G. K. Chesterton
FATHER BROWNS
WEISHEIT

Chesterton widmete den Band

seinem Schwager Lucian

Die Abwesenheit von Mr. Glass

Die Konsultationsräume von Dr. Orion Hood, dem hervorragenden Kriminologen und Spezialisten für gewisse moralische Gebresten, zogen sich an der Seeseite von Scarborough hin, hinter einer Reihe sehr großer und heller Terrassentüren, durch die man die Nordsee wie eine endlose Außenmauer aus blaugrünem Marmor sah. An solchen Orten hat die See etwas von der Monotonie eines blaugrünen Tapetensockelstreifens: denn in den Räumen herrschte eine schreckliche Ordentlichkeit, nicht unähnlich der schrecklichen Ordentlichkeit der See. Man darf nun nicht annehmen, daß Dr. Hoods Räume des Luxus oder gar der Poesie entbehrten. Auch diese Dinge waren da, an ihrem Platze; aber man spürte, daß er es niemals gestattete, sie von ihrem Platz zu entfernen. Luxus gab es: Da standen auf einem besonderen Tisch acht oder zehn Kistchen der besten Zigarren; aber sie waren einem Plan gemäß aufgestellt, so, daß sich die stärksten immer der Wand und die leichtesten dem Fenster am nächsten befanden. Jener rechtens Tantalus genannte Ständer mit drei Karaffen Spirituosen in Verriegelung, natürlich die feinsten Marken, stand immer auf dem Tisch des Luxus; doch Phantasiebegabte behaupten, daß der Pegelstand von Whisky, Brandy und Rum sich niemals verändere. Poesie gab es: Die linke Ecke des Raumes war mit einer ebenso vollständigen Sammlung der englischen Klassiker ausgestattet, wie sie die rechte an englischen und ausländischen Physiologen aufweisen konnte. Aber wenn man einen Band Chaucer oder Shelley aus ihrer Reihe nahm, irritierte deren Abwesenheit den Geist ebenso wie eine Lücke in eines Mannes vorderen Zahnreihe. Man konnte nicht behaupten, daß die Bücher niemals gelesen würden; vermutlich wurden sie es, aber da waltete so ein Eindruck, als seien sie an ihre Plätze gekettet wie die Bibeln in alten Kirchen. Dr. Hood behandelte seine privaten Bücherregale, als seien sie eine öffentliche Bibliothek. Und wenn diese strenge wissenschaftliche Unantastbarkeit sich sogar auf die mit Lyrik und Balladen beladenen Borde und die mit Getränken und Tabak beladenen Tische erstreckte, dann braucht nicht ausdrücklich betont zu werden, daß eine noch größere heidnische Heiligkeit jene anderen Regale schützte, die des Spezialisten Fachbibliothek enthielten, und jene anderen Tische, die die zerbrechlichen und sogar zauberhaften Gerätschaften der Chemie und der mechanischen Verfahren trugen.

Dr. Hood durchschritt die Flucht seiner Räume, die – wie die geographischen Schulbücher es ausdrücken – im Osten von der Nordsee und im Westen von den gedrängten Reihen seiner soziologischen und kriminologischen Fachbibliotheken begrenzt wurden. Er war in Künstlersamt gekleidet, aber mit keiner der Nachlässigkeiten eines Künstlers; sein Haar war bereits stark angegraut, wuchs aber dicht und gesund; sein Gesicht war mager, aber gut durchblutet und erwartungsvoll. Alles an ihm und in seinen Räumen wies etwas zugleich Steifes und Ruheloses auf wie jene große nördliche See, an der er (aus rein hygienischen Grundsätzen) sein Heim erbaut hatte.

Das Schicksal, gerade spaßhaft gelaunt, stieß die Tür auf und geleitete jemanden in jene langgestreckten, gestrengen, seebegrenzten Räume, der vielleicht ihr und ihres Herrn verblüffendstes Gegenteil war. In Beantwortung eines kurzen, aber höflichen Klopfens öffnete sich die Tür nach innen, und in den Raum watschelte eine formlose kleine Gestalt, die ihren eigenen Hut und Schirm ebenso unhandlich zu finden schien wie einen großen Berg Gepäck. Der Regenschirm war ein schwarzes und prosaisches Bündel, längst jenseits jeder Reparatur; der Hut war ein schwarzer Hut mit breiten hochgerollten Krempen, klerikal, aber für England ungewöhnlich; der Mann selbst war die reine Verkörperung all dessen, was schlicht und hilflos ist.

Der Doktor betrachtete den Neuankömmling mit zurückhaltendem Erstaunen, nicht unähnlich jenem, das er gezeigt haben würde, wenn irgend ein riesiges, aber offenkundig harmloses Seewesen in sein Zimmer gekrochen wäre. Der Neuankömmling betrachtete den Doktor mit jener strahlenden, aber atemlosen Freundlichkeit, die eine umfangreiche Putzfrau kennzeichnet, der es gerade noch gelungen ist, sich in einen Bus zu stopfen. Eine reiche Mischung aus gesellschaftlicher Selbstbeglückwünschung und körperlicher Durcheinanderkeit. Sein Hut war auf den Teppich gefallen, sein schwerer Schirm glitt ihm polternd zwischen die Beine; er griff nach dem einen und bückte sich nach dem anderen, sprach aber mit einem unbeschädigten Lächeln auf seinem runden Gesicht gleichzeitig wie folgt:

»Mein Name ist Brown. Bitte um Vergebung. Ich komme wegen dieser Sache mit den MacNabs. Ich habe gehört, daß Sie oft Menschen aus solchen Schwierigkeiten helfen. Um Vergebung, wenn ich mich irre.«

Inzwischen hatte er unter Verrenkungen seinen Hut zurückgewonnen und machte nun eine sonderbare kleine ruckende Verbeugung über ihn hin, als sei damit alles in zufriedenstellender Ordnung.

»Ich gestehe, Sie nicht zu verstehen«, erwiderte der Wissenschaftler mit kalter intensiver Höflichkeit. »Ich fürchte, Sie haben sich in der Tür geirrt. Ich bin Dr. Hood, und meine Arbeit ist fast ausschließlich literarisch und erzieherisch. Es trifft zu, daß ich manchmal von der Polizei in Fällen besonderer Schwierigkeit und Wichtigkeit konsultiert worden bin, aber – «

»Oh, dieser ist von der größten Wichtigkeit«, fiel ihm der kleine Mann namens Brown ins Wort. »Wissen Sie, ihre Mutter läßt nicht zu, daß sie sich verloben.« Und er lehnte sich in fröhlicher Vernünftigkeit in seinen Stuhl zurück.

Die Brauen von Dr. Hood zogen sich düster zusammen, aber die Augen unter ihnen leuchteten hell, aus Ärger oder aus Erheiterung. »Aber dennoch«, sagte er, »verstehe ich immer noch nicht.«

»Passen Sie auf, sie wollen heiraten«, sagte der Mann mit dem klerikalen Hut. »Maggie MacNab und der junge Todhunter wollen heiraten. Nun also, und was könnte noch wichtiger sein?«

Die wissenschaftlichen Triumphe des großen Orion Hood hatten ihn mancher Dinge beraubt – die einen behaupten seiner Gesundheit, die anderen seines Gottes; aber sie hatten ihm nicht völlig den Sinn fürs Absurde genommen. Bei dieser letzten Vorbringung des einfältigen Priesters brach ein Kichern aus seinem Inneren hervor, und er warf sich in der ironischen Haltung eines konsultierten Arztes in seinen Lehnstuhl.

»Mr. Brown«, sagte er feierlich, »es ist mindestens 14 und 1/2 Jahr her, seit ich persönlich ersucht wurde, ein persönliches Problem zu untersuchen: Damals ging es um einen versuchten Giftanschlag auf den französischen Präsidenten bei einem Bankett des Londoner Oberbürgermeisters. Jetzt also handelt es sich, soweit ich verstehe, um die Frage, ob eine Ihrer Bekannten namens Maggie die geeignete Verlobte für einen ihrer Bekannten namens Todhunter ist. Alsdann, Mr. Brown, ich bin Sportsmann. Ich übernehme den Fall. Ich werde der Familie MacNab meinen besten Rat zuteil werden lassen, so gut, wie ich ihn dem französischen Präsidenten und dem König von England zuteil werden ließ – nein, besseren; 14 Jahre besseren. Heute nachmittag habe ich nichts anderes zu tun. Also erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«

Der kleine Kirchenmann namens Brown dankte ihm mit unbestreitbarer Wärme, aber immer noch in einer sonderbaren Art von Schlichtheit. Es war eher, als danke er einem Fremden in einem Raucherzimmer für die Mühen, ihm die Streichhölzer zu reichen, als daß er sozusagen (was er ja auch tat) dem Direktor von Kew Gardens dafür dankte, ihn aufs Feld zu begleiten, um ein vierblättriges Kleeblatt zu suchen. Und so begann er praktisch ohne einen Strichpunkt nach seinem herzlichen Dank mit seinem Bericht:

»Wie ich Ihnen sagte, heiße ich Brown; so ist es in der Tat, und ich bin der Priester jener kleinen katholischen Kirche, die Sie sicherlich jenseits jener langgezogenen Straßen bereits gesehen haben, in denen die Stadt nach Norden zu endet. In der letzten und langgezogensten jener Straßen, die wie ein Seedamm an der See entlang läuft, lebt ein Mitglied meiner Herde, sehr ehrbar, aber mit eher heftigem Temperament, eine Witwe namens MacNab. Sie hat eine Tochter, und sie hat Einmieter, und zwischen ihr und ihrer Tochter, und zwischen ihr und den Einmietern – nun ja, ich zweifle nicht, daß man für beide Seiten manches sagen könnte. Gegenwärtig hat sie nur einen Einmieter, den jungen Mann namens Todhunter, aber er hat mehr Schwierigkeiten als alle anderen zusammen verursacht, denn er will die Tochter des Hauses heiraten.«

»Und was«, fragte Dr. Hood mit großem und stillem Vergnügen, »will die Tochter des Hauses?«

»Nun ja, sie will ihn auch heiraten«, rief Father Brown und setzte sich eifrig auf. »Das ist ja gerade die gräßliche Schwierigkeit.«

»Das ist wahrhaft ein fürchterliches Rätsel«, sagte Dr. Hood.

»Dieser junge James Todhunter«, fuhr der Kleriker fort, »ist meines Wissens ein sehr anständiger Mensch; aber schließlich weiß niemand sehr viel. Er ist ein aufgeweckter bräunlicher kleiner Kerl, beweglich wie ein Affe, glattrasiert wie ein Schauspieler und entgegenkommend wie ein geborener Höfling. Er scheint eine ganze Menge Geld zu haben, aber niemand weiß, was er für einen Beruf hat. Mrs. MacNab ist deshalb (da sie einen Hang zum Pessimismus hat) der Überzeugung, daß es sich um etwas Furchtbares handeln muß und möglicherweise mit Dynamit zu tun hat. Das Dynamit muß von scheuer und geräuschloser Art sein, denn der arme Kerl schließt sich nur jeden Tag ein paar Stunden ein und studiert hinter geschlossener Tür irgendwas. Er erklärt, daß diese Zurückgezogenheit zeitlich begrenzt und gerechtfertigt sei, und verspricht, alles vor der Hochzeit zu erklären. Das ist alles, was man genau weiß, aber Mrs. MacNab wird Ihnen eine ganze Menge mehr erzählen, als selbst sie genau weiß. Sie wissen ja, daß Geschichten auf so einem Feld der Unwissenheit wie Gras wachsen. Es gibt Geschichten von zwei Stimmen, die man im Zimmer habe sprechen hören, obwohl bei geöffneter Tür Todhunter immer allein angetroffen wird. Es gibt Geschichten von einem rätselhaften großen Mann mit seidenem Zylinderhut, der einmal aus den Seenebeln, scheinbar direkt aus der See, auftauchte und im Zwielicht sanft über die sandigen Streifen schritt und durch den schmalen Garten, bis man ihn mit dem Einmieter an dessen offenem Fenster sprechen hörte. Das Zwiegespräch scheint in Streit geendet zu haben. Todhunter jedenfalls schlug das Fenster gewaltsam zu, und der Mann mit hohem Hut verschmolz wieder mit dem Seenebel. Diese Geschichte wird von der Familie mit den wildesten Ausschmückungen erzählt; aber ich glaube, daß Mrs. MacNab tatsächlich ihre eigene ursprüngliche Fassung allen anderen vorzieht: daß nämlich der Andermann (oder was immer es sein mag) jede Nacht aus der großen Kiste in der Ecke hervorkriecht, die den ganzen Tag über verschlossen ist. Sie ersehen daraus, wie Todhunters verschlossene Tür als die Eingangspforte zu allen Phantasien und Ungeheuerlichkeiten aus Tausendundeiner Nacht behandelt wird. Und dann ist da dieser kleine Kerl in seiner anständigen schwarzen Jacke, so pünktlich und unschuldig wie eine Standuhr. Er zahlt pünktlich seine Miete; er ist praktisch Abstinenzler; er ist unermüdlich freundlich zu den kleineren Kindern und kann sie den ganzen Tag lang in guter Laune halten; und schließlich und am wichtigsten von allem, er hat sich bei der ältesten Tochter genauso beliebt gemacht, die deshalb bereit ist, morgen mit ihm zum Altar zu schreiten.«

Ein Mann, der sich einmal leidenschaftlich mit einer beliebigen weitgespannten Theorie eingelassen hat, findet immer Vergnügen daran, sie auf jede beliebige Belanglosigkeit anzuwenden. Nachdem der große Spezialist sich einmal zu des Priesters Schlichtheit herabgelassen hatte, ließ er sich ausführlich herab. Er setzte sich bequem in seinem Lehnstuhl zurecht und begann im Tonfall eines etwas geistesabwesenden Dozenten zu reden:

»Selbst bei winzigen Vorkommnissen ist es am besten, zuerst einen Blick auf die Hauptbestrebungen der Natur zu werfen. Eine spezielle Blume mag bei Winterseinbruch nicht sterben, aber die Blumen sterben; ein spezieller Kiesel mag niemals von der Flut benetzt werden, aber die Flut kommt immer. Für den wissenschaftlichen Blick ist die ganze Menschheitsgeschichte eine Reihung von kollektiven Bewegungen, Zerstörungen oder Wanderungen wie das Massensterben der Fliegen im Winter oder die Rückkehr der Vögel im Frühling. Nun heißt das aller Geschichte zugrunde liegende Faktum Rasse. Rasse bringt Religion hervor; Rasse bringt Rechts- wie Religionskriege hervor. Dafür gibt es keinen stärkeren Beweis als jene wilde, unweltliche und aussterbende Rasse, die wir gewöhnlich die Kelten nennen, davon Ihre Freunde, die MacNabs, Musterexemplare sind. Klein, dunkel und von träumerisch schweifendem Blut, nehmen sie leicht die abergläubischen Erklärungen jedes Vorkommnisses hin, wie sie immer noch (Sie werden mir verzeihen) jene abergläubische Erklärung aller Vorkommnisse hinnehmen, die Sie und Ihre Kirche darstellen. Es ist nicht verwunderlich, daß solche Leute mit der stöhnenden See hinter sich und der dröhnenden Kirche vor sich (Sie verzeihen erneut) vermutlich normalen Vorgängen phantastische Züge andichten. Sie mit Ihren beschränkten Gemeindeverantwortlichkeiten sehen nur diese spezielle Mrs. MacNab mit ihrer speziellen Geschichte von den zwei Stimmen und einem großen Mann aus der See. Aber der Mann mit wissenschaftlicher Vorstellungskraft sieht die ganzen Sippen der MacNabs gleichsam über die ganze Erde verstreut, in ihrer letztlichen Durchschnittlichkeit so einförmig wie eine Vogelart. Er sieht Tausende von Mrs. MacNabs in Tausenden von Häusern, wie sie ihre kleinen Tröpfchen Morbidität in die Teetassen ihrer Freunde träufeln; er sieht – «

Ehe der Wissenschaftler seinen Satz abschließen konnte, erscholl von draußen ein weiteres und ungeduldigeres Pochen; jemand in raschelnden Röcken wurde eilends durch die Gänge geleitet, und die Tür öffnete sich einem jungen Mädchen, anständig gekleidet, aber durcheinander und vor Eile feuerrot. Sie hatte vom Seewind verwehtes blondes Haar und wäre von vollendeter Schönheit gewesen, wenn es nicht ihre Wangenknochen gegeben hätte, die in der schottischen Art nach Form und Farbe zu stark betont waren. Ihre Entschuldigung war fast ebenso schroff wie ein Befehl.

»Tut mir leid, Sie zu unterbrechen, Sir«, sagte sie, »aber ich mußte Father Brown gleich nachlaufen; es geht schließlich um Leben oder Tod.«

Father Brown kam in einiger Verwirrung auf die Füße. »Was ist denn los, Maggie?« fragte er.

»Soweit ich das feststellen kann, ist James ermordet worden«, antwortete das Mädchen und atmete immer noch schwer vom rennen. »Der Mann Glass war wieder bei ihm; ich habe sie ganz deutlich durch die Tür reden gehört. Zwei verschiedene Stimmen: denn James spricht leise und kehlig, aber die andere Stimme war hoch und zittrig.«

»Der Mann Glass?« wiederholte der Priester in einiger Verblüffung.

»Ich weiß, daß sein Name Glass ist«, antwortete das Mädchen in großer Ungeduld. »Ich hab ihn durch die Tür gehört. Sie haben sich gestritten, wohl um Geld – denn ich habe James immer wieder sagen hören ›Das ist richtig, Mr. Glass‹ oder ›Nein, Mr. Glass‹, und dann ›Zwei oder drei, Mr. Glass‹. Aber wir reden viel zu viel; Sie müssen sofort mitkommen, vielleicht ist noch Zeit.«

»Zeit wofür?« fragte Dr. Hood, der die junge Dame mit offenkundigem Interesse studiert hatte. »Was gibt es da mit Mr. Glass und seinen Geldsorgen, was solche Dringlichkeit nahelegt?«

»Ich hab versucht, die Tür einzubrechen, und hab es nicht gekonnt«, antwortete das Mädchen kurz. »Dann bin ich in den Hinterhof gerannt und bin aufs Fensterbrett geklettert, von wo man ins Zimmer kucken kann. Alles war dunkel und schien leer zu sein, aber ich schwöre, daß ich James wie ein Häufchen in einer Ecke liegen sah, als ob er betäubt oder erwürgt wäre.«

»Das ist sehr ernst«, sagte Father Brown, schnappte sich seinen wanderlustigen Hut und seinen Schirm und stand auf; »übrigens habe ich gerade diesem Herrn hier Ihren Fall vorgetragen, und seine Meinung – «

»Hat sich entschieden verändert«, sagte der Wissenschaftler ernst. »Ich glaube nicht, daß diese junge Dame so keltisch ist, wie ich angenommen habe. Und da ich nichts anderes zu tun habe, werde ich mir meinen Hut aufsetzen und mit Ihnen in die Stadt hinabgehen.«

Einige Minuten danach näherten sie sich alle drei dem trübseligen Ende der Straße der MacNabs: das Mädchen mit dem festen und atemlosen Schritt des Bergbewohners, der Kriminologe in lässiger Anmut (die nicht ohne eine gewisse leopardenähnliche Schnelligkeit war), und der Priester in einem energischen Trab ohne jede erkennbare Eigenschaft. Der Anblick dieser Ecke der Stadt war nicht gänzlich ohne erkennbare Rechtfertigung für die Hinweise des Doktors auf trostlose Stimmungen und Umgebungen. Die verstreuten Häuser standen weiter und weiter voneinander entfernt, in einer gebrochenen Reihe entlang der Seeküste; der Nachmittag verging in einer verfrühten und halb gespenstischen Dämmerung; die See war von tintigem Purpur und düsterem Raunen. In dem winzigen Garten der MacNabs, der zum Sandstrand hinunterlag, standen zwei schwarze kahle Bäume aufrecht wie vor Erstaunen erhobene Dämonenhände, und als Mrs. MacNab die Straße herabgelaufen kam, um sie mit mageren, ähnlich ausgestreckten Händen zu empfangen, schien sie fast selbst ein Dämon. Der Doktor und der Priester antworteten kaum auf ihre schrillen Wiederholungen der Geschichte ihrer Tochter, die sie von sich aus mit noch mehr beunruhigenden Einzelheiten anreicherte, auf ihre geteilten Racheschwüre gegen Mr. Glass wegen Mordes, und gegen Mr. Todhunter wegen Sichermordenlassens, oder gegen die Kühnheit des letzteren, ihre Tochter heiraten zu wollen, und seine Unfähigkeit, dafür lange genug zu leben. Sie gingen durch den engen Durchgang an der Vorderseite des Hauses, bis sie zur Tür des Einmieters an der Hinterseite kamen, und da warf Dr. Hood mit der Praxis des alten Detektivs seine Schulter scharf gegen das Türpaneel und brach die Tür auf.

Sie öffnete sich auf eine Szene der schweigenden Katastrophe. Keiner, der sie auch nur für einen Augenblick sah, konnte daran zweifeln, daß das Zimmer die Bühne eines schauerlichen Zusammenstoßes zwischen zwei oder vielleicht noch mehr Personen gewesen war. Spielkarten lagen über Tisch und Boden verstreut, als ob ein Spiel unterbrochen worden wäre. Zwei Weingläser standen in Erwartung des Weines auf einem Beisetztisch bereit, doch ein drittes lag, zu einem Stern von Kristallsplittern zerschmettert, auf dem Teppich. Einige Schritte weiter lag etwas wie ein langes Messer oder ein kurzes Schwert, gerade, aber mit reich verziertem und bemaltem Griff; die matte Klinge fing einen grauen Schimmer vom trüben Fenster dahinter ein, durch das man die schwarzen Bäume gegen die bleierne Fläche der See sah. In die gegenüberliegende Zimmerecke war der Seidenzylinder eines Gentlemans gerollt, als habe man ihn soeben erst von seinem Kopf herabgeschlagen; geradezu so deutlich, daß man fast vermeinte, ihn immer noch rollen zu sehen. Und in der Ecke dahinter lag, hingeworfen wie ein Sack Kartoffeln, aber verschnürt wie ein Eisenbahnkoffer, Mr. James Todhunter, mit einem Schal über dem Mund und sechs oder sieben Schlingen um Ellenbogen und Knöchel. Seine braunen Augen waren lebendig und bewegten sich wachsam.

Dr. Orion Hood hielt für einen Augenblick auf der Türmatte inne und nahm die ganze Szene stimmloser Gewalt in sich auf. Dann schritt er schnell über den Teppich, hob den hohen Seidenhut auf und stülpte ihn feierlich auf den Kopf des immer noch gefesselten Todhunter. Er war für ihn so sehr zu groß, daß er ihm fast bis auf die Schultern rutschte.

»Der Hut von Mr. Glass«, sagte der Doktor, der mit ihm zurückkam und sein Inneres mit einer Taschenlampe untersuchte. »Wie soll man die Abwesenheit von Mr. Glass und die Anwesenheit des Huts von Mr. Glass erklären? Denn Mr. Glass geht mit seiner Kleidung nicht unachtsam um. Dieser Hut ist von modischer Form und systematisch gebürstet und gepflegt, wenngleich nicht gerade neu. Ein alter Lebemann, sollte ich meinen.«

»Aber um Himmels willen!« rief Miss MacNab, »wollen Sie denn den Mann nicht zuerst losbinden?«

»Ich sagte ›alter‹ mit Absicht, obwohl nicht mit Sicherheit«, fuhr der Erläuterer fort; »mein Grund dafür mag etwas weit hergeholt erscheinen. Das Haar des Menschen fällt in sehr unterschiedlichem Maße aus, aber es fällt immer aus, und durch die Lupe sollte ich die feinen Haare in einem kürzlich getragenen Hut sehen können. Da sind aber keine, was mich zu der Vermutung bringt, daß Mr. Glass kahl ist. Wenn man dies nun mit der hohen und streitsüchtigen Stimme zusammenbringt, die Miss MacNab so lebhaft beschrieben hat (Geduld, meine liebe Dame, Geduld), wenn wir den kahlen Kopf mit dem Tonfall greisenhaften Zorns zusammenbringen, dann können wir daraus, meine ich, auf einen gewissen Vorschritt in den Jahren schließen. Dennoch war er vermutlich kraftvoll und fast mit Sicherheit hochgewachsen. Ich könnte mich dabei in gewissem Maße auf den Bericht über sein früheres Auftauchen am Fenster stützen, als großgewachsener Mann mit Zylinder, aber ich glaube, daß ich einen genaueren Hinweis habe. Dieses Weinglas ist über das ganze Zimmer zersplittert, aber einer der Splitter liegt oben auf der hohen Konsole neben dem Kaminsims. Kein solches Bruchstück könnte dorthin gefallen sein, wenn das Gefäß in der Hand eines verhältnismäßig kurzen Mannes wie Mr. Todhunter zerbrochen wäre.«

»Übrigens«, fragte Father Brown, »könnten wir Mr. Todhunter nicht ebensogut losbinden?«

»Unsere Lektion aus den Trinkgefäßen ist damit nicht beendet«, fuhr der Spezialist fort. »Ich will gleich sagen, daß der Mann Glass möglicherweise eher durch Ausschweifungen denn durch Alter kahl und nervös wurde. Es wurde gesagt, daß Mr. Todhunter ein ruhiger, sparsamer Mann ist, im wesentlichen ein Abstinenzler. Diese Spielkarten und Weinkelche gehören nicht zu seinen Gepflogenheiten ; sie wurden für einen speziellen Gefährten bereitgestellt. Wir können aber angesichts der Lage der Dinge noch weiter gehen. Mr. Todhunter mag Besitzer dieser Weingläser sein oder auch nicht, aber es gibt kein Anzeichen dafür, daß er Wein besitzt. Was also sollten diese Gefäße enthalten? Spontan möchte ich annehmen Brandy oder Whisky, vielleicht von einer besonderen Sorte, aus einer Flasche in der Tasche von Mr. Glass. Damit entsteht gewissermaßen das Bildnis dieses Mannes, oder wenigstens des Typs: groß, ältlich, elegant, aber bereits etwas verbraucht, Liebhaber sicherlich von Glücksspielen und starken Getränken, vielleicht zu sehr Liebhaber. Mr. Glass ist ein Gentleman, wie er in den Randgebieten der Gesellschaft nicht unbekannt ist.«

»Hören Sie«, rief die junge Frau, »wenn Sie mich nicht vorbeilassen, um ihn loszubinden, laufe ich raus und schreie nach der Polizei.«

»Ich würde Ihnen nicht raten, Miss MacNab«, sagte Dr. Hood gravitätisch, »sich mit der Herbeiholung der Polizei zu überstürzen. Father Brown, ich rate Ihnen ernstlich, Ihre Herde zu beruhigen, in ihrem Interesse, nicht in meinem. Nun denn, wir haben einiges von der Gestalt und dem Wesen des Mr. Glass erkannt; was sind nun die wichtigsten Tatsachen, die wir von Mr. Todhunter kennen? Es sind vor allem drei: daß er sparsam ist, daß er mehr oder minder wohlhabend ist und daß er ein Geheimnis hat. Nun ist es sicherlich offenkundig, daß dies die drei wichtigsten Merkmale der Art Mann sind, der erpreßt wird. Und sicherlich ist es ebenso offenkundig, daß die verblichene Eleganz, die lasterhaften Gepflogenheiten und der schrille Zorn von Mr. Glass die unverkennbaren Merkmale der Art Mann sind, der ihn erpreßt. Wir haben hier die beiden typischen Gestalten aus einer Schweigegeldtragödie: auf der einen Seite den ehrbaren Mann mit einem Geheimnis; auf der anderen den Geier aus dem Westend mit einem Gespür für Geheimnisse. Diese beiden Männer trafen heute hier zusammen und haben miteinander gestritten, wobei sie Hiebe und eine blanke Waffe verwendeten.«

»Werden Sie ihm jetzt diese Stricke abnehmen?« fragte das Mädchen hartnäckig.

Dr. Hood legte den Seidenhut sorgsam auf dem Beistelltisch ab und ging dann hinüber zu dem Gefangenen. Er studierte ihn sorgfältig, bewegte ihn sogar ein wenig und drehte ihn an den Schultern halb herum, antwortete aber nur:

»Nein; ich denke, diese Stricke werden durchaus reichen, bis Ihre Freunde von der Polizei die Handschellen bringen.«

Father Brown, der teilnahmslos auf den Teppich gestarrt hatte, hob sein rundes Gesicht und sagte: »Was meinen Sie damit?«

Der Mann der Wissenschaft hatte den eigenartigen Dolchdegen vom Teppich aufgehoben und untersuchte ihn aufmerksam, als er antwortete:

»Weil Sie Mr. Todhunter zusammengeschnürt vorfinden«, sagte er, »fliegen Sie alle auf die Schlußfolgerung, daß Mr. Glass ihn zusammengeschnürt hat; und dann, vermutlich, entflohen ist. Dagegen sprechen vier Gründe: Erstens, warum sollte ein so eitler Mann wie unser Freund Glass seinen Hut zurücklassen, wenn er das Zimmer aus freien Stücken verließ? Zweitens«, fuhr er fort und ging zum Fenster, »ist dies der einzige Ausgang, und der ist von innen verschlossen. Drittens hat diese Klinge hier einen kleinen Blutfleck an der Spitze, aber an Mr. Todhunter ist keine Wunde. Mr. Glass nahm diese Wunde mit sich fort, tot oder lebendig. Rechnen Sie die einfache Wahrscheinlichkeit hinzu. Es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß die erpreßte Person versucht, ihren Peiniger zu töten, als daß der Erpresser die Gans töten sollte, die ihm die goldenen Eier legt. Mir scheint, da haben wir eine ziemlich vollständige Geschichte.«

»Und die Stricke?« fragte der Priester, dessen Augen in einer Art leerer Bewunderung geöffnet blieben.

»Ja, die Stricke«, sagte der Experte mit eigenartiger Betonung. »Miss MacNab wollte so gerne wissen, warum ich Mr. Todhunter nicht von seinen Stricken befreit habe. Ich will es ihr sagen. Ich habe es nicht getan, weil Mr. Todhunter sich selbst von ihnen in dem Augenblick befreien kann, in dem er das will.«

»Was?« schrie die Zuhörerschaft in den unterschiedlichsten Tönen des Erstaunens.

»Ich habe mir alle Knoten an Mr. Todhunter angesehen«, fuhr Hood ruhig fort. »Ich weiß einiges über Knoten; sie stellen einen eigenen Zweig der Kriminologie dar. Jeden einzelnen dieser Knoten hat er selbst geschlungen und kann ihn auch jederzeit selbst wieder lösen; und nicht einen davon hätte ein Gegner geschlungen, der ihn wirklich hätte fesseln wollen. Diese ganze Angelegenheit mit den Stricken ist ein schlauer Trick, um uns denken zu lassen, er sei das Opfer des Streites statt des unseligen Glass’, dessen Leiche im Garten versteckt sein mag oder in den Kamin geschoben wurde.«

Daraufhin herrschte ein ziemlich bedrücktes Schweigen; das Zimmer wurde dunkel, die von der See verbrandeten Äste der Gartenbäume sahen noch dürrer und schwärzer aus als sonst, ja sie schienen sich dem Fenster genähert zu haben. Fast konnte man sich einbilden, sie seien Seeungeheuer wie Kraken oder Tintenfische, sich windende Polypen, die aus der See heraufgekrochen seien, um das Ende dieser Tragödie zu sehen, so wie einst er, ihr Bösewicht und ihr Opfer, der schreckliche Mann im Zylinder, aus der See herangekrochen war. Denn die ganze Atmosphäre war voll vom Pesthauch der Erpressung, die das pesthafteste aller menschlichen Gebresten ist, denn sie ist ein Verbrechen, das ein Verbrechen verhüllt; ein schwarzes Pflaster auf einer schwärzeren Wunde.

Das Gesicht des kleinen katholischen Priesters, das gewöhnlich zufrieden und sogar etwas komisch aussah, hatte sich plötzlich durch ein sonderbares Runzeln verknotet. Es war das nicht die blanke Neugier seiner ersten Unschuld. Es war vielmehr jene schöpferische Neugier, die auftaucht, wenn einem Mann die Anfänge eines Gedankens kommen. »Sagen Sie das bitte nochmal«, bat er schlicht und zugleich beunruhigt; »meinen Sie wirklich, daß Todhunter sich ganz allein zusammenschnüren und sich ganz allein wieder aufschnüren kann?«

»Genau das meine ich«, sagte der Doktor.

»Jerusalem!« rief Brown plötzlich. »Ich möchte wissen, ob es nicht das sein kann!«

Er hoppelte wie ein Kaninchen durchs Zimmer und blickte mit ganz neuer Lebhaftigkeit in das halbbedeckte Gesicht des Gefangenen. Dann kehrte er der Gesellschaft sein eigenes ziemlich albernes Antlitz zu. »Ja, das ist es!« rief er in einer gewissen Erregung. »Können Sie es dem Mann nicht am Gesicht ablesen? Sehen Sie doch nur in seine Augen!«

Sowohl der Professor wie das Mädchen folgten der Richtung seines Blickes. Und obwohl der breite schwarze Schal die untere Hälfte von Todhunters Gesicht vollständig verbarg, wurde ihnen etwas Angespanntes und Intensives in der oberen Hälfte bewußt.

»Seine Augen sehen sonderbar aus«, rief die junge Frau heftig bewegt. »Ihr seid gemein; ich glaube, es tut ihm weh!«

»Das glaube ich nicht«, sagte Dr. Hood; »die Augen haben sicherlich einen eigenartigen Ausdruck. Aber ich würde diese querlaufenden Faltungen eher interpretieren als Ausdruck einer gewissen psychischen Abnormität – «

»Ach Quatsch!« rief Father Brown: »könnt Ihr denn nicht sehen, daß er lacht?«

»Lacht!« wiederholte der Doktor aufgeschreckt. »Aber worüber in aller Welt kann er denn lachen?«

»Naja«, erwiderte Hochwürden Brown entschuldigend, »ich will da ja nicht drauf herumreiten, aber ich glaube, er lacht über Sie. Und in Wahrheit bin ich durchaus geneigt, auch über mich zu lachen, jetzt da ich es weiß.«

»Jetzt da Sie was wissen?« fragte Hood in leichter Verzweiflung.

»Jetzt da ich weiß«, erwiderte der Priester, »welchen Beruf Mr. Todhunter hat.«

Er hoppelte wieder durch das Zimmer, sah sich einen Gegenstand nach dem anderen mit einer Art leeren Starrens an und brach dann jedesmal in eine ebenso leere Art Lachens aus, ein äußerst verwirrender Vorgang für jene, die ihm zuzuschauen hatten. Er lachte sehr über den Hut, noch brüllender über das zerbrochene Glas, aber das Blut auf der Degenspitze stürzte ihn geradezu in lebensgefährliche Lachkrämpfe. Dann wandte er sich zu dem kochenden Spezialisten um.

»Dr. Hood«, rief er begeistert, »Sie sind ein wahrhaft großer Poet! Sie haben ein ungeschaffenes Wesen aus dem Nichts heraufbeschworen. Wieviel gottähnlicher ist das doch, als wenn Sie nur die einfachen Tatsachen herumgeschnüffelt hätten! Wirklich, die einfachen Tatsachen sind im Vergleich dazu reichlich gewöhnlich und komisch.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden«, sagte Dr. Hood reichlich hochmütig; »meine Tatsachen sind alle unausweichlich, wenngleich naturgemäß unvollständig. Ein gewisser Platz mag vielleicht der Intuition eingeräumt werden (oder der Poesie, wenn Sie das Wort bevorzugen), aber nur, weil die entsprechenden Einzelheiten gegenwärtig noch nicht gesichert werden können. In der Abwesenheit von Mr. Glass – «

»Das ist es, das ist es«, sagte der kleine Priester und nickte eifrig; »das ist die erste Idee, die man festhalten muß; die Abwesenheit von Mr. Glass. Er ist so überaus abwesend. Ich nehme an«, fügte er nachdenklich hinzu, »daß noch nie jemand so abwesend war wie Mr. Glass.«

»Meinen Sie, daß er aus der Stadt abwesend ist?« fragte der Doktor.

»Ich meine, daß er überall abwesend ist«, antwortete Father Brown; »er ist sozusagen aus der Natur der Dinge abwesend.«

»Wollen Sie damit ernsthaft behaupten«, sagte der Spezialist mit einem Lächeln, »daß es eine solche Person gar nicht gibt?«

Der Priester stimmte durch ein Zeichen zu. »Es ist schon ein Jammer«, sagte er.

Orion Hood brach in ein verächtliches Lachen aus. »Alsdann«, sagte er, »bevor wir uns über die hundertundeins anderen Beweisstücke hermachen, wollen wir den ersten Beweis betrachten, den wir gefunden haben; die erste Tatsache, über die wir fielen, als wir in dieses Zimmer einfielen. Wenn das nicht der Zylinder von Mr. Glass ist, wessen Zylinder ist es dann?«

»Der von Mr. Todhunter«, sagte Father Brown.

»Aber er paßt ihm doch nicht«, rief Hood ungeduldig. »Er kann ihn doch überhaupt nicht tragen!«

Father Brown schüttelte den Kopf mit unaussprechlicher Nachsicht. »Ich habe nie gesagt, daß er ihn tragen könne«, antwortete er. »Ich habe gesagt, daß es sein Hut sei. Oder, wenn Sie auf dem Schatten eines Unterschiedes bestehen, daß dieser Hut ihm gehöre.«

»Und was ist der Schatten eines Unterschiedes?« fragte der große Kriminologe mit leichtem Hohn.

»Lieber Herr«, rief der milde kleine Mann mit einer ersten, der Ungeduld ähnlichen Regung, »wenn Sie die Straße bis zum nächsten Hutgeschäft hinablaufen, werden Sie schon sehen, daß es in der normalen Sprache einen Unterschied gibt zwischen dem Hut eines Mannes und den Hüten, die er besitzt.«

»Aber ein Hutmacher«, protestierte Hood, »kann Geld aus seinem Lager an neuen Hüten ziehen. Was könnte Todhunter denn aus diesem alten Hut ziehen?«

»Kaninchen«, erwiderte Father Brown prompt.

»Was?« schrie Dr. Hood.

»Kaninchen, Bänder, Süßigkeiten, Goldfische, bunte Papierschlangen«, ratterte der hochwürdigste Gentleman rasend schnell herunter. »Haben Sie denn das nicht durchschaut, als Sie die falschen Schlingen fanden? Mit dem Degen ist es das gleiche. Mr. Todhunter hat keinen Kratzer an sich, wie Sie sagten; aber er hat einen Kratzer in sich, wenn Sie mir folgen können.«

»Meinen Sie auf der Innenseite von Mr. Todhunters Kleidern?« fragte Mrs. MacNab streng.

»Ich meine nicht die Innenseite von Mr. Todhunters Kleidern«, sagte Father Brown. »Ich meine die Innenseite von Mr. Todhunter.«

»Und was im Namen aller Irrenhäuser meinen Sie denn damit

»Mr. Todhunter«, erklärte Father Brown gelassen, »lernt die Kunst des berufsmäßigen Zauberkünstlers, Jongleurs, Bauchredners und Entfesselungskünstlers. Die Zaubertricks erklären den Hut. In ihm findet sich keine Spur von Haaren, nicht weil ihn der vorzeitig erkahlte Mr. Glass getragen hätte, sondern weil ihn nie jemand getragen hat. Das Jonglieren erklärt die drei Gläser, die hochzuwerfen und in Bewegung zu halten Mr. Todhunter sich selbst beibrachte. Aber da er auf diesem Gebiet erst Lehrling ist, warf er eines gegen die Decke, wo es zerbrach. Und das Jonglieren erklärt auch den Degen, den zu verschlucken Mr. Todhunters beruflicher Stolz und seine Pflicht ist. Wiederum aber: Da er auch hierin noch ein Lehrling ist, hat er die Innenseite seiner Kehle ganz leicht mit der Waffe angekratzt. Und daher hat er eine Wunde in sich, die (nach dem Ausdruck seines Gesichtes zu urteilen) nicht ernsthaft ist. Und außerdem übt er mit den Schlingen den Entfesselungstrick der Davenport Brothers, und er war gerade dabei, sich selbst zu befreien, als wir alle in das Zimmer platzten. Die Spielkarten sind selbstverständlich für Kartentricks, und sie liegen verstreut auf dem Boden, weil er gerade einen jener Kniffe übte, bei denen man sie durch die Luft fliegen läßt. Und er hat seinen Beruf bloß geheimgehalten, weil er seine Tricks geheimhalten mußte wie jeder andere Zauberer auch. Aber die Tatsache, daß irgendein Müßiggänger mit Zylinder irgendwann einmal in sein Hinterfenster geblickt hat und von ihm in großer Empörung vertrieben wurde, genügte, um uns alle auf die falsche Fährte des Fabulierens zu locken und uns sein ganzes Leben überschattet vom zylinderhütigen Geist des Mr. Glass vorzustellen.«

»Und was ist mit den beiden Stimmen?« fragte Maggie starren Blickes.

»Haben Sie denn nie einen Bauchredner gehört?« fragte Father Brown. »Wissen Sie nicht, wie sie zunächst mit ihrer natürlichen Stimme sprechen und sich dann mit eben jener schrillen, zittrigen, unnatürlichen Stimme antworten, die Sie gehört haben?«

Danach herrschte ein langes Schweigen, und Dr. Hood betrachtete den kleinen Mann, der gesprochen hatte, mit einem düsteren und aufmerksamen Lächeln. »Sie sind wahrhaftig eine sehr einfallsreiche Person«, sagte er; »in einem Buch hätte man es nicht besser machen können. Aber es gibt noch einen einzigen Teil an Mister Glass, den wegzuerklären Ihnen nicht gelungen ist, und das ist sein Name. Miss MacNab hörte genau, wie Mr. Todhunter ihn so anredete.«

Hochwürden Brown brach in ein ziemlich kindliches Kichern aus. »Naja«, sagte er, »das ist der albernste Teil dieser ganzen albernen Geschichte. Während unser jonglierender Freund hier die drei Gläser nacheinander hochwarf, zählte er laut mit, als er sie wieder auffing, und kommentierte es ebensolaut, wenn ihm das mißlang. Was er wirklich sagte, war: ›Eins und zwei und drei – Miste-Glas; eins und zwei und – Miste-Glas.‹ Und so weiter.«

Danach herrschte ein zweites Schweigen in dem Zimmer, und dann brach männiglich wie auf Absprache in Gelächter aus. Gleichzeitig löste die Gestalt in der Ecke behaglich die Schlingen und ließ sie schwungvoll niederfallen. Dann trat sie mit einer Verbeugung in die Mitte des Zimmers und zog aus ihrer Tasche einen großen blau und rot gedruckten Anschlagzettel, der bekannt machte, daß SALADIN, der Welt größter Zauberer, Schlangenmensch, Bauchredner und Menschliches Känguruh, am nächsten Montagabend um genau 8 Uhr im Empire Pavilion zu Scarborough mit einem vollständig neuen Trickprogramm auftreten werde.

Das Paradies der Diebe

Der große Muscari, der originellste unter den jungen toskanischen Dichtern, eilte in sein Lieblingsrestaurant, das, von einem Sonnensegel überdacht und von kleinen Limonen- und Orangenbäumen umzäunt, das Mittelmeer überblickt. Kellner in weißen Schürzen legten auf weißen Tafeln bereits die Insignien eines frühen und eleganten Mahles aus; und das schien in ihm eine Zufriedenheit noch zu steigern, die ohnehin bereits ans Prahlerische grenzte. Muscari hatte eine Adlernase wie Dante; Haare und Halstuch waren dunkel und wallend; er trug einen schwarzen Umhang, und es schien fast, als trüge er auch eine schwarze Maske, so sehr umgab ihn die Atmosphäre venezianischen Melodrams. Er benahm sich, als ob ein Troubadour immer noch ein öffentliches Amt innehabe wie ein Bischof. Er bemühte sich, so weit ihm sein Jahrhundert das gestattete, die Welt wahrhaft als Don Juan zu durchwandeln, mit Degen und Gitarre.

Denn niemals reiste er ohne einen Kasten mit Degen, mit denen er so manches brillante Duell ausgefochten hatte, oder ohne den entsprechenden Kasten mit seiner Mandoline, auf der er gegenwärtig Miss Ethel Harrogate, der äußerst konventionellen Tochter eines Bankiers aus Yorkshire in Ferien, Serenaden darbrachte. Und doch war er weder Scharlatan noch Kindskopf, sondern ein heißblütiger, logisch denkender Südländer, der etwas Bestimmtes mochte und war. Seine Poesie war ebenso geradeaus wie anderer Leute Prosa. Er begehrte Ruhm oder Wein oder die Schönheit von Frauen mit einer sengenden Direktheit, die in den wolkigen Idealen und den wolkigen Kompromissen des Nordens unvorstellbar ist; verschwommeneren Rassen roch seine Intensität nach Gefahr oder gar Verbrechen. Wie das Feuer oder die See war er zu einfach, als daß man ihm hätte vertrauen können.

Der Bankier und seine wunderschöne englische Tochter wohnten in dem Muscaris Restaurant angeschlossenen Hotel; deshalb war es sein Lieblingsrestaurant. Ein schneller Blick durch den Raum zeigte ihm jedoch, daß die englische Gesellschaft noch nicht herabgekommen war. Das Restaurant glitzerte, war aber noch verhältnismäßig leer. Zwei Priester unterhielten sich an einem Tisch in einer Ecke, aber Muscari (ein glühender Katholik) nahm von ihnen nicht mehr Notiz wie von einem Paar Krähen. Doch von einem noch entfernteren Platz, den ein von Orangen goldener Zwergbaum teilweise verdeckte, erhob sich eine Person und kam auf den Poeten zu, deren Gewandung den heftigsten Gegensatz zu seiner eigenen bildete.

Diese Gestalt war in buntscheckigen Tweed gekleidet, mit rosaroter Krawatte, einem steifen Kragen und grellgelben Schuhen. Es gelang ihr in der wahren Tradition ‘Arrys zu Margate, gleichzeitig auffallend und gewöhnlich auszusehen. Als aber diese Cockney-Erscheinung näher kam, bemerkte Muscari erstaunt, daß sich der Kopf auffällig vom Körper unterschied. Es war ein italienischer Kopf: kraushaarig, dunkel und mit lebhaftem Mienenspiel, der jäh aus dem Stehkragen wie aus Karton und der komischen rosaroten Krawatte aufragte. Tatsächlich war es sogar ein Kopf, den er kannte. Er erkannte ihn über all dieser gräßlichen englischen Ferienaufmachung als das Gesicht eines alten, wenngleich vergessenen Freundes namens Ezza. Dieser Knabe war das Wunderkind seiner Schule gewesen, und europaweiter Ruhm war ihm bereits versprochen, als er noch kaum fünfzehn zählte; doch als er ins Leben hinaustrat, scheiterte er, zunächst öffentlich als Dramatiker und Redner und dann während endloser Jahre privat als Schauspieler, Handlungsreisender, Geschäftsvertreter und Journalist. Muscari hatte ihn zuletzt hinter den Scheinwerfern auf der Bühne erblickt; er war mit den Aufregungen jenes Berufes nur zu vertraut gewesen, und allgemein ward angenommen, daß ihn irgendeine Herzenskatastrophe verschlungen habe.

»Ezza!« rief der Poet, erhob sich und schüttelte ihm in angenehmer Überraschung die Hände. »Ich hab dich im grünen Salon zwar schon in mancherlei Kostüm gesehen; aber ich habe niemals erwartet, dich je als Engländer verkleidet zu erblicken.«

»Dieses«, sprach Ezza feierlich, »ist nicht das Kostüm eines Engländers, sondern das des Italieners der Zukunft.«

»In diesem Fall«, bemerkte Muscari, »bekenne ich, daß ich den Italiener der Vergangenheit vorziehe.«

»Das ist dein alter Fehler, Muscari«, sagte der Mann im Tweed und schüttelte den Kopf; »und der Fehler Italiens. Im 16. Jahrhundert begann mit uns Toskanern der neue Tag: Wir hatten den modernsten Stahl, die modernsten Skulpturen, die modernste Chemie. Warum sollten wir nicht auch jetzt die modernsten Fabriken, die modernsten Motoren, das modernste Finanzwesen haben – und die modernste Kleidung?«

»Weil es sich nicht lohnt, sie zu haben«, antwortete Muscari. »Man kann die Italiener nicht wirklich fortschrittlich machen, dazu sind sie zu intelligent. Menschen, die eine Abkürzung zum angenehmen Leben kennen, werden niemals die neuen ausgeklügelten Straßen fahren.«

»Naja, aber für mich sind Marconi oder D’Annunzio die Sterne Italiens«, sagte der andere. »Und deshalb bin ich Futurist geworden – und Reiseführer.«

»Reiseführer!« lachte Muscari. »Ist das der neueste Beruf auf deiner Liste? Und wen führst du?«

»Ach, einen Menschen namens Harrogate und seine Familie, soviel ich weiß.«

»Aber doch nicht den Bankier hier im Hotel?« fragte der Poet mit einigem Eifer.

»Das ist der Mann«, antwortete der Reiseführer.

»Zahlt sich das denn aus?« fragte der Troubadour unschuldig.

»Für mich wird es sich auszahlen«, sagte Ezza mit einem sehr rätselhaften Lächeln. »Aber ich bin auch eine merkwürdige Art Reiseführer.« Und dann, wie um das Thema zu wechseln, sagte er abrupt: »Er hat eine Tochter – und einen Sohn.«

»Die Tochter ist göttlich«, bestätigte Muscari, »Vater und Sohn sind vermutlich menschlich. Aber wenn man ihm auch seine harmlosen Eigenschaften zugesteht, erscheint dir dieser Bankier nicht als ein glänzender Beweis meiner These? Harrogate hat Millionen im Tresor, und ich habe – ein Loch in der Tasche. Aber du wirst nicht behaupten – du kannst nicht behaupten, daß er klüger als ich ist, oder kühner als ich, oder auch nur tatkräftiger. Er ist nicht klug, seine Augen sind wie blaue Knöpfe; er ist nicht tatkräftig, er bewegt sich von Stuhl zu Stuhl wie ein Gelähmter. Er ist ein gewissenhafter, freundlicher, alter Schwachkopf; aber er hat Geld, einfach weil er Geld sammelt, wie ein Junge Briefmarken sammelt. Du hast einen viel zu selbständigen Geist fürs Geschäft, Ezza. Du würdest keinen Erfolg haben. Um klug genug zu sein, so viel Geld zusammenzutragen, muß man dumm genug sein, das zu wollen.«

»Dazu bin ich dumm genug«, sagte Ezza düster. »Aber ich rege eine Vertagung deiner Kritik an dem Bankier an, denn hier kommt er.«

Mr. Harrogate, der große Finanzmann, betrat tatsächlich den Raum, aber niemand beachtete ihn. Er war ein massiger älterer Mann mit verwaschen wirkenden, blauen Augen und einem verblaßten, grau-sandfarbenen Schnurrbart; wenn er nicht von so gebeugter Haltung gewesen wäre, hätte er ein Oberst sein können. Er hielt eine Anzahl ungeöffneter Briefe in der Hand. Sein Sohn Frank war ein wirklich wohlgeratener Bursche, kraushaarig, sonnenverbrannt und lebhaft; aber auch ihn beachtete niemand. Aller Augen richteten sich wie üblich, wenigstens im Augenblick, auf Ethel Harrogate, deren goldenes griechisches Haupt und deren Farben der Morgenröte wie absichtlich über jene saphirene See gesetzt erschienen, wie das Haupt einer Göttin. Der Poet Muscari sog die Luft ein, als täte er einen tiefen Trunk, was er auch wirklich tat. Er trank klassische Antike; die seine Ahnen geschaffen hatten. Ezza betrachtete sie mit der gleichen Intensität, aber mit unsteterem Blick.

Miss Harrogate war bei dieser Gelegenheit besonders strahlend und zum Plaudern aufgelegt; und ihre Familie hatte sich in die bequemere kontinentale Lebensweise sinken lassen, die es dem fremden Muscari und sogar dem Reiseführer Ezza gestattete, ihnen bei Tisch und Gespräch Gesellschaft zu leisten. In Ethel Harrogate krönte sich Konventionalität durch Vollendung und eigenen Glanz selbst. Stolz auf ihres Vaters Steinreichtum, fröhlich fashionablen Vergnügungen hingegeben, liebende Tochter, aber wetterwendischer Flirt, all das war sie, doch in einer Art goldiger Gutmütigkeit, die selbst noch ihren eigenen Stolz erfreulich und ihre gesellschaftliche Ehrsamkeit erfrischend und erquickend machte.

Sie waren in heller Erregung über irgendwelche Gefahren auf den Bergstraßen, die sie in jener Woche befahren wollten. Diese Gefahren bestanden nicht in Steinschlag und Lawinen, sondern in etwas weit Romantischerem. Ethel war in allem Ernst versichert worden, daß Banditen, die wahren Gurgelschlitzer moderner Märchen, immer noch in den Apenninen die einen Klüfte heimsuchten, die anderen Paßstraßen hielten.

»Man sagt«, rief sie mit dem ehrfurchtsvollen Vergnügen eines Schulmädchens, »daß diese ganze Landschaft nicht vom König von Italien, sondern vom König der Diebe beherrscht wird. Wer ist der König der Diebe?«

»Ein großer Mann«, erwiderte Muscari, »wohl wert, zusammen mit Ihrem Robin Hood genannt zu werden, Signorina. Von Montano, dem König der Diebe, hörte man in den Bergen zum ersten Mal vor etwa 10 Jahren, als man behauptete, die Banditen seien ausgerottet. Aber seine wilde Macht verbreitete sich mit der Schnelligkeit einer schweigenden Revolution. Man fand seine herrischen Bekanntmachungen in jedem Gebirgsdorf angenagelt; seine Wachposten, die Büchse in der Hand, in jeder Bergesschlucht. Sechsmal versuchte die italienische Regierung, ihn auszuheben, und sechsmal ward sie in regelrechten Schlachten besiegt, wie von Napoleon.«

»Also so was«, bemerkte der Bankier gewichtig, »würde in England niemals zugelassen werden; vielleicht sollten wir doch eine andere Strecke wählen. Aber unser Reiseführer war der Ansicht, daß sie vollkommen sicher sei.«

»Sie ist vollkommen sicher«, sagte der Reiseführer verächtlich. »Ich habe sie schon zwanzigmal befahren. Vielleicht gab es da zur Zeit unserer Großmütter irgendeinen alten Galgenvogel, den man König nannte; aber das gehört in die Geschichte, wenn nicht gar in die Legende. Heute ist das Banditentum völlig ausgerottet.«

»Es kann niemals völlig ausgerottet werden«, sagte Muscari; »denn der bewaffnete Aufstand ist den Südländern eine Art natürliche Reaktion. Unsere Bauern sind wie ihre Berge, reich an Anmut und grüner Heiterkeit, aber darunter glühen die Feuer. Es gibt in der menschlichen Verzweiflung einen Grenzpunkt, an dem die nördlichen Armen zu den Flaschen greifen – und unsere Armen zu den Dolchen.«

»Dichter haben Vorrechte«, höhnte Ezza zur Antwort. »Wenn Signor Muscari Engländer wäre, würde er immer noch bei Wandsworth nach Straßenräubern suchen. Glauben Sie mir, da besteht in Italien nicht größere Gefahr, entführt zu werden, als in Boston skalpiert zu werden.«

»Also schlagen Sie vor, es zu versuchen?« fragte Mr. Harrogate stirnrunzelnd.

»Oh, das klingt eher schrecklich«, rief das Mädchen und wandte ihre strahlenden Augen Muscari zu. »Glauben Sie wirklich, daß der Paß gefährlich ist?«

Muscari warf seine schwarze Mähne zurück. »Ich weiß, daß er gefährlich ist«, sagte er. »Ich werde ihn morgen überqueren.«

Der junge Harrogate blieb einen Augenblick zurück, um sein Glas Weißwein zu leeren und sich eine Zigarette anzuzünden, während die Schönheit sich mit dem Bankier, dem Reiseführer und dem Poeten zurückzog und Glockentöne silbriger Satire um sich streute. Etwa zur gleichen Zeit erhoben sich die beiden Priester in der Ecke; der größere, ein weißhaariger Italiener, verabschiedete sich. Der kleinere Priester wandte sich um und ging auf den Bankierssohn zu, und diesen erstaunte es festzustellen, daß jener, obwohl katholischer Priester, doch Engländer war. Er konnte sich schwach erinnern, daß er ihm bei gesellschaftlichen Veranstaltungen einiger seiner katholischen Freunde bereits begegnet war. Aber ehe seine Erinnerungen sich noch sammeln konnten, sprach der Mann ihn an.

»Mr. Frank Harrogate, nehme ich an«, sagte er. »Ich bin Ihnen zwar schon vorgestellt worden, will mich darauf aber nicht berufen. Das Eigenartige, was ich zu sagen habe, kommt besser von einem Fremden. Mr. Harrogate, ich will nur ein Wort sagen und dann gehen: Nehmen Sie sich Ihrer Schwester in ihrem großen Schmerz an.«

Selbst für Franks wahrhaft brüderliche Gleichgültigkeit schienen Glanz und Übermut seiner Schwester noch zu strahlen und zu klingen; er konnte ihr Lachen noch aus dem Hotelgarten hören, und so starrte er seinen düsteren Ratgeber nur verwirrt an.

»Meinen Sie die Banditen?« fragte er; und dann erinnerte er sich unbestimmter eigener Befürchtungen. »Oder denken Sie etwa an Muscari?«

»Man denkt niemals an den wahren Schmerz«, sagte der seltsame Priester. »Man kann nur liebevoll sein, wenn er kommt.«

Und damit verließ er den Raum, und ließ den anderen sozusagen mit offenem Munde zurück.


Ein oder zwei Tage danach kroch und rüttelte tatsächlich eine Kutsche mit der ganzen Gesellschaft die Ausläufer der bedrohlichen Bergkette hinan. Zwischen Ezzas heiterer Verneinung der Gefahr und Muscaris prahlerischer Verachtung, war die Finanzfamilie fest bei ihrem ursprünglichen Plan geblieben; und Muscari ließ seine Bergreise mit der ihren zusammenfallen. Überraschender war da schon das Auftauchen des kleinen Priesters aus dem Restaurant, der in der Station der Küstenstadt zustieg; er deutete lediglich an, daß auch ihn Geschäfte zwängen, das Gebirge zu überqueren. Aber der junge Harrogate konnte gar nicht anders, als seine Gegenwart mit den geheimnisvollen Ängsten und Warnungen vom Vortag in Verbindung zu bringen.

Die Kutsche war eine Art bequemer Waggonette, erfunden von den modernistischen Talenten des Reiseführers, der die Expedition mit seiner wissenschaftlichen Betriebsamkeit und seinem unbeschwerten Witz beherrschte. Der Gedanke an eine Gefährdung durch Räuber ward aus Gedanken und Gespräch verbannt; obwohl gewissermaßen formell dergestalt anerkannt, daß gewisse Schutzmaßnahmen ergriffen waren. Der Reiseführer und der junge Bankier führten geladene Revolver mit sich, und Muscari hatte sich (mit lebhaftem Lausbubenspaß) unter seinem schwarzen Umhang eine Art Hirschfänger umgeschnallt.

Er hatte seine Person mit fliegendem Sprung neben die liebliche Engländerin gepflanzt; auf ihrer anderen Seite saß der Priester, dessen Name Brown und der selbst glücklicherweise eine schweigsame Person war; Reiseführer und Vater und Sohn saßen auf der hinteren Bank. Muscari war in überschäumender Laune, und da er selbst ernsthaft an die Gefahren glaubte, hätte seine Unterhaltung mit Ethel sie leicht dazu bringen können, ihn für einen Irren zu halten. Aber da war etwas an diesem verrückten und überwältigenden Aufstieg zwischen Klippen wie Bergkuppen, die mit Wäldern wie Obsthaine bedeckt waren, das ihren Geist gemeinsam mit dem seinen in purpurn bizarre Himmel voll kreisender Sonnen emporsog. Die weiße Straße klomm empor wie eine weiße Katze; sie überspannte sonnenlose Abgründe wie das straff gespannte Seil von Seiltänzern; sie war um ferne Vorgebirge geschleudert wie ein Lasso.

Doch wie hoch auch immer sie kamen, überall blühte die Einöde wie eine Rose. Die Felder flammten in Sonne und Wind in den Farben von Eisvogel und Papagei und Kolibri; den Schattierungen von hundert blühenden Blumen. Es gibt keine lieblicheren Wiesen und Wälder als die englischen, keine erhabeneren Grate und Klüfte als die von Snowdon und Glencoe. Ethel Harrogate aber hatte niemals zuvor südliche Gärten auf die Zacken nördlicher Bergspitzen gespreitet gesehen; die Klamm von Glencoe beladen mit den Früchten von Kent. Nichts war hier von jener Kälte und Verlassenheit, die man in England mit wilder Bergwelt verbindet. Es wirkte eher wie ein von Erdbeben zerstörter Mosaikpalast; oder wie ein holländischer Tulpengarten, den man mit Dynamit sternwärts gesprengt hat.

»Das ist wie Kew Gardens auf Beachy Head«, sagte Ethel.

»Das ist unser Geheimnis«, sagte er, »das Geheimnis des Vulkans; das ist auch das Geheimnis der Revolution – daß etwas gewalttätig und zugleich fruchtbar sein kann.«

»Sie sind selbst ziemlich gewalttätig«, und sie lächelte ihn an.

»Und dabei ziemlich fruchtlos«, gab er zu; »wenn ich heute nacht sterbe, sterbe ich unverheiratet und als Narr.«

»Es ist nicht meine Schuld, daß Sie mitgekommen sind«, sagte sie nach schwierigem Schweigen.

»Es ist niemals Ihre Schuld«, antwortete Muscari; »es war nicht Ihre Schuld, daß Troja stürzte.«

Während er so sprach, kamen sie unter überhängende Klippen, die sich fast wie Schwingen über einer Ecke von besonderer Gefährlichkeit spreizten. Vom schweren Schatten über dem schmalen Pfade erschreckt, schreckten die Pferde unsicher zurück. Der Kutscher sprang zu Boden, um sie am Kopfzaum zu packen, und da gerieten sie außer Kontrolle. Ein Pferd bäumte sich auf zu seiner vollen Höhe – der riesigen und schrecklichen Höhe eines Pferdes, das zum Zweibeiner wird. Das reichte, um das Gleichgewicht zu verändern; die ganze Kutsche kenterte wie ein Schiff und stürzte krachend durch den Buschsaum über die Klippe. Muscari schlang einen Arm um Ethel, die sich an ihn klammerte, und schrie laut auf. Für solche Augenblicke lebte er.

Im gleichen Augenblick, da die prunkenden Bergwände wie purpurne Windmühlen um den Kopf des Poeten wirbelten, geschah etwas, das oberflächlich noch erstaunlicher war. Der ältliche und lethargische Bankier sprang in der Kutsche auf und hinab in den Abgrund, noch ehe das kenternde Fahrzeug ihn dorthin zu bringen vermochte. Auf den ersten Blick wirkte der Vorgang wie ein verrückter Selbstmordversuch; aber auf den zweiten so sinnvoll wie eine sichere Kapitalanlage. Der Mann aus Yorkshire besaß offenbar mehr Geistesgegenwart und Klugheit, als Muscari ihm zugetraut hatte; denn er landete auf einem Landstreifen, der aussah, als sei er eigens zu seinem Empfang mit Rasen und Klee gepolstert worden. Nun geschah es tatsächlich, daß die gesamte Gesellschaft in ihrer Niederfahrt gleich glücklich, wenngleich weniger würdevoll war. Unmittelbar unter dieser schroffen Kehre der Straße befand sich eine grasige und blumenbedeckte Mulde wie eine abgesunkene Wiese; eine Art grünsamtener Tasche in den langen, grünen, schleppenden Gewändern der Berge. In diese nun wurden sie alle mit geringem Schaden gestürzt und gestoßen, abgesehen davon, daß ihr kleinstes Gepäck und selbst der Inhalt aus ihren Taschen zerstreut im Grase um sie herum lag. Die zertrümmerte Kutsche hing immer noch über ihnen, in die zähen Hecken verhakt, und die Pferde kämpften sich mühsam den Abhang hinab. Als erster richtete sich der kleine Priester auf, der sich mit einem Ausdruck dummer Verwunderung am Kopfe kratzte. Frank Harrogate hörte ihn zu sich selbst sagen: »Warum in aller Welt sind wir bloß genau hierhin gestürzt?«

Er blinzelte in den Wirrwarr um sich herum und fand da seinen besonders unhandlichen Regenschirm wieder. Dahinter lag der breite Sombrero, der von Muscaris Kopf gefallen war, und daneben ein versiegelter Geschäftsbrief, den er nach einem Blick auf die Adresse dem älteren Harrogate zurückgab. Auf der anderen Seite verbarg das Gras teilweise Miss Ethels Sonnenschirm, und direkt dahinter lag eine sonderbare kleine Glasflasche, knapp zwei Zoll lang. Der Priester hob sie hoch; auf schnelle und unauffällige Weise entkorkte er sie und roch an ihr, und da nahm sein schweres Gesicht die Farbe von Lehm an.

»Der Himmel bewahre uns!« murmelte er. »Das kann nicht ihr gehören! Hat denn ihr Schmerz sie schon erreicht?« Er ließ sie in die Westentasche gleiten. »Ich habe, glaube ich, das Recht dazu«, sagte er, »bis ich ein wenig mehr darüber weiß.«

Er blickte bekümmert zu dem Mädchen hin, das in diesem Augenblick von Muscari aus den Blumen gehoben wurde, der dazu sagte: »Wir sind in den Himmel gestürzt; das ist ein Zeichen. Sterbliche klimmen empor und stürzen ab; aber nur Götter und Göttinnen können aufwärts stürzen.«

Und wirklich stieg sie aus dem Meer der Farben als eine so schöne und glückliche Erscheinung empor, daß der Priester seinen Verdacht erschüttert und vergehen spürte. »Vielleicht«, dachte er, »ist das schließlich gar nicht ihr Gift; vielleicht ist das nur einer von Muscaris melodramatischen Tricks.«

Muscari stellte die Dame leicht auf ihre Füße, machte ihr eine absurde theatralische Verbeugung, zog dann seinen Hirschfänger und hackte mit ihm scharf auf die angespannten Geschirre der Pferde ein, so daß diese auf ihre Hufe kamen und mit fliegenden Flanken im Gras standen. Als er das erledigt hatte, ereignete sich ein höchst bemerkenswerter Vorfall. Ein sehr ruhiger, sehr ärmlich gekleideter, aber äußerst sonnenverbrannter Mann kam aus dem Gebüsch und faßte die Pferde bei den Köpfen. Er hatte ein eigenartig geformtes Messer, sehr breit und krumm, an den Gürtel geschnallt; sonst war nichts Bemerkenswertes an ihm, außer seinem plötzlichen und schweigenden Erscheinen. Der Poet fragte ihn, wer er sei, aber er antwortete nicht.

Als Muscari dann die verwirrte und aufgeschreckte Gruppe in der Mulde überblickte, gewahrte er, daß ein weiterer verbrannter und verlumpter Mann mit einem kurzen Karabiner unterm Arm vom unteren Wiesenrand zu ihnen aufsah, wobei er die Ellenbogen auf den Rasensaum stützte. Dann blickte er zur Straße hinauf, von der sie herabgestürzt waren, und sah von dort die Mündungen von vier weiteren Karabinern und vier weitere braune Gesichter mit hellen, aber ziemlich bewegungslosen Augen auf sie herabschauen.

»Die Banditen!« schrie Muscari in einer Art monströser Heiterkeit. »Dies war eine Falle. Ezza, wenn du mich dir zu Dankbarkeit verpflichten und zunächst den Kutscher erschießen willst, können wir uns unseren Weg noch heraushauen. Ihrer sind nur sechs.«

»Der Kutscher«, sagte Ezza, der ingrimmig mit den Händen in den Hosentaschen dastand, »ist zufällig ein Diener von Mr. Harrogate.«

»Um so mehr Grund, ihn zu erschießen«, rief der Dichter ungeduldig; »man hat ihn bestochen, daß er seinen Herrn umwerfe. Dann wollen wir die Dame in die Mitte nehmen und die Linie da oben in einem Sturmlauf durchbrechen.«

Und durch wildes Gras und Blumen watend, rückte er furchtlos gegen die vier Karabiner vor; doch als er bemerkte, daß ihm niemand außer dem jungen Harrogate folgte, wandte er sich um und schwang seinen Hirschfänger, um die anderen anzustacheln. Dabei sah er den Fremdenführer immer noch in der Mitte des Rasenringes stehen, mit leicht gespreizten Beinen, die Hände in den Taschen; und sein hageres ironisches Italienergesicht schien im Abendlicht länger und länger zu werden.

»Du hast geglaubt, Muscari, daß ich unter uns Schulkameraden der Versager sei«, sagte er, »und du der Erfolg. Aber ich war erfolgreicher als du und werde einen größeren Platz in der Geschichte einnehmen. Ich habe Epen gelebt, während du sie geschrieben hast.«

»Mach schon voran!« donnerte Muscari von oben herab. »Willst du da herumstehen und Unsinn über dich selbst deklamieren, während es eine Dame zu retten gilt und drei starke Männer zur Hilfe bereit stehen? Wie würdest Du Dich da wohl nennen?«

»Ich nenne mich Montano«, rief der sonderbare Reiseführer mit gleichermaßen lauter und voller Stimme. »Ich bin der König der Diebe, und ich heiße euch alle in meiner Sommerresidenz willkommen.«

Und während er noch sprach, kamen fünf weitere schweigsame Männer mit bereitgehaltenen Waffen aus den Büschen und blickten ihn um Befehle an. Einer von ihnen hielt ein großes Blatt Papier in den Händen.

»Dieses hübsche kleine Nest, in dem wir jetzt alle picknicken werden«, fuhr der Reiseführer-Bandit mit dem gleichen leichten, aber düsteren Lächeln fort, »nennt man zusammen mit einigen darunter liegenden Höhlen Das Paradies der Diebe. Es ist meine wichtigste Festung in diesen Bergen; denn dieser Adlerhorst ist (wie Sie zweifellos bemerkt haben) von der Straße oben ebenso unsichtbar wie vom Tale unten. Er ist noch besser als unbezwinglich; er ist unsichtbar. Hier lebe ich meistens, und hier werde ich sicherlich sterben, wenn die Gendarmen mich je hier aufspüren sollten. Ich bin kein Verbrecher jener Art, die sich ›die Verteidigung vorbehält‹, ich gehöre zu jener besseren Art, die sich die letzte Kugel vorbehält.«

Alle starrten ihn still und wie vom Donner gerührt an, mit Ausnahme von Father Brown, der einen mächtigen Seufzer der Erleichterung ausstieß und die kleine Flasche in seiner Tasche befingerte. »Gott sei Dank!« murmelte er. »So wird das sehr viel wahrscheinlicher. Das Gift gehört natürlich diesem Räuberhauptmann. Er trägt es mit sich, damit man ihn wie Cato niemals gefangennehmen kann.«

Der König der Diebe jedoch setzte seine Ansprache mit der gleichen gefährlichen Höflichkeit fort. »Mir bleibt noch übrig«, sagte er, »meinen Gästen jene gesellschaftlichen Umstände zu erklären, unter denen ich das Vergnügen habe, sie bei mir zu empfangen. Ich brauche mich nicht über das seltsame alte Ritual des Lösegeldes auszulassen, das aufrechtzuerhalten mir obliegt; und selbst das betrifft nur einen Teil der Gesellschaft. Hochwürden Father Brown und den berühmten Signor Muscari werde ich morgen im Morgengrauen freilassen und zu meinen Vorposten geleiten lassen. Poeten und Priester besitzen, wenn Sie mir bitte die Direktheit meiner Rede verzeihen, niemals Geld. Und deshalb (da es denn unmöglich ist, aus ihnen etwas herauszuholen) wollen wir die Gelegenheit wahrnehmen und unsere Bewunderung für die klassische Literatur und unsere Hochachtung vor der Heiligen Kirche bezeugen.«

Er hielt mit einem unerfreulichen Lächeln inne; und Father Brown blinzelte ein paarmal zu ihm herüber und schien dann plötzlich mit großer Aufmerksamkeit zu lauschen. Der Räuberhauptmann nahm das große Blatt Papier von seinem Räuberdiener entgegen und fuhr, indem er es überflog, fort: »Meine anderen Absichten werden in diesem öffentlichen Dokument, das ich gleich herumgehen lasse, in aller Deutlichkeit klargestellt; danach wird es in jedem Dorf im Tal und an jeder Kreuzung im Gebirge an Bäume angeschlagen. Ich will Sie nicht mit dem Wortlaut langeweilen, da Sie ihn überprüfen können; das Wesentliche meiner Proklamation ist dies: Ich gebe zunächst bekannt, daß ich den englischen Millionär, den Giganten des Finanzwesens, Mr. Samuel Harrogate, gefangengenommen habe. Alsdann gebe ich bekannt, daß ich bei ihm Noten und Wertpapiere für 2000 Pfund gefunden habe, die er mir übergeben hat. Nun wäre es höchst unmoralisch, einen solchen Vorgang einem gläubigen Publikum zu verkünden, wenn er nicht stattgefunden hat, weshalb ich anrege, daß er ohne weitere Verzögerung stattfinden sollte. Ich rege an, daß Mr. Harrogate senior mir nun die 2000 Pfund aus seiner Tasche übergebe.«

Der Bankier sah ihn unter zusammengezogenen Brauen an, rotgesichtig und mürrisch, aber offenbar eingeschüchtert. Jener Sprung aus der stürzenden Kutsche schien seine letzte Männlichkeit aufgezehrt zu haben. Er hatte sich wie ein geprügelter Hund zurückgehalten, als sein Sohn und Muscari einen kühnen Vorstoß versucht hatten, um aus der Falle der Banditen auszubrechen. Und nun hob sich seine rote und zitternde Hand zögerlich zu seiner Brusttasche und übergab dem Banditen ein Bündel Papiere und Umschläge.

»Ausgezeichnet!« rief jener Gesetzlose fröhlich; »bisher geht alles höchst angenehm. Ich komme also zu den Punkten meiner Proklamation zurück, die in Kürze in ganz Italien veröffentlicht wird. Der dritte Punkt ist der des Lösegeldes. Ich fordere von den Freunden der Familie Harrogate ein Lösegeld von 3000 Pfund, was gegenüber dieser Familie gewiß schon fast eine Beleidigung wegen der bescheidenen Einschätzung ihrer Bedeutung ist. Wer würde denn nicht das Dreifache dieser Summe für einen weiteren Tag in diesem häuslichen Kreise zahlen? Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß das Dokument mit gewissen juristischen Phrasen endet über jene unerfreulichen Dinge, die sich ereignen könnten, wenn das Geld nicht bezahlt wird; aber in der Zwischenzeit lassen Sie mich, meine Damen und Herren, versichern, daß ich hier ausreichend mit den nötigsten Bequemlichkeiten sowie mit Wein und Zigarren versorgt bin und Ihnen für den Augenblick mit den Genüssen des Paradieses der Diebe den Willkomm eines Sportsmannes entbiete.«

Während der ganzen Zeit seiner Ansprache hatten sich zweifelhaft aussehende Männer mit Karabinern und speckigen Schlapphüten schweigend in so überwältigender Menge versammelt, daß selbst Muscari die Hoffnungslosigkeit seines Ausfalls mit dem Schwerte einzusehen gezwungen war. Er blickte sich um; aber das Mädchen war bereits hinübergegangen, um ihren Vater zu trösten und es ihm bequem zu machen, denn ihre natürliche Zuneigung zu seiner Person war ebenso stark, wenn nicht stärker als ihr etwas hochnäsiger Stolz auf seinen Erfolg. Muscari bewunderte diese töchterliche Ergebenheit und wurde doch in der Unlogik des Liebenden durch sie irritiert. Er stieß sein Schwert in die Scheide zurück und warf sich selbst einigermaßen schmollend auf eine der grünen Bänke. Der Priester setzte sich in ein oder zwei Meter Entfernung von ihm nieder, und Muscari wandte ihm seine Adlernase in einer momentanen Verärgerung zu.

»Na«, sagte der Poet schneidend, »meinen die Herrschaften immer noch, ich sei zu romantisch? Gibt es, frage ich, immer noch Banditen in den Bergen?«

»Könnte sein«, sagte Father Brown agnostisch.

»Was meinen Sie damit?« fragte der andere scharf.

»Ich meine, daß ich verwirrt bin«, erwiderte der Priester. »Mich verwirrt Ezza oder Montano oder wie immer er heißen mag. Er scheint mir als Bandit noch viel unerklärlicher denn als Reiseführer.«

»Aber wieso denn?« fragte sein Gefährte nach. »Santa Maria! Mir scheint, daß er als Bandit doch einfach genug ist.«

»Ich finde da drei eigenartige Schwierigkeiten«, sagte der Priester mit ruhiger Stimme. »Ich würde dazu ganz gerne Ihre Meinung hören. Zunächst muß ich berichten, daß ich in jenem Restaurant am Meeresufer gespeist habe. Als Sie zu viert den Raum verließen, gingen Sie und Miss Harrogate vorauf, Sie sprachen und lachten miteinander; der Bankier und der Reiseführer folgten Ihnen, sie sprachen kaum und dann sehr leise. Aber ich konnte es nicht vermeiden, Ezza sagen zu hören: ›Na schön, lassen wir sie noch ein bißchen Spaß haben; Sie wissen ja, welcher Schlag sie jeden Augenblick niederwerfen kann.‹ Mr. Harrogate antwortete nichts; also müssen diese Worte einige Bedeutung gehabt haben. Aus dem Impuls des Augenblicks heraus warnte ich ihren Bruder, daß sie in Gefahr sein könnte; ich sagte aber nichts über deren Natur, denn die kannte ich nicht. Doch wenn es diese Entführung im Gebirge bedeuten sollte, dann ist das alles Unsinn. Warum sollte der Banditen-Reiseführer seinen Brotherrn selbst auch nur durch einen Hinweis warnen, wenn es doch sein ganzes Streben war, ihn in diese Gebirgsmausefalle zu locken? Also kann das nicht gemeint gewesen sein. Wenn aber nicht das, was ist dann jene Gefahr, die sowohl der Reiseführer wie der Bankier kennen und die über Miss Harrogates Haupt schwebt?«

»Gefahr für Miss Harrogate!« brach der Poet aus und richtete sich heftig auf. »Erklären Sie sich; los, weiter.«

»Alle meine Rätsel drehen sich um unseren Banditenhäuptling«, fuhr der Priester nachdenklich fort. »Und hier kommt das zweite. Warum hat er in seiner Lösegeldforderung so nachdrücklich die Tatsache betont, daß er seinem Opfer an Ort und Stelle bereits 2000 Pfund abgenommen hat? Das kann doch das Lösegeld in keiner Weise lockerer machen. Ganz im Gegenteil. Harrogates Freunde würden doch sehr viel eher um ihn Befürchtungen hegen, wenn sie glauben, daß die Räuber arm und verzweifelt sind. Und doch wurde die Ausplünderung an Ort und Stelle nicht nur betont, sondern auch noch an die erste Stelle vor die Lösegeldforderung gesetzt. Warum sollte Ezza Montano ganz Europa erzählen wollen, daß er die Taschen des Opfers vor der Erpressung leerte?«

»Kann ich mir auch nicht vorstellen«, sagte Muscari und rieb sich sein schwarzes Haar ausnahmsweise mit einer natürlichen Geste. »Vielleicht glauben Sie, daß Sie mich erleuchtet haben, aber Sie haben mich nur tiefer in die Dunkelheit geführt. Und was ist der dritte Einwand gegen den König der Diebe?«

»Der dritte Einwand«, sagte Father Brown immer noch nachdenklich, »ist dieser Rand, auf dem wir sitzen. Warum nennt unser Banditen-Reiseführer das hier seine Hauptburg und das Paradies der Diebe? Es ist sicherlich eine sanfte Stelle, um darauf zu stürzen, und eine liebliche Stelle, um sie anzusehen. Es ist auch wahr, daß sie, wie er sagt, vom Tal wie vom Berg aus unsichtbar ist und also ein Versteck. Aber es ist keine Burg. Es könnte nie eine Burg sein. Ich halte es für die schlechteste Befestigung auf Erden. Denn in Wirklichkeit wird sie von der öffentlichen Hochstraße über die Berge da oben beherrscht – ausgerechnet von jenem Platz aus, an dem die Polizei mit großer Sicherheit vorüberkäme. Haben uns denn nicht fünf schäbige kurzläufige Flinten hier noch vor einer halben Stunde hilflos festgehalten? Auch nur ein Zug von Soldaten jeder beliebigen Art könnte uns mühelos über den Klippenrand blasen. Was immer also dieser sonderbare kleine Fleck aus Gras und Blumen bedeuten mag, eine Verschanzung ist er nicht. Er ist irgend etwas anderes; er hat irgendeine andere eigenartige Bedeutung; irgendeinen Wert, den ich nicht begreife. Das Ganze ist eher eine improvisierte Bühne oder eine natürliche Pergola; es ist die Szenerie einer romantischen Komödie; es ist wie…«

Als die Worte des kleinen Priesters sich in die Länge zogen und in einer stumpfen und träumerischen Ernsthaftigkeit verloren, hörte Muscari, dessen animalische Sinne wachsam und ungeduldig waren, ein neues Geräusch im Gebirge. Selbst für ihn war der Klang noch sehr schwach und leise; aber er hätte schwören können, daß die Abendbrise etwas wie das Hämmern von Pferdehufen und fernes Hallogeschrei mit sich brachte.

Im gleichen Augenblick, und lange bevor die Vibrationen die weniger erfahrenen englischen Ohren erreichten, rannte Montano der Bandit den Hang über ihnen hinauf, faßte in der zerbrochenen Hecke Posten, lehnte sich an einen Baum und starrte die Straße hinab. Er gab da oben eine eigentümliche Figur ab, denn als König der Banditen hatte er sich einen phantastischen Schlapphut und ein schaukelndes Wehrgehänge mit Hirschfänger beigelegt, aber der grelle prosaische Tweed des Reiseführers schimmerte doch überall durch.

Im nächsten Augenblick wandte er sein olivfarbenes, höhnisches Gesicht um und machte eine Bewegung mit der Hand. Die Banditen zerstreuten sich auf das Signal hin, nicht in Verwirrung, sondern in einer offenkundigen Art von Guerrilla-Disziplin. Statt aber die Straße entlang des Höhenkamms zu besetzen, verteilten sie sich an ihr entlang hinter den Bäumen und der Hecke, als beobachteten sie ungesehen einen Feind. Das Geräusch wurde nun immer stärker und begann, die Bergstraße zu erschüttern, und eine Stimme konnte deutlich gehört werden, wie sie Befehle erteilte. Die Banditen wurden unruhig und liefen durcheinander, sie fluchten und flüsterten, und die Abendluft war voller leichter metallischer Geräusche, als sie ihre Pistolen spannten oder ihre Messer zückten oder mit ihren Scheiden über die Steine schleiften. Dann begegneten sich die Geräusche von beiden Seiten oben auf der Straße; Zweige brachen, Pferde wieherten, Menschen riefen.

»Entsatz!« schrie Muscari, sprang auf die Füße und schwang seinen Hut. »Die Gendarmen sind über ihnen! Jetzt für die Freiheit, und schlagt gut zu! Jetzt seid Rebellen gegen die Räuber! Los doch, laßt uns nicht alles der Polizei überlassen; das ist so schrecklich modern. Fallt den Schurken in den Rücken. Die Gendarmen retten uns; auf denn, Freunde, laßt uns die Gendarmen retten!«

Und damit schleuderte er seinen Hut über die Bäume, zog erneut seinen Hirschfänger und begann, den Anhang zur Straße hinauf zu erklimmen. Frank Harrogate sprang auf und rannte, den Revolver in der Faust, hinüber, um ihm beizustehen, fand sich aber zu seinem Erstaunen gebieterisch von der rauhen Stimme seines Vaters zurückgerufen, der in heftiger Erregung war.

»Ich will das nicht«, sagte der Bankier mit erstickender Stimme; »ich befehle dir, dich nicht einzumischen.«

»Aber Vater«, sagte Frank hitzig, »ein italienischer Gentleman geht voran. Du wirst doch nicht wollen, daß man sagt, die Engländer seien zurückgeblieben.«

»Nutzlos«, sagte der ältere Mann, der heftig zitterte, »es ist nutzlos. Wir müssen uns unserem Schicksal beugen.«

Father Brown sah den Bankier an; dann legte er die Hand instinktiv wie auf sein Herz, in Wirklichkeit aber auf die kleine Giftflasche; und eine große Helligkeit kam in sein Antlitz wie jene Helligkeit, durch die sich der Tod ankündigt.

Muscari hatte inzwischen, ohne weiter auf Hilfe zu warten, den Straßenrand erklommen und schlug dem Banditenkönig so hart auf die Schulter, daß der stolperte und herumschwang. Auch Montano hatte seinen Hirschfänger aus der Scheide gezogen, und Muscari führte, ohne weitere Worte, einen Hieb nach jenes Kopf, den er abfangen und parieren mußte. Aber noch während die beiden kurzen Klingen sich kreuzten und aneinander klangen, senkte der König der Diebe absichtlich seine Spitze und lachte.

»Was soll denn das, alter Junge?« sagte er in gutgelauntem italienischem Slang. »Diese verdammte Farce ist gleich vorbei.«

»Was meinst du damit, du Ränkeschmied?«, keuchte der feuerfressende Poet. »Ist dein Mut ebenso Betrug wie deine Ehre?«

»Ich bin insgesamt Betrug«, antwortete der Ex-Reiseführer in der besten Laune. »Ich bin ein Schauspieler; und wenn ich jemals einen privaten eigenen Charakter hatte, dann habe ich den längst vergessen. Ich bin ebensowenig ein echter Bandit, wie ich ein echter Reiseführer bin. Ich bin nur ein Bündel Masken, und mit dem kannst du kein Duell fechten.« Und er lachte mit bübischem Vergnügen und fiel wieder in seine alte breitbeinige Haltung zurück und wandte dem Gefecht auf der Straße den Rücken zu.

Dunkelheit nahm unter den Bergwänden zu, und es war nicht leicht, etwas von dem Fortgang des Gefechtes zu erkennen, abgesehen davon, daß hochgewachsene Männer die Nüstern ihrer Pferde durch eine zusammenhaltende Masse Banditen drängten, die allem Anschein nach eher dazu neigten, die Angreifer zu belästigen und zu beschubsen als sie zu töten. Es gemahnte eher an eine Menschenmenge in der Stadt, die der Polizei den Weg verlegen will, als an jenes Bild vom letzten Gefecht eines verlorenen Haufens blutrünstiger Verbrecher, wie es sich der Dichter nur immer ausgemalt hatte. Aber als er gerade begann, seine Augen vor Verwunderung zu verdrehen, fühlte er eine Berührung am Arm und fand den sonderbaren kleinen Priester wie einen kleinen Noah mit einem großen Hut dastehen, der um ein kurzes Gespräch bat.

»Signor Muscari«, sagte der Kleriker, »in dieser eigenartigen Krise sei mir eine gewisse Vertraulichkeit gestattet. Ich möchte Ihnen, ohne Ihnen nahezutreten, einen Rat geben, wie Sie mehr Gutes tun können als dadurch, daß Sie den Gendarmen helfen, die auf jeden Fall siegen werden. Vergeben Sie mir die zudringliche Intimität; aber bedeutet Ihnen das Mädchen etwas? Genug, um Sie zu heiraten und ihr ein guter Ehemann zu sein?«

»Ja«, sagte der Dichter einfach.

»Bedeuten Sie ihr etwas?«

»Ich glaube ja«, war die ebenso ernsthafte Antwort.

»Dann gehen Sie zu ihr und bitten sie um ihre Hand«, sagte der Priester. »Bieten Sie ihr alles, was Sie haben; bieten Sie ihr Himmel und Erde, wenn Sie die besitzen. Die Zeit ist knapp.«

»Warum?« fragte der erstaunte Mann der Feder.

»Weil«, sagte Father Brown, »ihr Schicksal die Straße heraufkommt.«

»Nichts kommt die Straße herauf«, erklärte Muscari, »außer der Rettung.«

»Los doch, gehen Sie zu ihr«, sagte sein Ratgeber, »und halten Sie sich bereit, sie vor den Rettern zu retten.«

Fast noch während er sprach, brachen überall den ganzen Kamm entlang die flüchtenden Banditen jählings durch die Hecken. Sie tauchten in Gebüsche und dichtes Gras, wie geschlagene Männer, die verfolgt werden; und man sah die hohen Federhüte der berittenen Gendarmerie oben an der niedergebrochenen Hecke entlangziehen. Ein anderer Befehl ward gegeben; es erklangen die Geräusche des Absitzens, und ein hochgewachsener Offizier mit Federhut und grauem Kaiserbart und einem Papier in der Hand erschien in der Lücke, die das Portal zum Paradies der Diebe war. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, das in ungewöhnlicher Weise durch den Bankier gebrochen wurde, der mit rauher und erstickender Stimme schrie: »Beraubt! Ich bin beraubt worden!«

»Was denn, das war doch schon vor Stunden«, rief sein Sohn erstaunt, »als man Dir 2000 Pfund raubte.«

»Nicht 2000 Pfund«, sagte der Finanzier in jäher und schrecklicher Gefaßtheit, »nur ein kleines Fläschchen.«

Der Polizist mit dem grauen Kaiserbart strebte über die grüne Mulde. Als er auf seinem Weg dem König der Diebe begegnete, schlug er ihm mit einer Mischung von Zärtlichkeit und Grobheit auf die Schulter und gab ihm einen Stoß, der ihn beiseite taumeln ließ. »Du wirst auch noch Schwierigkeiten bekommen«, sagte er, »wenn du weiter solche Spiele spielst.«

Und wieder erschien das Muscaris Künstlerauge keineswegs wie die Festnahme eines großen niedergehetzten Gesetzlosen. Der Polizist schritt weiter, hielt dann vor der Harrogate-Gruppe inne und sagte: »Samuel Harrogate, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes wegen Unterschlagung der Gelder der Hull & Huddersfield-Bank.«

Der große Bankier nickte in einer sonderbaren Art geschäftsmäßiger Zustimmung, schien einen Augenblick nachzudenken, wandte sich halb um und tat, bevor sich jemand einmischen konnte, einen Schritt, der ihn an den Rand der äußeren Bergwand brachte. Dann warf er die Hände hoch und sprang, genau so wie er aus der Kutsche gesprungen war. Aber dieses Mal fiel er nicht auf eine gerade darunter liegende kleine Wiese; er fiel tausend Fuß hinab, um im Tal ein Haufen zerbrochener Knochen zu werden.

Der Ärger des italienischen Polizisten, den er wortmächtig gegenüber Father Brown ausdrückte, war kräftig mit Bewunderung durchsetzt. »Das sieht ihm ähnlich, uns noch im letzten Augenblick zu entkommen«, sagte er. »Der war ein wirklich großer Bandit, wenn Sie so wollen. Und sein letzter Trick ist meines Wissens ohne Vorbild. Er floh mit dem Geld der Gesellschaft nach Italien, wo er sich von falschen Banditen, die in seinem Solde standen, entführen ließ, um so das Verschwinden des Geldes ebenso wie sein eigenes Verschwinden zu erklären. Diese Lösegeldforderung ist von der Polizei fast überall ernstgenommen worden. Aber solche vorzüglichen Spiele hat er schon seit Jahren gespielt, mindestens so vorzügliche. Er wird ein schwerer Verlust für seine Familie sein.«

Muscari führte die unglückliche Tochter fort, die sich eng an ihn klammerte, wie sie das noch für viele Jahre danach tun sollte. Aber selbst während dieses tragischen Zusammenbruchs konnte er ein Lächeln und einen Handschlag halb spöttischer Freundschaft für den unhaltbaren Ezza Montano nicht unterdrücken. »Und wohin ziehst du jetzt?« fragte er über die Schulter.

»Birmingham«, antwortete der Schauspieler und paffte aus seiner Zigarette. »Hab ich dir nicht erzählt, daß ich Futurist bin? Ich glaube wirklich an diese Dinge, wenn ich denn überhaupt an etwas glaube. Wechsel, Bewegung und Neues jeden Morgen. Ich gehe nach Manchester, Liverpool, Leeds, Hull, Huddersfield, Glasgow, Chicago – kurz: in die aufgeklärte, energiegeladene, zivilisierte Gesellschaft!«

»Kurz«, sagte Muscari, »in das wahre Paradies der Diebe.«

Das Duell des Dr. Hirsch

Monsieur Maurice Brun und Monsieur Armand Armagnac querten die sonnenbeschienenen Champs Elysées in einer Art lebhafter Ehrbarkeit. Sie waren beide kurz, kräftig und kühn. Sie trugen beide schwarze Bärte, die aber nicht zu ihren Gesichtern zu gehören schienen dank der sonderbaren französischen Mode, die echtes Haar wie falsches aussehen läßt. Monsieur Brun trug ein dunkles keilförmiges Bärtchen, das ihm offenbar an die Unterlippe geklebt war. Monsieur Armagnac trug zur Abwechslung zwei Bärte; je einer sproß an den beiden Ecken seines energischen Kinns hervor. Beide waren jung. Beide waren Atheisten, mit deprimierend festgelegten Ansichten, aber höchst beweglich in ihrer Darlegung. Beide waren Schüler des großen Dr. Hirsch, Wissenschaftler, Publizist, Moralist.

Monsieur Brun war berühmt geworden durch seinen Vorschlag, aus allen französischen Klassikern das geläufige Wort »Adieu« zu streichen, und eine leichte Geldstrafe für seine Verwendung im Privatleben zu verhängen. »Dann«, sagte er, »wird selbst der Name eures eingebildeten Gottes zum letzten Male im Ohr der Menschheit erklungen sein.« Monsieur Armagnac spezialisierte sich hingegen mehr auf einen Widerstand gegen den Militarismus und wünschte den Refrain der Marseillaise geändert von »Zu den Waffen, Bürger« in »Auf zum Streike, Bürger«. Doch war sein Antimilitarismus ausgesprochen eigenartig und gallisch. Ein hervorragender und äußerst reicher englischer Quaker, der ihn besuchte, um mit ihm die Entwaffnung des ganzen Planeten zu planen, ward von Armagnacs Vorschlag recht gepeinigt, man solle (als Anfang) die Soldaten ihre Offiziere erschießen lassen.

Und tatsächlich unterschieden sich beide Männer in dieser Hinsicht am meisten von ihrem Führer und Vater in der Philosophie. Dr. Hirsch war, obwohl in Frankreich geboren und mit den triumphalsten Segnungen der französischen Erziehung ausgestattet, von ganz anderem Temperament – sanft, träumerisch, menschlich; und trotz seines skeptischen Denksystems nicht ohne Sinn fürs Transzendentale. Um es kurz zu machen, er ähnelte mehr einem Deutschen als einem Franzosen; und so sehr sie ihn auch bewunderten, etwas im Unterbewußtsein dieser Gallier wurde durch seine so friedfertige Weise, sich für den Frieden einzusetzen, gereizt. Den Friedensfreunden in ganz Europa aber galt Paul Hirsch als ein Heiliger der Wissenschaft. Seine umfassenden und kühnen kosmischen Theorien bezeugten sein strenges Leben und seine unschuldige, wenn auch etwas frostige Moralität; er vertrat so etwas wie die Position Darwins, verdoppelt um die Position Tolstois. Doch war er weder anarchistisch noch antipatriotisch; seine Ansichten über die Abrüstung waren gemäßigt und evolutionär – die republikanische Regierung setzte hinsichtlich bestimmter chemischer Verbesserungen beträchtliches Vertrauen in ihn. Jüngst hatte er sogar einen geräuschlosen Sprengstoff entdeckt, dessen Geheimnis die Regierung sorgfältig hütete.

Sein Haus stand in einer hübschen Straße nahe dem Elysée – in einer Straße, die in jenem heißen Sommer fast so belaubt erschien wie dessen Park selbst; eine Reihe von Kastanienbäumen zerbrach den Sonnenschein und wurde nur an einer Stelle unterbrochen, wo ein großes Café sich bis an die Straße heranschob. Ihm fast gegenüber befanden sich die weiß-grünen Sonnenblenden am Haus des großen Wissenschaftlers, an dem ein ebenfalls grüngestrichener schmiedeeiserner Balkon vor den Fenstern des ersten Stockwerks entlanglief. Darunter befand sich der Eingang in eine Art von Innenhof, geschmückt durch Sträucher und Fliesen, in den die beiden Franzosen in lebhaftem Gespräch einbogen.

Die Tür ward ihnen von Simon, des Doktors altem Diener, geöffnet, der selbst sehr wohl für einen Doktor hätte angesehen werden können mit seinem strengen schwarzen Anzug, der Brille, dem grauen Haar und der vertrauenerweckenden Umgangsweise. Er gab in der Tat einen sehr viel ansehnlicheren Mann der Wissenschaft ab als sein Herr, Dr. Hirsch, der wie ein gegabelter Rettich aussah und dessen mächtiger Schädel den Körper bedeutungslos erscheinen ließ. Mit all der Würde eines bedeutenden Arztes im Umgang mit einem Rezept händigte Simon Monsieur Armagnac einen Brief aus. Dieser Ehrenmann riß ihn mit der seiner Rasse eigentümlichen Ungeduld auf und las rasch das Folgende:


»Ich kann jetzt nicht hinabkommen, um mit Ihnen zu reden. Im Haus befindet sich ein Mann, den zu sprechen ich mich weigere. Er ist ein chauvinistischer Offizier namens Dubosc. Er sitzt auf den Treppenstufen. Er hat in all den anderen Zimmern die Möbel herumgeschmissen; ich habe mich in meinem Arbeitszimmer gegenüber dem Café eingeschlossen. Wenn Sie mich lieben, gehen Sie hinüber ins Café und warten an einem der Tische draußen. Ich will versuchen, ihn zu Ihnen hinüberzuschicken. Ich möchte, daß Sie ihm antworten und mit ihm sprechen. Ich kann ihn nicht selbst treffen. Ich kann nicht: ich will nicht. Es wird einen neuen Fall Dreyfus geben.

P. HIRSCH«


Monsieur Armagnac sah Monsieur Brun an. Monsieur Brun nahm sich den Brief, las ihn und sah Monsieur Armagnac an. Dann begaben sich beide rasch zu einem der kleinen Tische unter den Kastanien gegenüber, wo sie sich zwei große Gläser scheußlich grünen Absinths bestellten, den sie offenbar bei jedem Wetter und zu jeglicher Zeit trinken konnten. Im übrigen erschien das Café leer, mit Ausnahme eines Soldaten, der an einem der Tische einen Kaffee trank, und, an einem anderen Tisch, eines großen Mannes, der einen kleinen Aperitif trank, und eines Priesters, der nichts trank.

Maurice Brun räusperte sich und sagte: »Natürlich müssen wir dem Meister in jeder Weise behilflich sein, aber – «

Dann herrschte jäh Schweigen, bis Armagnac sagte: »Er mag ja ganz ausgezeichnete Gründe dafür haben, den Mann nicht selbst treffen zu wollen, aber – «

Bevor noch einer von ihnen seinen Satz beenden konnte, wurde offenkundig, daß der Eindringling aus dem gegenüberstehenden Haus herausgeworfen worden war. Das Gebüsch unter der Toreinfahrt bebte und barst auseinander, als jener unwillkommene Besucher wie eine Kanonenkugel herausschoß.

Es war eine handfeste Gestalt mit einem kleinen kecken Tirolerhut, eine Gestalt, die in der Tat etwas allgemein Tirolerisches an sich hatte. Die Schultern des Mannes waren mächtig und breit, aber seine Beine waren schlank und beweglich in Bundhosen und Strickstrümpfen. Sein Gesicht war nußbraun; er hatte sehr helle und unruhige braune Augen; sein dunkles Haar war vorne streng zurückgebürstet und hinten kurz geschnitten und ließ einen quadratischen mächtigen Schädel erkennen; und er hatte einen riesigen schwarzen Schnurrbart wie das Gehörn eines Wisents. So ein mächtiges Haupt sitzt normalerweise auf einem Stiernacken; aber dieser hier war von einem großen bunten Schal verhüllt, der sich bis zu des Mannes Ohren schlang und vorne in seiner Jacke stak wie eine Art farbenfroher Weste. Es war ein Schal von starken stumpfen Farben, Dunkelrot und Altgold und Purpur, vermutlich ein orientalisches Gewebe. Insgesamt war um den Mann ein Hauch Barbarisches; eher ein ungarischer Landedelmann als ein gewöhnlicher französischer Offizier. Sein Französisch jedoch war offenkundig das eines Eingeborenen; und sein französischer Patriotismus war so impulsiv, daß es ans Absurde grenzte. Nachdem er aus dem Torweg herausgeflogen kam, rief er als erstes mit Stentorstimme die Straße hinab: »Gibt es hier Franzosen?«, als riefe er in Mekka nach Christen.

Armagnac und Brun erhoben sich sofort; aber sie waren schon zu spät. Von den Straßenecken rannten bereits Männer herbei; es bildete sich eine kleine, aber ständig dichter werdende Menge. Mit dem untrüglichen Instinkt des Franzosen für die Politik der Straße war der Mann mit dem schwarzen Schnurrbart bereits zu einer Ecke des Cafés gerannt, auf einen der Tische gesprungen und schrie, während er sich an einem Kastanienast festhielt, wie einst Camille Desmoulins schrie, als er Eichenlaub unter das Volk streute.

»Franzosen!« donnerte er. »Ich kann nicht reden! Gott steh’ mir bei, und deshalb rede ich! Die Kerle in ihren lausigen Parlamenten, die gelernt haben zu reden, haben auch gelernt zu schweigen – zu schweigen wie jener Spion, der da drüben in seinem Haus kauert! Zu schweigen wie er, als ich gegen seine Schlafzimmertür schlug! Zu schweigen wie er eben jetzt, obwohl er meine Stimme über die Straße hinweg hört und erbebt, wo er auch sitzen mag! Oh, sie können beredt schweigen – die Politiker! Aber die Zeit ist gekommen, da wir, die wir nicht reden können, reden müssen. Ihr seid an die Preußen verraten. Verraten in diesem Augenblick. Verraten durch jenen Mann. Ich bin Jules Dubosc, Oberst der Artillerie, Belfort. Wir haben gestern in den Vogesen einen deutschen Spion gefangengenommen und bei ihm ein Papier gefunden – ein Papier, das ich hier in der Hand halte. Oh, sie haben versucht, die Sache zu vertuschen; aber ich bin mit ihm direkt zu dem Mann gegangen, der es geschrieben hat – zu dem Mann in jenem Haus! Es ist in seiner Handschrift. Es ist mit seinen Initialen gezeichnet. Es ist eine Anweisung, wo man das Geheimnis dieses neuen geräuschlosen Sprengstoffs findet. Hirsch hat ihn erfunden; Hirsch hat diese Notiz darüber geschrieben. Diese Notiz ist in deutsch verfaßt, und sie wurde in der Tasche eines Deutschen gefunden. ›Sagen Sie dem Mann, die Formel für Sprengstoff ist im grauen Umschlag in der ersten Schublade links vom Schreibtisch des Kriegsministers, mit roter Tinte. Er muß vorsichtig sein. P.H.‹«

Er rasselte die kurzen Sätze wie ein Maschinengewehr heraus, aber er war offensichtlich von jener Art Mann, die entweder verrückt ist oder recht hat. Die Masse der Menge war Nationalisten und bereits in bedrohlichem Aufruhr; und eine Minderheit gleichermaßen zorniger Intellektueller, angeführt von Armagnac und Brun, machte die Mehrheit nur noch militanter.

»Wenn das ein militärisches Geheimnis ist«, brüllte Brun, »warum schreien Sie es dann in den Straßen aus?«

»Das will ich Ihnen sagen!« brüllte Dubosc über die brüllende Menge hinweg. »Ich bin offen und höflich zu diesem Mann gegangen. Falls er irgendeine Erklärung hätte, sollte er sie in vollständiger Vertraulichkeit geben können. Er verweigert jede Erklärung. Er verweist mich an zwei Fremde in einem Café wie an zwei Lakaien. Er hat mich aus dem Haus geworfen, aber ich werde wieder hineingehen, mit dem Volk von Paris hinter mir!«

Ein Aufschrei schien die Fassade des Häuserblocks zu erschüttern, und zwei Steine flogen, deren einer eine Scheibe über dem Balkon zerbrach. Der aufgebrachte Oberst stürzte sich erneut durch den Torweg, und man hörte ihn drinnen brüllen und donnern. Jeden Augenblick schwoll die menschliche See weiter und weiter an; sie brandete gegen die Geländer und Treppen am Haus des Verräters; es erschien bereits gewiß, daß man das Haus stürmen werde wie einst die Bastille, als sich die zerbrochene Glastüre öffnete und Dr. Hirsch auf den Balkon heraustrat. Für einen Augenblick wandelte sich der Zorn halb in Gelächter; denn in einer solchen Szene bildete er eine absurde Erscheinung. Sein langer nackter Hals und die sackenden Schultern bildeten die Gestalt einer Champagnerflasche nach, aber das war auch das einzig Festliche an ihm. Seine Jacke hing an ihm wie an einem Kleiderhaken; er trug sein karottenrotes Haar lang und ungepflegt; Wangen und Kinn waren von einem jener beunruhigenden Bärte umwuchert, die fern vom Munde wachsen. Er war sehr bleich, und er trug blaue Gläser.

Fahl wie er war, sprach er doch mit so fester Entschlossenheit, daß der Pöbel zur Mitte seines dritten Satzes hin ruhig war:

»…euch jetzt nur zwei Dinge zu sagen. Das erste gilt meinen Feinden, das zweite meinen Freunden. Meinen Feinden sage ich: Es stimmt, daß ich Monsieur Dubosc nicht treffen will, obwohl er gegenwärtig vor diesem Zimmer hier herumtobt. Es stimmt, daß ich zwei andere Herren gebeten habe, sich an meiner Stelle mit ihm zu treffen. Und ich will euch sagen warum! Weil ich ihn nicht sehen will und nicht sehen darf – denn ihn zu sehen wäre gegen alle Regeln der Würde und der Ehre. Bevor ich aber durch einen Gerichtshof im Triumph von allen Anwürfen gereinigt werde, schuldet dieser Ehrenmann mir als Ehrenmann eine andere Art der Genugtuung, und wenn ich ihn an meine Sekundanten verweise, so folge ich genauestens – «

Armagnac und Brun schwenkten wild ihre Hüte, und selbst die Gegner des Doktors brüllten dieser unerwarteten Herausforderung Beifall. Wieder waren einige Sätze unhörbar, aber dann konnte man ihn sagen hören: »…meinen Freunden – ich selbst würde immer rein geistige Waffen vorziehen, und eine entwickelte Menschheit wird sich eines Tages sicherlich auf sie beschränken. Nun ist aber unsere wertvollste Wahrheit die Grundmacht von Materie und Vererbung. Meine Bücher sind erfolgreich; meine Theorien sind unwiderlegt; aber in der Politik leide ich unter einem geradezu physischen Vorurteil der Franzosen. Ich kann nicht reden wie Clemenceau und Déroulède, denn ihre Worte sind wie der Widerhall ihrer Pistolen. Die Franzosen gieren nach Duellanten wie die Engländer nach Sportlern. Nun gut, ich will die Probe aufs Exempel ablegen: Ich werde diese barbarische Bestechung bezahlen und dann für den Rest meines Lebens zur Vernunft zurückkehren.«

Sofort fanden sich in der Menge selbst zwei Männer, die Oberst Dubosc ihre Dienste anboten, der kurz darauf befriedigt herauskam. Der eine war der gemeine Soldat mit dem Kaffee, der einfach sagte: »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, mein Herr. Ich bin der Herzog de Valognes.« Der andere war der große Mann, den sein Freund der Priester zunächst davon abzubringen suchte, ehe er dann allein von dannen schritt.

Am frühen Abend wurde hinten im Café Charlemagne ein leichtes Abendessen aufgetragen. Obwohl nicht überdacht durch Glas oder vergoldeten Stuck, befanden sich fast alle Gäste unter einem zarten unregelmäßigen Dach aus Laub; denn die dekorativen Bäume standen so dicht um die Tische und zwischen ihnen, daß sie den Dämmer wie den Schimmer eines lauschigen Haines verbreiteten. An einem der Mitteltische saß ein sehr stämmiger kleiner Priester in vollständiger Einsamkeit und widmete sich mit der feierlichsten Genüßlichkeit einem Turm gebratener Brätlinge. Da sein Alltagsleben sehr einfach war, hatte er einen besonderen Geschmack für plötzliche und ausgefallene Genüsse; er war ein enthaltsamer Epikureer. Er hob den Blick nicht von seinem Teller, um den in strenger Ordnung roter Pfeffer, Zitronen, Schwarzbrot, Butter etc. aufgereiht standen, bis ein großer Schatten über den Tisch fiel und sein Freund Flambeau sich ihm gegenüber niederließ. Flambeau war düster.

»Ich fürchte, daß ich mich aus diesem Geschäft zurückziehen muß«, sagte er schwer. »Ich bin ganz auf Seiten der französischen Soldaten wie Dubosc, und ich bin ganz gegen die französischen Atheisten wie Hirsch; aber mir scheint, daß wir in diesem Fall einen Fehler begangen haben. Der Herzog und ich fanden es für angebracht, die Anklage zu untersuchen, und ich muß sagen, ich bin froh darüber.«

»Dann ist das Papier also eine Fälschung?« fragte der Priester.

»Das ist gerade das Verrückte«, erwiderte Flambeau. »Es ist absolut Hirschs Handschrift, und niemand kann darin den kleinsten Fehler finden. Aber es ist nicht von Hirsch geschrieben worden. Wenn er ein französischer Patriot ist, hat er es nicht geschrieben, weil es Deutschland Informationen übermittelt. Und wenn er ein deutscher Spion ist, hat er es nicht geschrieben, nun ja – weil es Deutschland keine Informationen gibt.«

»Sie meinen, die Information ist falsch?« fragte Father Brown.

»Falsch«, erwiderte der andere, »und genau da falsch, wo Dr. Hirsch richtig gewesen wäre – im Hinblick auf das Versteck seiner eigenen Geheimformel in seinem eigenen Dienstbüro. Mit Genehmigung von Hirsch und den Behörden haben der Herzog und ich die Erlaubnis erhalten, die Geheimschublade im Kriegsministerium zu untersuchen, in der Hirschs Formel verwahrt wird. Wir sind die einzigen, die sie außer dem Erfinder und dem Kriegsminister gesehen haben; aber der Minister erlaubte es, um Hirsch das Duell zu ersparen. Und jetzt können wir Dubosc wirklich nicht mehr unterstützen, falls seine Enthüllungen Schwindel sind.«

»Sind sie das denn?« fragte Father Brown.

»Sie sind es«, sagte sein Freund düster. »Es ist eine ungeschickte Fälschung durch jemanden, der vom richtigen Versteck nichts weiß. Sie behauptet, das Papier sei in dem Aktenschrank rechts vom Schreibtisch des Ministers. Tatsächlich steht der Aktenschrank mit der Geheimschublade ein Stück links vom Schreibtisch. Sie behauptet, der graue Umschlag enthalte ein langes Dokument, das mit roter Tinte geschrieben sei. Es ist nicht mit roter Tinte geschrieben, sondern mit einfacher schwarzer. Es ist offenkundig absurd zu behaupten, daß Hirsch sich über ein Papier geirrt haben kann, das niemand außer ihm selbst kennt; oder versucht hat, einem ausländischen Dieb zu helfen, indem er ihn anweist, in der falschen Schublade zu suchen. Ich glaube, wir müssen die Sache aufgeben und uns beim alten Rotkopf entschuldigen.«

Father Brown schien nachzudenken; er schob einen kleinen Brätling auf die Gabel. »Sie sind sicher, daß der graue Umschlag sich im linken Aktenschrank befand?« fragte er.

»Absolut«, erwiderte Flambeau. »Der graue Umschlag – es war in Wirklichkeit ein weißer – befand – «

Father Brown legte den kleinen silbernen Fisch und die Gabel nieder und starrte seinen Gefährten über den Tisch hinweg an. »Was?« fragte er mit veränderter Stimme.

»Wie, was?« wiederholte Flambeau und aß herzhaft.

»Er war nicht grau«, sagte der Priester. »Flambeau, Sie machen mir Angst.«

»Was zum Teufel macht Ihnen denn Angst?«

»Ein weißer Umschlag macht mir Angst«, sagte der andere ernsthaft. »Wenn er doch nur grau gewesen wäre! Zum Henker, er könnte doch ebensogut grau gewesen sein. Aber wenn er weiß war, ist das ganze Geschäft schwarz. Der Doktor hat also doch wieder im alten Höllenschwefel herumgestochert.«

»Aber ich sag Ihnen doch, daß er eine solche Notiz niemals hätte schreiben können!« rief Flambeau. »Die Notiz ist vollständig falsch im Hinblick auf alle Fakten. Und ob nun unschuldig oder schuldig, Dr. Hirsch weiß alles über die Fakten.«

»Der Mann, der diese Notiz geschrieben hat, wußte alles über die Fakten«, sagte sein kirchlicher Freund nüchtern. »Er könnte sie niemals alle so falsch hingekriegt haben, wenn er nicht alles über sie wüßte. Man muß eine ganze Menge wissen, um in jeder Einzelheit falsch zu sein – wie der Teufel.«

»Sie meinen –?«

»Ich meine, daß ein Mann, der Zufallslügen erzählt, zufällig auch Stückchen der Wahrheit erzählt hätte«, sagte sein Freund fest. »Stellen Sie sich vor, jemand beauftragt Sie, ein Haus zu suchen mit grüner Tür und blauer Blende, mit Vorgarten, aber keinem Hintergarten, mit einem Hund aber keiner Katze, und wo man Kaffee trinkt, aber keinen Tee. Nun würden Sie sagen, wenn Sie ein solches Haus nicht fänden, wäre alles erfunden. Aber da sage ich nein. Ich sage, wenn Sie ein Haus fänden mit blauer Tür und grüner Blende, mit einem Hintergarten und keinem Vorgarten, wo Katzen üblich sind und Hunde sofort erschossen werden, wo man Tee literweise trinkt und Kaffee verboten ist – dann hätten Sie das Haus gefunden. Der Mann muß dieses bestimmte Haus genau gekannt haben, um so genau ungenau zu sein.«

»Aber was soll das denn bedeuten?« fragte sein Tischgefährte.

»Ich kann es mir nicht vorstellen«, sagte Brown; »ich verstehe diese ganze Hirsch-Angelegenheit überhaupt nicht. Solange es sich nur um die linke Schublade statt um die rechte handelte, und um rote Tinte statt um schwarze, so lange dachte ich, es könne sich um einen Zufallsirrtum eines Fälschers handeln, wie Sie sagten. Aber drei ist eine mystische Zahl; sie setzt Dingen ein Ende. Sie setzt diesem ein Ende. Daß die Angaben zur Schublade, zur Farbe der Tinte, zur Farbe des Umschlags alle durch Zufall falsch sein sollten, kann kein Zufall sein. Ist keiner.«

»Was ist es denn dann? Verrat?« fragte Flambeau und wandte sich wieder seiner Mahlzeit zu.

»Das weiß ich auch nicht«, antwortete Brown mit einem Ausdruck der völligen Verwirrung. »Das einzige, woran ich denken kann… Naja, ich habe die Dreyfus-Angelegenheit nie verstanden. Ich kann moralische Beweise immer leichter begreifen als andere. Ich richte mich nach den Augen eines Mannes und nach seiner Stimme, wissen Sie, und danach, ob seine Familie glücklich erscheint, und welche Themen er wählt – und welche er meidet. Na gut, in der Dreyfus-Sache war ich verwirrt. Nicht wegen der schrecklichen Dinge, die man sich gegenseitig anlastete; ich weiß (obwohl es nicht mehr zeitgemäß ist, das zu sagen), daß die menschliche Natur auch an höchster Stelle fähig bleibt, Cenci oder Borgia zu sein. Nein; was mich verwirrte, war die Ehrlichkeit beider Seiten. Damit meine ich nicht die politischen Parteien; die große Masse ist immer einigermaßen ehrlich und oft hintergangen. Ich meine die Personen im Spiel. Ich meine die Verschwörer, wenn es Verschwörer waren. Ich meine den Verräter, wenn er Verräter war. Ich meine die Männer, die die Wahrheit gewußt haben müssen. Aber Dreyfus verhielt sich wie ein Mann, der wußte, daß ihm Unrecht geschah. Und dennoch verhielten sich die französischen Staatsmänner und Offiziere, als ob sie wüßten, daß ihm kein Unrecht geschah, sondern daß er Unrecht getan hatte. Ich meine nicht, daß sie sich richtig verhalten haben; ich meine, sie verhielten sich, als seien sie sicher. Ich kann diese Dinge nicht beschreiben; ich weiß, was ich meine.«

»Ich wollte, ich auch«, sagte sein Freund. »Und was hat das mit dem alten Hirsch zu tun?«

»Stellen Sie sich vor, ein Mann in einer Vertrauensstellung«, fuhr der Priester fort, »begann dem Feind Informationen zuzuspielen, weil es falsche Informationen waren. Stellen Sie sich vor, er selbst glaubte, daß er sein Land rette, indem er den Feind in die Irre führte. Stellen Sie sich vor, das brachte ihn mit Spionagekreisen in Berührung, und ihm wurden kleine Geldgeschenke gemacht, und nach und nach wurde er mit kleinen Banden gebunden. Stellen Sie sich vor, er hielt diese zwiespältige Haltung in einer wirren Weise bei, indem er den ausländischen Spionen niemals die Wahrheit sagte, sie die aber mehr und mehr erraten ließ. Sein besseres Ich (was davon noch übrig war) sagte sich immer noch: ›Ich habe dem Feind nicht geholfen; ich habe gesagt, es war die linke Schublade.‹ Aber sein schlechteres Ich würde bereits feststellen: ›Aber vielleicht ist er klug genug zu begreifen, daß ich die rechte gemeint habe.‹ Das halte ich jedenfalls psychologisch für möglich – in einer aufgeklärten Zeit, wissen Sie.«

»Es mag psychologisch möglich sein«, antwortete Flambeau, »und es würde sicherlich erklären, warum Dreyfus sicher war, daß ihm Unrecht geschah, und warum seine Richter sicher waren, daß er schuldig war. Aber historisch gesehen geht das nicht, denn Dreyfus’ Dokument (wenn es sein Dokument war) war buchstäblich korrekt.«

»Ich dachte nicht an Dreyfus«, sagte Father Brown.

Stille war um sie herum mit dem Leerwerden der Tische herabgesunken; es war schon spät, obwohl das Sonnenlicht sich noch überall hielt, als ob es sich zufällig in den Bäumen verhakt hätte. In diese Stille hinein verschob Flambeau scharf seinen Stuhl – wodurch ein einsames und widerhallendes Geräusch entstand – und warf den Arm über die Lehne. »Nun«, sagte er ziemlich harsch, »wenn Hirsch nicht besser ist als ein feiger Verratskrämer mit Nachrichten…«

»Sie dürfen nicht zu hart über sie urteilen«, sagte Father Brown sanft. »Es ist nicht nur ihre Schuld; aber sie haben keinen Instinkt. Damit meine ich die Dinge, die eine Frau dazu veranlassen, mit einem Mann nicht zu tanzen, oder einen Mann, irgendwo nicht zu investieren. Man hat sie gelehrt, daß es immer auf das Maß ankomme.«

»Jedenfalls«, rief Flambeau ungeduldig, »ist er gar nicht zu vergleichen mit meinem Duellanten; und deshalb werde ich das zu Ende bringen. Der alte Dubosc mag ein bißchen verrückt sein, aber schließlich ist er doch immerhin ein Patriot.«

Father Brown fuhr fort, Brätlinge zu verspeisen.

Irgend etwas in der gleichmütigen Art, in der er das tat, veranlaßte Flambeaus wilde schwarze Augen, seinen Gefährten erneut zu betrachten. »Was ist mit Ihnen los?« fragte Flambeau. »In der Beziehung ist Dubosc schon in Ordnung. Oder zweifeln Sie an ihm?«

»Mein Freund«, sagte der kleine Priester und legte Messer und Gabel in einer Art kalter Verzweiflung nieder, »ich zweifle an allem. An allem, meine ich, das sich heute ereignet hat. Ich zweifle an der ganzen Geschichte, obwohl sie sich vor meinen Augen abgespielt hat. Ich zweifle an jedem Anblick, den meine Augen seit heute morgen gehabt haben. Irgendwas an dieser Sache ist völlig anders als das übliche Polizeirätsel, in dem der eine Mann mehr mehr oder weniger lügt und der andere Mann mehr oder weniger die Wahrheit sagt. Hier sind es beide Männer, die… Na schön! Ich habe Ihnen die einzige Theorie erzählt, die ich mir ausdenken kann und die jedermann befriedigen könnte. Mich befriedigt sie nicht.«

»Mich auch nicht«, erwiderte Flambeau stirnrunzelnd, während der andere weiter Fisch aß mit dem Ausdruck der vollkommenen Resignation. »Wenn Ihre ganzen Überlegungen auf die Vorstellung einer Botschaft hinauslaufen, die durch Widersprüche übermittelt wird, dann nenne ich das ungewöhnlich schlau, aber… na ja, wie würden Sie das nennen?«

»Ich würde es fadenscheinig nennen«, sagte der Priester prompt. »Ich würde es ungewöhnlich fadenscheinig nennen. Aber das ist ja das Sonderbare an der ganzen Geschichte. Das ist wie die Lüge eines Schuljungen. Wir haben lediglich drei Versionen, die von Dubosc und die von Hirsch und meine Hirngespinste. Entweder wurde diese Notiz von einem französischen Offizier geschrieben, um einen französischen Beamten zu vernichten; oder sie wurde von dem französischen Beamten geschrieben, um den deutschen Offizieren zu helfen; oder sie wurde von dem französischen Beamten geschrieben, um die deutschen Offiziere in die Irre zu führen. Na schön. Nun würde man aber erwarten, daß ein Geheimpapier zwischen solchen Leuten, Beamten oder Offizieren, ganz anders aussieht. Man würde vielleicht einen Geheimcode erwarten, sicherlich Abkürzungen; ganz sicherlich wissenschaftliche und höchst professionelle Bezeichnungen. Aber dieses Ding ist ausgeklügelt simpel, wie ein Groschenroman: ›In der purpurnen Grotte findest du das goldene Kästchen.‹ Sieht so aus, als ob… als ob es auf den ersten Blick durchschaut werden sollte.«

Fast noch ehe sie sie wahrnehmen konnten, war eine kleine Gestalt in französischer Uniform wie der Wind zu ihrem Tisch herangelaufen und ließ sich mit einer Art Plumps nieder.

»Ich habe außerordentliche Neuigkeiten«, sagte der Herzog de Valognes. »Ich komme gerade von diesem unserem Oberst. Er packt, um das Land zu verlassen, und er bittet uns, ihn sur le terrain zu entschuldigen.«

»Was?« schrie Flambeau in schrecklicher Ungläubigkeit – »entschuldigen?«

»Ja«, sagte der Herzog rauh; »dann und da – vor allen – sobald die Degen gezogen werden. Und Sie und ich haben das zu tun, während er das Land verläßt.«

»Aber was kann das bedeuten?« schrie Flambeau. »Er kann doch keine Angst vor diesem kleinen Hirsch haben! Verflucht!« schrie er in einer Art vernünftiger Wut. »Niemand kann vor Hirsch Angst haben!«

»Ich glaube, das ist irgendeine Verschwörung!« knurrte Valognes, »eine Verschwörung der Juden und der Freimaurer. Und das soll Hirsch Ruhm verschaffen…«

Father Browns Gesicht sah gewöhnlich aus, aber sonderbar zufrieden; es konnte vor Unverständnis strahlen wie vor Wissen. Aber es gab da immer ein Aufleuchten, wenn die Maske der Dummheit sank und die Maske der Weisheit an ihre Stelle kam; und Flambeau, der seinen Freund kannte, wußte, daß sein Freund plötzlich verstanden hatte. Brown sagte nichts, sondern beendete seine Fischplatte.

»Wo haben Sie unseren wertvollen Oberst zuletzt gesehen?« fragte Flambeau irritiert.

»Drüben im Hotel St. Louis beim Elysée, wohin wir mit ihm gefahren sind. Ich sagte Ihnen doch, er packt.«

»Glauben Sie, daß er immer noch da ist?« fragte Flambeau und blickte stirnrunzelnd den Tisch an.

»Ich glaube nicht, daß er schon weg ist«, erwiderte der Herzog; »er packt für eine lange Reise…«

»Nein«, sagte Father Brown einfach, stand aber plötzlich auf, »für eine sehr kurze Reise. Tatsächlich für eine der kürzesten überhaupt. Aber wenn wir uns ein Taxi nehmen, können wir noch rechtzeitig hinkommen.«

Darüber hinaus war nichts aus ihm herauszubringen, bis das Taxi um die Ecke vors Hotel St. Louis fegte, wo sie ausstiegen, und dann führte er die Gruppe in eine Seitengasse, die bereits im tiefen Schatten der sinkenden Dunkelheit lag. Einmal, als der Herzog ungeduldig fragte, ob Hirsch denn nun des Verrates schuldig sei oder nicht, antwortete er ziemlich geistesabwesend: »Nein; nur des Ehrgeizes – wie Caesar.« Dann fügte er etwas zusammenhanglos hinzu: »Er lebt ein sehr einsames Leben; er hat immer alles selbst tun müssen.«

»Na schön, wenn er ehrgeizig ist, dann sollte er jetzt zufrieden sein«, sagte Flambeau ziemlich bitter. »Ganz Paris wird ihm jetzt zujubeln, nachdem unser verfluchter Oberst den Schwanz eingekniffen hat.«

»Sprechen Sie nicht so laut«, sagte Father Brown und senkte die Stimme; »Ihr verfluchter Oberst ist direkt vor uns.«

Die beiden anderen fuhren zusammen und zogen sich tiefer in den Schatten der Mauer zurück, denn man konnte tatsächlich die stämmige Gestalt ihres entwichenen Duellanten erkennen, wie sie mit einer Reisetasche in jeder Hand im Zwielicht vor ihnen dahinschlurfte. Er sah fast genau so aus wie zu der Zeit, da sie ihn zum ersten Mal sahen, nur hatte er seine malerische Bergsteigerhose gegen normale Hosen getauscht. Es war ganz klar, daß er bereits aus dem Hotel geflohen war.

Die Gasse, durch die sie ihm folgten, war eine von jenen, die hinter dem Rücken der Dinge vorüberzulaufen scheinen und aussehen wie die falsche Seite einer Bühnendekoration. Eine farblose ununterbrochene Mauer erstreckte sich an der einen Seite, ab und zu von stumpffarbenen und schmutzfleckigen Türen unterbrochen, alle fest geschlossen und gesichtslos, abgesehen von einigen Kreidekritzeleien herumstreunender »gamins«. Wipfel von Bäumen, meist reichlich traurigen immergrünen, blickten in Abständen über die Mauer, und hinter ihnen konnte man vor der grauen und purpurnen Dämmerung die Rückseiten langer Terrassen hoher Pariser Häuser sehen, in Wirklichkeit ziemlich nahe, aber irgendwie sahen sie ebenso unzugänglich aus wie eine Kette marmorner Berge. Auf der anderen Seite der Gasse verliefen die hohen vergoldeten Gitter eines düsteren Parks.

Flambeau sah sich etwas beklommen um. »Wissen Sie«, sagte er, »irgendwas ist mit diesem Ort, das – «

»Hallo!« rief der Herzog scharf. »Der Kerl ist verschwunden. Verschwunden wie so ‘n verdammtes Gespenst!«

»Er hat einen Schlüssel«, erklärte ihr kirchlicher Freund. »Er ist nur durch eines dieser Gartentörchen eingetreten«, und noch während er sprach, hörten sie vor sich, wie sich eine der hölzernen Gartentüren mit einem Klicken schloß.

Flambeau trat auf die Tür zu, die sich ihm fast ins Gesicht hinein geschlossen hatte, und stand für einen Augenblick vor ihr, während er seinen Schnurrbart in wütender Neugier zerkaute. Dann warf er seine langen Arme empor, schwang sich daran wie ein Affe hoch und stand auf der Mauerkrone, seine riesige Gestalt dunkel vor dem purpurnen Himmel, wie eine der dunklen Baumkronen.

Der Herzog sah den Priester an. »Die Flucht von Dubosc ist ausgeklügelter, als wir gedacht haben«, sagte er; »aber ich vermute, daß er aus Frankreich fliehen will.«

»Er will aus allem fliehen«, antwortete Father Brown.

Valognes Augen leuchteten auf, aber seine Stimme wurde leise. »Sie meinen Selbstmord?« fragte er.

»Sie werden seinen Körper nicht finden«, erwiderte der andere.

Flambeau auf der Mauer oben stieß eine Art Schrei aus. »Mein Gott«, rief er auf französisch, »jetzt weiß ich, wo wir sind! Das ist die Straße hinter dem Haus, in dem der alte Hirsch wohnt. Ich habe immer geglaubt, ich könnte die Rückseite eines Hauses ebensogut erkennen wie die Rückseite eines Mannes.«

»Und Dubosc ist da reingegangen!« schrie der Herzog und klatschte sich auf die Schenkel. »Dann begegnen sie sich schließlich also doch!« Und mit plötzlicher gallischer Lebhaftigkeit sprang er auf die Mauer neben Flambeau und hockte da und strampelte tatsächlich vor Aufregung mit den Beinen. Der Priester allein blieb unten, und er lehnte an der Mauer mit dem Rücken zur Bühne all der Ereignisse, und blickte nachdenklich auf die Gatter des Parks und die im Zwielicht zwinkernden Bäume.

Der Herzog, wie aufgeregt auch immer, besaß die Instinkte des Aristokraten und wollte das Haus beobachten, aber es nicht ausspionieren ; Flambeau jedoch besaß die Instinkte eines Einbrechers (und Detektivs) und hatte sich bereits von der Mauer in die Gabelung eines üppigen Baumes geschwungen, von wo aus er ganz nahe an das einzige erleuchtete Fenster auf der Rückseite des hohen dunklen Hauses herankriechen konnte. Eine rote Jalousie war vor dem Licht herabgezogen worden, aber unordentlich, so daß sie an einer Seite aufklaffte, und indem er seinen Hals auf einem Ast riskierte, der so zuverlässig wie ein Zweig wirkte, konnte er gerade noch sehen, wie Oberst Dubosc in einem hell erleuchteten luxuriösen Schlafzimmer umherging. Wie nahe Flambeau aber auch dem Hause war, er konnte doch die Worte seiner Freunde an der Mauer hören, und er wiederholte sie leise.

»Ja, sie begegnen sich jetzt doch noch!«

»Sie werden sich niemals begegnen«, sagte Father Brown. »Hirsch hatte recht, als er sagte, in einer solchen Angelegenheit dürften sich die Kontrahenten nicht begegnen. Haben Sie nie die eigenartige psychologische Geschichte von Henry James gelesen, in der sich zwei Personen ständig durch Zufall verpassen, so daß sie schließlich beginnen, voreinander Angst zu empfinden und es für Schicksal halten? Hier ist das ähnlich, nur noch eigenartiger.«

»In Paris gibt es genug Leute, die sie von so morbiden Phantasien heilen werden«, sagte Valognes rachsüchtig. »Sie werden sich schon begegnen müssen, wenn wir sie fassen und zu fechten zwingen.«

»Sie werden sich selbst am Tag des Jüngsten Gerichts nicht begegnen«, sagte der Priester. »Und selbst wenn Gott der Allmächtige den Heroldsstab schwänge und Sankt Michael die Trompete zum Kreuzen der Schwerter bliese – selbst dann würde, wenn der eine bereitsteht, der andere nicht erscheinen.«

»Was sollen denn all diese mystischen Bemerkungen bedeuten?« rief der Herzog de Valognes ungeduldig. »Warum in aller Welt sollten sie sich nicht wie andere Leute begegnen?«

»Sie sind jeder das Gegenteil des anderen«, sagte Father Brown mit sonderbarem Lächeln. »Sie widersprechen einander. Sie schließen einander sozusagen aus.«

Er fuhr fort auf die dunkelnden Bäume gegenüber zu starren, aber Valognes fuhr auf einen unterdrückten Ausruf Flambeaus hin jäh mit dem Kopf herum. Dieser Detektiv hatte, während er in den erleuchteten Raum hineinspähte, eben noch gesehen, wie sich der Oberst nach ein oder zwei Schritten daran machte, den Rock abzulegen. Flambeaus erster Gedanke war, daß das jetzt wirklich nach einem Duell aussah; aber er ließ diesen Gedanken bald wieder zugunsten eines anderen fallen. Die mächtige Brust von Dubosc und seine breiten Schultern waren nichts anderes als eine kräftige Schicht Wattierung und wurden mit der Jacke abgelegt. In Hemd und Hose war er ein verhältnismäßig schlanker Gentleman, der durch das Schlafzimmer dem Badezimmer mit keinen grimmigeren Absichten zustrebte, als sich zu waschen. Er beugte sich über ein Becken, trocknete seine tropfenden Hände und sein Gesicht an einem Handtuch ab und wandte sich wieder um, so daß der helle Lampenschein auf sein Gesicht fiel. Die braune Haut war verschwunden, sein großer schwarzer Schnurrbart war verschwunden; er war glatt rasiert und sehr blaß. Nichts blieb von dem Oberst als seine hellen, falkengleichen braunen Augen. Unter der Mauer fuhr Father Brown in tiefem Nachdenken wie zu sich selbst fort:

»Es ist genau so, wie ich zu Flambeau gesagt habe. Diese Gegensätze tun es nicht. Sie funktionieren nicht. Sie kämpfen nicht. Wenn es weiß statt schwarz ist, und fest statt flüssig, und so immer wieder und in allem – dann ist da was falsch, Monsieur, dann ist da was falsch. Einer dieser Männer ist blond und der andere dunkel, einer stämmig und der andere schlank, einer stark und der andere schwach. Der eine hat einen Schnurrbart und keinen Bart, so daß man seinen Mund nicht sehen kann; der andere hat einen Bart und keinen Schnurrbart, so daß man sein Kinn nicht sehen kann. Der eine hat sein Haar bis auf den Schädel kurz geschoren, aber einen Schal, um seinen Hals zu verbergen; der andere hat weiche Hemdenkragen, aber langes Haar, um seinen Schädel zu verbergen. Das alles ist zu sauber und zu korrekt, Monsieur, und da ist irgendwas falsch. Dinge, die so entgegengesetzt gemacht sind, sind Dinge, die nicht miteinander streiten können. Wo immer der eine herauskommt, verschwindet der andere. Wie Gesicht und Maske, wie Schloß und Schlüssel…«

Flambeau starrte in das Haus mit einem Gesicht so weiß wie ein Blatt Papier. Der Bewohner des Raumes stand mit dem Rücken zu ihm, aber mit dem Gesicht zu einem Spiegel, und er hatte sich inzwischen einen Kranz von üppigem rotem Haar ums Gesicht gelegt, das unordentlich vom Kopf herabhing und um Kiefer und Kinn ging, aber den spöttischen Mund unbedeckt ließ. So im Spiegel gesehen, sah das weiße Gesicht wie das Gesicht Judas’ aus, das schrecklich lachte und von den wabernden Flammen der Hölle umgeben war. Für einen Augenblick sah Flambeau die wilden rotbraunen Augen tanzen, dann wurden sie mit einem Paar blauer Brillengläser bedeckt. Und während sie sich eine lose schwarze Jacke überzog, verschwand die Gestalt zur Vorderseite des Hauses hin. Wenige Augenblicke später kündete donnernder Applaus von der jenseitigen Straße davon, daß Dr. Hirsch erneut auf dem Balkon erschienen war.


Der Mann in der Passage

Zwei Männer tauchten gleichzeitig an den zwei Enden einer Art von Passage auf, die seitlich am Apollo-Theater im Adelphi entlangläuft. Das abendliche Tageslicht in den Straßen war kraftvoll und leuchtend, opalisierend und leer. Die Passage war verhältnismäßig lang und dunkel, so daß jeder der Männer den anderen am anderen Ende nur als schwarze Silhouette sehen konnte. Dennoch kannte jeder der Männer den anderen, selbst als tintichten Umriß; denn beide waren sie Männer von auffallender Erscheinung, und sie haßten einander.

Die überdachte Passage öffnete sich am einen Ende in eine der steilen Straßen von Adelphi, und am anderen auf eine Terrasse, die den sonnenuntergangsroten Fluß überschaute. Die eine Seite der Passage bildete eine kahle Mauer, denn das Gebäude, das sie stützte, war ein altes erfolgloses Theater-Restaurant, das jetzt geschlossen war. Die andere Seite der Passage wies zwei Türen auf, an jedem Ende eine. Keine war das, was man üblicherweise die Bühnentür nennt; sie waren vielmehr eine Art spezieller und privater Bühnentüren, die von sehr speziellen Darstellern benützt wurden, und in diesem Fall von Hauptdarsteller und Hauptdarstellerin der Shakespeare-Aufführung dieses Tages. Persönlichkeiten von solcher Prominenz lieben es häufig, über derartige private Ausgänge und Eingänge zu verfügen, um Freunde zu treffen oder zu vermeiden.

Die beiden fraglichen Männer waren zweifellos beide solche Freunde, die offensichtlich die Türen kannten und damit rechneten, daß sie geöffnet würden, denn sie näherten sich beide der Tür am oberen Ende mit der gleichen Gelassenheit und Gewißheit. Jedoch nicht mit der gleichen Geschwindigkeit; aber da der Mann, der schnell schritt, der Mann vom anderen Ende des Tunnels war, trafen beide fast im gleichen Augenblick vor der geheimen Bühnentür ein. Sie grüßten einander höflich und warteten einen Moment, bevor einer von ihnen, der schärfere Gänger, der die kürzere Geduld zu haben schien, an die Tür klopfte.

In diesem wie in allem anderen war jeder der Männer des anderen Gegensatz, und keinen hätte man dem anderen unterlegen nennen können. Als Privatmann war jeder ansehnlich, fähig und beliebt. Als Mann der Öffentlichkeit war jeder Mitglied der vordersten Reihe. Aber alles an ihnen, von ihrem Ruhm bis zu ihrem guten Aussehen, war von unterschiedlicher und unvergleichbarer Art. Sir Wilson Seymour gehörte jener Art von Männern an, von deren Bedeutung jeder weiß, der weiß. Je intimer man im innersten Kreis jeder Politik oder Profession verkehrte, desto häufiger traf man Sir Wilson Seymour. Er war der eine intelligente Mann in zwanzig unintelligenten Ausschüssen – zu jeder Art von Thema, von der Reform der Königlichen Akademie bis zur Frage der Edelmetallwährung für das Größere Britannien. Im Bereich der Künste insbesondere war er allmächtig. Er war so einzigartig, daß niemand so recht zu entscheiden vermochte, ob er ein großer Aristokrat war, der sich der Künste annahm, oder ein großer Künstler, dessen sich die Aristokratie annahm. Doch genügten bereits fünf Minuten des Zusammenseins mit ihm, um zu erkennen, daß man zeitlebens von ihm bestimmt worden ist.

Seine Erscheinung war »distinguiert« in genau dem gleichen Sinn; sie war zugleich konventionell und einzigartig. Die Mode selbst hätte an seinem Seidenzylinder keinen Fehl gefunden; und doch war er anders als jedes anderen Hut – ein bißchen höher vielleicht, und so seiner natürlichen Höhe etwas hinzufügend. Seine große, schlanke Gestalt war leicht gebeugt, sah aber alles andere als schwächlich aus. Sein Haar war silbergrau, aber er sah nicht alt aus; er trug es länger als üblich, sah aber nicht weichlich aus; es war lockig, sah aber nicht wie in Locken gelegt aus. Sein sorgfältig gestutzter Spitzbart ließ ihn männlicher und soldatischer aussehen, als er es ohne ihn getan hätte, wie bei jenen alten Admirälen von Velazquez, deren düstere Porträts in seinem Hause hingen. Seine grauen Handschuhe waren eine Spur bläulicher, sein silberknäufiger Stock war eine Spur länger als Dutzende solcher Handschuhe und Stöcke, die in den Theatern und Restaurants herumwirbeln.

Der andere Mann war nicht so groß, doch wäre er niemandem als klein erschienen, sondern vielmehr als kraftvoll und gutaussehend. Auch sein Haar war lockig, aber blond und um den starken massigen Kopf kurz geschoren – jene Art von Kopf, mit der man Türen einrennt, wie Chaucer vom Kopf des Müllers sagte. Sein militärischer Schnurrbart und die Schulterhaltung wiesen ihn als Soldaten aus, doch hatte er jene eigentümlich offenen und durchdringenden blauen Augen, die man häufiger bei Seeleuten findet. Sein Gesicht war irgendwie kantig, sein Kiefer war kantig, seine Schultern waren kantig, sogar seine Jacke war kantig. Und wirklich hatte Max Beerbohm ihn in jener damals vorherrschenden wilden Schule der Karikatur als Lehrsatz aus dem vierten Buch Euklids dargestellt.

Denn auch er war ein Mann der Öffentlichkeit, wenngleich seine Erfolge ganz anderer Art waren. Man brauchte kein Mitglied der besten Gesellschaft zu sein, um von Hauptmann Cutler gehört zu haben, von der Belagerung Hongkongs und dem großen Marsch durch China. Wo immer man sich befand, wurde unausweichlich von ihm gesprochen; jede zweite Postkarte trug sein Porträt; seine Karten und Schlachten fanden sich in jeder zweiten Illustrierten; Lieder zu seinen Ehren hörte man in jeder zweiten Varieté-Nummer oder von jeder zweiten Drehorgel. Sein Ruhm, obwohl möglicherweise zeitgebundener, war doch zehnmal verbreiteter, volkstümlicher und spontaner als der des anderen Mannes. In Tausenden englischer Heime ragte er gewaltig über England empor, wie Nelson. Und doch hatte er unendlich viel weniger Macht in England als Sir Wilson Seymour.

Die Tür ward ihnen von einem alten Diener oder Garderobier geöffnet, dessen niedergeschlagene Miene und Haltung und dessen schwarzer schäbiger Anzug sonderbar kontrastierten mit der glitzernden Inneneinrichtung der Garderobe jener großen Schauspielerin. Sie war mit Spiegeln in jeglichem Brechungswinkel dermaßen ausgestattet und gefüllt, daß sie wie die hundert Facetten eines riesigen Diamanten wirkten – falls man ins Innere eines Diamanten eintreten kann. Die anderen Anzeichen von Luxus, ein paar Blumen, ein paar bunte Kissen, ein paar Bühnenkostüme, wurden von all den Spiegeln in den Irrwitz von Tausendundeiner Nacht vervielfacht und tanzten und veränderten ständig ihren Ort, ganz wie der herumschlurfende Diener einen Spiegel vorzog oder einen anderen an die Wand zurückschob.

Beide sprachen den düsteren Diener mit Namen an, nannten ihn Parkinson und fragten nach seiner Herrin als nach Miss Aurora Rome. Parkinson sagte, daß sie sich im Nebenraum befinde und daß er zu ihr gehen und sie benachrichtigen wolle. Ein Schatten flog über die Stirnen beider Besucher; denn der Nebenraum war die Privatgarderobe jenes großen Schauspielers, mit dem Miss Aurora auftrat, und sie war von jener Art, die Bewunderung nicht entfacht, ohne zugleich Eifersucht zu entfachen. Nach etwa einer halben Minute aber öffnete sich die Verbindungstür, und sie trat auf wie immer, selbst im privaten Leben, so daß sogar das Schweigen wie donnernder Applaus erschien, und wohlverdienter. Sie trug ein etwas sonderbares Gewand aus pfauengrünem und pfauenblauem Satin, der glitzerte wie blaues und grünes Metall, wie es Kinder und Ästheten entzückt, und ihr schweres, glühendbraunes Haar umrahmte eines jener zauberischen Gesichter, die allen Männern gefährlich sind, besonders aber Knaben und Ergrauenden. Gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem großen amerikanischen Schauspieler Isidore Bruno, brachte sie eine besonders poetische und phantastische Interpretation des Sommernachtstraums auf die Bühne, worin der künstlerische Vorrang Oberon und Titania eingeräumt war, oder mit anderen Worten Bruno und ihr. In den träumerischen und erlesenen Kulissen und in den mystischen Tänzen drückte das grüne Kostüm, wie schillernde Käferflügel, die ganze unfaßbare Ausstrahlung einer Elfenkönigin aus. Wenn man ihr aber in jenem immer noch hellen Tageslicht persönlich gegenüberstand, sah ein Mann nichts anderes als das Antlitz dieser Frau.

Sie begrüßte beide Männer mit jenem strahlenden verwirrenden Lächeln, das so manchen Mann in gerade der gleichen gefährlichen Entfernung zu ihr hielt. Sie nahm von Cutler einige Blumen entgegen, die so tropisch und kostspielig waren wie seine Siege; und eine andere Art Geschenk von Sir Wilson Seymour, das jener Gentleman ihr später und nachlässiger überreichte. Denn seiner Aufzucht widersprach es, seine Gefühle zur Schau zu stellen, und seiner konventionellen Unkonventionalität, so etwas Offenbares wie Blumen zu schenken. Er habe da, sagte er, eine Kleinigkeit gefunden, die eher eine Kuriosität sei; einen antiken griechischen Dolch aus der mykenischen Epoche, der sehr wohl zur Zeit von Theseus und Hippolyte getragen worden sein mochte. Er sei aus Bronze, wie alle heroischen Waffen, aber eigenartigerweise immer noch scharf genug, um jemand damit zu stechen. Er sei besonders durch die blattähnliche Form angezogen worden; vollkommen wie eine griechische Vase. Wenn das für Miss Rome von irgendeinem Interesse sei, oder vielleicht in der Aufführung gebraucht werden könne, hoffe er, daß sie –

Die Verbindungstür flog auf und eine mächtige Gestalt erschien, die zum erklärungsfreudigen Seymour einen noch größeren Gegensatz bildete als sogar Hauptmann Cutler. Fast 6 Fuß 6 hoch und von mehr als theatralischen Sehnen und Muskeln, glich Isidore Bruno in dem prächtigen Leopardenfell und den goldbraunen Gewändern Oberons einem heidnischen Gott. Er lehnte sich auf eine Art Jagdspeer, der auf einer Bühne wie ein leichter silberner Stab wirkte, aber in dem kleinen und verhältnismäßig überfüllten Raum so einfach wie eine Lanze aussah – und so bedrohlich. Seine lebhaften schwarzen Augen rollten vulkanisch, sein bronzefarbenes Gesicht, wie schön auch immer, zeigte in jenem Augenblick eine Kombination von hohen Wangenknochen und zusammengebissenen Zähnen, die an gewisse amerikanische Vermutungen betreffend seine Herkunft von Südstaatenplantagen erinnerte.

»Aurora«, begann er mit seiner tiefen, leidenschaftlich dröhnenden Stimme, die so viele Zuschauer bewegt hatte, »willst du – «

Er brach unentschlossen ab, weil eine sechste Figur plötzlich in der Tür aufgetaucht war – eine mit der Szene so unvereinbare Figur, daß sie schon fast komisch wirkte. Es war ein sehr kurzer Mann in der schwarzen Uniform des römischen Weltklerus, und er sah (besonders in solcher Gegenwart wie der von Bruno und Aurora) eher dem hölzernen Noah aus einer Arche ähnlich. Jedoch schien er sich keines Kontrastes bewußt zu sein, sondern sagte mit einfacher Höflichkeit: »Ich glaube, daß Miss Rome nach mir geschickt hat.«

Ein gewiefter Beobachter würde bemerkt haben, daß die emotionale Temperatur bei dieser so unemotionalen Unterbrechung ziemlich anstieg. Die Abgelöstheit eines berufsmäßigen Zölibatärs schien den anderen deutlich zu machen, daß sie die Frau umstanden wie ein Kreis von Liebesrivalen; so wie das Eintreten eines Fremden mit Eis am Mantel deutlich macht, daß der Raum heiß wie ein Schmelzofen ist. Die Anwesenheit dieses einen Mannes, der an ihr nicht interessiert war, steigerte Miss Romes Gespür dafür, daß jeder andere in sie verliebt war, und jeder auf eine gewissermaßen gefährliche Weise: der Schauspieler mit all der Gier eines Wilden und eines verzogenen Kindes; der Soldat mit all der einfachen Selbstigkeit eines Mannes von Willen statt von Geist; Sir Wilson mit jener sich täglich verstärkenden Konzentration, mit der alte Hedonisten sich einem Hobby hingeben; und selbst der unterwürfige Parkinson, der sie bereits vor ihren Triumphen gekannt hatte und ihr zu Auge oder zu Fuß durch den Raum folgte, mit der dumpfen Hingabe eines Hundes.

Ein gewiefter Mensch würde aber auch etwas noch Eigenartigeres bemerkt haben. Der Mann wie ein schwarzer Holznoah (der nicht ganz ohne Gewieftheit war) bemerkte es mit erheblicher aber verhohlener Belustigung. Es war offensichtlich, daß die große Aurora, obwohl der Bewunderung durch das andere Geschlecht keineswegs abhold, in diesem Augenblick all jene Männer loswerden wollte, die sie bewunderten, um mit jenem Mann allein gelassen zu werden, der das nicht tat – sie jedenfalls nicht in diesem Sinne bewunderte; denn der kleine Priester bewunderte und genoß die entschlossene weibliche Diplomatie, mit der sie sich an ihre Aufgabe machte. Es gab vielleicht nur eine Sache, in der Aurora Rome wirklich klug war, und das war die Hälfte der Menschheit – die andere Hälfte. Der kleine Priester beobachtete wie einen napoleonischen Feldzug die rasche Genauigkeit ihrer Politik, alle zu vertreiben und keinen zu verbannen. Bruno, der große Schauspieler, war so kindisch, daß es leicht war, ihn fortzuschicken, ungezogen schmollend und die Tür zuschlagend. Cutler, der britische Offizier, war dickfellig gegenüber Gedanken, aber dünnhäutig in Sachen des guten Benehmens. Er würde alle Winke ignorieren, aber eher sterben, als einen eindeutigen Auftrag einer Dame zu ignorieren. Was den alten Seymour anging, so mußte er ganz anders behandelt werden; er mußte bis zuletzt bleiben. Der einzige Weg, ihn hinauszubewegen, war, sich vertrauensvoll an ihn zu wenden wie an einen alten Freund, ihn ins Geheimnis dieser Bereinigung einzuweihen. Der Priester bewunderte Miss Rome aufrichtig, wie sie diese drei Ziele gleichzeitig mit einer wohlerwogenen Handlung erreichte.

Sie ging zu Hauptmann Cutler hinüber und sagte auf die süßeste Weise: »Mir sind all diese Blumen lieb und wert, denn es müssen Ihre Lieblingsblumen sein. Aber sie wären nicht vollkommen, wissen Sie, ohne meine Lieblingsblumen. Bitte gehen Sie in das Geschäft um die Ecke und holen Sie mir einige Maiglöckchen, und dann wird alles ganz wunderschön sein.«

Das erste Ziel ihrer Diplomatie, der Abgang des wütenden Bruno, wurde sofort erreicht. Er hatte seinen Speer bereits mit königlicher Gebärde wie ein Szepter dem kläglichen Parkinson gereicht und war im Begriffe, sich eines der Polstersitze wie eines Thrones zu bemächtigen. Bei dieser offenen Anrufung seines Rivalen jedoch glühte in seinen opalen Augäpfeln all die leidenschaftliche Unverschämtheit des Sklaven auf; für einen Augenblick ballte er seine riesigen braunen Fäuste und verschwand dann, indem er die Tür aufstieß, in seinen eigenen dahinter liegenden Räumen. Inzwischen hatte der Versuch Miss Romes, die britische Armee in Bewegung zu setzen, nicht so einfach geklappt, wie zu erwarten gewesen war. Cutler hatte sich zwar steif und schnell erhoben und war, hutlos und wie auf Befehl, der Tür entgegengeschritten. Aber vielleicht gab es da etwas aufreizend Elegantes in der lässigen Gestalt Seymours, der gegen einen der Spiegel lehnte, was ihn unmittelbar vor dem Eingang zum Stillstand und dazu brachte, den Kopf hin und her zu bewegen wie eine verwirrte Bulldogge.

»Ich muß diesem dummen Menschen den Weg zeigen«, flüsterte Aurora Seymour zu und rannte über die Schwelle, um den abgehenden Gast zur Eile anzutreiben.

Seymour schien in seiner eleganten und sorglosen Pose zu lauschen und schien erleichtert, als er hörte, wie die Dame dem Hauptmann einige letzte Instruktionen nachrief und sich dann auf dem Absatz umdrehte und lachend die Passage gegen das andere Ende zu hinablief, das Ende mit der Terrasse über der Themse. Doch eine Sekunde oder zwei danach verdüsterte sich Seymours Stirn erneut. Ein Mann in seiner Position hat so viele Rivalen, und er erinnerte sich, daß sich am anderen Ende der Passage der entsprechende Eingang zu Brunos privater Garderobe befand. Er verlor seine Haltung nicht; er sagte einige höfliche Worte zu Father Brown über die Wiederbelebung byzantinischer Architektur in der Kathedrale von Westminster und schlenderte dann ganz ungezwungen hinaus in das obere Ende der Passage. Father Brown und Parkinson blieben allein zurück, und keiner von ihnen hatte Geschmack an überflüssiger Konversation. Der Garderobier ging im Zimmer umher, zog Spiegel vor und schob sie wieder zurück, und sein abgewetzter dunkler Anzug sah um so schäbiger aus, als er immer noch den schimmernden Märchenspeer Oberons hielt. Jedesmal, wenn er den Rahmen eines anderen Spiegels hervorzog, erschien eine andere schwarze Gestalt Father Browns; das absurde Spiegelkabinett war voller Father Browns, kopfüber in der Luft wie Engel, Purzelbäume schlagend wie Akrobaten, jedem ihre Rücken zukehrend wie ungewöhnlich ungezogene Leute.

Father Brown schien sich dieser Wolke von Zeugen nicht bewußt zu sein, sondern verfolgte Parkinson mit müßig aufmerksamem Blick, bis jener sich mitsamt seinem absurden Speer in das entferntere Zimmer von Bruno begab. Danach gab er sich jenen abstrakten Meditationen hin, wie sie ihn immer ergötzten – Berechnung der Spiegelwinkel, der Brechungswinkel, der Winkel, mit denen jeder Spiegel an der Wand befestigt werden müßte… als er einen lauten, aber erstickten Schrei hörte.

Er sprang auf und lauschte erstarrt. Im gleichen Augenblick stürmte Sir Wilson Seymour wieder ins Zimmer, weiß wie Elfenbein. »Wer ist der Mann in der Passage?« schrie er. »Wo ist der Dolch von mir?«

Ehe Father Brown sich noch in seinen schweren Stiefeln hatte umdrehen können, durchwühlte Seymour auf der Suche nach der Waffe bereits den Raum. Und ehe er noch diese Waffe oder eine andere hätte finden können, erscholl das scharfe Geräusch rennender Füße draußen auf dem Pflaster, und das kantige Gesicht von Cutler wurde in den gleichen Eingang geschoben. Er umklammerte immer noch grotesk einen Maiglöckchenstrauß. »Was ist los?« schrie er. »Wer ist dieses Wesen da draußen in der Passage? Ist das einer Ihrer Tricks?«

»Meine Tricks!« zischte sein bleicher Rivale und machte einen Schritt auf ihn zu.

In dem Augenblick, da dieses alles sich abspielte, trat Father Brown oben in die Passage, blickte sie hinab und ging dann rasch auf das zu, was er da sah.

Angesichts dessen ließen die beiden anderen Männer ihren Streit beiseite und stürmten hinter ihm her, wobei Cutler rief: »Was machen Sie da? Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Brown«, sagte der Priester traurig, als er sich über etwas beugte und sich dann wieder aufrichtete. »Miss Rome hat nach mir geschickt, und ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Ich bin zu spät gekommen.«

Die drei Männer blickten nach unten, und in wenigstens einem von ihnen erstarb in jenem späten Nachmittagslicht das Leben. Das Licht durchfloß die Passage wie ein Pfad aus Gold, und in seiner Mitte lag Aurora Rome in ihren schimmernden Gewändern aus Grün und Gold, ihr totes Gesicht nach oben gewendet. Ihr Kleid war wie durch einen Kampf beiseite gerissen und ließ ihre rechte Schulter bloß, aber die Wunde, aus der das Blut quoll, war auf der anderen Seite. Der Bronzedolch lag flach und glänzend einen Meter oder so entfernt.

Für geraume Zeit herrschte tote Stille, so daß sie weit entfernt ein Blumenmädchen vor Charing Cross lachen hören konnten, und irgend jemanden, der in einer der Nebenstraßen des Strand wütend nach einem Taxi pfiff. Dann packte der Hauptmann mit einer so schnellen Bewegung, daß es entweder Leidenschaft oder Schauspielerei sein konnte, Sir Wilson Seymour bei der Gurgel.

Seymour blickte ihn stetig ohne Kampf noch Furcht an. »Sie brauchen mich nicht zu töten«, sagte er mit kalter Stimme; »das werde ich schon selbst besorgen.«

Des Hauptmanns Hand zögerte und sank; und der andere fügte mit der gleichen eisigen Direktheit hinzu: »Falls ich nicht den Mut aufbringen sollte, das mit jenem Dolch zu tun, kann ich es binnen eines Monats mit Trinken schaffen.«

»Trinken ist für mich nicht gut genug«, erwiderte Cutler, »aber bevor ich sterbe, will ich hierfür Blut sehen. Nicht Ihres – aber ich glaube, ich weiß, wessen.«

Und ehe noch die anderen seine Absicht erkennen konnten, griff er sich den Dolch, sprang zu jener anderen Türe am unteren Ende der Passage, rannte sie mit Riegel und Schloß nieder und trat Bruno in dessen Garderobe gegenüber. Als er das tat, schlurfte der alte Parkinson in seiner zittrigen Weise aus der Tür und erblickte die Leiche, die in der Passage lag. Er bewegte sich erbebend auf sie zu; schaute sie schwächlich mit zuckendem Gesicht an; bewegte sich dann bebend zurück in die Garderobe und setzte sich plötzlich auf einen der reichgepolsterten Stühle. Father Brown lief sofort zu ihm, wobei er Cutler und den riesigen Schauspieler außer acht ließ, obwohl der Raum schon von ihren Hieben widerhallte und sie um den Dolch zu kämpfen begannen. Seymour, der sich einen gewissen praktischen Sinn bewahrt hatte, pfiff am Ende der Passage nach der Polizei.

Als die Polizei eintraf, hatte sie zunächst die beiden Männer aus einer affenähnlichen Umklammerung zu lösen und nach einigen formellen Fragen Isidore Bruno unter der Mordanklage zu verhaften, die sein wütender Gegner gegen ihn vorbrachte. Der Gedanke, daß der große Nationalheld der Stunde einen Übeltäter mit eigener Hand gefangengenommen hatte, fiel bei der Polizei, die nicht frei von journalistischen Elementen ist, zweifellos ins Gewicht. Sie behandelten Cutler mit einer gewissen feierlichen Aufmerksamkeit und wiesen darauf hin, daß er an der Hand einen leichten Schnitt habe. Denn als Cutler Bruno über umgestürzte Stühle und Tische zurückdrängte, hatte dieser ihm den Dolch aus dem Griff gewunden und ihn gerade unterhalb des Handgelenks verletzt. Die Wunde war wirklich leicht, aber bis er aus dem Zimmer entfernt war, blickte der halbwilde Häftling mit stetem Lächeln auf das rinnende Blut.

»Der Kerl sieht fast wie ein Kannibale aus, nicht?« sagte der Schutzmann vertraulich zu Cutler.

Cutler antwortete nicht, sagte aber einen Augenblick später scharf: »Wir müssen uns um… um die Tote…«, und seine Stimme versagte.

»Die beiden Toten«, kam die Stimme des Priesters von der anderen Seite des Zimmers. »Dieser arme Kerl war schon tot, als ich zu ihm kam.« Und er stand da und blickte auf den alten Parkinson hinab, der da als schwarzes Bündel auf dem prachtvollen Stuhl saß. Auch er hatte, nicht unberedt, der Frau, die da gestorben war, seinen Tribut gezollt.

Das Schweigen brach als erster Cutler, der von einer rauhen Zärtlichkeit angerührt schien. »Ich wollte, ich wäre er«, sagte er heiser. »Ich erinnere mich, daß er sie mehr als jeder andere beobachtete, wo immer sie ging. Sie war seine Luft, und jetzt ist er verschmachtet. Er ist einfach tot.«

»Wir sind alle tot«, sagte Seymour mit seltsamer Stimme und blickte die Straße hinab.

Sie nahmen an der Straßenecke Abschied von Father Brown mit einigen flüchtigen Entschuldigungen hinsichtlich irgendwelcher Unhöflichkeiten, die vielleicht vorgefallen seien. Ihrer beider Gesichter waren tragisch, aber auch verschlossen.

Der Geist des kleinen Priesters war immer ein Kaninchengehege voller wilder Gedanken, die zu schnell umherhüpften, als daß er sie hätte festhalten können. Wie der weiße Schwanz eines Kaninchens schoß ihm der Gedanke durch den Sinn, daß er ihrer Trauer sicher war, ihrer Unschuld aber nicht so sicher.

»Wir sollten besser gehen«, sagte Seymour schwer; »wir haben alles getan, was wir konnten, um zu helfen.«

»Ob Sie wohl meine Beweggründe verstehen«, fragte Father Brown ruhig, »wenn ich sage, daß Sie alles getan haben, was Sie konnten, um zu schaden?«

Beide fuhren sie wie schuldig zusammen, und Cutler fragte scharf: »Wem zu schaden?«

»Sich selbst zu schaden«, antwortete der Priester. »Ich würde Ihren Kummer nicht noch erschweren, wenn es nicht einfacher Gerechtigkeitssinn wäre, Sie zu warnen. Sie haben fast alles getan, was Sie konnten, um sich selbst zu hängen, wenn dieser Schauspieler freigesprochen werden sollte. Man wird mich sicherlich als Zeugen vorladen; und dann muß ich sagen, daß Sie beide, nachdem der Schrei gehört worden war, in aufgelöstem Zustand in das Zimmer stürzten und sich um einen Dolch zu streiten begannen. So weit ich unter Eid aussagen kann, könnte jeder von Ihnen beiden es getan haben. Damit haben Sie sich geschadet; und dann mußte sich Hauptmann Cutler auch noch mit dem Dolch schaden.«

»Mir schaden!« rief der Hauptmann verächtlich aus. »Ein dummer kleiner Kratzer.«

»Der Blut fließen ließ«, erwiderte der Priester nickend. »Wir wissen, daß jetzt Blut auf der Bronze ist. Und deshalb werden wir nie erfahren, ob bereits vorher Blut da war.«

Schweigen herrschte; und dann sagte Seymour mit einem Nachdruck, der seiner üblichen Redeweise ganz fremd war: »Aber ich habe doch einen Mann in der Passage gesehen.«

»Ich weiß, daß Sie einen Mann sahen«, sagte der Kleriker Brown mit hölzernem Gesicht, »und Hauptmann Cutler sah auch einen Mann. Das macht es so unwahrscheinlich.«

Bevor einer von ihnen sich darüber genügend klar werden konnte, um auch nur zu antworten, hatte Father Brown sich höflich entschuldigt und stapfte mit seinem zerfledderten alten Regenschirm die Straße hinauf.

Wie moderne Zeitungen geleitet werden, sind die ehrlichsten und wichtigsten Nachrichten die Polizeinachrichten. Wenn es zutrifft, daß im 20. Jahrhundert dem Mord mehr Platz eingeräumt wird als der Politik, so aus dem ausgezeichneten Grund, daß Mord ein ernsthafteres Thema ist. Aber selbst das könnte kaum die ungeheure Allgegenwart des »Falles Bruno« oder des »Geheimnisses der Passage« und die weite Verbreitung der Einzelheiten in der Londoner wie in der Provinzpresse erklären. So groß war die Aufregung, daß die Presse für einige Wochen tatsächlich die Wahrheit berichtete; und so sind denn die unendlichen, ja selbst unerträglichen Berichte über die Verhöre und die Kreuzverhöre wenigstens zuverlässig. Der wahre Grund lag natürlich im Zusammentreffen der Persönlichkeiten. Das Opfer war eine beliebte Schauspielerin; der Angeklagte war ein beliebter Schauspieler; und der Angeklagte war sozusagen mit blutigen Händen vom populärsten Soldaten der patriotischen Saison gefaßt worden. Diese außergewöhnlichen Umstände zwangen die Presse zur Aufrichtigkeit und Genauigkeit; und so kann denn der Rest dieser ziemlich einzigartigen Geschichte aus den Reportagen über Brunos Verfahren berichtet werden.

Dem Verfahren saß Richter Monkhouse vor, einer jener, die als witzige Richter verhöhnt werden, die aber im allgemeinen viel ernsthafter sind als die ernsthaften Richter, denn ihre Leichtfertigkeit entspringt ihrer lebendigen Ungeduld professioneller Feierlichkeit gegenüber; während der ernsthafte Richter in Wahrheit voller Frivolität steckt, weil er voller Eitelkeit steckt. Da alle hauptbeteiligten Personen von irdischer Bedeutung waren, hatte man die Anwälte sorgsam ausbalanciert; Staatsanwalt war Sir Walter Cowdray, ein schwerer, aber gewichtiger Advokat jener Art, die weiß, wie man englisch und vertrauenswürdig erscheint und wie man sich rhetorisch zurückhaltend hervortut. Den Gefangenen verteidigte der Anwalt Patrick Butler, den jene für einen bloßen »Flaneur« hielten, die den Charakter der Iren mißverstehen – und jene, die von ihm noch nicht verhört worden sind. Die medizinischen Untersuchungsberichte ergaben keine Widersprüche, da der Arzt, den Seymour sofort beigezogen hatte, mit dem bedeutenden Chirurgen übereinstimmte, der die Leiche später untersucht hatte. Aurora Rome war mit einem scharfen Instrument wie Messer oder Dolch erstochen worden; einem Instrument zumindest, dessen Klinge kurz war. Die Wunde befand sich unmittelbar über dem Herzen, und sie war sofort gestorben. Als der Arzt sie zuerst sah, konnte sie kaum mehr als 20 Minuten tot sein. Deshalb konnte sie, als Father Brown sie fand, kaum mehr als 3 Minuten tot sein.

Einige amtliche Polizeiberichte folgten, die sich vor allem mit der Anwesenheit oder Abwesenheit jeglichen Beweises für einen Kampf befaßten; der einzige Hinweis auf so etwas war, daß das Kleid an der Schulter zerrissen war, und das wiederum paßte nicht eben gut zu Richtung und Endgültigkeit des Hiebes. Nachdem diese Einzelheiten vorgetragen, wenn auch nicht erklärt waren, wurde der erste der wichtigen Zeugen aufgerufen.

Sir Wilson Seymour machte seine Aussage, wie er alles tat, was er überhaupt tat – nicht nur gut, sondern vollendet. Obwohl selbst weitaus mehr ein Mann der Öffentlichkeit als der Richter, vermittelte er doch gerade jenen feinen Hauch von Selbstrücknahme vor des Königs Gerichtshof; und obwohl jedermann ihn ebenso beobachtete, wie man den Premierminister oder den Erzbischof von Canterbury beobachtet hätte, hätte doch niemand etwas anderes über sein Auftreten sagen können, als daß es das eines privaten Gentleman war, wobei die Betonung auf dem Hauptwort liegt. Zudem war er erfrischend klar, wie er es auch bei Ausschußsitzungen war. Er hatte Miss Rome im Theater besucht; er hatte dort Hauptmann Cutler getroffen; es hatte sich ihnen für kurze Zeit der Angeklagte angeschlossen, der dann in seine eigenen Gemächer zurückgekehrt war; danach hatte sich ihnen ein römisch-katholischer Priester angeschlossen, der nach der verstorbenen Dame fragte und sagte, sein Name sei Brown. Miss Rome sei dann aus dem Theater bis zum Eingang der Passage gegangen, um Hauptmann Cutler ein Blumengeschäft zu zeigen, wo er ihr noch mehr Blumen kaufen sollte; und der Zeuge sei da im Raum verblieben und habe einige Worte mit dem Priester gewechselt. Er habe dann ganz deutlich die Verstorbene, nachdem sie den Hauptmann auf seinen Botengang entsandt habe, sich lachend umkehren und die Passage hinab zum anderen Ende laufen gehört, wo sich die Garderobe des Gefangenen befand. In müßiger Neugier betreffend die schnellen Bewegungen seiner Freunde sei er selbst zum Anfang der Passage hinausgeschlendert und habe sie hinab zur Tür des Gefangenen hin überblickt. Ob er in der Passage etwas gesehen habe? Ja; er habe in der Passage etwas gesehen.

Sir Walter Cowdray ließ eine eindrucksvolle Pause entstehen, während der der Zeuge zu Boden blickte und trotz seiner üblichen Gelassenheit bleicher als üblich erschien. Dann fragte der Staatsanwalt mit leiserer Stimme, die zugleich anteilnehmend und schleichend klang: »Haben Sie es deutlich gesehen?«

Sir Wilson Seymour hatte, wie erregt auch immer, sein ausgezeichnetes Hirn in der vollsten Arbeitsordnung. »Sehr deutlich, was die Umrisse angeht, aber nur sehr undeutlich, oder besser überhaupt nicht, was die Einzelheiten innerhalb des Umrisses angeht. Die Passage ist so lang, daß jemand in ihrer Mitte vor der Helligkeit am anderen Ende einfach schwarz erscheint.« Der Zeuge senkte seine steten Augen ein weiteres Mal und fügte hinzu: »Ich hatte diese Tatsache bereits zuvor bemerkt, als Hauptmann Cutler sie zuerst betrat.« Wiederum entstand ein Schweigen, und der Richter lehnte sich vor und machte sich eine Notiz.

»Na schön«, sagte Sir Walter geduldig, »und wie sah der Umriß aus? Ähnelte er zum Beispiel der Gestalt der ermordeten Frau?«

»Nicht im entferntesten«, antwortete Seymour ruhig.

»Wie erschien er Ihnen denn?«

»Er erschien mir«, erwiderte der Zeuge, »wie ein großer Mann.«

Jedermann im Gericht hielt seine Augen auf seine Feder gerichtet, oder seine Regenschirmkrücke, oder sein Buch, oder seine Stiefel, oder worauf er auch immer zufällig blickte. Alle schienen ihre Blicke mit Gewalt von dem Gefangenen fortzuhalten; aber sie empfanden seine Anwesenheit auf der Anklagebank, und sie empfanden sie als gigantisch. Wie groß Bruno auch immer dem Auge erscheinen mochte, als aller Augen von ihm abgewandt waren, schien er immer größer und größer zu werden.

Cowdray nahm mit seinem feierlichen Gesicht seinen Platz wieder ein und strich sich glättend über die schwarze Seidenrobe und den weißen Seidenbackenbart. Sir Wilson verließ nach einigen letzten Einzelheiten, für die es viele andere Zeugen gab, den Zeugenstand, als der Anwalt der Verteidigung aufsprang und ihn anhielt.

»Ich werde Sie nur für einen Augenblick aufhalten«, sagte Mr. Butler, eine bäuerisch aussehende Person mit roten Augenbrauen und dem Ausdruck einer gewissen Schläfrigkeit. »Wollen Sie bitte dem Hohen Gericht sagen, woher Sie wußten, daß es ein Mann war?«

Ein schwaches feines Lächeln schien über Seymours Züge zu gleiten. »Ich fürchte, es handelt sich um etwas so Vulgäres wie Hosenbeine«, sagte er. »Als ich zwischen den langen Beinen das Tageslicht sah, war ich schließlich sicher, daß es sich um einen Mann handelte.«

Butlers schläfrige Augen öffneten sich so plötzlich wie durch eine lautlose Explosion. »Schließlich!« wiederholte er langsam. »Also dachten Sie zuerst, es handele sich um eine Frau?«

Seymour sah zum ersten Mal beunruhigt aus. »Es handelt sich zwar nicht um eine Tatsache«, sagte er, »aber wenn das Hohe Gericht wünscht, daß ich meinem Eindruck Ausdruck gebe, will ich das natürlich tun. Da war etwas an dem Ding, das nicht so recht zu einer Frau paßte, und doch auch wieder nicht ganz zu einem Mann; irgendwie waren die Kurven anders. Und es hatte etwas, das wie lange Haare aussah.«

»Ich danke Ihnen«, sagte der Anwalt Butler und setzte sich so plötzlich nieder, als habe er bekommen, was er wünschte.

Hauptmann Cutler war ein bei weitem weniger glaubwürdiger und gefaßter Zeuge als Sir Wilson, aber sein Bericht über die Anfangsereignisse war im wesentlichen gleich. Er beschrieb die Rückkehr Brunos in seine Garderobe, seine eigene Entsendung zum Einkauf eines Maiglöckchenstraußes, seine Rückkehr zum oberen Ende der Passage, wie er das Ding in der Passage sah, seinen Verdacht gegen Seymour und seinen Kampf mit Bruno. Aber er konnte nur geringen künstlerischen Beistand hinsichtlich der schwarzen Gestalt geben, die er und Seymour gesehen hatten. Gefragt nach dem Umriß sagte er, daß er kein Kunstkritiker sei – mit einem etwas zu offensichtlichen Hohngrinsen zu Seymour hin. Gefragt nach Mann oder Frau, sagte er, es habe mehr nach einem Tier ausgesehen – mit einem zu offensichtlichen Knurren zum Gefangenen hin. Doch war der Mann von Kummer und aufrichtigem Zorn offensichtlich erschüttert, und Cowdray entband ihn rasch von der Aufgabe, Tatsachen zu bestätigen, die schon ausreichend klar waren.

Und auch der Anwalt der Verteidigung war in seinem Kreuzverhör wiederum kurz; obwohl er (wie das seine Gewohnheit war) selbst beim Kurzsein sich lange Zeit nahm. »Sie verwendeten einen ziemlich bemerkenswerten Ausdruck«, sagte er und sah Cutler schläfrig an. »Was meinten Sie, als Sie sagten, es habe mehr nach einem Tier ausgesehen, als nach einem Mann oder einer Frau?«

Cutler schien wirklich aufgeregt. »Vielleicht hätt’ ich das nicht sagen sollen«, sagte er; »aber das Vieh hatte mächtige bucklige Schultern wie ein Schimpanse, und Borsten ragten ihm aus dem Kopf wie einem Schwein – «

Mr. Butler schnitt ihm seine sonderbare Ungeduld in der Mitte ab. »Egal, ob das Haar wie Schweinsborsten war«, sagte er, »war es das einer Frau?«

»Einer Frau!« schrie der Soldat. »Großer Gott, nein!«

»Der letzte Zeuge sagte, ja«, kommentierte der Anwalt mit skrupelloser Raschheit. »Und hatte die Gestalt irgendwelche jener geschwungenen und irgendwie weiblichen Kurven, auf die so beredt angespielt wurde? Nein? Keine weiblichen Kurven? Die Gestalt war also, wenn ich Sie richtig verstehe, eher schwerfällig und eckig als anders?«

»Er kann sich ja vornübergebeugt haben«, sagte Cutler mit heiserer und ziemlich schwacher Stimme.

»Oder auch nicht«, sagte Mr. Butler und setzte sich zum zweiten Mal plötzlich nieder.

Der dritte Zeuge, den Sir Walter Cowdray aufrief, war der kleine katholische Kirchenmann, im Vergleich zu den anderen so klein, daß sein Kopf kaum über den Zeugenstand ragte, so daß es aussah, als werde ein Kind kreuzverhört. Unglücklicherweise hatte sich in Sir Walters Kopf der Gedanke festgesetzt (vor allem wegen einiger Verzwicktheiten in der Religion seiner Familie), daß Father Brown auf der Seite des Gefangenen stehe, weil der Gefangene böswillig und ausländisch und sogar teilweise schwarz war. Deshalb fuhr er Father Brown jedesmal scharf an, wenn jener stolze Kirchenfürst es wagte, irgend etwas erklären zu wollen; und befahl ihm, mit Ja oder Nein zu antworten und die einfachen Tatsachen ohne alle Jesuiterei zu erzählen. Als Father Brown in seiner Einfalt darüber zu berichten begann, wer seiner Meinung nach der Mann in der Passage gewesen sei, erklärte ihm der Staatsanwalt, er wünsche seine Theorien nicht.

»Eine schwarze Form wurde in der Passage gesehen. Und Sie sagen, Sie haben die schwarze Form gesehen. Also gut, welche Form war das?«

Father Brown zwinkerte, als sei er getadelt worden; aber er kannte seit langem die wörtliche Natur des Gehorsams. »Die Form«, sagte er, »war kurz und dick, aber hatte zwei scharfe schwarze Auswüchse, die sich an jeder Seite des Kopfes oder oben hochwölbten, ähnlich wie Hörner, und – «

»Oha! Der Teufel mit Hörnern, zweifellos«, stieß Cowdray hervor und setzte sich in triumphierender Heiterkeit nieder. »Es war der Teufel, der gekommen ist, um Protestanten zu fressen.«

»Nein«, sagte der Priester leidenschaftslos; »ich weiß, wer es war.«

Die im Gerichtssaal Anwesenden waren in ein irrationales aber höchst reales Gefühl irgendeiner Ungeheuerlichkeit geraten. Sie hatten die Gestalt auf der Anklagebank vergessen und dachten nur an die Gestalt in der Passage. Und die Gestalt in der Passage, die von drei fähigen und ehrenwerten Männern beschrieben wurde, welche sie alle gesehen hatten, wurde zu einem sich wandelnden Albtraum: einer nannte sie eine Frau, und der andere ein Tier, und der nächste einen Teufel…

Der Richter sah Father Brown mit stetigen und durchdringenden Augen an. »Sie sind ein außergewöhnlicher Zeuge«, sagte er; »aber irgend etwas an Ihnen überzeugt mich davon, daß Sie sich bemühen, die Wahrheit zu sagen. Alsdann, wer war der Mann, den Sie in der Passage gesehen haben?«

»Er war ich«, sagte Father Brown.

Anwalt Butler sprang in der außerordentlichen Stille auf und sagte sehr ruhig: »Erlaubt mir das Hohe Gericht Kreuzverhör?« Und dann, ohne Pause, schoß er gegen Brown die offenkundig zusammenhanglose Frage ab: »Sie haben von diesem Dolch gehört; Sie wissen, daß die Fachleute behaupten, das Verbrechen sei mit einer kurzen Klinge begangen worden?«

»Eine kurze Klinge«, stimmte Brown zu und nickte feierlich wie eine Eule, »aber ein sehr langer Schaft.«

Noch ehe die Zuhörer sich ganz von der Vorstellung befreien konnten, der Priester habe sich wirklich selbst gesehen, wie er den Mord mit einem kurzen Dolch an einem langen Schaft (was die Sache irgendwie noch schauerlicher machte) beging, beeilte er sich mit einer Erklärung.

»Ich meine, Dolche sind nicht die einzigen Dinge mit kurzen Klingen. Speere haben auch kurze Klingen. Und auch Speere treffen mit der Stahlspitze wie Dolche, wenn es sich um jene Art von nachgemachten Speeren handelt, wie man sie im Theater hat; wie der Speer, mit dem der arme alte Parkinson seine Frau tötete, die gerade nach mir geschickt hatte, um die familiären Schwierigkeiten zu regeln – und ich kam um einen Augenblick zu spät, Gott verzeihe mir! Aber er starb in Reue – er starb geradezu aus Reue. Er konnte nicht ertragen, was er getan hatte.«

Der allgemeine Eindruck im Gerichtssaal war, daß der kleine Priester, der da vor sich hin brabbelte, im Zeugenstand buchstäblich verrückt geworden sei. Aber der Richter sah ihn nach wie vor mit hellen und stetigen Augen voller Interesse an; und der Anwalt der Verteidigung fuhr ungerührt mit seinen Fragen fort.

»Wenn Parkinson es mit jenem Theaterspeer getan hat«, sagte Butler, »dann muß er ihn aus etwa 4 Metern Entfernung geschleudert haben. Wie erklären Sie sich dann die Anzeichen eines Kampfes, zum Beispiel das von der Schulter gezerrte Kleid?« Er hatte begonnen, seinen einfachen Zeugen wie einen Fachmann zu behandeln; aber im Augenblick bemerkte das niemand.

»Das Kleid der armen Dame war zerrissen«, sagte der Zeuge, »weil es sich in einem Rahmen verfangen hatte, der gerade hinter ihr herausglitt. Sie bemühte sich freizukommen, und während sie das tat, kam Parkinson aus dem Zimmer des Angeklagten und schleuderte den Speer.«

»Ein Rahmen?« fragte der Staatsanwalt mit neugieriger Stimme.

»Es war ein Spiegel auf der anderen Seite«, erklärte Father Brown. »Als ich in der Garderobe war, bemerkte ich, daß einige von ihnen wahrscheinlich in die Passage hinausgeschoben werden konnten.«

Danach herrschte ein weiteres ausgedehntes und unnatürliches Schweigen, und dieses Mal war es der Richter, der sprach. »Sie meinen also wirklich, daß als Sie die Passage hinabblickten, der Mann, den Sie sahen, Sie selbst waren – in einem Spiegel?«

»Ja, Euer Ehren; das habe ich versucht zu sagen«, sagte Brown, »aber dann fragte man mich nach der Form; und unsere Hüte haben Ecken wie Hörner, und so habe ich – «

Der Richter lehnte sich nach vorne, seine alten Augen glänzten noch heller, und er sagte mit besonderer Betonung: »Wollen Sie wirklich behaupten, daß als Sir Wilson Seymour jenes wilde Was-auch-immer mit Kurven und Frauenhaar und Männerhosen sah, er in Wirklichkeit Sir Wilson Seymour sah?«

»Ja, Euer Ehren«, sagte Father Brown.

»Und Sie wollen behaupten, daß als Hauptmann Cutler jenen Schimpansen mit buckligen Schultern und Schweineborsten sah, er sich einfach selbst sah?«

»Ja, Euer Ehren.«

Der Richter lehnte sich in seinen Sitz mit einem solchen Behagen zurück, daß man darin Zynismus und Bewunderung kaum auseinanderhalten konnte. »Und können Sie uns auch sagen«, fragte er, »warum Sie Ihre eigene Gestalt im Spiegel erkannten, wo das zwei so bedeutende Persönlichkeiten nicht konnten?«

Father Brown blinzelte noch schmerzlicher als zuvor; dann stammelte er: »Wirklich, Euer Ehren, ich weiß nicht… vielleicht, weil ich nicht so oft hineinschaue.«


Der Fehler der Maschine

Flambeau und sein Freund der Priester saßen bei Sonnenuntergang in den Temple Gardens; und ihre Nachbarschaft oder ein anderer ähnlicher zufälliger Einfluß hatte ihr Gespräch auf Fragen von Gerichtsverfahren gebracht. Vom Problem der Regeln beim Kreuzverhör war ihr Gespräch zur römischen und zur mittelalterlichen Folter geraten, auf das Amt des Untersuchungsrichters in Frankreich und auf das Verhör Dritten Grades in Amerika.

»Ich habe«, sagte Flambeau, »über diese neue psychometrische Methode gelesen, von der man jetzt so viel spricht, vor allem in Amerika. Sie wissen, was ich meine; man legt einem Mann einen Pulsmesser ums Handgelenk und beurteilt, wie sein Herzschlag auf die Aussprache bestimmter Wörter reagiert. Was halten Sie davon?«

»Ich finde das sehr interessant«, erwiderte Father Brown; »das erinnert mich an die interessante Idee des frühen dunklen Mittelalters, daß bei der Berührung durch den Mörder Blut aus der Leiche fließe.«

»Wollen Sie damit wirklich behaupten«, fragte sein Freund, »daß Sie beide Methoden für gleich wertvoll halten?«

»Ich halte sie für gleich wertlos«, erwiderte Brown. »Blut fließt schnell oder langsam in Toten oder Lebenden aus millionenmal mehr Gründen, als wir je wissen können. Blut müßte schon sehr komisch fließen; es müßte schon das Matterhorn hinauffließen, ehe ich das für ein Zeichen nähme, daß ich es zu vergießen hätte.«

»Die Methode«, bemerkte der andere, »wird aber von einigen der bedeutendsten Wissenschaftler Amerikas für gut befunden.«

»Wie sentimental Wissenschaftler doch sind!« rief Father Brown aus. »Und wieviel sentimentaler müssen da amerikanische Wissenschaftler sein! Wer außer einem Yankee käme wohl auf die Idee, irgend etwas mit Herzschlägen zu beweisen? Sie müssen so sentimental sein wie der Mann, der glaubt, eine Frau liebe ihn, weil sie errötet. Dieser Beweis stammt aus dem Blutkreislauf, den der unsterbliche Harvey entdeckt hat; davon abgesehen aber ein reichlich blödsinniger Beweis.«

»Aber sicherlich«, beharrte Flambeau, »könnte es doch ziemlich deutlich auf das eine oder andere hinweisen.«

»Ein Stock, der eindeutig auf etwas hinweist, hat einen großen Nachteil«, antwortete der andere. »Welchen? Nun, das andere Ende des Stockes weist immer in genau die entgegengesetzte Richtung. Alles hängt davon ab, ob man den Stock am richtigen Ende gefaßt hat. Ich habe die Methode einmal vorgeführt bekommen und habe seither nie mehr an sie geglaubt.« Und dann fuhr er fort und erzählte die Geschichte seiner Enttäuschung.


Es hatte sich das rund zwanzig Jahre zuvor abgespielt, als er Kaplan für seine Glaubensbrüder in einem Gefängnis von Chicago war – wo die irische Bevölkerung ihre Fähigkeiten sowohl zum Verbrechen wie zur Reue dermaßen auslebte, daß er reichlich zu tun hatte. Der ranghöchste Beamte nach dem Direktor war ein ehemaliger Detektiv namens Greywood Usher, ein skelettdürrer Yankee-Philosoph der behutsamsten Sprache, der ab und zu seinen starren Gesichtsausdruck gegen eine seltsam um Entschuldigung bittende Grimasse auswechselte. Er mochte Father Brown auf eine leicht bevormundende Weise; und Father Brown mochte ihn, obwohl er seine Theorien von Herzen verabscheute. Seine Theorien waren ungewöhnlich kompliziert und wurden mit ungewöhnlicher Schlichtheit vertreten.

Eines abends hatte er nach dem Priester geschickt, der nach seiner Gewohnheit schweigend an einem mit Papieren überladenen und übersäten Schreibtisch Platz nahm und wartete. Der Beamte suchte aus den Papieren einen Zeitungsausschnitt heraus, den er dem Kleriker reichte, welcher ihn aufmerksam las. Es war ein Ausschnitt aus einem der buntesten Blätter der Regenbogenpresse, und er lautete wie folgt:


»Der fröhlichste Witwer der Gesellschaft ist wieder auf seiner Festessen-mit-Überraschungen-Tour. Alle Mitglieder unserer feinsten Gesellschaft werden sich noch des Kinderwagenparadefestessens erinnern, während dem ›Letzter-Trick‹ Todd in seinem anheimelnden Palast am Pilgrim’s Pond so viele unserer prominenten Debütantinnen noch jünger als ihre Jahre aussehen ließ. Ebenso elegant, aber noch gemischter und in gesellschaftlicher Hinsicht weitherziger war Letzter-Tricks Schau im Vorjahr, der populäre Kannibalenkauschmaus, bei dem das gereichte Konfekt höhnisch den Formen menschlicher Gliedmaßen nachgebildet war und während dem man mehr als einen unserer witzigsten Geistesriesen sich anbieten hören konnte, die Partnerin zu verspeisen. Der Witz, der den diesjährigen Abend befeuern soll, ist noch in Mr. Todds reichlich verschlossenem Geist verborgen, oder in den Juwelenbusen der heitersten Herrscherinnen unserer Stadt verschlossen; doch munkelt man von einer poppigen Parodie auf die einfachen Sitten und Gebräuche am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala. Dies wäre um so effektvoller, als der gastfreie Todd zur Zeit in Lord Falconroy, dem berühmten Weltreisenden, einen reinblütigen Aristokraten frisch aus Englands Eichenhainen beherbergt. Lord Falconroys Reisen begannen, bevor noch sein uralter Feudaltitel wieder auferstand; in seiner Jugend hielt er sich in der Republik auf, und in Gesellschaftskreisen munkelt man über einen heimlichen Hintergrund seiner Rückkehr. Miss Etta Todd ist eine unserer lieblichsten New Yorkerinnen und wird einmal fast 1200 Millionen Dollar erben.«


»Nun«, fragte Usher, »interessiert Sie das?«

»Mir fehlen die Worte«, antwortete Father Brown. »Ich kann im Augenblick an nichts auf der Welt denken, was mich noch weniger interessierte. Und falls der gerechte Zorn der Republik nicht endlich dazu übergeht, Journalisten, die so was schreiben, auf dem elektrischen Stuhl zu braten, sehe ich auch nicht recht, warum Sie das interessieren sollte.«

»Soso!« sagte Mr. Usher trocken und reichte ihm einen anderen Zeitungsausschnitt. »Na schön, interessiert Sie das vielleicht?«

Der Abschnitt war betitelt »Brutaler Mord an Aufseher. Häftling Entflohen«, und lautete:


»Kurz vor Tagesanbruch wurde heute in der Strafanstalt von Sequah in diesem Staat ein Hilfeschrei gehört. Beamte, die zum Ort des Schreis eilten, fanden den Leichnam des Aufsehers, der auf der Nordmauer des Gefängnisses Wache ging, dem steilsten und schwierigsten Fluchtweg, für dessen Bewachung immer ein Mann für ausreichend befunden wurde. Der unglückliche Beamte war von der hohen Mauer herabgeschleudert worden, wobei sein Gehirn zerspellt war, wie mit einer Keule zerschmettert; sein Gewehr fehlte. Weitere Nachforschungen ergaben, daß eine der Zellen leer war; sie war bisher mit einem ziemlich düsteren Raufbold belegt, der sich Oscar Rian nannte. Er saß zwar nur kurzfristig wegen eines verhältnismäßig harmlosen Überfalls ein; doch vermittelte er jedermann den Eindruck, als habe er eine schwarze Vergangenheit und eine gefährliche Zukunft. Als schließlich das Tageslicht die Szene des Mordes voll erhellte, stellte man fest, daß er an die Wand über der Leiche einen unvollständigen Satz geschrieben hatte, offenbar mit einem in Blut getauchten Finger: ›Das war Notwehr, denn er hatte das Gewehr. Ich wollte weder ihm noch sonst wem was tun, bis auf einen. Ich hebe die Kugel für Pilgrim’s Pond auf – O. R.‹ Ein Mann muß über die teuflischsten Tücken oder die rücksichtsloseste und erstaunlichste körperliche Kühnheit verfügen, um eine solche Mauer gegen einen bewaffneten Posten zu erstürmen.«


»Na ja, der Stil ist schon besser«, gab der Priester fröhlich zu, »aber ich sehe immer noch nicht, was ich für Sie tun kann. Ich würde schon eine erbärmliche Figur machen, wenn ich auf meinen kurzen Beinen einem solchen athletischen Verbrecher durch den ganzen Staat nachjagen würde. Ich bezweifle, daß irgend jemand ihn finden kann. Die Strafanstalt von Sequah ist 30 Meilen entfernt; die Landschaft unterwegs ist wild und unzugänglich genug, und die Landschaft dahinter, in die zu fliehen er sicherlich Verstand genug hat, ist das perfekte Niemandsland und verläuft sich in die Prärien. Er kann in jedem Loch und auf jedem Baum hocken.«

»Er hockt in keinem Loch«, sagte der Direktor; »er hockt auf keinem Baum.«

»Wieso, woher wissen Sie das?« fragte Father Brown blinzelnd.

»Würden Sie ihn sprechen wollen?« fragte Usher.

Father Brown riß seine unschuldigen Augen weit auf. »Ist er hier?« rief er. »Wie haben Ihre Leute ihn denn gefaßt?«

»Ich selbst habe ihn gefaßt«, sagte der Amerikaner gedehnt, stand auf und vertrat sich faul die schlaksigen Beine vor dem Feuer. »Ich habe ihn gefaßt mit der Krücke eines Spazierstocks. Sehen Sie mich nicht so erstaunt an. Ich habe das wirklich getan. Wissen Sie, ich unternehme manchmal Spaziergänge auf den Feldwegen außerhalb dieses unglückseligen Ortes; na gut, heute am frühen Abend wanderte ich einen steilen Weg zwischen dunklen Hecken und grauschimmernden gepflügten Feldern hinauf; und der junge Mond übergoß den Weg mit Silber. In seinem Licht sah ich einen Mann über das Feld auf die Straße zu rennen; rennen mit gebeugtem Körper und mit dem Tempo eines guten Mittelstreckenläufers. Er schien sehr erschöpft; aber als er an die dichte schwarze Hecke kam, ging er durch sie durch, als wäre sie aus Spinnweben; oder besser (denn ich hörte die starken Zweige brechen und klacken wie Bajonette), als wäre er aus Stein. In dem Augenblick aber, in dem er im Mondenlicht auftauchte und den Weg querte, habe ich mit meinem Stockgriff seine Beine gefaßt, ihn zum Stolpern gebracht und ihn zu Boden geworfen. Dann habe ich meine Trillerpfeife lang und laut geblasen, und meine Männer rannten herbei und nahmen ihn fest.«

»Es wäre äußerst peinlich gewesen«, bemerkte Brown, »wenn Sie dann festgestellt hätten, daß er ein bekannter Sportler war, der für ein Mittelstreckenrennen trainiert hat.«

»Das war er nicht«, sagte Usher grimmig. »Wir fanden bald heraus, wer er war; aber ich hatte das schon beim ersten Blick auf ihn im Mondenlicht geahnt.«

»Sie nahmen an, es sei der ausgebrochene Sträfling«, stellte der Priester einfach fest, »weil Sie am Morgen in dem Zeitungsausschnitt gelesen hatten, daß ein Sträfling ausgebrochen war.«

»Ich hatte sehr viel bessere Gründe«, erwiderte der Direktor kühl. »Den ersten will ich übergehen, da er zu simpel ist, um besonders betont zu werden – daß nämlich wirkliche Sportler nicht über gepflügte Felder rennen und sich nicht die Augen in Dornenhecken auskratzen. Außerdem rennen sie nicht gebeugt wie ein geprügelter Hund. Für ein einigermaßen geübtes Auge gab es entscheidendere Einzelheiten. Der Mann war in grobe und zerlumpte Sachen gekleidet, aber sie waren noch etwas mehr als nur grob und zerlumpt. Sie paßten ihm so schlecht, daß es schon fast grotesk wirkte; selbst als er vor dem aufgehenden Mond als Umriß auftauchte, ließ ihn der Jackenkragen, in dem er seinen Kopf verbarg, wie einen Buckligen aussehen, und die losen Ärmel waren so lang, daß es aussah, als habe er keine Hände. Mir wurde auf Anhieb klar, daß es ihm irgendwie gelungen war, seine Anstaltskleidung mit Kleidern eines Komplizen zu tauschen, die ihm nicht paßten. Zum zweiten wehte ein ziemlich kräftiger Wind, gegen den er anrannte, so daß ich sein wehendes Haar hätte sehen müssen, wäre es nicht kurz geschnitten gewesen. Dann erinnerte ich mich daran, daß jenseits der gepflügten Felder, über die er rannte, Pilgrim’s Pond liegt, für wo (Sie erinnern sich) der Sträfling seine Kugel aufgehoben hat; und also ließ ich meinen Spazierstock handeln.«

»Ein brillantes Beispiel rascher Deduktion«, sagte Father Brown; »aber hatte er ein Gewehr bei sich?«

Als Usher in seiner Wanderung abrupt innehielt, fügte der Priester entschuldigend hinzu: »Ich habe gehört, daß eine Kugel ohne Gewehr nicht einmal halb so nützlich ist.«

»Er hatte kein Gewehr«, sagte der andere ernst; »aber das war sicherlich die Folge irgendeines sehr natürlichen Mißgeschicks oder einer Änderung seiner Pläne. Vermutlich hat ihn der gleiche Gedanke, der ihn zum Kleiderwechsel brachte, auch veranlaßt, das Gewehr wegzuwerfen; er begann die Nachricht zu bedauern, die er im Blute seines Opfers zurückgelassen hatte.«

»Das klingt wahrscheinlich genug«, antwortete der Priester.

»Und es lohnt sich auch nicht, weiter zu spekulieren«, sagte Usher und wandte sich anderen Papieren zu, »denn inzwischen wissen wir, daß es unser Mann ist.«

Sein kirchlicher Freund fragte leise: »Aber woher?« Und Greywood Usher warf die Zeitungen hin und nahm die beiden Presseausschnitte erneut zur Hand.

»Na schön, da Sie so hartnäckig sind«, sagte er, »wollen wir noch mal am Anfang anfangen. Sie werden bemerkt haben, daß diese beiden Ausschnitte nur eines gemeinsam haben, nämlich die Erwähnung von Pilgrim’s Pond, dem Besitz, wie Sie wissen, des Millionärs Ireton Todd. Sie wissen auch, daß er ein bemerkenswerter Charakter ist; einer von denen, die als Stufen – «

»Unsere Leichen auf dem Weg nach oben benutzen«, stimmte sein Gefährte bei. »Ja, das weiß ich. Erdöl, nehme ich an.«

»Wie dem auch sei«, sagte Usher, »Letzter-Trick Todd spielt eine große Rolle in dieser eigenartigen Angelegenheit.«

Er streckte sich erneut vor dem Feuer und fuhr fort, in seiner weiträumigen, ausführlich erklärenden Weise zu erzählen.

»Ich will damit anfangen, daß wir es oberflächlich betrachtet überhaupt nicht mit einem Rätsel zu tun haben. Es ist weder rätselhaft noch auch nur sonderbar, daß ein Knastbruder mit seinem Gewehr nach Pilgrim’s Pond zieht. Unsere Leute hier sind nicht so wie die Engländer, die einem Mann seinen Reichtum verzeihen, solange er sein Geld an Pflegeheime oder für Pferdewetten wegwirft. Letzter-Trick Todd ist durch seine eigenen beachtlichen Fähigkeiten groß geworden; und es gibt keinen Zweifel, daß viele von jenen, denen er seine Fähigkeiten gezeigt hat, ihm liebend gerne die ihren mit einem Schießgewehr zeigen würden. Todd könnte leicht von irgendeinem umgelegt werden, dessen Namen er noch nie gehört hat; irgendein Arbeiter, den er rausgeschmissen hat, oder ein Büromensch in einem Unternehmen, das er ruiniert hat. Letzter-Trick Todd ist ein Mann mit beachtlichem Köpfchen und eine bedeutende öffentliche Figur; aber in diesem Land sind die Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer reichlich gespannt.

So sieht die ganze Sache aus, wenn man voraussetzt, daß dieser Rian auf dem Weg nach Pilgrim’s Pond war, um Todd zu töten. So sah es für mich aus, bis eine andere kleine Entdeckung den Detektiv in mir aufweckte. Nachdem ich meinen Gefangenen sicher hatte, schnappte ich mir wieder meinen Spazierstock und wanderte die zwei oder drei Kehren der Landstraße hinab, die mich zu einem der Seiteneingänge von Todds Besitzung brachte, dem Tor am nächsten jenem Tümpel oder See, nach dem der Platz benannt ist. Das war vor rund zwei Stunden, also etwa gegen 7 Uhr; das Mondlicht war nun heller, und ich konnte seine langen weißen Bahnen auf dem Weiher und seinen grauen, glitschigen, sumpfigen Ufern liegen sehen, auf denen unsere Vorväter angeblich Hexen laufen ließen, bis sie versanken. Ich habe die Geschichte nicht mehr genau im Kopf; aber Sie kennen die Stelle, die ich meine; sie liegt nördlich von Todds Haus zur Wildnis hin, und da stehen zwei eigenartig verkrümmte Bäume von so scheußlichem Aussehen, daß sie eher an riesige Pilze als an anständiges Laubwerk erinnern. Als ich so dastand und auf diesen dunstigen Tümpel starrte, kam es mir vor, als sähe ich die vage Gestalt eines Mannes, der sich vom Haus aus auf ihn zu bewegte, aber es war alles zu undeutlich und zu weit weg, als daß man sich auch nur der Tatsache, geschweige denn der Einzelheiten sicher sein konnte. Außerdem wurde meine Aufmerksamkeit von etwas sehr viel Näherem gefesselt. Ich kauerte mich hinter dem Zaun nieder, der nicht mehr als zweihundert Meter vom einen Flügel des Herrenhauses weg verläuft und glücklicherweise an einigen Stellen zerbrochen ist, wie gemacht für den Einsatz vorsichtiger Augen. Eine Tür hatte sich in der dunklen Masse des linken Flügels geöffnet, und eine Gestalt erschien schwarz vor dem beleuchteten Inneren – eine vermummte Gestalt, die sich vorwärts beugte und offenbar in die Nacht starrte. Sie schloß die Türe hinter sich und ich sah, daß sie eine Laterne trug, die einen trüben Lichtfleck auf Kleidung und Gestalt ihres Trägers warf. Es schien die Gestalt einer Frau zu sein, die in einen zerlumpten Mantel gehüllt und offensichtlich verkleidet war, um keine Aufmerksamkeit zu erregen; es war da etwas sehr Sonderbares um die Lumpen und das Huschen dieser Person, die da geradewegs aus jenen goldverkleideten Räumen kam. Sie schlug vorsichtig den gewundenen Gartenweg ein, der sie auf ein halbes Hundert Meter an mich heranbrachte; dann stand sie für einen Augenblick auf jener Rasenbank aufrecht, die den schlammigen See überblickt, und sie hielt ihre flammende Laterne über den Kopf und schwang sie entschlossen dreimal hin und her, wie um ein Zeichen zu geben. Als sie sie zum zweiten Male schwang, fiel für einen Augenblick ein Lichtstrahl auf ihr Gesicht, ein Gesicht, das ich kenne. Sie war unnatürlich blaß, und ihr Kopf war in den geliehenen Plebejerschal eingehüllt, aber ich bin sicher, daß es Etta Todd war, die Tochter des Millionärs.

Sie ging auf ihren Spuren in der gleichen Heimlichkeit zurück, und wiederum schloß sich die Tür hinter ihr. Ich wollte schon über den Zaun klettern und ihr folgen, als mir klar wurde, wie würdelos das Jagdfieber des Detektivs war, das mich in dieses Abenteuer gelockt hatte; und daß ich in meiner amtlichen Eigenschaft bereits alle Karten in der Hand hielt. Ich wollte mich gerade abwenden, als ein neues Geräusch in die Nacht brach. Ein Fenster wurde in einem der oberen Stockwerke aufgerissen, aber just um die Ecke des Hauses, so daß ich es nicht sehen konnte; und ich hörte eine Stimme von schrecklicher Deutlichkeit über den dunklen Garten hin schreien, wo denn Lord Falconroy sei, er befinde sich in keinem Zimmer des Hauses. Die Stimme konnte man nicht mißverkennen. Ich habe sie bei mancher Wahlversammlung und bei mancher Aufsichtsratssitzung gehört; das war Ireton Todd selbst. Einige der anderen schienen an die tieferliegenden Fenster oder auf die Stufen getreten zu sein und riefen zu ihm hinauf, daß Falconroy vor gut einer Stunde hinab zum Pilgrim’s Pond geschlendert sei und daß man ihn seither nicht mehr finden könne. Dann schrie Todd ›Verfluchter Mord!‹ und knallte das Fenster zu; und ich konnte hören, wie er drinnen die Treppen hinabstürmte. Da besann ich mich auf meine früheren und weiseren Ansichten und räumte mich aus dem Weg der allgemeinen Suche, die jetzt folgen mußte; und war hier nicht später als um 8 Uhr zurück.

Nun bitte ich Sie, sich an jenen kleinen Bericht aus der Gesellschaft zu erinnern, der Ihnen so entsetzlich uninteressant erschien. Wenn der Sträfling den Schuß nicht für Todd aufgehoben hatte, was er offensichtlich nicht tat, dann ist es am wahrscheinlichsten, daß er ihn für Falconroy aufgehoben hat; und es sieht so aus, als habe er ihn inzwischen abgeliefert. Es gibt keinen geeigneteren Platz, um einen Mann zu erschießen, als die geologisch eigenartigen Ufer jenes Teiches, wo ein hineingestürzter Leichnam durch dicke Schlammschichten in praktisch unbekannte Tiefen absackt. Wollen wir also annehmen, daß unser Freund mit dem kurzgeschorenen Haar gekommen ist, um Lord Falconroy und nicht Todd zu töten. Nun habe ich Sie schon darauf hingewiesen, daß es viele Gründe gibt, weshalb Menschen in Amerika Todd töten wollen. Aber es gibt keinen Grund, warum irgendwer in Amerika einen gerade erst angekommenen englischen Lord töten wollen sollte, mit Ausnahme jenes einen Grundes, der in der Regenbogenpresse genannt wird – weil der Lord der Tochter des Millionärs den Hof macht. Unser kurzgeschorener Freund muß also trotz seiner so schlecht sitzenden Kleidung ein hoffnungsvoller Liebhaber sein.

Ich weiß, daß diese Vorstellung Ihnen widersprüchlich und sogar komisch vorkommt; aber das liegt daran, daß Sie Engländer sind. Für Sie klingt das so, als erzählte jemand, daß die Tochter des Erzbischofs von Canterbury in der St.-George-Kathedrale am Hanover Square einen Straßenkehrer auf Urlaub heiraten werde. Damit verschaffen Sie aber der Aufstiegskraft und Sehnsucht nach Höherem unserer bemerkenswerteren Bürger keine Gerechtigkeit. Sie sehen einen gutaussehenden grauhaarigen Mann im Abendanzug mit einer gewissen Ausstrahlung, Sie wissen, daß er eine Säule des Staates ist, und Sie bilden sich ein, daß er einen Vater gehabt habe. Sie irren sich. Sie machen sich nicht klar, daß er noch vor relativ wenigen Jahren ein Landarbeiter oder (wahrscheinlicher) ein Gefängnisinsasse gewesen sein mag. Sie räumen da unserer nationalen Schwungkraft und unserem Auftrieb keinen Platz ein. Manche unserer einflußreichsten Bürger sind nicht nur erst in jüngster Zeit aufgestiegen, sondern sie stiegen auch erst in relativ späten Jahren auf. Todds Tochter war schon 18 Jahre alt, als ihr Vater seinen ersten großen Schnitt machte; also ist es wirklich nicht unmöglich, daß sie noch einen Verehrer aus den niederen Schichten hat; oder daß sie sogar selbst an ihm hängt, was sie meiner Ansicht nach tut, wenn man nach der Geschichte mit der Laterne urteilt. Wenn das aber so ist, dann kann die Hand, die die Laterne hielt, durchaus verbunden sein mit der Hand, die das Gewehr hielt. Dieser Fall, Sir, wird noch einigen Staub aufwirbeln.«

»Aha«, sagte der Priester geduldig, »und was haben Sie dann getan?«

»Ich nehme an, das wird Sie schockieren«, erwiderte Greywood Usher, »da ich weiß, daß Sie dem Fortschritt der Wissenschaft auf diesem Gebiet nicht zustimmen. Ich habe hier eine ganze Menge Befugnisse und nehme mir vielleicht noch mehr, als mir gegeben sind; und da habe ich mir gedacht, es sei dies eine ausgezeichnete Möglichkeit, die Psychometrische Maschine zu erproben, von der ich Ihnen erzählt habe. Nun kann diese Maschine meiner Meinung nach nicht lügen.«

»Keine Maschine kann lügen«, sagte Father Brown; »noch kann sie die Wahrheit sagen.«

»In diesem Fall hat sie, wie ich Ihnen zeigen werde«, fuhr Usher überzeugt fort. »Ich setzte den Mann mit den schlecht sitzenden Kleidern in einen bequemen Stuhl und schrieb einfach Wörter an die Tafel; und die Maschine schrieb einfach die Veränderungen seines Pulsschlags auf; und ich beobachtete einfach sein Verhalten. Der Trick besteht darin, irgendein mit dem vermuteten Verbrechen in Zusammenhang stehendes Wort in eine Liste von Wörtern zu bringen, die mit ganz anderen Dingen in Zusammenhang stehen, in der es aber ganz natürlich erscheint. Also schrieb ich ›Reiher‹ und dann ›Adler‹ und dann ›Eule‹, aber als ich ›Falke‹ schrieb, wurde er aufs höchste erregt; und als ich begann, an den ›Falken‹ ein ›r‹ zu hängen, zersprang die Maschine fast. Wer sonst aber hat in dieser unserer Republik irgendeinen Grund, beim Namen eines gerade erst angekommenen Engländers wie Falconroy dermaßen zusammenzufahren außer dem Mann, der ihn erschossen hat? Ist das nicht ein besserer Beweis als das Geschwätz eines Haufens von Zeugen – der Beweis einer zuverlässigen Maschine?«

»Sie vergessen immer wieder«, bemerkte sein Gefährte, »daß die zuverlässige Maschine stets von einer unzuverlässigen Maschine bedient werden muß.«

»Wieso, was meinen Sie damit?« fragte der Detektiv.

»Ich meine den Menschen«, sagte Father Brown, »die unzuverlässigste Maschine, von der ich weiß. Ich will nicht unhöflich sein; und ich glaube nicht, daß Sie ›Mensch‹ als eine beleidigende oder unzureichende Beschreibung Ihrer selbst ansehen. Sie sagten, daß Sie sein Verhalten beobachteten; aber woher wissen Sie, daß Sie richtig beobachtet haben? Sie sagten, die Wörter müßten einander in natürlicher Weise folgen; aber woher wissen Sie, daß Sie sie auf natürliche Weise einander folgen ließen? Woher wissen Sie, wenn wir schon dabei sind, daß nicht er Ihr Verhalten beobachtete? Wer könnte beweisen, daß nicht Sie aufs höchste erregt waren? An Ihren Puls war keine Maschine angeschlossen.«

»Ich sage Ihnen«, schrie der Amerikaner in höchster Erregung, »daß ich so kühl wie eine Gurke war.«

»Verbrecher können auch kühl wie Gurken sein«, sagte Brown lächelnd. »Und fast so kühl wie Sie.«

»Na schön, aber dieser war es nicht«, sagte Usher und warf seine Papiere durcheinander. »Ach was, Sie gehen mir auf die Nerven!«

»Tut mir leid«, sagte der andere. »Ich habe nur auf etwas hingewiesen, was mir eine vernünftige Möglichkeit zu sein scheint. Wenn Sie aus seinem Verhalten lesen können, wann das Wort kommt, das ihn hängen könnte, warum sollte er nicht aus Ihrem Verhalten lesen können, wann das Wort, das ihn hängen könnte, kommt? Ich würde nach mehr als nur nach Wörtern fragen, ehe ich jemanden aufhängte.«

Usher schlug auf den Tisch und erhob sich in einer Art zornigen Triumphs.

»Und das«, rief er, »ist genau das, was ich Ihnen geben werde. Ich habe nämlich die Maschine zunächst eingesetzt, um dann die Sache auf andere Weise zu überprüfen, und die Maschine, Sir, hat recht.«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann weniger aufgeregt fort. »Ich möchte diesbezüglich betonen, daß ich bis auf das wissenschaftliche Experiment bisher sehr wenig in Händen hatte. Im Grunde gab es tatsächlich nichts gegen den Mann. Seine Kleider sitzen schlecht, wie ich schon gesagt habe, aber sie sind immerhin doch von besserer Qualität als die der Unterklasse, der er offensichtlich angehört. Außerdem war der Mann unter all dem Schmutz vom Sturmlauf über gepflügte Felder und vom Durchbruch durch staubige Hecken verhältnismäßig sauber. Das konnte natürlich daher kommen, daß er gerade erst aus dem Gefängnis entsprungen war; mich aber erinnerte es mehr an die verzweifelte Sauberkeit der verhältnismäßig ehrbaren Armen. Auch sein Verhalten war, wie ich gestehen muß, durchaus dem ihren entsprechend. Er war so schweigsam und würdevoll, wie sie es sind; er scheint einen großen, aber tief verborgenen Kummer zu haben, wie sie. Er bekundet völlige Unkenntnis des Verbrechens und dieser ganzen Angelegenheit; und er zeigt lediglich eine finstere Ungeduld, mit der er auf irgend etwas Sinnvolles wartet, das ihn aus dieser sinnlosen Klemme befreien kann. Er hat mich mehr als einmal gefragt, ob er nicht einen Rechtsanwalt anrufen könne, der ihm vor längerer Zeit einmal in einer geschäftlichen Schwierigkeit geholfen hat, und benimmt sich in jeder Weise so, wie man das von einem Unschuldigen erwartet. Es gab nichts auf der Welt gegen ihn außer jenem kleinen Zeiger am Meßgerät, der auf den Wechsel seines Pulsschlags hinwies.

Und dann, Sir, wurde die Maschine auf die Probe gestellt; und die Maschine hatte recht. Als ich mit ihm aus dem Verhörraum in die Vorhalle kam, in der alle möglichen Leute auf ihr Verhör warteten, war er meiner Meinung nach mehr oder minder entschlossen, die Dinge durch so etwas wie ein Geständnis zu klären. Er drehte sich zu mir um und sagte mit leiser Stimme: ›Ich kann das nicht mehr länger ertragen. Wenn Sie schon alles über mich wissen müssen –‹

In diesem Augenblick sprang eines der armen Weiber, die da auf der langen Bank saßen, auf und schrie laut und wies mit dem Finger auf ihn. Ich habe in meinem ganzen Leben nie etwas so teuflisch Eindeutiges gehört. Ihr magerer Finger zielte auf ihn wie ein Blasrohr. Und obwohl das Wort eigentlich nur ein Heulen war, war doch jede einzelne Silbe so klar wie ein einzelner Glockenschlag.

›Drugger Davis!‹ schrie sie. ›Sie haben Drugger Davis geschnappt!‹

Unter den armseligen Weibern, meistens Diebinnen und Straßenmädchen, wandten sich ihm zwanzig Gesichter zu, die ihn voller Freude und Haß anstarrten. Und wenn ich die Worte auch nie zuvor gehört hätte, so wäre ich doch durch das tiefe Erschrecken auf seinem Gesicht sicher gewesen, daß dieser sogenannte Oscar Rian seinen wirklichen Namen gehört hatte. Aber es wird Sie überraschen zu hören, daß ich so unwissend nun auch wieder nicht bin. Drugger Davis war einer der fürchterlichsten und verkommensten Verbrecher, der je unsere Polizei zum Narren gehalten hat. Sicher ist, daß er lange vor dem letzten an dem Aufseher schon mehr Morde begangen hat. Aber er konnte niemals wirklich überführt werden, und zwar eigenartigerweise, weil er die Morde auf die gleiche Weise beging wie seine milderen – oder gemeineren – Verbrechen, derer er oft genug überführt wurde. Er war ein gutaussehender Schuft, der auch nach guter Erziehung aussah, wie in gewissem Maße heute noch; und meistens gab er sich mit Barmädchen oder Verkäuferinnen ab und erleichterte sie um ihr Geld. Oftmals ging er aber auch ein gutes Stück weiter; und dann fand man sie, betäubt mit Zigaretten oder Schokolade, und ihr gesamter Besitz war verschwunden. Dann geschah es, daß das Mädchen tot aufgefunden wurde; aber Absicht konnte nicht recht nachgewiesen werden, und, was noch praktischer war, der Verbrecher war nicht mehr aufzufinden. Ich hörte dann Gerüchte, daß er irgendwo in der entgegengesetzten Rolle aufgetreten sei, als Geldverleiher statt als Geldnehmer; immer noch aber an solche armen Witwen, die er persönlich mächtig beeindrucken konnte, doch mit dem gleichen üblen Ende für sie. Nun ja, das also ist Ihr unschuldiger Mann, und das ist sein unschuldiges Register. Inzwischen haben ihn vier Verbrecher und drei Aufseher identifiziert und die Geschichte bestätigt. Und was haben Sie jetzt über meine arme kleine Maschine zu sagen? Hat nicht die Maschine ihn dahin gebracht? Oder ziehen Sie vor zu sagen, daß jene Frau und ich ihn dahin gebracht haben?«

»Wohin Sie ihn gebracht haben«, erwiderte Father Brown, indem er aufstand und sich faul reckte. »Sie haben ihn vor dem elektrischen Stuhl in Sicherheit gebracht. Ich glaube nicht, daß man Drugger Davis auf Grund jener alten vagen Giftgeschichte töten kann; und was den Sträfling angeht, der den Aufseher getötet hat, so ist ja wohl offenkundig, daß Sie den nicht erwischt haben. An diesem Verbrechen ist Mr. Davis auf jeden Fall schuldlos.«

»Was soll das heißen?« fragte der andere. »Warum sollte er an diesem Verbrechen schuldlos sein?«

»Gott sei uns gnädig!« rief der kleine Mann in einem seiner seltenen Gefühlsausbrüche. »Eben weil er der anderen Verbrechen schuldig ist! Ich begreife nicht, woraus Ihr Leute gemacht seid. Ihr scheint zu glauben, daß alle Sünden in einem einzigen Sack stecken. Ihr redet, als ob der Geizhals vom Montag immer am Dienstag der große Verschwender wäre. Sie erzählen mir, daß dieser Mann, den Sie hier haben, Wochen und Monate damit verbrachte, bedürftigen Frauen kleine Geldsummen abzuschwindeln; daß er bestenfalls ein Betäubungsmittel und schlimmstenfalls Gift verwendete; daß er später als die billigste Art von Geldverleiher auftauchte und wieder ärmste Leute auf die gleiche geduldige und friedfertige Weise betrogen hat. Soll’s sein – wir wollen um des Argumentes willen zugeben, daß er all das getan hat. Wenn das so ist, dann werde ich Ihnen sagen, was er nicht getan hat. Er hat keine befestigte und von einem Mann mit geladenem Gewehr bewachte Mauer gestürmt. Er hat nicht mit eigener Hand an die Mauer geschrieben, um mitzuteilen, daß er das getan habe. Er ist nicht stehengeblieben, um festzuhalten, daß seine Rechtfertigung Selbstverteidigung sei. Er hat nicht erklärt, daß er mit dem armen Aufseher keinen Streit hatte. Er hat nicht das Haus des reichen Mannes genannt, zu dem er mit dem Gewehr unterwegs sei. Er hat seine eigenen Initialen nicht mit dem Blut eines anderen Mannes geschrieben. Bei allen Heiligen! Können Sie denn nicht sehen, daß der ganze Charakter im Guten wie im Bösen ganz unterschiedlich ist? Sie scheinen nicht so zu sein, wie ich ein bißchen bin. Man sollte meinen, daß Sie niemals irgendein Laster gehabt hätten.«

Der verblüffte Amerikaner hatte bereits den Mund geöffnet, um zu protestieren, als an der Tür seines Privat- und Amtszimmers in einer so unfeierlichen Weise gehämmert und gerüttelt wurde, wie er das absolut nicht gewohnt war.

Die Tür flog auf. Im Augenblick zuvor war Greywood Usher zu der Überzeugung gekommen, daß Father Brown möglicherweise verrückt geworden sei. Im Augenblick danach begann er zu glauben, er selbst sei verrückt. Da stürmte und stürzte in sein Zimmer ein Mann in den dreckigsten Lumpen, einen speckigen zerknautschten Hut schief auf dem Kopf, eine schäbige grüne Klappe vom einen seiner Augen hochgeschoben, die beide wie die eines Tigers glommen. Der Rest seines Gesichtes war fast nicht auszumachen, da es von einem verfilzten Bart bedeckt war, durch den die Nase sich kaum durchdrängen konnte, und außerdem war es von einem schmuddeligen roten Schal oder Taschentuch verhüllt. Mr. Usher war stolz darauf, daß er die meisten der übelsten Burschen im ganzen Staat kannte, aber er war überzeugt, daß er noch nie einen solchen Pavian dermaßen als Vogelscheuche verkleidet gesehen hatte. Vor allem aber hatte er in all seiner friedlichen wissenschaftlichen Existenz niemals erlebt, daß so ein Mann ihn als erster angeredet hätte.

»Hören Sie zu, mein alter Usher«, schrie das Wesen mit dem roten Taschentuch, »mir reicht’s jetzt langsam. Versuchen Sie bloß Ihre Versteckspielchen nicht mit mir; mich hält man nicht zum Narren. Lassen Sie meine Gäste in Ruhe, und ich werde nachsichtiger sein gegen diese einfallsreiche Maschinerie. Behalten Sie ihn aber auch nur noch einen Augenblick hier, dann werden Sie sich ganz schön schäbig vorkommen. Schätze, ich bin nicht ein Mann mit keinem Einfluß.«

Der eminente Usher betrachtete das brüllende Ungeheuer mit einem Staunen, das alle anderen Gefühle verschlungen hatte. Der Schock für seine Augen hatte seine Ohren fast nutzlos gemacht. Schließlich läutete er mit gewalttätiger Hand eine Glocke. Während die Glocke noch laut erdröhnte, erklang die Stimme von Father Brown sanft, aber deutlich.

»Ich möchte eine Vermutung aussprechen«, sagte er, »aber sie ist ein bißchen verwirrend. Ich kenne diesen Herrn nicht – aber – aber ich glaube, daß ich ihn kenne. Sie aber, Sie kennen ihn – Sie kennen ihn sogar gut –, aber Sie kennen ihn nicht – natürlich. Klingt paradox, ich weiß.«

»Ich glaube, der Kosmos hat einen Sprung«, sagte Usher und ließ sich lang ausgestreckt in seinen Amtsstuhl fallen.

»Hören Sie mal her«, geiferte der Fremde und schlug auf den Tisch, aber er sprach mit einer Stimme, die um so rätselhafter war, als sie verhältnismäßig milde und vernünftig, wenngleich immer noch dröhnend klang. »Ich will Sie da nicht drin haben. Ich will – «

»Wer zum Teufel sind Sie?« brüllte Usher und setzte sich plötzlich aufrecht hin.

»Ich glaube, der Name des Herrn ist Todd«, sagte der Priester.

Dann nahm er den regenbogenfarbenen Zeitungsausschnitt.

»Ich fürchte, Sie lesen die Gesellschaftsblätter nicht gründlich«, sagte er und begann mit eintöniger Stimme vorzulesen: »›… oder in den Juwelenbusen der heitersten Herrscherinnen unserer Stadt verschlossen; doch munkelt man von einer poppigen Parodie auf die einfachen Sitten und Gebräuche am anderen Ende der gesellschaftlichen Skala‹. Heute abend hat es ein großes Slum-Fest am Pilgrim’s Pond gegeben; und ein Mann, einer der Gäste, ist verschwunden. Mr. Ireton Todd ist ein guter Gastgeber und hat seine Spuren bis hierher verfolgt, ohne sich auch nur die Zeit zu nehmen, sein Maskenkostüm abzulegen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine den Mann in der komischen, schlecht sitzenden Kleidung, den Sie über das gepflügte Feld haben rennen sehen. Wäre es nicht besser, Sie gingen zu ihm und überprüften ihn? Er wird langsam ungeduldig sein, zu seinem Champagner zurückzukommen, von dem er in solcher Eile davonrannte, als der Sträfling mit dem Gewehr in Sicht kam.«

»Meinen Sie allen Ernstes – «, begann der Beamte.

»Hören Sie, Mr. Usher«, sagte Father Brown ruhig, »Sie sagten, die Maschine könne keinen Fehler machen, und in einem gewissen Sinne machte sie auch keinen. Aber die andere Maschine machte einen; die Maschine, die sie bediente. Sie nahmen an, daß der Mann in Lumpen beim Namen Lord Falconroy zusammenfuhr, weil er der Mörder von Lord Falconroy sei. Er fuhr bei dem Namen Lord Falconroy zusammen, weil er Lord Falconroy ist.«

»Warum zur Hölle hat er das denn nicht gesagt?« fragte der starr blickende Usher.

»Er war der Ansicht, daß weder seine Lage noch seine vorhergehende Panik sehr aristokratisch waren«, erwiderte der Priester, »und deshalb versuchte er zunächst, seinen Namen zu verschweigen. Aber er wollte ihn Ihnen gerade nennen, als« – und Father Brown blickte auf seine Schuhe nieder –, »als eine Frau einen anderen Namen für ihn fand.«

»Aber Sie können doch nicht so verrückt sein zu behaupten«, sagte Greywood Usher sehr bleich, »daß Lord Falconroy Drugger Davis war.«

Der Priester sah ihn sehr ernsthaft an, aber mit einem verwirrenden und unentzifferbaren Gesichtsausdruck.

»Dazu sage ich überhaupt nichts«, sagte er. »Den Rest überlasse ich Ihnen. Ihre Regenbogenzeitung sagt, daß sein Titel erst kürzlich wieder für ihn erneuert worden sei; aber solche Blätter sind reichlich unzuverlässig. Sie behauptet, daß er in seiner Jugend in den Staaten war; aber die ganze Geschichte klingt reichlich sonderbar. Davis und Falconroy sind beides ziemliche Feiglinge, aber das sind viele andere Männer auch. Ich würde auf Grund meiner Ansichten von der Sache nicht einmal einen Hund aufhängen. Aber ich glaube«, fuhr er sanft und nachdenklich fort, »ich glaube, Ihr Amerikaner seid zu bescheiden. Ich glaube, Ihr idealisiert die englische Aristokratie – sogar, indem Ihr annehmt, daß sie so aristokratisch ist. Sie sehen einen gutaussehenden Engländer im Abendanzug; Sie wissen, daß er im House of Lords sitzt; und Sie bilden sich ein, daß er einen Vater gehabt habe. Sie räumen da unserer nationalen Schwungkraft und unserem Auftrieb keinen Platz ein. Manche unserer einflußreichsten Adligen sind nicht nur erst in jüngster Zeit aufgestiegen, sondern – «

»Ach, hören Sie doch auf!« rief Greywood Usher und wrang eine magere Hand ungeduldig wider einen Schatten der Ironie im Gesicht des anderen.

»Sprechen Sie doch nicht weiter mit diesem Wahnsinnigen!« rief Todd brutal. »Bringen Sie mich zu meinem Freund.«

Am nächsten Morgen erschien Father Brown wieder mit dem gleichen sittsamen Gesichtsausdruck und brachte ein weiteres Stück Regenbogenpresse mit.

»Ich befürchte, daß Sie die Gesellschaftspresse ziemlich vernachlässigen«, sagte er, »aber dieser Ausschnitt dürfte Sie doch interessieren.«

Usher las die Schlagzeile »Letzter-Tricks Streunende Nachtschwärmer: Erheiternder Zwischenfall nahe Pilgrim’s Pond«. Der Bericht darunter lautete:


»Ein komischer Zwischenfall spielte sich gestern abend vor Wilkinsons Garage ab. Ein Streifenpolizist wurde von Straßenbengeln auf einen Mann in Gefängniskluft aufmerksam gemacht, der sich mit bemerkenswerter Gelassenheit in den Fahrersitz eines hochtourigen hübschen Panhard schwang; ihn begleitete ein Mädchen mit zerlumptem Schal. Auf Einmischung der Polizei hin warf die junge Frau ihren Schal zurück, und alle erkannten Millionär Todds Tochter, die gerade vom Slum-Maskenfest am Pond kam, wo sich die ausgesuchtesten Gäste in ähnlicher Kleidung befanden. Sie und der Herr, der sich eine Gefängnisuniform angezogen hatte, brachen zu der üblichen Lustpartie auf.«


Unter dem regenbogenfarbenen Ausschnitt fand Mr. Usher einen Ausschnitt aus einer späteren Ausgabe mit der Schlagzeile »Verblüffende Flucht von Millionärstochter mit Sträfling. Sie hatte Lumpenball arrangiert. Nun in Sicherheit in – «

Greywood Usher hob den Blick, aber Father Brown war bereits gegangen.

Der Kopf Caesars

Irgendwo in Brompton oder Kensington gibt es eine Straße mit hohen Häusern, prächtig, aber meist leer, die wie eine Anlage von Grabdenkmälern aussieht. Sogar die Stufen, die zu den dunklen Portalen emporführen, erscheinen so steil wie die Seiten einer Pyramide; man zögert, an die Tür zu pochen, aus Angst, es möchte eine Mumie öffnen. Aber eine noch niederdrückendere Eigenart der grauen Häuserfassaden ist ihre unabsehbare Länge und ihre abwechslungslose Kontinuität. Den Pilgrim, der sie hinabwandert, überkommt die Vorstellung, er werde niemals an eine Unterbrechung oder eine Ecke kommen; und doch gibt es eine Ausnahme – eine zwar nur sehr kleine, aber vom Pilgrim fast mit einem Jubelschrei begrüßt. Es gibt da zwischen zweien der hohen Gebäude eine Art Stallung, ein bloßer Schlitz wie ein Türspalt im Vergleich zur Straße, doch aber gerade groß genug, daß dort eine winzige Bier- oder Eßkneipe in der Ecke Platz findet, wie sie die Reichen ihren Stallknechten noch eben zugestehen. Da ist etwas Fröhliches gerade in ihrer Kleinheit, und etwas Freies und Märchenhaftes gerade in ihrer Anspruchslosigkeit. Zu Füßen jener grauen Steingiganten sieht sie wie ein beleuchtetes Zwergenhaus aus.

Wer nun an einem bestimmten, selbst schon fast märchenhaften Herbstabend hier vorbeigekommen wäre, hätte eine Hand sehen können, wie sie die rote Halbgardine beiseite schob, die (zusammen mit einigen großen weißen Buchstaben) das Innere halb vor der Straße verbarg, und ein Gesicht, wie es einem unschuldigen Kobold nicht unähnlich herausschaute. Es war in der Tat das Gesicht jemandes mit dem harmlos menschlichen Namen Brown, vormals Priester in Cobhole/Essex, der nun in London arbeitete. Sein Freund Flambeau, ein halbamtlicher Detektiv, saß ihm gegenüber und schloß gerade seine Notizen über einen Fall ab, den er in der Nachbarschaft aufgeklärt hatte. Sie saßen an einem kleinen Tisch nahe dem Fenster, als der Priester den Vorhang zurückzog und hinausschaute. Er wartete, bis ein Fremder in der Straße am Fenster vorübergegangen war, ehe er den Vorhang wieder fallen ließ. Dann rollten seine runden Augen zu den großen weißen Buchstaben über seinem Kopf hoch, und wanderten dann hinüber zum Nachbartisch, an dem nur ein Bauarbeiter bei Bier und Käse saß, und ein junges Mädchen mit rotem Haar und einem Glas Milch. Dann (als er sah, daß sein Freund das Notizbuch wegsteckte) sagte er milde:

»Wenn Sie 10 Minuten Zeit hätten, möchte ich, daß Sie dem Mann mit der falschen Nase folgen.«

Flambeau blickte überrascht auf; aber auch das Mädchen mit dem roten Haar blickte auf, jedoch von Stärkerem als nur Erstaunen bewegt. Sie war einfach, ja fast nachlässig mit einem hellbraunen leinenen Hängekleid bekleidet; aber sie war eine Dame, und zwar, wie ein zweiter Blick zeigte, eine eher unnötig hochmütige. »Der Mann mit der falschen Nase!« wiederholte Flambeau. »Wer ist das?«

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Father Brown. »Ich möchte, daß Sie das herausfinden; ich bitte Sie um diesen Gefallen. Er ist da hinabgegangen« – und er wies mit seinem Daumen in einer seiner unbestimmten Gesten über die Schulter – »und kann noch keine drei Straßenlaternen weit gekommen sein. Ich möchte nur seine Richtung wissen.«

Flambeau starrte seinen Freund einige Zeit lang mit einer Mischung aus Bestürzung und Belustigung an; dann erhob er sich vom Tisch, quetschte seine riesige Gestalt durch die kleine Tür der Zwergenkneipe, und verschwand im Dämmerlicht.

Father Brown nahm ein kleines Buch aus der Tasche und begann, gelassen zu lesen; er verriet durch nichts, ob er sich der Tatsache bewußt war, daß die rothaarige Dame ihren Tisch verlassen und sich ihm gegenüber niedergesetzt hatte. Schließlich lehnte sie sich vor und sagte mit leiser, kräftiger Stimme: »Warum haben Sie das gesagt? Woher wissen Sie, daß sie falsch ist?«

Er hob seine ziemlich schweren Augenlider, die in beträchtlicher Verwirrung flatterten. Dann schweifte sein zweifelhafter Blick wieder hinauf zu den weißen Buchstaben an der Glasscheibe der Kneipe. Der Blick der jungen Frau folgte dem seinen und blieb dort ebenfalls haften, wenngleich in völligem Unverständnis.

»Nein«, sagte Father Brown, indem er ihre Gedanken beantwortete. »Das bedeutet nicht ›Sela‹ wie das Ding in den Psalmen; ich habe das eben auch so gelesen, als ich vor mich hin träumte; es bedeutet ›Ales‹.«

»Und?« fragte die entgeistert blickende junge Dame. »Was spielt denn das für eine Rolle?«

Sein nachdenklicher Blick schweifte über des Mädchens leichten Leinenärmel, der am Handgelenk mit einer sehr schmalen kunstreichen Spitzenborte abgesetzt war, gerade genug, um ihn vom Arbeitskleid einer gewöhnlichen Frau zu unterscheiden und ihn mehr wie das Arbeitskleid einer Kunststudentin wirken zu lassen. Darin schien er reiche Nahrung für seine Gedanken zu finden; aber seine Antwort kam sehr langsam und zögerlich. »Nun ja, mein Fräulein«, sagte er, »von außen sieht dieses Lokal – es ist selbstverständlich ein höchst anständiges Lokal – aber Damen wie Sie denken – denken im allgemeinen nicht so. Sie betreten ein solches Lokal niemals freiwillig, abgesehen von – «

»Und?« wiederholte sie.

»Abgesehen von ein paar Unglücklichen, die aber nicht hereinkommen, um Milch zu trinken.«

»Sie sind ein sehr sonderbarer Mensch«, sagte die junge Dame. »Warum tun Sie das alles?«

»Nicht, um Ihnen dadurch Kummer zu bereiten«, sagte er sehr sanft. »Nur um mich mit genügend Kenntnissen auszurüsten, um Ihnen helfen zu können für den Fall, daß Sie aus freien Stücken um meine Hilfe bitten.«

»Aber warum sollte ich denn Hilfe brauchen?«

Er setzte seinen träumerischen Monolog fort. »Sie können nicht hereingekommen sein, um Schützlinge zu treffen, arme Leute oder so, sonst wären Sie weiter in den Aufenthaltsraum gegangen… und Sie können nicht hereingekommen sein, weil Sie sich schlecht fühlen, sonst hätten Sie mit der Wirtin gesprochen, die offensichtlich ehrbar ist… und außerdem sehen Sie nicht krank aus in diesem Sinne, sondern nur unglücklich… Diese Straße ist die einzige echt lange Gasse, die keine Kurven aufweist; und die Häuser auf beiden Seiten sind geschlossen… Ich kann mir nur vorstellen, daß Sie jemanden kommen sahen, dem Sie nicht zu begegnen wünschten; und da entdeckten Sie dieses Lokal als einzigen Zufluchtsort in dieser Wüstenei aus Stein… Ich glaube nicht, daß ich die Befugnisse eines Fremden überschritten habe, als ich einen Blick auf den einzigen Mann warf, der kurz danach vorbeikam… Und da ich meine, daß er wie etwas Falsches aussah… und Sie wie etwas Richtiges aussehen… hielt ich mich bereit, Ihnen zu helfen, falls er Sie belästigen sollte; das ist alles. Was meinen Freund angeht, so wird er bald zurück sein; und er wird sicherlich nichts ausfindig machen, indem er eine Straße wie diese hinabstürmt… Damit habe ich auch nicht gerechnet.«

»Aber warum haben Sie ihn denn dann losgeschickt?« rief sie und lehnte sich mit noch intensiverer Neugier vor. Sie hatte das stolze ungestüme Gesicht einer Rothaarigen, und eine römische Nase wie Marie Antoinette.

Er sah sie zum ersten Mal unmittelbar an und sagte: »Weil ich hoffte, Sie würden mich ansprechen.«

Sie sah ihn eine Weile mit erhitztem Gesicht an, in dem der rote Schatten eines Zorns hing; dann aber brach trotz aller Ängste ihr Humor aus ihren Augen und ihren Mundwinkeln, und sie antwortete fast grimmig: »Nun gut, wenn Sie so scharf auf meine Unterhaltung sind, dann beantworten Sie mir vielleicht meine Frage.« Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Ich hatte die Ehre, Sie zu fragen, wieso Sie glaubten, daß die Nase des Mannes falsch war.«

»Wachs wird bei solchem Wetter immer ein bißchen fleckig«, antwortete Father Brown ganz einfach.

»Aber das ist doch so eine krumme Nase«, widersprach das rothaarige Mädchen.

Der Priester lächelte seinerseits. »Ich sage ja auch nicht, daß man eine solche Nase aus reiner Fopperei trägt«, gab er zu. »Dieser Mann trägt sie, glaube ich, weil seine wirkliche viel edler geformt ist.«

»Aber warum?« fragte sie beharrlich.

»Wie heißt es doch in dem Kinderlied?« bemerkte Brown zerstreut. »War einst ein krummer Mann, ging einen krummen Weg… Dieser Mann, stelle ich mir vor, geht eine sehr krumme Straße – indem er seiner Nase nachgeht.«

»Was hat er denn getan?« fragte sie ziemlich unsicher.

»Ich will mich auf keinen Fall in Ihr Vertrauen drängen«, sagte Father Brown sehr ruhig. »Aber ich glaube, daß Sie mir darüber mehr erzählen könnten, als ich Ihnen.«

Das Mädchen sprang auf und stand ganz ruhig da, aber mit geballten Händen, so wie jemand, der gleich fortgeht; dann lösten sich ihre Hände langsam, und sie setzte sich wieder hin. »Sie sind ein noch größeres Geheimnis als die anderen«, sagte sie verzweifelt, »aber ich habe das Gefühl, daß in Ihrem Geheimnis ein Herz stecken könnte.«

»Was wir alle am meisten fürchten«, sagte der Priester mit leiser Stimme, »ist ein Irrgarten ohne Mittelpunkt. Darum ist der Atheismus nur ein Alptraum.«

»Ich werde Ihnen alles erzählen«, sagte das rothaarige Mädchen trotzig, »außer warum ich es Ihnen erzähle; denn das weiß ich nicht.«

Sie zupfte an der gestopften Tischdecke herum und fuhr fort: »Sie sehen aus, als wüßten Sie, was Snobismus nicht ist und was es ist; und wenn ich sage, daß meine Familie eine gute alte Familie ist, dann werden Sie verstehen, daß das ein wesentlicher Teil der Geschichte ist; tatsächlich besteht meine größte Gefahr in den vereinsamten Vorstellungen meines Bruders über die Abkehr vom Alltagsleben, über ›noblesse oblige‹ und dergleichen. Ich heiße Christabel Carstairs; und mein Vater war jener Oberst Carstairs, von dem Sie vielleicht schon gehört haben und der die berühmte Carstairs-Sammlung römischer Münzen aufgebaut hat. Ich könnte Ihnen meinen Vater niemals beschreiben; das Zutreffendste wäre noch, daß er selbst sehr wie eine römische Münze war. Er war genauso schön und echt und wertvoll und metallisch und veraltet. Er war stolzer auf seine Sammlung als auf sein Wappen – und das sagt ja wohl alles. Sein außerordentlicher Charakter äußerte sich am deutlichsten in seinem Testament. Er hatte zwei Söhne und eine Tochter. Er hatte Streit mit dem einen Sohn, meinem Bruder Giles, dem er ein kleines Einkommen aussetzte und den er damit nach Australien schickte. Dann verfaßte er sein Testament, durch das er die Carstairs-Sammlung mit einem noch kleineren Einkommen meinem Bruder Arthur vermachte. Er sah das als eine Belohnung an, als die höchste Ehre, die er zu vergeben hatte, in Anerkennung von Arthurs Loyalität und Rechtschaffenheit und jener Ehrungen, die er in Mathematik und Wirtschaftswissenschaften bereits in Cambridge errungen hatte. Mir hinterließ er praktisch sein ganzes, ziemlich großes Vermögen; und ich bin sicher, daß er das verachtungsvoll meinte.

Nun könnten Sie sagen, daß Arthur sich darüber mit Recht hätte beklagen können; aber Arthur ist in allem erneut mein Vater. Zwar hatte er in seiner Jugend einige Auseinandersetzungen mit meinem Vater gehabt, doch kaum hatte er die Sammlung übernommen, als er zu einem heidnischen, seinem Tempel geweihten Priester wurde. Er vermischte diese römischen Halbpfennige auf die gleiche steife, götzendienerische Weise mit der Familienehre der Carstairs wie sein Vater vor ihm. Er benahm sich, als müsse römisches Geld von allen römischen Tugenden gehütet werden. Er gönnte sich keine Vergnügungen; er gab nichts für sich selbst aus; er lebte für die Sammlung. Oftmals machte er sich nicht einmal die Mühe, sich zu seinen einfachen Mahlzeiten umzuziehen; sondern er wirtschaftete in einem alten braunen Morgenmantel zwischen seinen verschnürten braunen Päckchen herum (die sonst niemand auch nur anrühren durfte). Mit der Kordel und der Quaste und seinem blassen, schmalen, verfeinerten Gesicht sah er aus wie ein alter asketischer Mönch. Ab und zu allerdings erschien er gekleidet wie ein entschieden modebewußter Gentleman; das aber nur dann, wenn er sich zu Londoner Versteigerungen oder Läden begab, um der Carstairs-Sammlung Neues hinzuzufügen.

Wenn Sie jemals irgendwelche jungen Leute gekannt haben, werden Sie nicht schockiert sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich bei all diesem nachgerade in einen ziemlich unerfreulichen Geisteszustand geriet; jenen Geisteszustand, in dem man zu sagen beginnt, daß einem die alten Römer reichlich egal sind. Ich bin nicht so wie mein Bruder Arthur; ich will mich mit Vergnüglichem vergnügen. Ich habe eine ganze Menge Romantik und Unsinn von da mitbekommen, wo ich auch mein rotes Haar herhabe, von der anderen Seite der Familie. Der arme Giles war genauso; und ich glaube, daß diese Münzenatmosphäre als Entschuldigung für ihn dienen kann; obwohl er wirklich Übles getan hat und fast ins Gefängnis gekommen ist. Aber er hat sich auch nicht schlechter benommen als ich; wie Sie gleich hören werden.

Denn ich komme jetzt zum törichten Teil der Geschichte. Ein so kluger Mann wie Sie kann sicherlich die Art von Vorgang erraten, die sich ereignen mußte, um für eine widerspenstige Siebzehnjährige die Monotonie einer solchen Position zu erleichtern. Aber mich haben schrecklichere Dinge so verwirrt, daß ich meine eigenen Gefühle kaum mehr lesen kann und nicht weiß, ob ich sie jetzt als einen Flirt verachte oder als gebrochenes Herz trage. Wir lebten damals in einem kleinen Seebad in Südwales. Ein paar Häuser weiter lebte ein Seekapitän im Ruhestand, der einen Sohn etwa 5 Jahre älter als ich hatte, mit dem Giles befreundet gewesen war, ehe er in die Kolonien ging. Sein Name spielt zwar für meine Geschichte keine Rolle; aber ich sage Ihnen, daß er Philip Hawker hieß, denn ich erzähle Ihnen alles. Wir zogen zusammen auf Garnelenfang und sagten und dachten, daß wir einander liebten; wenigstens sagte er es entschieden, und ich dachte es entschieden. Wenn ich Ihnen nun sage, daß er einen bronzenen Lockenkopf hatte und eine Art Falkengesicht, von der See ebenfalls bronzen, dann versichere ich Ihnen, daß es nicht seinetwegen geschieht, sondern wegen der Geschichte; denn das war der Ursprung eines sehr sonderbaren Zwischenfalls.

Eines Sommernachmittags, als ich versprochen hatte, mit Philip am Strand auf Garnelenfang zu gehen, wartete ich ziemlich ungeduldig im vorderen Salon und beobachtete Arthur, wie er sich mit einigen Päckchen Münzen beschäftigte, die er gerade erworben hatte, und sie langsam, jeweils eine oder zwei zugleich, in sein düsteres Arbeitszimmer und Museum schaffte, das sich hinten im Haus befand. Sobald ich die schwere Tür sich endlich hinter ihm schließen hörte, stürzte ich zu meinem Garnelennetz und der Schottenmütze und wollte gerade aus dem Haus schlüpfen, als ich sah, daß mein Bruder eine Münze zurückgelassen hatte, die da schimmernd auf der langen Bank am Fenster lag. Es war eine Bronzemünze, und diese Farbe, zusammen mit der exakten Krümmung der römischen Nase und irgend etwas im Schwung des langen sehnigen Nackens, machte aus dem Kopf Caesars auf der Münze das fast vollkommene Porträt von Philip Hawker. Dann erinnerte ich mich plötzlich daran, daß Giles einst Philip von einer Münze erzählt hatte, die ihm so ähnlich war, und daß Philip sich wünschte, sie zu besitzen. Vielleicht können Sie sich die wilden törichten Gedanken vorstellen, die in meinem Kopf herumwirbelten; ich fühlte mich, als hätte mich die gute Fee beschenkt. Mir schien es so, daß wenn ich nur mit ihr fortlaufen und sie Philip geben könnte wie eine Art wilden Traurings, das ein ewiger Bund zwischen uns wäre; tausend solche Dinge fühlte ich gleichzeitig. Und dann gähnte plötzlich unter mir wie der Höllenschlund die grausige furchtbare Erkenntnis dessen, was ich da tat; und vor allem anderen der unerträgliche Gedanke, als faßte ich glühendes Eisen an, was Arthur darüber denken würde. Eine Carstairs eine Diebin; und eine Diebin am Carstairs-Schatz! Ich glaube, mein Bruder hätte mich dafür wie eine Hexe brennen sehen können. Dann aber stachelte gerade dieser Gedanke an eine solch fanatische Grausamkeit meinen alten Haß auf seine verstaubte Antiquitätenpedanterie ebenso an wie meine Sehnsucht nach Jugend und Freiheit, die mich vom Meer her riefen. Draußen war strahlender Sonnenschein, und ein Wind ging; und der gelbe Kopf eines Besenkrauts oder Stechginsters im Garten klopfte an die Fensterscheibe. Ich dachte daran, wie all das lebendige und wachsende Gold mir von allen Heiden der Welt aus zurief – und dann, wie das tote stumpfe Gold meines Bruders und die Bronze und das Messing staubiger und staubiger wurden, während das Leben verging. Natur und Carstairs-Sammlung waren endlich aneinander geraten.

Die Natur ist älter als die Carstairs-Sammlung. Als ich durch die Straßen zum Meer hinabrannte, die Münze in der fest geballten Faust, spürte ich das ganze Römische Reich auf meinen Schultern, und zusätzlich den ganzen Carstairschen Stammbaum. Nicht nur der alte silberne Wappenlöwe brüllte mir ins Ohr, sondern auch alle Adler der Caesaren schienen mich flatternd und kreischend zu verfolgen. Und doch stieg mein Herz höher und höher wie der Drache eines Kindes, bis ich über die lockeren trockenen Sandhügel zu den ebenen, nassen Sänden kam, wo Philip schon knöcheltief im flachen, glitzernden Wasser stand, einige hundert Meter seewärts. Es gab einen gewaltigen roten Sonnenuntergang; und die weite Fläche flachen Wassers, das für über eine halbe Meile kaum über den Knöchel stieg, war wie ein See aus rubinenen Flammen. Erst nachdem ich mir die Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatte und dahin gewatet war, wo er stand, ziemlich weit vom trockenen Land entfernt, drehte ich mich um und schaute umher. Wir waren in dem Ring aus Seewasser und nassem Sand allein; und da gab ich ihm den Kopf Caesars.

In diesem gleichen Augenblick widerfuhr mir ein Schock der Einbildungskraft: daß ein Mann weit weg auf den Sandhügeln mich intensiv anstarre. Mir muß unmittelbar danach bewußt geworden sein, daß das nur ein Zucken unvernünftiger Nerven war; denn der Mann war lediglich ein dunkler Punkt in der Entfernung, und ich konnte kaum mehr sehen, als daß er ganz still stand und starrte, den Kopf ein bißchen auf die Seite geneigt. Es gab keinerlei logischen irdischen Beweis, daß er überhaupt zu mir herübersah; er hätte genauso gut nach einem Schiff oder nach dem Sonnenuntergang oder nach den Seemöwen oder auch nach irgendeinem der Menschen schauen können, die hier und da auf dem Ufer zwischen uns herumliefen. Jedoch: Woraus auch immer mein Erschrecken kam, es war prophetisch; denn während ich noch starrte, begann er, über die weiten nassen Sände energisch gerade auf uns zu auszuschreiten. Als er näher und näher kam, sah ich, daß er dunkel und bärtig war und daß eine dunkle Brille seine Augen kennzeichnete. Er war ärmlich, aber anständig in Schwarz gekleidet, von dem alten schwarzen Zylinder auf seinem Kopf bis zu den soliden schwarzen Stiefeln an seinen Füßen. Ohne Rücksicht auf sie ging er ohne das geringste Zögern in die See hinein und kam mit der Stetigkeit einer Kugel auf mich zu.

Ich kann Ihnen das Gefühl des Ungeheuerlichen und Übernatürlichen nicht beschreiben, das mich überkam, als er so schweigend die Schranken zwischen Land und Wasser durchbrach. Es war, als ob er direkt über eine Klippe hinaus geschritten wäre und immer noch stetig mitten durch die Luft marschiere. Es war, als ob ein Haus in die Luft geflogen oder der Kopf eines Mannes abgefallen wäre. Zwar machte er sich nur die Stiefel naß; aber er schien ein Dämon zu sein, der sich über ein Naturgesetz hinwegsetzte. Wenn er auch nur eine Sekunde am Rande des Wassers gezögert hätte, so wäre es nichts gewesen. Aber so erschien es, als schaue er so ausschließlich mich an, daß er den Ozean nicht bemerkte. Philip war einige Meter entfernt mit dem Rücken zu mir und beugte sich über sein Netz. Der Fremde kam heran, bis er zwei Meter vor mir stand, während das Wasser ihn bis halbwegs zum Knie umspülte. Dann sagte er mit einer klar modulierten, aber doch gezierten Aussprache: ›Würde es Sie inkommodieren, andernorts eine Münze mit einer etwas anderen Beschriftung zu kontribuieren?‹

Mit einer Ausnahme gab es eigentlich nichts eindeutig Abnormales an ihm. Seine gefärbten Gläser waren nicht wirklich undurchsichtig, sondern von einer ziemlich gewöhnlichen blauen Sorte, und auch die Augen hinter ihnen waren nicht etwa unstet, sondern sahen mich stetig an. Sein dunkler Bart war nicht wirklich lang oder ungepflegt; aber er sah besonders haarig aus, denn der Bart setzte sehr hoch in seinem Gesicht an, unmittelbar unter den Backenknochen. Seine Hautfarbe war nicht etwa fahl oder gar aschfahl, sondern im Gegenteil recht klar und jugendlich; aber gerade das gab ihm ein rosig-weißes, wächsernes Aussehen, das irgendwie (ich weiß nicht warum) den Schrecken nur noch steigerte. Die einzige feststellbare Eigentümlichkeit war, daß seine Nase, im übrigen von gutem Schnitt, an der Spitze leicht zur Seite verdreht war; als ob man, als sie noch weich war, mit einem Spielzeughammer auf die eine Seite geschlagen hätte. Man könnte es kaum eine Mißgestaltung nennen; und doch kann ich Ihnen gar nicht sagen, welch ein lebender Albtraum das für mich war. Als er da in dem sonnenfleckigen Wasser stand, erschien er mir wie ein höllisches Meeresungeheuer, das gerade brüllend aus einer See von Blut aufgetaucht ist. Ich weiß gar nicht, warum eine Verlegung der Nase meine Einbildungskraft so stark beeinflussen konnte. Ich glaube, weil es so aussah, als könne er seine Nase wie einen Finger bewegen. Und als hätte er sie in diesem Augenblick gerade bewegt.

›Jegliche Art kleiner Hülfe‹, fuhr er in demselben sonderbaren, geckenhaften Akzent fort, ›die der Notwendigkeit abhülfe, daß ich mich mit der Familie in Verbindung setzen müßte.‹

Da wurde mir plötzlich klar, daß ich wegen des Diebstahls der Bronzemünze erpreßt wurde; und all meine lediglich abergläubischen Ängste und Zweifel wurden von einer einzigen, alles überwältigenden praktischen Frage verschlungen. Wie war er dahintergekommen? Ich hatte das Ding jählings und spontan gestohlen; ich war mit Sicherheit allein gewesen, denn ich hatte immer dafür gesorgt, unbeobachtet zu sein, wenn ich hinausschlüpfte, um Philip auf diese Weise zu treffen. Allem Anschein nach war mir niemand durch die Straßen gefolgt; und wenn doch, hätte niemand die Münze in meiner geballten Hand ohne Röntgenstrahlen sehen können. Der Mann, der auf den Sanddünen stand, hätte ebensowenig sehen können, was ich Philip gab, wie er einer Fliege das Auge hätte ausschießen können wie der Mann im Märchen.

›Philip‹, rief ich hilflos, ›frag doch diesen Mann, was er von mir will.‹

Als Philip schließlich den Kopf von seiner Netzflickerei hob, sah er ziemlich rot aus, als ob er schmolle oder sich schäme; aber das kann auch nur von der Anstrengung des Bückens gekommen sein und von der roten Abendsonne; vielleicht habe ich auch nur eine weitere der Einbildungen gehabt, die um mich her zu tanzen schienen. Er sagte lediglich schroff zu dem Mann: ›Hauen Sie hier ab.‹ Er winkte mir, ihm zu folgen, und begann der Küste zuzuwaten, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Er stieg auf einen steinernen Wellenbrecher, der sich vom Fuß der Sandhügel her erstreckte, und wanderte auf ihm heimwärts, vielleicht in der Überzeugung, unser höllischer Plagegeist würde es schwieriger finden, auf so rauhen, von Tang grünen und schlüpfrigen Steinen zu laufen als wir, die wir jung waren und daran gewöhnt. Aber mein Verfolger schritt ebenso geziert dahin wie er sprach; und immer noch folgte er mir, und wählte sich seinen Weg, und wählte sich seine Phrasen. Ich hörte seine delikate widerwärtige Stimme mich über meine Schulter ständig ansprechen, bis schließlich, als wir die Sandhügel überquert hatten, Philips Geduld (die bei den meisten anderen Anlässen keineswegs so sichtbar wurde) riß. Er wandte sich plötzlich um und sagte: ›Gehen Sie. Ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen.‹ Und als der Mann zögerte und den Mund aufmachte, hieb Philip ihm einen solchen Schlag darauf, daß er von der obersten Spitze des höchsten Sandhügels bis ganz hinunter stürzte. Ich sah ihn da unten sandbedeckt herauskriechen.

Dieser Hieb tröstete mich irgendwie, obwohl er meine Gefährdung durchaus noch vergrößern mochte; aber Philip zeigte nichts von seinem üblichen Stolz auf den eigenen Mut. Obwohl so liebevoll wie immer, schien er doch niedergeschlagen zu sein; und bevor ich ihn noch zu irgend etwas gründlicher fragen konnte, nahm er vor seiner Tür von mir Abschied mit zwei Bemerkungen, die mir eigenartig vorkamen. Er sagte, daß ich in Anbetracht aller Umstände die Münze eigentlich wieder in die Sammlung zurückgeben müßte, daß er sie aber ›für den Augenblick‹ selbst verwahren werde. Und dann fügte er ebenso plötzlich wie zusammenhanglos hinzu: ›Weißt du übrigens, daß Giles aus Australien zurück ist?‹«

Die Tür der Taverne öffnete sich, und der riesige Schatten des Forschers Flambeau fiel über den Tisch. Father Brown stellte ihn der Dame in seiner eigenen nachlässig einnehmenden Sprechweise vor und erwähnte seine Kenntnisse und seine Einfühlungsgabe in solchen Fällen; und fast ohne es zu bemerken, wiederholte bald darauf das Mädchen ihre Geschichte vor zwei Zuhörern. Flambeau jedoch, während er sich verneigte und dann niedersetzte, überreichte dem Priester einen schmalen Streifen Papiers. Brown nahm ihn mit einiger Überraschung entgegen und las auf ihm: »Droschke nach Wagga Wagga, Mafeking Avenue 379, Putney.« Das Mädchen indes fuhr mit ihrer Geschichte fort.

»Ich ging die steile Straße zu meinem eigenen Haus hinauf, während sich mir der Kopf drehte; er hatte auch noch nicht begonnen, sich zu klären, als ich unsere Hausschwelle erreichte, auf der ich eine Milchflasche fand – und den Mann mit der verdrehten Nase. Die Milchflasche erzählte mir, daß die Bediensteten alle ausgegangen waren; denn natürlich würde Arthur, während er in seinem braunen Morgenmantel in seinem braunen Arbeitszimmer herumfuhrwerkte, die Haustürklingel weder hören noch beachten. Also gab es niemanden im Haus, der mir hätte helfen können außer meinem Bruder, und dessen Hilfe mußte mein Ruin sein. In meiner Verzweiflung drückte ich dem entsetzlichen Wesen zwei Schilling in die Hand und sagte ihm, er solle sich in ein paar Tagen wieder melden, wenn ich mir die Sache überlegt hätte. Er zog mißmutig ab, aber gutwilliger als ich erwartet hatte – vielleicht hatte ihn der Sturz doch etwas erschüttert –, und ich beobachtete mit schrecklich rachsüchtiger Freude, wie sich der Sandfleck auf seinem Rücken die Straße hinab entfernte. Er verschwand etwa sechs Häuser weiter um eine Ecke.

Danach ging ich hinein, machte mir etwas Tee und versuchte, mir die Sache zu überlegen. Ich saß am Fenster des Salons und blickte hinaus in den Garten, der im letzten vollen Abendlicht erglühte. Doch ich war zu zerstreut und versunken, als daß ich den Rasen und die Blumentöpfe und Blumenbeete hätte mit Aufmerksamkeit betrachten können. Und deshalb traf mich der Schock um so schärfer, als ich ihn erst so spät bemerkte.

Der Mann oder das Ungeheuer, das ich fortgeschickt hatte, stand ganz ruhig in der Mitte des Gartens. Ach, wir alle haben viel über fahlgesichtige Phantome im Dunkeln gelesen; aber das hier war noch viel schlimmer, als irgend etwas von jener Art je sein könnte. Denn obwohl er einen langen Abendschatten warf, stand er doch noch im warmen Sonnenschein. Und weil sein Gesicht nicht fahl war, sondern jenen wächsern rosigen Ton zeigte, den Frisierpuppen haben. Er stand ganz ruhig da, sein Gesicht mir zugewandt; und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schrecklich er da zwischen den Tulpen und all den hohen, prangenden, fast nach Gewächshaus aussehenden Blumen wirkte. Es sah aus, als hätten wir eine Wachspuppe statt einer Statue in der Mitte des Gartens aufgestellt.

Doch im gleichen Augenblick, da er sah, wie ich mich am Fenster bewegte, wandte er sich um und rannte durch die hintere Pforte aus dem Garten, die offenstand und durch die er zweifellos hereingekommen war. Diese neuerliche Verzagtheit auf seiner Seite war so völlig verschieden von der unverschämten Selbstsicherheit, mit der er in die See geschritten war, daß ich mich undeutlich getröstet fühlte. Ich stellte mir vielleicht vor, daß er eine Begegnung mit Arthur mehr fürchtete, als ich wußte. Jedenfalls setzte ich mich schließlich hin und hatte ein ruhiges Abendessen allein (denn es war gegen die Spielregeln, Arthur zu stören, wenn er das Museum neu ordnete), und meine Gedanken flohen, ein bißchen erleichtert, zu Philip und verloren sich, vermute ich. Jedenfalls blickte ich abwesend, aber eher vergnügt als sonst etwas auf ein anderes vorhangloses Fenster, das inzwischen durch das endgültige Niedersinken der Nacht schwarz wie Schiefer war. Mir schien es, als wäre da etwas wie eine Schnecke draußen an der Fensterscheibe. Aber als ich aufmerksamer hinblickte, sah es eher wie der gegen die Scheibe gepreßte Daumen eines Mannes aus; jedenfalls hatte es das geriffelte Aussehen eines Daumens. Meine Angst und mein Mut waren gemeinsam wieder erwacht, und so stürzte ich denn ans Fenster und fuhr mit einem erstickten Schrei zurück, den jeder andere Mann außer Arthur gehört haben würde.

Denn es war weder ein Daumen noch eine Schnecke.

Es war die Spitze einer krummen Nase, die gegen das Glas gepreßt wurde; sie war weiß von dem Druck; und das starrende Gesicht und die Augen hinter ihr waren zunächst unsichtbar und wurden dann grau wie ein Geist. Irgendwie schlug ich die Fensterläden zu, rannte hinauf in mein Zimmer und schloß mich ein. Aber während ich vorbeirannte, hätte ich schwören können, daß ich ein zweites schwarzes Fenster sah mit etwas daran wie eine Schnecke.

Vielleicht wäre es doch am besten, zu Arthur zu gehen. Wenn das Ding das Haus umschlich wie eine Katze, mochte es vielleicht noch üblere Absichten als Erpressung haben. Mein Bruder könnte mich zwar aus dem Haus werfen und auf ewig verfluchen, aber er war ein Gentleman, und er würde mich auf der Stelle verteidigen. Nach zehn Minuten strengen Nachdenkens ging ich hinab, klopfte an die Tür und trat ein: um den letzten und gräßlichsten Anblick zu sehen.

Der Stuhl meines Bruders war leer, und er war offensichtlich nicht da. Aber der Mann mit der krummen Nase saß da und wartete auf seine Rückkehr, den Hut noch immer unverfroren auf dem Kopf, und er las tatsächlich ein Buch meines Bruders unter meines Bruders Lampe. Sein Gesicht sah gefaßt und beschäftigt aus, aber seine Nasenspitze schien immer noch der beweglichste Teil seines Gesichtes zu sein, so, als habe sie sich gerade wieder von links nach rechts bewegt, wie der Rüssel eines Elefanten. Ich hatte ihn schon ekelhaft genug empfunden, als er mich verfolgte und beobachtete; aber ich denke, daß sein Nichtbemerken meiner Anwesenheit noch schrecklicher war.

Ich glaube, daß ich laut und lang geschrieen habe; aber das ist unwichtig. Wichtig ist, was ich als nächstes tat: Ich gab ihm alles Geld, das ich hatte, einschließlich eines guten Teils in Papieren, die zwar mir gehörten, die ich aber eigentlich nicht antasten durfte. Schließlich zog er ab und kleidete sein hassenswertes taktvolles Bedauern in lange Wörter; und ich setzte mich nieder und fühlte mich in jeder Beziehung ruiniert. Und doch wurde ich noch in der gleichen Nacht durch einen puren Zufall gerettet. Arthur war plötzlich nach London gefahren, wie er das aus geschäftlichen Gründen so oft tat; und er kam spät zurück, aber strahlend, denn es war ihm fast gelungen, sich einen Schatz zu sichern, der selbst der Familiensammlung zusätzlichen Glanz verleihen könnte. Er war so glänzender Laune, daß ich mich fast ermutigt fühlte, ihm die Entwendung jener minderen Gemme zu bekennen; doch walzte er alle anderen Themen mit seinen überwältigenden Projekten nieder. Da das Geschäft aber immer noch jeden Augenblick schiefgehen konnte, bestand er darauf, daß ich sofort packe und mit ihm in eine kleine Wohnung ziehe, die er bereits in Fulham gemietet hatte, um dem Raritätenladen nahe zu sein. So entfloh ich ohne eigenes Zutun fast bei Nacht und Nebel meinem Feind – aber auch Philip… Mein Bruder besuchte oft das South-Kensington-Museum, und ich zahlte, um mir eine Art zweiten Lebens zu schaffen, für einige Kurse an der Kunstschule. Von dort kam ich heute abend zurück, als ich jenes unsägliche Scheusal in Person die lange gerade Straße herabkommen sah, und das übrige war so, wie dieser Herr bereits gesagt hat.

Ich habe nur noch eines zu sagen. Ich verdiene nicht, daß man mir hilft; und ich stelle meine Bestrafung nicht in Frage oder bejammere sie; sie ist gerecht, es mußte so kommen. Aber ich frage mich immer noch mit zerplatzendem Hirn, wie es dazu kommen konnte. Bestraft mich ein Wunder? Oder wie könnte irgend jemand außer Philip und mir wissen, daß ich ihm inmitten des Meeres eine winzige Münze gegeben habe?«

»Das ist ein ungewöhnliches Problem«, gab Flambeau zu.

»Nicht so ungewöhnlich wie die Antwort«, bemerkte Father Brown reichlich düster. »Miss Carstairs, werden Sie zu Hause sein, wenn wir Sie in Ihrer Wohnung in Fulham in anderthalb Stunden aufsuchen?«

Das Mädchen sah ihn an, erhob sich dann und zog sich die Handschuhe an. »Ja«, sagte sie; »ich werde dort sein«; und verließ im gleichen Augenblick das Lokal.

An jenem Abend sprachen der Priester und der Detektiv immer noch über die Angelegenheit, als sie sich dem Fulham-Haus näherten, einem Mietshaus, das selbst als zeitweiliger Wohnsitz für die Carstairs-Familie von sonderbarer Armseligkeit war.

»Natürlich würde der oberflächliche Betrachter«, sagte Flambeau, »zuerst an diesen australischen Bruder denken, der zuvor in Schwierigkeiten war, jetzt so plötzlich zurückgekommen ist und genau der Mann ist, um finstere Verbündete zu haben. Aber ich kann mir absolut keine Möglichkeit ausdenken, wie er in diese Geschichte paßt, es sei denn – «

»Ja?« fragte sein Begleiter geduldig.

Flambeau senkte seine Stimme. »Es sei denn, der Liebhaber des Mädchens gehört auch dazu und ist der wirklich schwarze Schuft. Der australische Kerl wußte, daß Hawker sich die Münze wünschte. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er hätte wissen können, daß Hawker sie erhalten hat, es sei denn, daß Hawker es ihm oder einem Komplizen übers Ufer hin zusignalisiert hätte.«

»Das stimmt«, sagte der Priester anerkennend.

»Haben Sie übrigens auch bemerkt«, fuhr Flambeau eifrig fort, »daß Hawker zuhört, wie seine Liebste beleidigt wird, aber erst zuschlägt, als sie sich in den sanften Sanddünen befinden, wo er in einem Scheinkampf Sieger bleiben kann. Wenn er zwischen Felsen und Meer zugeschlagen hätte, wäre sein Verbündeter vielleicht verletzt worden.«

»Stimmt auch«, sagte Father Brown nickend.

»Und nun noch einmal von vorne. Alles spielt sich zwischen wenigen Personen ab, aber mindestens dreien. Zum Selbstmord braucht man eine Person; zum Mord zwei Personen; aber wenigstens drei Personen für Erpressung.«

»Warum?« fragte der Priester sanft.

»Das ist doch offensichtlich«, rief sein Freund; »eine Person zum Bloßstellen; eine, die Bloßstellung androht; und wenigstens eine, für die die Bloßstellung entsetzlich wäre.«

Nach einer langen nachdenklichen Pause sagte der Priester: »Sie haben einen logischen Fehltritt begangen. Drei Personen braucht man als Idee. Nur zwei sind in der Wirklichkeit vonnöten.«

»Wie meinen Sie das?« fragte der andere.

»Warum sollte ein Erpresser«, fragte Brown mit leiser Stimme, »seinem Opfer nicht mit sich selbst drohen? Nehmen wir an, eine Ehefrau wird strikte Abstinenzlerin, um ihren Ehemann dazu zu bringen, daß er ihr seine Kneipenbesuche verheimlicht, und schreibt ihm dann mit verstellter Handschrift Briefe, in denen sie ihm androht, ihn an seine Frau zu verraten! Warum sollte das nicht funktionieren? Nehmen wir an, ein Vater verbietet seinem Sohn das Glücksspiel, folgt ihm dann in guter Verkleidung und bedroht den Jungen schließlich mit seiner eigenen vorgetäuschten väterlichen Strenge! Nehmen wir an – aber da sind wir schon, mein Freund.«

»Mein Gott!« rief Flambeau; »Sie meinen doch nicht etwa – «

Eine lebhafte Gestalt sprang die Stufen des Hauses herab und ließ im goldenen Laternenlicht den unverkennbaren Kopf erkennen, der der römischen Münze glich. »Miss Carstairs«, sagte Hawker formlos, »wollte das Haus nicht eher betreten, bis Sie kämen.«

»Nun«, bemerkte Brown vertraulich, »meinen Sie nicht, daß war das Beste, was sie tun konnte, draußen zu warten – mit Ihnen als Beschützer? Wie Sie sehen, habe ich erraten, daß Sie selbst auch alles erraten haben.«

»Ja«, sagte der junge Mann leise, »ich habe es auf den Sänden erraten, und jetzt weiß ich es; deshalb habe ich ihn so sanft stürzen lassen.«

Flambeau nahm von dem Mädchen den Schlüssel und von Hawker die Münze entgegen, öffnete sich und seinem Freund das leere Haus, und schritt in den äußeren Salon. Er war menschenleer mit einer Ausnahme. Der Mann, den Father Brown an der Taverne hatte vorübergehen sehen, stand an der Wand wie in die Ecke getrieben; unverändert, abgesehen davon, daß er seinen schwarzen Mantel abgelegt hatte und nun einen braunen Morgenmantel trug.

»Wir sind gekommen«, sagte Father Brown höflich, »um diese Münze ihrem Besitzer zurückzugeben.« Und er übergab sie dem Mann mit der Nase.

Flambeaus Augen traten hervor. »Ist dieser Mann ein Münzsammler?« fragte er.

»Dieser Mann ist Arthur Carstairs«, sagte der Priester bestimmt, »und er ist ein Münzsammler von eigentümlicher Art.«

Der Mann wechselte so entsetzlich die Farbe, daß die krumme Nase aus seinem Gesicht wie ein selbständiges und komisches Ding herausragte. Er sprach dennoch mit einer Art von verzweifelter Würde. »Sie werden gleich sehen«, sagte er, »daß ich noch nicht alle Familieneigenschaften verloren habe.« Und er wandte sich plötzlich um, ging in eines der inneren Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

»Haltet ihn auf!« schrie Father Brown, der lossprang und fast über einen Stuhl stürzte; und Flambeau hatte nach ein oder zwei Anläufen die Tür auf. Aber es war zu spät, in tödlichem Schweigen ging Flambeau zum Telephon und rief Arzt und Polizei an.

Eine leere Arzneiflasche lag auf dem Boden. Über dem Tisch lag die Leiche des Mannes im braunen Morgenmantel inmitten seiner geplatzten und aufklaffenden braunen Päckchen, aus denen Münzen strömten und rollten, keine römischen, sondern sehr moderne englische.

Der Priester hielt den bronzenen Kopf Caesars hoch. »Dies«, sagte er, »ist alles, was von der Carstairs-Sammlung übriggeblieben ist…«

Und nach einer Pause fuhr er mit mehr als gewöhnlichem Zartgefühl fort: »Es war ein grausames Testament, das sein bösartiger Vater verfaßte, und der Sohn nahm es, wie Sie sehen, einigermaßen übel auf. Er haßte das römische Geld, das er besaß, und sehnte sich immer mehr nach wirklichem Geld, das ihm verweigert war. Er verkaufte nicht nur Stück für Stück die Sammlung, sondern sank Stück für Stück auf die gemeinsten Arten des Geldmachens hinab – bis hin zur Erpressung seiner eigenen Familie in Verkleidung. Er erpreßte seinen Bruder aus Australien mit dessen kleinem vergessenen Vergehen (deshalb nahm er eine Droschke nach Wagga Wagga in Putney), er erpreßte seine Schwester mit dem Diebstahl, den er allein bemerkt haben konnte. Und deshalb hatte sie übrigens jene übernatürliche Empfindung, als er weit weg in den Sanddünen stand. Gestalt und Haltung erinnern uns, wie entfernt auch immer, viel eher an jemanden, als ein gut zurechtgemachtes Gesicht aus der Nähe.«

Wiederum herrschte Schweigen. »Nun gut«, knurrte der Detektiv, »dann war also dieser große Numismatiker und Münzsammler nichts anderes als ein elender Geizhals.«

»Ist da ein so großer Unterschied?« fragte Father Brown in dem selben sonderbaren, nachsichtigen Ton. »Was ist an einem Geizhals falsch, das nicht oftmals ebenso falsch an einem Sammler ist? Was ist da falsch, außer… Du sollst dir kein geschnitztes Bildnis machen; du sollst dich nicht vor ihm verneigen und ihm dienen, denn Ich… aber wir müssen gehen und nachsehen, wie es den armen jungen Leuten geht.«

»Ich glaube«, sagte Flambeau, »daß es ihnen trotz allem vermutlich ziemlich gut geht.«

Die purpurne Perücke

Mr. Edward Nutt, der emsige Redakteur des ›Daily Reformer‹, saß an seinem Schreibtisch, öffnete Briefe und bearbeitete Korrekturfahnen zur fröhlichen Melodie einer Schreibmaschine, die eine lebhafte junge Dame bearbeitete.

Er war ein untersetzter blonder Mann in Hemdsärmeln; seine Bewegungen waren entschlossen, sein Mund war energisch und seine Sprache endgültig; aber seine runden, fast babyhaft blauen Augen hatten einen verwirrten, ja beinahe melancholischen Ausdruck, der all dem widersprach. Und dieser Ausdruck führte keineswegs in die Irre. Man darf mit Fug und Recht von ihm wie von vielen anderen Journalisten in führender Stellung sagen, daß sein vertrautestes Gefühl das der ständigen Angst war; Angst vor Verleumdungsklagen, Angst vor entgangenen Anzeigen, Angst vor Druckfehlern, Angst vor dem Rausschmiß.

Sein Leben war eine Serie von aufreibenden Kompromissen zwischen dem Besitzer der Zeitung (und seiner selbst) – einem senilen Seifensieder mit drei unausrottbaren irrigen Gedanken im Gehirn – und dem sehr fähigen Stab, den er zusammengebracht hatte, um die Zeitung zu machen; einige von ihnen waren brillante und erfahrene Männer und (was noch schlimmer war) ehrliche Enthusiasten für die politische Position des Blattes.

Ein Brief eines dieser Mitarbeiter lag vor ihm, und so rasch und entschlossen er auch war, so schien er doch zu zögern, ihn zu öffnen. Er nahm sich stattdessen eine Korrekturfahne, überflog sie mit seinen blauen Blick und einem blauen Stift, veränderte das Wort »Unzucht« in »Ungehörigkeit« und das Wort »Jude« in »Fremder«, läutete eine Glocke und schickte die Fahne in fliegender Eile hoch.

Dann riß er mit nachdenklicherem Blick den Brief seines ausgezeichneten Mitarbeiters auf. Der Brief trug einen Poststempel aus Devonshire und lautete wie folgt:


»LIEBER NUTT,

da ich sehe, daß Sie gleichzeitig Gespenster und Gangster behandeln, wie wäre es mit einem Artikel über diese undurchsichtige Geschichte mit den Eyres von Exmoor; oder, wie es hier die alten Weiber nennen, das Teufelsohr von Eyre? Chef der Familie, wissen Sie, ist der Herzog von Exmoor; er ist einer der wenigen noch übriggebliebenen wirklich sturen alten Tory-Aristokraten, ein richtiger alter verknöcherter Tyrann, dem Ärger zu machen ganz auf unserer Linie läge. Und ich glaube, daß ich einer Geschichte auf der Spur bin, die Ärger machen wird.

Natürlich glaube ich nicht an die alte Legende über James I.; und was Sie angeht, so glauben Sie ja an gar nichts, nicht einmal an den Journalismus. Die Legende, Sie werden sich wahrscheinlich erinnern, behandelt das finsterste Geschäft in Englands Geschichte – die Vergiftung von Overbury durch jene Höllenkatze Frances Howard und den höchst geheimnisvollen Terror, der den König zwang, den Mördern zu vergeben. Da ist eine ganze Menge angeblicher Hexerei hineingemischt; und man erzählt sich, daß ein Diener, der am Schlüsselloch lauschte, die ganze Wahrheit aus einem Gespräch zwischen dem König und Carr erfuhr; und daß das nämliche Ohr, mit dem er hörte, wie durch Zauber größer und größer wurde, so furchtbar war das Geheimnis. Und obwohl man ihn mit Ländereien und Gold überhäufen und zum Ahnherrn von Herzögen machen mußte, tritt das durch Hexerei verformte Ohr in der Familie immer wieder auf. Na schön, Sie glauben nicht an schwarze Magie, und täten Sie es, würden Sie es doch nicht drucken. Geschähe in Ihrem Büro ein Wunder, müßten Sie es vertuschen, wo heute doch so viele Bischöfe Agnostiker sind. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, daß es tatsächlich etwas Sonderbares um Exmoor und seine Familie gibt; etwas ganz Natürliches, nehme ich an, aber eben völlig Unnormales. Und ich glaube, daß das Ohr da irgendeine Rolle spielt; entweder als Symbol oder als Irreführung oder als Krankheit oder als sonstwas. Eine andere Tradition berichtet, daß die Kavaliere unmittelbar nach James I. begannen, ihre Haare lang zu tragen, und zwar nur, um das Ohr des ersten Lord Exmoor zu kaschieren. Auch das ist ohne Zweifel reine Erfindung.

Warum ich Sie darauf hinweise: Mir scheint, wir machen einen Fehler, wenn wir die Aristokratie nur wegen ihres Champagners und ihrer Diamanten attackieren. Die meisten Menschen bewundern den Adel eher, weil es ihm so gut geht, aber ich glaube, daß wir zuviel aufgeben, wenn wir zugeben, daß die Aristokratie wenigstens die Aristokraten glücklich gemacht hat. Ich schlage eine Serie darüber vor, wie armselig, wie unmenschlich, wie geradezu diabolisch der Geruch und die Atmosphäre einiger dieser großen Häuser sind. Es gibt dafür viele Beispiele; aber Sie könnten mit keinem besseren beginnen als mit dem Ohr der Eyres. Bis Ende der Woche werde ich Ihnen, wie ich glaube, die Wahrheit darüber ausgegraben haben.

Stets Ihr

FRANCIS FINN.«


Mr. Nutt überlegte einen Augenblick, während er seinen linken Stiefel anstarrte; dann rief er mit starker, lauter und völlig lebloser Stimme, in der jede Silbe wie die andere klang: »Miss Barlow, nehmen Sie bitte einen Brief an Mr. Finn auf.«


»LIEBER FINN,

ich glaube, das geht; das Manuskript sollte uns mit der zweiten Post am Samstag erreichen.

Ihr

E. NUTT.«


Dieses ausgefeilte Schriftstück artikulierte er, als ob das Ganze ein Wort wäre; und Miss Barlow ratterte es runter, als ob das Ganze ein Wort wäre. Dann nahm er sich eine andere Korrekturfahne und einen blauen Stift und änderte das Wort »übernatürlich« in das Wort »wunderbar«, und den Ausdruck »niederschießen« in den Ausdruck »unterdrücken«.

Mit so glücklichen gesunden Tätigkeiten vertrieb Nutt sich die Zeit, bis ihn der nächste Samstag am gleichen Schreibtisch fand, der gleichen Sekretärin diktierend und den gleichen blauen Stift an der ersten Lieferung von Mr. Finns Enthüllungen ansetzend. Die Einleitung war ein sauberes Stück schneidender Schmähungen der üblen Geheimnisse von Fürsten, und über die Verzweiflung selbst in den höchsten irdischen Kreisen. Obwohl leidenschaftlich geschrieben, war es doch in ausgezeichnetem Englisch verfaßt; aber der Redakteur hatte es wie üblich jemand anderem gegeben, damit der es durch Untertitel auflockere, die von einer würzigeren Sorte waren, wie etwa »Gräfinnen und Gifte«, »Das Schaurige Ohr«, »Die Eyres in ihrem Eyrie«, und so fort durch hunderterlei glückliche Abwandlungen. Dann folgte die Legende vom Ohr, nach Finns erstem Brief ausführlicher ausgearbeitet, und dann das Wesentliche seiner späteren Entdeckungen, wie folgt:

»Ich weiß, daß es die Gepflogenheit der Journalisten ist, das Ende der Geschichte an den Anfang zu stellen und es Schlagzeile zu nennen. Ich weiß, daß Journalismus im wesentlichen daraus besteht, Leuten mitzuteilen ›Lord Jones Tot‹, die nie gewußt haben, daß Lord Jones lebte. Ihr Berichterstatter aber glaubt, daß das wie manche andere journalistische Gepflogenheit schlechter Journalismus ist; und daß der ›Daily Reformer‹ in solchen Dingen ein besseres Beispiel geben sollte. Daher schlägt er vor, seine Geschichte so zu erzählen, wie sie sich ereignete, Schritt um Schritt. Er wird die wirklichen Namen der Beteiligten nennen, die fast alle bereit sind, seinen Bericht zu bestätigen. Und was die Schlagzeilen angeht, die sensationellen Bekanntmachungen – sie werden am Schluß stehen.

Ich wanderte einen öffentlichen Pfad entlang, der durch einen privaten Obstgarten in Devonshire führt und so aussieht, als führe er einen zu Devonshirer Apfelwein, als ich plötzlich zu genau so einem Lokal kam, wie es der Pfad andeutete. Es war ein langgestreckter, niedriger Gasthof, der in Wirklichkeit aus einem Bauernhaus und zwei Scheunen bestand; vollkommen überdacht mit einem Strohdach aus jenem Stroh, das aussieht wie braunes und graues Haar, das bereits vor aller Geschichte gewachsen ist. Vor der Tür gab es ein Wirtshausschild, das es ›Der Blaue Drachen‹ nannte; und unter dem Schild stand einer jener langen ländlichen Tische, die vor den meisten freien englischen Gasthäusern standen, ehe Abstinenzler und Brauer gemeinsam diese Freiheit zerstörten. Und an diesem Tisch saßen drei Herren, die gut und gerne vor dreihundert Jahren gelebt haben könnten.

Jetzt, da ich sie alle besser kenne, ist es nicht schwierig, die Eindrücke auseinander zu halten; damals aber sahen sie mir wie drei sehr solide Gespenster aus. Die beherrschende Erscheinung war, sowohl weil er in allen drei Dimensionen größer war und weil er mitten an der Längsseite des Tisches saß, das Gesicht mir zugewandt, ein hochgewachsener fetter Mann, vollständig in Schwarz gekleidet, mit rötlichem, ja zu Schlagfluß neigendem Gesicht, aber einer ziemlich kahlen und ziemlich kummerzerfurchten Stirn. Als ich nochmals genauer hinsah, konnte ich nicht genau sagen, was mir den Eindruck von Altertümlichkeit gab, abgesehen vom altertümlichen Schnitt seines weißen klerikalen Kragens und den tief in seine Stirn eingegrabenen Falten.

Noch weniger leicht war es, den Eindruck im Fall des Mannes am rechten Ende des Tisches festzuhalten, der, um die Wahrheit zu sagen, eine so alltägliche Erscheinung war, wie man sie nur überall sehen kann, mit einem runden braunhaarigen Kopf und einer runden Stupsnase, aber ebenfalls in klerikales Schwarz gekleidet, wenngleich von strengerem Schnitt. Erst als ich seinen Hut mit der breiten aufgebogenen Krempe neben ihm auf dem Tisch liegen sah, begriff ich, warum ich ihn mit irgend etwas Antikem verband. Er war ein römisch-katholischer Priester.

Vielleicht hatte der dritte Mann, jener am anderen Ende des Tisches, mehr damit zu tun als die übrigen, obwohl er sowohl an physischer Präsenz geringer wie auch in seiner Kleidung gleichgültiger war. Seine schmächtigen Gliedmaßen waren in sehr enge graue Ärmel und Hosen gekleidet, ich könnte auch sagen gequetscht; er hatte ein langes, bleiches Adlergesicht, das um so schwermütiger aussah, als seine hageren Wangen in einen Kragen und ein Halstuch nach der Art der Alten vergraben war; und sein Haar (das eigentlich dunkelbraun hätte sein sollen) hatte eine eigenartig dumpfe rötliche Farbe, die über seinem gelblichen Gesicht eher purpurn als rot wirkte. Die unaufdringliche, wenngleich unübliche Farbe war um so bemerkenswerter, weil sein Haar von fast unnatürlicher Fülle und Lockigkeit war und er es lang trug. Jedoch neige ich nach gründlicher Analyse dazu anzunehmen, daß mir den ersten Eindruck von Altertümlichkeit die hohen, altmodischen Weingläser, ein oder zwei Zitronen und zwei Tonpfeifen vermittelten. Und vielleicht auch die Suche nach der Vergangenheit, die mich hergeführt hatte.

Da ich ein abgebrühter Reporter bin, und da es allem Anschein nach ein öffentliches Gasthaus war, brauchte ich nicht allzuviel von meiner Unverschämtheit zu Hilfe zu nehmen, um mich an dem langen Tisch niederzulassen und Apfelwein zu bestellen. Der große Mann in Schwarz erschien sehr gelehrt, insbesondere in Lokalgeschichte; der kleine Mann in Schwarz überraschte mich, obwohl er sehr viel weniger sprach, durch noch umfassendere Kenntnisse. So vertrugen wir uns ganz gut miteinander; aber der dritte Mann, der alte Gentleman in den engen Hosen, schien ziemlich unnahbar und hochmütig, bis ich das Thema Herzog von Exmoor und seine Ahnen anschnitt.

Mir schien es, als ob das Thema den beiden anderen etwas peinlich sei; aber es brach höchst erfolgreich den Bann des Schweigens des dritten Mannes. Er sprach mit Zurückhaltung und mit dem Akzent eines hochgebildeten Herrn, und ab und zu paffte er aus seiner langen Tonpfeife, aber zugleich erzählte er mir einige der schauerlichsten Geschichten, die ich in meinem ganzen Leben vernommen habe: wie in früheren Zeiten einer der Eyres seinen eigenen Vater aufgehängt hat; und wie ein anderer seine Frau an einen Karren gebunden durchs Dorf geißeln ließ; und wie wieder ein anderer eine Kirche voller Kinder in Brand steckte, und so weiter.

Einige dieser Berichte sind tatsächlich nicht zur Veröffentlichung geeignet; wie zum Beispiel die Geschichte von den Scharlachroten Nonnen, die scheußliche Geschichte vom Gefleckten Hund oder die Sache, die sich im Steinbruch abspielte. Und dieses ganze Rotbuch der Ruchlosigkeit kam eher spröde von seinen dünnen aristokratischen Lippen, als er da saß und Wein aus seinem hohen dünnen Glas schlürfte.

Ich konnte sehen, daß der große Mann mir gegenüber alles nur Mögliche versuchte, um ihn zum Schweigen zu bringen; aber offenbar brachte er dem alten Herrn tiefe Hochachtung entgegen und wagte nicht, ihn einfach abrupt zu unterbrechen. Und der kleine Priester am anderen Ende des Tisches blickte, obwohl frei von solchen Gefühlen der Peinlichkeit, stetig auf den Tisch und schien die Erzählungen mit großem Unbehagen anzuhören – was nur zu verständlich ist.

›Sie scheinen‹, sagte ich zu dem Erzähler, ›dem Stammbaum der Exmoors nicht eben wohlgesinnt zu sein.‹

Er blickte mich einen Augenblick lang an, mit immer noch spröden Lippen, die aber weiß wurden und sich zusammenpreßten; dann zerbrach er absichtlich Tonpfeife und Glas auf dem Tisch und erhob sich, das vollkommene Ebenbild des vollkommenen Gentlemans mit dem jähen Zorn eines Teufels.

›Diese Herren‹, sagte er, ›werden Ihnen erzählen, ob ich Grund habe, ihn zu mögen. Der Fluch der alten Eyres hat schwer auf diesem Land gelastet, und viele haben darunter gelitten. Und sie wissen, daß niemand darunter so gelitten hat wie ich.‹ Und damit zermalmte er eine herabgefallene Scherbe des Glases unter seinem Absatz und schritt von dannen, hinein in das grüne Zwielicht unter den schimmernden Apfelbäumen.

›Das ist ein ungewöhnlicher alter Herr‹, sagte ich zu den beiden anderen; ›wissen Sie zufällig, was ihm die Familie Exmoor angetan hat? Wer ist das?‹

Der große Mann in Schwarz starrte mich mit dem wilden Ausdruck eines erschreckten Stieres an; doch schien er zunächst meine Frage gar nicht zu begreifen. Aber schließlich sagte er: ›Sie wissen nicht, wer er ist?‹

Ich bekräftigte mein Unwissen, und darauf war wieder Schweigen; und dann sagte der kleine Priester, der immer noch auf den Tisch starrte: ›Das ist der Herzog von Exmoor.‹

Und bevor ich noch meine verwirrten Sinne einsammeln konnte, fügte er ebenso ruhig, aber mit einer Miene des Dingeordnens hinzu: ›Mein Freund hier ist Dr. Mull, der Bibliothekar des Herzogs. Und mein Name ist Brown.‹

›Aber‹, stammelte ich, ›wenn er der Herzog ist, wieso verflucht er denn dann die alten Herzöge dermaßen?‹

›Weil er wirklich zu glauben scheint‹, antwortete der Priester namens Brown, ›daß sie ihn mit einem Fluch belastet haben.‹ Und dann fügte er ziemlich belanglos hinzu: ›Deshalb trägt er auch eine Perücke.‹

Es dauerte einige Augenblicke, ehe mir die Bedeutung dieser Mitteilung klar wurde. ›Sie sprechen doch wohl nicht von der Fabel über das phantastische Ohr?‹ fragte ich. ›Ich habe natürlich davon gehört, aber das muß sicherlich ein abergläubisches Garn sein, das aus etwas viel Einfacherem herausgesponnen ist. Ich habe mir manchmal gedacht, daß es vielleicht eine wilde Variante jener Verstümmelungsgeschichten ist. Im 16. Jahrhundert pflegte man doch Verbrechern ein Ohr abzuschneiden.‹

›Ich glaube nicht, daß es das war‹, antwortete der kleine Mann nachdenklich, ›aber es ist keineswegs außerhalb der normalen Wissenschaft oder der Naturgesetze, daß sich in einer Familie eine Mißbildung immer wieder vererbt – so wie ein Ohr, das größer ist als das andere.‹

Der große Bibliothekar hatte seine große kahle Stirn in seine großen roten Hände vergraben, wie ein Mann, der versucht, sich über seine Pflicht klarzuwerden. ›Nein‹, stöhnte er. ›Sie tun dem Manne eigentlich Unrecht. Verstehen Sie mich recht, ich habe keinen Grund, ihn zu verteidigen oder ihm auch nur die Treue zu wahren. Er war mir gegenüber ein Tyrann wie zu allen anderen. Denken Sie bloß nicht, weil Sie ihn hier sitzen gesehen haben, er sei kein großer Herr im übelsten Sinn des Wortes. Er würde einen Mann eine Meile weit herbeiholen, um eine Glocke zu läuten, die einen Meter neben ihm steht – um einen anderen Mann drei Meilen weit herbeizuholen, daß er ihm eine Streichholzschachtel bringe, die drei Meter neben ihm liegt. Er hält sich einen Diener, um seinen Spazierstock zu tragen; er hält sich einen Leibdiener, damit der ihm sein Opernglas hält –‹

›Aber keinen Kammerdiener, der ihm die Kleidung ausbürstet‹, fiel der Priester mit eigentümlicher Trockenheit ein, ›denn der Kammerdiener würde ihm auch die Perücke ausbürsten wollen.‹

Der Bibliothekar wandte sich ihm zu und schien meine Anwesenheit zu vergessen; er war sehr bewegt und, wie ich glaube, auch ein bißchen vom Weine befeuert. ›Ich weiß nicht, woher Sie das wissen, Father Brown‹, sagte er, ›aber Sie haben recht. Er läßt sich von der ganzen Welt bedienen – außer beim Ankleiden. Und er besteht darauf, das in buchstäblicher Einsamkeit wie in einer Wüste zu tun. Jeder wird ohne Zeugnis aus dem Haus geworfen, den man auch nur in der Nähe der Tür seines Ankleidezimmers antrifft.‹

›Scheint ja ein lustiger alter Kauz zu sein‹, bemerkte ich.

›Nein‹, erwiderte Dr. Mull einfach; ›und doch ist es gerade das, was ich meinte, als ich sagte, Sie täten ihm eigentlich Unrecht. Meine Herren, der Herzog empfindet tatsächlich ob des Fluches jene Verbitterung, die er eben äußerte. Er verbirgt in ehrlicher Scham und Furcht unter jener purpurnen Perücke etwas, von dem er glaubt, sein Anblick würde die Kinder der Menschen vernichten. Ich weiß das; und ich weiß, daß es nicht nur eine natürliche Mißbildung ist, wie etwa die Verstümmelung eines Verbrechers, oder eine erblich bedingte Disproportion seiner Züge. Ich weiß, daß es schlimmer ist als so etwas; denn ein Mann hat es mir erzählt, der dabei war, als sich eine Szene abspielte, die niemand erfinden kann und in der ein Mann, der stärker ist als jeder von uns, das Geheimnis zu lüften versuchte und einen tödlichen Schrecken davontrug.‹

Ich öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber Mull, der mich vollständig vergessen hatte, sprach weiter aus der Höhlung seiner Hände heraus. ›Ich erzähle Ihnen davon, Father, denn es dient eher zur Verteidigung des armen Herzogs, als daß es ihm schadete. Sie haben doch sicher von jener Zeit gehört, als er beinahe seine ganzen Besitzungen verloren hat?‹

Der Priester schüttelte den Kopf; und der Bibliothekar erzählte die Geschichte, wie er sie von seinem Vorgänger im Amt vernommen hatte, der sein Vorgesetzter und sein Lehrer gewesen war und dem er unbegrenzt zu vertrauen schien. Bis zu einem gewissen Punkt war es die ach so gewöhnliche Geschichte vom Niedergang eines großen Familienvermögens – die Geschichte eines Familienanwalts. Dieser Anwalt aber betrog sozusagen ehrlich, wenn dieser Ausdruck verständlich ist. Er vergriff sich nicht etwa an den Mitteln, die ihm zur Verwaltung übergeben waren, sondern er benutzte die Sorglosigkeit des Herzogs, um die Familie in eine finanzielle Klemme zu manövrieren, in der der Herzog sich gezwungen sehen mußte, sie ihm als Eigentum zu übergeben.

Der Name des Rechtsanwaltes war Isaac Green, aber der Herzog nannte ihn nur Elisha; vielleicht weil er schon völlig kahl war, obwohl noch kaum dreißig. Er war sehr rasch aus sehr schmutzigen Anfängen aufgestiegen; zuerst war er ein Spitzel oder Informant der Polizei gewesen, und dann ein Geldverleiher: aber als Anwalt der Eyres hatte er Verstand genug, wie ich schon gesagt habe, sich absolut korrekt zu verhalten, bis er bereit war, den endgültigen Schlag zu führen. Der Schlag fiel beim Abendessen; und der alte Bibliothekar erzählte mir, er werde niemals vergessen, wie die Lampenschirme und die Karaffen aussahen, als der kleine Anwalt mit gelassenem Lächeln dem großen Grundherrn vorschlug, sie sollten die Besitzungen untereinander je zur Hälfte teilen. Die Folgen waren unübersehbar; denn der Herzog zerschlug in tödlichem Schweigen eine Karaffe auf dem kahlen Schädel des Mannes, so jäh, wie ich selbst ihn das Weinglas an jenem Nachmittag im Obstgarten hatte zerschmettern sehen. Das hinterließ eine dreieckige Wunde in der Kopfhaut, und der Ausdruck in den Augen des Anwalts änderte sich, nicht aber sein Lächeln.

Er erhob sich schwankend auf seine Füße und schlug zurück, wie solche Menschen zurückschlagen. ›Dafür danke ich Ihnen‹, sagte er, ›denn jetzt kann ich mir den ganzen Besitz nehmen. Das Gesetz wird ihn mir geben.‹

Exmoor war, scheint es, weiß wie Asche, aber seine Augen flammten immer noch. ›Das Gesetz wird es Ihnen geben‹, sagte er; ›aber Sie werden es nicht nehmen… Warum nicht? Warum? Weil das für mich der Jüngste Tag wäre, und wenn Sie es nehmen, werde ich meine Perücke abnehmen… Nun, Sie erbärmlicher gerupfter Vogel, jedermann kann Ihren kahlen Kopf sehen. Aber kein Mann wird meinen sehen und überleben‹.

Nun können Sie sagen, was Sie wollen, und es ausdeuten, wie Sie wollen. Aber Mull beschwor als feierliche Tatsache, daß der Anwalt, nachdem er zunächst seine verkrampften Fäuste für einen Augenblick durch die Luft geschwungen hatte, einfach aus dem Zimmer gerannt sei und niemals wieder in der Gegend gesehen wurde; und daß seither Exmoor noch mehr als Hexer gefürchtet wurde denn schon zuvor als Großgrundbesitzer und Friedensrichter.

Nun hat Dr. Mull seine Geschichte mit reichlich wilden und theatralischen Gesten erzählt und mit einer Leidenschaft, die mir einigermaßen parteiisch vorkam. Ich war mir durchaus der Möglichkeit bewußt, daß das Ganze die Extravaganz eines alten Schwätzers und Klatschonkels sein könnte. Aber bevor ich diese Hälfte meiner Entdeckungen beschließe, muß ich Dr. Mull Gerechtigkeit angedeihen lassen und berichten, daß meine ersten beiden Recherchen seine Geschichte bestätigt haben. Ich erfuhr von einem alten Apotheker im Dorf, daß eines Abends ein kahler Mann im Abendanzug aufgetaucht sei, der seinen Namen mit Green angegeben habe, und der sich von ihm eine dreieckige Wunde an der Stirn habe versorgen lassen. Und ich erfuhr aus Gerichtsakten und alten Zeitungen, daß einst ein Verfahren von einem Green gegen den Herzog von Exmoor eingeleitet und zumindest eröffnet worden ist.«

Mr. Nutt vom ›Daily Reformer‹ schrieb einige höchst unpassende Worte quer über das Manuskript, machte eine Reihe höchst geheimnisvoller Zeichen an den Rand und rief mit der gleichen lauten monotonen Stimme nach Miss Barlow: »Nehmen Sie einen Brief an Mr. Finn auf.«


»LIEBER FINN,

Ihr Manuskript ist ganz brauchbar, aber ich hatte es ein bißchen zu untertiteln; und außerdem würden unsere Leser niemals einen römischen Priester in der Geschichte dulden – Sie dürfen die Vorstädte nicht vergessen. Ich habe ihn in Mr. Brown, Spiritualisten, geändert.

Ihr

E. NUTT.«


Einen oder zwei Tage später sah man den rührigen und kritischen Redakteur, wie er mit blauen Augen, die größer und größer zu werden schienen, den zweiten Teil von Mr. Finns Bericht über die Geheimnisse aus dem Leben der höchsten Kreise studierte. Er begann mit folgenden Worten:


»Ich habe eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Ich gestehe freimütig, daß sie ganz anders aussieht als alles, was zu entdecken ich erwartet hatte, und sie wird die Öffentlichkeit auf eine höchst handfeste Weise erschüttern. Ich wage ohne Eitelkeit zu behaupten, daß man das, was ich jetzt niederschreiben werde, in ganz Europa lesen wird, und ebenso in ganz Amerika und in allen Kolonien. Und doch erfuhr ich alles, was ich zu berichten habe, bevor ich diesen nämlichen kleinen Holztisch in diesem nämlichen kleinen Gehölz aus Apfelbäumen verließ.

Ich verdanke alles dem kleinen Priester Brown; er ist ein außerordentlicher Mann. Der große Bibliothekar hatte den Tisch verlassen, vielleicht beschämt ob seiner Geschwätzigkeit, vielleicht besorgt ob des Sturms, in dem sein rätselhafter Herr verschwunden war: wie auch immer, er verschwand schwerfällig auf den Spuren des Herzogs zwischen den Bäumen. Father Brown hatte eine der Zitronen ergriffen und betrachtete sie mit einem sonderbaren Vergnügen.

›Welch schöne Farbe doch eine Zitrone hat!‹ sagte er. ›Es gibt nur eine Sache, die ich an der Perücke des Herzogs nicht mag – die Farbe.‹

›Ich glaube nicht, daß ich Sie verstehe‹, antwortete ich.

›Ich wage zu behaupten, daß er gute Gründe hat, seine Ohren zu bedecken, wie einst König Midas‹, fuhr der Priester in heiterer Schlichtheit fort, die unter den obwaltenden Umständen einen etwas spöttischen Charakter zu haben schien. ›Ich kann gut verstehen, daß es angenehmer ist, sie mit Haar zu bedecken, als mit Messingplatten oder Lederklappen. Aber wenn er Haar verwenden will, warum läßt er es nicht wie Haar aussehen? Niemals hat es Haar von dieser Farbe auf Erden gegeben. Es sieht eher aus, als komme eine Sonnenuntergangswolke durchs Gehölz. Warum verbirgt er den Familienfluch nicht geschickter, wenn er sich seiner wirklich so sehr schämt? Soll ich es Ihnen sagen? Weil er sich seiner überhaupt nicht schämt. Er ist stolz auf ihn.‹

›Das ist aber eine zu häßliche Perücke, um darauf stolz zu sein – und eine zu häßliche Geschichte‹, sagte ich.

›Denken Sie einmal nach‹, erwiderte dieser seltsame kleine Mann, ›wie Sie selbst wirklich über solche Dinge denken. Ich bin nicht der Ansicht, daß Sie versnobter oder morbider sind als wir übrigen: Aber haben Sie nicht auch den Eindruck, daß ein echter alter Familienfluch in Wirklichkeit ein ganz hübscher Besitz ist? Würden Sie sich schämen, wären Sie nicht auch ein bißchen stolz, wenn der Erbe des Schreckens der Glamis Sie seinen Freund nennte? Oder wenn Byrons Familie Ihnen ganz allein die üblen Geheimnisse dieses Geschlechtes anvertraut hätte? Beurteilen Sie die Aristokraten nicht zu streng, wenn ihre Köpfe sich als so schwach wie unsere erweisen, und wenn sie sich als Snobs gegenüber ihren eigenen Kümmernissen erweisen.‹

›Bei Gott!‹ schrie ich. ›Das ist wahr genug. In der Familie meiner Mutter gab es eine Todesfee; und jetzt, da ich darüber nachdenke, wird mir klar, wie oft mich das in kalten Stunden getröstet hat.‹

›Und denken Sie‹, fuhr er fort, ›an jenen Strom von Blut und Gift, der ihm im gleichen Augenblick von den dünnen Lippen sprudelte, als Sie seine Vorfahren erwähnten. Warum sollte er jedem beliebigen Fremden eine solche Schreckenskammer zeigen, wenn er nicht stolz auf sie wäre? Er verbirgt seine Perücke nicht, er verbirgt sein Blut nicht, er verbirgt seinen Familienfluch nicht, er verbirgt die Verbrechen seiner Familie nicht – aber –‹

Die Stimme des kleinen Mannes änderte sich so plötzlich, er ballte seine Hände so jäh, seine Augen wurden so rasch runder und leuchtender wie die einer erwachenden Eule, daß es die ganze Abruptheit einer kleinen Explosion auf dem Tisch hatte.

›Aber‹, schloß er, ›er verbirgt das Geheimnis seines Ankleidens.‹

Irgendwie vervollständigte es das Erschauern meiner phantasievollen Nerven, daß in diesem Augenblick der Herzog schweigend zwischen den schimmernden Bäumen wieder erschien, auf seinen leisen Füßen und mit seinem sonnenuntergangfarbigen Haar kam er in Begleitung seines Bibliothekars um die Hausecke. Aber noch ehe er in Hörweite war, hatte Father Brown ganz gelassen hinzugefügt: ›Warum verbirgt er in Wirklichkeit das Geheimnis dessen, was er mit der purpurnen Perücke macht? Weil es nicht die Art von Geheimnis ist, die wir vermuten.‹

Der Herzog kam um die Ecke und nahm seinen Platz am Kopf des Tisches mit all seiner angeborenen Würde wieder ein. Den Bibliothekar ließ seine Verlegenheit wie einen großen Bären auf seinen Hinterbeinen schwanken. Der Herzog sprach den Priester in tiefem Ernst an. ›Father Brown‹, sagte er, ›Doktor Mull hat mich unterrichtet, daß Sie hergekommen sind, um mir ein Ersuchen vorzutragen. Nun beachte ich die Religion meiner Väter schon seit langem nicht mehr; aber um ihretwillen und wegen unserer früheren Begegnungen bin ich gerne bereit, Sie anzuhören. Aber ich nehme an, daß Sie es vorzögen, Ihr Ersuchen unter vier Augen vorzubringen.‹

Was immer in mir noch von guter Erziehung übrig war, hieß mich gehen. Was immer ich mir vom Journalisten angeeignet habe, hieß mich bleiben. Aber noch ehe diese Lähmung sich in mir gelöst hatte, hielt mich der Priester mit einer leichten Bewegung zurück. ›Wenn‹, sagte er, ›Euer Gnaden mir meinen wirklichen Wunsch gewähren wollen, oder wenn ich irgendein Recht habe, Ihnen zu raten, dann würde ich darauf drängen, daß so viele Leute wie nur möglich anwesend sein sollten. Überall in dieser Gegend habe ich Aberhunderte selbst von meiner eigenen Herde und Konfession gefunden, deren Phantasie von dem Bann vergiftet ist, den zu brechen ich Sie anflehe. Ich wollte, wir könnten ganz Devonshire hier haben, um Sie es tun zu sehen.‹

›Mich was tun zu sehen?‹ fragte der Herzog und runzelte die Brauen.

›Zu sehen, wie Sie die Perücke abnehmen‹, sagte Father Brown.

Das Gesicht des Herzogs blieb unbewegt; aber er blickte den Bittsteller mit einem so glasigen Starren an, daß es mir als der furchtbarste Ausdruck erschien, den ich je auf einem menschlichen Gesicht gesehen habe. Ich konnte die mächtigen Beine des Bibliothekars unter ihm beben sehen wie die Schatten von Stämmen in einem Teich; und ich konnte aus meinem Hirn die Vorstellung nicht vertreiben, daß sich die Bäume um uns herum in dem Schweigen still mit Teufeln statt mit Vögeln füllten.

›Ich will Sie verschonen‹, sagte der Herzog mit der Stimme unmenschlichen Erbarmens. ›Ich lehne ab. Gäbe ich Ihnen auch nur den leisesten Hinweis auf die Last des Schreckens, die ich allein zu tragen habe, würden Sie kreischend hier vor meinen Füßen liegen und darum betteln, Ihnen mehr zu ersparen. Ich will Ihnen den Hinweis ersparen. Sie sollen nicht einmal den ersten Buchstaben dessen buchstabieren, was auf dem Altar des Unbekannten Gottes geschrieben steht.‹

›Ich kenne den Unbekannten Gott‹, sagte der kleine Priester mit der unbewußten Größe der Gewißheit, die wie ein Granitturm aufragt. ›Ich weiß seinen Namen; er ist Satan. Der wahre Gott wurde Fleisch und weilte unter uns. Ich aber sage Ihnen, wo immer Sie Menschen finden, die ausschließlich von einem Geheimnis beherrscht werden, ist es das Geheimnis der Sünde. Wenn der Teufel einem sagt, irgend etwas sei zu furchtbar, um es anzublicken, blicke man es an. Wenn er sagt, irgend etwas sei zu schrecklich, um es anzuhören, höre man es an. Wenn man irgendeine Wahrheit für unerträglich hält, trage man sie. Ich flehe Euer Gnaden an, diesem Albtraum jetzt und hier an diesem Tisch ein Ende zu bereiten.‹

›Wenn ich das täte‹, sagte der Herzog mit leiser Stimme, ›würden Sie und Ihr ganzer Glaube und alles, aus dem heraus allein Sie leben, zusammenschrumpfen und untergehen. Sie würden für einen Augenblick das große Nichts erkennen, ehe Sie stürben.‹

›Das Kreuz Christi sei zwischen mir und allem Übel‹, sagte Father Brown. ›Nehmen Sie die Perücke ab.‹

Ich lehnte mich in unbeherrschbarer Erregung über den Tisch; während ich diesem außerordentlichen Zweikampf zuhörte, war mir eine halbe Idee in den Kopf geschossen. ›Euer Gnaden‹, schrie ich, ›Sie bluffen. Nehmen Sie die Perücke ab, oder ich schlage sie Ihnen herunter.‹

Ich kann vermutlich wegen tätlicher Beleidigung verklagt werden, aber ich bin froh, daß ich es tat. Als er mit der gleichen steinernen Stimme sagte: ›Ich lehne ab‹, sprang ich ihn einfach an. Für drei lange Augenblicke widerstand er mir, als hülfe ihm die ganze Hölle; aber ich zwang seinen Kopf immer tiefer zurück, bis die haarige Mütze herabfiel. Ich gestehe, daß ich noch während des Ringens die Augen schloß, als sie herabfiel.

Ein Aufschrei von Mull, der sich inzwischen an der Seite des Herzogs befand, brachte mich wieder zu mir. Sein Kopf beugte sich wie der meine über den kahlen Kopf des perückenlosen Herzogs. Dann zerriß das Schweigen, als der Bibliothekar ausrief: ›Was bedeutet das? Der Mann hat ja gar nichts zu verbergen. Seine Ohren sind so normal wie die aller anderen.‹

›Ja‹, sagte Father Brown, ›und das ist es, was er zu verbergen hatte.‹

Der Priester trat zu ihm hin, blickte aber sonderbarerweise überhaupt nicht auf seine Ohren. Er starrte ihm vielmehr mit einer fast komischen Ernsthaftigkeit auf die Stirn und wies dann auf eine dreieckige Narbe, seit langem verheilt, aber immer noch erkennbar. ›Mr. Green, nehme ich an‹, sagte er höflich, ›und also hat er schließlich doch den ganzen Besitz bekommen.‹

Und nun möchte ich den Lesern des ›Daily Reformer‹ berichten, was ich für das Bemerkenswerteste an der ganzen Angelegenheit halte. Diese Verwandlungsszene, die Ihnen so wild und bunt erscheinen wird wie ein persisches Märchen, war (abgesehen von meinem Überfall) von Anfang an vollkommen gesetzlich und verfassungsmäßig. Dieser Mann mit der sonderbaren Narbe und den normalen Ohren ist kein Betrüger. Obwohl er (in gewissem Sinne) eines anderen Mannes Perücke trägt und eines anderen Mannes Ohren zu haben vorgibt, hat er doch den Adelstitel eines anderen Mannes nicht gestohlen. Er ist wirklich der einzige wahre Herzog von Exmoor. Was aber geschehen war, ist dieses. Der alte Herzog hatte tatsächlich ein etwas mißgestaltetes Ohr, was tatsächlich mehr oder minder erblich war. Er benahm sich wegen ihm tatsächlich krankhaft; und es ist höchst wahrscheinlich, daß er es in jener gewalttätigen Szene (die sich zweifellos abgespielt hat) als eine Art Fluch anrief, als er Green mit der Karaffe schlug. Aber die Auseinandersetzung endete ganz anders. Green bestand auf seinen Forderungen und erhielt den Besitz zugesprochen; der enteignete Edelmann erschoß sich und starb ohne Nachkommen. Nach einer angemessenen Frist hat die wunderbare englische Regierung den ›erloschenen‹ Herzogstitel von Exmoor erneuert und ihn wie üblich der bedeutendsten Persönlichkeit verliehen, der Person, die den Besitz innehatte.

Dieser Mann machte sich die alten feudalen Fabeln zunutze – in seiner versnobten Seele beneidete und bewunderte er sie womöglich wirklich. So daß Abertausende armer englischer Menschen vor einem geheimnisvollen Oberhaupt mit uraltem Schicksal und einer Krone aus bösen Sternen erzitterten – während sie in Wirklichkeit vor einem erzitterten, der aus der Gosse gekommen und vor nicht einmal zwölf Jahren noch ein Winkeladvokat und Pfandleiher gewesen war. Ich glaube, das ist sehr typisch für die wirkliche Anklage gegen unseren Adel, wie er nun einmal ist und es bleiben wird, bis Gott uns bessere Männer schickt.«


Mr. Nutt legte das Manuskript hin und rief mit unüblicher Schärfe: »Miss Barlow, bitte nehmen Sie einen Brief an Mr. Finn auf.«


»LIEBER FINN,

Sie müssen verrückt sein; das können wir nicht bringen. Ich wollte Vampire und die böse alte Zeit und den Adel Hand in Hand mit dem Aberglauben. Das liebt man. Aber es muß Ihnen doch klar sein, daß uns die Exmoors dieses niemals verzeihen würden. Und was würden unsere Leute dann dazu sagen, möchte ich gerne wissen! Schließlich ist Sir Simon einer der engsten Freunde von Exmoor; und es würde jenen Vetter der Eyres ruinieren, der für uns in Bradford kandidiert. Außerdem war der alte Seifensieder unglücklich genug, als er im letzten Jahr seinen Adelstitel nicht bekommen hat; er würde mich per Telegramm feuern, wenn ich ihm das durch solchen Unfug vermasselte. Und was ist mit Duffey? Er schreibt uns rauschende Artikel über ›Die Spur des Normannen‹. Und wie kann er über die Normannen schreiben, wenn der Mann nur ein Advokat ist? Seien Sie doch vernünftig.

Ihr

E. NUTT.«


Und während Miss Barlow fröhlich vor sich hin ratterte, knüllte er das Manuskript zusammen und schleuderte es in den Papierkorb; aber nicht, ehe er automatisch und aus dem Zwang der Gewohnheit das Wort »Gott« abgeändert hatte in das Wort »Umstände.«

Der Untergang der Pendragons

Father Brown war nicht in der Stimmung für Abenteuer. Er war kürzlich vor Überarbeitung krank geworden, und als er sich zu erholen begann, hatte sein Freund Flambeau ihn auf eine Vergnügungsfahrt auf einer kleinen Segeljacht mitgenommen, zusammen mit Sir Cecil Fanshaw, einem jungen Landjunker aus Cornwall und begeisterten Liebhaber der kornischen Küstenlandschaften. Aber Brown fühlte sich noch eher schwach; als Seemann fühlte er sich nicht sehr wohl; und obwohl er nicht zu jenen gehörte, die entweder herumnörgeln oder zusammenbrechen, stieg seine Stimmung doch nicht über Geduld und Höflichkeit hinaus. Wenn die beiden anderen den zerfetzten violetten Sonnenuntergang oder die zerklüfteten vulkanischen Klippen priesen, stimmte er ihnen bei. Wenn Flambeau auf einen Felsen wies, der wie ein Drache geformt sei, sah er ihn an und dachte bei sich, er sehe einem Drachen sehr ähnlich. Wenn Fanshaw noch aufgeregter auf einen Felsen hinwies, der wie Merlin aussehe, sah er ihn an und bekundete Zustimmung. Wenn Flambeau fragte, ob dieses Felsentor des sich windenden Flusses nicht das Tor zum Märchenland sei, sagte er »Ja«. Er lauschte den wichtigsten wie den unwichtigsten Dingen mit der gleichen teilnahmslosen Aufmerksamkeit. Er vernahm, daß diese Küste für alle außer den sorgfältigsten Seeleuten den Tod bedeute; und er vernahm, daß die Schiffskatze schlafe. Er vernahm, daß Fanshaw seine Zigarrenspitze nirgends finden könne; und er vernahm den Orakelspruch des Steuermanns:


»Beide Augen offen, läßt gute Fahrt erhoffen;

nur ein Auge blinkt, unser Schifflein sinkt.«


Er vernahm, wie Flambeau zu Fanshaw sagte, das bedeute zweifelsfrei, der Steuermann müsse beide Augen offen halten und äußerst wachsam sein. Und er vernahm, wie Fanshaw zu Flambeau sagte, daß es das sonderbarerweise nicht bedeute: es bedeute vielmehr, daß sie sich im richtigen Kanal des Flusses befänden, solange sie zwei der Küstenlichter, eines nahe, eines ferne, genau nebeneinander sähen; wenn aber das eine der Lichter sich hinter dem anderen verberge, dann laufe man auf Felsen auf. Er vernahm Fanshaw hinzufügen, daß sein Land voll solcher seltsamer Märchen und Redensarten sei; es sei die wahre Heimat romantischer Dichtung; er beanspruchte sogar für diesen Teil Cornwalls vor Devonshire den Lorbeer elisabethanischer Seefahrerkunst. Er erzählte, daß es zwischen diesen Buchten und Inselchen Kapitäne gegeben habe, neben denen Drake sozusagen eine Landratte gewesen sei. Er vernahm Flambeau lachen und fragen, ob vielleicht der Abenteuerruf »Westward Ho!« nur bedeute, daß alle Devonshirer in Cornwall leben wollten. Er vernahm Fanshaw sagen, daß es da keinen Grund für Albereien gebe; daß kornische Kapitäne nicht nur Helden gewesen seien, sondern es immer noch wären: daß ganz in der Nähe ein alter Admiral im Ruhestand lebe, zernarbt von aufregenden Reisen voller Abenteuer, der in seiner Jugend die letzte Gruppe von 8 Südseeinseln gefunden habe, die der Weltkarte hinzugefügt wurden. Dieser Cecil Fanshaw verkörperte jene Art, die gewöhnlich einen derben aber fröhlichen Enthusiasmus verbreitet; ein junger Mann, blond, mit frischen Farben und einem lebhaften Profil; mit lausbübisch herausforderndem Geist, aber einer fast mädchenhaften Feinheit von Teint und Typus. Die breiten Schultern, die schwarzen Brauen, der schwarze Musketiersauftritt Flambeaus bildeten da den größten Gegensatz.

Alle diese Trivialitäten hörte und sah Brown; aber er hörte sie, wie ein müder Mann eine Melodie im Rattern der Eisenbahnräder hört, und sah sie, wie ein kranker Mann die Muster seiner Zimmertapeten sieht. Niemand kann die Stimmungsumschwünge in der Genesung vorhersagen: Aber Father Browns Niedergeschlagenheit hatte wohl zum großen Teil mit seiner Unvertrautheit mit der See zu tun. Denn als die Flußmündung sich wie ein Flaschenhals verengte, das Wasser ruhiger wurde und die Luft wärmer und mehr nach Land roch, schien er wie ein neugeborener Säugling aufzuwachen und aufzumerken. Sie hatten diese Phase kurz nach Sonnenuntergang erreicht, als Luft und Wasser noch hell waren, aber die Erde und alle auf ihr wachsenden Dinge im Vergleich schon fast schwarz aussahen. An diesem besonderen Abend war aber etwas Ungewöhnliches. Es war eine jener seltenen Stimmungen, in der ein rauchschwarzes Glas zwischen uns und der Natur weggeschoben worden zu sein scheint, so daß an einem solchen Tag selbst dunkle Farben leuchtender wirken als helle Farben an einem wolkigeren Tag. Die zertrampelte Erde der Uferbänke und die Torfbrühe in den Tümpeln wirkten nicht dreckig, sondern wie glühendes Goldbraun, und die dunklen Wälder, die sich in der Brise wiegten, wirkten nicht wie üblich matt bläulich durch die Tiefe der Entfernung, sondern eher wie winddurchwogte Massen kräftig violetter Blüten. Diese zauberische Klarheit und die Nachdrücklichkeit der Farben zwangen sich Browns langsam wiedererwachenden Sinnen auch noch durch irgend etwas Romantisches und sogar Geheimnisvolles in der Form der Landschaft selbst auf.

Der Fluß war immer noch breit und tief genug für ein Vergnügungsboot so klein wie ihres; aber die Schwünge der Landschaft deuteten an, daß sie sich auf beiden Seiten enger zusammenzog; die Wälder schienen abgebrochene und flüchtige Versuche zu unternehmen, Brücken zu schlagen – als ob das Boot aus der Romantik eines Tales in die Romantik eines Hohlweges und hinein in die noch tiefere Romantik eines Tunnels gleite. Jenseits dieser äußeren Ansicht der Dinge gab es wenig Nahrung für Browns sich erfrischende Phantasie; er sah keine Menschen außer einigen Zigeunern, die mit Bündeln im Walde geschnittenen Reisigs und Ruten von Korbweiden am Ufer dahinzogen; und einen nicht länger unüblichen, aber in so abgelegenen Gegenden immer noch ungewöhnlichen Anblick: eine dunkelhaarige Dame mit unbedecktem Kopf, die ihr eigenes Kanu paddelte. Falls Father Brown ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit gewidmet haben sollte, so vergaß er sie hinter der nächsten Biegung des Flusses, die ein einzigartiges Objekt in den Blick rückte.

Die Wasserfläche schien sich zu verbreitern und aufzureißen, zerspalten vom dunklen Keil eines fischförmigen und bewaldeten Inselchens. Bei der Fahrt, die sie machten, schien das Inselchen ihnen wie ein Schiff entgegenzuschwimmen; ein Schiff mit einem sehr hohen Bug – oder besser gesagt mit einem sehr hohen Schlot. Denn am äußersten, ihnen am nächsten Punkt erhob sich ein sonderbar aussehendes Bauwerk, ungleich allem, woran sie sich erinnern oder das sie mit irgendeinem Zweck verbinden konnten. Es war nicht besonders hoch, aber es war für seine Breite zu hoch, als daß man es anders denn einen Turm hätte nennen können. Jedoch schien es ausschließlich aus Holz erbaut zu sein, und das in einer höchst ungleichmäßigen und exzentrischen Weise. Manche der Planken und Balken waren aus guter abgelagerter Eiche; manche andere aus dem gleichen Holz, aber grob und kürzlich zugeschnitten; andere wieder waren aus weißem Fichtenholz, und noch viel mehr aus dem gleichen Holz, aber schwarz geteert. Diese schwarzen Balken hatte man schief und die Kreuz und Quer in allen möglichen Winkeln eingesetzt, was dem Ganzen ein höchst zusammengeflicktes und verwirrendes Äußeres verlieh. Es gab ein oder zwei Fenster, die auf altmodische Weise aber in einem feineren Stil bunte, bleigefaßte Scheiben hatten. Die Reisenden sahen sich das mit jenem paradoxen Gefühl an, das uns überkommt, wenn etwas uns an etwas erinnert und wir doch sicher sind, daß es etwas ganz anderes ist.

Father Brown vermochte, selbst wenn er verwirrt war, klug seine Verwirrung zu analysieren. Und er entdeckte sich beim Nachsinnen darüber, ob das Sonderbare nicht daher rühre, daß eine bestimmte Form aus einem völlig unpassenden Material geschnitten sei; als ob man einen Zylinder aus Zinn sähe, oder einen Frack aus buntkariertem Schottentartan. Er war sich sicher, daß er Hölzer verschiedener Farben schon einmal ähnlich zusammengefügt gesehen hatte, niemals aber in solchen architektonischen Proportionen. Im nächsten Augenblick sagte ihm ein Blick durch die dunklen Bäume alles, was er zu wissen wünschte, und er lachte. Für einen Augenblick erschien da in einer Lücke im Laubwerk eines jener alten Holzhäuser, deren Vorderseite mit schwarzen Balken ausgelegt ist und die man immer noch hier und da in England finden kann, die aber die meisten von uns als Nachahmungen in Ausstellungen mit Titeln wie »Alt-London« oder »Shakespeares England« sehen. Es blieb gerade lange genug in Sicht, daß der Priester es, wie altmodisch auch immer, als ein bequemes und wohlgepflegtes Landhaus erkennen konnte, mit Blumenbeeten davor. Es hatte nichts von dem buntscheckigen und verrückten Anblick des Turmes an sich, der aus seinen Überbleibseln zusammengestoppelt erschien.

»Was in aller Welt ist denn das?« fragte Flambeau, der immer noch den Turm anstarrte.

Fanshaws Augen leuchteten auf, und triumphierend sagte er: »Aha! Ich kann mir vorstellen, daß Sie so was nie zuvor gesehen haben; deshalb habe ich Sie hergebracht, mein Freund. Nun sollen Sie selbst sehen, ob ich im Hinblick auf die Seeleute von Cornwall übertrieben habe. Dieser Besitz gehört dem alten Pendragon, den wir den Admiral nennen, obwohl er in den Ruhestand trat, ehe er diesen Rang noch erreicht hatte. Der Geist von Raleigh und Hawkins ist für die Devon-Leute eine Erinnerung; bei den Pendragons ist er moderne Tatsache. Wenn Königin Elisabeth aus dem Grabe erstünde und in einer goldenen Barke diesen Fluß heraufkäme, würde sie vom Admiral in genau so einem Haus empfangen, wie sie es gewohnt war, mit jeder Ecke und jedem Fensterflügel, mit jedem Wandpaneel und jedem Teller auf dem Tisch. Und sie würde einen englischen Seekapitän vorfinden, der immer noch so begeistert von der Suche in kleinen Schiffen nach unbekannten Ländern erzählt, als ob sie mit Drake dinierte.«

»Und im Garten würde sie ein wunderliches Ding finden«, sagte Father Brown, »das ihrem Renaissance-Auge gar nicht gefallen würde. Diese elisabethanische Art Häuser zu bauen ist auf ihre Weise bezaubernd; aber es widerspricht ihrem Wesen, in Türmchen auszubrechen.«

»Und doch«, antwortete Fanshaw, »ist das gerade der romantischste und elisabethanischste Teil der Geschichte. Der Turm wurde zur Zeit der Kriege mit Spanien von den Pendragons erbaut; und obwohl er Reparaturen und aus anderen Gründen sogar einen Wiederaufbau brauchte, wurde er doch immer wieder in der alten Weise errichtet. Man erzählt, daß die Gemahlin von Sir Peter Pendragon ihn an diesem Platz und mit dieser Höhe errichten ließ, weil man von seiner Spitze aus gerade jene Biegung erblicken kann, um welche die Schiffe in die Flußmündung einbiegen; und sie wollte die erste sein, die das Schiff ihres Gemahls erblickte, wie er es aus der spanischen Karibik nach Hause brachte.«

»Und aus welchem anderen Grunde«, fragte Father Brown, »wurde er, wie Sie sagen, wieder aufgebaut?«

»Oh, auch dazu gibt es eine seltsame Geschichte«, sagte der junge Landjunker voller Freude. »Sie sind wirklich in einem Land der seltsamen Geschichten. König Artus war hier mit Merlin, und vor ihm die Feen. Man erzählt sich, daß Sir Peter Pendragon, der (fürchte ich) einige der Fehler der Piraten nebst allen Tugenden des Seemanns besaß, drei spanische Edelleute in ehrenhafter Gefangenschaft mit zurück nach Hause brachte, um sie zum Hofe der Königin Elisabeth zu geleiten. Aber er war ein Mann vom flammenden Temperament eines Tigers, und als es zu einem heftigen Wortwechsel mit einem von ihnen kam, packte er ihn bei der Gurgel und schleuderte ihn zufällig oder absichtlich in die See. Ein zweiter Spanier, der Bruder des ersten, zog daraufhin sofort seinen Degen und griff Pendragon an, und nach einem kurzen aber wilden Kampf, während dem beide drei Wunden in ebenso vielen Minuten empfingen, stieß Pendragon dem anderen seine Klinge durch den Leib, und damit war auch der zweite Spanier erledigt. Nun war das Schiff bereits in die Flußmündung eingeschwenkt und verhältnismäßig flachem Wasser nahe. Da sprang der dritte Spanier über Bord, schwamm aufs Ufer zu und war ihm bald nahe genug, daß er bis zu den Hüften im Wasser stehen konnte. Und da wandte er sich erneut dem Schiff zu und reckte beide Arme zum Himmel empor – wie ein Prophet, der die Pest auf eine gottlose Stadt herabbeschwört – und schrie Pendragon mit durchdringender und schrecklicher Stimme zu, daß wenigstens er noch lebe, daß er weiterleben werde, daß er für immer leben werde; und daß vom Hause der Pendragons Generation um Generation weder ihn noch die Seinen je wiedersehen würde, aber durch höchst sichere Zeichen stets wissen werde, daß er und seine Rache lebendig seien. Damit tauchte er in eine Welle und ertrank entweder, oder schwamm so lange unter Wasser, daß kein Haar seines Hauptes je wieder gesehen ward.«

»Da ist das Mädchen im Kanu wieder«, sagte Flambeau zusammenhanglos, denn gutaussehende junge Frauen konnten ihn von jedem Thema abbringen. »Ihr scheint der eigenartige Turm ebenso verwirrend vorzukommen wie uns.«

Und wirklich ließ die schwarzhaarige junge Dame ihr Kanu langsam und schweigend an der sonderbaren Insel vorübertreiben; und blickte den sonderbaren Turm aufmerksam an, wobei auf ihrem ovalen olivfarbenen Antlitz hell die Neugier brannte.

»Kümmern Sie sich nicht um Mädchen«, sagte Fanshaw ungeduldig; »von denen gibt es viele auf der Welt, aber nicht viele Dinge wie den Turm der Pendragons. Wie Sie sich leicht vorstellen können, entstanden aus dem Fluch des Spaniers viele abergläubische Geschichten und Skandale; und ohne jeden Zweifel wurde, wie Sie sagen würden, jedes Unglück, das dieser kornischen Familie zustieß, von ländlicher Leichtgläubigkeit mit ihm in Verbindung gebracht. Aber vollkommen wahr ist, daß dieser Turm zwei- oder dreimal niederbrannte; und man kann die Familie nicht vom Glück begünstigt nennen, denn meines Wissens sind mehr als zwei der nächsten Anverwandten des Admirals bei Schiffsuntergängen umgekommen; und wenigstens einer, nach meinen eigenen Kenntnissen, an praktisch eben der Stelle, wo Sir Peter den Spanier über Bord geworfen hat.«

»Wie schade!« rief Flambeau aus. »Sie macht sich davon.«

»Wann hat Ihnen Ihr Freund der Admiral diese Familiengeschichte erzählt?« fragte Father Brown, als das Mädchen im Kanu davonpaddelte, ohne die geringste Absicht zu zeigen, ihr Interesse vom Turm auf die Jacht auszudehnen, die Fanshaw inzwischen längsseits der Insel hatte anlegen lassen.

»Vor vielen Jahren«, erwiderte Fanshaw; »er ist seit einiger Zeit nicht mehr zur See gefahren, obwohl er darauf immer noch so scharf ist wie nur je. Ich glaube, es gibt da ein Familienabkommen oder so was. Aber hier ist der Landungssteg; gehen wir an Land und begrüßen wir den alten Knaben.«

Sie folgten ihm unmittelbar unter dem Turm durch auf die Insel, und Father Brown schien, ob nun durch die einfache Berührung trockenen Landes oder durch etwas Interessantes auf dem anderen Ufer des Flusses (wohin er einige Sekunden lang sehr aufmerksam starrte), auf einmalige Weise an Frische zu gewinnen. Sie kamen in eine Allee zwischen zwei Zäunen aus dünnem gräulichem Holz, wie sie oftmals Parks und Gärten einfassen, und über die hinweg man die Gipfel der dunklen Bäume hin und her schwingen sah wie schwarze und purpurne Federn auf dem Leichenwagen eines Riesen. Der Turm sah, als sie ihn hinter sich zurückließen, um so merkwürdiger aus, denn solche Einfahrten werden meist von zwei Türmen flankiert; und dieser eine hier sah daher schief aus. Davon abgesehen bot die Allee den üblichen Anblick einer Auffahrt zu einem Herrenhaus; und da sie so geschwungen verlief, daß das Haus jetzt außer Sicht geriet, erweckte der Park den Eindruck, viel größer zu sein, als irgendeine Anpflanzung auf dieser Insel in Wahrheit sein konnte. Father Browns Phantasie war vielleicht durch seine Mattigkeit etwas angeregt, aber fast glaubte er, die ganze Anlage dehne sich aus, wie Dinge das in einem Alptraum tun. Wie auch immer: Eine mystische Monotonie war die einzige Eigenschaft ihres Marsches, bis Fanshaw plötzlich stehenblieb und auf etwas hinwies, das durch den grauen Zaun stach – etwas, das zuerst nach dem festgekeilten Horn eines Tieres aussah. Nähere Betrachtung erwies hingegen, daß es eine leicht gebogene Klinge aus Metall war, die schwach im schwindenden Licht schimmerte.

Flambeau, der wie alle Franzosen Soldat gewesen war, beugte sich über sie und sagte mit aufgeschreckter Stimme: »Wie denn, das ist ja ein Säbel! Ich glaube, ich kenne die Sorte, schwer und gebogen, aber kürzer als bei der Kavallerie; man hatte solche gewöhnlich bei der Artillerie und bei – «

Doch während er noch sprach, zog sich die Klinge aus dem Spalt heraus, den sie gemacht hatte, und sauste dann in einem mächtigeren Hieb nieder und spaltete den aufklaffenden Zaun bis zum Boden mit einem berstenden Geräusch. Dann wurde sie wieder herausgezogen, blitzte einige Schritte weiter über dem Zaun auf und spaltete ihn wiederum bis zur Hälfte mit dem ersten Streich; und nachdem sie ein bißchen hin und her gewackelt hatte, um sich (begleitet von Flüchen in der Dunkelheit) zu befreien, spaltete sie ihn mit einem zweiten bis zum Boden. Dann schleuderte ein Tritt von geradezu teuflischer Kraft das ganze gelöste Viereck dünnen Holzes auf den Fußweg, und in der Umzäunung gähnte ein großes Loch dunklen Gebüschs.

Fanshaw blickte in die dunkle Öffnung und stieß einen Ausruf des Erstaunens aus. »Mein lieber Admiral!« rief er aus. »Schneiden Sie – err – schneiden Sie sich immer eine neue Vordertür zurecht, wenn Sie spazierengehen wollen?«

Die Stimme im Düster fluchte erneut und brach dann in ein heiteres Lachen aus. »Nein«, sagte sie; »ich mußte diesen Zaun wirklich irgendwie kleinhauen; er schädigt all die Pflanzen, und außer mir kann es niemand hier tun. Aber ich will noch ein weiteres Stück aus der Vordertür schnitzeln und dann rauskommen und Sie begrüßen.«

Und wirklich schwang er die Waffe erneut empor und legte mit zwei Hieben einen weiteren ähnlichen Streifen Zaun um, wodurch die Öffnung alles in allem 14 Fuß breit wurde. Dann trat er durch dieses verbreiterte Waldtor ins Abendlicht heraus, und ein Stück grauen Holzes stak auf seiner Säbelspitze.

Für den Augenblick erfüllte er Fanshaws ganze Erzählung von einem alten piratischen Admiral; obwohl die Einzelheiten sich hernach in Zufälligkeiten aufzulösen schienen. So trug er zum Beispiel einen breitrandigen Hut als Schutz gegen die Sonne; aber die Vorderkrempe war himmelwärts hochgebogen und die beiden Ecken tiefer hinabgezogen als die Ohren, so daß er ihm halbmondförmig über der Stirne stand wie einst der alte Dreispitz, den Nelson trug. Er trug eine gewöhnliche dunkelblaue Jacke, deren Knöpfe nichts Besonderes hatten, die aber in Verbindung mit den weißen Leinenhosen einen irgendwie seemännischen Anblick bot. Er war groß und schlaksig und ging mit einem gewissermaßen wiegenden Gang, der nicht direkt der Seemannsgang war und doch irgendwie an ihn erinnerte; und in der Hand hielt er einen kurzen Säbel, der wie ein Entermesser der Marine aussah, aber etwa doppelt so lang war. Unter dem Brückenbogen seines Hutes blickte sein Adlerantlitz beutelustig hervor, um so mehr, als es nicht nur glattrasiert war, sondern auch keine Augenbrauen hatte. Es sah aus, als sei ihm all sein Haar aus dem Gesicht geschwunden, weil er es durch das Dräuen der Elemente gedrängt hatte. Seine Augen standen vor und waren durchdringend. Seine Gesichtsfarbe war eigenartig anziehend, da sie teils tropisch war; sie erinnerte einen von ferne an eine Blutorange. Denn wiewohl sie rötlich und gut durchblutet war, gab es etwas Gelbes darin, das aber in keiner Weise kränklich wirkte, sondern eher zu glühen schien, wie die goldenen Äpfel der Hesperiden. Father Brown dachte, daß er noch nie eine Gestalt gesehen hatte, die all die romantischen Erzählungen aus den Ländern der Sonne so sehr verkörperte.

Nachdem Fanshaw seine beiden Freunde ihrem Gastgeber vorgestellt hatte, verfiel er wieder in Spöttereien über jene Zerstörung des Zaunes und seine offenkundige Lust am Fluchen. Der Admiral spielte das zuerst als ein Stück nötiger aber langweiliger Gartenarbeit herab, bis schließlich der Klang wirklicher Energie wieder in sein Gelächter zurückkehrte und er in einer Mischung aus Ungeduld und guter Laune ausrief:

»Na schön, vielleicht treib ich’s ja ein bißchen rabiat und empfinde auch ein gewisses Vergnügen daran, etwas zusammenzuhauen. Das würde Ihnen auch so ergehen, wenn Ihre wahre Freude darin bestand, um die Welt zu segeln und nach noch unbekannten Menschenfresser-Eilanden zu suchen, und wenn Sie dann in diesem schlammigen kleinen Steingarten inmitten eines ländlichen Teichs festsäßen. Wenn ich daran denke, wie ich anderthalb Meilen grünen, giftigen Dschungels mit einem alten Entermesser halb so scharf wie dieses niedergemacht habe, und dann daran denke, daß ich hier feststecke und dieses Streichhölzerholz zerhacke, und das bloß wegen eines verfluchten alten Handels, der in die Familienbibel gekritzelt ist, dann möchte ich – «

Er schwang den schweren Stahl erneut hoch, und diesmal spaltete er die Wand aus Holz von oben bis unten mit einem einzigen Streich.

»Danach ist mir«, sagte er lachend, schleuderte aber den Säbel zornig einige Meter den Fußpfad hinab, »und nun wollen wir ins Haus gehen; Sie müssen was zum Abendessen haben.«

Der Halbkreis von Rasen vor dem Haus wurde von drei kreisrunden Blumenbeeten unterbrochen, eines voller roter Tulpen, ein zweites voller gelber Tulpen und das dritte voller weißer, wächsern aussehender Blumen, welche die Besucher nicht kannten und für exotisch hielten. Ein plumper, behaarter und ziemlich mürrisch aussehender Gärtner war dabei, eine schwere Gartenschlauchrolle aufzuhängen. Die Ecken des erlöschenden Sonnenuntergangs, die sich an den Ecken des Hauses festzuklammern schienen, ließen hie und da Blicke auf die Farben weiter entfernter Blumenbeete zu; und in einer baumlosen Lichtung auf der einen Seite des Hauses, die sich zum Fluß hin öffnete, stand ein großes messingnes Dreibein, auf dem sich ein geneigtes großes messingnes Teleskop befand. Unmittelbar neben den Türstufen stand ein kleiner grün angestrichener Gartentisch, als ob dort gerade jemand seinen Tee genossen hätte. Den Eingang flankierten zwei jener roh behauenen Steinklumpen mit Löchern als Augen, von denen man sagt, sie seien Südseegötzen; und in dem braunen Eichenbalken über der Tür waren einige unordentliche Schnitzereien, die fast ebenso barbarisch aussahen.

Als sie eintraten, sprang der kleine Kleriker plötzlich auf den Tisch und stand dort und starrte ungerührt durch seine Brille auf die Einkerbungen im Eichenbalken. Admiral Pendragon sah sehr erstaunt aus, wenngleich nicht besonders unangenehm berührt; während Fanshaw sich durch das, was wie die Vorführung eines Zwerges auf seinem Podest aussah, so erheitert fühlte, daß er sein Gelächter nicht beherrschen konnte. Aber Father Brown war nicht von der Art, daß er das Gelächter oder das Erstaunen wahrgenommen hätte.

Er starrte auf drei eingeschnitzte Symbole, die ihm, obwohl sehr verwittert und nachgedunkelt, irgendeinen Sinn zu übermitteln schienen. Das erste ähnelte dem Umriß eines Turmes oder eines anderen Gebäudes, das von etwas bekrönt war, was wie an den Enden gekräuselte Bänder aussah. Das zweite war deutlicher: eine alte elisabethanische Galeere auf dekorativen Wellen, in der Mitte von einem sonderbar gezackten Felsen unterbrochen, entweder einem Fehler im Holze oder irgendeiner stilisierten Darstellung eines Wassereinbruchs. Das dritte stellte die obere Hälfte eines Menschen dar, die in einer muschelrandartigen Wellenlinie endete; das Gesicht war abgerieben und ohne Gesichtszüge, und beide Arme wurden sehr steif in die Höhe gehalten.

»Aha«, murmelte Father Brown blinzelnd, »das hier ist deutlich genug die Geschichte vom Spanier. Hier hält er seine Arme hoch und steht verfluchend in der See; und hier sind die beiden Flüche: das zerborstene Schiff und der Brand des Turms der Pendragons.«

Pendragon schüttelte den Kopf in respektvoller Belustigung. »Und was es sonst nicht alles sein könnte«, sagte er. »Kennen Sie denn nicht jene Art von Halbmenschen oder Halblöwen oder Halbhirschen, die in der Heraldik durchaus geläufig sind? Könnte nicht diese Wellenlinie durch das Schiff eine jener Parti-per-pale-Linien sein, gezickzackt, wie man sie wohl nennt? Und obwohl das dritte Ding nicht so besonders heraldisch aussieht, wäre es doch heraldischer anzunehmen, es sei ein mit Lorbeer statt mit Feuer bekrönter Turm; und es sieht aus, als sei es gerade das.«

»Aber es erscheint doch reichlich merkwürdig«, sagte Flambeau, »daß es so genau zu der alten Legende paßt.«

»Ach«, sagte der skeptische Weltumsegler, »Sie wissen ja nicht, wieviel von der alten Legende sich aus diesen alten Figuren entwickelt haben mag. Und außerdem ist es nicht die einzige alte Legende. Unser Fanshaw, der sich für solche Dinge sehr interessiert, wird Ihnen sagen, daß es noch andere Versionen der Geschichte gibt, und sehr viel entsetzlichere. Eine Variante schreibt meinem unseligen Vorfahr zu, daß er den Spanier in zwei Teile gehauen habe; und das paßte ebenfalls zu dem hübschen Bildchen. Eine andere schreibt unserer Familie liebenswürdigerweise den Besitz eines Turmes voller Schlangen zu und erklärt damit diese kleinen, sich windenden Dinger. Und eine dritte Theorie unterstellt, daß die gezackte Linie am Schiff einen stilisierten Blitz darstellen soll; aber schon das zeigt, wenn man es denn ernsthaft untersucht, auf wie kurzen Beinen diese unglücklichen Zufälligkeiten wirklich wandeln.«

»Wieso, was meinen Sie?« fragte Fanshaw.

»Zufälligerweise«, erwiderte der Gastgeber kühl, »steht fest, daß es bei keinem der zwei oder drei Schiffbrüche in meiner Familie, von denen ich weiß, Donner und Blitz gab.«

»Oh!« sagte Father Brown und sprang von dem kleinen Tisch herunter.

Es folgte ein Schweigen, in dem sie das endlose Murmeln des Flusses hörten; dann sagte Fanshaw in zweifelndem und vielleicht enttäuschtem Ton: »Dann glauben Sie also nicht an die Geschichten vom Turm in Flammen?«

»Da sind natürlich diese Geschichten«, sagte der Admiral und zuckte mit den Schultern, »von denen einige, was ich gar nicht bestreiten will, sich auf so ehrbare Beweise stützen, wie man sie für solche Fragen nur bekommen kann. Irgend jemand sah hier in der Gegend einen Feuerschein, wissen Sie, als er durch den Wald nach Hause wanderte; irgend jemand, der landeinwärts auf der Hochebene seine Schafe hütete, glaubte, er habe eine Flamme über dem Turm der Pendragons schweben gesehen. Na ja, aber ein nasser Haufen Schlamm wie diese verdammte Insel ist nun wirklich der letzte Ort, an dem man einen Brand vermuten sollte.«

»Was ist das für ein Feuer da drüben?« fragte Father Brown mit sanfter Plötzlichkeit, wobei er auf die Wälder am linken Flußufer zeigte. Das brachte sie alle etwas aus der Fassung, und der phantasiereichere Fanshaw hatte sogar einige Schwierigkeiten, seine zurückzugewinnen, als sie eine lange dünne Säule blauen Rauches lautlos ins ersterbende Abendlicht aufsteigen sahen.

Dann brach Pendragon wieder in ein spöttisches Lachen aus. »Zigeuner!« sagte er. »Sie lagern da seit rund einer Woche. Meine Herren, Sie werden Hunger haben«, und er wandte sich um, um ins Haus zu gehen.

Aber die abergläubische Lust des Liebhabers von Altertümlichem in Fanshaw bebte noch nach, und er sagte hastig: »Aber, Admiral, was ist das zischelnde Geräusch nahe der Insel? Das klingt sehr nach Feuer.«

»Das klingt mehr nach dem, was es ist«, lachte der Admiral, als er voranschritt; »das ist nur ein vorbeifahrendes Kanu.«

Noch während er sprach, erschien der Butler, ein hagerer Mann in Schwarz, mit sehr schwarzem Haar und einem sehr langen gelben Gesicht, in der Tür und verkündete, das Abendessen sei aufgetragen.

Das Speisezimmer war so schiffsmäßig wie eine Kabine an Bord; aber die Ausstattung entsprach eher einem modernen als einem elisabethanischen Kapitän. Zwar hingen da tatsächlich drei altertümliche Entermesser wie Trophäen über dem Kamin, und eine vergilbte Weltkarte aus dem 16. Jahrhundert mit Tritonen und auf eine gekräuselte See hingetupften kleinen Schiffen. Aber die traten auf der weißen Täfelung weniger hervor als einige Kästen mit seltsam bunten südamerikanischen Vögeln, sehr fachmännisch ausgestopft, mit phantastischen Muscheln aus der Südsee und einigen Instrumenten von so grober und eigenartiger Form, daß Wilde sie ebensowohl zum Töten wie zum Kochen ihrer Feinde verwendet haben mochten. Aber die fremdartige Farbigkeit gipfelte in der Tatsache, daß außer dem Butler die beiden einzigen Bediensteten des Admirals zwei Neger waren, einigermaßen sonderbar in engsitzende gelbe Uniformen gekleidet. Des Priesters instinktiver Trick, seine eigenen Eindrücke zu analysieren, teilte ihm mit, daß die Farbe und die kleinen sauberen Rockschöße dieser Zweibeiner ihm das Wort »Kanarienvögel« aufgedrängt hatten und sie so durch ein Wortspiel mit Südreisen in Verbindung brachten. Gegen Ende der Mahlzeit entfernten sie ihre gelbe Kleidung und ihre schwarzen Gesichter aus dem Raum und hinterließen lediglich die schwarze Kleidung und das gelbe Gesicht des Butlers.

»Tut mir leid, daß Sie das so leichtnehmen«, sagte Fanshaw zu dem Gastgeber; »denn ich habe, um die Wahrheit zu sagen, diese meine Freunde mitgebracht mit dem Hintergedanken, daß sie Ihnen helfen könnten, weil sie von solchen Dingen eine ganze Menge verstehen. Glauben Sie denn wirklich überhaupt nicht an diese Familiengeschichte?«

»Ich glaube an gar nichts«, antwortete Pendragon sehr aufgeräumt, indem er mit seinen hellen Augen einen roten tropischen Vogel schräg ansah. »Ich bin ein Mann der Wissenschaften.«

Zu Flambeaus ziemlicher Verblüffung nahm sein klerikaler Freund, der vollständig wach geworden zu sein schien, das Stichwort auf und diskutierte mit seinem Gastgeber Naturgeschichte mit einem Wortschwall und vielerlei unerwarteter Kenntnis, bis Nachtisch und Karaffen serviert waren und der letzte Bedienstete verschwunden war. Dann sagte er, ohne den Tonfall zu ändern:

»Bitte halten Sie mich nicht für unverschämt, Admiral Pendragon. Ich frage nicht aus Neugierde, sondern wirklich zu meiner Orientierung und zu Ihrer Bequemlichkeit. Irre ich mich, wenn ich annehme, daß Sie diese alten Dinge nicht vor Ihrem Butler besprechen möchten?«

Der Admiral wölbte die haarlosen Bögen über seinen Augen und rief aus: »Ich weiß zwar nicht, woher Sie das wissen, aber die Wahrheit ist, daß ich den Kerl nicht ausstehen kann, obwohl ich keinen Grund habe, einen Diener der Familie zu entlassen. Fanshaw mit seinen Gespenstergeschichten würde sagen, daß mein Blut sich gegen Männer mit so schwarzem, spanisch aussehendem Haar auflehnt.«

Flambeau schlug mit seiner schweren Faust auf den Tisch. »Bei Gott!« schrie er. »Und das hatte auch das Mädchen!«

»Ich hoffe, daß heute nacht alles aufhören wird«, fuhr der Admiral fort, »wenn mein Neffe heil von seinem Schiff zurückkommt. Sie sehen überrascht aus. Sie verstehen nichts, nehme ich an, wenn ich Ihnen nicht die ganze Geschichte erzähle. Sehen Sie, mein Vater hatte zwei Söhne; ich blieb Junggeselle, aber mein älterer Bruder heiratete und bekam einen Sohn, der wie wir alle Seemann wurde und eines Tages die Besitzung erben wird. Nun war mein Vater ein eigenartiger Mann; irgendwie verband sich in ihm Fanshaws Abergläubigkeit mit meiner Skepsis; sie kämpften ständig miteinander in ihm; und nach meinen ersten Reisen entwickelte er eine Vorstellung, die nach seiner Meinung endgültig klären sollte, ob der Fluch Wahrheit oder Wahn sei. Wenn alle Pendragons gleichzeitig herumsegelten, gab es nach seiner Meinung zu viele Möglichkeiten für natürliche Katastrophen, als daß sich daraus irgend etwas hätte beweisen lassen. Aber wenn wir jeweils nur einer zur See fahren würden in der strengen Reihung der Erbfolge, dann würde sich, so dachte er, zeigen können, ob tatsächlich der Familie als Familie ein Fluch folge. Ich hielt das für eine blödsinnige Idee, und ich stritt darüber mit meinem Vater recht heftig; denn ich war ein ehrgeiziger Mann und hatte bis zuletzt zu warten, da ich in der Erbfolge erst nach meinem eigenen Neffen komme.«

»Und Ihr Vater und Ihr Bruder«, sagte der Priester sehr sanft, »starben, fürchte ich, auf See.«

»Ja«, stöhnte der Admiral; »durch einen jener brutalen Zufälle, auf denen alle die verlogenen Mythologien der Menschheit aufbauen, wurden beide schiffbrüchig. Mein Vater, der aus dem Atlantik hereinkam, lief auf diese kornischen Felsen auf. Meines Bruders Schiff versank, niemand weiß wo, auf der Heimreise von Tasmanien. Seine Leiche wurde nie gefunden. Ich sage Ihnen, es waren ganz natürliche Unfälle; viele andere Menschen ertranken außer den Pendragons; und beide Unglücksfälle werden von Seefahrern als ganz normal besprochen. Aber natürlich setzte es diesen ganzen Wald des Aberglaubens in Brand; und man sah überall den brennenden Turm. Deshalb sagte ich, daß alles in Ordnung kommen wird, sobald Walter zurück ist. Das Mädchen, mit dem er verlobt ist, wollte heute herkommen; aber ich hatte solche Angst, eine zufällige Verzögerung könnte sie erschrecken, daß ich ihr telegraphiert habe, sie solle erst kommen, wenn sie von mir höre. Aber er war praktisch sicher, daß er irgendwann heute Nacht hier sein wird; dann wird sich alles in Rauch auflösen – in Tabaksrauch. Wir werden diese alten Lügen köpfen, wie wir eine Flasche dieses Weines köpfen werden.«

»Ausgezeichneter Wein«, sagte Father Brown und hob feierlich sein Glas; »aber, wie Sie sehen, ein sehr schlechter Weintrinker. Ich muß Sie sehr um Entschuldigung bitten«; denn er hatte ein paar Tropfen Weines auf dem Tischtuch verschüttet. Er trank und setzte das Glas mit gefaßtem Gesicht ab; aber seine Hand hatte gezuckt, als er sich eines Gesichtes bewußt geworden war, das durch das Gartenfenster gerade hinter dem Admiral lugte – das Gesicht einer Frau, mit dunklem Teint, mit südländischen Haaren und Augen, und jung, aber wie eine tragische Maske.

Und nach einer Weile sprach der Priester wieder in seiner milden Manier. »Admiral«, sagte er, »würden Sie mir einen Gefallen erweisen? Würden Sie mich und meine Freunde hier – wenn sie wollen – nur heute nacht in Ihrem Turm bleiben lassen? Wissen Sie, daß man in meinem Beruf fast vor allem anderen ein Teufelsaustreiber ist?«

Pendragon sprang auf und ging rasch vor dem Fenster hin und her, aus dem das Gesicht sofort verschwunden war. »Ich sage Ihnen doch, daß da nichts ist«, schrie er in dröhnendem Unmut. »Es gibt eines, was ich in dieser Angelegenheit weiß. Sie können mich einen Atheisten nennen. Ich bin ein Atheist.« Und er schwang sich herum und fixierte Father Brown mit einem Blick schrecklicher Konzentration. »Diese ganze Geschichte ist vollkommen natürlich. In ihr gibt es überhaupt keinen Fluch.«

Father Brown lächelte. »In dem Fall«, sagte er, »sollte es doch keinerlei Einspruch dagegen geben, daß ich in Ihrem hübschen Sommerhaus übernachte.«

»Der Gedanke ist vollkommen lächerlich«, erwiderte der Admiral und schlug auf der Lehne seines Stuhles den Zapfenstreich.

»Ich bitte wegen allem um Vergebung«, sagte Brown mit seiner liebenswürdigsten Stimme, »einschließlich des Weinvergießens. Aber mir scheint, daß Sie den brennenden Turm nicht ganz so leichtnehmen, wie Sie vorgeben.«

Admiral Pendragon setzte sich ebenso plötzlich wieder hin, wie er aufgesprungen war; aber er saß ganz still da, und als er wieder sprach, geschah das mit leiser Stimme. »Sie tun das auf Ihre eigene Gefahr«, sagte er; »aber würden nicht auch Sie zum Atheisten, um in all diesem Teufelsspuk den Verstand zu behalten?«


Etwa drei Stunden danach schlenderten Fanshaw, Flambeau und der Priester immer noch in der Dunkelheit im Garten umher; und es dämmerte den beiden anderen, daß Father Brown überhaupt nicht die Absicht hatte, sei es im Turm oder im Haus ins Bett zu gehen.

»Ich glaube, der Rasen muß gejätet werden«, sagte er träumerisch. »Wenn ich ein Jätemesser oder so was finden könnte, würde ich mich selbst daran machen.«

Sie folgten ihm, lachend und halb protestierend; aber er erwiderte ihnen in größter Feierlichkeit und erklärte ihnen in einer nervtötenden kleinen Predigt, daß man immer irgendeine kleine Arbeit finden könne, die anderen hilfreich sei. Er fand kein Jätemesser; aber er fand einen alten Reisigbesen, mit dem er energisch die gefallenen Blätter vom Rasen abzukehren begann.

»Immer gibt es Kleinigkeiten zu tun«, sagte er mit fast idiotischer Heiterkeit; »wie George Herbert sagt: ›Wer da den Garten eines Admirals in Cornwall um Deiner Gebote willen kehret, heiliget dadurch die Handlung und sich.‹ Und jetzt«, fügte er hinzu und schleuderte plötzlich den Besen beiseite, »wollen wir gehen und die Blumen wässern.«

Mit den gleichen gemischten Gefühlen beobachteten sie ihn, wie er beachtliche Längen des großen Gartenschlauchs abwickelte und dazu mit einem Ausdruck der bedeutungsvollsten Diskriminierung sagte: »Die roten Tulpen vor den gelben, nicht wahr? Sie sehen ein bißchen trocken aus, meint ihr nicht auch?«

Er drehte den Hahn auf, und das Wasser schoß heraus, so gerade und massiv wie eine lange Stahlstange.

»Aufgepaßt, Samson«, schrie Flambeau; »nun haben Sie doch die Tulpenköpfe abgeschnitten!«

Father Brown stand da und betrachtete reuevoll die enthaupteten Pflanzen.

»Mir scheint, ich habe da eine ziemlich mörderische Bewässerungsmethode«, gab er zu und kratzte sich am Kopf. »Es ist wirklich schade, daß ich kein Jätemesser gefunden habe. Ihr hättet mich erst mal mit einem Jätemesser sehen sollen! Apropos Handwerkszeug, haben Sie eigentlich den Stockdegen bei sich, Flambeau, den Sie sonst immer mit sich tragen? Das ist gut so; und Sir Cecil könnte sich den Säbel holen, den der Admiral an der Hecke fortgeschleudert hat. Wie grau alles aussieht!«

»Der Nebel steigt vom Fluß auf«, sagte der starr vor sich hin blickende Flambeau.

Fast noch während er sprach, erschien die mächtige Gestalt des behaarten Gärtners auf einer höheren Stufe des mit Gräbern und Terrassen angelegten Rasens und rief sie mit einer schrecklich bellenden Stimme an, während er wüst den Rechen schwang. »Legen Sie den Schlauch hin«, schrie er; »legen Sie den Schlauch hin und gehen Sie zum – «

»Ich bin so furchtbar ungeschickt«, erwiderte der ehrwürdige Herr mit schwacher Stimme; »wissen Sie, schon bei Tisch habe ich etwas Wein verschüttet.« Er machte eine schwankende, Entschuldigung heischende Halbwendung zum Gärtner hin, den spritzenden Wasserschlauch immer noch in der Hand. Den Gärtner traf der kalte Schwall Wassers ins Gesicht wie eine Kanonenkugel; er stolperte rückwärts, rutschte aus und ging zu Boden mit den Stiefeln himmelwärts.

»Wie entsetzlich!« sagte Father Brown und sah sich wie verwundert um. »Ich habe ja einen Menschen getroffen!«

Er stand einen Augenblick mit vorwärts geneigtem Kopf da, als betrachte oder höre er etwas; und dann setzte er sich in Richtung Turm in Trab und zerrte immer noch den Gartenschlauch hinter sich her. Der Turm war ganz nahe, aber seine Umrisse waren sonderbar undeutlich.

»Ihr Flußnebel«, sagte er, »hat einen eigenartigen Geruch.«

»Bei Gott, das hat er«, schrie Fanshaw mit schneeweißem Gesicht. »Aber Sie wollen doch nicht etwa behaupten – «

»Ich behaupte«, sagte Father Brown, »daß eine der wissenschaftlichen Voraussagen des Admirals heute nacht in Erfüllung geht. Diese Geschichte löst sich in Rauch auf.«

Während er noch sprach, schien ein wunderschönes rosenrotes Licht in die Blüte einer riesigen Rose aufzuplatzen; begleitet war das von einem krachenden und klappernden Geräusch wie dem Gelächter von Teufeln.

»Mein Gott! Was ist das?« schrie Sir Cecil Fanshaw.

»Das Zeichen des brennenden Turmes«, sagte Father Brown und schickte den Wasserstrahl aus seinem Schlauch in das Herz der roten Stelle.

»Wie gut, daß wir nicht zu Bett gegangen sind!« entfuhr es Fanshaw. »Ich nehme an, es kann nicht auf das Haus übergreifen.«

»Sie werden sich erinnern«, sagte der Priester ruhig, »daß der hölzerne Zaun, der es hätte weiterleiten können, weggehauen worden ist.«

Flambeau richtete seine Blicke wie elektrisiert auf seinen Freund, aber Fanshaw sagte lediglich abwesend: »Wenigstens kann niemand getötet werden.«

»Das ist wahrlich ein eigenartiger Turm«, bemerkte Father Brown; »wenn es ans Töten von Leuten geht, tötet er immer Leute, die gerade irgendwo anders sind.«

Im gleichen Augenblick erschien wieder die monströse Gestalt des Gärtners mit dem wallenden Bart auf der hohen Rasenkante vor dem Himmel und winkte anderen zu, heranzukommen; aber diesmal winkte er nicht mit einem Rechen, sondern mit einem Entermesser. Hinter ihm tauchten die beiden Neger auf, ebenfalls mit den krummen Klingen aus der Trophäensammlung bewaffnet. Aber in dem blutroten Schein sahen sie mit ihren schwarzen Gesichtern und gelben Gestalten aus wie Teufel, die Foltergeräte tragen. In dem düsteren Garten hinter ihnen hörte man eine ferne Stimme kurze Befehle rufen. Als der Priester diese Stimme hörte, fand in seiner Haltung eine schreckliche Verwandlung statt.

Aber er blieb gefaßt; und er nahm seinen Blick keine Sekunde lang von dem Feuerflecken fort, der sich zuerst ausgebreitet hatte, aber nun ein wenig zu schrumpfen schien, während er unter der Fackel des langen silbernen Wasserspeers zischte. Er behielt den Finger an der Öffnung des Schlauchs, um besser zielen zu können, und kümmerte sich um nichts anderes, und erkannte nur am Geräusch und aus den halbbewußten Augenwinkeln die aufregenden Vorgänge, die sich um den Inselgarten zu überschlagen begannen. Er gab seinen Freunden zwei kurze Anweisungen. Eine lautete: »Schlagt diese Kerle irgendwie nieder und bindet sie, wer immer sie sein mögen; Stricke liegen da bei den Reisigbündeln. Sie wollen mir meinen schönen Schlauch wegnehmen.« Die andere lautete: »Sobald ihr die Möglichkeit habt, ruft das Kanu-Mädchen an; sie ist da drüben auf dem Ufer bei den Zigeunern. Fragt sie, ob sie nicht ein paar Eimer herüberbringen und aus dem Fluß füllen können.« Dann schloß er den Mund und fuhr fort, die neue rote Blume ebenso gnadenlos zu wässern, wie er die roten Tulpen gewässert hatte.

Keinmal wandte er den Kopf, um den sonderbaren Kampf zu beobachten, der sich zwischen den Feinden und den Freunden des rätselvollen Feuers abspielte. Er fühlte fast, wie die Insel erbebte, als Flambeau mit dem riesenhaften Gärtner zusammenprallte; er stellte sich nur vor, wie alles um sie herum wirbelte, während sie miteinander rangen. Er hörte den dröhnenden Sturz; und das triumphierende Keuchen seines Freundes, als der sich auf den ersten der Neger stürzte; und die Schreie der beiden Schwarzen, als Flambeau und Fanshaw sie banden. Flambeaus ungeheure Stärke machte das Mißverhältnis im Kampfe mehr als wett, vor allem, da der vierte Mann sich immer noch nahe dem Hause herumdrückte, nur ein Schatten und eine Stimme. Er hörte auch, wie die Paddeln eines Kanus das Wasser teilten, wie die Stimme des Mädchens Anweisungen gab, wie die antwortenden Stimmen der Zigeuner näher kamen, und das platschende und schlürfende Geräusch leerer Eimer, die in einen vollen Fluß tauchten; und schließlich das Geräusch vieler Füße rund um das Feuer. Aber alles das bedeutete ihm weniger als die Tatsache, daß der rote Riß, der kürzlich wieder größer geworden war, erneut langsam kleiner wurde.

Dann erscholl ein Schrei, der ihn fast den Kopf hätte wenden machen. Flambeau und Fanshaw hatten sich, verstärkt durch einige der Zigeuner, auf den geheimnisvollen Mann beim Haus gestürzt; und jetzt hörte er vom anderen Ende des Gartens des Franzosen Schrei aus Entsetzen und Erstaunen. Ihm antwortete ein nicht mehr menschlich zu nennendes Heulen, als das Wesen sich aus ihrer Umklammerung löste und durch den Garten rannte. Dreimal mindestens rannte es um die ganze Insel, auf eine Weise, die so entsetzlich wie die Jagd auf einen Wahnsinnigen war, sowohl durch die Schreie des Verfolgten wie durch die Stricke der Verfolger; aber es war entsetzlicher noch, denn auf irgendeine Weise erinnerte es einen an die Haschmich-Spiele von Kindern im Garten. Und dann, als es sich auf allen Seiten eingekreist fand, sprang das Wesen auf eines der hohen Flußufer und verschwand mit einem Platschen im dunklen treibenden Fluß.

»Ihr könnt jetzt nichts mehr tun, fürchte ich«, sagte Brown mit einer Stimme, die vor Kummer kalt war. »Es wird ihn inzwischen gegen die Felsen geschmettert haben, wohin er so viele andere geschickt hat. Er wußte die Familienlegende gut zu nutzen.«

»Ach, reden Sie doch nicht immer in Bildern«, rief Flambeau ungeduldig. »Können Sie es denn nicht in einfachen Worten sagen?«

»Ja«, sagte Brown, mit dem Blick auf den Schlauch gerichtet:


»Beide Augen offen, läßt gute Fahrt erhoffen;

nur ein Auge blinkt, unser Schifflein sinkt.«


Das Feuer zischte und kreischte immer mehr, wie ein erwürgtes Wesen, während es unter den Fluten aus Schlauch und Eimern kleiner und kleiner wurde, aber Father Brown hielt auch weiterhin seinen Blick darauf gerichtet, während er fortfuhr:

»Wäre es schon Morgen, würde ich die junge Dame hier bitten, durch das Teleskop die Flußmündung und den Fluß zu beobachten. Dann könnte sie vielleicht etwas sehen, was sie interessiert: das Zeichen des Schiffes, oder Mr. Walter Pendragon, wie er heimkommt, und vielleicht sogar das Zeichen des Halbmannes, denn obwohl er inzwischen bestimmt in Sicherheit ist, mußte er doch möglicherweise ans Ufer waten. Er stand um Haaresbreite vor einem anderen Schiffbruch; und wäre ihm nimmer entkommen, hätte die Dame nicht genug Verstand gehabt, dem Telegramm des alten Admirals zu mißtrauen und herzukommen, um ihn zu überwachen. Aber wir wollen nicht vom alten Admiral sprechen. Wir wollen von nichts sprechen. Es genügt zu sagen, daß, wann immer dieser Turm aus Pechkiefer und harzigem Holz wirklich Feuer fing, sein Glutfunke am Horizont stets aussah wie das Zwillingslicht des Leuchtfeuers am Ufer.«

»Und so«, sagte Flambeau, »starben Vater und Bruder. Der böse Onkel aus der Legende hat schließlich fast doch noch den Besitz bekommen.«

Father Brown antwortete nicht; und wirklich sprach er außer einigen Höflichkeiten nicht wieder, ehe sie nicht alle sicher um eine Zigarrenkiste in der Kabine der Jacht saßen. Er sah, daß das erfolglose Feuer gelöscht war; und dann weigerte er sich, länger zu bleiben, obwohl er bereits den jungen Pendragon in Begleitung einer begeisterten Menge das Flußufer heraufmarschieren hörte; und er hätte (würde er sich von romantischer Neubegier haben bewegen lassen) die vereinten Danksagungen des Mannes vom Schiff und des Mädchens aus dem Kanu entgegennehmen können. Aber seine Mattigkeit hatte ihn erneut überfallen, und er fuhr nur einmal zusammen, als ihm Flambeau plötzlich sagte, daß er sich habe Zigarrenasche auf die Hose fallen lassen.

»Das ist keine Zigarrenasche«, sagte er müde. »Das kommt vom Feuer, aber daran denken Sie nicht, weil Sie alle Zigarren rauchen. Auf diese Weise ist mir übrigens mein erster Verdacht gegen die Karte gekommen.«

»Meinen Sie Pendragons Karte von seinen Südseeinseln?« fragte Fanshaw.

»Sie glaubten, es sei eine Karte der Südseeinseln«, antwortete Brown. »Packen Sie eine Feder und eine Versteinerung und ein Stückchen Koralle zusammen, und jeder wird glauben, es handele sich um ein Ausstellungsstück. Packen Sie dieselbe Feder mit einem Band und einer künstlichen Blume zusammen, und jeder wird glauben, es sei für den Hut einer Dame bestimmt. Packen Sie dieselbe Feder mit einem Tintenfaß, einem Buch und einem Haufen Manuskriptpapier zusammen, und die meisten werden schwören, sie hätten eine Schreibfeder gesehen. Nun haben Sie jene Karte zwischen tropischen Vögeln und Muscheln gesehen und haben angenommen, es sei eine Karte der Südseeinseln. Es war die Karte dieses Flusses hier.«

»Aber woher haben Sie das gewußt?« fragte Fanshaw.

»Ich habe den Felsen gesehen, der Ihnen wie ein Drache vorkam, und den anderen wie Merlin, und – «

»Sie haben anscheinend eine Menge bemerkt, als wir herkamen«, rief Fanshaw. »Und wir dachten, Sie wären reichlich abwesend.«

»Ich hatte die Seekrankheit«, sagte Father Brown einfach. »Ich fühlte mich einfach entsetzlich. Aber sich entsetzlich fühlen hat nichts mit Dinge nicht sehen zu tun.« Und er schloß die Augen.

»Glauben Sie, daß viele Menschen das bemerkt hätten?« fragte Flambeau. Er bekam keine Antwort: Father Brown war eingeschlafen.

Der Gott der Gongs

Es war einer jener kalten und leeren Nachmittage im frühen Winter, wenn das Licht des Tages eher nach Silber als nach Gold aussieht, und eher nach Zinn als nach Silber. Und wenn es in hunderten öder Büros und gähnender Salons trübselig war, so war es noch trübseliger entlang der flachen Strände in Essex, deren Monotonie um so unmenschlicher wirkte, weil sie in langen Abständen von Laternenpfählen unterbrochen wurde, die weniger zivilisiert als ein Baum aussahen, und von Bäumen, die häßlicher aussahen als Laternenpfähle. Ein leichter Schneefall war bis auf wenige Stellen wieder weggeschmolzen, die auch eher bleiern als silbern aussahen, nachdem sie das Siegel des Frostes befestigt hatte; frischer Schnee war nicht gefallen, aber ein Streifen des alten Schnees lief genau an der Küstenkante entlang, um so eine Parallele zum blassen Streifen der Gischt zu bilden.

Die Wasserlinie erschien im lebhaften Leuchten ihres violetten Blaus wie erfroren, wie die Ader in einem erfrorenen Finger. Auf Meilen und Meilen vorauf und zurück gab es keine atmende Seele, bis auf zwei Wanderer, die eilenden Schrittes dahinzogen, obwohl der eine sehr viel längere Beine hatte und sehr viel weiter ausschritt als der andere.

Weder der Ort noch das Wetter erschienen besonders geeignet für Ferien; aber Father Brown hatte selten Ferien und mußte sie sich nehmen, wann immer er konnte, und er zog es vor, sie wann immer möglich gemeinsam mit seinem alten Freund Flambeau zu nehmen, dem Ex-Verbrecher und Ex-Detektiv. Den Priester hatte die Laune überkommen, seine alte Gemeinde in Cobhole zu besuchen, und deshalb marschierte er nordostwärts die Küste entlang.

Nachdem sie ein oder zwei Meilen weiter gegangen waren, stellten sie fest, daß das Ufer begann, sich sozusagen formell zu befestigen, um so etwas wie eine Uferpromenade zu bilden; die häßlichen Straßenlaternen wurden weniger selten und standen nicht mehr so weit auseinander, und sie wurden ornamentreicher, ohne dadurch weniger häßlich zu sein. Eine halbe Meile weiter verwirrte Father Brown zunächst ein kleines Labyrinth von blumenlosen Blumentöpfen, von niedrigen, flachen, ruhigfarbenen Blattpflanzen überwuchert, die weniger nach einem Garten als vielmehr nach einem gewürfelten Pflaster aussahen und zwischen sanft geschwungenen Pfaden standen, mit Bänken übersät, deren Rücklehnen ebenfalls geschwungen waren. Ihm kam schwach der Geruch einer bestimmten Art von Seebadeorten in die Nase, die er nicht besonders liebte, und als er der See entlang über die Uferpromenade hinblickte, sah er, was jeden Zweifel ausschloß. In der grauen Entfernung erhob sich der große Musikpavillon eines Seebades wie ein gigantischer Pilz auf sechs Beinen.

»Ich nehme an«, sagte Father Brown, stellte den Mantelkragen hoch und zog sich seinen Wollschal enger um den Hals, »daß wir uns einem Vergnügungsort nähern.«

»Ich fürchte«, antwortete Flambeau, »einem Vergnügungsort, den gegenwärtig nur wenige Leute Lust haben, zum Ort ihres Vergnügens zu machen. Man versucht, diese Orte auch im Winter in Gang zu halten, aber das hat nirgendwo geklappt, mit Ausnahme von Brighton und den anderen alten Plätzen. Das hier muß Seawood sein, nehme ich an – Spekulationsobjekt von Lord Pooley; für Weihnachten hatte er die Sizilianischen Sängerknaben hierher engagiert, und es heißt, er wolle hier einen der großen Boxkämpfe veranstalten. Aber sie werden das ganze verrottete Ding ins Meer schmeißen müssen; es ist so trostlos wie ein verlorengegangener Eisenbahnwaggon.«

Sie waren unter dem großen Musikpavillon angekommen, und der Priester schaute auf zu ihm mit einer Neugier, die etwas Seltsames an sich hatte; den Kopf hatte er wie ein Vogel ein bißchen auf die Seite geneigt. Es war die übliche, für solche Zwecke reichlich aufgedonnerte Konstruktion: eine flache Kuppel, hier und da vergoldet, die sich über sechs schlanken Pfeilern aus bemaltem Holz erhob, und das Ganze errichtet rund 5 Fuß über der Uferpromenade auf einer runden hölzernen Plattform, wie auf einer Trommel. Irgend etwas Phantastisches am Schnee in der Verbindung mit irgend etwas Künstlichem am Gold suchte Flambeau wie seinen Freund mit Assoziationen heim, die er nicht fassen konnte, von denen er aber wußte, daß sie gleichermaßen künstlerisch wie fremdartig waren.

»Ich hab’s«, sagte er schließlich. »Das ist japanisch. Das ist wie diese phantastischen japanischen Drucke, wo der Schnee auf dem Berg wie Puderzucker aussieht, und das Gold auf den Pagoden wie das Gold auf Lebkuchen. Sieht ganz genau so aus wie ein kleiner heidnischer Tempel.«

»Ja«, sagte Father Brown. »Werfen wir einen Blick auf den Gott.« Und mit einer Beweglichkeit, die man ihm kaum zugetraut hätte, sprang er hinauf auf die erhöhte Plattform.

»Na schön«, lachte Flambeau; und im nächsten Augenblick war auch seine eigene hochragende Gestalt auf jener eigenartigen Erhebung sichtbar.

Obwohl der Höhenunterschied gering war, gab er doch in jenen flachen Weiten ein Gefühl, daß man noch weiter und immer weiter über Land und See schauen könne. Landeinwärts verblaßten die winterlichen kleinen Gärten zu wirrem grauem Gestrüpp; hinter diesem waren in der Ferne die langen niedrigen Scheunen eines einsamen Bauernhofes; und dahinter gab es nichts mehr als die weiten Ebenen Ostenglands. Seewärts gab es nicht Segel noch Lebenszeichen außer ein paar Seemöwen: und selbst die sahen eher aus wie die letzten Schneeflocken, und schienen eher zu treiben als zu fliegen.

Flambeau drehte sich auf einen Ausruf hinter ihm plötzlich um. Er schien von tiefer unten zu kommen, als man hätte erwarten sollen, und eher an seine Füße gerichtet als an seinen Kopf. Er streckte sofort die Hand aus, doch konnte er angesichts des Anblicks, der sich ihm bot, das Lachen kaum unterdrücken. Aus irgendeinem Grunde hatte die Plattform unter Father Brown nachgegeben, und der unglückliche kleine Mann war durchgebrochen bis hinab auf die Ebene der Uferpromenade. Er war gerade groß, oder klein, genug, daß sein Kopf allein aus dem Loch im zerbrochenen Holz herausragte und gerade so aussah wie das Haupt des heiligen Johannes des Täufers auf dem Tablett. Sein Gesicht trug einen Ausdruck der Fassungslosigkeit wie vielleicht auch das des heiligen Johannes des Täufers.

Einen Augenblick später begann er, ein bißchen zu lachen. »Das Holz muß verfault sein«, sagte Flambeau. »Obwohl es merkwürdig erscheint, daß es mich tragen kann, während Sie durch die verfaulte Stelle brechen. Lassen Sie mich Ihnen heraushelfen.«

Doch der kleine Priester besah sich neugierig die Kanten und Splitter des angeblich verfaulten Holzes, und auf seiner Stirn erschien ein Anflug von Besorgnis.

»Los doch«, rief Flambeau ungeduldig, der immer noch seine große braune Hand ausgestreckt hielt. »Oder wollen Sie nicht rauskommen?«

Der Priester hielt einen Splitter des zerbrochenen Holzes zwischen Zeigefinger und Daumen und antwortete nicht sofort. Schließlich sagte er nachdenklich: »Rauskommen? Eigentlich nicht. Ich glaube, ich möchte lieber reingehen.« Und damit tauchte er so jäh in die Dunkelheit unter dem Holzboden, daß der ihm seinen großen klerikalen Hut mit den hochgebogenen Krempen vom Haupte stieß und auf dem Bretterboden liegen ließ, ohne ein klerikales Haupt darinnen.

Flambeau schaute erneut landeinwärts und seewärts und konnte erneut nichts anderes erblicken als eine See so winterlich wie der Schnee, und Schnee so eben wie die See.

Dann erklang hinter ihm ein eilendes Geräusch, und der kleine Priester kam schneller aus dem Loch herausgekrochen, als er hineingestürzt war. Sein Gesicht sah nicht mehr fassungslos aus, sondern sehr entschlossen und, vielleicht durch den Widerschein des Schnees, ein bißchen blasser als gewöhnlich.

»Na?« fragte sein großer Freund. »Haben Sie den Gott des Tempels gefunden?«

»Nein«, antwortete Father Brown. »Ich habe gefunden, was manchmal noch wichtiger war. Das Opfer.«

»Was beim Teufel meinen Sie damit?« schrie Flambeau, aufs tiefste erschrocken.

Father Brown antwortete nicht. Er starrte mit gerunzelter Stirn in die Landschaft; und plötzlich wies er auf sie. »Was ist das da drüben für ein Haus?« fragte er.

Indem er seinem Finger folgte, sah Flambeau zum ersten Mal die Ecken eines Hauses, das näher stand als der Bauernhof, aber zum größten Teil von Bäumen verdeckt war. Es war kein großes Gebäude und stand ein gutes Stück vom Ufer entfernt; aber das Schimmern seiner Verzierungen verriet, daß es wie der Musikpavillon, die kleinen Gärten und die Eisenbänke mit den geschwungenen Rückenlehnen zur Promenadenanlage des Seebades gehörte.

Father Brown sprang vom Musikpavillon herab, und sein Freund folgte ihm; und als sie in die angegebene Richtung schritten, verschoben sich die Bäume nach rechts und links, und sie erblickten ein kleines, ziemlich aufgedonnertes Hotel, wie das in Seebädern üblich ist – Hotel mit Bar, und nicht mit Trinkstube. Fast die ganze Vorderfront bestand aus vergoldeter Stukkatur und Buntglas, und zwischen der grauen Küstenlandschaft und den grauen hexenhaften Bäumen wirkte sein verspielter Aufputz in seiner Melancholie fast gespenstisch. Sie hatten beide das undeutliche Gefühl, daß wenn einem in solch einer Gaststätte Speise oder Trank geboten wurde, es sich um den Pappmachéschinken und die leeren Humpen der Pantomime handeln müsse.

Das allerdings sollte sich nicht ganz bestätigen. Als sie näher und näher kamen, sahen sie vor dem Buffet, das offensichtlich geschlossen war, eine der eisernen Gartenbänke mit der geschwungenen Rückenlehne, die die Gärten verzierten, aber sehr viel länger, fast die gesamte Vorderfront entlang. Vermutlich hatte man sie so aufgestellt, damit Besucher dort Platz nehmen und auf die See hinausblicken konnten, aber man würde kaum erwarten, daß irgend jemand das in solchem Wetter täte.

Dennoch aber stand gerade vor dem äußersten Ende der Eisenbank ein kleiner runder Restauranttisch, und darauf standen eine Flasche Chablis und eine Schale mit Mandeln und Rosinen. Hinter dem Tisch saß auf der Bank ein dunkelhaariger junger Mann, der barhäuptig in einem Zustand der erstaunlichsten Unbeweglichkeit aufs Meer hinaus starrte.

Doch obwohl er auch eine Wachspuppe hätte sein können, als sie noch 4 Meter entfernt waren, sprang er wie der Teufel-aus-der-Kiste auf, als sie 3 Meter Distanz erreichten, und sagte in ehrerbietiger wenngleich nicht unterwürfiger Weise: »Wollen Sie nicht hereinkommen, meine Herren? Zwar ist gegenwärtig niemand vom Personal da, aber irgend etwas Einfaches kann ich Ihnen selbst vorsetzen.«

»Sehr liebenswürdig«, sagte Flambeau. »Dann sind Sie also der Besitzer?«

»Ja«, sagte der dunkle Mann und verfiel wieder ein bißchen in seine Bewegungslosigkeit. »Meine Kellner sind alle Italiener, müssen Sie wissen, und ich war der Meinung, daß es nur fair sei, wenn sie ihren Landsmann den Neger schlagen sehen, wenn er das wirklich schaffen kann. Wissen Sie, daß der große Kampf zwischen Malvoli und Nigger Ned jetzt doch noch zustande kommt?«

»Ich fürchte, wir haben nicht genügend Zeit, um Ihre Gastfreundschaft wirklich in Anspruch zu nehmen«, sagte Father Brown. »Aber mein Freund würde sicherlich gerne ein Glas Sherry nehmen, gegen die Kälte und um auf den Sieg des italienischen Champions zu trinken.«

Flambeau verstand das mit dem Sherry zwar nicht, hatte aber nicht das geringste einzuwenden. So konnte er denn nur sehr liebenswürdig sagen: »Oh, danke sehr.«

»Sherry, der Herr – sofort«, sagte ihr Gastgeber und wandte sich seinem Hotel zu. »Verzeihen Sie, wenn ich Sie einige Minuten warten lasse. Wie ich Ihnen bereits sagte, ist kein Personal da – « Und damit ging er auf die schwarzen Fenster seines unbeleuchteten Hotels mit den geschlossenen Fensterläden zu.

»Ach, so wichtig ist das nicht«, begann Flambeau, aber der Mann wandte sich um, um ihn zu beruhigen.

»Ich habe die Schlüssel«, sagte er. »Und ich kann meinen Weg auch im Dunkeln finden.«

»Ich hatte nicht die Absicht – «, begann Father Brown.

Da unterbrach ihn eine bellende menschliche Stimme, die aus den Tiefen des unbewohnten Hotels erscholl. Sie donnerte laut, aber unverständlich einen ausländischen Namen, und der Hotelbesitzer wandte sich ihr schneller zu, als er das für Flambeaus Sherry getan hatte. Wie der Augenschein sofort beweisen sollte, hatte der Besitzer da wie später nichts als die buchstäbliche Wahrheit gesagt. Aber Flambeau wie Father Brown haben öfters eingestanden, daß sie bei all ihren (manchmal reichlich gewalttätigen) Abenteuern ihr Blut niemals so erstarren fühlten wie beim Klang dieser Stimme eines Menschenfressers, die da plötzlich aus einem schweigenden und leeren Gasthof erscholl.

»Mein Koch!« rief der Besitzer hastig. »Ich hatte meinen Koch vergessen. Er wird gleich starten. Sherry, der Herr?«

Und wirklich erschien in der Tür eine große weiße massige Gestalt mit weißer Mütze und weißer Schürze, wie es sich für einen Koch gehört, aber mit dem überflüssigen Akzent eines schwarzen Gesichtes. Flambeau hatte schon oft vernommen, daß Neger gute Köche abgeben. Aber irgendwie steigerte irgend etwas im Widerspruch von Farbe und Beruf seine Überraschung darüber, daß der Hotelbesitzer auf den Ruf des Kochs reagierte, und nicht der Koch auf den Ruf des Besitzers. Aber er überlegte, daß Chefköche sprichwörtlich arrogant sind; und außerdem kam der Gastgeber jetzt mit dem Sherry zurück, und das war die Hauptsache.

»Ich wundere mich«, sagte Father Brown, »daß da so wenige Menschen am Strand sind, wenn dieser große Kampf jetzt doch zustande kommt. Wir haben meilenweit nur einen einzigen Mann angetroffen.«

Der Hotelbesitzer zuckte mit den Achseln. »Wissen Sie, sie kommen vom anderen Ende der Stadt – von der Bahnstation, 3 Meilen von hier. Sie sind nur am Sport interessiert und werden in den Hotels nur zur Übernachtung bleiben. Schließlich ist das auch kaum das Wetter, um sich am Strand braten zu lassen.«

»Oder auf der Bank«, sagte Flambeau und wies auf den kleinen Tisch.

»Ich mußte Ausguck halten«, sagte der Mann mit dem bewegungslosen Gesicht. Er war ein ruhiger, gut aussehender Bursche, eher blaß; seine dunkle Kleidung hatte nichts Auffälliges an sich, außer daß er seine schwarze Krawatte sehr hoch gebunden trug, wie eine Halsbinde, und sie mit einer goldenen Nadel festgesteckt hatte, die einen grotesken Kopf zeigte. Noch gab es in dem Gesicht irgend etwas Bemerkenswertes, abgesehen von etwas, das vielleicht nur ein nervöser Tick war – die Angewohnheit, das eine Auge nicht so weit zu öffnen wie das andere, was den Eindruck vermittelte, als sei das andere größer oder vielleicht aus Glas.

Das folgende Schweigen wurde gebrochen, als ihr Gastgeber ruhig sagte: »Und wo haben Sie während Ihres Marsches diesen einen Mann getroffen?«

»Sonderbar genug«, sagte der Priester, »ganz nahebei – gerade drüben am Musikpavillon.«

Flambeau, der sich auf die lange Eisenbank gesetzt hatte, um seinen Sherry zu schlürfen, setzte ihn ab und sprang auf und starrte seinen Freund verblüfft an. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schloß ihn dann wieder.

»Sonderbar«, sagte der dunkelhaarige Mann nachdenklich. »Wie sah er denn aus?«

»Es war ziemlich dunkel, als ich ihn sah«, begann Father Brown, »aber er war – «

Wie bereits bemerkt wurde, kann nachgewiesen werden, daß der Hotelbesitzer die reine Wahrheit gesprochen hatte. Sein Satz, daß der Koch gleich starten werde, wurde buchstäblich erfüllt, denn noch während sie sprachen, kam der Koch heraus und zog sich die Handschuhe an.

Aber nun war er eine von jener wirren Masse von Weiß und Schwarz, die für einen Augenblick in der Tür erschienen war, sehr verschiedene Erscheinung. Er war bis zu seinen hervorquellenden Augäpfeln auf die modischste Weise geschniegelt und gebügelt. Ein hoher schwarzer Zylinder saß schräg auf seinem breiten schwarzen Kopf – ein Hut jener Art, die französischer Witz mit 8 Spiegeln verglichen hat. Aber irgendwie glich der schwarze Mann dem schwarzen Hut. Auch er war schwarz, aber in seiner schimmernden Haut brach sich das Licht in mindestens 8 unterschiedlichen Winkeln. Überflüssig zu sagen, daß er weiße Gamaschen trug und ein weißes Vorsteckhemd in der Weste. Eine rote Blume erhob sich angriffslustig aus seinem Knopfloch, als sei sie da plötzlich emporgeschossen. Und die Art, wie er seinen Spazierstock in der einen und seine Zigarre in der anderen Hand schwang, zeigte eine gewisse Haltung – eine Haltung, an die wir uns immer erinnern sollten, wenn wir von Rassenvorurteilen sprechen: etwas zugleich Unschuldiges und Unverschämtes – der reine Cakewalk.

»Manchmal«, sagte Flambeau und blickte ihm nach, »überrascht es mich nicht, daß man sie lyncht.«

»Mich überrascht«, sagte Father Brown, »kein Werk der Hölle. Aber wie ich sagte«, fuhr er fort, während der Neger sich immer noch angeberisch seine gelben Handschuhe zurechtzupfte und raschen Schrittes dem Seebad zustrebte, eine groteske Varieté-Figur vor jener grauen und frostigen Szenerie –, »wie ich eben sagte, könnte ich den Mann nicht sehr genau beschreiben, aber er trug einen üppigen und altmodischen Backenbart und einen ebensolchen Schnurrbart, dunkel oder gefärbt, wie auf den Bildern fremdländischer Finanzherren, und um seinen Hals war ein langer purpurner Schal geschlungen, der im Winde flatterte, als er ausschritt. Er war am Hals etwa so festgesteckt, wie Kindermädchen die Schlabberlätzchen der Kinder feststecken, mit einer Sicherheitsnadel. Nur war das«, fügte der Priester hinzu und sah gelassen aufs Meer hinaus, »hier keine Sicherheitsnadel.«

Der Mann, der auf der langen Eisenbank saß, sah ebenfalls gelassen aufs Meer hinaus. Jetzt, da er wieder seine Ruhestellung eingenommen hatte, war sich Flambeau ganz sicher, daß das eine Auge von Natur aus größer war als das andere. Beide waren jetzt weit geöffnet, und er gewann fast den Eindruck, als würde das linke Auge immer größer, während er so schaute.

»Es war eine sehr lange goldene Nadel, und sie trug den geschnitzten Kopf eines Affen oder so etwas Ähnliches«, fuhr der Kleriker fort; »und sie war auf höchst eigenartige Weise festgesteckt – er trug einen Zwicker und eine breite schwarze – «

Der bewegungslose Mann fuhr fort, aufs Meer hinaus zu blicken, und die Augen in seinem Kopf hätten zwei verschiedenen Männern gehören können. Dann unternahm er eine blitzschnelle Bewegung.

Father Brown hatte ihm den Rücken zugewandt und hätte durch diesen Blitz tot vornüber stürzen können. Flambeau hatte keine Waffe, aber seine großen braunen Hände ruhten auf der Lehne der langen Eisenbank. Seine Schultern veränderten plötzlich ihre Form, und er hievte das ganze riesige Ding hoch über sein Haupt, so wie des Henkers Axt unmittelbar vor dem Niedersausen. Schon durch die reine Höhe des Dings, als er es senkrecht hielt, sah es aus wie eine lange Eisenleiter, mit der er Menschen einlud, zu den Sternen emporzuklimmen. Aber der lange Schatten sah im flachen Abendlicht aus, als schwinge ein Riese den Eiffelturm. Es war der Schock dieses Schattens noch vor dem Schock durch das niederkrachende Eisenstück, der den Fremden erzittern und zur Seite springen und dann in seinen Gasthof stürzen ließ, wobei er den flachen schimmernden Dolch genau da liegen ließ, wohin er ihm gefallen war.

»Wir müssen sofort von hier verschwinden«, schrie Flambeau und schleuderte die große Bank in wütender Gleichgültigkeit auf den Strand. Er ergriff den kleinen Priester am Ellbogen und rannte mit ihm die graue Flucht eines brachen Hintergartens entlang, an dessen Ende sich eine geschlossene Hintergartenpforte befand. Flambeau beugte sich während eines Augenblicks gewalttätigen Schweigens zu ihr nieder und sagte dann: »Das Tor ist verschlossen.«

Während er noch sprach, brach eine schwarze Feder aus einer der Zierföhren herab und kitzelte die Krempe seines Hutes. Das schreckte ihn mehr auf, als die kleine entfernte Explosion, die unmittelbar zuvor zu hören war. Dann folgte eine andere entfernte Explosion, und die Tür, die er zu öffnen sich mühte, erbebte unter der Kugel, die sich in sie eingrub. Flambeaus Schultern füllten sich erneut und veränderten dann plötzlich ihr Aussehen. Drei Scharniere und ein Schloß zerbarsten zugleich, und er stürmte in den leeren Fußweg hinaus, wobei er die große Gartentür mit sich schleppte, wie einst Samson das Stadttor von Gaza.

Dann schleuderte er die Gartentür über die Gartenmauer, gerade als ein dritter Schuß Schnee und Staub hinter seinen Absätzen aufsprühen machte. Ohne weitere Förmlichkeiten schnappte er sich den kleinen Priester, schwang ihn sich rittlings auf die Schultern und rannte auf Seawood los, so schnell ihn seine langen Beine nur tragen konnten. Erst fast zwei Meilen weiter setzte er seinen kleinen Gefährten nieder. Es war keine sehr würdevolle Flucht gewesen, trotz des klassischen Vorbildes von Anchises, aber auf Father Browns Gesicht lag nur ein breites Grinsen.

»Alsdann«, sagte Flambeau nach einem ungeduldigen Schweigen, als sie ihre konventionellere Wanderung durch die Straßen am Rande der Stadt wieder aufnahmen, wo sie keinerlei Gewalttätigkeiten zu befürchten hatten, »ich habe zwar keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat, aber ich glaube, ich kann meinen eigenen Augen doch so weit vertrauen, daß Sie dem Mann, den Sie so genau beschrieben haben, niemals begegnet sind.«

»Ich bin ihm in gewisser Weise wohl begegnet«, sagte Brown und biß reichlich nervös auf seinen Fingern herum –, »wirklich. Und es war zu dunkel, als daß ich ihn genau hätte sehen können, denn das geschah unter diesem Musikpavillon. Aber ich fürchte, daß ich ihn doch nicht so ganz genau beschrieben habe, denn sein Zwicker lag zerbrochen unter ihm, und die lange goldene Nadel war nicht durch seinen Schal gestochen, sondern durch sein Herz.«

»Und ich nehme an«, sagte der andere leiser, »daß dieser glasäugige Bursche irgendwas damit zu tun hat.«

»Ich hatte gehofft, nur ein bißchen«, antwortete Brown mit bekümmerter Stimme, »und vielleicht handelte ich falsch mit dem, was ich tat. Aber ich handelte spontan. Und ich fürchte, daß diese Angelegenheit tiefe und düstere Wurzeln hat.«

Sie schritten schweigend durch einige Straßen. Die gelben Lampen wurden im kalten blauen Dämmerlicht angesteckt, als sie sich offenbar immer mehr den zentralen Teilen der Stadt näherten. Hochbunte Anzeigen waren an die Mauern geklebt und kündigten den Boxkampf zwischen Nigger Ned und Malvoli an.

»Also«, sagte Flambeau, »ich habe nie jemanden umgebracht, selbst nicht in meinen kriminellen Zeiten, aber ich kann beinahe Mitgefühl für jemanden aufbringen, der so was an so einem trübsinnigen Ort tut. Von allen gottverlassenen Müllhaufen in der Natur sind wohl solche Orte am herzzerbrechendsten, die wie der Musikpavillon da festlich gedacht waren und nun verlassen sind. Ich kann mir vorstellen, wie einen morbiden Mann das Gefühl überkommt, er müsse seinen Rivalen in der Einsamkeit und Ironie einer solchen Szenerie morden. Ich erinnere mich, wie ich einstens eine Fußwanderung in Ihr herrliches Hügelland von Surrey unternommen habe, und an nichts als an Ginster und Lerchen dachte, und auf einen großen Kreis flachen Landes herauskam und sich über mir eine riesige schweigende Konstruktion emportürmte, Sitzreihe um Sitzreihe, so gewaltig wie ein römisches Amphitheater und so leer wie ein neuer Briefkasten. Ein Vogel segelte über ihr durch den Himmel. Das war die Tribüne des großen Rennplatzes von Epsom. Und ich hatte das Gefühl, daß dort niemals mehr jemand glücklich sein würde.«

»Sonderbar, daß Sie ausgerechnet Epsom erwähnen«, sagte der Priester. »Erinnern Sie sich an die Geschichte, die man das Sutton-Geheimnis nannte, weil zwei verdächtigte Männer – ich glaube Eiscremeverkäufer – zufällig in Sutton wohnten? Sie wurden schließlich freigesprochen. Man hatte, hieß es, in den Hügeln der Umgebung einen Mann erwürgt aufgefunden. In Wirklichkeit wurde er, wie ich zufällig weiß (von einem irischen Polizisten, der ein Freund von mir ist), unmittelbar bei der großen Tribüne von Epsom gefunden – tatsächlich nur durch eine der unteren Türen verborgen, die aufgeblieben war.«

»Wirklich merkwürdig«, stimmte Flambeau bei. »Aber das bekräftigt nur meine Meinung, daß solche Vergnügungsplätze außerhalb ihrer Saison scheußlich verlassen sind, sonst wäre der Mann nicht gerade da umgebracht worden.«

»Ich bin nicht so sicher, daß er – «, begann Brown und hielt wieder inne.

»Nicht so sicher, daß er ermordet wurde?« fragte sein Gefährte.

»Nicht so sicher, daß er außerhalb der Saison ermordet wurde«, antwortete der kleine Priester schlicht. »Finden Sie nicht auch, daß es mit dieser Einsamkeit irgendeine merkwürdige Bewandtnis hat, Flambeau? Sind Sie sicher, daß ein kluger Mörder sich immer wünscht, daß der Platz einsam sei? Ein Mann ist nur sehr, sehr selten wirklich allein. Und davon abgesehen, je alleiner er ist, desto sicherer wird er gesehen. Nein; ich glaube, daß da irgendein anderer – Aha, da sind wir ja an dem Pavillon oder Palast oder wie immer sich das nennt.«

Sie waren zu einem kleinen Platz gekommen, der strahlend hell erleuchtet war und an dem das Hauptgebäude fröhlich vor Vergoldungen glänzte und mit Plakaten prangte, flankiert von zwei Riesenphotos von Malvoli und Nigger Ned.

»Hallo!« rief Flambeau zutiefst erstaunt, als sein klerikaler Freund geradenwegs die breiten Stufen hinanstapfte. »Ich wußte ja gar nicht, daß Faustkämpfe Ihr jüngstes Steckenpferd sind. Wollen Sie sich den Kampf ansehen?«

»Ich glaube nicht, daß es einen Kampf geben wird«, erwiderte Father Brown.

Sie durchquerten rasch Foyers und Innenräume; sie durchquerten den Saal der Kämpfe selbst, in dem der Ring mit Seilen abgeteilt aufgebaut war, vollgestopft mit ungezählten Sitzen und Logen, und immer noch blickte der Geistliche weder umher, noch hielt er inne, bis er zu einem Angestellten an einem Tisch vor einer Tür kam, die mit »Ausschuß« gekennzeichnet war. Da blieb er stehen und sagte, er wolle Lord Pooley sprechen.

Der Angestellte bemerkte, daß Seine Lordschaft sehr beschäftigt sei, da der Kampf bald beginnen werde, aber Father Brown besaß die gutmütige Lästigkeit steter Wiederholung, auf die der beamtete Geist meist nicht vorbereitet ist. Nach wenigen Augenblicken fand sich der reichlich verwirrte Flambeau in der Anwesenheit eines Mannes, der einem anderen Mann, der gerade aus dem Raum ging, immer noch Anweisungen nachrief. »Sie wissen ja, passen Sie nach der vierten auf die Seile auf – Und was wollen Sie von mir?«

Lord Pooley war ein Gentleman und, wie die meisten der wenigen in unserer Rasse noch verbliebenen, bekümmert – vor allem um Geld. Er war halb ergraut und halb blond, seine Augen waren fiebrig, und seine Nase war gebogen und frostrot.

»Nur ein Wort«, sagte Father Brown. »Ich bin gekommen, um zu verhindern, daß ein Mann getötet wird.«

Lord Pooley sprang aus seinem Sessel hoch, als habe ihn eine Feder herausgeschleudert. »Ich will verflucht sein, wenn ich mir noch mehr davon anhöre!« schrie er. »Ihr und eure Komitees und Pastöre und Petitionen! Gab es denn keine Pastöre in der alten Zeit, als man noch ohne Handschuhe boxte? Nun kämpfen sie mit vorschriftsmäßigen Handschuhen, und es besteht auch nicht das geringste Zipfelchen an Möglichkeiten, daß einer der Boxer getötet wird.«

»Ich meinte auch keinen von den Boxern«, sagte der kleine Priester.

»Aha, na schön!« sagte der Edelmann mit einem Anflug frostigen Humors. »Und wer soll getötet werden? Der Schiedsrichter?«

»Ich weiß nicht, wer getötet werden soll«, erwiderte Father Brown mit nachdenklichem Blick. »Wenn ich das wüßte, hätte ich Ihr Vergnügen nicht zu stören brauchen. Dann hätte ich ihn einfach zur Flucht bewegt. Ich habe im Preisboxen nie etwas Übles sehen können. Aber wie die Dinge nun einmal stehen, muß ich Sie bitten bekanntzugeben, daß der Kampf gegenwärtig nicht stattfindet.«

»Sonst noch was?« höhnte der Herr mit den fiebrigen Augen. »Und was ist mit den 2000 Menschen, die gekommen sind, um ihn zu sehen?«

»Von denen werden noch 1999 leben, wenn sie ihn gesehen haben«, sagte Father Brown.

Lord Pooley sah Flambeau an. »Ist Ihr Freund verrückt?« fragte er.

»Alles andere als das«, war die Erwiderung.

»Und passen Sie auf«, fuhr Pooley in seiner rastlosen Art fort, »es ist noch schlimmer. Eine ganze Bande Italiener ist aufgetaucht, um Malvoli zu unterstützen jedenfalls – jedenfalls schwarze wilde Burschen aus irgendeinem Land. Sie wissen ja, wie diese Mittelmeervölker sind. Wenn ich bekanntgebe, daß der Kampf abgesagt ist, werden wir Malvoli an der Spitze eines ganzen korsischen Clans hereinstürmen sehen.«

»My Lord, es handelt sich um Leben oder Tod«, sagte der Priester. »Läuten Sie. Geben Sie Ihre Botschaft bekannt. Und beobachten Sie, ob es Malvoli ist, der antwortet.«

Der Edelmann schlug die Glocke auf seinem Tisch mit einem eigenartigen Ausdruck neu erwachter Neugier. Er sagte zu dem Angestellten, der fast sofort in der Tür erschien: »Ich habe dem Publikum gleich eine sehr ernste Ankündigung zu machen. Würden Sie in der Zwischenzeit bitte den beiden Champions sagen, daß der Kampf vorerst abgesagt werden muß?«

Der Angestellte starrte ihn einige Sekunden lang an, als sähe er einen Dämon, und verschwand dann.

»Welche Beweise haben Sie eigentlich für Ihre Behauptung?« fragte Lord Pooley schroff. »Wen haben Sie um Rat gefragt?«

»Ich habe einen Musikpavillon um Rat gefragt«, sagte Father Brown und kratzte sich am Kopf. »Nein, ich irre mich; ich habe auch ein Buch um Rat gefragt. Ich habe es an einem Bücherstand in London aufgegabelt – und zwar sehr billig.«

Er holte aus seiner Tasche einen kleinen dicken Lederband hervor, und Flambeau, der ihm über die Schulter schaute, konnte erkennen, daß es sich um irgendeine alte Reisebeschreibung handelte und daß eine Seite durch ein Eselsohr gekennzeichnet war.

»Die einzige Form, in der Voodoo – «, begann Father Brown laut vorzulesen.

»In der was?« fragte Seine Lordschaft.

»In der Voodoo«, wiederholte der Vorleser fast mit Vergnügen, »außerhalb Jamaikas selbst weit verbreitet und organisiert ist, ist die des Affen, oder des Gottes der Gongs, die in vielen Teilen beider Amerikas sehr mächtig ist, insbesondere unter Halbblütigen, von denen viele genau wie Weiße aussehen. Sie unterscheidet sich von den meisten anderen Formen der Teufelsanbetung und des Menschenopfers dadurch, daß das Blut nicht formell auf dem Altar vergossen wird, sondern durch eine Art von Mord in der Menschenmenge. Der Gong wird mit ohrenbetäubendem Dröhnen geschlagen, wenn die Türen des Schreins geöffnet werden und der Affengott enthüllt wird; fast die gesamte Anhängerschaft heftet ihre ekstatischen Blicke auf ihn. Aber nach – «

Die Tür des Zimmers flog auf, und der modische Neger stand in ihrem Rahmen, mit rollenden Augäpfeln, den Seidenzylinder immer noch unverschämt schräg auf dem Kopf. »Hah!« schrie er und zeigte sein Affengebiß. »Was los? Hah! Hah! Sie stehl ein farbigen Gentleman sein Preis – schon sein Preis – Sie glaub Sie könn retten so den weiß talienisch Abfall – «

»Die Angelegenheit ist lediglich verschoben«, sagte der Edelmann ruhig. »Ich werde in ein oder zwei Minuten kommen und alles erklären.«

»Wer Sie beim – «, schrie Nigger Ned und begann zu wüten.

»Mein Name ist Pooley«, erwiderte der andere mit bewunderungswürdiger Gelassenheit. »Ich bin der Organisationssekretär, und ich rate Ihnen, jetzt diesen Raum zu verlassen.«

»Wer dies Kerl?« fragte der dunkle Champion und wies verächtlich auf den Priester.

»Mein Name ist Brown«, war die Antwort. »Und ich rate Ihnen, jetzt dieses Land zu verlassen.«

Der Preisboxer stand einige Sekunden kochend da, und dann ging er, zur größten Überraschung von Flambeau und den anderen, und knallte die Tür hinter sich zu.

»Nun«, fragte Father Brown, während er sein staubfarbenes Haar durchwühlte, »was halten Sie von Leonardo da Vinci? Ein wunderschöner italienischer Kopf.«

»Hören Sie zu«, sagte Lord Pooley, »ich habe auf Ihr blankes Wort hin eine beachtliche Verantwortung auf mich genommen. Ich glaube, Sie sollten mir mehr darüber erzählen.«

»Sie haben ganz recht, my Lord«, antwortete Brown. »Und es dauert auch nicht lange, es zu erzählen.« Er steckte das kleine Lederbuch in seine Manteltasche. »Ich glaube zwar, daß wir schon alles wissen, was es zu berichten hat, aber Sie können ja hineinschauen, um zu sehen, ob ich recht habe. Der Neger, der hier gerade hinausgestürmt ist, ist einer der gefährlichsten Männer auf Erden, denn er hat das Hirn eines Europäers mit den Instinkten eines Kannibalen. Er hat die saubere vernünftige Metzelei seiner Mitbarbaren in eine sehr moderne wissenschaftliche Geheimgesellschaft von Mördern verwandelt. Er weiß nicht, daß ich es weiß, und übrigens auch nicht, daß ich es nicht beweisen kann.«

Schweigen herrschte, und der kleine Mann fuhr fort: »Wenn ich aber jemanden umbringen will, ist dann wirklich der beste Plan, dafür zu sorgen, daß ich mit ihm allein bin?«

Lord Pooleys Augen begannen wieder frostig zu zwinkern, als er den kleinen Kirchenmann ansah. Er sagte nur: »Wenn Sie jemanden ermorden wollen, würde ich dazu raten.«

Father Brown schüttelte den Kopf wie ein Mörder mit der reicheren Erfahrung. »Das sagt auch Flambeau«, erwiderte er seufzend. »Aber denken Sie nach. Je einsamer sich ein Mann fühlt, desto weniger sicher kann er sein, daß er allein ist. Denn das bedeutet leere Räume um ihn herum, und genau die machen ihn sichtbar. Haben Sie nie von den Höhen aus einen Pflüger beobachtet, oder in den Tälern einen Schäfer? Sind Sie nie oben auf einer Klippe entlanggewandert und haben einen Mann beobachtet, der unten durch den Sand wanderte? Hätten Sie nicht gesehen, wenn er einen Krebs getötet hätte, und hätten Sie nicht gewußt, ob es sich um einen Ihrer Gläubiger handelte? Nein! Nein! Nein! Für einen intelligenten Mörder wie Sie oder ich es wären, wäre ein Plan unmöglich, der davon ausginge, daß einen niemand sähe.«

»Aber welchen anderen Plan gäbe es denn dann?«

»Es gibt nur einen anderen«, sagte der Priester. »Dafür zu sorgen, daß alle woandershin blicken. Ein Mann wird nahe bei der großen Tribüne in Epsom erwürgt. Jeder hätte das sehen können, während die Tribüne leerstand – ein Landstreicher unter den Hecken oder ein Autofahrer zwischen den Hügeln. Aber niemand würde es gesehen haben, wenn die Tribüne überfüllt war und das ganze Rund aufbrüllte, weil der Favorit als erster hereinkam – oder nicht. Ein Halstuch zuziehen, eine Leiche hinter einer Tür verstauen, das konnte in einem Augenblick geschehen – solange es dieser Augenblick war. Das gleiche war es natürlich«, fuhr er zu Flambeau gewandt fort, »mit dem armen Teufel unter dem Musikpavillon. Man ließ ihn durch das Loch stürzen (es war kein zufälliges Loch), als sich gerade ein besonders dramatischer Augenblick der Unterhaltung ereignete, als der Bogen eines großen Geigers oder die Stimme einer großen Sängerin einsetzten oder zu ihrem Höhepunkt kamen. Und dann hier natürlich – wenn der K.-o.-Schlag käme, würde es nicht der einzige sein. Das ist der kleine Trick, den Nigger Ned von seinem alten Gott des Gongs übernommen hat.«

»Übrigens, Malvoli – «, begann Pooley.

»Malvoli«, sagte der Priester, »hat überhaupt nichts damit zu tun. Er hat vielleicht ein paar Italiener bei sich, aber unsere liebenswürdigen Freunde sind keine Italiener. Sie sind Oktoronen und afrikanisches Halbblut der verschiedensten Schattierungen, aber ich befürchte, daß wir Engländer alle Ausländer für ein und dasselbe halten, solange sie nur schwarz und schmutzig sind. Ich befürchte auch«, fügte er mit einem Lächeln hinzu, »daß die Engländer es ablehnen, jeglichen feinen Unterschied zwischen der Moral zu erkennen, die meine Religion hervorruft, und jener, die aus dem Voodoo erblüht.«


Der Glanz der Frühjahrssaison war über Seawood hereingebrochen und übersäte seine Strände mit Familien und Strandkarren, mit Wanderpredigern und Negerbarden, ehe die beiden Freunde es wiedersahen, und lange bevor die Verfolgungsjagd auf die sonderbare Geheimgesellschaft eingestellt wurde. Fast überall ging das Geheimnis ihrer Anschläge mit ihnen selbst zugrunde. Den Mann vom Hotel fand man tot in der See treiben wie Seetang; sein rechtes Auge war friedvoll geschlossen, aber sein linkes war weit geöffnet und glitzerte wie Glas im Mondschein. Nigger Ned wurde ein oder zwei Meilen entfernt gestellt und erschlug drei Polizisten mit der geballten linken Faust. Der übrigbleibende Beamte war so überrascht – nein, geschockt –, daß der Neger entkommen konnte. Das aber reichte aus, um die gesamte englische Presse in Aufregung zu versetzen, und für ein oder zwei Monate bestand die Hauptaufgabe des Britischen Empires darin, diesen Höllenneger an der Flucht aus irgendeinem englischen Hafen zu hindern. Personen mit einer der seinen auch nur entfernt ähnlichen Gestalt wurden höchst ungewöhnlichen Befragungen unterworfen und mußten sich ihre Gesichter abschrubben, ehe man sie an Bord gehen ließ, so als ob alle weißen Gesichter aus aufgetragener Schminke bestünden. Jedem Neger in England wurden Sondervorschriften auferlegt, und er mußte sich melden; auslaufende Schiffe hätten einen Neger auch nicht lieber mitgenommen als einen Basilisken. Denn den Menschen war bewußt geworden, wie furchtbar und weitgespannt und schweigsam die Macht der wüsten Geheimgesellschaft war, und zu der Zeit, da Flambeau und Father Brown sich im April gegen die Brüstung der Uferpromenade lehnten, bedeutete der Schwarze Mann in England fast eben das, was er einst in Schottland bedeutet hatte.

»Er muß noch in England sein«, bemerkte Flambeau, »und außerdem verdammt gut versteckt. Wenn er sich nur das Gesicht weiß angestrichen hätte, hätte man ihn in einem der Häfen aufgegriffen.«

»Sie sehen also, daß er ein wirklich schlauer Kopf ist«, sagte Father Brown entschuldigend. »Und ich bin sicher, daß er sein Gesicht niemals weißen würde.«

»Was würde er denn dann tun?«

»Ich glaube«, sagte Father Brown, »er würde sein Gesicht schwärzen.«

Flambeau, der bewegungslos gegen das Geländer lehnte, lachte und sagte: »Mein lieber Mann!«

Father Brown, der ebenfalls bewegungslos gegen das Geländer lehnte, bewegte für einen Augenblick einen Finger in Richtung auf die rußgesichtigen Neger, die am Strande sangen.

Der Salat von Oberst Cray

Father Brown wanderte an einem weißen unheimlichen Morgen von der Messe nach Hause, während sich die Nebel nur langsam hoben – einem jener Morgen, an denen man das Tageslicht als etwas Geheimnisvolles und Neues empfindet. Einzelne Bäume gewannen im Dunst immer schärfere Umrisse, als seien sie zuerst mit grauer Kreide skizziert worden, und danach mit Holzkohle. In noch weiteren Zwischenräumen erschienen die Häuser am zerfasernden Rand der Vorstadt; ihre Umrisse wurden deutlicher und deutlicher, bis er viele erkennen konnte, in denen flüchtige Bekannte wohnten, und sehr viele mehr, deren Besitzer er kannte. Aber alle Fenster und Türen waren geschlossen; niemand von diesen Leuten gehörte zu jenen, die schon so früh auf waren, und noch weniger zu jenen auf solchen Wegen. Aber als er durch den Schatten einer schönen Villa mit Veranden und weiten Ziergärten ging, hörte er ein Geräusch, das ihn fast gegen seinen Willen innehalten ließ. Es war das unverkennbare Geräusch einer Pistole oder eines Gewehrs oder einer anderen leichten Feuerwaffe, mit der geschossen wurde; aber nicht das verwirrte ihn am meisten. Dem ersten vollen Geräusch folgte unmittelbar eine Reihe schwächerer Geräusche nach – nach seiner Zählung etwa sechs. Er nahm an, daß das das Echo war; aber sonderbarerweise klang das Echo nicht im entferntesten so wie das Originalgeräusch. Es klang auch nach nichts anderem, das er hätte erkennen können; die drei dem am nächsten kommenden Dinge waren das Geräusch eines Sodawassersiphons, oder eines der vielen tierischen Geräusche, oder das Geräusch, das entsteht, wenn jemand ein Gelächter unterdrücken möchte. Keines davon ergab aber irgendeinen Sinn.

Father Brown bestand aus zwei Männern. Der eine war ein Mann der Tat, so bescheiden wie eine Primel und so pünktlich wie ein Uhrwerk; der seinen kleinen Kreis an Pflichten erfüllte und niemals daran dachte, sie zu ändern. Und dann war da der Mann des Nachdenkens, der sehr viel einfacher aber auch sehr viel stärker war und der nicht leicht aufgehalten werden konnte; dessen Denken stets (im einzig intelligenten Sinn des Wortes) freies Denken war. Er konnte nicht anders, als sich, selbst unbewußt, all die Fragen zu stellen, die zu stellen waren, und so viele wie ihm nur immer möglich zu beantworten; und alles das geschah wie das Atmen oder der Blutkreislauf. Bewußt aber ließ er seine Handlungen ihn niemals über den Rahmen seiner Pflichten hinaus tragen; und in diesem Fall wurden beide Haltungen gehörig auf die Probe gestellt. Er wollte gerade seinen Marsch durch das morgendliche Dämmerlicht wieder aufnehmen, während er sich einerseits zuredete, daß ihn das alles nichts angehe, gleichzeitig aber zwanzig Theorien im Kopfe hin und her wendete, was die sonderbaren Geräusche wohl bedeuteten. Dann aber wurde der graue Horizont silbern, und im heller werdenden Licht erkannte er, daß er sich beim Haus eines angloindischen Majors namens Putnam befand, der einen einheimischen Koch aus Malta hatte, welcher seiner Religionsgemeinschaft angehörte. Und er begann auch, sich daran zu erinnern, daß Pistolenschüsse manchmal ernsthafte Dinge sind, denen Konsequenzen folgen, die ihn durchaus offiziell angingen. Er wandte sich um, durchschritt das Gartentor und ging auf die Eingangstür zu.

Aus der Mitte der einen Seite des Hauses ragte etwas wie ein sehr niedriger Schuppen hervor; das war, wie er später herausfand, ein großer Müllbehälter. Um dessen Ecke kam eine Gestalt auf ihn zu, zunächst kaum mehr als ein Schatten im Nebel, die sich offensichtlich niederbeugte und herumsuchte. Dann verfestigte sie sich im Näherkommen, bis sie einen tatsächlich ungewöhnlich festen Körper ergab. Major Putnam war ein kahlköpfiger, stiernackiger Mann, klein und sehr breitschultrig und mit einem jener zu Schlaganfällen neigenden Gesichter, die durch den verlängerten Versuch entstehen, das orientalische Klima mit okzidentalem Luxus zu verbinden. Doch war es ein gutmütiges Gesicht und trug selbst jetzt, obwohl offensichtlich verwirrt und auf der Suche, eine Art unschuldigen Grinsens. Er hatte einen breiten Palmblätterhut auf dem Hinterkopf (der da an einen gar nicht zu diesem Gesicht passenden Heiligenschein erinnerte), ansonsten war er nur mit einem schreiend rot und gelb gestreiften Pyjama bekleidet, der, obwohl ob seines Glühens ins Auge fallend, an einem so frischen Morgen reichlich kühl zu tragen gewesen sein muß. Er war offensichtlich in höchster Eile aus seinem Haus gestürzt, und es überraschte den Priester nicht, daß er ohne weitere Förmlichkeiten rief: »Haben Sie das Geräusch gehört?«

»Ja«, antwortete Father Brown; »und ich dachte mir, ich schaue lieber mal herein für den Fall, daß irgendwas los ist.«

Der Major sah ihn mit seinen gutmütigen Glotzaugen sonderbar an. »Was meinen Sie denn, was das für ein Geräusch war?« fragte er.

»Es hörte sich nach einem Gewehr oder so was an«, erwiderte der andere nach einigem Zögern; »aber es schien mir eine eigenartige Sorte Echo zu haben.«

Der Major sah ihn immer noch ruhig, aber mit hervorstehenden Augen an, als die Vordertüre aufflog und eine Flut Gaslicht ins Gesicht des sich auflösenden Nebels losließ; und eine weitere Gestalt im Pyjama sprang oder stürzte hinaus in den Garten. Die Gestalt war sehr viel größer, schlanker und athletischer; ihr Pyjama, obwohl ebenfalls tropischer Herkunft, war vergleichsweise geschmackvoll, weiß mit einem leichten zitronengelben Streifen. Der Mann war hager, sah aber gut aus und war stärker sonnenverbrannt als der andere; er hatte das Profil eines Adlers und ziemlich tiefliegende Augen, und ein leicht komischer Zug entstand durch die Verbindung von pechschwarzem Haupthaar mit einem sehr viel helleren Schnurrbart. All dies nahm Father Brown in den Einzelheiten zu einem müßigeren Zeitpunkt wahr. In diesem Augenblick sah er an dem Mann nur eine Sache; das war der Revolver in seiner Hand.

»Cray!« rief der Major aus und starrte ihn an; »hast du den Schuß abgefeuert?«

»Ja, habe ich«, erwiderte der schwarzhaarige Gentleman wild; »und du hättest das an meiner Stelle auch getan. Wenn dich Teufel überall jagten und beinahe – «

Der Major unterbrach ihn reichlich hastig. »Das ist mein Freund Father Brown«, sagte er. Und dann zu Brown: »Ich weiß nicht, ob Sie Oberst Cray von der Königlichen Artillerie bereits begegnet sind.«

»Ich habe natürlich schon von ihm gehört«, sagte der Priester unschuldsvoll. »Haben Sie – haben Sie irgend etwas getroffen?«

»Das habe ich geglaubt«, antwortete Cray feierlich.

»Hat er – «, fragte Major Putnam mit leiser Stimme, »ist er hingestürzt, oder hat er geschrieen, oder sonstwas?«

Oberst Cray sah seinen Gastgeber mit einem sonderbaren und steten Blick an. »Ich werde dir genau sagen, was er getan hat«, sagte er. »Er hat geniest.«

Father Browns Hand fuhr halb zum Kopf empor in der Geste eines Mannes, der sich an jemandes Namen erinnert. Er wußte nun, daß es weder Sodawasser noch das Schnarchen eines Hundes gewesen war.

»Was denn«, brachte der entgeisterte Major hervor, »ich habe noch nie gehört, daß man auf einen Dienstrevolver niest.«

»Ich auch nicht«, sagte Father Brown schwach. »Wie gut, daß Sie nicht Ihre Kanonen auf ihn gerichtet haben, sonst hätte er sich wohl schwer erkältet.« Und dann, nach einer verwirrten Pause, sagte er: »War es ein Einbrecher?«

»Wir wollen reingehen«, sagte Major Putnam reichlich scharf und führte sie in sein Haus.

Das Innere ließ ein Paradoxon erkennen, das man oft in solch frühen Morgenstunden bemerken kann: daß die Zimmer heller erscheinen als der Himmel draußen; und das selbst, nachdem der Major das eine Gaslicht draußen in der Eingangshalle gelöscht hatte. Father Brown sah überrascht, daß der Speisetisch wie für ein Festmahl gedeckt war, mit Mundtüchern in ihren Ringen und Weingläsern von sechs unnötigen Formen neben jedem Teller. Es geschieht häufig genug, daß man zu jener Morgenstunde die Überreste eines Banketts vom Vorabend vorfindet; aber es so früh neu aufgedeckt zu finden, war ungewöhnlich.

Während er zögernd in der Halle stand, stürzte Major Putnam hinter ihm vorbei und warf einen hastigen Blick über das ganze längliche Geviert des Tischtuches. Schließlich stieß er stotternd hervor: »Alles Silber ist verschwunden!« und keuchte. »Fischmesser und -gabeln verschwunden. Der alte Gewürzständer verschwunden. Sogar das alte silberne Sahnekännchen verschwunden. Und nun, Father Brown, bin ich bereit, Ihre Frage zu beantworten, ob das ein Einbrecher war.«

»Das ist nur eine Irreführung«, sagte Cray hartnäckig. »Ich weiß besser als du, warum Leute dieses Haus verfolgen; ich weiß besser als du, warum – «

Der Major klopfte ihm mit einer Geste auf die Schulter, die fast der glich, mit der man ein krankes Kind tröstet, und sagte: »Es war ein Einbrecher. Es war ganz offensichtlich ein Einbrecher.«

»Ein Einbrecher mit einer schweren Erkältung«, bemerkte Father Brown, »das dürfte Ihnen helfen, ihn in der Nachbarschaft aufzuspüren.«

Der Major schüttelte düster den Kopf. »Er dürfte längst schon über alle Berge sein, fürchte ich«, sagte er.

Und dann, als sich der ruhelose Mann mit dem Revolver wieder der Tür zum Garten zuwandte, fügte er mit gedämpfter und vertraulicher Stimme hinzu: »Ich weiß nicht, ob ich nach der Polizei schicken soll, denn ich fürchte, daß mein Freund hier vielleicht ein bißchen zu großzügig mit seinen Kugeln umgegangen und auf die falsche Seite des Gesetzes geraten ist. Er hat an den übelsten Orten gelebt und, um Ihnen gegenüber offen zu sein, ich habe den Eindruck, daß er sich manchmal Dinge einbildet.«

»Ich glaube mich zu erinnern, daß Sie mir mal erzählt haben«, sagte Brown, »er glaube, daß ihn eine indische Geheimgesellschaft verfolge.«

Major Putnam nickte, doch zugleich zuckte er mit den Achseln. »Ich nehme an, wir sollten ihm besser nach draußen folgen«, sagte er. »Ich will kein weiteres – sollen wir sagen, Niesen?«

Sie traten hinaus in das Morgenlicht, das jetzt bereits mit Sonnenschein gefärbt war, und sahen Oberst Crays hohe Gestalt sich tief zu Boden neigen und aufs genaueste den Zustand von Kies und Gras untersuchen. Während der Major unauffällig auf ihn zu schlenderte, schlug der Priester ebenso beiläufig einen Bogen, der ihn um die nächste Ecke des Hauses auf einen oder zwei Meter an den herausragenden Müllbehälter heranbrachte.

Er stand da und betrachtete dieses trübselige Objekt ungefähr anderthalb Minuten lang; dann trat er auf es zu, hob den Deckel an und steckte seinen Kopf hinein. Als er das tat, schossen Staub und andere schmutzfarbene Substanzen empor; aber Father Brown beachtete sein eigenes Äußeres niemals, was immer er sonst auch beachtete. Er verblieb so eine beträchtliche Zeitspanne, als ob er in geheimnisvolle Gebete versunken sei. Dann tauchte er wieder auf, mit Asche in seinem Haar, und wanderte ungerührt von dannen.

Als er um die Ecke wieder zum Gartentor hin bog, fand er dort eine Gruppe vor, die Morbiditäten aufzuzehren schien, wie das Sonnenlicht inzwischen die Morgennebel aufgezehrt hatte. Das wirkte keineswegs bewußt beruhigend; es war einfach reichlich komisch, so als habe sich ein Haufen Dickensscher Gestalten versammelt. Major Putnam war es gelungen, in ein ordentliches Hemd zu schlüpfen und sich in seine Hosen zu stürzen, einen karmesinroten Kummerbund umzulegen und sich eine passende leichte Jacke anzuziehen; auf diese Weise alltäglich gekleidet, schien sein rötlich-heiteres Gesicht vor Alltagsherzlichkeit zu bersten. Allerdings gestikulierte er nachdrücklich, aber schließlich sprach er mit seinem Koch – dem dunkelhäutigen Sohn Maltas, dessen hageres, gelbes, kummerdurchfurchtes Gesicht eigenartig mit der schneeigen Weiße von Kappe und Kleidung kontrastierte. Der Koch mochte wohl kummerdurchfurcht sein, denn das Kochen war des Majors Steckenpferd. Er war einer jener Amateure, die immer alles besser wissen als die Profis. Die einzige andere Person, der er jemals zugestand, ein Omelette beurteilen zu können, war sein Freund Cray – und als Brown sich daran erinnerte, wandte er sich um, um nach dem anderen Offizier zu sehen. In der neuerlichen Anwesenheit des Tageslichtes und der ordentlich gekleideten Menschen und ihres vernünftigen Geistes wirkte sein Anblick wie ein Schock. Der größere und elegantere Mann befand sich immer noch in seinem Nachtgewand, mit wirren schwarzen Haaren, und jetzt kroch er auf Händen und Füßen durch den Garten und suchte immer noch nach Spuren des Einbrechers; und hin und wieder schlug er mit der Hand auf den Boden, offensichtlich vor Zorn, daß er ihn nicht finde. Als er ihn so vierfüßig im Rasen sah, runzelte der Priester ziemlich bekümmert die Augenbrauen; und zum ersten Mal begann er zu vermuten, daß »bildet sich Dinge ein« ein Euphemismus sein könnte.

Das dritte Bestandteil der Gruppe von Koch und Epikuräer war Father Brown ebenfalls bekannt; es war Audrey Watson, das Mündel des Majors und seine Haushälterin; und in diesem Augenblick, wenn man nach ihrer Schürze, den aufgerollten Ärmeln und ihrem entschlossenen Benehmen urteilte, weit mehr Haushälterin als Mündel.

»Geschieht dir ganz recht«, sagte sie gerade, »ich hab dir immer gesagt, du sollst den altmodischen Gewürzständer nicht mehr benutzen.«

»Ich mag ihn aber«, sagte Putnam versöhnlich. »Ich bin auch altmodisch, und so paßt alles gut zusammen.«

»Und verschwindet zusammen, wie du siehst«, erwiderte sie. »Na schön, wenn du dich nicht um den Einbrecher kümmerst, werd ich mich nicht ums Essen kümmern. Es ist Sonntag, und deshalb können wir weder Essig noch sonstwas in der Stadt holen lassen; und ihr indischen Herren könnt ja, was ihr Dinner nennt, nicht genießen, ohne einen Haufen scharfer Zutaten. Jetzt wünschte ich bei Gott, du hättest Vetter Oliver nicht gebeten, mich zum Hochamt zu begleiten. Es dauert mindestens bis halb eins, und bis dahin muß der Oberst aufbrechen. Ich glaube nicht, daß ihr Männer alleine fertig werdet.«

»O doch, können wir, meine Liebe«, sagte der Major und sah sie sehr freundlich an. »Marco hat alle Saucen; und wir haben uns oft genug an reichlich wilden Orten ganz gut zu helfen gewußt, wie Du inzwischen wissen solltest. Und außerdem brauchst Du einmal eine Abwechslung, Audrey; Du mußt doch nicht den ganzen Tag die Haushälterin sein; und außerdem weiß ich, daß Du gerne Musik hörst.«

»Ich möchte gerne in die Kirche gehen«, sagte sie mit sehr strengen Blicken.

Sie war eine jener schönen Frauen, die immer schön bleiben, weil ihre Schönheit nicht von ihrem Ausdruck oder ihrer Aufmachung abhängt, sondern vom Bau des Kopfes und von ihren Zügen. Aber obwohl sie die mittleren Jahre noch nicht erreicht hatte und ihr kastanienbraunes Haar von tizianischer Fülle, Form und Farbe war, gab es um ihren Mund und ihre Augen doch einen Zug, der andeutete, daß irgendein Kummer sie zernagte, wie Winde schließlich auch die Kanten griechischer Tempel zernagen. Denn die kleine häusliche Schwierigkeit, von der sie jetzt so entschieden sprach, war eher komisch denn tragisch. Father Brown entnahm dem Verlauf der Unterhaltung, daß Cray, der andere »Gourmet«, vor der üblichen Essenszeit abreisen mußte; daß aber Putnam, sein Gastgeber, um nicht um ein letztes Schlemmen mit einem alten Freund zu kommen, für ein besonderes Frühstück gesorgt hatte, das während der Morgenstunden aufgetragen und verspeist werden sollte, während Audrey und andere ernsthaftere Personen in der Morgenmesse weilten. Sie sollte sich dahin unter dem Schutz ihres Verwandten und alten Freundes Dr. Oliver Oman begeben, der, obwohl ein Wissenschaftler des eher bitteren Typs, ein begeisterter Musikliebhaber war und sogar bereit, in die Kirche zu gehen, um Musik zu hören. Nichts von all diesem also konnte mit der Tragödie in Miss Watsons Antlitz zu tun haben; und aus einem halb unbewußten Gefühl heraus wandte Father Brown sich erneut dem offenbar Wahnsinnigen zu, der da im Grase umherwühlte.

Als er zu ihm hinüberschlenderte, wurde der schwarze ungekämmte Kopf plötzlich gehoben, so als sei er von des Fathers andauernden Anwesenheit überrascht. Und tatsächlich war Father Brown aus Gründen, die nur er allein kannte, weit länger geblieben, als die Höflichkeit verlangte; oder auch nur üblicherweise gestattete.

»Also los!« schrie Cray mit wilden Augen. »Ich nehme an, Sie denken wie die übrigen, daß ich verrückt bin?«

»Ich habe diese Theorie erwogen«, erwiderte der kleine Mann gelassen. »Und ich neige zu der Annahme, daß Sie es nicht sind.«

»Was meinen Sie damit?« fauchte Cray reichlich bissig.

»Wirklich Verrückte«, erklärte Father Brown, »ermutigen stets ihre Krankhaftigkeit. Sie kämpfen nie dagegen an. Sie aber bemühen sich, die Spuren eines Einbrechers zu finden, selbst wenn es keine gibt. Sie kämpfen dagegen an. Sie wollen, was kein Verrückter je will.«

»Und was ist das?«

»Sie wollen widerlegt werden«, sagte Brown.

Während dieser letzten Worte war Cray auf die Füße gesprungen, oder besser getaumelt, und starrte den Geistlichen mit bewegten Blicken an. »Zum Teufel, das ist ein wahres Wort!« schrie er. »Alle hier reden auf mich ein, daß der Bursche lediglich hinter dem Silber her sei – als ob ich nicht nur zu erfreut wäre, wenn ich das auch glauben könnte! Sie redet auf mich ein«, und er warf seinen zerzausten schwarzen Kopf in Richtung auf Audrey herum, aber der andere bedurfte dieses Hinweises nicht, »sie redete heute auf mich ein, wie grausam es von mir sei, auf einen harmlosen Einbrecher zu schießen, und daß ich vom Teufel gegen die harmlosen Eingeborenen besessen sei. Und dabei war ich einst ein gutmütiger Mann – so gutmütig wie Putnam.«

Nach einer Pause sagte er: »Hören Sie, ich habe Sie noch nie gesehen; aber Sie sollen die ganze Geschichte beurteilen. Der alte Putnam und ich waren in der gleichen Offiziersmesse Freunde; aber aufgrund bestimmter Vorfälle an der afghanischen Grenze bekam ich weit früher mein Kommando als die meisten anderen Männer; nur wurden wir verwundet für eine Weile nach Hause geschickt. Ich hatte mich da draußen mit Audrey verlobt; und so reisten wir alle zusammen zurück. Aber auf der Rückreise kam es zu Vorfällen. Zu eigenartigen Vorfällen. Als Ergebnis davon wünscht Putnam, daß die Verlobung aufgelöst werde, und selbst Audrey läßt sie in der Schwebe. Ich weiß, wofür sie mich halten. Und Sie auch.

Nun gut, hier sind die Tatsachen. An unserem letzten Tag in einer indischen Stadt fragte ich Putnam, wo ich Trichinopoli-Zigarren bekommen könne; er verwies mich an ein kleines Geschäft gegenüber seiner Wohnung. Inzwischen habe ich herausgefunden, daß er völlig recht hatte; aber ›gegenüber‹ ist ein riskantes Wort, wenn einem anständigen Haus fünf oder sechs verkommene gegenüberstehen; und ich muß mich in der Tür geirrt haben. Sie öffnete sich nur sehr schwer, und dann in völlige Dunkelheit; aber als ich zurückgehen wollte, fiel die Tür hinter mir zu und rastete mit einem Geräusch von unzähligen Riegeln an ihrem Platz ein. Mir blieb nichts anderes übrig, als vorwärts zu gehen; und das tat ich auch, durch Gang nach Gang, in pechschwarzer Dunkelheit. Schließlich kam ich an Treppenstufen und dann an eine Geheimtür, die mit einem Riegelwerk der ausgeklügeltsten orientalischen Schloßmacherkunst verschlossen war, das ich nur durch Tasten untersuchen, aber schließlich doch öffnen konnte. Und wieder geriet ich in Düsternis, die unten durch eine Vielzahl kleiner aber stetig brennender Lampen in ein grünliches Zwielicht verwandelt wurde. Sie machten lediglich den Fuß oder den Sockel irgendeiner riesigen und leeren Architektur sichtbar. Unmittelbar vor mir war etwas, das wie ein Gebirge aussah. Ich gestehe, daß ich fast über die große steinerne Plattform stürzte, auf die ich herausgekommen war, als ich erkannte, daß es sich um ein Götzenbild handelte. Und am schlimmsten, es stand mit dem Rücken zu mir.

Es war kaum menschenähnlich, kam mir vor; jedenfalls wenn ich nach dem kleinen platten Kopf urteilte, und mehr noch nach einem Ding wie einem Schwanz oder einem zusätzlichen Glied, das hinten hochstand und wie ein ekelhafter Riesenfinger auf ein Symbol hinwies, das in die Mitte des weitläufigen steinernen Rückens eingegraben war. Ich hatte in dem matten Licht begonnen, nicht ohne Schrecken an der Hieroglyphe herumzurätseln, als etwas noch Schrecklicheres geschah. Eine Tür öffnete sich lautlos in der Tempelwand hinter mir, und ein Mann kam heraus mit braunem Gesicht und schwarzer Jacke. Er hatte ein eingraviertes Lächeln in seinem Gesicht aus kupfernem Fleisch und elfenbeinenen Zähnen; aber ich glaube, das Widerlichste an ihm war seine europäische Kleidung. Ich war, glaube ich, auf verhüllte Priester oder nackte Fakire vorbereitet. Das aber schien zu bezeugen, daß Teufelswerk die ganze Erde erobert habe. Wie ich dann herausfand, war es auch so.

›Wenn du nur des Affen Fuß gesehen hättest‹, sagte er mit stetem Lächeln und ohne weitere Vorrede, ›wären wir sehr milde gewesen – du wärest nur gefoltert und getötet worden. Wenn du des Affen Antlitz gesehen hättest, wären wir immer noch sehr maßvoll, sehr tolerant gewesen – du wärest nur gefoltert worden und dürftest leben. Da du aber des Affen Schwanz gesehen hast, müssen wir das furchtbarste Urteil verkünden. Und das lautet – Gehe in Freiheit.‹

Als er diese Worte sprach, hörte ich, wie das komplizierte eiserne Riegelwerk, mit dem ich mich so abgemüht hatte, sich automatisch öffnete: und dann hörte ich, wie sich weit hinten in den dunklen Gängen, die ich durchschritten hatte, die Riegel der schweren Straßentür von selbst wieder lösten.

›Es hat keinen Sinn, um Gnade zu bitten; du mußt frei gehen‹, sagte der lächelnde Mann. ›Von jetzt an wird ein Haar dich wie ein Schwert schneiden, und ein Hauch dich wie eine Natter stechen; Waffen werden wider dich aus dem Nichts kommen; und du sollst viele Male sterben.‹ Und damit verschluckte ihn die Wand erneut; und ich trat auf die Straße hinaus.«

Cray hielt inne; und Father Brown setzte sich ungekünstelt auf den Rasen und begann, Gänseblümchen zu pflücken.

Dann fuhr der Soldat fort: »Putnam machte sich mit seiner fröhlichen Alltagsvernunft natürlich über meine Ängste lustig; und seit jener Zeit zweifelt er an meiner geistigen Gesundheit. Na schön, und jetzt werde ich Ihnen mit den knappesten Worten die drei Dinge berichten, die sich seither ereignet haben; und dann sollen Sie urteilen, wer von uns recht hat.

Das erste ereignete sich in einem indischen Dorf am Rande des Dschungels, aber Hunderte von Meilen von dem Tempel und der Stadt und jenen Völkerstämmen und Gebräuchen entfernt, wo der Fluch auf mich gelegt worden war. Ich erwachte in der tiefsten Nacht und kg da und dachte an nichts Besonderes, als ich ein schwaches Kitzeln spürte, als ob ein Faden oder ein Haar über meine Gurgel gezogen würde. Ich zuckte davor zurück und mußte unwillkürlich an die Worte im Tempel denken. Als ich dann aufstand und mir Lampen und einen Spiegel gesucht hatte, erwies sich die Spur an meinem Hals als eine Blutspur.

Das zweite ereignete sich in einem Gasthof in Port Said, später während unserer gemeinsamen Heimreise. Es war eine Mischung aus Kneipe und Andenkenladen; und obwohl sich nichts da befand, was auch nur im entferntesten an den Affenkult erinnerte, ist es natürlich durchaus möglich, daß sich irgendwelche ihm zugehörigen Bildnisse oder Amulette dort befanden. Sein Fluch jedenfalls befand sich da. Ich erwachte wiederum in der Dunkelheit von einem Gefühl, das in keine kälteren oder buchstäblicheren Worte gefaßt werden könnte als die, daß ein Hauch mich stach wie eine Natter. Existenz war nurmehr Todeskampf der Auslöschung; ich schlug mit dem Kopf gegen die Wand, bis ich ihn gegen ein Fenster schlug; und stürzte mehr als ich sprang in den Garten darunter. Putnam, der arme Kerl, der den anderen Vorfall einen zufälligen Kratzer genannt hatte, mußte jetzt doch die Tatsache ernst nehmen, daß man mich im Morgengrauen halb besinnungslos unten auf dem Rasen fand. Ich befürchte aber, daß er meinen Geisteszustand ernst nahm, und nicht meine Geschichte.

Das dritte ereignete sich auf Malta. Wir befanden uns da in einer Festung; und zufälligerweise lagen unsere Schlafzimmer zur offenen See hin, die fast bis zu unseren Fensterbänken reichte, hätte es da nicht eine platte weiße Brustwehr gegeben, so kahl wie die See. Wieder wachte ich auf; aber es war nicht dunkel. Es war Vollmond, als ich zum Fenster ging; ich hätte einen Vogel auf den kahlen Zinnen sehen können oder ein Segel am Horizont. Was ich sah, war eine Art Stock oder Ast, der frei im leeren Himmel kreiste. Er flog geradenwegs durch mein Fenster und zerschmetterte die Lampe neben dem Kopfkissen, das ich gerade erst verlassen hatte. Es war eine jener sonderbar geformten Kriegskeulen, die manche östlichen Völker verwenden. Aber es war aus keiner menschlichen Hand gekommen.«

Father Brown warf die Gänseblümchenkette weg, die er geflochten hatte, und erhob sich mit nachdenklichem Gesicht. »Besitzt Major Putnam«, fragte er, »irgendwelche östlichen Erinnerungsstücke, Idole, Waffen oder so, von denen das eine oder andere vielleicht einen Fingerzeig geben könnte?«

»Viele, wenngleich nicht von großem Nutzen, fürchte ich«, erwiderte Cray; »aber kommen Sie doch auf alle Fälle in sein Arbeitszimmer.«

Als sie eintraten, gingen sie an Miss Watson vorüber, die sich ihre Handschuhe für die Kirche zuknöpfte, und sie hörten von unten Putnams Stimme, der immer noch dem Koch eine Vorlesung über die Kochkunst hielt. Im Arbeitszimmer und Kuriositätenkabinett des Majors stießen sie plötzlich auf einen Dritten, mit seidenem Zylinder und im Ausgehanzug, der am Rauchtisch über einem offenen Buch brütete – ein Buch, das er geradezu schuldbewußt fallen ließ, als er sich umdrehte.

Cray stellte ihn höflich genug als Dr. Oman vor, aber in seinem Gesicht zeigte sich eine solche Abneigung, daß Brown vermutete, die beiden Männer seien, ob Audrey das nun wußte oder nicht, Rivalen. Und der Priester war dem Vorurteil keineswegs abgeneigt. Dr. Oman war wirklich ein tadellos gekleideter Herr; mit gutgeschnittenen Zügen, obwohl fast so dunkel wie ein Asiate. Doch Father Brown mußte sich energisch zureden, daß man auch solchen gegenüber Nächstenliebe zu empfinden habe, die ihren Spitzbart wichsen, die schmale, behandschuhte Hände haben und die mit vollkommen modulierter Stimme sprechen.

Cray schien an dem kleinen Gebetbuch in Omans dunkel behandschuhter Hand etwas besonders Irritierendes zu finden. »Ich wußte nicht, daß das auf Ihrer Linie liegt«, sagte er ziemlich grob.

Oman lachte leicht und unbeleidigt. »Das hier ist es mehr, ich weiß«, sagte er und legte die Hand auf das dicke Buch, das er hatte fallen lassen, »ein Wörterbuch der Drogen und ähnlicher Dinge. Aber es ist viel zu groß, als daß man es in die Kirche mitnehmen könnte.« Dann schloß er das größere Buch, und wieder schien da ein feinster Hauch von Hast und Verwirrung zu sein.

»Ich nehme an«, sagte der Priester, der das Thema offenbar gerne wechseln wollte, »daß all diese Speere und anderen Sachen aus Indien sind?«

»Von überall her«, antwortete der Doktor. »Putnam ist ein alter Soldat und war soviel ich weiß auch in Mexiko und Australien und auf den Kannibalen-Inseln.«

»Ich hoffe, er hat nicht auch auf den Kannibalen-Inseln«, sagte Brown, »die Kunst des Kochens erlernt.« Und er ließ seine Blicke über die Schmortiegel und die anderen fremdartigen Geräte an den Wänden wandern.

In diesem Augenblick schob das fröhliche Subjekt ihres Gesprächs sein lachendes hummeriges Gesicht ins Zimmer. »Nun komm schon, Cray«, rief er. »Dein Essen wird gerade aufgetragen. Und die Glocken läuten für die Kirchgänger.«

Cray verschwand nach oben, um sich umzuziehen; Dr. Oman und Miss Watson verfügten sich feierlich inmitten anderer Kirchgänger die Straße hinab; aber Father Brown bemerkte, daß der Doktor sich zweimal umsah und das Haus beobachtete; und daß er sogar bis zur Straßenecke zurückkam, um es erneut zu überblicken.

Der Priester sah verwirrt aus. »Er kann nicht am Müllbehälter gewesen sein«, murmelte er. »Nicht in dem Anzug. Oder war er heute schon früher da?«

Father Brown war, was andere Menschen anging, so feinfühlig wie ein Barometer; heute aber schien er so feinfühlig zu sein wie ein Nilpferd. Keine gesellschaftliche Anstandsregel, sei sie nun von der strikten oder von der unausgesprochenen Art, ließ sein Verweilen beim Mahle der angloindischen Freunde zu; und doch verweilte er, wobei er seine Position durch einen Schwall amüsanter aber völlig überflüssiger Konversation verschleierte. Das war um so rätselhafter, als er keinerlei Anteil an der Mahlzeit wünschte. Als nacheinander die exquisitest gewürzten Curry-Reisspeisen vor die beiden anderen hingestellt wurden, begleitet von den zugehörigen Weinen, wiederholte er nur, daß dies einer seiner Fasttage sei, und knabberte an einem Stück Brot und nippte an einem Glas kalten Wassers, das er dann aber nicht mehr anrührte. Dafür war sein Redestrom überwältigend.

»Ich will Ihnen sagen, was ich für Sie tun werde«, rief er; »ich werde Ihnen einen Salat anmachen! Ich darf ihn zwar nicht essen, aber ich werde ihn anmachen wie ein Engel! Da haben Sie ja einen Kopfsalat.«

»Das ist unglücklicherweise das einzige, was wir haben«, antwortete der Major gutgelaunt. »Erinnern Sie sich, daß Senf, Essig, Öl und so weiter mit dem Gewürzständer und dem Einbrecher verschwunden sind.«

»Ich weiß«, erwiderte Brown unbestimmt. »Ich habe immer befürchtet, daß das geschehen würde. Deshalb trage ich auch immer einen Gewürzständer mit mir. Ich liebe eben Salat.«

Und zum Erstaunen der beiden Männer zog er einen Pfefferstreuer aus seiner Westentasche und stellte ihn auf den Tisch.

»Ich frage mich, was der Einbrecher mit dem Senf wollte«, fuhr er fort und zog ein Senftöpfchen aus einer anderen Tasche. »Vermutlich ein Senfpflaster. Und Essig« – während er diese Würze hervorbrachte – »habe ich da nicht etwas über Essig und braunes Papier gehört? Was Öl angeht, das ich wohl in meine linke – «

Seine Geschwätzigkeit ward für einen Augenblick angehalten; denn als er den Blick hob, sah er, was sonst niemand sah – die schwarze Gestalt von Dr. Oman, der auf dem sonnenbeschienenen Rasen stand und reglos in das Zimmer schaute. Bevor er sich jedoch wieder fassen konnte, war Cray eingefallen.

»Sie sind schon eine erstaunliche Nummer«, sagte er mit starrem Blick. »Wenn Ihre Predigten so amüsant sind wie Ihre Manieren, werde ich gerne kommen und sie anhören.« Seine Stimme veränderte sich ein wenig, und er lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

»Oh, ein Gewürzständer enthält auch Predigten«, sagte Father Brown sehr ernsthaft. »Haben Sie denn nichts vom Glauben gehört, der wie ein Senfkorn ist; oder vom Erbarmen, das mit Öl salbt? Und was den Essig angeht, kann denn irgendein Soldat jenen einsamen Soldaten vergessen, der, als sich die Sonne verdunkelte – «

Oberst Cray beugte sich ein wenig vor und griff krampfhaft in das Tischtuch.

Father Brown, der den Salat anmachte, rührte zwei Löffel Senf in das Glas Wasser neben sich; dann stand er auf und sagte mit einer neuen, lauten und jähen Stimme: »Trinken Sie das!«

Im gleichen Augenblick kam der bewegungslose Doktor aus dem Garten herbeigestürzt, sprengte ein Fenster auf und rief: »Werde ich gebraucht? Hat man ihn vergiftet?«

»Fast«, sagte Brown mit dem Schatten eines Lächelns; denn das Brechmittel hatte sehr plötzlich gewirkt. Und Cray lag in einem Liegestuhl und keuchte wie ums Leben, aber lebend.

Major Putnam war aufgesprungen, sein purpurrotes Gesicht grau gefleckt. »Ein Verbrechen!« schrie er heiser. »Ich werde die Polizei holen!«

Der Priester konnte hören, wie er seinen Palmblätterhut vom Haken riß und durch die Eingangstür davonstürzte; er hörte das Gartentor schlagen. Aber er stand nur da und sah Cray an; und nach einigem Schweigen sagte er ruhig:

»Ich werde nicht viel sagen; aber ich werde Ihnen sagen, was Sie wissen wollen. Auf Ihnen liegt kein Fluch. Der Tempel des Affen war entweder Zufall oder ein Teil des Tricks; und der Trick war ein Trick des weißen Mannes. Es gibt nur eine Waffe, die eine Blutspur mit jener federleichten Berührung zieht: ein Rasiermesser in der Hand eines weißen Mannes. Es gibt nur einen Weg, ein gewöhnliches Zimmer mit einem unsichtbaren überwältigenden Gift zu füllen: das Gas anzudrehen – das Verbrechen eines weißen Mannes. Und es gibt nur eine Art Keule, die man aus einem Fenster schleudern kann, die sich inmitten der Luft umdreht und in das nächstgelegene Fenster zurückfliegt: der australische Bumerang. Sie können davon einige im Arbeitszimmer des Majors sehen.«

Und damit ging er nach draußen und sprach einen Augenblick mit dem Doktor. Im nächsten Augenblick kam Audrey Watson ins Haus gestürzt und warf sich neben Crays Stuhl auf die Knie. Er konnte nicht hören, was sie einander sagten; aber ihre Gesichter bewegte Freude und nicht Unglück. Der Doktor und der Priester gingen langsam auf das Gartentor zu.

»Ich nehme an, daß auch der Major sie liebte«, sagte er mit einem Seufzer; und als der andere nickte, bemerkte er: »Sie haben sich sehr nobel verhalten, Doktor. Sie haben eine schöne Tat getan. Aber was hat Ihren Verdacht erregt?«

»Eine winzige Kleinigkeit«, sagte Oman; »aber in der Kirche ließ es mir keine Ruhe, so daß ich zurückkam, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei. Das Buch auf seinem Tisch war ein Werk über Gifte; und es war an der Stelle geöffnet, wo steht, daß ein bestimmtes indisches Gift, obwohl tödlich und kaum nachzuweisen, besonders einfach durch die Anwendung der einfachsten Brechmittel unschädlich gemacht werden kann. Ich nehme an, daß er das im letzten Augenblick gelesen hat – «

»Und sich daran erinnerte, daß es im Gewürzständer Brechmittel gab«, sagte Father Brown. »Genau so war es. Er warf den Ständer in den Müllbehälter – wo ich ihn zusammen mit anderem Silber fand –, um einen Einbruch vorzutäuschen. Wenn Sie sich aber den Pfefferstreuer ansehen, den ich auf den Tisch gestellt habe, werden Sie ein kleines Loch sehen. Da traf Crays Kugel, wirbelte den Pfeffer hoch und machte den Verbrecher niesen.«

Es herrschte Schweigen. Dann sagte Dr. Oman ingrimmig: »Der Major brauchte lange, um die Polizei zu finden.«

»Oder die Polizei, um den Major zu finden?« sagte der Priester. »Wie auch immer, auf Wiedersehen.«

Das eigentümliche Verbrechen von John Boulnois

Mr. Calhoun Kidd war ein sehr junger Herr mit einem sehr alten Gesicht, einem von seinem eigenen Eifer ausgetrockneten Gesicht, von schwarzblauem Haar und einer schwarzen Fliege umrahmt. Er war der nach England entsandte Platzhalter der gewaltigen amerikanischen Tageszeitung ›Western Sun‹ – spöttisch auch als »der aufgehende Sonnenuntergang« bezeichnet. Das war eine Anspielung auf die bedeutende journalistische Deklaration (die man Mr. Kidd selbst zuschrieb), daß »er der Meinung ist, die Sonne würde auch im Westen aufgehen, wenn die amerikanischen Bürger sich nur ein wenig mehr sputen würden«. Jene aber, die sich vom Standpunkt gereifterer Traditionen über den amerikanischen Journalismus lustig machen, vergessen ein gewisses Paradoxon, das dies teilweise wieder aufwiegt. Denn wenngleich der Journalismus in den Staaten eine pantomimische Vulgarität gestattet, über die alles Englische längst hinaus ist, zeigt er ebenso eine wahre Begeisterungsfähigkeit für die ernsthaftesten geistigen Probleme, zu der englische Zeitungen zu unschuldig oder besser unfähig sind. Die ›Sun‹ war voll der ernsthaftesten Themen, die auf die possenhafteste Weise behandelt wurden. William James tauchte dort ebenso auf wie »Weary Willie«, und Pragmatiker wechselten sich mit Pugilisten in der langen Prozession ihrer Porträts ab.

Als daher ein sehr unauffälliger Professor zu Oxford namens John Boulnois in einer sehr unlesbaren Zeitschrift namens ›Natural Philosophy Quarterly‹ eine Artikelserie über angebliche Schwachpunkte in Darwins Entwicklungstheorie veröffentlichte, bewegte sich kein Blatt im englischen Blätterwald, obwohl Boulnois Theorie (von einem wesentlich statischen Universum, das von Zeit zu Zeit von Konvulsionen der Veränderung heimgesucht wird) in Oxfords feinen Kreisen fashionable war und dort sogar den Namen »Katastrophismus« erhielt. Viele amerikanische Zeitungen aber griffen diese Herausforderung als bedeutendes Ereignis auf; und die ›Sun‹ warf den Schatten von Mr. Boulnois gigantisch über ihre Seiten. Durch das bereits genannte Paradoxon geschah es nun, daß Artikel von beachtlicher Intelligenz und Begeisterungsfähigkeit unter Schlagzeilen erschienen, die offensichtlich ein illiterater Wahnsinniger verfaßt hatte; Schlagzeilen wie »Darwin kaut Dreck; Kritiker Boulnois kommt Schocks zuvor« – oder »Seid katastrophenbewußt, rät Denker Boulnois«. Und Mr. Calhoun Kidd von der ›Western Sun‹ ward angewiesen, sich mit Fliege und Leichenbittermiene zu jenem kleinen Hause außerhalb Oxfords zu begeben, in dem Denker Boulnois in glücklicher Unkenntnis eines solchen Titels lebte.

Dieser von den Schicksalsmächten auserkorene Philosoph hatte ziemlich verwirrt zugestimmt, den Interviewer zu empfangen, und hatte die neunte Stunde jenes Abends dafür angesetzt. Die letzten Strahlen eines Sommersonnenuntergangs hingen über Cumnor und den niedrigen bewaldeten Hügeln; der romantische Yankee war sich seines Weges nicht sicher und neugierig auf die Umgebung; und da er die Tür eines echten feudalen altländlichen Gasthofs, ›The Champion Arms‹, offenstehen sah, trat er ein, um Erkundungen einzuziehen.

In der Schankstube läutete er und hatte einige Zeit auf Antwort zu warten. Die einzige andere anwesende Person war ein hagerer Mann mit dichtem rotem Haar und lockerer, sportlicher Kleidung, der sehr schlechten Whisky trank, aber eine sehr gute Zigarre rauchte. Der Whisky war natürlich die Hausmarke von ›The Champion Arms‹; die Zigarre hatte er sich wahrscheinlich aus London mitgebracht. Nichts hätte widersprüchlicher sein können als seine zynische Saloppheit und die gewandte Nüchternheit des jungen Amerikaners; aber irgend etwas an seinem Bleistift und offenen Notizbuch, und vielleicht im Ausdruck seiner lebhaften blauen Augen, veranlaßte Kidd dazu, zutreffend zu vermuten, daß er ein Bruder im Journalismus sei.

»Würden Sie mir den Gefallen tun«, sagte Kidd mit der ganzen Höflichkeit seiner Nation, »und mir den Weg zum Grey Cottage weisen, wo meines Wissens Mr. Boulnois lebt?«

»Paar Meter die Straße runter«, sagte der rothaarige Mann und entfernte seine Zigarre; »ich werd da selbst in ein paar Minuten vorbeikommen, aber ich will weiter zum Pendragon Park und mir den Spaß ansehen.«

»Was ist der Pendragon Park?« fragte Calhoun Kidd.

»Der Besitz von Sir Claude Champion – sind Sie denn nicht auch deswegen hergekommen?« fragte der andere Pressemann und blickte auf. »Sie sind doch Journalist, oder?«

»Ich bin gekommen, um Herrn Boulnois zu sehen«, sagte Kidd.

»Ich bin gekommen, um Frau Boulnois zu sehen«, erwiderte der andere. »Aber ich werde sie kaum zu Hause erwischen.« Und er lachte ziemlich unerfreulich.

»Sind Sie am Katastrophismus interessiert?« erkundigte sich der verwunderte Yankee.

»Ich bin an Katastrophen interessiert; und es wird ein paar geben«, erwiderte sein Genosse düster. »Ich betreibe ein schmutziges Geschäft, und hab nie was anderes behauptet.«

Damit spie er auf den Boden; und doch konnte man gerade an Tat und Zeitpunkt erkennen, daß der Mann als Gentleman erzogen worden war.

Der amerikanische Pressemann betrachtete ihn aufmerksamer. Sein Gesicht war fahl und verwüstet und verriet die Fähigkeit zum Ausbruch beachtlicher Leidenschaften; aber es war ein kluges und feinfühliges Gesicht; seine Kleidung war grob und nachlässig, aber er trug einen wertvollen Siegelring an einem seiner langen dünnen Finger. Sein Name war, wie sich im Gespräch herausstellte, James Dalroy; er war der Sohn eines bankrotten irischen Grundbesitzers und arbeitete für ein Blatt der Regenbogenpresse namens ›Die feine Gesellschaft‹, das er von Herzen verabscheute, als Reporter und als etwas einem Spion schmerzlich Ähnliches.

›Die feine Gesellschaft‹, ich bedaure, das sagen zu müssen, empfand nichts von dem Interesse an Boulnois oder Darwin, das Herz und Hirn der ›Western Sun‹ solche Ehre machte. Dalroy war offenbar hergekommen, um die Spur eines Skandals auszuschnüffeln, die leicht vor dem Scheidungsrichter enden konnte, sich aber gegenwärtig zwischen Grey Cottage und Pendragon Park erstreckte.

Sir Claude Champion war den Lesern der ›Western Sun‹ ebenso bekannt wie Mr. Boulnois. So wie der Papst und der Derby-Sieger; aber die Vorstellung, diese beiden könnten sich näher kennen, wäre Kidd als ebenso absurd vorgekommen. Er hatte über Sir Claude Champion reden gehört (und über ihn geschrieben, gar fälschlich vorgegeben, ihn zu kennen) als »einen der blendendsten und wohlhabendsten von Englands Oberen Zehn«; als den großen Sportsmann, der Rennjachten rund um die Welt segelte; als den großen Reisenden, der Bücher über den Himalaja schrieb; als den Politiker, der Wählermassen mit einer aufregenden Variante von Tory-Demokratie anzog; als den großen Liebhaber der Künste, der Musik, der Literatur und, vor allem, der Schauspielkunst. Sir Claude war wirklich in den Augen aller außer der Amerikaner großartig. In seiner alles verschlingenden Kultur und seiner rastlosen Sucht nach Öffentlichkeit war etwas von einem Renaissancefürsten; er war nicht nur ein hervorragender, er war sogar ein glühender Amateur. An ihm war nichts von jener altertümelnden Oberflächlichkeit, die wir mit dem Begriff des »Dilettanten« verbinden.

Jenes makellose Falkenprofil mit den brillantschwarzen italienischen Augen, das so oft sowohl für ›Die Feine Gesellschaft‹ wie für die ›Western Sun‹ geschnappschußt worden war, vermittelte jedermann den Eindruck eines Mannes, den der Ehrgeiz wie ein Feuer oder gar wie eine Seuche zerfraß. Aber obwohl Kidd viel über Sir Claude wußte – tatsächlich mehr, als es zu wissen gab –, wäre es ihm selbst in seinen wildesten Träumen nicht eingefallen, diesen so glänzenden Aristokraten mit jenem jüngst erst ausgegrabenen Begründer des Katastrophismus in Beziehung zu bringen oder zu ahnen, daß Sir Claude Champion und John Boulnois enge Freunde seien. Das aber war, nach Dalroys Bericht, dennoch eine Tatsache. Die beiden hatten zusammen Schule und Universität besucht, und obwohl ihre gesellschaftlichen Geschicke sich gänzlich unterschiedlich gestalteten (denn Champion war Großgrundbesitzer und nahezu Millionär, während Boulnois ein armer und bis vor kurzem auch noch unbekannter Gelehrter war), waren sie doch in engem Kontakt miteinander geblieben. Boulnois’ Cottage stand sogar unmittelbar vor den Toren von Pendragon Park.

Ob aber die beiden Männer noch sehr viel länger Freunde bleiben könnten, wurde zu einer dunklen und häßlichen Frage. Ein oder zwei Jahre zuvor hatte Boulnois eine wunderschöne und nicht erfolglose Schauspielerin geheiratet, der er auf seine schüchterne und schwerfällige Weise ergeben war; und die Nähe zu Champions Haushaltung hatte jener koketten Berühmtheit Gelegenheit geboten, sich in einer Weise aufzuführen, die nur schmerzliche und ziemlich niedrige Aufregung auslösen konnte. Sir Claude hatte die Kunst der Publicity zur Perfektion entwickelt; und er schien ein verrücktes Vergnügen daran zu finden, gleichermaßen aufsehenerregend eine geheime Liebesbeziehung durchzuspielen, die ihm auf keinen Fall zur Ehre gereichen konnte. Diener aus Pendragon überbrachten ständig Blumengebinde für Mrs. Boulnois; Kaleschen und Autos holten ständig Mrs. Boulnois im Cottage ab; Bälle und Maskenfeste erfüllten ständig die Anlagen, in denen der Freiherr Mrs. Boulnois wie die Königin der Liebe und Schönheit eines Minneturniers vorführte. Jenen speziellen Abend, den Mr. Kidd für die Darlegung des Katastrophismus vorgesehen hatte, hatte Sir Claude für eine Freiluftaufführung von Romeo und Julia vorgesehen, bei der er den Romeo einer Julia zu spielen hatte, deren Namen zu nennen unnötig ist.

»Ich glaub nicht, daß das ohne Krach so weitergehen kann«, sagte der junge Mann mit dem roten Haar, stand auf und reckte sich. »Der alte Boulnois kann in die Enge getrieben sein – oder er kann anständig sein. Aber wenn er anständig ist, ist er strohdumm. Doch das kann ich nicht für möglich halten.«

»Er ist ein Mann von großer geistiger Kraft«, sagte Calhoun Kidd mit tiefer Stimme.

»Ja«, antwortete Dalroy; »aber selbst ein Mann von großer geistiger Kraft kann nicht so ein blinder Blödian sein. Müssen Sie schon gehn? Ich werd Ihnen in ein oder zwei Minuten nachkommen.«

Calhoun Kidd aber, der seine Milchsoda ausgetrunken hatte, machte sich rasch auf den Weg zum Grey Cottage und ließ seinen zynischen Informanten bei Whisky und Tabak. Das letzte Tageslicht war erloschen; der Himmel war von dunklem Grüngrau, wie aus Schiefer, und hie und da mit einem Stern besteckt, am linken Himmelsrand aber lichter, was auf den aufgehenden Mond hinwies.

Grey Cottage stand sozusagen verschanzt in einem Viereck aus starren hohen Dornenhecken und so nahe den Kiefern und Palisaden des Parks, daß Kidd es zunächst für das Pförtnerhäuschen hielt. Als er dann aber den Namen auf dem schmalen Holztor fand und auf seiner Uhr sah, daß die Stunde der Verabredung mit dem »Denker« soeben geschlagen hatte, trat er ein und klopfte an die Vordertür. Als er innerhalb der Hecke war, konnte er sehen, daß das Haus, obwohl unscheinbar genug, doch größer und luxuriöser war, als es zunächst aussah, und etwas ganz anderes als ein Pförtnerhäuschen. Eine Hundehütte und ein Bienenstock standen davor wie Symbole des alten englischen Landlebens; der Mond ging hinter einer schönen Birnbaumpflanzung auf; der Hund, der aus seiner Hütte kam, war ehrerbietig und zurückhaltend mit Bellen; und der einfache ältliche Diener, der die Tür öffnete, war ebenso wortkarg wie würdevoll.

»Mr. Boulnois hat mich beauftragt, Ihnen seine Entschuldigung auszurichten«, sagte er, »aber er sah sich gezwungen, plötzlich auszugehen.«

»Hören Sie mal zu, ich habe aber eine Verabredung«, sagte der Interviewer mit lauter werdender Stimme. »Wissen Sie denn, wo er hingegangen ist?«

»Nach Pendragon Park, Sir«, sagte der Diener düster und begann, die Tür zu schließen.

Kidd fuhr ein bißchen zusammen.

»Ist er mit Mrs…. mit den übrigen hingegangen?« fragte er vage.

»Nein, Sir«, sagte der Mann kurz; »er blieb zurück, und ging dann allein aus.« Und er schloß brutal die Tür, doch mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er seine Pflicht nicht getan.

Der Amerikaner, diese eigenartige Zusammensetzung aus Unverfrorenheit und Feinfühligkeit, war verärgert. Er fühlte ein starkes Verlangen, sie alle aufzuscheuchen und ihnen Geschäftsmanieren beizubringen; dem angegrauten alten Hund und dem ergrauten, schwergesichtigen alten Diener mit seinem vorsintflutlichen Vorsteckhemd, und dem schläfrigen alten Mond, und vor allem diesem zerstreuten alten Philosophen, der seine Verabredung nicht einhalten konnte.

»Wenn der sich so benimmt, dann hat er es verdient, die reinste Anbetung seiner Frau zu verlieren«, sagte Mr. Calhoun Kidd. »Aber vielleicht ist er rübergegangen, um Krach zu schlagen. Für den Fall aber meine ich, sollte ein Mann von der ›Western Sun‹ an Ort und Stelle sein.«

Und indem er um die Ecke in die offenen Parktore bog, zog er los und stapfte die lange Allee schwarzer Föhren hinauf, die in jäher Flucht in die inneren Gärten von Pendragon Park führte. Die Bäume standen so schwarz und ordentlich da wie Federn auf einem Leichenwagen; noch waren einige Sterne zu sehen. Er war ein Mann von eher literarischen als unmittelbaren Naturbeziehungen; so kam ihm das Wort »Rabenwald« wiederholt in den Sinn. Teils kam das von der Rabenfarbe der Föhren; teils aber auch aus einer unbeschreiblichen Stimmung, die in Scotts großer Tragödie fast beschrieben ist; der Ruch nach etwas, das im 18. Jahrhundert gestorben ist; der Ruch von dunklen Gärten und zerbrochenen Urnen, von Falschem, das nun nie mehr gerichtet werden kann; nach etwas, das nicht weniger unheilbar traurig ist, weil es eigenartig unwirklich ist.

Mehr als einmal blieb er, während er diese gepflegte schwarze Straße von tragischer Künstlichkeit hinanschritt, aufgeschreckt stehen, weil er glaubte, er höre Schritte vor sich. Doch konnte er vor sich nichts sehen als die düstere Doppelwand der Föhren und den Keil des Sternenhimmels über ihnen. Zuerst dachte er, er habe sich das eingebildet oder sei auf das Echo seiner eigenen Schritte hereingefallen. Als er aber weiterging, neigte er mehr und mehr dazu, mit den Überbleibseln seiner Vernunft zu schließen, daß da wirklich andere Schritte auf der Straße waren. Er dachte vage an Geister; und er war überrascht, wie schnell er das Bild eines angemessenen örtlichen Geistes zu erblicken vermochte, eines Geistes mit einem Gesicht so weiß wie das von Pierrot, aber schwarz gefleckt. Die Spitze des Dreiecks aus dunkelblauem Himmel wurde heller und blauer, aber noch begriff er nicht, daß das geschah, weil er den Lichtern des großen Hauses und seines Gartens näher kam. Er spürte nur, daß die Stimmung dichter wurde; da war in der Traurigkeit mehr Gewalt und mehr Geheimnis, mehr – er zögerte vor dem Wort und stieß es dann mit einem kurzen Lachen aus – Katastrophismus.

Mehr Föhren, mehr Fahrweg versanken hinter ihm, und dann blieb er wie durch einen Zauberbann angewurzelt stehen. Überflüssig wäre es zu sagen, er fühlte sich, als ob er in einen Traum geraten sei; diesmal aber war er sich sicher, daß er in ein Buch geraten war. Denn wir Menschen sind an unpassende Dinge gewöhnt; wir sind an das Geklapper des Zusammenhanglosen gewöhnt; das ist eine Melodie, bei der wir einschlafen können. Wenn aber ein passendes Ding geschieht, weckt es uns auf wie der Klang eines vollkommenen Akkords. Etwas geschah, wie es an einem solchen Ort in einem vergessenen Märchen geschehen wäre.

Über die schwarzen Föhren flog funkelnd im Mondenschein ein blanker Degen heran – solch ein schlankes und sprühendes Rapier, wie es manches ungerechte Duell in jenem alten Park ausgefochten haben mochte. Es fiel weit vorauf auf den Fußweg vor ihm und lag schimmernd da wie eine große Nadel. Er rannte wie ein Hase zu ihm und beugte sich darüber, es zu betrachten. Aus der Nähe sah es reichlich prunkvoll aus: die großen roten Juwelen an Heft und Stichblatt waren ein bißchen fragwürdig. Aber da waren andere rote Tropfen auf der Klinge, die nicht fragwürdig waren.

Er blickte sich wild in die Richtung um, aus der das blinkende Wurfgeschoß gekommen war, und sah, daß an dieser Stelle die zobeldüstre Front von Föhren und Tannen rechtwinklig durch einen schmaleren Weg unterbrochen war, der ihn, als er auf ihn eingebogen war, des langen erleuchteten Hauses ansichtig werden ließ, mit einem Teich und Springbrunnen davor. Dennoch sah er sich das nicht an, da er etwas Interessanteres zu besehen hatte.

Über ihm befand sich am Rand des steilen grünen Sockels des terrassierten Gartens eine jener kleinen malerischen Überraschungen, die in der alten Landschaftsgärtnerei so üblich waren; eine Art kleinen runden Hügels, eine kleine Kuppel aus Rasen, wie ein riesiger Maulwurfshügel, beringt und bekrönt von drei konzentrischen Rosenhecken, mit einer Sonnenuhr mitten auf dem höchsten Punkt. Kidd konnte den Zeiger über dem Zifferblatt dunkel vor dem Himmel sehen wie die Rückenfinne eines Hais, und wie das nichtige Mondenlicht an jener müßigen Uhr festhing. Aber während eines wilden Augenblicks sah er noch etwas daran festhängen – die Gestalt eines Mannes.

Obwohl er sie da nur für einen Augenblick sah, obwohl sie in einem fremdländischen und unglaublichen Kostüm steckte, von Kopf bis Fuß in enganliegendes Karmesin gehüllt und stellenweise golddurchwirkt, erkannte er doch in einem Mondenstrahl, wer es war. Dieses weiße, himmelwärts gerichtete Gesicht, glattrasiert und unnatürlich jung, ein Byron mit römischer Nase, jene schwarzen, schon ergrauenden Locken – er hatte Tausende der öffentlichen Porträts von Sir Claude Champion gesehen. Die wilde rote Gestalt taumelte für einen Augenblick gegen die Sonnenuhr; im nächsten war sie bereits den steilen Hang herabgerollt und lag zu Füßen des Amerikaners und bewegte schwach einen Arm. Ein grelles, unnatürlich goldenes Ornament auf dem Ärmel erinnerte Kidd plötzlich an Romeo und Julia; natürlich, die enganliegende karmesinrote Kleidung war Teil des Stückes. Aber da zog sich ein langer roter Fleck den Hang herunter, wo der Mann herabgerollt war – der war nicht Teil des Stückes. Er war erstochen worden.

Mr. Calhoun Kidd rief um Hilfe, und rief erneut. Und wieder schien es ihm, als höre er phantastische Fußschritte, und er fuhr hoch, nur um eine andere Gestalt bereits nahe bei sich zu sehen. Er kannte die Gestalt, und doch erschreckte sie ihn. Der liederliche Jüngling, der sich Dalroy nannte, hatte eine entsetzlich ruhige Art; und wenn Boulnois Verabredungen nicht einhielt, die er getroffen hatte, so hatte Dalroy eine dräuende Weise, Verabredungen einzuhalten, die er nicht getroffen hatte. Mondenlicht verfärbt alles; unter seinen roten Haaren war Dalroys bleiches Gesicht nicht so sehr weiß wie fahlgrün.

All dieser morbide Impressionismus mag Kidds Entschuldigung dafür sein, daß er brutal und ohne alle Vernunft aufgeschrieen hatte: »Haben Sie das getan, Sie Teufel?«

James Dalroy lächelte sein unerfreuliches Lächeln; aber bevor er etwas sagen konnte, machte die gestürzte Gestalt eine weitere Bewegung mit dem Arm und winkte vage in die Richtung, wo der Degen niedergefallen war; dann kam ein Stöhnen, und dann gelang es ihr zu sprechen.

»Boulnois… Boulnois sag ich… Boulnois hat es getan… eifersüchtig… er war eifersüchtig, er war, er war…«

Kidd neigte sich vor, um mehr zu hören, und konnte gerade noch die Worte vernehmen: »Boulnois… mit meinem eigenen Degen… er hat ihn geschleudert…«

Und wieder winkte die versagende Hand zum Degen hin und fiel dann mit einem Aufprall steif hin. In Kidd stieg aus den tiefsten Tiefen jener bittere Humor empor, der das seltsame Salz seiner Rasse ist, wenn es ihr ernst wird.

»Hören Sie her«, sagte er scharf und befehlend, »Sie müssen einen Doktor holen. Dieser Mann ist tot.«

»Und vermutlich auch einen Priester«, sagte Dalroy auf eine undurchschaubare Weise. »All diese Champions sind Papisten.«

Der Amerikaner kniete neben dem Körper nieder, tastete nach dem Herzschlag, stützte den Kopf auf und unternahm einige letzte Versuche der Wiederbelebung; aber noch ehe der andere Journalist mit einem Arzt und einem Priester wieder erschien, war er bereits bereit zu bestätigen, daß sie zu spät kämen.

»Sind Sie auch zu spät gekommen?« fragte der Doktor, ein solider und wohlhabend aussehender Mann mit dem üblichen Schnurr- und Backenbart, aber einem lebhaften Blick, der Kidd mißtrauisch betrachtete.

»In gewissem Sinne ja«, dehnte der Vertreter der ›Sun‹. »Ich kam zu spät, um den Mann zu retten, aber ich war gerade noch zur rechten Zeit da, um etwas Wichtiges zu hören. Ich habe den toten Mann seinen Mörder nennen gehört.«

»Und wer war der Mörder?« fragte der Doktor und runzelte die Augenbrauen.

»Boulnois«, sagte Calhoun Kidd und pfiff leise vor sich hin.

Der Doktor starrte ihn düster an und seine Stirn rötete sich; aber er widersprach nicht. Dann sagte der Priester, eine kleinere Gestalt im Hintergrund, milde: »Ich dachte, daß Mr. Boulnois heute abend nicht nach Pendragon Park käme.«

»Auch hier«, sagte der Yankee grimmig, »befinde ich mich in der Lage, dem alten Land ein oder zwei Fakten zu liefern. Yes, Sir, John Boulnois wollte den ganzen Abend zu Hause bleiben; er traf eine feste ordentliche Verabredung mit mir. Aber John Boulnois änderte seine Meinung; John Boulnois verließ plötzlich sein Haus, allein, und kam vor einer Stunde oder so in diesen verfluchten Park. Sein Butler hat mir das gesagt. Ich glaube, damit haben wir, was die allweise Polizei eine Spur nennen würde – haben Sie nach ihr geschickt?«

»Ja«, sagte der Doktor; »aber sonst haben wir noch niemanden benachrichtigt.«

»Weiß es Frau Boulnois?« fragte James Dalroy; und wieder wurde Kidd sich des irrationalen Wunsches bewußt, ihm eins über seinen sich kräuselnden Mund zu geben.

»Ich hab’ es ihr nicht erzählt«, sagte der Doktor schroff; »aber hier kommt die Polizei.«

Der kleine Priester war auf den Hauptweg hinausgetreten und kam jetzt mit dem niedergefallenen Degen zurück, der sich neben seiner dicklichen, klerikalischen und gewöhnlichen Gestalt lächerlich groß und theatralisch ausnahm. »Bevor die Polizei kommt«, sagte er entschuldigend, »hat jemand ein Licht?«

Der Yankee-Journalist zog eine elektrische Lampe aus seiner Tasche, und der Priester hielt sie nahe an die Mitte der Klinge, die er mit blinzelnder Sorgfalt untersuchte. Dann reichte er die lange Waffe ohne einen Blick auf Spitze oder Knauf dem Arzt.

»Hier bin ich nicht mehr von Nutzen«, sagte er mit einem kurzen Seufzer. »So wünsche ich Ihnen denn eine gute Nacht, die Herren.« Und er schritt durch die dunkle Allee auf das Haus zu, die Hände hinter sich verschränkt und den großen Kopf nachdenklich gebeugt.

Der Rest der Gruppe hastete zum Parktor, wo ein Inspektor und zwei Konstabler bereits im Gespräch mit dem Pförtner zu sehen waren. Der kleine Priester aber schritt immer langsamer und langsamer durch den dunklen Kreuzgang der Föhren und blieb schließlich abrupt an den Stufen zum Haus stehen. Das war seine schweigende Art der Anerkennung einer ebenso schweigenden Annäherung; denn ihm entgegen kam ein Wesen, das selbst Calhoun Kidds Anforderungen an einen lieblichen und aristokratischen Geist hätte zufriedenstellen können. Es war eine junge Frau, gekleidet in Silbersatin im Renaissance-Stil; ihr goldenes Haar hing in zwei langen schimmernden Zöpfen nieder, und ihr Gesicht war zwischen ihnen von so erschreckender Blässe, als sei sie chryselefantin – wie einige der alten griechischen Statuen also gefertigt aus Elfenbein und Gold. Aber ihre Augen waren sehr hell, und ihre Stimme, obwohl leise, war vertrauensvoll.

»Father Brown?« sagte sie.

»Mrs. Boulnois?« erwiderte er ernst. Dann sah er sie an und sagte sofort: »Wie ich sehe, wissen Sie von Sir Claude.«

»Woher wissen Sie, daß ich weiß?« fragte sie gelassen.

Er beantwortete die Frage nicht, sondern stellte eine andere: »Haben Sie Ihren Gatten gesehen?«

»Mein Gatte ist zu Hause«, sagte sie. »Er hat mit all dem hier nichts zu tun.«

Wiederum antwortete er nicht; und die Frau trat näher zu ihm hin mit einem eigenartig intensiven Gesichtsausdruck.

»Soll ich Ihnen noch mehr erzählen?« sagte sie mit einem ängstlichen Lächeln. »Ich glaube nicht, daß er es getan hat, und Sie glauben es auch nicht.«

Father Brown gab ihren Blick mit einem langen ernsten zurück, und dann nickte er noch ernster.

»Father Brown«, sagte die Dame, »ich werde Ihnen alles sagen, was ich weiß, aber ich bitte Sie zuvor um einen Gefallen. Würden Sie mir bitte sagen, warum Sie sich nicht der Schlußfolgerung angeschlossen haben, der arme John sei schuldig, wie alle anderen es taten? Sprechen Sie ganz offen: Ich – ich kenne den Klatsch und den Augenschein, der gegen ihn spricht.«

Father Brown sah ehrlich verlegen aus und fuhr sich mit der Hand über die Stirne. »Zwei sehr kleine Dinge«, sagte er. »Zum mindesten ist das eine sehr banal und das andere sehr vage. Aber dennoch passen sie nicht zur These, daß Mr. Boulnois der Mörder sei.«

Er wandte sein leeres rundes Gesicht den Sternen zu und fuhr geistesabwesend fort: »Um von der vagen Idee zuerst zu sprechen: Ich messe vagen Ideen große Bedeutung bei. All jene Dinge, die ›keine Beweise‹ sind, sind die, die mich überzeugen. Für mich ist eine moralische Unmöglichkeit die größte aller Unmöglichkeiten. Ich kenne Ihren Mann nur oberflächlich, aber mir erscheint dieses sein Verbrechen, von dem alle überzeugt sind, als eine moralische Unmöglichkeit. Bitte glauben Sie nicht, daß ich dächte, Boulnois könne nicht so böse sein. Jeder kann böse sein – so böse wie er will. Wir können unseren moralischen Willen steuern; aber wir können unsere instinktiven Neigungen und Handlungsweisen nicht grundlegend ändern. Boulnois könnte sicherlich einen Mord begehen, aber nicht diesen Mord. Er würde niemals Romeos Degen aus seiner romantischen Scheide reißen; oder seinen Feind auf der Sonnenuhr wie auf einem Altar erschlagen; oder seine Leiche zwischen den Rosen liegenlassen; oder den Degen zwischen die Kiefern schleudern. Wenn Boulnois jemanden umbrächte, würde er das unauffällig und bedachtsam tun, wie er alles Zweifelhafte tun würde – ein zehntes Glas Portwein trinken, oder einen frivolen griechischen Dichter lesen. Nein, die romantische Inszenierung entspricht nicht Boulnois. Sie entspricht eher Champion.«

»Ah!« sagte sie und sah ihn an mit Augen wie Diamanten.

»Und das banale Ding war dieses«, sagte Brown. »Es gab Fingerabdrücke auf dem Degen; Fingerabdrücke können noch eine lange Zeit nach ihrem Entstehen entdeckt werden, wenn sie sich auf einer polierten Oberfläche wie Glas oder Stahl befinden. Diese waren auf einer polierten Oberfläche. Sie waren etwa in der Mitte der Degenklinge. Ich habe nicht den geringsten Hinweis, wessen Abdrücke das waren; aber warum sollte irgend jemand einen Degen in der Mitte anfassen? Es ist ein langer Degen, aber Länge ist ein Vorteil beim Ausfall gegen einen Feind. Wenigstens bei den meisten Feinden. Bei allen Feinden mit einer Ausnahme.«

»Mit einer Ausnahme«, wiederholte sie.

»Es gibt nur einen einzigen Feind«, sagte Father Brown, »den man leichter mit dem Dolch als mit dem Degen töten kann.«

»Ich weiß«, sagte die Frau. »Sich selbst.«

Es folgte ein langes Schweigen, und dann sagte der Priester ruhig, aber abrupt: »Also habe ich recht? Hat Sir Claude sich selbst getötet?«

»Ja«, sagte sie mit einem Antlitz wie aus Marmor. »Ich sah ihn selbst es tun.«

»Starb er«, sagte Father Brown, »aus Liebe zu Ihnen?«

Ein ungewöhnlicher Ausdruck huschte über ihre Züge, ganz anders als Mitleid, Bescheidenheit, Reue oder irgend etwas, das ihr Begleiter erwartete: ihre Stimme wurde plötzlich kräftig und klingend. »Ich glaube nicht«, sagte sie, »daß er sich je auch nur einen Deut aus mir gemacht hat. Er haßte meinen Mann.«

»Warum?« fragte der andere und kehrte sein rundes Gesicht vom Himmel ab der Dame zu.

»Er haßte meinen Mann, weil… es ist so sonderbar, daß ich kaum weiß, wie ich es sagen soll… weil…«

»Ja?« sagte Brown geduldig.

»Weil mein Mann ihn nicht hassen wollte.«

Father Brown nickte nur und schien immer noch zu lauschen; er unterschied sich von den meisten Detektiven in der Wirklichkeit wie in der Dichtung in einem kleinen Punkt – er gab nie vor, nicht zu verstehen, wenn er vollkommen verstand.

Mrs. Boulnois kam erneut näher mit dem gleichen maßvollen Glühen der Gewißheit. »Mein Mann«, sagte sie, »ist ein großer Mann. Sir Claude Champion war kein großer Mann: er war ein berühmter und erfolgreicher Mann. Mein Mann war nie berühmt oder erfolgreich; und es ist die feierliche Wahrheit, daß er niemals auch nur davon geträumt hat, es zu sein. Er erwartet ebensowenig, wegen seines Denkens berühmt zu werden, wie etwa wegen des Rauchens von Zigarren. Was all diese Dinge angeht, ist er von einer herrlichen Dummheit. Er ist niemals erwachsen geworden. Er liebte Champion immer noch so, wie er ihn auf der Schule liebte; er bewunderte ihn, wie er einen Zaubertrick bewundern würde, der bei Tisch vorgeführt wird. Aber durch nichts hätte man ihn dazu bringen können, Champion zu beneiden. Und Champion wollte beneidet werden. Das machte ihn verrückt, und deshalb brachte er sich um.«

»Ja«, sagte Father Brown; »ich glaube, ich beginne zu verstehen.«

»Aber sehen Sie das denn nicht?« rief sie; »das Ganze ist doch dafür inszeniert worden – der Platz wurde dafür geplant. Champion setzte John in ein kleines Haus vor seiner eigenen Tür, wie einen Dienstmann – um ihn sein Versagen spüren zu lassen. Er hat es nie gespürt. An solche Sachen denkt er genauso wenig wie – wie ein zerstreuter Löwe. Champion pflegte hereinzuplatzen, wenn John am schäbigsten aussah oder zu den bescheidensten Mahlzeiten, mit irgendeinem aufwendigen Geschenk oder einer Ankündigung oder einer Unternehmung, die das wie Besuche von Harun al-Raschid wirken ließ, und John nahm an oder lehnte ab, mit jener sozusagen halben Aufmerksamkeit, mit der ein Schüler faul die Meinung eines anderen teilt oder nicht. Nach fünf solchen Jahren hatte John sich nicht um ein Jota geändert, aber Sir Claude Champion war zum Monomanen geworden.«

»Und Haman begann und erzählte ihnen«, sagte Father Brown, »von all den Dingen, womit ihn der König geehrt hatte; und er sagte: ›Dies alles ist mir nichts, solange ich noch Mordekai den Juden im Tore sitzen sehe.‹«

»Die Krise kam«, fuhr Mrs. Boulnois fort, »als ich John überredet hatte, mich einige seiner Überlegungen aufschreiben und an eine Zeitschrift schicken zu lassen. Sie begannen Aufmerksamkeit zu erwecken, vor allem in Amerika, und eine Zeitung wollte ihn interviewen. Als Champion (der fast jeden Tag interviewt wird) von diesem späten kleinen Krümel des Erfolges hörte, der seinem sich dessen unbewußten Nebenbuhler zufiel, brach das letzte Glied der Kette, die seinen teuflischen Haß gebändigt hatte. Damals begann er jene wahnsinnige Belagerung meiner Liebe und Ehre, die seither das Gespräch der Grafschaft war. Sie werden fragen wollen, warum ich diese abscheulichen Aufmerksamkeiten zugelassen habe. Darauf antworte ich, daß ich sie nicht hätte ablehnen können, ohne das meinem Mann zu erklären, und es gibt bestimmte Dinge, die die Seele nicht über sich bringt, wie der Körper nicht fliegen kann. Niemand hätte das meinem Mann erklären können. Niemand könnte es jetzt. Wenn Sie ihm mit noch so vielen Worten sagen würden: ›Champion will Ihnen Ihre Frau stehlen‹, dann würde er den Witz geschmacklos finden: Aber daß es mehr sein könnte als nur ein Witz – dieser Gedanke würde an seinem großen Kopf keinen Spalt finden, wo er eindringen könnte. Nun gut, John wollte heute abend kommen und uns bei der Aufführung zusehen, aber gerade als wir aufbrechen wollten, sagte er, er wolle nicht mit; er habe da ein interessantes Buch und eine Zigarre. Das erzählte ich Sir Claude, und das war sein Todesstoß. Dem Monomanen blieb nur noch Verzweiflung. Er erstach sich und schrie dabei wie ein Teufel, daß Boulnois ihn ermorde; er liegt dort im Garten, getötet durch seine eigene Eifersucht, Eifersucht hervorzurufen; und John sitzt im Wohnzimmer und liest ein Buch.«

Ein anderes Schweigen folgte, und dann sagte der kleine Priester: »In Ihrem ganzen so lebendigen Bericht gibt es nur einen schwachen Punkt, Mrs. Boulnois. Ihr Mann sitzt nicht im Wohnzimmer und liest ein Buch. Jener amerikanische Reporter hat mir erzählt, er sei an Ihrem Haus gewesen, und dort habe ihm der Butler gesagt, Mr. Boulnois sei doch noch zum Pendragon Park gegangen.«

Ihre leuchtenden Augen öffneten sich zu einem fast elektrischen Glanz; und doch schien das mehr Verblüffung denn Verwirrung oder Furcht zu sein. »Was meinen Sie denn damit?« rief sie. »Alle Dienstboten waren aus dem Haus, um die Aufführung zu sehen. Und einen Butler haben wir Gottseidank nicht!«

Father Brown fuhr auf und wirbelte halb herum wie ein absurder Kreisel. »Was, was?« schrie er, als sei er plötzlich ins Leben galvanisiert. »Sagen Sie – bitte – kann Ihr Mann mich hören, wenn ich zum Haus hinübergehe?«

»Sicher, die Dienstboten werden inzwischen zurück sein«, sagte sie verwundert.

»Gut, gut!« versetzte der Kleriker energisch und machte sich mit eilenden Trippelschritten auf den Weg zu den Parktoren. Einmal drehte er sich um: »Schnappen Sie sich besser den Yankee, oder ›John Boulnois Verbrechen‹ wird in Riesenschlagzeilen über die ganze Republik kommen.«

»Sie verstehen nicht«, sagte Mrs. Boulnois. »Ihm wäre das egal. Ich glaube nicht, daß er Amerika wirklich wichtig nimmt.«

Als Father Brown das Haus mit dem Bienenstock und dem schläfrigen Hund erreichte, führte ihn ein kleines sauberes Dienstmädchen in das Wohnzimmer, wo Boulnois lesend neben einer Lampe saß, genau wie sein Frau ihn beschrieben hatte. Eine Karaffe Port und ein Weinglas standen neben seinem Ellenbogen, und in dem Augenblick, da der Priester eintrat, bemerkte er den langen Aschekegel, der ungebrochen an seiner Zigarre war.

›Er ist mindestens seit einer halben Stunde hier‹, dachte Father Brown. Er sah wirklich so aus, als säße er da, wo er gesessen hatte, als das Abendessen abgeräumt wurde.

»Bleiben Sie sitzen, Mr. Boulnois«, sagte der Priester auf seine freundliche, prosaische Weise. »Ich werde Sie nur für einen Augenblick stören. Ich befürchte, daß ich in irgendwelche Ihrer wissenschaftlichen Studien einbreche.«

»Nein«, sagte Boulnois; »ich lese gerade ›Der blutige Daumen‹.« Er sagte das ohne Stirnrunzeln oder Lächeln, und seinem Besucher wurde an dem Manne eine tiefe und männliche Unbekümmertheit bewußt, die seine Frau Größe genannt hatte. Er legte den blutrünstigen gelben Reißer aus der Hand, ohne sich der Ungereimtheit auch nur so weit bewußt zu werden, daß er sie humorig kommentiert hätte. John Boulnois war ein großer Mann mit langsamen Bewegungen und einem mächtigen Schädel, teils ergraut und teils kahl, und einem derben breiten Gesicht. Er hatte einen schäbigen und sehr altmodischen Abendanzug an, an dem sich ein schmales Dreieck auf die Hemdenbrust öffnete: Er hatte ihn an jenem Abend noch in der ursprünglichen Absicht angezogen, seine Frau die Julia spielen zu sehen.

»Ich werde Sie nicht lange vom ›Blutigen Daumen‹ oder anderen katastrophischen Angelegenheiten abhalten«, sagte Father Brown lächelnd. »Ich bin nur gekommen, um Sie nach dem Verbrechen zu befragen, das Sie heute abend begangen haben.«

Boulnois sah ihn stetig an, aber ein roter Fleck begann, sich über seine breite Stirn auszudehnen; und er sah aus wie einer, der zum ersten Mal Verlegenheit verspürt.

»Ich weiß, es war ein eigenartiges Verbrechen«, gab Brown mit leiser Stimme zu. »Eigenartiger vielleicht als Mord – für Sie. Die kleinen Sünden sind manchmal schwerer zu bekennen als die großen – aber deshalb ist es so wichtig, sie zu bekennen. Ihr Verbrechen wird von jeder Gastgeberin der Gesellschaft sechsmal in der Woche begangen: und doch empfinden Sie es, als klebe Ihnen eine unaussprechliche Verruchtheit an der Zunge.«

»Man kommt sich«, sagte der Philosoph langsam, »wie ein verfluchter Narr vor.«

»Ich weiß«, stimmte der andere zu, »aber oft muß man wählen zwischen sich wie ein Narr fühlen und einer sein.«

»Ich kann mich selbst nur schlecht analysieren«, fuhr Boulnois fort; »aber als ich da in diesem Stuhl mit dieser Erzählung saß, war ich so glücklich wie ein Schuljunge an einem halben Feiertag. Da war Sicherheit, Ewigkeit – ich kann es nicht recht klarmachen… die Zigarren lagen in Reichweite… die Streichhölzer waren in Reichweite… der Daumen mußte noch viermal erscheinen, bis… das war nicht nur Frieden, das war Erfüllung. Dann läutete die Klingel, und für eine lange tödliche Minute glaubte ich, daß ich nicht aus dem Sessel hochkönne – buchstäblich, physisch, muskelmäßig nicht hochkönne. Dann schaffte ich es doch, wie ein Mann, der die ganze Welt stemmt, weil ich wußte, daß alle Dienstboten außer Hauses waren. Ich öffnete die Vordertür, und da stand ein kleiner Mann, den Mund zum Reden geöffnet und sein Notizbuch zum Aufschreiben geöffnet. Ich erinnerte mich des Yankee-Interviewers, den ich ganz vergessen hatte. Sein Haar war in der Mitte gescheitelt, und ich sage Ihnen, daß Mord – «

»Ich verstehe«, sagte Father Brown. »Ich habe ihn gesehen.«

»Ich habe keinen Mord begangen«, fuhr der Katastrophiker milde fort, »wohl aber einen Meineid. Ich habe gesagt, daß ich zum Pendragon Park hinübergegangen sei, und habe die Tür vor seiner Nase zugemacht. Das ist mein Verbrechen, Father Brown, und ich wüßte nicht, welche Buße Sie dafür auferlegen wollten.«

»Ich werde keinerlei Buße auferlegen«, sagte der klerikale Gentleman, während er seinen schweren Hut und den Regenschirm aufsammelte, mit dem Ausdruck eines gewissen Vergnügens; »ganz im Gegenteil. Ich bin ausdrücklich hergekommen, um Sie aus der kleinen Buße zu entlassen, die sonst Ihrem kleinen Vergehen gefolgt wäre.«

»Und aus welcher kleinen Buße«, fragte Boulnois lächelnd, »bin ich da so glücklich entlassen worden?«

»Gehängt zu werden«, sagte Father Brown.


Das Märchen von Father Brown

Pittoresk waren Stadt und Staat Heiligwaldenstein, eines jener Spielzeugkönigreiche, aus denen bestimmte Teile des Deutschen Reichs immer noch bestehen. Der Staat war erst spät in seiner Geschichte unter preußische Vorherrschaft geraten – kaum 50 Jahre vor jenem herrlichen Sommertag, an dem Flambeau und Father Brown sich in seinen Gartenwirtschaften befanden und sein Bier tranken. Während der letzten Generation hatte es da nicht wenig Krieg und Willkürjustiz gegeben, wie gleich gezeigt werden wird. Doch wenn man sich Stadt und Staat nur so ansah, konnte man sich jenes Eindrucks der Kindlichkeit nicht erwehren, die ja die bezauberndste Eigenschaft Deutschlands ist – jene puppentheatrischen, väterlichen Monarchien, in denen der König so umgänglich zu sein scheint wie der Koch. Die deutschen Soldaten vor ihren unzähligen Schilderhäuschen sahen deutschem Spielzeug merkwürdig ähnlich, und die klar geschnittenen Zinnen des Schlosses sahen, vergoldet vom Sonnenschein, um so mehr vergoldetem Lebkuchen ähnlich. Denn es war das strahlendste Wetter. Der Himmel war von so preußischem Blau, wie es Potsdam nur hätte verlangen können, und doch glich es noch mehr jenem verschwenderischen und satten Farbgebrauch, den ein Kind aus seinem billigen Malkasten herausholt. Selbst die graurippigen Bäume sahen jung aus, denn ihre spitzen Knospen waren noch rosa, und ihr Muster sah vor dem tiefen Blau wie unzählige Kinderzeichnungen aus.

Trotz seiner prosaischen Erscheinung und seiner allgemein praktischen Lebensführung war Father Brown nicht ohne einen Schuß Romantik in seiner Zusammensetzung, obwohl er seine Träumereien im allgemeinen für sich behielt, wie das auch viele Kinder tun. Inmitten der kräftigen, strahlenden Farben eines solchen Tages aber und in dem heraldischen Rahmen einer solchen Stadt fühlte er sich fast so, als sei er in ein Märchen geraten. Er fand, wie ein jüngerer Bruder vielleicht, ein kindliches Vergnügen an dem beachtlichen Stockdegen, den Flambeau im Gehen zu schwingen pflegte und der nun senkrecht neben seinem mächtigen Humpen Münchner Bieres stand. Ja, in seiner schläfrigen Verantwortungslosigkeit ertappte er sich selbst sogar dabei, wie er den knorrigen und plumpen Griff seines schäbigen Schirmes mit den Augen schwacher Erinnerungen an die Keule eines Menschenfressers in einem farbigen Bilderbuch ansah. Doch niemals fügte er Dinge zur Dichtung zusammen, es sei denn die Erzählung, die jetzt folgt:

»Ich frage mich«, sagte er, »ob man wohl an einem solchen Ort wirkliche Abenteuer erleben könnte, wenn man sich dazu die Möglichkeit gäbe? Das alles ist ein herrlicher Hintergrund für sie, aber ich werde das Gefühl nicht los, daß man dann eher mit Pappschwertern angegriffen würde als mit wirklichen, schrecklichen Degen.«

»Sie irren sich«, sagte sein Freund. »In dieser Stadt kämpft man nicht nur mit Degen, sondern tötet auch ohne Degen. Und es gibt noch Schlimmeres.«

»Wieso, was meinen Sie?« fragte Father Brown.

»Nun«, erwiderte der andere, »wir sind hier am einzigen Ort in Europa, wo je ein Mann erschossen wurde ohne Feuerwaffe.«

»Sie meinen Pfeil und Bogen?« fragte Brown verwundert.

»Ich meine Kugel im Kopf«, erwiderte Flambeau. »Kennen Sie die Geschichte des verblichenen Fürsten dieser Stadt nicht? Dabei handelt es sich um eines der großen Polizeimysterien vor etwa 20 Jahren. Sie erinnern sich sicherlich, daß dieses Land zur Zeit der frühesten Konsolidierungspläne Bismarcks gewaltsam annektiert worden ist – gewaltsam, aber gar nicht mühelos. Das Reich (oder was einmal eines werden wollte) entsandte Fürst Otto von Großenmark, um das Land im Interesse des Reiches zu regieren. Wir haben sein Porträt in der Galerie gesehen – er wäre sicherlich ein gutaussehender älterer Herr gewesen, wenn er nur Haare und Augenbrauen gehabt hätte und nicht so verrunzelt gewesen wäre wie ein Geier; aber er hatte einiges durchzumachen, wie ich gleich erklären werde. Er war ein Soldat von hervorragendem Geschick und Erfolg, aber er hatte mit diesem kleinen Land keine leichte Aufgabe. Er wurde in verschiedenen Schlachten von den berühmten Gebrüdern Arnhold geschlagen – den drei patriotischen Freischärlern, auf die Swinburne ein Gedicht schrieb, Sie werden sich erinnern:


Wolves with the hair of the ermine

Wölfe im Hermelin


Crows that are crowned and kings –

Krähen zu Königen gekrönt –


These things be many as vermin

Mögen zahlreich wie Gewürm sein,


Yet Three shall abide these things.

Drei werden ihnen widerstehen.


Oder irgendwas dieser Art. Tatsächlich ist es keineswegs sicher, daß die Besetzung je hätte Erfolg haben können, wenn nicht einer der drei Brüder, Paul, sich verächtlich aber entscheidend geweigert hätte, diesen Dingen weiterhin zu widerstehen, und, indem er alle Geheimnisse des Aufstandes übergab, dessen Niederwerfung ebenso wie seine eigene Beförderung zum Kämmerer des Fürsten Otto sicherstellte. Danach wurde Ludwig, der einzige wahre Held unter Swinburnes Helden, mit dem Schwert in der Hand bei der Eroberung der Stadt getötet; und der dritte, Heinrich, der, obwohl kein Verräter, im Vergleich zu seinen tatendurstigen Brüdern immer schon zahm, ja geradezu zaghaft war, zog sich in eine Art Einsiedelei zurück, wurde zu einem christlichen Quietismus bekehrt, der schon fast quäkerisch war, und mischte sich nie wieder unter die Menschen, außer um fast sein ganzes Hab und Gut den Armen zu geben. Man hat mir erzählt, daß man ihn bis vor gar nicht langer Zeit gelegentlich in der Nachbarschaft sehen konnte, einen Mann in schwarzem Umhang, fast blind, mit wildem weißem Haar, aber einem Antlitz von erstaunlicher Sanftmut.«

»Ich weiß«, sagte Father Brown, »ich habe ihn einmal gesehen.«

Sein Freund schaute ihn überrascht an. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie schon früher hier waren«, sagte er. »Dann wissen Sie vielleicht ebensoviel darüber wie ich. Jedenfalls ist das die Geschichte der Arnholds, und er war ihr letzter Überlebender. Ja, und auch aller anderen Männern, die in diesem Drama ihre Rollen spielten.«

»Sie meinen, daß auch der Fürst schon lange tot ist?«

»Tot«, wiederholte Flambeau, »und das ist ungefähr alles, was wir darüber wissen. Sehen Sie, gegen Ende seines Lebens begannen seine Nerven, ihm Streiche zu spielen, wie das bei Tyrannen nicht ungewöhnlich ist. Er vervielfachte die übliche Tag- und Nachtwache rund um sein Schloß, bis es mehr Schilderhäuschen als Wohnhäuser in der Stadt zu geben schien, und zweifelhafte Charaktere wurden erbarmungslos erschossen. Er lebte fast ausschließlich in einem kleinen Zimmer genau im Zentrum des gewaltigen Labyrinthes all der anderen Zimmer, und selbst darin errichtete er sich noch eine Art Zentralzelle oder Zentralverschlag, mit Stahl beschlagen wie ein Safe oder ein Kriegsschiff. Manche behaupten, daß sich unter ihm wiederum ein geheimes Loch in der Erde befand, kaum groß genug, ihn zu fassen, so daß er also in seiner Angst vor dem Grab sich freiwillig an einen Platz verkroch, der einem Grab sehr ähnlich war. Aber er ging noch weiter. Die Bevölkerung galt eigentlich seit der Niederschlagung der Revolte als entwaffnet, aber Otto bestand nun, wie Regierungen das nur sehr selten tun, entschieden auf einer absoluten und buchstäblichen Entwaffnung. Sie wurde mit außerordentlicher Gründlichkeit und Strenge von ausgezeichnet organisierten Beamten durchgeführt, denen jeweils ein kleines und ihnen bekanntes Gebiet zugewiesen wurde, und soweit menschliche Kraft und Kenntnis von irgend etwas absolute Sicherheit erlangen können, war Fürst Otto absolut sicher, daß niemand auch nur eine Spielzeugpistole nach Heiligwaldenstein einführen konnte.«

»Menschliche Kenntnis kann sich solcher Dinge niemals sicher sein«, sagte Father Brown, der immer noch die rosa Knospen an den Zweigen über seinem Kopf betrachtete, »und wenn auch nur wegen der Schwierigkeiten in Definition und Bezeichnung. Was ist eine Waffe? Menschen sind schon mit den sanftesten Haushaltsgegenständen ermordet worden; sicherlich mit Teekesseln, vielleicht gar mit Teewärmern. Auf der anderen Seite: Wenn Sie einem alten Britannier einen Revolver zeigten, bezweifle ich, daß er ihn als Waffe erkennte – bis man damit in ihn hineinschösse, natürlich. Vielleicht hat jemand eine Feuerwaffe mitgebracht, die so neu war, daß sie nicht einmal wie eine Feuerwaffe aussah. Vielleicht sah sie aus wie ein Fingerhut oder so was. War an der Kugel etwas Besonderes?«

»Nicht daß ich wüßte«, antwortete Flambeau; »aber alle meine Informationen sind bruchstückhaft und stammen ausschließlich von meinem alten Freund Grimm. Er war ein sehr fähiger Detektiv im deutschen Geheimdienst, und er versuchte, mich festzunehmen; stattdessen habe ich ihn festgenommen, und dann hatten wir manch interessanten Plausch miteinander. Er war hier mit der Untersuchung zum Fall des Fürsten Otto betraut, aber ich habe vergessen, ihn zu der Kugel zu befragen. Nach Grimm hat sich folgendes ereignet.« Er hielt einen Augenblick inne, um den größeren Teil seines dunklen Lagerbieres in einem Zug zu trinken, und fuhr dann fort:

»An dem fraglichen Abend sollte der Fürst allem Anschein nach in einem der äußeren Gemächer erscheinen, weil er bestimmte Besucher zu empfangen hatte, die er wirklich sehen sollte. Es handelte sich um Geologen, die ausgeschickt worden waren, um der alten Frage angeblicher Goldvorkommen in den Bergen hier herum nachzugehen, die so lange (sagt man) die Kreditwürdigkeit des kleinen Stadtstaates sicherten, weshalb der im Stande gewesen war, selbst während der pausenlosen Bombardierung durch größere Armeen seine Beziehungen zu den Nachbarn aufrechtzuerhalten. Bisher wurde aber selbst von der sorgfältigsten Untersuchung nicht gefunden, die – «

»Die absolut sicher sein konnte, auch eine Spielzeugpistole zu finden«, sagte Father Brown mit einem Lächeln. »Aber was war mit dem verräterischen Bruder? Hatte der dem Fürsten nichts zu erzählen?«

»Er hat immer wieder beteuert, daß er davon nichts wisse«, erwiderte Flambeau; »daß dies das einzige Geheimnis sei, das seine Brüder ihm nicht mitgeteilt hätten. Man muß allerdings zugeben, daß das durch einige fragmentarische Worte unterstützt wird, die der große Ludwig in der Stunde seines Todes sprach, als er Heinrich ansah, aber auf Paul wies und sagte: ›Du hast ihm nicht erzählt…‹, und kurz danach vermochte er nicht mehr zu sprechen. Jedenfalls, die Abordnung der ausgezeichneten Geologen und Mineralogen aus Paris und Berlin war da in der glanzvollsten und angemessensten Aufmachung, denn niemand trägt seine Orden lieber als die Männer der Wissenschaft – wie jeder weiß, der einmal an einer Soirée der Royal Society teilgenommen hat. Es war eine brillante Versammlung, aber sehr spät und erst nach und nach entdeckte der Kämmerer – Sie haben sein Porträt auch gesehen: Ein Mann mit schwarzen Augenbrauen, ernstem Blick und einem ausdruckslosen Lächeln darunter –, der Kämmerer, sagte ich, entdeckte, daß alle da waren außer dem Fürsten. Er suchte alle äußeren Gemächer ab; dann erinnerte er sich an die wahnsinnigen Angstanfälle des Mannes und stürzte in das innerste Zimmer. Das war ebenfalls leer, aber den in seiner Mitte errichteten stählernen Turm oder Verschlag zu öffnen dauerte eine Weile. Als er sich öffnete, war er ebenfalls leer. Der Kämmerer ging hinein und starrte in das Loch im Boden, das tiefer schien und um so grabähnlicher – das ist natürlich sein Bericht. Und während er noch dabei war, hörte er Aufschreie und Tumult in den langen Räumen und Korridoren draußen.

Zuerst war es ein fernes Getöse und Gekreische von etwas Undenkbarem am Rande der Menge, sogar außerhalb des Schlosses. Danach war es ein erschreckend nahes Gelärme, laut genug, um verständlich zu sein, hätte nicht das eine Wort das andere übertönt. Danach kamen Worte von schrecklicher Klarheit, und sie kamen näher, und als nächstes stürzte ein Mann ins Zimmer und berichtete die Neuigkeit so knapp, wie solche Neuigkeiten berichtet werden.

Otto, Fürst von Heiligwaldenstein und Großenmark, lag im Tau des dunkelnden Dämmerlichtes im Walde jenseits des Schlosses, die Arme zur Seite und das Gesicht zum Mond empor geworfen. Das Blut pulsierte noch aus seiner zerschmetterten Schläfe und Wange, aber das war auch das einzige an ihm, was sich noch wie etwas Lebendes bewegte. Er war mit seiner weißgelben Paradeuniform bekleidet, wie um die Gäste drinnen zu empfangen, mit der Ausnahme, daß seine Schärpe gelöst worden war und zusammengeknüllt neben ihm lag. Bevor er aufgehoben werden konnte, war er tot. Aber tot oder lebendig war er ein Rätsel – er, der sich immer im innersten Zimmer verborgen hatte, hier draußen in den nassen Wäldern, unbewaffnet und allein.«

»Wer hat seine Leiche gefunden?« fragte Father Brown.

»Ein dem Hofe verbundenes Mädchen namens Hedwig von Soundso«, erwiderte sein Freund, »die in den Wald gegangen war, um wilde Blumen zu pflücken.«

»Hatte sie welche gepflückt?« fragte der Priester und starrte leeren Blickes auf die Zweige über ihm.

»Ja«, erwiderte Flambeau. »Ich erinnere mich besonders, daß der Kämmerer oder der alte Grimm oder sonstwer sagte, wie schrecklich das gewesen sei, als man auf ihren Ruf herbeieilte und das Mädchen erblickte, wie es mit Frühlingsblumen sich über dieses – dieses blutige Häufchen beugte. Jedenfalls, die Hauptsache ist, daß er tot war, ehe Hilfe eintraf, und diese Nachricht mußte natürlich sofort ins Schloß überbracht werden. Die Verwirrung, die sie dort auslöste, ging weit über alles hinaus, was an einem Hof beim Sturz eines Potentaten üblich ist. Die ausländischen Besucher, und insbesondere die Bergwerksexperten, waren in die wildesten Zweifel und Erregungen gestürzt, ebenso wie viele wichtige preußische Beamte, und es wurde bald deutlich, daß der Plan zur Auffindung des Schatzes eine viel größere Rolle in der Angelegenheit spielte, als man zunächst gedacht hatte. Experten und Beamten waren große Prämien und internationale Vorteile versprochen worden, und manche behaupteten sogar, daß die Geheimräume des Fürsten und die starke Bewachung weniger auf Furcht vor der Bevölkerung zurückgingen als vielmehr auf die Verfolgung irgendwelcher privater Nachforschungen von – «

»Hatten die Blumen lange Stengel?« fragte Father Brown.

Flambeau starrte ihn an. »Was sind Sie doch für ein merkwürdiger Mensch!« sagte er. »Genau das ist es, was der alte Grimm erzählte. Er erzählte, der häßlichste Teil an der Sache – häßlicher noch als Blut und Kugel – sei gewesen, daß die Blumen besonders kurz waren, fast direkt unter den Köpfen abgepflückt.«

»Natürlich«, sagte der Priester, »wenn ein erwachsenes Mädchen wirklich Blumen pflückt, pflückt sie sie mit langen Stengeln. Wenn sie nur ihre Köpfe abpflückt, wie das ein Kind tut, so sieht das aus, als ob – « Und er zögerte.

»Ja?« fragte der andere.

»Naja, sieht es fast so aus, als habe sie sie nervös abgerupft, als Entschuldigung dafür, daß sie da war – nun, da sie da war.«

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte Flambeau düster.

»Aber dieser wie jeder andere Verdacht bricht an der einen Stelle zusammen – das Fehlen einer Waffe. Er hätte, wie Sie sagten, mit vielen Dingen getötet werden können – selbst mit seiner eigenen Schärpe; aber wir haben nicht zu erklären, wie er getötet wurde, sondern wie er erschossen wurde. Und Tatsache ist, daß wir das nicht können. Man hat das Mädchen rücksichtslos durchsucht; denn um die Wahrheit zu sagen, sie erschien verdächtig, obwohl sie die Nichte und das Mündel des bösen alten Kämmerers Paul Arnhold war. Aber sie war sehr romantisch und der Sympathie mit der alten revolutionären Begeisterung ihrer Familie verdächtig. Jedoch: Wie romantisch auch immer man ist, man kann einem Mann keine große Kugel in Schläfe oder Hirn denken, ohne ein Gewehr oder eine Pistole zu verwenden. Und es gab keine Pistole, obwohl es zwei Pistolenschüsse gab. Und jetzt sind Sie dran, mein Freund.«

»Woher wissen Sie, daß es zwei Schüsse gab?« fragte der kleine Priester.

»Nur eine stak in seinem Kopf«, sagte sein Gefährte, »aber in der Schärpe gab es ein weiteres Schußloch.«

Father Browns glatte Stirn zog sich plötzlich zusammen. »Hat man die andere Kugel gefunden?« fragte er.

Flambeau zuckte ein bißchen zusammen. »Ich kann mich nicht erinnern«, sagte er.

»Warten Sie! Warten Sie! Warten Sie!« rief Brown und runzelte seine Stirne mehr und mehr in einer ungewöhnlichen Konzentration der Wißbegier. »Halten Sie mich nicht für unhöflich. Lassen Sie mich einen Augenblick darüber nachdenken.«

»Schon gut«, sagte Flambeau lachend und leerte sein Bier. Eine leichte Brise bewegte die knospenden Bäume und blies weiße und rosane Wölkchen in den Himmel, die den Himmel um so blauer und die ganze farbenprächtige Szene um so eigenartiger erscheinen ließen. Sie hätten Cherubime sein können, die durch die Fensterflügel eines himmlischen Kindergartens heimflogen. Der älteste Turm des Schlosses, der Drachenturm, stand da ebenso grotesk wie der Bierkrug, aber ebenso vertraut. Und erst hinter dem Turm schimmerte der Wald, in dem der Mann tot gelegen hatte.

»Was ist dann aus dieser Hedwig geworden?« fragte der Priester schließlich.

»Sie ist mit General Schwartz verheiratet«, sagte Flambeau. »Sie haben sicherlich von seiner reichlich romantischen Karriere gehört. Er hatte sich schon vor seinen Heldentaten zu Königgrätz und Gravelotte ausgezeichnet; er hat tatsächlich von der Pike auf gedient, was sehr ungewöhnlich ist, selbst in den kleinsten der deutschen Staaten – «

Father Brown setzte sich plötzlich aufrecht hin.

»Von der Pike auf gedient!« rief er und spitzte die Lippen, als wolle er pfeifen. »Oha, oha, was für eine seltsame Geschichte! Was für eine seltsame Art, einen Mann zu töten; aber ich vermute, daß es die einzig mögliche war. Aber sich einen so geduldigen Haß vorzustellen – «

»Was meinen Sie?« fragte der andere. »Auf welche Art haben sie den Mann denn getötet?«

»Sie haben ihn mit der Schärpe getötet«, sagte Brown sorgfältig; und dann, als Flambeau protestierte: »Ja, ja, ich weiß, die Kugel. Vielleicht sollte ich sagen, er starb daran, daß er eine Schärpe hatte. Ich weiß, das klingt nicht wie daß er eine Krankheit hatte.«

»Ich nehme an«, sagte Flambeau, »daß Ihnen eine Vorstellung in Ihren Kopf gekommen ist, aber das wird die Kugel aus seinem nicht leicht herausbekommen. Wie ich bereits erklärt habe, hätte er leicht erwürgt werden können. Aber er wurde erschossen. Von wem? Mit was?«

»Er wurde auf seinen eigenen Befehl hin erschossen«, sagte der Priester.

»Sie meinen, er hat Selbstmord begangen?«

»Ich habe nicht gesagt, auf seinen eigenen Wunsch hin«, erwiderte Father Brown. »Ich sagte, auf seinen eigenen Befehl hin.«

»Na schön, wie lautet also Ihre Theorie?«

Father Brown lachte. »Ich bin in Ferien«, sagte er. »Ich habe keine Theorien. Nur erinnert mich dieser Ort an Märchen, und wenn Sie mögen, erzähle ich Ihnen eine Geschichte.«

Die kleinen rosanen Wolken, die wie Zuckerwatte aussahen, waren hinauf zu den Zinnen der Türme des vergoldeten Lebkuchenschlosses geschwebt, und die rosanen Babyfinger der knospenden Bäume schienen sich zu spreiten und zu strecken, um sie zu fassen; der blaue Himmel nahm das helle Violett des Abends an, als Father Brown plötzlich wieder sprach:


»Es war in einer scheußlichen Nacht, der Regen tropfte noch von den Bäumen, und der Tau verdichtete sich bereits, als Fürst Otto von Großenmark hastig aus einer Seitentür des Schlosses trat und schnell in den Wald schritt. Einer der zahllosen Wachposten salutierte, aber er nahm keine Notiz davon. Er wollte auch nicht, daß man besondere Notiz von ihm nähme. Er war froh, als die großen Bäume, grau und glitschig vom Regen, ihn wie ein Sumpf verschluckten. Er hatte absichtlich die am wenigsten belebte Seite seines Palastes gewählt, aber selbst die war belebter, als ihm lieb war. Jedoch bestand keine besondere Gefahr, daß ihm jemand amtlich oder diplomatisch folgen würde, denn sein Ausgang erfolgte aus einem plötzlichen Impuls. All die Diplomaten in voller Uniform, die er hinter sich ließ, waren unwichtig. Es war ihm plötzlich klar geworden, daß er ohne sie auskommen konnte.

Seine große Leidenschaft war nicht die edle Furcht vor dem Tode, sondern die seltsame Sucht nach Gold. Um dieser Legende vom Golde willen hatte er Großenmark verlassen und war in Heiligwaldenstein eingedrungen. Dafür, und nur dafür hatte er den Verräter gekauft und den Helden abgeschlachtet, dafür hatte er den falschen Kämmerer lange befragt und wieder befragt, bis er zu dem Schluß gekommen war, daß der Renegat im Hinblick auf sein Unwissen wirklich die Wahrheit gesagt hatte. Dafür hatte er fast widerwillig Gold bezahlt und versprochen um der Chance willen, den größeren Betrag zu gewinnen; und dafür hatte er sich aus seinem Palast gestohlen wie ein Dieb im Regen, denn ihm war ein anderer Weg eingefallen, wie er sich seinen Herzenswunsch erfüllen könnte, und dazu billig.

Ferne am oberen Ende eines sich hinaufwindenden Bergpfades, zu dem er seine Schritte lenkte, stand zwischen den Felsenpfeilern auf der Klippe, die die Stadt überragte, die Einsiedelei, kaum mehr als eine mit Dornengestrüpp eingefriedete Höhle, in der der dritte der großen Brüder sich so lange vor der Welt verborgen hielt. Er, dachte Fürst Otto, konnte keinen wirklichen Grund haben, ihm die Übergabe des Goldes zu verweigern. Er hatte das Versteck schon seit Jahren gekannt und keinerlei Schritte unternommen, es aufzusuchen, schon ehe ihn sein neuer asketischer Glaube von Vermögen und Vergnügen trennte. Gewiß, er war ein Gegner gewesen, aber jetzt bekannte er die Pflicht, keinen Gegner zu haben. Einige Zugeständnisse in seinen Angelegenheiten, einige Anrufungen seiner Grundsätze vermochten ihn wahrscheinlich dazu zu bewegen, das Geheimnis des schnöden Geldes preiszugeben. Otto war trotz all seiner sorgfältigen militärischen Schutzmaßnahmen kein Feigling, und außerdem war seine Habgier stärker als seine Angst. Und schließlich gab es kaum Grund für Angst. Denn wenn er sicher war, daß es im ganzen Fürstentum keine privaten Waffen mehr gab, so war er hundertmal sicherer, daß es deren keine in der kleinen Einsiedelei des Quäkers auf dem Berge gab, wo er mit zwei alten einfachen Dienern von Kräutern lebte, und jahraus jahrein ohne die Stimme eines anderen Menschen. Fürst Otto schaute mit einem grimmen Lächeln auf die hellen viereckigen Labyrinthe der lampenbeleuchteten Stadt unter sich. Denn soweit das Auge blicken konnte, standen die Gewehre seiner Freunde, und keine Prise Pulver für seine Feinde. Die Gewehre standen so nahe selbst an diesen Bergpfad heran, daß ein Ruf von ihm die Soldaten den Berg heraufstürmen lassen würde, um nicht von der Tatsache zu reden, daß Wald wie Hang in regelmäßigen Abständen von Patrouillen begangen wurden; Gewehre so weit weg in den düsteren Wäldern jenseits des Flusses, winzig durch die Entfernung, daß kein Feind sich auf irgendwelchen Umwegen in die Stadt schleichen konnte. Und um den Palast waren Gewehre an der Westtür und an der Osttür, an der Nordtür und an der Südtür, und überall entlang der vier Fassaden, die sie miteinander verbanden. Er war sicher.

Das war um so deutlicher, nachdem er die Kuppe überschritten hatte und sah, wie nackt das Nest seines alten Feindes war. Er stand auf einer schmalen Felsenkanzel, die an drei Seiten steil abbrach. Hinten lag die schwarze Höhle, von grünen Dornen maskiert, so niedrig, daß man kaum glauben konnte, ein Mann könne sie betreten. Vorne der Felsabsturz und die weite, aber wolkige Sicht übers Tal. Auf der engen Felskanzel stand ein altes bronzenes Chor- oder Lesepult und ächzte unter einer großen deutschen Bibel. Bronze oder Kupfer war von den nagenden Winden und Wettern an jenem ausgesetzten Ort grün geworden, und Otto kam unmittelbar in den Sinn: ›Selbst wenn sie Waffen gehabt haben, müssen die inzwischen verrostet sein.‹ Der aufgehende Mond hatte hinter Gipfeln und Zacken totenfahles Dämmerlicht werden lassen, und der Regen hatte aufgehört.

Hinter dem Lesepult, mit dem Blick über das Tal, stand ein sehr alter Mann in einer schwarzen Robe, die ebenso gerade herabfiel wie die Felsabhänge ringsherum, und dessen weißes Haar und schwache Stimme gleichermaßen im Winde zu verwehen schienen. Er las offenbar ein Stundengebet als Teil seiner religiösen Übungen. ›Sie vertraueten auf ihre Pferde…‹

›Mein Herr‹, sagte der Fürst von Heiligwaldenstein mit recht ungewöhnlicher Höflichkeit, ›ich würde gerne ein kurzes Wort mit Ihnen sprechen.‹

›… und auf ihre Streitwagen‹, fuhr der alte Mann schwach fort, ›wir aber vertrauen auf den Namen des Herrn aller Heerscharen…‹ Seine letzten Worte waren unhörbar, aber er schloß das Buch verehrungsvoll und machte, da fast blind, eine tastende Bewegung und hielt sich dann am Lesepult fest. Sofort glitten seine beiden Diener aus der niedrigen Höhle hervor und stützten ihn. Sie trugen dumpfschwarze Gewänder dem seinen gleich, aber auf ihrem Haar lag weder jenes frostige Silber noch auf ihren Gesichtern die frostige Feinheit der Züge. Es waren Landleute, Kroaten oder Ungarn, mit breiten, stumpfen Gesichtern und schmalen Augenschlitzen. Zum ersten Mal beunruhigte den Fürsten irgend etwas, aber sein Mut und sein diplomatisches Geschick blieben standhaft.

›Ich fürchte, wir sind uns‹, sagte er, ›seit jener furchtbaren Kanonade nicht mehr begegnet, in der Ihr armer Bruder fiel.‹

›Alle meine Brüder starben‹, sagte der alte Mann und sah immer noch über das Tal hin. Dann wandte er für einen Augenblick Otto sein ermattetes feines Gesicht zu und sein wintriges Haar, das ihm wie Eiszapfen über die Augenbrauen fiel, und fügte hinzu: ›Wie Sie sehen, bin auch ich tot.‹

›Ich hoffe, Sie verstehen‹, sagte der Fürst und nahm sich fast bis zur Versöhnlichkeit zusammen, ›daß ich nicht hergekommen bin, um Sie als Gespenst jener großen Kämpfe heimzusuchen. Wir wollen nicht darüber reden, wer damals im Recht oder im Unrecht war, aber in wenigstens einem Punkt hatten wir nie unrecht, weil Sie immer recht hatten. Was immer man über die Politik Ihrer Familie sagen mag, niemand hat auch nur für einen Augenblick geglaubt, daß Sie durch die Gier nach Gold getrieben wurden; Sie haben sich selbst über jeden Verdacht erhaben gezeigt, daß –‹

Der alte Mann in dem schwarzen Gewand hatte ihn bisher gelassen mit seinen wäßrigen blauen Augen und einem Ausdruck hinfälliger Weisheit angesehen. Als aber das Wort ›Gold‹ gesagt wurde, streckte er seine Hand aus, als ob er etwas anhalten wolle, und wandte sein Gesicht ab und den Bergen zu.

›Er hat vom Gold gesprochen‹, sagte er. ›Er hat von ungesetzlichen Dingen gesprochen. Hindert ihn am Sprechen.‹

Otto hatte das Laster seiner preußischen Art und Abkunft, Erfolg nicht als einen Zufall, sondern als Charaktereigenschaft anzusehen. Er sah sich und seinesgleichen als ewige Eroberer von Völkern, die ewig erobert werden. Demgemäß war er kaum mit dem Gefühl der Überraschung bekannt und kaum auf den nächsten Zug vorbereitet, der ihn erschreckte und erstarren ließ. Er hatte gerade den Mund geöffnet, um dem Einsiedler zu antworten, als ihm der Mund gestopft und die Stimme erstickt ward mit einem starken weichen Knebelband, das ihm jählings wie eine Bandage um den Kopf geschlungen wurde. Es dauerte volle vierzig Sekunden, ehe ihm auch nur klar wurde, daß die beiden ungarischen Diener das getan hatten und daß sie es mit seiner eigenen Offiziersschärpe getan hatten.

Der alte Mann wandte sich wieder schwach seiner großen, bronzegetragenen Bibel zu, wendete die Seiten mit einer schrecklichen Geduld um, bis er zum Jakobusbrief kam und zu lesen begann: ›So ist auch die Zunge nur ein kleines Glied und –‹

Etwas in dieser Stimme ließ den Fürsten sich plötzlich umdrehen und den Bergpfad herabjagen, den er hinaufgeklommen war. Er hatte bereits den halben Weg zu den Gärten des Schlosses zurückgelegt, ehe er versuchte, sich die erstickende Schärpe von Hals und Mund zu lösen. Er versuchte es wieder und wieder, und es war unmöglich. Die Männer, die den Knebel geknüpft hatten, kannten den Unterschied zwischen dem, was ein Mann mit seinen Händen vor sich tun kann, und dem, was er mit seinen Händen hinter seinem Kopf tun kann. Seine Beine waren frei, um wie Antilopen über die Berge zu springen; seine Arme waren frei für jede Geste oder für jedes Signal; aber sprechen konnte er nicht. In ihm hauste ein stummer Teufel.

Er war den Wäldern bereits nahe, die das Schloß umgaben, ehe er richtig begriff, was sein stummer Zustand bedeutete und was er bedeuten sollte. Erneut blickte er grimmig hinab auf die hellen viereckigen Labyrinthe der lampenbeleuchteten Stadt unter sich, aber er lächelte nicht mehr. Er wiederholte sich in tödlicher Ironie die Phrasen seiner früheren Stimmung. Soweit das Auge blicken konnte, standen die Gewehre seiner Freunde, deren jeder einzelne ihn erschießen würde, wenn er den Anruf nicht beantworten konnte. Gewehre standen so nahe, daß Wald und Hang in regelmäßigen Abständen von Patrouillen begangen werden konnten; deshalb war es nutzlos, sich im Wald bis zum Morgen zu verbergen. Gewehre standen so weit entfernt, daß kein Feind sich auf irgendwelchen Umwegen in die Stadt schleichen konnte; deshalb war es sinnlos, auf irgendeinem weiten Weg in die Stadt zurückzukehren. Ein Ruf von ihm würde seine Soldaten den Berg hinaufstürmen lassen. Aber von ihm würde kein Ruf kommen.

Der Mond war in strahlendem Silberglanz aufgegangen, der Himmel zeigte sich in Streifen hellen Nachtblaus zwischen den schwarzen Streifen der Föhren um das Schloß. Blumen von großer und fedriger Art – nie noch hatte er zuvor solche Dinge bemerkt – leuchteten zugleich und wurden vom Mondschein verfärbt und erschienen unbeschreiblich phantastisch, wie sie sich zusammenrotteten, als kröchen sie um die Wurzeln der Bäume herum. Vielleicht war seine Vernunft bereits durch die unnatürliche Gefangenschaft unsicher geworden, die er mit sich herumschleppte, aber in jenem Wald empfand er etwas unergründlich Deutsches – das Märchen. Mit halbem Geiste wußte er, daß er sich dem Schloß eines Ungeheuers näherte – vergessen hatte er, daß er selbst das Ungeheuer war. Er erinnerte sich, wie er seine Mutter gefragt hatte, ob im alten Park zu Hause Bären hausten. Er bückte sich, um eine Blume zu pflücken, als ob sie ein Zauber gegen Verzauberung sei. Der Stengel war stärker, als er erwartet hatte, und brach mit einem leisen Krachen. Er versuchte, sie sorgsam in seine Schärpe zu stecken, als er den Anruf hörte: ›Wer da?‹ Da erinnerte er sich, daß die Schärpe nicht an ihrem gewöhnlichen Platze war.

Er versuchte zu schreien, und war stumm. Der zweite Anruf kam; und dann ein Schuß, der kreischte, während er herankam, und dann durch den Aufschlag plötzlich verstummte. Otto von Großenmark lag friedlich zwischen den Märchenbäumen und konnte weder mit Gold noch mit Stahl weiteres Unheil anrichten ; nur der Silberstift des Mondes griff die komplizierten Verzierungen seiner Uniform auf und zeichnete sie hie und da nach, oder die alten Falten auf seiner Stirne. Möge Gott Erbarmen mit seiner Seele haben.

Der Wachposten, der entsprechend den strikten Befehlen der Garnison gefeuert hatte, kam natürlich herbeigelaufen, um nach Spuren seiner Beute zu suchen. Es war ein Gemeiner namens Schwartz, seither in seinem Beruf nicht unbekannt, und was er fand, war ein kahler Mann in Uniform, dessen Gesicht mit einer Art Maske aus seiner eigenen Offiziersschärpe so bandagiert war, daß nichts als seine offenen toten Augen zu sehen war, die im Mondlicht steinern glitzerten. Die Kugel war durch den Knebel in den Mund eingedrungen; deshalb gab es ein Schußloch in der Schärpe, aber nur einen Schuß. Zwar nicht korrekt, aber sehr natürlich riß der junge Schwartz die rätselvolle Seidenmaske ab und schleuderte sie auf den Rasen; und dann erkannte er, wen er niedergestreckt hatte.

Wir können uns der nächsten Phase nicht sicher sein. Aber ich neige dazu anzunehmen, daß es in jenem kleinen Wald trotz des entsetzlichen Anlasses doch noch zu einem Märchen kam. Ob jene junge Dame namens Hedwig zuvor bereits irgend etwas von dem Soldaten wußte, den sie rettete und schließlich heiratete oder ob sie zufällig auf den Zufall stieß und ihre Bekanntschaft in jener Nacht begann, werden wir vermutlich niemals wissen. Aber wir können, glaube ich, wissen, daß diese Hedwig eine Heldin war und es verdiente, einen Mann zu heiraten, der ein Held wurde. Sie tat das Kühne und Kluge. Sie überredete den Wachposten, auf seinen Posten zurückzukehren, wo ihn nichts mit der Katastrophe in Verbindung bringen konnte; er war nur einer der treuesten und ordentlichsten von 50 solcher Posten in Rufweite. Sie blieb bei der Leiche und schlug Alarm; und da gab es nichts, was sie mit der Katastrophe in Verbindung bringen konnte, da sie keine Feuerwaffe hatte und sich auch keine hätte beschaffen können.

Nun«, sagte Father Brown und erhob sich fröhlich, »ich hoffe, daß sie glücklich sind.«

»Wohin gehen Sie?« fragte sein Freund.

»Ich werde mir das Porträt dieses Kämmerers noch einmal ansehen, dieses Arnholds, der seine Brüder verriet«, antwortete der Priester. »Ich möchte wissen, welchen Anteil – ich möchte wissen, ob ein Mann weniger Verräter ist, wenn er zweimal Verräter ist.«

Und lange grübelte er vor dem Porträt eines weißhaarigen Mannes mit schwarzen Augenbrauen und einer rosigen, gemalten Art Lächelns, das der schwarzen Warnung in seinen Augen zu widersprechen schien.

ANMERKUNGEN

DIE ABWESENHEIT VON MR. GLASS

The Absence of Mr. Glass

S. 350: »Scarborough« – Seestadt und Seebad an der nordöstlichen Küste Englands, gegenüber der Doggerbank.

»Tantalus« (im Original steht hier nur das Wort »tantalus«) – so nennt man seit 1898 einen Ständer, in dem sich (üblicherweise drei) Karaffen für Spirituosen befinden, die zwar frei dazustehen scheinen, ihm aber erst entnommen werden können, wenn eine Verriegelung geöffnet wird (von wegen Tantalus-Qualen).

S. 351: »Chaucer« – Geoffrey Ch. (ca. 1340–1400), englischer Dichter. Sein Hauptwerk sind die Canterbury Tales, ein unvollendeter Novellenkranz meist in Reimversen, eine lebendige Sittenschilderung und deftige Satire.

»Shelley« – Percy Bysshe Sh. (1792–1822), englischer Dichter und Dramatiker pantheistischer Religiosität und empörter Streiter wider alle Unterdrückung.

S. 354: »Kew Gardens« – bedeutender botanischer Garten in Richmond, einem westlichen Stadtteil von London.

S. 356: »Tausendundeine Nacht« – die Übersetzung dieser Sammlung ins Englische durch Sir Richard Burton ist zwar nicht unbedingt richtig, aber insofern ein besonderer Genuß, als der Angehörige eines Reitervolkes mit einem immensen equestrischen Wortschatz das Arabische, die Sprache eines Reitervolkes mit einem immensen equestrischen Wortschatz, entsprechend übertragen hat, was insbesondere bei allen die Liebe betreffenden Vorgängen zu im Deutschen nicht nachzuahmenden Hochleistungen präziser Beschreibung führt (aber die arabische Tonalität insgesamt doch verfälscht).

S. 364: »Westend« – damals jener Teil Londons, in dem solcherlei halbseidene Halbwelt zu leben liebte.

S. 370: »Davenport Brothers« – die D. B. waren US-Zirkuskünstler, die als erste 1859 mit dem »indischen Seil- und Sacktrick« auftraten und berühmt wurden.

S. 371: »Mister Glass… Miste-Glas« – das im Deutschen holprige Wortspiel, das hier nachzuahmen aber unumgänglich ist, klingt im Englischen viel eleganter »Mister Glass… missed a glass« (hat das Glas nicht gefangen, verpaßt, o. ä.); ein Mistglas hätte es zur Not im Deutschen auch getan, obwohl dann eine der ausgesprochenen Silben fehlte.


DAS PARADIES DER DIEBE

The Paradise of Thieves

S. 373: »schwarzer Umhang… schwarze Maske… venezianisches Melodram« – Chesterton spielt hier in knappster Weise auf das große Genre der »Mantel-und-Degen«-Literatur an, auch durch die Wortwahl: »Mantel-und-Degen«, im Englischen »cloak-and-dagger«. Chesterton verwendet »cloak« für Umhang.

»Don Juan« – um Mißverständnissen vorzubeugen: Don Juan ist keineswegs mit Casanova zu verwechseln; der Venezianer liebte alle Frauen, suchte keine und machte daher keine unglücklich – der Spanier suchte die Frau, liebte keine und machte alle unglücklich. Daß Chesterton im Folgenden freizügig die Begriffe Gitarre und Mandoline wie Synonyme verwendet, läßt auch hier erkennen, wie nachlässig er mit Details umgeht, die für seine Argumentation nichts Wesentliches enthalten, sondern nur zum »Stimmungsbericht« gehören.

S. 374: »‘Arry zu Margate« – (H)Arry (Nebenform zu Henry) ist durch das apostrophierte H ebenso wie durch die Ortsangabe (Stadtteil in London) eindeutig als Typus des Cockney zu erkennen, dem im vorigen Jahrhundert etwa der altberliner Typus Nante Eckensteher entsprach (mit dem Begriff »cockney«, der dem deutschen Hahnenei entspricht, wird seit ca. 1600 in der englischen Literatur der typische Londoner Eingeborene aus kleinen Verhältnissen, mit einer Neigung zum Prahlerischen und scharfem großstädtischem Mutterwitz sowie einem ihm eigentümlichen Slang bezeichnet).

S. 375: »modernster Stahl… modernste Skulpturen… modernste Chemie« – im 16. Jh. waren unter den europäischen Raufbolden und Mord-Duellanten vor allem die ausgezeichneten florentinischen Stahldegen beliebt, zu denen in der venezianischen Fechtvariante mit Degen und Dolch noch der bereits erwähnte »dagger« kam (militärische Helden bevorzugten die Klinge aus Toledo); »modernste Skulpturen« schuf etwa Michelangelo; und wiederum aus vorwiegend florentinischen Labors kamen die berühmten Gifte, die z. B. den Borgias, den Medicis und über deren eheliche Bindungen dem französischen Hof (bis hin zur Marquise de Brinvillier) berüchtigte Dienste leisteten (bekannt etwa als »aqua toffana« = toskanisches Wasser, oder »aqua benedetta« = gesegnetes Wasser, da aus seiner Anwendung Segen für den Anwender durch Eliminierung dessen, gegen den es angewendet wurde, entstand).

S. 376: »Marconi… D’Annunzio… Futurist« – Guglielmo Marconi (1874 bis 1937), italienischer Funktechniker, entwickelte ab 1895 die drahtlose Telegraphie. Gabriele D’Annunzio (1863–1938), italienischer Dichter, der sich zu einem heidnischen Sinnen- und Schönheitskult bekannte, in dem er überfeinertes Ästhetentum im Sinne der europäischen Décadence mit üppigstem rhetorischem Pathos verband; 1919/20 verhinderte er als Führer einer reichlich romantischen Freischärlertruppe die Internationalisierung des Hafens Fiume, in dem er einen Stadtstaat nach eigenen Vorstellungen verwirklichen wollte; 1924 wurde er (nicht grundlos) vom »Duce« Mussolini zum Principe di Montenevoso, also in den höchsten Adelsstand, erhoben. 1909 begründete der italienische Schriftsteller F.T. Marinetti durch das »Manifesto futurista« eine literarische, künstlerische und politische Bewegung, den Futurismus, der für eine völlige Erneuerung Italiens durch Loslösung von allen Überlieferungen eintrat, Kampf und Gefahr, Technik, Geschwindigkeit und Krieg verherrlichte, in ganz Europa Widerhall fand, und für viele Leitgedanken des späteren Faschismus Ideenlieferant wurde.

S. 381: »Wandsworth« – vormals eine Gemeinde südlich von London, heute Stadtteil von Groß-London.

S. 382: »Snowdon… Glencoe« – der »Snowdon« (auf walisisch Eryri) ist mit 1185 in der höchste Gipfel des walisischen Zentralmassivs; »Glencoe« ist ein Tal im Westen Schottlands in der Grafschaft Argyle, die angebliche Heimat des erfundenen Dichters Ossian, in dem in der Wirklichkeit im Februar 1692 der Clan der MacDonald vom Clan der Campbell massakriert wurde.

S. 382: »Beachy Head« – ein liebliches Kap in Sussex am Ärmelkanal.

S. 387: »Cato« – Marcus Porcius C. der Jüngere war ein erbitterter Gegner Caesars, von dem er die Zerstörung des alten Rom erwartete, und gab sich 46 v. Chr. nach Caesars Sieg bei Thapsus in Utica selbst den Tod.

S. 390: »agnostisch« – die Lehre des Agnostizismus vertritt die Auffassung, daß man über das, was jenseits der realen Welt liege (das absolute Sein, Gott o. ä.), nichts wissen könne und daher Fragen nach deren wahrem Sein zu unterlassen habe bzw. unentschieden lassen müsse.

S. 399: »Ich gehe nach Manchester, Liverpool…« – Namen der damals wichtigsten und im Sinne des Manchester-Liberalismus »fortschrittlichsten« Industriestädte.


DAS DUELL DES DR. HIRSCH

The Duel of Dr. Hirsch

S. 401: »Position Darwins… Position Tolstois« – Charles D. (1809–1882), englischer Naturforscher, der aufgrund eigener Forschungen und unter dem Einfluß von Malthus’ Bevölkerungslehre die bis dahin geltende Anschauung von der Unveränderlichkeit der Arten aufgab und zur Abstammungslehre fand, deren Hauptthese die Selektionstheorie ist, wonach in der Natur diejenigen Individuen einer Art grundlegende Veränderungen der Lebensbedingungen überleben, die sich als die Geeignetsten erweisen: »survival of the fittest« bedeutet also keineswegs das »Überleben des Stärksten«. Lew Nikolajewitsch T. (1828 bis 1910), russischer Graf und Dichter, typischer Vertreter des psychologischen Realismus, von sinnenfroher Erdgebundenheit bei gleichzeitiger intensivster Suche nach ethisch-religiösen Wahrheiten, kam bei seiner Bemühung um eine Art Rekonstruktion des Urchristentums u. a. zu der Überlegung vom »Nichtwiderstehen dem Bösen« und angesichts der konstitutiven Verlogenheit der abendländischen Gesellschaftsordnungen und -theorien zu einer Art Kulturnihilismus.

»Elysée« – der Palast des Präsidenten der französischen Republik zu Paris an der ehemaligen Prachtstraße Champs Elysées.

S. 403: »Fall Dreyfus« – Alfred D. (1859–1935), französischer Offizier jüdischer Abstammung aus dem Elsaß, wurde 1894 wegen angeblichen Verrats an die Deutschen verurteilt, wobei bereits zum Zeitpunkt der Verurteilung klar war, daß Dreyfus den Verrat nicht begangen hatte; er wurde aus antisemitischen und nationalistischen Gründen zur höheren Ehre der Armee, die sich nie irren konnte, und der ihr verbundenen Politiker geopfert. Seine Rehabilitierung erzwang u. a. Emile Zola; dies währte von 1899 bis 1906. Der Fall Dreyfus führte u. a. zur Vereinigung der französischen Linken, die im Kampf gegen die katholische Kirche, in der sie die Hauptstütze der nationalistischen Rechten sah, die Trennung von Staat und Kirche durchsetzen konnte (1901–1905).

»Absinth« – ein aus der Wermutwurzel hergestelltes Destillat in Likörform, das wegen seiner überaus hohen Toxizität bereits vor dem I. Weltkrieg in Europa verboten wurde.

S. 404: »Camille Desmoulins« – Camille D. (1760–1794), französischer Revolutionär, der den Sturm auf die Bastille anführte, zu Danton hielt, daher zum Gegner Robespierres wurde und von diesem gemeinsam mit Danton unter die Guillotine geschickt wurde.

S. 407: »Clemenceau und Déroulède« – Georges C (1841–1929), französischer Arzt und Politiker, Führer der Radikalen, glühender Deutschlandhasser, der bei den Verhandlungen zu Versailles 1919 seine Gewaltpolitik durchsetzen konnte; als Ministerpräsident hatte er 1906/9 die Trennung von Staat und Kirche verwirklicht. Paul D. (1846–1914), französischer Dichter und Politiker, war führend in der Revanche-Bewegung gegen Deutschland, gründete 1882 die Patriotenliga, spielte im Prozeß Dreyfus eine entsprechende Rolle, versuchte 1899 einen Staatsstreich im Sinne des Revanchismus, wurde aus Frankreich verbannt, aber 1905 begnadigt.

S. 408:»Brätlinge« – engl. »whitebait« = der weiße Breitling oder Brätling (clupeaalba), zu den Weißfischen gehörend.

»Epikureer« – Epikur (341–271 v. Chr.), griechischer Philosoph, betrachtete die sinnliche Wahrnehmung als Maßstab der Wahrheit, sah aber nicht in grober Sinnlichkeit die wahre Glückseligkeit, sondern lehrte, diese sei nur durch weise Abwägung des Genusses, durch Selbstbeherrschung, Tugend und Gerechtigkeit erreichbar; Kern seiner Lehre ist die Ethik, deren Ziel es ist, durch richtiges Denken zu einem glückseligen Leben zu finden; seine Anhänger sind die Epikureer.

S. 409: »Tatsächlich steht der Aktenschrank…« – diese Wiedergabe widerspricht dem Text der Notiz auf S. ##53; entweder hat sich Flambeau in der Aufregung geirrt, oder hier liegt (sehr viel wahrscheinlicher) ein Irrtum Chestertons vor, da es ihn gelangweilt haben dürfte, die Details der Erzählung noch einmal zu kontrollieren; dementsprechend sind auch die anderen Einzelheiten des Berichts von Flambeau nur bedingt mit dem Text der genannten Notiz identisch.

S. 412: »Cenci oder Borgia« – die Cenci waren eine alte römische Familie, die sich auf den Konsul des 5. Jh. Crescentius oder Centius aus Nomentum zurückführte; sie wurde berühmt durch Reichtum, Macht und stetigen Widerstand gegen die Päpste (1062 unterstützte sie den Gegenpapst Kadalus, 1075 wollte ein Cenci Papst Gregor VII. ermorden, im 12. Jh. ließ Papst Kalixt II. die Wohn- und Machttürme der Cenci in Rom schleifen); im 16. Jh. wurde die Familie erneut berüchtigt durch die Taten und Untaten der Sippe Francescos, die zu wilden Legendenbildungen und sehr realen Konsequenzen führten: Als seine zweite Frau in Konspiration mit einigen Kindern aus seiner ersten Ehe Francesco 1598 durch Mietsmeuchelmörder umbringen ließ, führte das zu Verfahren, die teilweise in Exekutionen endeten; 1605 erlosch die Familie, die als einzige den Borgias Konkurrenz machen konnte.

Die Borgias waren ein spanisches Adelsgeschlecht, das im 15. Jh. nach Italien kam, zwei Päpste stellte (Kalixt III. und seinen Neffen Alexander VI.), die rücksichtslosesten Gewaltmenschen der italienischen Renaissance hervorbrachte, durch Meuchelmord (u. a. mit Hilfe des oben zu S. 375 erläuterten »aqua toffana«) groß und berüchtigt und durch hemmungslose Sinnenlust vielfältig wurde (bekannt wurden hier vor allem Cesare und Lucrezia, die Kinder des Papstes Alexanders VI.); Francesco B. Urenkel Alexanders VI. Herzog von Gandia, verzichtete auf Gandia, wurde 1565 3. General der Societas Iesu, später heiliggesprochen.

S. 416: »sur le terrain« – französisch = auf dem Feld (der Ehre), also dem Duellplatz.

S. 418: »gamins« – französisch = Straßenjungens.

S. 419: »Mein Gott« – auf französisch »Mon Dieu«.

S. 420: »Henry James« – Henry J. (1843–1916), bedeutender US-Schriftsteller in deutlich europäischen Traditionen, der sich immer wieder mit den schicksalhaften Verstrickungen des Menschen in die ihm von Familie, Umwelt und Gesellschaft oktroyierten Denk- und Verhaltensmustern befaßte und besonders einfühlsam vor dem Leben Zurückschreckende oder von ihm Ausgeschlossene behandelte. Father Browns knappe und vage Paraphrase läßt sich am ehesten noch auf die Erzählung The Beast in the Jungle (Das Tier im Dschungel) beziehen, die 1903 erschienen ist (deutsch 1958 und 1959).

S. 420/421: »Heroldsstab… und… Trompete« – die Signale beim mittelalterlichen Ritterturnier zur Eröffnung des Zweikampfes.


DER MANN IN DER PASSAGE

The Man in the Passage

S. 424: »Adelphi« – 1768 errichtete der Architekt Robert Adam (1728–1792) zusammen mit seinen Brüdern unmittelbar auf einem Steilufer der Themse im heutigen Zentrum Londons einen riesigen Gebäudekomplex mit Theater, den er zur Erinnerung an das Mitwirken der Brüder nach dem griechischen Wort »adelphoi« = die Brüder eben Adelphi nannte.

S. 425: »Frage der Edelmetallwährung für das Größere Britannien« – im Original »the project of bimetallism for Greater Britain«: mit »bimetallism« bezeichnete man seit 1876 Überlegungen, den uneingeschränkten Umlauf von Gold- und Silbermünzen bei fixiertem Wertverhältnis zueinander zur Währungsgrundlage zu machen, und zwar nicht nur in Großbritannien selbst, sondern auch im Bereich des Größeren Britannien, nämlich in zusätzlichen Teilen des Empire; doch wurde man sich über beide Teile des Projekts nie einig, das dementsprechend auch nie realisiert wurde.

S. 426: »Velazquez« – Diego de Silva V. (1599–1660), spanischer Maler, ab 1623 Hofmaler zu Madrid, schuf in der »Übergabe von Breda« eines der bedeutendsten Geschichtsbilder der europäischen Malerei insgesamt.

»Chaucer« – siehe Anmerkung zu S. 351; der Müller ist eine der Gestalten aus den Canterbury Tales.

»Behrboom« – (Sir) Henry Maximilian B. (1872–1956), englischer Kritiker, Essayist, Karikaturist und Romanautor (Zuleika Dobson, 1911); eng befreundet mit Audrey Beardsley, keiner besonderen Schule zuzurechnen.

S. 427: »Euklid« – griechischer Mathematiker um 300 v. Chr. lehrte in Alexandrien und faßte das mathematische und vor allem geometrische Wissen seiner Zeit sowie seine eigenen Weiterentwicklungen in dem Werk Die Elemente zusammen, von denen noch 13 Bücher überliefert sind; bis heute bekannt ist die von ihm entwickelte »euklidische Geometrie«, deren Allgemeingültigkeit erst Ende des 18. Jh. widerlegt wurde: nichteuklidische Geometrie.

»… und dem großen Marsch durch China« – diese Anspielungen könnten sich noch am ehesten auf Vorgänge während des Taiping-Aufstandes in China bzw. den Boxeraufstand (1900) beziehen.

»Nelson«- Horatio N. (1758–1805), britischer Admiral, der die britische Seeherrschaft durch den Sieg über Napoleons Flotte bei Abukir und den bei Trafalgar (bei dem er fiel) sicherte und so den Sieg Napoleons über England verhinderte; die vielleicht bedeutendste Einzelleistung im Kampf Europas gegen Napoleons Herrschaftsgier.

S. 429: »Theseus und Hippolyte« – Theseus war nach der griechischen Sage ein Sohn von Ägeus, dem König von Athen, tötete mit Hilfe Ariadnes und ihres Fadens den Minotauros im Labyrinth zu Knossos auf Kreta und war zuletzt mit der Amazonenkönigin Antiope verheiratet, die auch Hippolyte hieß, weshalb beider Sohn den Namen Hippolytos erhielt; seit dem 5. Jh. v. Chr. athenischer Nationalheld.

S. 430: »amerikanische Vermutungen« – Chesterton gebraucht das Wort amerikanisch meist wie allgemein üblich falsch, nämlich ausschließlich im Sinne eines Adjektivs zu USA, obwohl die USA nur ein kleiner Teil Amerikas zwischen der Nordspitze Alaskas und der Südspitze Feuerlands sind.

S. 435: »Charing Cross« – wichtiger Platz, Metrostation usw. in London; König Heinrich II. Plantagenet von England (herrschte 1154 bis 1189) ließ nach dem Tode seiner Frau, der Königin Eleonore von Aquitanien, trotz äußerst unerfreulicher Eheverhältnisse an jeder Stelle, an der ihr Trauerzug Halt machte, ein Gedenkkreuz errichten: das bekannteste ist Charing Cross.

S. 439: »Anwälte« – da die Terminologie der britischen Rechtspflege äußerst kompliziert ist und hier zum Verständnis nicht unbedingt nötig, habe ich versucht, mir durch deutschen Verhältnissen angepaßte Begriffe zu helfen; der Richter z. B. wird als »Your Lordship« angesprochen, hier »Euer Ehren« bzw. »Hoher Gerichtshof«.

S. 440: »Flaneur« – französisch = Bummler, Müßiggänger usw.; um die Jahrhundertwende geradezu ein Typus der guten Gesellschaft.


DER FEHLER DER MASCHINE

The Mistake of the Machine

S. 450: »Temple Gardens« – Parkanlage beim Middle und Inner Temple in London, zwei Gebäuden, die auf dem Platz stehen, auf dem einst die Baulichkeiten des Ordens der Tempelherren/ritter sich erhoben (sie wurden 1313 enteignet; seither als Ort der wichtigsten Rechtsschulen Zentrum der englischen Jurisprudenz).

»Amerika« – vgl. Anmerkung zu S. 430.

»frühes dunkles Mittelalter« – die »Dark Ages« = dunkle Jahrhunderte (da nach traditioneller Lehrmeinung kaum durch zuverlässige Geschichtsdokumente aufgehellt) bezeichnen im englischen Sprachgebrauch die Jahrhunderte des frühen Mittelalters bis zum Beginn der Kreuzzüge.

S. 451: »Yankee« – ein in seiner Herkunft und Urbedeutung bis heute ungeklärter Ausdruck, der ab 1683 mit zunächst niederländischen Assoziationen belegt ist (also vielleicht die Anglisierung eines niederländischen Janke als spöttisch-herabsetzendes Diminutiv zu Jan: ergo etwa Hänschen); ab 1758 als Spitzname zunächst für Neuengland-Bewohner, dann für solche der Nordstaaten überhaupt (während des US-Bürgerkrieges allgemeine herabsetzende Bezeichnung des Südens für die Nordstaatensoldaten), ab 1784 in England für alle US-Einwohner (als die natürlich nur weiße protestantische Menschen galten); seit 1781 zunehmend auch Charakterkennzeichnung mit den Bedeutungen Schläue, pfiffige Hinterlist, kaltes Profitkalkül usw.

»Harvey« – William H. (1578–1657), englischer Arzt und Leibarzt König Charles I.; entdeckte den großen Blutkreislauf und lehrte, daß alles Lebendige aus dem Ei stamme.

»das andere Ende des Stockes« – Bundespräsident Gustav Heinemann pflegte zu sagen, wer mit dem Finger auf andere weise, weise zugleich mit mindestens drei Fingern auf sich selbst.

S. 453: »Republik« – gemeint ist die Republik der United States.

S. 454: »Sequah in diesem Staat« – der Staat ist Illinois; ein Ort Sequah war bisher nicht zu finden (was zwar alles völlig belanglos ist, aber zugunsten der Idee eines ordentlichen Anmerkungsapparates nicht unterschlagen werden darf).

S. 455: »sagte der Direktor« – wieder ein Beispiel für Chestertons Nachlässigkeit: unten S. 451 heißt es noch, er sei der ranghöchste Beamte nach dem Direktor.

S. 457: »kurz geschnitten« – damals schor man Gefangenen grundsätzlich das Haar kurz: aus hygienischen Gründen (Läuse) wie aus ideologischen (nur der freie Mann hat das Recht auf wallendes Haar – vgl. Allongeperücke gegen Kurzzopf der Diener –, dem striktestem Gehorsam Unterworfenen ist der Verlust der Selbständigkeit durch Haarscherung zu demonstrieren, und zugleich ist er so den anderen kenntlich zu machen: vgl. die Scherung Samsons durch seine Ehefrau, die von Kollaborateusen vor allem in Frankreich, den »crew cut« bei der US-Army und die Schafschur).

»er begann die Nachricht zu bedauern…« – im Original der vorliegenden Ausgabe »he began to repent the coat he had left behind him in the blood of the victim« = er begann zu bereuen, daß er dem Rock/Mantel im Blut seines Opfers zurückgelassen hatte: Das macht so keinen Sinn, da dem Vorbericht zufolge kein Rock/Mantel im Blut des Opfers zurückgelassen wurde. Entweder ist hier der Text verderbt, oder es liegt wieder eine der Nachlässigkeiten Chestertons vor. Die Übertragung folgt der Überlegung, daß man die blutige Nachricht an der Wand als eine Art Visitenkarte, als eine Art »coat of arms« = Wappen verstehen könnte, daß also hier mit dem zurückgelassenen »coat« das Wappen als Nachricht gemeint sein könnte (wenngleich in einer an sich unverständlichen Konstruktion; oder sollte Chesterton ursprünglich an »code« = verschlüsselte Nachricht gedacht haben?).

S. 462: »Erzbischof von Canterbury« – gemeint ist hier nicht der katholische, sondern der anglikanische Primas der Kirche von England, der auch in Canterbury residiert.

S. 464: »kühl wie eine Gurke« – »cool as a cucumber« wird gewöhnlich mit »kalt wie eine Hundeschnauze« übersetzt (wenn es nicht zu »kühl wie ein Kürbis« verstabreimt wird); nun ist die Kühle etwa einer Scheibe Schlangengurke ausreichend bekannt, die kalte Hundeschnauze aber wesentlich vulgärer, weshalb hier die kühle Gurke belassen wird (obwohl Kürbis dem Stabreim zuträglicher gewesen wäre).

S. 473: »Panhard« – französisches Luxusmobil der Zeit; einfache Ausgaben hatten lange ein Chassis in Bootsform.


DER KOPF CAESARS

The Head of Caesar

S. 475: »Brompton oder Kensington«, später noch Putney – Vorstädte bzw. Stadtteile Londons.

S. 477: »Sela« – musikalische Angabe in den hebräischen Psalmen, also dem Psalter des AT; wohl Aufforderung zu einem jubelnden Zwischenruf der Gemeinde o. ä.; volkstümlich früher verwendet im Sinne von punktum, ebenfalls früher verwendet im Sinne von basta (italienisch = genug!). »Alles« = Biere.

S. 480: »Kinderlied… krummer Mann« – das Kinderlied heißt:


There was a crooked man,

Da war ein krummer Mann,


And he walked a crooked Mile,

Der wanderte eine krumme Meile,


He found a crooked sixpence

Er fand einen krummen Groschen


Against a crooked Stile;

An einem krummen Zauntritt;


He bought a crooked cat,

Er kaufte eine krumme Katze,


Which caught a crooked mouse,

Die fing eine krumme Maus,


And they all lived together

Und sie lebten alle zusammen


In a little crooked house.

In einem kleinen krummen Haus.


(Text nach »The Oxford Nursery Rhyme Book«, London 1984). Der Text erlebte Anfang der 60er eine neue internationale Karriere, als ihn u. a. die Serendipity Singers als »Volkslied« weltweit berühmt machten.

»noblesse oblige« – französisch = Adel verpflichtet.

S. 488: »der Mann im Märchen« – das spielt vermutlich auf eines der zahlreichen irischen Lügenmärchen an, in denen es darum geht, wer irgend etwas schneller, größer, besser usw. kann.

S. 490: »Wagga Wagga, Mafeking…« – Das Haus hat seinen Namen Wagga Wagga vom australischen Ortsnamen Wagga Wagga am Ufer des Murrumbidgee River westlich von Canberra; Mafeking: der Straßenname kommt von der Stadt Mafeking, damals Distriktsstadt in der südafrikanischen Kapprovinz und Verwaltungssitz des Protektorats Bechuanaland, vormals Hauptstadt des Zulureiches; aus Bechuanaland wurde Botswana, aus Mafeking Gaborone.


DIE PURPURNE PERÜCKE

The Purple Wig

S. 500: »Druckfehler« – sind wie englische »misprints«, aber anders als französische »fautes de coquille« in Wirklichkeit keine »Druck« –, sondern Setzfehler; wirkliche Druckfehler sind äußerst selten; zutreffend wäre der Begriff dann, wenn man ihn als »gedruckte Fehler« begriffe; die Schuld des (der) Verursacher liegt hier also nicht bei den Druckern, sondern bei den Setzern, Korrektoren und Lektoren (allerlei Geschlechts).

S. 501: »Fahne« – bis in die 70er Jahre war es üblich, daß der von den Setzern produzierte Satz zunächst auf langen Papierstreifen (von etwa der dreifachen Höhe einer normalen Buchseite) zu Korrekturzwecken abgezogen wurde: den (Korrektur-)Fahnen. Und in alten Zeitungsverlagen war es normalerweise so, daß die Redaktion sich in einer Etage unterhalb der Setzerei befand, weshalb die korrigierten Fahnen zur Korrektur dann eben »hoch«geschickt werden mußten.

»James I.« – Sohn Maria Stuarts und Lord Darnleys; König Großbritanniens (1603–1625), stützte sich besonders auf die anglikanische Hochkirche gegen die Presbyterianer, versuchte die Aussöhnung zwischen Katholiken und Anglikanern, vereitelte 1605 die Pulververschwörung von Guy Fawkes, der für die englischen Katholiken König und Parlament in die Luft sprengen wollte; und wurde – wie alle umstrittenen Herrscher – Zentrum reicher Legenden sowohl im Bereich seiner Anhänger (positiv) wie seiner Gegner (negativ).

S. 502: »Agnostiker« – sind immer wieder Thema Chestertons, was seine intensive Beschäftigung mit dem Thema belegt; vgl. Anmerkung zu S. 390.

»Kavaliere« – Wortsinn »Ritter«; im Englischen besonders die Anhänger von Charles I. (1625–1649), dem vielleicht gebildetsten und kunstsinnigsten Monarch auf Großbritanniens Königsthron; auch er suchte die Versöhnung zwischen Anglikanern und Rom; wurde aber aus den beiden Gründen zumindest von den schottischen Presbyterianern an das englische Parlament unter dem Diktator Cromwell ausgeliefert und 1649 enthauptet.

S. 504: »Apfelwein« – im Original »cidre«; der Begriff »cidre« ist ebenso vielfältig wie Wein und keinesfalls mit dem berühmt/berüchtigten Frankfurter Apfelwein (Äppelwoi) in eins zu denken; guter Devonshirer Cidre steht keinem moussierenden Traubenwein nach.

S. 511: »Elisha« – im 2.Buch der Könige im AT heißt es II, 23, daß als Elisha (Elisa) den Weg nach Bethel hinaufzog, Knaben aus der Stadt ihn ob seiner Kahlköpfigkeit verspotteten.

S. 515: »König Midas« – nicht nur der sprichwörtlich noch bekannte phrygische König, den das Glück so begünstigte, daß alles, was er anfaßte, zu Gold wurde, sondern auch der darob so hochmütig gewordene, daß ihn Gott Apoll strafte, indem er ihm aus gegebenem Anlaß (wer Gold macht, kann – dachte er – auch die Qualität göttlicher Musik kritisch beurteilen) Eselsohren wachsen ließ.

S. 516: »Todesfee« – im Original »banshee«: Fee aus der irischen Mythologie, die Todesfälle vorverkündet.


DER UNTERGANG DER PENDRAGONS

The Perishing of the Pendragons

S. 522: »Pendragon… Flambeau… Merlin« – eine genaue Untersuchung der Chestertonschen Namengebung könnte sicherlich höchst reizvolle Aufschlüsse über seine Assoziationen und Vorstellungen liefern. Der Name des französischen Freundes unseres Fathers, Flambeau, bedeutet z. B. auch »Fackel, Wachsfackel, Armleuchter, Hängeleuchter« usw. und angesichts des Berufs von Brown wird es zulässig sein, an die Kerzenhalter am Altar zu denken und an das Licht, das ihre Kerzen den Vollzügen des Priesters spenden. Pendragon setzt sich zusammen aus dem Walisischen bzw. Kornischen »pen« = Haupt, Oberhaupt und »dragon« = draco, Drache (Wales ist neben China das einzige Land, das den Drachen in der Flagge führt); seit spätestens 1470 belegt als Bezeichnung für einen Anführer im Kriege; der Titel findet sich erstmals in der Dichtung von Sir Thomas Malory (1408–1471), der in »Le Morte d’Arthur« (Der Tod Arthurs) schrieb: »Es geschah zu den Zeiten von Uther Pendragon, als er König von ganz England war.« Seither verwendet man das Wort einerseits als Bezeichnung für altenglische oder altwalisische Prinzen und Fürsten, die Anspruch auf die oberste Herrschaft erheben; bezeichnet aber zugleich in der Legendendichtung damit auch jenen König, eben Uther Pendragon, dessen Nachfolger Arthur wird, den der Weise und Zauberer Merlin berät, bis Arthur in der Gestalt und Idee des Königs Artus verschwindet.

S. 524: »Drake« – Sir Francis D. (ca. 1540–1596, gefallen), englischer Seeheld, der sich auf Seeräuberzügen und Kriegsfahrten gegen Spanien, nicht immer im Rahmen der Gesetze, große Verdienste um das elisabethanische England erwarb; er führte 1585 in England die Kartoffel ein und bekämpfte im Kanal 1588 die Armada.

»Westward Ho!« = Auf nach Westen!

S. 528: »Raleigh und Hawkins« – Sir Walter R. (ca. 1552–1618, hingerichtet), englischer Seeheld wie Drake, dessen sich Jakob I. entledigte, als R. vor Guyana gescheitert war, um seinen Frieden mit den Spaniern zu machen; R. war hochgebildet, schrieb Gedichte, politische und volkswirtschaftliche Schriften und eine Weltgeschichte.

Sir John Hawkins (1520–1595) gehörte ebenfalls zu den von England als Seehelden verehrten erfolgreichen Bekämpfern der spanischen Seemacht.

S. 529: »spanische Karibik« – im Original »Spanish Main«, womit das Gebiet gemeint ist, das damals rund um die Karibik in spanischer Hand war: Mittelamerika, der nördliche Teil Südamerikas, der südliche Teil der nachmaligen USA und selbstverständlich auch die Inseln in der Karibik.

S. 531: »Nelson« – ein weiterer britischer Seeheld, siehe Anmerkung zu S. 427.

»die goldenen Äpfel der Hesperiden« – in der griechischen Mythologie hatte Herkules als eine seiner 12 Arbeiten die goldenen Äpfel der H. zu beschaffen, die diese im äußersten Westen der antiken Welt behüteten (manche wollen sie auf den Azoren lokalisieren); wer sie aber aß, dem brachten sie Unsterblichkeit.

S. 540: »Tritonen« – Meeresgötter in der griechischen Mythologie; zum Gefolge Poseidons gehörend.

»Kanarienvögel« – im Englischen »Canary«, was sowohl Kanarienvögel als auch Kanarische Inseln bedeuten kann.

S. 545: »George Herbert« – George H. (1593–1633), englischer Dichter, dessen Hymnen vorwiegend zu Kirchenliedern wurden.


DER GOTT DER GONGS

The God of the Gongs

S. 555: »den anderen alten Plätzen« – gemeint sind die alten, von der Gesellschaft längst anerkannten Seebäder, im Gegensatz zu den neuen Bädern, die aus Spekulationen zu erwachsen begannen.

S. 557: »klerikaler Hut… ohne ein klerikales Haupt darinnen« – hier läßt sich sehr schön erkennen, wie Chestertons Lust am Spiel mit Worten ihn immer wieder fortreißt: die völlig überflüssige und nicht einmal sonderlich witzige Bemerkung, daß der klerikale Hut ohne ein klerikales Haupt darinnen liegen blieb, entstand wohl ausschließlich aus dem fast identischen Klang der englischen Begriffe »clerical hat« und »clerical head«.

S. 563: »Cakewalk« – ursprünglich ein grotesker Wett-Tanz der Negersklaven in Nordamerika, bei denen der Sieger als Preis einen Kuchen, den »cake«, überreicht bekam; er kam dann um 1900 in stilisierter Form als Gesellschaftstanz nach Europa.

S. 565: »wie einst Samson das Stadttor von Gaza« – die Geschichte Samsons oder Simsons wird im Alten Testament, Buch der Richter, XIII – XVI, berichtet, die Geschichte seines Besuchs zu Gaza und seines Endes speziell im Kapitel XVI.

»Anchises« war der lateinischen Sage zufolge der Vater von Aeneas, den dieser auf seinen Schultern aus dem brennenden Troja trug.

S. 575: »Oktoron« – Mischling von Quadronen und Weißen, also ein Achtelblut, da Quadronen Mischlinge von Halbblut und Weißen sind, also Viertelblut.

S. 576: »Basilisk« – das griechische Wort bedeutet »kleiner König« und bedeutet nach der antiken Legende ein Fabelwesen, dessen Blick tötet.

»der Schwarze Mann« – seit ca. 1590 ist »the black man« in Schottland als Umschreibung für den Teufel geläufig.


DER SALAT VON OBERST CRAY

The Salad of Colonel Cray

S. 578: »angloindischer Major« – im Original »Anglo-Indian«; bezeichnet im deutschen Sprachgebrauch einen Mischling aus englischen und indischen Eltern, während hier ein Engländer gemeint ist, der im Dienste des angloindischen Imperiums in Indien gedient hat.

S. 581: »Paradoxon« – üblicherweise als »Widerspruch in sich« verstanden, in Wirklichkeit einen Schein-Widerspruch meinend, also einen, der durchaus auflösbar ist.

S. 583: »Dickens« – Charles D. (1812–1870), englischer Erzähler, der als erster eine neue Welt literarisch erschloß: die der kleinen Leute, der von der Gesellschaft stiefmütterlich Behandelten, die er liebevoll und mit groteskem Humor vorstellte, wobei er zugleich scharfe Kritik an den gesellschaftlichen Gegebenheiten übte; der Begründer des Sozialromans.

S. 584: »Kummerbund« – aus dem Urdu »kamar-band« = Band um die Nieren: schärpenähnlich um die Hüften gelegtes Seidentuch; dient heute als Bezeichnung für ähnliches, das zum Smoking o. dgl. anstelle einer Weste getragen wird.

»Euphemismus« – beschönigende Umschreibung für einen sehr viel häßlicheren Tatbestand.

S. 586: »von tizianischer Fülle« – Tiziano Vecellio (ca. 1476–1576), italienischer Maler, der in seiner monumentalen Mittelphase lebensvolle pralle Menschendarstellung und Farbenpracht mit stark bewegter Komposition verband, ehe er in seiner Altersphase ab 1550 aus tief durchgeistigter Gelöstheit bei ungeminderter Kraft zu geheimnisvoll aus dem Dunkel aufleuchtenden Farben fand.

»Gourmet« – französisch = Feinschmecker; oft wird der Gourmand fälschlich als »Vielfraß« und maßloses Gegenstück zum maßvollen Gourmet dargestellt, obwohl Gourmand viel eher das Leckermäulchen ist; man könnte den Gourmet richtiger als den asketischen, den Gourmand als den wollüstigen Feinschmecker definieren (Anhänger der inzwischen wieder veralteten Nouvelle Cuisine wäre auch ein Gourmet nur bedingt und unter großen Vorbehalten gewesen).

S. 588: »Trichinopoli« – Name einer Stadt und eines Distriktes im damaligen Regierungsbezirk Madras (südöstlicher Dekkan in Indien und Hauptstadt des gleichnamigen Gebietes), durch bei Kolonialbeamten und -Offizieren besonders beliebte Zigarren feinster Qualität berühmt.

S. 589: »zusätzliches Glied« – heute übliche Assoziationen sind im chestertonschen Kontext absolut abwegig, wie abwegig auch immer das heute erscheinen mag.

S. 593: »Kannibalen-Inseln« – das englische »Cannibal Islands« ist so wörtlich übersetzt; gemeint sind die Karibischen Inseln. Das Wort »Kannibale/Cannibals« o. ä. ist vom spanischen »cannibales« abgeleitet, das wiederum aus »caribales« entstand und ursprünglich die Kariben bezeichnete, die von Spanien ausgemordeten Ureinwohner der Karibischen Inseln; die Selbstbezeichnung »caribe« bedeutete »die Tapferen, die Mutigen« und bezog sich ursprünglich nur auf die Kriegerkaste. Da die Kariben rituellen Verzehr von Menschenfleisch kannten und betrieben, wurde ihr Name zum Synonym für Menschenfresser. Hier mußte die Bezeichnung Kannibalen-Inseln statt der richtigeren Karibischen Inseln beibehalten werden, da sonst das Wortspiel Father Browns im nächsten Satz unverständlich bliebe.

S. 594: »Curry-Reisspeisen« – im Original »kedgerees of curries«; Gerichte dieser Art haben nichts mit der sogenannten Reistafel Indonesiens zu tun. »Kedgeree« ist die Verenglischung des Hindi-Wortes »khichri« aus dem Sanskrit »krsara« = Speise aus Reis und Sesam; in angloindischen Zeiten ein indisches Gericht aus gekochtem Reis mit geschälten Hülsenfrüchten (Erbsen, Bohnen, Linsen o. ä.), Zwiebeln, Eiern, Butter und Gewürzen (vereuropäisiert auch aus kaltem Fisch, gekochtem Reis, Eiern und Gewürzen angerichtet und ebenfalls heiß serviert); »curry« ist eine scharfe Mischung aus Gewürzpflanzen. Da beide Herren »Angloinder« sind, darf man wohl annehmen, daß sie die indische Speise genossen, wobei die unterschiedlichen Gänge vor allem durch unterschiedliche Gewürzmischungen auf Curry-Basis entstanden, zu denen dann die entsprechenden Weine auszuwählen bzw. zu servieren waren.

S. 595: »Senfpflaster« – aus Senfmehl angerichtetes Hausmittel mit hautreizendem Effekt zur Verbesserung der Durchblutung.

»Essig und braunes Papier« – braunes Papier war ein mit Teerextrakten durchtränktes Packpapier; zusammen mit Essig ergab es ein weiteres Hausmittel gegen Quetschungen.

»ein Gewürzständer enthält auch Predigten« – da nach den zahlreichen erfolgreichen Schul- und Bildungsreformen nicht mehr vorausgesetzt werden kann, daß dem Leser die Grundbestandteile abendländischer Bildung ebenso geläufig sind, wie Chesterton das für seine Leser als selbstverständlich voraussetzen konnte, seien die folgenden Beispiele kurz erläutert: Senfkorn – im Neuen Testament ist bei Markus IV, 31 nachzulesen, daß das Senfkorn unter allen Samenkörnern das kleinste ist, aber (wie der Glaube) auf gutem Boden zu zweigreicher Größe heranwächst; Öl – im NT ist bei Lukas X, 30–34. nachzulesen, daß ein Mann aus Samaria einen aus Jerusalem am Wegesrand fand, den die Räuber übel zugerichtet hatten, und er pflegte ihn (obwohl zwischen beiden Religionsfeindschaft bestand) und goß ihm schmerzlindernd Öl (teuer und kostbar) in seine Wunden; Essig – im NT ist bei Markus V, 34–36 nachzulesen, daß als Jesus am Kreuze hing und der Himmel sich verfinsterte, ein Soldat einen Essigschwamm an seine Lanze tat und Jesu an den Mund führte (um ihm Erleichterung zu verschaffen).


DAS EIGENTÜMLICHE VERBRECHEN


VON JOHN BOULNOIS

The Strange Crime of John Boulnois

S. 599: »amerikanisch« – hierzu siehe die Anmerkung zu S. 430.

»William James« – William J. (1842–1910), der ältere Bruder von Henry J. (siehe Anmerkung zu S. 420), New Yorker Psychologe und Philosophie-Professor.

»Weary Willie« = »müder Willy«, vermutlich erfundener (oder wirklicher) Spitzname eines damals populären (oder als solcher erfundenen) Boxers, was jedenfalls der Kontext nahelegt.

S. 600: »Pugilisten« – wörtlich Faustkämpfer, also Boxer; hier wurde das altmodische Wort stehen gelassen, um den vierfachen Stabreim Chestertons auf P beibehalten zu können.

»Katastrophismus« – englisch »catastrophism«: 1869 entstand unter diesem Namen tatsächlich eine Theorie, daß bestimmte geologische und biologische Phänomene durch Katastrophen oder plötzliche und gewaltsame Veränderungen der Natur hervorgerufen worden seien; die Theorie entstand im Umfeld der Auseinandersetzungen mit den Lehren Darwins; »a catastrophist« war/ist einer, der dieser Theorie anhängt.

»Cumnor« – Dorf und Hügel ca. 10 Meilen westlich von Oxford.

S. 601: »Grey Cottage« – »cottage« ist die Hütte, das Häuschen (etwa des Landarbeiters); inzwischen etwa das Äquivalent zur Datsche; Grey Cottage = das Graue Haus.

»Pendragon« – hierzu siehe die Anmerkung zu S. 523.

S. 603: »Tory-Demokratie« – »tory« ist die Verenglischung des irischen »toraidhe« = der Verfolger; wurde im 17. Jh. Spitzname der von den englischen Besatzern enteigneten irischen Landbesitzer, die sich als Straßenräuber gegen englische Siedler und Soldaten ihren Lebensunterhalt zu beschaffen trachteten; daher später generell im Sinne »Straßenräuber«. 1679 Spitzname für diejenigen, die sich dem Ausschluß des (katholischen) Herzogs James of York widersetzten. Ab 1689 Name der einen der beiden großen Parteien: Sie entstand aus den Royalisten und Kavalieren (siehe Anmerkungen zu S. 501/502); den Namen löste um 1830 die Bezeichnung »Konservative« ab. Die Begriffe »Tory« und »Demokratie« schlossen sich lange Zeit eigentlich gegenseitig wegen des Staatsverständnisses der Tories aus.

S. 604: »Königin… Minneturnier« – im Hoch- und Spätmittelalter gehörte es zum immer höher stilisierten Minnekult, an Minnehöfen eben diese Minneturniere zu veranstalten, deren Herrin die jeweilige Königin des Minnehofes war.

»Romeo und Julia« – Drama von William Shakespeare, in dessen Verlauf das Liebespaar, dem der politische Streit der beiden Familien das Eheglück verweigert, in den Tod geht, teils auch durch Mißverständnisse verursacht: Romeo ersticht sich.

S. 607: »Rabenwald« – Edgar Herr auf Rabenwald (Ravenswood) ist der Held in Sir Walter Scotts Roman The Bride of Lammermoor (Die Braut von Lammermoor), 1819, dem düstersten Werk des Romanciers.

»Pierrot« – französisch = Peterchen; seit 1741 Bezeichnung für den Possenreißer in der Pantomime; in englischem Sprachgebrauch vor allem Bezeichnung für Grotesksänger oder -instrumentalisten in der Pantomime, die dabei meistens ein geweißtes Gesicht haben und sehr weite, lose hängende weiße Kleidung tragen.

S. 616: »Deut« – im Original »rap«; beides bedeutet die kleinste Scheidemünze im Münzsystem (heute z. B. der Pfennig oder der Schweizer Rappen).

S. 617: »Harun al-Raschid« – Märchenfürst aus Tausendundeiner Nacht, der mit dem historischen Harun ar-Raschid, einer bedeutenden, aber höchst unerfreulichen Gestalt, nur wenig gemeinsam hat.

»nicht um ein Jota geändert« – Jota ist der Name des »i« im griechischen Alphabet, das als ein Strich geschrieben wird, weshalb man oft die Meinung finden kann, die Redensart bedeute, es sei nicht einmal ein Strich, also nichts geändert worden. Tatsächlich geht die Formel auf einen der schwierigsten Streitpunkte bei der Formierung der alten christlichen Kirche zurück, als es nämlich um die Frage ging, ob Jesus »homousis« = Mensch gewesen sei, oder »homoiusis« = menschenähnlich, menschengleich; man einigte sich darauf, daß er zugleich Gott und Mensch, also »homousis« war – und wer das Wort auch nur um ein Jota änderte (nämlich zum »homoiusis«) galt fürder als Häretiker.

»Und Haman begann…« – Übersetzung der Father Brownschen Fassung des Berichtes im Buch Esther des AT, V, 9–14.

S. 619: »galvanisiert« – Luigi Galvani (1737–1798), italienischer Naturforscher und Professor der Anatomie in Bologna, entdeckte 1789, daß ein Froschschenkel (vom Tier abgetrennt) bei bestimmten Versuchen plötzlich zuckte, was er auf elektrische Entladungen zurückführte.

»Republik« – gemeint sind die USA.


DAS MÄRCHEN VON FATHER BROWN

The Fairy Tale of Father Brown

S. 623: »Spielzeugkönigreiche« – auch Duodezfürstentümer genannt, haben etwa in der englischen oder französischen Literatur eine merkwürdige Rolle inne; Eugène Sue läßt in seinen Mystères de Paris den Herzog und das Herzogtum von Gerolstein einen bedeutenden Part spielen, und Jacques Offenbach schuf 1876 seine Oper Die Großherzogin von Gerolstein, wobei beide Gerolsteine nur den Namen mit dem Eifelort gemeinsam haben (und die Landschaft); auch Arsène Lupin bestand einige seiner Abenteuer gegen Bismarck und Wilhelm II. in solcherlei Residenzen; hier also auch Chestertons Beitrag zur Geschichte der Duodezfürsten.

S. 625: »Swinburne« – Algernon Charles S. (1837–1909), englischer Dichter, der zunächst in der Nachfolge von Baudelaire durch seine Gedichte die bürgerliche Sittsamkeit seiner Zeit herausforderte und dann unter dem Einfluß Manzinis glühende Freiheitsgedichte schrieb. Da Flambeau das Gedicht selbst mit den Worten »Oder irgendwas dieser Art« abtut und die Gebrüder Arnhold zunebst Stadt, Land und Geschichte Heiligwaldenstein spätestens durch Napoleon untergegangen zu sein scheinen, dürfte sich eine Suche nach dem Gedicht in Swinburnes Werken nicht recht fruchtbar gestalten, wenngleich dort vielerlei schöne Töne über Freischärler, die man heute Guerilleros und Terroristen nennt, finden lassen.

S. 626: »Quietismus« – eine religiöse Lehre, die eine mystische Vereinigung mit Gott durch affekt- und willenloses Sichergeben in den Willen Gottes erstrebt(e).

»quäkerisch« – der Grundgedanke der Lehre der Quäker ist, daß über jeden Menschen die Erleuchtung als Quelle der Gotteserkenntnis und des wahren christlichen Lebens komme; die Gemeinschaft der »Quakers« (Spottname = die Zitterer) wurde im 17. Jh. in England von George Fox gegründet und später in Nordamerika von William Penn ausgebaut.

S. 629: »Royal Society« – 1662 von Charles II. gegründete Akademie der Wissenschaften zur Förderung von Mathematik und Naturwissenschaften; Sitz: Burlington House, London.

S. 633: »Cherubime« – übermenschliche Wesen in der nächsten Nähe Gottes, bildlich dargestellt als von 4 Schwingen getragene Köpfe (die ihnen artverwandten Seraphim haben 6 Schwingen); später sollten sie zu den berühmten Putten verniedlicht werden.

»Königgrätz« – tschechisch »Hradec Králové« (beides = Königsstadt), Gebietshauptstadt im östlichen Böhmen, wo 1866 die Preußen entscheidend über die Österreicher und Sachsen siegten (in England und Frankreich nach dem eigentlichen Schlachtort auch Sadowa genannt).

»Gravelotte« – Gemeinde in Lothringen, einer der Hauptschlachtorte im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71, den vor allem Habgier und Eitelkeit Napoleons III. auslösten.

S. 638: »Sie vertraueten auf ihre Pferde…« – AT Psalm 20, Vers 8.

»Kroaten oder Ungarn« – demnach müßte entweder Heiligwaldenstein im Bereich etwa des heutigen Burgenlandes gelegen haben, oder aber die Arnholds müssen sich aus den österreichischen Heeren Kroaten oder Ungarn angeheuert haben.

S. 640: »So ist auch die Zunge…« – Brief des Apostels Jakobus im NT, V, 5.

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