xiv.

Natürlich höre ich an dieser Stelle laut den Chor jener Reichsbedenkenträger, die aufheulen: Wie kann denn der Führer der nationalsozialistischen Bewegung in die Rundfunksendung eines Ali Wizgür hineingehen? Und ich kann diese Frage verstehen, wenn sie, sagen wir, aus einer künstlerischen Erwägung heraus gestellt wird, weil man natürlich große Kunst nicht durch Politik entstellen soll. Man ergänzt ja auch nicht die Mona Lisa mit einem Hakenkreuz. Aber es kann freilich das Gestammel irgendeines Conferenciers – und um einen solchen handelte es sich letztlich bei jenem Wizgür – niemals zu den Formen der Hochkultur zählen, eher im Gegenteil. Wenn aber die Bedenken von einer Richtung herrühren, die fürchtet, dass die nationale Sache unter einer Präsentation in einem solchen möglicherweise minderwertigen Zusammenhange litte, da muss ich dann entgegnen, dass es Dinge gibt, die die meisten Menschen rein vom Verstande her nicht begreifen können, auch nicht beurteilen. Es ist dieses eine Angelegenheit, in der man nun einmal dem Genius des Führers vertrauen muss.

In der Tat muss ich an dieser Stelle eingestehen, dass ich in jenem Momente so etwas wie einem Missverständnis unterlag. Persönlich ging ich zu diesem Zeitpunkte noch davon aus, dass die Dame Bellini und ich gemeinsam zum Wohle Deutschlands an der Umsetzung meines Programms arbeiten wollten. Tatsächlich sprach jedoch die Dame Bellini fortwährend von nichts anderem als meinem vermeintlichen Bühnenprogramm. Aber ebendeshalb kann man hier wieder einmal erkennen, dass die reine, angeborene Begabung, der Instinkt des Führers, dem angelernten Wissen himmelweit überlegen ist. Während sich der mühsam kalkulierende Wissenschaftler, der angestrengt strebende Parlamentspolitiker nur zu leicht von oberflächlichen Sachverhalten ablenken lässt, spürt der wahrhaft Berufene unterschwellig den Ruf des Schicksals, selbst wenn ein Name wie Ali Wizgür dem vollkommen entgegengesetzt scheint. Tatsächlich glaube ich, dass hier die Vorsehung erneut eingegriffen hat wie damals 1941, als ein früher und extrem harter Wintereinbruch die Offensive in Russland bremste, bevor wir zu weit vorrückten – und uns so den Sieg schenkte.

Oder geschenkt hätte, wenn meine unfähigen Generäle…

Aber da rege ich mich gar nicht mehr auf.

Das nächste Mal gehe ich das ganz anders an, mit einem Generalstab, treu ergeben, gezüchtet und aufgewachsen aus den Reihen meiner SS, dann ist das alles ein Klacks.

Im Falle des Wizgür griff aber nun das Schicksal zum Missverständnis, um meine Entscheidung zu beschleunigen. Denn ich wäre, und das können sich die Kleinkrämer merken, ich wäre auch in seine Sendung gegangen, wenn ich gewusst hätte, um welches Produkt es sich dabei handelte – aber nach längerer Bedenkzeit, die mich vielleicht die Gelegenheit gekostet hätte. Ich habe schon frühzeitig Goebbels klargemacht, dass ich notfalls auch bereit bin, den Hanswurst zu geben, sofern ich nur die Aufmerksamkeit der Menschen bekomme. Denn man kann niemanden gewinnen, der einem nicht zuhört. Und Zuhörer brachte mir jener Wizgür zu Hunderttausenden.

Bei rechtem Lichte betrachtet, war jener Wizgür einer jener »Künstler«, wie sie nur eine bürgerliche Demokratie hervorbringen konnte. Aufgrund genetischer Vermischung paarte sich hier welsches, ja asiatisches Aussehen mit tadellosem, wenn auch in schwer erträglichen Dialekt gefärbtem Deutsch. Diese Mischung gerade schien es, die jenem Wizgür seine Funktion ermöglichte. Sie entsprach in etwa der jener weißen Schauspieler, die sich in den USA schwarz schminkten, um Rollen als Darsteller für dümmliche Neger zu erhalten. Die Parallele war augenfällig, nur handelte es sich in diesem Falle nicht um den Konsum von Negerscherzen, sondern um den von Ausländerwitzen. An diesen schien ein derartiger Bedarf zu herrschen, dass es gleich mehrere dieser Rassekomödianten gab. Begreiflich war das nicht. In meinen Augen ist der Rasse- oder Ausländerwitz ein Widerspruch in sich. Zur Verdeutlichung mag ein Scherzwort dienen, das mir ein Kamerad 1922 erzählt hat.

Es begegnen sich zwei Veteranen.

»Wo sind Sie denn verwundet worden?«, fragt der eine.

»An den Dardanellen«, sagt der zweite.

Antwortet der erste: »Gerade da soll es ja so schmerzhaft sein!«

Ein heiteres Missverständnis, das ohne weitere Schwierigkeiten jeder Soldat zum Besten geben kann. Durch Austausch des Personals kann der heitere und sogar auch der belehrende Effekt verändert werden. Er lässt sich steigern, wenn man zum Beispiel die Rolle des Fragenden mit einem notorischen Besserwisser besetzt, sagen wir Roosevelt oder Bethmann-Hollweg. Wenn man nun aber annimmt, der dumme Fragende wäre kein Veteran, sondern ein Silberfischchen, fehlt die Heiterkeit sofort, da jeder Zuhörer denkt: Wie soll das Silberfischchen wissen, wo die Dardanellen sind?

Ein Dummer, der dumme Dinge tut, ist nicht komisch. Ein guter Witz braucht eine Überraschung, damit er seine belehrende Wirkung in größtem Umfange entfalten kann. Und natürlich kann es nicht überraschen, dass ein Türke ein Einfaltspinsel ist. Freilich, nähme der Türke in dem Witze allenthalben die Rolle des genialen Wissenschaftlers ein, dann wäre schon aufgrund der Absurdität ein Heiterkeitserfolg gewiss. Derartige Witze erzählte allerdings weder Herr Wizgür noch einer seiner Kollegen. Gängig waren in diesem Metier Schwänke und Anekdoten rund um mäßig bis kaum gebildete Ausländer, die in erbärmlichem Kauderwelsch schwer Verständliches stammelten. Dabei war die übliche demokratische Verlogenheit dieser »liberalen« Gesellschaft offenkundig: Während es insgesamt als verwerflich galt, sämtliche Ausländer über einen Kamm zu scheren und daher von deutschen Polit-Humoristen unablässig eine nachgerade sortenreine Trennung zu erfolgen hatte, konnten Wizgür und seine fragwürdigen Konsorten ähnliche Inder, Araber, Türken, Polen, Griechen, Italiener jederzeit nach Belieben in einen Topfe werfen.

Mir konnte das Vorgehen freilich recht sein, sogar gleich in doppeltem Maße. Ein großes Publikum des Herrn Wizgür sicherte auch mir eine große Aufmerksamkeit, zudem konnte ich aufgrund der Beschaffenheit jener Scherze beruhigt davon ausgehen, dass das Publikum in besonderem Maße ein volksdeutsches war. Nicht, weil deutsche Zuschauer über besonderes Nationalbewusstsein verfügt hätten, leider, sondern weil umgekehrt die Türken ein einfaches, stolzes Volk sind, das zwar gerne die ehrliche Burleske betrachtet, mit allerlei Tölpeln besetzt, doch Belehrungen und Veralberungen durch seine ehemaligen oder ausgewanderten Volksgenossen nicht schätzt. Es ist essenziell für den Türken, jederzeit der Achtung und des Respekts der Umgebung sicher zu sein – das ist mit einer Rolle als Dummbeutel unvereinbar.

Ich erachtete somit diese Form von Humor als so überflüssig wie erbärmlich. Wer Ratten im Hause hat, holt ja auch keinen Clown, sondern den Kammerjäger. Wenn aber derlei nötig schien, galt es, vom ersten Auftritte an zu zeigen, dass ein aufrechter Deutscher für Scherze über Angehörige minderwertiger Rassen nicht der Hilfe ausländischer Handlanger bedurfte.

Eine junge Dame trat auf mich zu, als ich beim Studio ankam. Sie hatte eine sportliche Figur, man hätte sie für ein Blitzmädel halten können, aber seit meiner Erfahrung mit jener Özlem hatte ich beschlossen, etwas vorsichtiger zu sein. Die junge Dame war reichhaltig verkabelt, trug offenbar eine Art Mikrofon am Mund und wirkte generell, als käme sie direkt aus der Fliegerleitstelle.

»Hallo«, sagte die junge Dame und hielt mir ihre Hand hin, »ich bin die Jenny. Und du bist dann wohl der…«, und hierbei stockte sie ein wenig, »Adolf…?«

Für einen Moment überlegte ich, was mit dieser recht direkten, ja plumpen Vertraulichkeit anzufangen war. Allerdings schien sie bei niemandem auf Erstaunen zu stoßen. Tatsächlich war dies meine erste Begegnung mit dem Jargon des Fernsehgeschäftes. Man war hier, wie sich später herausstellen sollte, offenbar der Ansicht, das Sendeerlebnis habe etwas Verbindendes, ganz ähnlich dem gemeinsamen Kampfe im Schützengraben, und fürderhin sei man nunmehr Teil eines Kämpferbundes, dessen Mitglieder sich Treue schworen sowie das »Du« bis zum Tode oder doch wenigstens bis zur Einstellung der jeweiligen Sendung. Diese Herangehensweise schien mir zunächst unangemessen, allerdings musste man freilich mildernd in Betracht ziehen, dass die Generation jener Jenny wohl noch keine echte Fronterfahrung hatte sammeln können. Ich gedachte das mittelfristig zu ändern, beschloss einstweilen aber, Vertrauen mit Vertrauen zu vergelten, und sprach beruhigend zu dem jungen Ding:

»Du kannst Onkel Wolf zu mir sagen.«

Sie runzelte kurz die Stirne und sagte dann: »Gut, Herr, ähm… Onkel…, kommen Sie bitte mit in die Maske?«

»Natürlich«, sagte ich und folgte ihr durch die Senderkatakomben, während sie sich ihr Mikrofonstäbchen an den Mund presste und »Elke, wir kommen jetzt zu dir« hineinsagte. Schweigend liefen wir die Flure entlang.

»Sie waren schon mal im Fernsehen?«, fragte sie dann. Mir fiel auf, dass das Duzen momentan wohl nicht mehr in Betracht kam. Vermutlich hatte die Aura des Führers sie inzwischen eingeschüchtert.

»Mehrfach«, sagte ich, »es liegt jedoch schon etwas zurück.«

»Ach«, sagte sie, »habe ich Sie womöglich schon mal gesehen?«

»Ich denke nicht«, schätzte ich, »das war damals auch hier in Berlin, im Olympiastadion…«

»Sie waren der Anheizer für den Mario Barth?«

»Ich war was?«, fragte ich noch, aber sie hörte schon längst nicht mehr zu.

»Sie sind mir gleich aufgefallen, das war super, was Sie da abgezogen haben. Das freut mich voll, dass Sie’s auch selber geschafft haben. Das ist aber was anderes, was Sie jetzt machen, oder?«

»Etwas… ganz anderes«, bestätigte ich zögernd, »die Spiele sind ja jetzt auch schon seit Längerem beendet…«

»Da wären wir schon«, sagte Fräulein Jenny und öffnete eine Tür, hinter der sich ein Schminktisch befand, »ich lasse Sie jetzt bei Elke. Elke – das ist… äh… Onkel Rolf.«

»Wolf«, verbesserte ich, »Onkel Wolf.«

Elke, eine ordentlich aussehende Frau um die vierzig, runzelte die Stirn und blickte auf mich, dann auf einen Zettel neben ihren Schminksachen. »Wolf habe ich hier keinen. Bei mir auf der Liste steht jetzt Hitler«, sagte sie. Dann hielt sie mir die Hand hin, sagte: »Ich bin die Elke«, und dann: »Du bist der…?«

Hier war ich wohl wieder im duzenden Schützengraben angelangt, allerdings schien mir Frau Elke in einem etwas zu fortgeschrittenen Alter für Onkel Wolf.

»Herr Hitler«, entschied ich.

»Also gut, Herr Hitler«, sagte Frau Elke, »setz dich schon mal. Irgendwelche Sonderwünsche? Oder soll ich einfach mal machen?«

»Ich vertraue Ihnen voll und ganz«, sagte ich und setzte mich. »Ich kann mich ja nicht um alles kümmern.«

»So ist es recht«, sagt Frau Elke und hängte mir zum Schutze der Uniform einen Kittel um. Dann besah sie mein Gesicht. »Sie haben eine prima Haut«, lobte sie und griff zur Puderdose, »viele Menschen in Ihrem Alter trinken einfach zu wenig. Sie sollten mal das Gesicht vom Balder sehen…«

»Ich trinke am liebsten viel stilles Wasser«, bestätigte ich ihr. »Es ist unverantwortlich, dem Volkskörper zu schaden.«

Frau Elke machte ein prustendes Geräusch und versenkte den kleinen Raum und uns beide in einer gewaltigen Puderwolke. »Entschuldigung«, sagte sie, »ich bringe das sofort wieder in Ordnung.« Dann begann sie mit einem kleinen Sauggerät die Wolke ein- und meine Uniformhose abzusaugen. Als sie gerade dabei war, große Teile meiner Frisur abzustauben, öffnete sich die Tür. Im Spiegel sah ich Ali Wizgür eintreten. Er hustete.

»Gehört der Nebelwerfer zum Programm?«, fragte er.

»Nein«, sagte ich.

»Das war mein Fehler«, sagte Frau Elke, »aber wir kriegen ihn schon wieder hin.« Das gefiel mir. Keine falschen Ausflüchte, keine Ausreden, sondern standhaft sich zu Fehlern bekennen und diese eigenverantwortlich ungeschehen machen – es war immer wieder erfreulich, dass auch in den vergangenen Jahrzehnten das deutsche Rassegut nicht vollkommen im demokratischen Erbsumpfe versunken war.

»Super«, sagte Wizgür und hielt mir die Hand hin. »Frau Bellini hat mir schon gesagt, dass du die Knaller nur so raushaust. Ich bin der Ali.«

Ich raschelte meine unverpuderte Hand unter dem Friseurkittel hervor und schüttelte die seine. Kleine Lawinen rieselten mir aus dem Haar.

»Angenehm. Hitler.«

»Und? Läuft’s? Passt alles?«

»Ich denke, ja. Oder, Frau Elke?«

»Ich hab’s gleich«, sagte Frau Elke.

»Geile Uniform«, sagte Wizgür, »alter Schwede! Die sieht ja richtig original aus! Wo kriegt man denn so was her?«

»Ja, das ist nicht ganz einfach«, überlegte ich, »zuletzt war ich meistens bei Josef Landolt in München…«

»Landolt«, grübelte Wizgür, »nie gehört. Aber München – dann ist der bei Pro Sieben? Die haben einige echt klasse Ausstatter an der Hand.«

»Er wird sich zwischenzeitlich wohl zurückgezogen haben«, vermutete ich.

»Ich seh schon, das haut super hin, du mit dem Nazi-Teil und ich. Obwohl, die Nazi-Nummer ist natürlich nicht ganz neu.«

»Ja und?«, fragte ich argwöhnisch.

»Nee, klar, die ist trotzdem immer wieder gut«, sagte er. »Ist ja nicht weiter tragisch. Alles war schon mal da… Die Ausländermasche hab ich mir in New York abgeguckt, das war in den Neunzigern da ganz angesagt. Wo hast du die Führersache her?«

»Letzten Endes von den Germanen«, sagte ich.

Wizgür lachte. »Die Bellini hat schon recht, du ziehst dein Ding echt voll durch. Okay, wir sehen uns dann. Brauchst du irgendein Stichwort? Oder soll ich irgendein Thema anschneiden, bevor ich dich ansage?«

»Nicht nötig«, sagte ich.

»Ich könnte das ja nicht«, sagte Wizgür, »so ganz ohne Text. Da wär ich aufgeschmissen. Aber ich hab auch nie viel für diese Improtheatersache übrig gehabt… Hau rein, Alter! Wir sehen uns gleich.« Damit verließ er den Raum.

Eigentlich hatte ich mit weiteren Anweisungen gerechnet.

»Und nun?«, fragte ich Frau Elke.

»Na sowas«, lachte sie, »der Führer weiß nicht wohin?«

»Es gibt keinen Grund zur Überheblichkeit«, tadelte ich, »der Führerstaat beruht auf Staatsführung, nicht auf Fremdenführung.«

Frau Elke riss mit einer Art Prusten rasch das Puderdöschen aus ihrer Schnaubzone. »Diesmal kriegen Sie mich nicht«, sagte sie, damit offenbar endgültig zum Siezen übergehend. Sie zeigte in eine Ecke des Raumes. »Sehen Sie hier? Über den Bildschirm können Sie die Sendung verfolgen. Davon gibt’s noch mehr, auch in der Garderobe oder beim Catering. Jenny holt Sie dann wieder ab und sorgt dafür, dass Sie pünktlich zu Ihrem Auftritt kommen.«

Die Sendung entsprach allem, was ich bis dahin von ihr gehört und gesehen hatte. Wizgür kündigte einige Sendeschnipsel an, dazu wurden kleine Filmchen gezeigt, in denen Wizgür wahlweise als Pole oder Türke auftrat und in verschiedenen Varianten deren Unzulänglichkeiten zu gespielten Bühnenwitzen verarbeitete. Letzten Endes war er nicht gerade ein Chaplin, andererseits war das wohl auch gut so. Das Publikum nahm seine Darbietung wohlwollend auf, und wenn man den Begriff weit genug fasste, lag dem Ganzen auch wenigstens teilweise ein politisches Bewusstsein zugrunde, sodass meine Botschaft hier fraglos die Gelegenheit hatte, auf fruchtbaren Boden zu fallen.

Die Übergabe sollte mit einem festen Satze erfolgen, den Wizgür auch anstandslos aufsagte: »Den Kommentar zum Tage spricht Adolf Hitler.« Daraufhin trat ich das erste Mal aus der Kulisse in das gleißende Licht der Scheinwerfer.

Es war, als käme ich nach entbehrungsreichen Jahren in der Fremde nach Hause in den Sportpalast. Die Hitze der Lichter brannte mir ins Antlitz, ich registrierte die Gesichter des jungen Publikums. Es mochten mehrere Hundert sein, stellvertretend für die Zehntausende, die Hunderttausende vor den Apparaten, es war exakt die Zukunft des Landes, es waren die Menschen, auf die ich mein Deutschland zu bauen gedachte. Ich spürte die Anspannung in mir und die Freude. Hatte ich jemals Zweifel gehabt, verschwanden sie nun im Taumel der Vorbereitung. Stundenlang zu reden war ich gewohnt, nun sollten fünf Minuten reichen.

Ich trat ans Rednerpult und schwieg.

Mein Blick ging in das Rund des Aufzeichnungsstudios. Ich horchte hinein in die Stille, gespannt, ob die Jahrzehnte der Demokratie wie erwartet nur geringe Spuren in den jungen Köpfen hinterlassen hatten. Es war ein Lachen bei der Nennung meines Namens durch das Publikum gegangen, das nun rasch verebbte, mit meiner Person konfrontiert zog Ruhe in das Rund. Ich konnte in ihren Gesichtern lesen, wie sie wohl zuerst mein Antlitz mit den Gesichtern ihnen bekannter professioneller Darsteller abzugleichen versuchten, ich sah die Verunsicherung, die ich mit schlichtem Blickkontakt in atemlose Stille überführen konnte. Hatte ich noch mit Zwischenrufen gerechnet, war die Sorge unbegründet – auf jeder Versammlung im Hofbräukeller war die Zahl der Störungen größer gewesen.

Ich trat kurz vor, machte Anstalten zu sprechen, verschränkte dann aber nur die Arme – sogleich sank der Geräuschpegel noch einmal auf ein Hundertstel, ja Tausendstel des vorherigen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie in Anbetracht der scheinbaren Ereignislosigkeit der Dilettant Wizgür zu schwitzen begann. Es war sofort ersichtlich, dass er nicht um die Macht der Stille wusste, sondern sie eher fürchtete. Seine Augenbrauen versuchten sich an Grimassen, als hätte ich meinen Text vergessen. Eine Assistentin versuchte mir Zeichen zu geben und pochte aufgeregt auf ihre Armbanduhr. Ich zögerte die Stille weiter hinaus, indem ich langsam den Kopf hob. Ich spürte die Spannung im Saal, die Unsicherheit des Wizgür. Ich genoss es. Ich ließ die Luft in meine Lungen strömen, richtete mich vollends auf und gab der Stille einen Klang. Es kann eine fallende Stecknadel genügen, wo alles auf Kanonendonner lauscht.

»Volksgenossen und Volksgenossinnen!

Was ich,

was wir

soeben

in zahlreichen

Beiträgen

gesehen haben,

ist wahr.

Es ist wahr,

dass der Türke kein Kulturschöpfer ist

und auch

dass er

keiner mehr wird.

Dass er eine Krämerseele ist,

deren geistige Fähigkeiten

die eines Leibeigenen

üblicherweise nicht

zu sehr

übersteigen.

Dass der Inder

eine

religiös verwirrte schwatzhafte Natur

hat.

Dass das Verhältnis des Polen zum Eigentum

nachhaltig!

gestört ist.

Es sind dies

alles

allgemeine Wahrheiten,

die jedem Volksgenossen

und jeder Volksgenossin

ohne Weiteres

einleuchten.

Jedoch ist es eine

nationale Schande, dass hier in Deutschland

nur

ein türkischer! Anhänger unserer Bewegung

dieses auch laut zu sagen wagt.

Volksgenossen und Volksgenossinnen:

Wenn ich die Gegenwart Deutschlands betrachte,

so überrascht mich das nicht!

Der Deutsche der Gegenwart

trennt seinen Abfall gründlicher

als seine Rassen

mit einer einzigen Ausnahme:

auf dem Felde des Humors.

Hier macht

nur!

der Deutsche Scherze über den Deutschen,

der Türke macht Scherze über den Türken.

Die Hausmaus macht Scherze über die Hausmaus

und

die Feldmaus über die Feldmaus.

Das hat sich zu ändern,

und das wird sich ändern.

Ab heute, 22.45 Uhr, scherzt die Hausmaus

über die Feldmaus,

der Dachs über den Rehbock

und der Deutsche über den Türken.

Daher schließe ich mich inhaltlich

in vollem Umfang

der Ausländerkritik meines Vorredners an.«

Damit trat ich ab.

Die Stille war erstaunlich.

Ich ging mit festem Schritt hinter die Kulissen. Aus dem Publikum war noch immer kein Laut zu hören. Der Dame Bellini flüsterte gerade ein Kollege etwas ins Ohr. Ich stellte mich neben sie und beobachtete wieder das Publikum. Die Augen der Menschen waren verwirrt, sie suchten Halt auf der Bühne und schweiften zurück zu dem Moderatorenschreibtisch. Dort saß jener Wizgür und klappte auf der Suche nach einer launigen Verabschiedung ratlos den Mund auf und zu. Es war jene sichtliche Überforderung, die im Publikum einen wahren Lachsturm hervorrief. Ich verfolgte nicht unzufrieden seine völlige Unfähigkeit, die letzten Endes in einem lauwarmen »Bis zum nächsten Mal und schalten Sie wieder ein« versiegte. Die Bellini räusperte sich. Sie schien für einen Augenblick unsicher, so beschloss ich, ihr etwas Mut zuzusprechen.

»Ich weiß, was Sie jetzt denken«, sagte ich ihr.

»So?«, meinte sie. »Wissen Sie das?«

»Natürlich«, antwortete ich. »Mir ging es einmal ähnlich. Wir hatten erstmals den Circus-Krone-Bau angemietet, und es war nicht sicher, ob…«

»Entschuldigen Sie«, sagte die Bellini, »ein Anruf.«

Sie zog sich in einen Winkel der Kulissen zurück und hob ihr mobiles Telefongerät ans Ohr. Was sie hörte, schien ihr nicht zu gefallen. Ich versuchte gerade, ihre Miene zu deuten, als ich eine Hand an der Uniform spürte. Es war jener Wizgür, der mich am Kragen riss. Sein Gesicht hatte nichts Heiteres mehr. Mir wurde wieder einmal schmerzlich das Fehlen meiner SS bewusst, als er mich an die Kulissen drückte und zwischen den Zähnen hervorstieß:

»Du Arschloch schließt dich hier nicht irgendwelchen Vorrednern an!«

Aus den Augenwinkeln sah ich einige Ordner herbeilaufen. Wizgür stieß mich nochmals an die Wand, ließ mich aber los. Sein Kopf war dunkelrot. Dann drehte er sich um und schrie: »Was läuft hier für eine abgewichste Scheiße? Ich dachte, der macht hier sein Nazi-Programm!« Mit unverminderter Lautstärke wandte er sich dann an den neben uns stehenden Hotelreservierer Sawatzki: »Wo ist die Carmen? Wo? Ist? Die? Carmen?!«

Blass, aber straff gespannt eilte die Dame Bellini herbei. Ich überlegte, ob ich in jenem Augenblicke mit ihrer vollen Bündnistreue rechnen konnte, kam aber zu keinem endgültigen Ergebnis. Sie machte beschwichtigende Handbewegungen und öffnete den Mund zu einer Äußerung, kam jedoch nicht dazu.

»Carmen! Endlich! Hier läuft eine Riesenscheiße ab! Hast du das gesehen? Hast du das gesehen? Was ist das für ein Arschloch? Du hast gesagt, ich mache meine Ausländernummer und der macht seinen Nazi-Scheiß. Du hast gesagt, er wird mir widersprechen! Er wird sich über Türken im Fernsehen aufregen oder so! Und jetzt das! Was heißt hier ›Anhänger der Bewegung‹? Welche Bewegung? Wieso Anhänger? Wie stehe ich denn jetzt da?«

»Ich hab dir aber auch gesagt, dass er anders ist«, sagte die Bellini, die sich erstaunlich rasch wieder vollkommen in den Griff bekam.

»Das ist mir scheißegal«, schäumte jener Wizgür, »ich sage es hier und jetzt: Ich will diese Drecksau nicht mehr in meiner Sendung. Der hält sich an keine Absprachen! Ich lass mir von dem Arschloch nicht die Sendung ruinieren.«

»Bleib ruhig«, sagte die Bellini jetzt mit einer eigentümlich sanft-energischen Stimme. »Das ist doch gar nicht so schlecht gelaufen.«

»Ist alles in Ordnung?«, fragte einer der beiden Saalordner.

»Schon klar«, sagte die Dame Bellini beschwichtigend, »ich habe das hier unter Kontrolle. Beruhige dich, Ali.«

»Ich beruhige mich überhaupt nicht«, gellte Wizgür, dann bohrte er mir seinen Zeigefinger knapp unter den Schulterriemen. »Du machst mir hier nichts kaputt, Freundchen«, und dabei hämmerte er unablässig wie ein Specht mit dem Zeigefinger auf meine Brust, »du glaubst, du kommst hier durch mit deiner albernen Hitleruniform und deiner ach so undurchschaubaren Masche, aber ich sag dir, das ist überhaupt nicht neu, das ist ein ganz alter Hut. Du bist ein Amateur. Was glaubst du, was du hier machst? Du kommst und setzt dich ins gemachte Nest? Aber daraus wird nichts, mein Lieber, das kannst du dir abschminken! Wenn hier jemand Anhänger hat, dann bin ich das! Das ist mein Publikum, das sind meine Fans, da hältst du dich mal schön raus! Du bist ein erbärmlicher Amateur, und deine Uniform und deine ganze Nummer ist absolute Scheiße. Mit dem Quatsch kannst du demnächst in irgendwelchen Bierzelten auftreten oder im Schützenverein, ich sage dir: Du wirst nichts mehr!«

»Ich brauche nichts zu sein«, sagte ich gelassen, »hinter mir stehen Millionen volksdeutsche Genossen, die…«

»Hör mit deiner Scheiße auf«, kreischte Wizgür, »du bist hier nicht auf Sendung! Glaubst du, du kannst mich provozieren? Du provozierst mich nicht! Mich!! Nicht!!!«

»Kommt runter«, sagte die Bellini jetzt laut, »alle beide. Klar, wir müssen das alles noch ein wenig überarbeiten. Das braucht noch ein wenig Feintuning. Aber es war gar nicht so schlecht. Eben was Neues. Jetzt beruhigen wir uns und schauen, was die Kritiken sagen…«

Und wenn ich seit meiner jüngeren Gegenwart einmal meiner Berufung absolut sicher war, dann war es in diesem Augenblick.

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