu erschnappen. Wenn man dort ein Bad nimmt, so scharen sie sich um einen und belästigen einen. Aber gefangen werden sie nicht, und wenn man auch den schönsten Wurm an seinen Angelhaken hängt; nein, das niemals! –

Ich selber will mich keineswegs für einen guten Fischer ausgeben. Es gab eine Zeit, wo ich dieser Sache ziemlich viel Aufmerksamkeit schenkte und ich auch – nach meinem Dafürhalten – ziemlich gute Fortschritte in besagter Kunst machte; aber die alten gewiegten Leute vom Fach sagten mir, ich werde es niemals zu etwas Ordentlichem bringen, und rieten mir, das Handwerk aufzugeben. Sie meinten, im Wurf könnte ich mich schon recht gut sehen lassen, auch fehle es mir beim Fangen durchaus nicht an Grütze, außerdem sei ich mit aller dazu nötigen Faulheit begabt. Aber sie seien überzeugt, ich werde niemals ein richtiger Fischer werden, denn es mangle mir an einem Haupterfordernis – an der Einbildungskraft. Sie meinten, als Dichter, oder Zeitungsschmierer, oder als Reporter, oder irgend etwas dieser Art möchte ich es vielleicht zu etwas bringen; aber um mir unter den Themseanglern einen, wenn auch noch so bescheidenen Ruf zu erwerben, sei ein etwas freieres Spiel der Einbildungskraft, etwas mehr Erfindungsgabe, als mir zu Gebote stehe, erforderlich.

Es scheint mir, manche Leute meinen, zu einem guten Fischer gehöre nichts anderes, als mir nichts dir nichts, ohne Erröten recht tüchtig aufzuschneiden; aber das ist grundfalsch.

Bloße freche Lügenfabrikation ist nutzlos; jeder Gimpel kann das.

Der erfahrene Angler erweist sich als solcher in der anschaulichen Schilderung aller, auch der nebensächlichsten Einzelheiten, in der verschönernden, aber höchst wahrscheinlichen Färbung des Ganzen, in dem durch die ganze Erzählung gehenden Zug von peinlicher, man könnte fast sagen, pedantischer Wahrhaftigkeit.

Ein jeder kann hereinkommen und sagen:

»O, wißt ihr's schon, ich habe gestern abend fünfzehn Dutzend Barsche gefangen«; oder »Letzten Montag zog ich einen Gründling ans Land, der achtzehn Pfund schwer und vom Kopf bis zum Schwanzende drei Fuß lang war.«

Für solche Erzählungen braucht es weder Kunst noch Schlauheit: sie zeugen von Keckheit – das ist aber auch alles.

Nein; der »gewiegte Angler« verachtet derartige Lügen. Seine Methode ist an sich schon ein Studium.

Er tritt ruhig ein, behält den Hut auf dem Kopfe, eignet sich den bequemsten Stuhl in der Stube an, stopft sich seine Pfeife und fängt in aller Stille an zu paffen. Er läßt die Gelbschnäbel eine Zeitlang renommieren, dann, während einer momantanen Pause in der Unterhaltung nimmt er die Pfeife aus dem Munde und bemerkt, während er sie ausklopft: »Ja, ja! Am Dienstag abend, da galt's zu ziehen! Doch wozu sollte ich die Geschichte erzählen?«

»O! Aber warum denn nicht?« fragt alles.

»Nun, weil ich nicht erwarten kann, daß mir irgend jemand Glauben schenkt,« erwidert der alte Bursche gelassen und sogar ohne die geringste Bitterkeit im Tone. Dann stopft er sich seine Pfeife von neuem und ersucht den Wirt, ihm ein großes Glas Grog zu bringen.

Dann tritt eine Pause ein, denn keiner von den Anwesenden fühlt sich gerieben genug, um dem alten Herrn geradezu zu widersprechen. So muß er denn jetzt ohne weitere Aufmunterung den Faden wieder aufnehmen.

»Nein!« fährt er tief nachdenklich fort, »nein, ich würde es selbst nicht glauben, wenn mir's einer erzählte – aber es ist trotz alledem Tatsache. Ich hatte den ganzen Nachmittag dagesessen und buchstäblich nichts gefangen, außer ein Stücker zwanzig Flußbarsche und ein paar Dutzend Weißfische; wie ich nun gerade im Begriff war, das unersprießliche Geschäft aufzugeben, verspürte ich plötzlich einen ungewöhnlich starken Zug an der Angelschnur. Ich dachte zuerst, es sei am Ende wieder einer von den Kleinen und wollte ihn hinauswerfen.

Ich will mich hängen lassen, wenn ich imstande war, die Angel zu bewegen! Es brauchte eine gute halbe Stunde, denken Sie, meine Herren, eine halbe Stunde, bis es mir gelang, den Kork ans Land zu ziehen; jeden Augenblick mußte ich befürchten, daß mir die Angelschnur abreiße! Zuletzt aber konnte ich ihn fassen, und was meinen Sie, daß es war? Ein Stör, ein vierzig Pfund schwerer Stör! Gefangen mit der Angel, meine Herren! Ja, Sie mögen sich wohl baß darüber wundern! – Herr Wirt, geben Sie mir noch ein großes Glas Grog.«

Dann erzählte er ferner, wie alle diejenigen, die den Fisch gesehen hätten, natürlich riesig erstaunt gewesen seien; ferner, was seine Frau dazu gesagt habe, als er ihn nach Hause gebracht, und was Sepp Buggles davon gehalten habe.

In einer Kneipe am Flusse fragte ich einmal den Wirt, ob es ihn nicht manchmal krank mache, alle die erlogenen Geschichten mit anhören zu müssen, welche die Fischer hier herum ihm erzählen, worauf er mir erwiderte:

»O nein, mein Herr, jetzt nicht mehr, im Anfang, ja, da wurde mir's hier und da ein bißchen übel; aber wahr und wahrhaftig, ich und meine Frau, wir hören dem Ding jetzt den ganzen Tag lang zu. Wissen Sie, 's ist die Macht der Gewohnheit, ja, die Macht der Gewohnheit!«

Ich kannte einst einen jungen Mann, einen höchst gewissenhaften Menschen; er hatte es sich zum Gesetz gemacht, wenn er fischen ging, niemals mehr als fünfundzwanzig Prozent dazuzulügen.

»Wenn ich vierzig Fische gefangen habe,« sagte er zu sich selbst, »dann will ich den Leuten sagen, ich hätte fünfzig gefangen, und so fort; mehr als das lüge ich nicht dazu – denn das Lügen ist eine Sünde.« – Aber der Plan mit den fünfundzwanzig Prozent war kein glücklicher Griff. Er kam in seinem Leben nie in die Lage, ihn auszuführen, die größte Anzahl Fische, die er jemals an einem Tage gefangen hatte, waren drei, und man kann doch nicht fünfundzwanzig Prozent von drei berechnen, wenigstens nicht bei Fischen.

So erhöhte er denn seinen Prozentsatz auf dreiunddreißig ein Drittel, aber das war wieder ungeschickt, wenn er nur einen oder zwei gefangen hatte. Um aber die Sache zu vereinfachen, beschloß er bei sich, die Anzahl gerade zu verdoppeln.

Bei diesem Modus blieb er ein paar Monate lang, aber dann wurde er dessen überdrüssig; denn niemand wollte ihm glauben, daß er die Zahl nur einfach verdoppelte; er erregte daher nirgends die ersehnte Bewunderung; seine Bescheidenheit kam ihm neben den übrigen Anglern sehr übel zu statten.

Wenn er wirklich drei Fische gefangen hatte und von sechsen sprach, war es da ein Wunder, daß er ganz eifersüchtig wurde, wenn er nun einen andern, von dem er ganz sicher wußte, daß er einen einzigen gefangen hatte, den Leuten erzählen hörte, er habe deren zwei Dutzend ans Land gezogen?

So kam er zuletzt auf folgendes Auskunftsmittel, das er nachmals auch pflichtgetreu anwendete: er zählte jeden einzelnen Fisch für zehn und nahm außerdem zehn als Grundtaxe im voraus an.

Z. B. wenn er gar keinen Fisch fing, so rechnete er zehn; weniger als zehn Fische konnte er bei diesem System gar nicht fangen. Das war eine solide Grundlage.

Wenn es ihm aber wirklich glückte, einen Fisch zu fangen, so machte das zwanzig; während es bei zwei Fischen dreißig machte, bei dreien vierzig usf.

Es ist dies ein sehr einfacher und leicht ausführbarer Plan; man hat daher neulich unter der Anglerbrüderschaft davon gesprochen, ihn allgemein einzuführen. In der Tat hat das Komitee der Angelgesellschaft der Themse die Annahme desselben vor zirka zwei Jahren warm empfohlen; aber einige ältere Mitglieder der Gesellschaft waren ihm abhold. Diese meinten, sie würden den Vorschlag in Betracht ziehen, wenn die Zahl verdoppelt, somit jeder einzelne Fisch für zwanzig gerechnet würde.

Wenn ihr jemals auf einer Flußfahrt nicht wißt, wie ihr den Abend zubringen sollt, so würde ich euch raten, in eines der kleinen Dorfwirtshäuser zu gehen, und euch in der Schenkstube niederzulassen.

Ihr werdet da sicherlich einen oder zwei solcher alten Fischer antreffen, die hier langsam ihren Grog schlürfen und euch in einer halben Stunde mehr Fischgeschichten zum besten geben, als ihr in einem Monat verdauen könnt. Georg und ich – ich weiß nicht, wo Harris hingekommen war; er war früh am Nachmittag ausgegangen, um sich rasieren zu lassen und hatte, nachdem er zurückgekehrt, volle vierzig Minuten gebraucht, um seine Schuhe mit Tonerde zu reinigen; seither hatten wir ihn nicht mehr gesehen – also Georg und ich und der Hund gingen, uns selbst überlassen, am späten Abend nach Wallingford spazieren und kehrten auf dem Rückweg in einem kleinen Flußwirtshause ein, der Nachtruhe und einiger anderer Dinge wegen. Wir gingen in die Stube und setzten uns nieder. Da war ein bemoostes Haupt, das aus einer langen Tonpfeife rauchte; und mit dem fingen wir natürlich ein Gespräch an. Er erzählte uns, es sei heute ein schöner Tag gewesen, und wir meinten, ja, aber gestern sei es auch schön gewesen; und nun sprachen wir uns gegenseitig darüber aus, daß es morgen vielleicht auch wieder schönes Wetter geben würde, und Georg fügte hinzu, die Saaten schienen in gutem Stande zu stehen.

Nachher stellte es sich heraus, daß wir in der Gegend fremd seien und am andern Morgen wieder weiterreisen würden.

Dann trat eine Pause in der Unterhaltung ein, während welcher wir unsere Blicke durch das Zimmer wandern ließen. Sie blieben zuletzt an einem staubigen alten Glaskasten haften, der sehr hoch über dem Kaminsims angebracht war und eine Forelle enthielt.

Wie gebannt mußte ich nach dieser Forelle hinschauen; es war ein solches Monstrum von einem Fisch! Auf den ersten Anblick hatte ich ihn für einen Stockfisch gehalten.

»Ach,« sagte der alte Herr, der Richtung meines Blickes folgend, »nicht wahr, ein wackerer Bursche, was?« – »Etwas ganz Ungewöhnliches,« murmelte ich, und Georg fragte ihn, wie schwer er diesen Fisch schätze?

»Achtzehn Pfund und sechs Unzen,« sagte unser Freund, indem er aufstand und seinen Rock vom Nagel herunterholte. »Ja!« fuhr er fort, »es werden am dritten nächsten Monats sechzehn Jahre, daß ich diesen Fisch herauszog. Gerade unterhalb der Brücke habe ich ihn mit einer Elritze erangelt. Man hatte mir gesagt, daß der Fisch im Flusse sei; da schwur ich mir, ihn zu fangen, und ich fing ihn. Ich denke, alleweil werdet ihr hier nicht mehr viel solcher Fische zu sehen kriegen! Gute Nacht, meine Herren, gute Nacht!«

Und fort ging er und ließ uns allein.

Nach dieser Erzählung konnten wir kein Auge mehr von dem Fische wenden. Es war wirklich ein merkwürdig schöner Fisch! Wir schauten noch immer den Fisch an, als der Landbote, der gerade am Wirtshaus anhielt, mit einer Kanne Bier unter der Tür erschien und den Fisch ebenfalls anschaute.

»Stattliche Forelle das, nicht wahr?« sagte Georg, sich gegen ihn wendend.

»Das will ich meinen, Herr!« erwiderte der Mann und fügte nach einem Zuge aus seinem Glase hinzu: »Vielleicht waren Sie damals nicht hier, als dieser Fisch gefangen wurde?«

»Nein!« sagten wir, »wir waren damals nicht hier. Wir sind fremd in dieser Gegend!«

»Dann konnten Sie natürlich nicht dabei sein. Es sind schon an die fünf Jahre her, daß ich diesen Fisch fing.«

»Ei! also Sie waren es, der diese Forelle fing?« rief ich aus.

»Ja, ja, mein guter Herr!« erwiderte der erfindungsreiche alte Bursche, »ich habe ihn gerade unterhalb der Schleuse gefangen – d. h. was damals die Schleuse war. Es war an einem Freitag abend; und was das Merkwürdigste dabei ist: ich fing ihn mit einer Fliege! Ich war hinausgegangen, um Hechte zu fangen, wissen Sie, dachte nicht im Traum an Forellen, und als ich dann diesen himmellangen Kerl da an meiner Angel sah, ja, ich will des Teufels sein, wenn ich nicht ganz verdutzt zurückprallte! Kein Wunder, hat der Kerl doch sechsundzwanzig Pfund gewogen! – Gute Nacht, meine Herren, gute Nacht!«

Fünf Minuten später kam ein dritter Mann herein und erzählte uns, wie er den Fisch eines Morgens früh mit einem Weißfisch gefangen habe; nachdem dieser gegangen, kam ein dumm und feierlich aussehendes Individuum mittleren Alters herein und setzte sich gegen das Fenster hin.

Eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort; zuletzt wandte sich Georg gegen den neuen Ankömmling und sagte:

»Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr! Ich hoffe, Sie werden es mir nicht übel nehmen, daß wir – ich und mein Freund sind vollständig fremd in dieser Gegend – uns die Freiheit nehmen, Sie zu fragen. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns mitteilen würden, wie Sie diese Forelle hier oben gefangen haben?«

»Ja, wer sagt Ihnen denn, daß ich diese Forelle gefangen hätte?« fragte der Mann erstaunt.

Wir sagten ihm, daß niemand uns dies mitgeteilt habe, daß wir aber instinktmäßig fühlten, daß er es gewesen sein müsse.

»Ja, das ist aber wirklich höchst merkwürdig!« erwiderte nun der dümmliche Fremde lachend, »denn es ist wirklich Tatsache, daß ich den Fisch fing. Aber daß Sie das sogleich geahnt haben! Sollte man so etwas für möglich halten? Es ist doch zu merkwürdig!«

Und nun fing er an und erzählte uns, wie er eine volle halbe Stunde damit zugebracht habe, den Fisch herauszuziehen, wie ihm derselbe die Leine zerrissen habe; er habe ihn bei seiner Heimkehr genau gewogen; er sei netto vierunddreißig Pfund schwer gewesen.

Auch er nahm bald seinen freundlichen Abgang. Als er fort war, kam der Wirt herein. Wir erzählten ihm die verschiedenen Geschichten, die wir über seine Forelle zu hören bekommen, was ihn ungeheuer belustigte, und wir alle lachten herzlich.

»Nein, aber so etwas! Nun stelle man sich vor, daß der Jakob Bates und der Joseph Muggles und Herr Jones und der alte Willy Maunders alle diesen Fisch gefangen haben wollen! Ha, ha, ha! das heiße ich einen Hauptspaß!« sagte der biedere, alte Bursche und fing von neuem zu lachen an. »Ja, ja, die sind gerade die Sorte Leute, die mir einen solchen Fisch geben würden, damit ich ihn in meiner Stube aufhänge, wenn sie ihn gefangen hätten! Ha, ha, ha!« Dann erzählte er uns die wirkliche Geschichte von dem Fisch.

Es stellte sich heraus, daß er selbst ihn vor vielen Jahren gefangen hatte, als er noch ein ganz junger Bursche war – nicht vermöge besonderer Kunst oder Geschicklichkeit, sondern infolge eines jener ganz sonderbaren Glückszufälle, die, wie es scheint, immer auf einen Knaben warten, der an einem sonnigen Nachmittag die Schule schwänzt und mit einem an die Gerte gebundenen Stück Schnur das Fischen probiert.

Einer weidlichen Tracht Prügel, versicherte er, sei er damals entgangen, weil er diesen Fisch nach Hause gebracht habe, und sogar sein Schulmeister habe gesagt, das sei soviel wert als die Regeldetri und Schönschreiben zusammengenommen. –

Hier wurde der Wirt abgerufen, und Georg und ich richteten unsere Augen wieder auf den wunderbaren Fisch. Es war in der Tat die merkwürdigste Forelle der Welt! Je länger wir sie anschauten, desto mehr verwunderten wir uns darüber. –

Ihr Anblick nahm Georg so sehr gefangen, daß er zuletzt auf einen Stuhl stieg, um sie genauer betrachten zu können. Da kippte der Stuhl mit ihm um, und Georg griff in der Verzweiflung nach dem Glaskasten, um sich daran zu halten und vor dem Sturz zu bewahren – da fiel derselbe krachend zu Boden – und Georg mitsamt dem Stuhl darüber her.

»Du hast doch, um Gottes willen, den Fisch nicht beschädigt?!« rief ich Georg in höchster Besorgnis zu.

»Hoffentlich nicht,« sagte Georg, indem er sich langsam und vorsichtig erhob und besorgt um sich schaute. Aber er hatte ihn beschädigt; da lag die Forelle in tausend Stücke zersplittert! Ich sage tausend, es mögen aber vielleicht auch nur neunhundert gewesen sein. Gezählt habe ich sie nicht.

Es kam uns gar seltsam und unerklärlich vor, daß eine ausgestopfte Forelle in solch kleine Stücke zerbrechen konnte. – Ja! es würde auch wirklich seltsam und unerklärlich gewesen sein, wenn es eine ausgestopfte Forelle gewesen wäre; aber das war es nicht. Die Forelle war aus Gips!

*

In Oxford brachten wir zwei sehr angenehme Tage zu. Es gibt da eine Unmasse Hunde. Montmorency hatte schon am ersten Tage elf Gefechte, am zweiten vierzehn, er glaubte offenbar, jetzt sei er im Himmel.

Leute, die von Natur zu schwach oder zu faul sind, den Strom hinaufzurudern, machen sich nicht selten das Vergnügen, in Oxford ein Boot zu mieten und stromabwärts zu fahren. Für tatendurstige Leute ist aber die Fahrt stromaufwärts bei weitem vorzuziehen. Immer mit dem Strom zu gehen, soll ja nicht gesund sein. Es ist viel befriedigender, sich in Kampfesstellung gegen den Strom zu stemmen, es einmal tüchtig mit ihm aufzunehmen und trotz all seiner Wucht sich vorwärts zu schaffen; wenigstens ist das mein Gefühl, wenn Harris und Georg rudern und ich am Steuer sitze. – Denen, die von Oxford aus abzufahren gedenken, würde ich raten, sich ein eignes Boot anzuschaffen, den Fall natürlich ausgenommen, daß man ein fremdes wegnehmen kann, ohne das »elfte Gebot« zu übertreten. – Die Boote, die oberhalb Marlow mietweise zu haben sind, sind im allgemeinen gute Boote. Sie sind ordentlich wasserdicht, und wenn man sorglich mit ihnen umgeht, gehen sie auch selten in Stücke und sinken selten unter. Es ist auch Gelegenheit zum Sitzen darin; auch sind sie sonst mit allem oder fast mit allem versehen, was man zum Rudern und Steuern braucht. Aber schön sind sie nicht. Die Boote, die man oberhalb Marlow bekommt, sind nicht von der Art, daß man damit glänzen und Staat machen könnte. Ein zur Fahrt flußaufwärts gemietetes Boot treibt den Insassen in kürzester Frist so kühne Gedanken aus. Das ist seine Haupt-, man könnte fast sagen, einzige Empfehlung. Der Mann, der in einem gemieteten Boote den Fluß hinauffährt, ist bescheiden und zurückhaltend. Er hat eine Vorliebe für die Schattenseite unter den Uferbäumen und besorgt den größten Teil seiner Reise morgens früh oder spät am Abend, wenn nicht viele Leute unterwegs sind, die ihm zusehen könnten. Wenn er jemand zu Gesicht bekommt, den er kennt, so steigt er ans Land und verbirgt sich hinter einem Baum.

Ich gehörte einmal zu einer Gesellschaft, die ein Boot zu einer Fahrt stromaufwärts auf einige Tage gemietet hatte. Keiner von uns hatte zuvor ein für die Hinauffahrt gemietetes Boot gesehen, und als wir eins zu Gesicht bekamen, wußte keiner, was es sein sollte. Wir hatten uns das Boot, einen zweirudrigen Kahn, schriftlich bestellt. Als wir nun mit unserm Gepäck bei dem Schiffsvermieter ankamen und unsre Namen nannten, sagte der Mann: »Ganz recht, Sie sind die Gesellschaft, die einen Zweiruderer bestellte. Jawohl, das ist besorgt! Jakob, geh', mach' den ›Stolz der Themse‹ los!«

Der Knabe ging und kam fünf Minuten später, mit einer antediluvianischen Holzkruste sich abplackend, wieder zum Vorschein. Das Ding sah aus, als ob es neulich irgendwo unter den Pfahlbauten gefunden, recht unvorsichtig ausgegraben worden und dabei unnötigerweise stark zu Schaden gekommen wäre.

Als ich das Ding erblickte, war mein erster Gedanke, daß es eine römische Antike sein müsse, von der ich natürlich nicht wissen konnte, was sie vorstellen sollte – möglicherweise einen Sarg. Die Umgebung der oberen Themse ist reich an römischen Altertümern, daher schien mir meine Vermutung einige Wahrscheinlichkeit für sich zu haben; aber unter uns war ein sehr ernsthafter junger Mann, der etwas von einem Geologen an sich hatte. Der verspottete meine Theorie von der römischen Antike und sagte, es müsse auch dem allergewöhnlichsten Verstande (wozu er den meinigen leider mit gutem Gewissen nicht rechnen zu dürfen glaubte) klar sein, daß das Ding, das der Knabe gefunden, ein versteinerter Walfischknochen sei; ei zeigte uns an verschiedenen Merkmalen, daß das Fossil der der Eiszeit vorhergehenden Periode angehört haben müsse. Um dem Streit ein Ende zu machen, wandten wir uns an den Jungen. Wir sagten ihm, er solle keine Menschenfurcht haben, sondern uns die reine Wahrheit berichten: war das Ding ein versteinertes Stück eines vorsintflutlichen Walfisches oder ein frührömischer Sarg?

Der Knabe sagte, es sei der »Stolz der Themse«. Diese Antwort des Knaben kam uns zuerst recht gelungen vor, und einer von uns gab ihm zwei Pence als Belohnung für seinen schnellen Witz. Aber als er den Spaß mehr als uns nötig schien in die Länge zog, ärgerten wir uns über ihn. »Mein guter Junge,« sagte unser Anführer mit Schärfe, »mach' uns nichts weiß. Nimm du nur deiner Mutter Waschzuber wieder heim und schaff' uns ein Boot her.« Der Schiffbauer selbst kam jetzt herzu und versicherte auf sein Wort, das Wort eines praktischen Mannes, daß das Ding wirklich ein Boot sei, ja, daß es das Boot sei, nämlich der zweiruderige Kahn, den er für unsere Stromfahrt ausgewählt habe.

Wir brummten und schimpften nicht wenig. Zum mindesten, meinten wir, hätte er es doch anstreichen oder teeren lassen können oder irgend etwas tun sollen, damit es sich von einem Wrack ein bißchen unterschieden hätte! Er aber konnte keinen Fehler daran finden; er schien sogar beleidigt durch unsere Bemerkungen und erklärte, er habe uns das beste Boot aus seinem ganzen Vorrat ausgesucht, wofür wir ihm wohl ein wenig dankbar sein dürften.

Der »Stolz der Themse«, sagte er, so wie sie hier vor uns liege (oder vielmehr zusammenhing), habe seit den letzten vierzig Jahren, so viel ihm bekannt sei, gedient, ohne daß sich jemand darüber beklagt habe, und er sehe daher nicht ein, warum wir nun die ersten sein sollten, die damit begännen.

Auf solche Gründe konnten wir natürlich nichts mehr erwidern. Wir banden das sogenannte Boot mit Tauen etwas zusammen, verschafften uns etwas Tapetenpapier, verkleisterten die schäbigsten Stellen, sprachen noch ein frommes Gebet zum Himmel und gingen dann an Bord. – Man verlangte von uns fünfunddreißig Schilling für das Überlassen des Wracks auf sechs Tage. Für vier und einen halben Schilling hätten mir das Ding zweimal in einer Auktion von Treibholz an der Küste kaufen können.

Am dritten Tage änderte sich das Wetter, nebenbei bemerkt, ich spreche jetzt von unserer gegenwärtigen Reise; wir traten unter beständigem Regen unsere Rückfahrt von Oxford an. Wenn das helle Sonnenlicht von den tanzenden Wellen zurückgeworfen wird, die grünen Buchen glänzend vergoldet, Streiflichter durch die dunklen kühlen Waldwege sendet, Schatten über die Sandbänke hinhuschen, Diamanten von den Mühlrädern niederstäuben läßt, die Lilien am Ufer küßt, am Wehr mit dem weißschäumenden Wasser spielt, alte, moosbewachsene Mauern und Brücken mit silbernem Glanz überflutet, jedes unansehnliche Städtchen verklärt, jede Hecke und jede Wiese lieblich macht, zwischen die Schilfgräser hineindringt, aus jedem einströmenden Bächlein hervorglitzert, hervorlacht, manch fernes Segel in schimmernde heitere Farben taucht, die Luft mit sanfter Glorie erfüllt – ja, dann ist der Fluß ein von goldigem Zauber umwobener Strom.

Aber wenn unaufhörlicher Regen auf seine braunen, trägen Fluten herniederfällt, daß es klingt, als ob ein Weib in einer dunklen Kammer leise weinte; wenn die Uferbäume, dunkel und schweigend, in Nebelschleier gehüllt, wie Geister am Wasserrand stehen, wie stille Geister, die vorwurfsvoll ihre Augen auf euch richten, wie die Rächer böser Taten – wie die Geister verratener Freunde, – dann ist der frostig trübe Fluß ein unheimliches, spukhaftes, das Land vergeblicher Reue durchziehendes Gewässer. Ja, das Sonnenlicht ist das Lebensblut der Natur! Die Mutter Erde sieht uns mit so dumpfen, seelenlosen Augen an, wenn das Licht der Sonne von ihr geschieden ist. Es macht uns traurig, allein bei ihr zu verweilen. Sie scheint uns dann nicht mehr zu kennen, die Mutter, nicht für uns zu sorgen. Sie gleicht einer Witwe, die den geliebten Gatten verlor; ihre Kinder berühren ihre Hand, sehen ihr in die Augen, können ihr aber kein Lächeln abgewinnen.

Wir ruderten den ganzen Tag lang im Regen dahin; es war ein trauriges Geschäft. Zuerst flunkerten wir uns vor, daß wir uns darüber freuten; es sei doch eine Abwechslung; auch sähen wir den Fluß gerne in all seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Wir könnten mit Grund, sagten wir uns, doch nicht erwarten, immer Sonnenschein zu genießen, noch könnten wir das auch nur wünschen. Wir kamen dahin überein, die Natur sei auch unter Tränen schön.

Harris und ich waren in der Tat ganz begeistert, d. h. während der ersten Stunden. Wir sangen ein Lied, welches das Zigeunerleben und seine Herrlichkeiten pries: »Der Sonn', dem Regen, dem Sturm entgegen« – wir sangen, wie der Zigeuner den Regen so gern gehabt, wie gut derselbe ihm bekommen, und wie er die Leute verlacht, die keinen Geschmack daran finden konnten. Georg faßte den Spaß etwas nüchterner auf und hielt sich an den Regenschirm. Wir hißten die Bedeckung auf, ehe wir frühstückten, und behielten sie auch noch den ganzen Nachmittag droben; nur so viel Raum ließen wir am Bug frei, daß einer von uns die kleinen Ruder gebrauchen und Umschau halten konnte. So legten wir an diesem Tag neun Meilen zurück und ankerten etwas unterhalb der Dayschleuse, um zu übernachten. Ehrlich gestanden, könnte ich nicht sagen, daß wir einen lustigen Abend gehabt hätten. Der Regen strömte noch immer mit stiller Hartnäckigkeit herunter. Im Boot war alles feucht und klebrig. Unser Nachtessen war auch nichts Glorreiches. Kalte Kalbspastete ist nicht sehr einladend, wenn man keinen Hunger hat. Mein Magen verlangte nach frisch gebackenem Weißfisch und Koteletten. Harris schwatzte etwas von Schollen in weißer Sauce, während er die Reste seiner Pastete Montmorency verehrte, der sie aber dankend ablehnte. Er war augenscheinlich durch das Anerbieten beleidigt, ging weg und setzte sich an das andere Ende des Bootes. Georg ersuchte uns, über diesen Gegenstand nicht weiter zu sprechen, wenigstens nicht, bis er mit seinem kalten, gesottenen Rindfleisch fertig sei, das er ohne Senf verzehren mußte.

Nach dem Abendessen spielten wir Karten, den Point zu zehn Pfennig. Wir spielten ungefähr anderthalb Stunden; am Ende hatte Georg gerade vierzig Pfennig gewonnen. Georg hat immer Glück im Spiel. Wir dachten jetzt, dem Laster des Spiels nicht länger zu frönen; denn es führe, sagte Harris, zu weit getrieben, zu einer ungesunden Aufregung. Georg bot uns Revanche an; aber Harris und ich weigerten uns noch weiter gegen das Schicksal anzukämpfen.

Hiernach bereiteten wir uns Toddy (Grog) und setzten uns zu einem Gespräch zusammen. Georg erzählte uns von einem Mann, der vor zwei Jahren den Fluß heraufgefahren und während einer Nacht wie die heutige in einem feuchten Boot geschlafen und davon rheumatisches Fieber bekommen habe; alle ärztlichen Bemühungen seien vergeblich gewesen; zehn Tage nachher sei er unter großen Schmerzen gestorben. Es sei ein noch ganz junger Mann gewesen, setzte Georg hinzu, der demnächst hätte Hochzeit halten sollen. Es sei eine der traurigsten Geschichten gewesen, die ihm je zu Ohren gekommen, schloß Georg seine Erzählung.

Das erinnerte Harris an einen Freund, der, unter den Freiwilligen dienend, im Lager zu Aldershot eine Regennacht im Zelt zugebracht habe; es sei eine Nacht gewesen, »gerade wie heute«, sagte Harris; am andern Morgen sei er als ein Krüppel aufgestanden und seitdem Krüppel geblieben. Harris fügte noch hinzu, er wolle uns beide bei dem Mann einführen, wenn wir nach Hause kämen; das Herz werde uns bei seinem Anblick bluten.

Dies führte dann zu einer weiteren angenehmen Unterhaltung über Ischias, Fieber, Erkältungen, Lungen- und Halskrankheiten; Harris meinte, es wäre doch recht fatal, wenn einer von uns während der Nacht ernstlich krank würde, da wir so weit von einem Doktor entfernt seien.

Es schien nach diesen aufregenden Gesprächen das allgemeine Verlangen nach etwas Erheiterndem vorhanden zu sein; in einem schwachen Augenblick bat ich daher Georg, sein Banjo hervorzuholen und zu versuchen, ob er uns nicht etwas Humoristisches vortragen könne. Ich muß es Georg zu seinem Ruhm nachsagen, daß er sich nicht lange bitten ließ. Er zierte sich nicht, er machte keinen Einwand, wie »er habe seine Noten daheim« usw. Sofort fischte er sein Instrument hervor und fing das Lied »Ein blaues Aug'« zu spielen an. Bis heute abend hatte ich dieses Liedchen immer für ziemlich langweilig gehalten. Aber die reiche Ader von Traurigkeit, die Georg in demselben herauszufinden wußte, machte mich ganz erstaunen. Harris und ich konnten kaum dem Verlangen widerstehen, einander weinend um den Hals zu fallen. Nur mit großer Anstrengung gelang es uns, unsere hervorbrechenden Tränen zurückzuhalten und schweigend der wilden, sehnsuchtsvollen Melodie zu lauschen. Als der Chor einfallen sollte, machten wir sogar einen verzweifelten Versuch, lustig zu sein. Wir füllten nochmals die Gläser und fielen ein. Harris begann den Chorgesang mit vor Rührung zitternder Stimme, während Georg und ich ein paar Takte hinterdrein kamen:

»Ein blaues Auge mir zu schlagen,


Ist so etwas denn wirklich wahr!


Bloß weil ich es gewagt zu sagen:


Er sei im Unrecht offenbar.


Ein – – «

Hier brachen wir zusammen. Das unaussprechliche Pathos von Georgs Begleitung zu dem: »Ein –« waren wir bei unsrem damaligen niedergedrückten Zustand nicht länger zu ertragen fähig. Harris schluchzte wie ein kleines Kind und der Hund heulte so sehr, daß ich jeden Augenblick befürchtete, sein Herz oder sein Kiefer möchte brechen!

Georg wollte noch einen weiteren Vers singen. Er glaubte, wenn er erst die Melodie loshabe und sie etwas freier und leichter vortragen könne, so möchte es wohl weniger traurig klingen. Aber die Gefühle der Majorität widersetzten sich diesem Vorhaben. Da uns nun nichts weiter zu tun übrig blieb, so gingen wir zu Bett – d. h. wir entkleideten uns und warfen uns nachher auf dem Boden des Bootes drei oder vier Stunden lang hin und her, worauf wir dann noch ein paar Stunden, bis ungefähr fünf Uhr, schliefen; hierauf standen wir auf und frühstückten.

Der zweite Tag glich dem ersten aufs Haar. Es fuhr fort zu regnen; wir saßen, in unsere wasserdichten Mäntel eingewickelt, unter unserer Leinwanddecke und trieben langsam den Fluß hinab. Einer von uns – ich vergaß, wer es war; aber ich glaube beinahe, ich war es selbst – machte ein paar schwache Versuche, wieder die alte Zigeunerlustigkeit wachzurufen, als freuten wir uns wie freie Kinder der Natur über die Nässe – aber es wollte nicht ganz gelingen. In der Tat, dieses:

»Was geht mich doch der Regen an« usw.

war ja so offenbar der Ausdruck unserer Gefühle, daß es höchst überflüssig schien, dies auch noch zu singen. Über einen Punkt waren wir alle einig, daß wir nämlich, es möge kommen, was da wolle, den Spaß bis zu seinem bittern Ende durchkosten wollten. Wir hatten uns zu einem vierzehntägigen Vergnügen auf dem Flusse aufgemacht, das wollten wir somit auch haben, und wenn wir drauf gehen sollten! Das wäre zwar für unsere Freunde und Verwandten sehr traurig gewesen, aber zu ändern wäre das nun einmal nicht. Wir fühlten, es wäre ein mehr als schlechtes Beispiel, wenn wir in einem Klima wie dem unsrigen dem Wetter weichen wollten. »Es gilt nur noch zwei weitere Tage auszuhalten,« sagte Harris, »und wir sind ja jung und kräftig. Vielleicht können wir es doch durchmachen.«

Ungefähr um vier Uhr nachmittags begannen wir zu beraten, wie wir uns diesen Abend einrichten wollten. Wir waren etwas über Goring hinaus, und hatten beschlossen, noch bis Pangbourne zu rudern und dort zu übernachten.

»Wird wieder ein schöner Abend werden,« brummte Georg. Wir saßen da und dachten über unsere Aussichten nach. Um fünf Uhr konnten wir in Pangbourne sein. Unsere Mahlzeit konnte etwa um halb sieben beendet sein. Dann konnten wir unter strömendem Regen einen Spaziergang im Dorf herum machen, bis es Zeit zum Schlafengehen wäre. Oder wir konnten uns auch in eine matterleuchtete Wirtsstube setzen und den Kalender lesen!

»Da wäre es in der Alhambra[Fußnote: Elegantes, namentlich für pantomimische Aufführungen berühmtes Theater in London.] beinahe amüsanter,« sagte Harris, indem er einen Augenblick seinen Kopf hinaussteckte, um den Himmel auszukundschaften. – »Mit einem kleinen Souper in –[Fußnote: Ein kapitales kleines Restaurant, etwas abseits, in der Nähe von –, wo man ein vorzügliches und billiges kleines französisches Diner oder Souper bekommt, mit einer ausgezeichneten Flasche Beaune für drei und einen halben Schilling – dessen Namen ich aber nicht so dumm bin, in die Welt hinauszuposaunen.] nicht wahr?« fügte ich fast unbewußt hinzu.

»Ja, es ist schade, daß wir uns in den Kopf gesetzt haben, uns diesem Boot zu verschreiben,« antwortete Harris; dann war eine Zeitlang alles still.

»Wenn wir uns nicht in den Kopf gesetzt hätten unsern gewissen Tod in diesem verwünschten alten Sarg zu holen,« brummte Georg, indem er noch einen Blick voll unsäglichen Abscheus auf das unglückliche Boot warf, »so dürfte vielleicht die Mitteilung erlaubt sein, daß bald nach fünf Uhr noch ein Zug von Pangbourne abgeht, der, wie ich weiß, uns so zeitig nach Hause brächte, daß wir bequem ein Kotelett verzehren und dann den Ort besuchen könnten, den du vorhin genannt hast.« –

Keiner sprach ein Wort. Wir schauten einander an, und jeder glaubte, seine eigenen sündlichen, niederträchtigen Gedanken auf dem Antlitz des anderen zu lesen. Schweigend nahmen wir unsren Gladstone zur Hand. Wir schauten den Fluß hinauf und hinab; weit und breit war keine Seele zu sehen!

Zwanzig Minuten später hätte man drei Personen, gefolgt von einem schamrot dreinschauenden Hunde, sehen können, wie sie sich verstohlenerweise von dem Bootshause zum »Schwan« nach dem Bahnhof schlichen in dem nachfolgend beschriebenen, weder sauberen, noch farbenprächtigen Aufzug: schwarze Lederschuhe, schmutzig, flanellenes Bootkostüm, sehr schmutzig, brauner Filzhut, sehr defekt, Regenmantel, pudelnaß, Schirm.

Den Bootsmann in Pangbourne hatten wir angeschwindelt. Wir hatten nicht das Herz gehabt, ihm zu gestehen, daß wir vor dem Regen auskniffen! Das Boot und alles, was es enthielt, hatten wir seiner Hut übergeben, mit der Weisung, daß es am andern Morgen um neun Uhr für uns bereit sein solle. Wenn, hatten wir ihm gesagt, wenn etwas Unvorhergesehenes dazwischenkäme, würden wir ihm schreiben!

Wir erreichten den Paddington-Bahnhof[Fußnote: Großer Bahnhof im Westen Londons.] um sieben Uhr und fuhren direkt nach dem vorhin erwähnten Restaurant, nahmen dort ein leichtes Mahl ein, ließen Montmorency mit einer Bestellung für ein richtiges Souper auf halb elf Uhr zurück und setzten dann unsern Weg nach dem Leicesterplatz fort.

In der Ahambra zogen wir die allgemeine Aufmerksamkeit auf uns! Als wir an der Kasse aufmarschierten, hieß man uns ganz grob, nach der Schloßstraße gehen, wir seien eine halbe Stunde zu spät gekommen.

Mit einiger Schwierigkeit gelang es uns schließlich, den Mann zu überzeugen, daß wir nicht die weltberühmten »Schlangenmenschen vom Himalaja« seien; er nahm unser Geld und ließ uns eintreten. Drinnen wartete unser ein noch viel größerer Erfolg. Unsern edlen, sonnverbrannten Gesichtern und unserer malerischen Tracht folgte man allerorten mit bewundernden Blicken. Jedes Auge war bezaubert. Es war ein stolzer Moment für uns alle!

Bald nach dem ersten Ballett machten wir uns indessen aus dem Staube und lenkten unsere Schritte zurück nach dem Restaurant, wo bereits das Souper unser wartete. – Ich muß bekennen, daß mir dieses Souper baß behagte. – Ungefähr zehn Tage lang hatten wir mehr oder weniger von kaltem Fleisch, Kuchen, Brot und Eingemachtem gelebt. Es war eine einfache, eine nahrhafte Kost gewesen; aber pikant hätte man sie nicht nennen können; und der Duft des Burgunders, der Geruch französischer Saucen und der Anblick reiner Servietten und langer Brotlaibe, alles das kam unsrem innern Menschen als willkommener Gast entgegen.

Eine Zeitlang hieben wir ein und zechten schweigend, bis wir endlich, anstatt aufrecht zu sitzen und Gabel und Messer fest zu handhaben, uns zurücklehnten, nur noch langsam und nachlässig arbeiteten, die Beine behaglich unter den Tisch ausstreckten, die Serviette unbeachtet unter den Tisch fallen ließen, zum erstenmal den rauchgeschwärzten Plafond etwas genauer untersuchten als bisher, die Gläser auf Armslänge von uns entfernt auf den Tisch stellten und uns so gut, so voll tiefer Gedanken, so mild vergebend erschienen.

Da zog Harris, der dem Fenster zunächst sah, den Vorhang etwas beiseite und schaute auf die Straße hinaus.

Sie glitzerte trüb vor Nässe. Die düstern Lampen flackerten bei jedem Windstoß. Der Regen patschte noch immer standhaft in die Pfützen hernieder, und die Dachrinnen entleerten ihren Inhalt in die Dohlen. Einige völlig eingeweichte Wanderer eilten vorüber, sich unter ihre Regenschirme duckend, und die Frauen hielten ihre Kleider in die Höhe.

»Ich muß gestehen,« sprach Harris, indem er die Hand nach seinem Glas ausstreckte, »daß wir eine angenehme Fahrt gehabt haben; ich sage daher dem alten Vater Themse meinen herzlichen Dank dafür; aber ich denke, wir haben wohl daran getan, auszureißen und ihm eine Nase zu drehen! – Ich trinke auf das Wohl der ›Drei Mann glücklich aus dem Boot‹!«

Montmorency, der am Fenster auf den Hinterbeinen stand und in die Nacht hinausschaute, stimmte mit einem kurzen Gebell in den Trinkspruch ein.

*

Ende

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