Erster Teil Der unsichtbare Feind


Erstes Kapitel In der Admiralität

Am zwölften August 189 … hatte sich die Kommission B der englischen Admiralität, das Naval-office, versammelt. Der August entvölkerte die luxuriösen Vororte von London. Bankiers, Beamte, Lords, all jene also, die Fortuna mit ihrem Zauberstab berührt hatte, waren, so schnell sie konnten, in die hoch im Kurs stehenden Badeorte abgereist. Von Brighton bis zur Spitze von Cornwall, von der Insel Wight bis zum Kap Wrath waren die See- und Thermalbäder mit fröhlichen Familien bevölkert, die nach Ruhe und frischer Luft gierten. Und darüber hinaus scheuten sich auch viele nicht, das Meer zu überqueren, und so sah man in Ostende, Dünkirchen, Boulogne, Mayville, Dieppe, Trouville, in der Bretagne, der Dauphiné und der Auvergne die karierten Anzüge der Gentlemen und die Kapotthütchen der blonden englischen Damen zugvögelgleich auftauchen.

Auch die Kommission B war nur durch drei Mitglieder repräsentiert. Aber diese drei waren soviel wert wie eine Armee; es waren jene, die sich nie eine Atempause gönnten, die ununterbrochen an dem großen Spinnennetz spannen, mit dem England die ganze Welt gefangenhielt und das aus Telegrafenkabeln gemacht war.

Und so arbeiteten also Lord Steam, der Präsident der Admiralität, Baronet Helix und Sir Torpedo. Ihre kratzenden Federn flitzten übers Papier und verfaßten lakonische Befehle, die am anderen Ende der Erdkugel den Frieden der Völker durcheinanderbrachten.

Von Zeit zu Zeit hob einer der Schreiber den Kopf, und mit unbewegter Miene wurde eine Frage gestellt:

»Vielleicht ein kleiner Zwischenfall auf dem Mekong, um die Aufmerksamkeit der Franzosen vom Niger abzulenken?«

»Vielleicht fünftausend Schnellfeuergewehre für die Eingeborenen in Kamerun? Die Deutschen mischen sich geradezu aufdringlich in unsere Interessen am Nil.«

Und die beiden anderen antworteten dann:

»Wir denken genauso.«

»All right.«

Und die Arbeit ging weiter.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und ein Bote eilte ins Zimmer. Die Mitglieder der Kommission unterbrachen ihre Beschäftigung und bedachten den Eindringling mit einem besorgten Blick. Es mußte etwas Schwerwiegendes eingetreten sein, wenn man sie entgegen allen Gepflogenheiten derartig störte.

Der Bote trug auf einem samtgepolsterten Kissen einen versiegelten Brief.

»Was ist, Simmy?« fragte Lord Steam mit einer Stimme, die ihre Unsicherheit nur schlecht verbergen konnte.

»Ein Brief, den Ihre Majestät die Königin erhalten hat und den sie der Admiralität überantwortet, damit sie im Interesse Englands darauf antworten möge.«

»Sehr gut, geben Sie her … Sie können gehen.«

Simmy empfahl sich mit fast königlicher Verbeugung.

Der noble Gentleman faltete den Brief auseinander und las langsam den Wortlaut dieser Zeilen, deren sehr englischer Stil keinen Zweifel an der Nationalität des Absenders ließ:

An einem Punkt dieser Welt, 11. Mai 189 …

Sehr Erhabene, sehr Verehrte, sehr Huldreiche Majestät!

Ich weiß, daß Ihr großmütig seid und unfähig, irgend jemand Böses zu tun. Ich appelliere heute an Eure Gerechtigkeit wegen zweier Delikte, die ganz gewiß ohne Euer Wissen verübt wurden und die glorreiche Herrschaft Eurer Majestät beflecken.

Über ein Delikt muß ich schweigen, über das andere jedoch muß ich Eure Majestät informieren.

Es handelt sich um Sir Toby Allsmine, Oberster Chef der Polizei aller Commonwealth-Länder, die an den Pazifischen Ozean grenzen (Australien, Malakka, Borneo, Neuguinea, verschiedene Südseeinseln, Neuseeland, Tasmanien, chinesische und japanische Handelsniederlassungen, westliche Provinzen des Dominions und Kanada), der in Sydney, in seinem Haus in der Paramata Street, residiert.

Dieser Mann gehört ins Gefängnis, statt daß er andere dort hineinbringt. Eure Majestät werden binnen kürzester Zeit die Wahrheit erfahren, wenn Eure Majestät eine gewissenhafte Untersuchung über die Handlungsweise jenes Mannes anordnen will.

Ich schlage vor, daß Eure Majestät durch eine Mitteilung der Presse in den kommenden drei Monaten auf mein Anliegen antworten möge; doch ich erkläre mit allem mir zu Gebote stehenden Respekt vor Euer Gnaden, daß ich mich, wenn diese Frist ungenutzt verstrichen, in meinem Recht hintergangen fühle. Ich erkläre hiermit noch einmal meine volle Loyalität, doch ich werde mich stets daran erinnern, daß ich als freier Bürger geboren bin, und ich werde im Falle der Nichtbeachtung einer ungerechten Verwaltung den Krieg erklären. Dann wird man an den Ufern des Pazifiks vor mir erzittern.

Ich unterzeichne voller Respekt vor und im Glauben an die Gerechtigkeit Eurer erhabenen Majestät.

Triplex (bald Korsar, wenn es Euer Gnaden so beliebt)

Der Lektüre folgte Schweigen. Die drei Mitglieder der Kommission B befragten sich mit Blicken, wobei sie zu zögern schienen, angesichts der kühnen Herausforderung der Königin durch den unbekannten Briefschreiber ihre Meinung zu äußern.

Es oblag Lord Steam in seiner Eigenschaft als Präsident, als erster das Schweigen zu brechen.

»Hm, hm, glauben Sie nicht«, fragte er, »daß dieses Schriftstück das Werk eines Irren ist?«

»Das denken wir auch«, versicherten Helix und Torpedo.

»All right! Sie vermuten also genauso wie ich, daß wir es als bedeutungslos ansehen sollten?«

»Jawohl, Sir.«

»Darüber hinaus datiert dieser Brief vom 11. Mai. Wir haben inzwischen den 14. August. Die drei Monate, von denen der Briefschreiber spricht, sind verstrichen.«

»In der Tat!«

Zufrieden schrieb der Präsident mit blauer Tinte quer über das Blatt den in solchen Fällen üblichen Satz: »Nach einstimmiger Meinung der Anwesenden als gegenstandslos zu betrachten.« Er hatte diesen Satz eben vollendet und wollte ihn dick unterstreichen, als Simmy, der Bote, erneut die Tür aufriß und den Raum betrat. Auf seinem Samtkissen lagen mehrere Papiere.

»Kabelgramme«, sagte er bloß.

Er legte drei Depeschen auf den Tisch und zog sich zurück.

Die Mienen der Anwesenden drückten Erstaunen aus. Zum zweitenmal war die Sitzung unterbrochen worden – ein Ereignis, das in den Annalen der Kommission B bisher beispiellos war.

Sie vergaßen ihr britisches Phlegma und streckten alle drei die Hand nach den Depeschen aus. Jeder nahm sich eine, überflog sie und fuhr erschreckt auf. Aus den Mündern der drei Gentlemen erklang der gleiche Ausruf: »Ohhh!«

»Doch nicht völlig verrückt, dieser Triplex«, murmelte Lord Steam.

»Nein, nicht völlig«, bestätigten Helix und Torpedo und nickten.

Überrascht schaute der Präsident die beiden an. Wie konnten sie ihm denn beipflichten, da doch nur er allein mit eigenen Augen das Kabelgramm gelesen hatte. Doch da bemerkte er in den Händen der beiden ebenfalls Papier und schlug sich vor die Stirn.

»Depesche in dreifacher Ausfertigung, verstehe.«

»Zweifellos.«

»Drei …, also höchste Dringlichkeitsstufe.«

»Datiert von gestern, 13. August.«

»Exakt.«

»Aufgegeben in Wickham, Provinz Queensland, Australien.«

»Sie irren sich«, unterbrach Baronet Helix. »Die Depesche kommt aus Essington in Britisch-Kolumbien, Kanada.«

»Was? Was sagen Sie?« rief der Präsident erstaunt.

Aber da fiel Sir Torpedo ein: »Ich sage, Sie irren sich beide. Der Absender ist Singapur.«

»Sehen Sie doch selbst … Wickham.«

»Und da: Essington.«

»Singapur ist deutlich zu erkennen.«

Die drei Männer hatten sich erhoben. Sie schwenkten aufgeregt und verwirrt die Kabelgramme.

»Verstehen Sie das?« stotterte der Präsident.

Die anderen schienen entnervt.

»Ich weiß nicht.«

»Es ist doch unmöglich, daß sich ein Mensch am selben Tag zur selben Zeit an drei Orten befinden kann, die meilenweit voneinander entfernt liegen.«

»Faktisch unmöglich.«

»Dennoch sind die Depeschen offiziell.«

»Sie enthalten präzise Tatsachen.«

»Ruhe, meine verehrten Kollegen, Ruhe, versuchen wir in dem Durcheinander klaren Kopf zu behalten …«

Und der Präsident nahm die Papiere, die die Kommission derart verwirrten, an sich und sagte mit fester Stimme: »Ich werde sie noch einmal laut vorlesen.«

Er setzte sich in seinen Sessel und las: »Erstes Kabel: ›Wickham, Queensland, 13. August – Garnison abwesend wegen Manöver – Banditen haben Fort Wickham gesprengt – Auf den Trümmern Karte gefunden mit folgender Aufschrift: Triplex, Korsar (seit dem 11.)‹.«

Nach kurzer Zeit griff Lord Steam zu dem zweiten Papier.

»Zweites Kabel: ›Essington, Dominion, 13. August – Garnison abwesend wegen Jagd – Banditen haben Fort Essington gesprengt – Auf Ruinen Karte gefunden mit Aufschrift: Triplex, Korsar (seit dem 11.)‹.«

Nach einer neuerlichen Pause las Sir Torpedo das letzte Kabel vor.

»Drittes Kabel: ›Singapur, Niederlassung von Malakka, 13. August – Garnison abwesend wegen Überwachung der Fischereigebiete – Banditen haben Posten Herlang in Brand gesteckt – Auf verkohlten Trümmern mit Malaiendolch befestigte Karte gefunden: Triplex, Korsar (seit dem 11.)‹.«

Langsam legte der Präsident die letzte Depesche zu den übrigen, kreuzte die Arme vor der Brust und fragte: »Was sollen wir tun?«

Die anderen hoben die Arme zur Zimmerdecke.

»Was sollen wir tun? Das frag ich mich auch.«

»Außerordentlich delikat«, ließ sich Lord Steam vernehmen.

»Ganz außerordentlich.«

»Wir können nichts tun.«

»Das ist wahr.«

»Trotzdem müssen wir etwas tun.«

»Das ist nicht nur wahr, das ist sogar unsere Pflicht.«

»Also …, was tun?«

Die Engländer betrachteten sich finster wie drei Auguren.

Plötzlich zuckte es über Sir Torpedos sanguinisches Gesicht.

»Es gibt jemanden, der auf dem laufenden ist.«

»Wer denn?« fragten die anderen verblüfft.

»Sir Toby Allsmine, der in dem Brief erwähnt wird.«

»Das ist richtig.«

»Geben wir ihm Anweisungen. Er ist zweimal im Spiel. Als Angeklagter dieses allgegenwärtigen Korsaren und dann als Oberster Chef der Pazifikpolizei.«

Die Kommission war beruhigt. Torpedo hatte recht. Die Admiralität konnte ihre Zeit nicht damit vergeuden, das Rätsel zu erahnen – das war die Pflicht des verantwortlichen Beamten für das Wohlergehen der britischen Besitzungen auf den Antipoden.

Und ohne Verzug wurden Brief und Depeschen in einen Umschlag gesteckt und an Sir Allsmine geschickt, natürlich mit dem formellen Hinweis, den Abenteurer, der gewagt hatte, Hand an die britische Flagge zu legen, tot oder lebendig dingfest zu machen.


Zweites Kapitel Der Chef der Pazifikpolizei

»Hallo, hallo! Zentrale der Polizei von Sydney?«

…!

»Wer ist am Telefon?«

…!

»Ah ja, Mr. Mathewby, Chef der fünften Sektion. Hier ein Befehl von Sir Toby Allsmine. Sie begeben sich nach Little Rock zum Haus Sonder und beschlagnahmen die Folman-Prismengläser und nehmen Folman selbst fest. Haben Sie verstanden?«

…!

»Gut. Auf Wiederhören.«

Und damit legte der Sprecher den Hörer auf. Er war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, mittelgroß und von angenehmer Erscheinung, obwohl sein Rückgrat eine ausgeprägte Krümmung aufwies, die alle schlecht erzogenen Leute dazu verführte, Mr. James Pack, den persönlichen Sekretär von Sir Toby Allsmine, als »Buckligen« zu bezeichnen. Dabei waren die Gesichtszüge von James so einnehmend, die blauen Augen so strahlend und zärtlich, sein Schnurrbart und sein Haar so seidenweich, daß die jungen Damen von Sydney äußerst gern mit der unschuldigsten Freimütigkeit angelsächsischer Convenance bemerkten: »Wollen Sie mich heiraten?«

Und der so Angesprochene antwortete auf derlei Anerbieten stets: »Ich bin entzückt, aber die Zeit ist noch nicht gekommen.«

Und in der Tat, in der weiten, mit Glas überdachten Halle, die zum besonderen Domizil von Sir Allsmine gehörte, hatte der junge Mann inmitten von Telefonen, Telegrafen, Fernschreibern und akustischen Trichtern, die die Wände bedeckten und den Raum mit der Polizeizentrale verbanden, darüber hinaus jedoch auch mit der Welt, kaum Muße, ans Heiraten zu denken.

Den ganzen Tag über und manchmal auch nachts stand er in Verbindung mit den über die Küsten des Pazifischen Ozeans verteilten Agenten, empfing Berichte, übermittelte Instruktionen, wachte über das perfekte Funktionieren des komplizierten Räderwerks, das in diesem Teil der Welt – wie in den übrigen auch – die Überlegenheit Englands sicherte.

Drei Schreiber, besser gesagt drei Daktylographen, das heißt drei Experten, die die Kunst beherrschten, die Schreibmaschinen zu bedienen, standen unter Packs Befehl. Einer von ihnen hatte den Kopf gehoben, als James das Büro wieder betrat.

»Wie denn, Mr. Pack, man will Folman tatsächlich einsperren?« fragte er.

»Ja, Dick.«

»Diesen Mann, der mit Hilfe der besonderen Eigenschaften von Röntgenstrahlen ein fotografisches Prismenglas entwickelt hat, auf dessen Platten nur das künstliche Zubehör der Gegenstände zu erkennen ist?«

»Genau deswegen.«

»Wirklich?«

»Absolut.« Und indem er seinem Gegenüber eine Fotografie präsentierte, fügte Pack hinzu: »Das ist der Grund der Festnahme.«

»Ha!« rief der Angestellte aus. »Komische Fotografie! Ein Holzbein, eine Pfeife, ein komplettes künstliches Gebiß und eine Nase …«

»Aus Silber. Es ist ein Porträt von Colonel Awis, aufgenommen mit Folman-Gläsern.«

Ein Lachen folgte dieser Erklärung.

»Nun«, fuhr der Sekretär fort, »der Colonel war verärgert und hat in der Fotografie eine Beleidigung seiner Person gesehen. Er ist sogar in England vorstellig geworden, und im Augenblick ist es für unseren Chef wichtig, sich hier keine neuen Feinde zu machen, da wir trotz der formellen Order der Admiralität nicht in der Lage sind, Hand an den unauffindbaren Korsaren Triplex zu legen.«

Bei Erwähnung dieses Namens wurden die Schreiber ernst.

»Der Verdammte!« sagten die drei mit einer Stimme.

»Gewiß, ja, der Verdammte«, wiederholte der Bucklige, »denn sicher hat ihn der Teufel schon gepfändet.«

Und nach einiger Zeit fuhr Pack fort, wobei er die Stimme senkte, als ob er befürchtete, von einem unsichtbaren Spion belauscht zu werden: »Sie wissen, daß dieser Korsar anscheinend die Gabe besitzt, an allen Orten zugleich aufzutauchen. So hat er beim erstenmal genau am selben Tag und zur selben Zeit drei englische Niederlassungen zerstört – eine in Amerika, in Britisch-Kolumbien, die zweite in Asien, in der Nähe von Singapur, die dritte an unserer australischen Küste. Nun, und heute morgen erhalten wir drei Depeschen aus Neuseeland, Borneo und Ceylon. Danach soll Herr Triplex an jedem dieser Orte aufgetaucht sein, einen Beamten gegriffen und ihn so verdroschen haben, daß jener ohnmächtig wurde. Und neben jedem seiner Opfer fand man eine Visitenkarte mit folgendem Vermerk: ›Im Namen der Gerechtigkeit wird Korsar Triplex die Untergebenen des schurkischen Allsmine so lange vermöbeln, bis er ihn selbst erwischen wird.‹«

Die mutigen Daktylographen schauten sich zweideutig an.

»Verdroschen …«, murmelte einer.

»Unser Beruf steckt voller Gefahren«, fügte der zweite hinzu.

Und der letzte fragte, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte: »Hat jemand diesen verfluchten Korsaren zu Gesicht bekommen?«

»Pst! Pst!« unterbrachen ihn die anderen. »Reden Sie nicht so von diesem Kapitän. Warum sollen wir uns den Zorn eines so gefährlichen Mannes zuziehen?«

Ein flüchtiges Lächeln huschte über die Gesichtszüge von James Pack, der sich beeilte, die Frage zu beantworten: »Man hat ihn gesehen. Er trägt die Uniform eines englischen Marineoffiziers und ist in einen weiten Mantel gehüllt.«

»Und sein Gesicht?«

»Ah, sein Gesicht, das kennt man nicht. Er trägt eine grüne Maske.«

»Eine grüne Maske – hach Gott, ist das schrecklich!«

Der Geisteszustand der Schreiber war so angespannt, daß alle zusammenzuckten, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde. Aber falls sie doch geglaubt haben sollten, den Korsaren auf der Schwelle zu erblicken, so wurden sie enttäuscht. Derjenige, der hereinstürmte, war Sir Toby Allsmine höchstselbst.

Groß und stattlich, das Gesicht sonnengebräunt und von einem dichten roten Backenbart eingerahmt, die Augen blau, listig und grausam – das war der Oberste Chef der Pazifikpolizei. Im Augenblick schien er etwas nervös zu sein. Und da sie das Gewitter kommen sahen, nahmen die Angestellten sogleich ihre Arbeit wieder auf, von allen Seiten erklang das trockene Gehämmer der Schreibmaschinen.

Sir Toby eilte schnurstracks auf Pack zu und fragte mit gedämpfter Stimme: »Nun, Mr. Pack, was für Neuigkeiten heute morgen?«

»Keine, Sir.«

»Dafür habe ich eine«, erwiderte der Polizeichef mit zorniger Geste, »es ist zum Verrücktwerden …!«

Er beugte sich zum Ohr seines Sekretärs hinab.

»Sie wissen, daß ich mich gestern mit Lord Boldkin, dem Kommandanten unserer Pazifikflotte, getroffen habe, um gemeinsame Maßnahmen gegen Triplex abzustimmen?«

»Das sagten Sie mir bereits, Sir.«

»Wir sind übereingekommen, daß alle verfügbaren Schiffe mobilisiert und alle unter englischem Einfluß stehenden Stützpunkte entlang der Küste von Marineinfanterie besetzt werden.«

»Das sagten Sie mir ebenfalls schon, Sir.«

»Lord Boldkin, dessen Oberbefehlshaberflagge auf dem Panzerkreuzer Ironduke weht, wollte heute morgen auslaufen, um selbst den Schutz der australischen Küste zu übernehmen.«

»Ja.«

»Kurz vor Sonnenaufgang befand sich dieser ehrenwerte Seemann auf der Brücke und wartete auf den Zeitpunkt, da ihm die Flut erlauben würde, den Kriegshafen von Farm-Cove zu verlassen. Plötzlich, ohne daß man jemand wahrgenommen hätte, fiel ein Holzkästchen auf die Brücke. Man öffnete es und fand darin das hier, das mir Lord Boldkin soeben zugestellt hat.« Er reichte seinem Sekretär das Papier, das er in der Hand gehalten hatte.

James warf einen Blick darauf und las mit einem erstaunten Ausdruck folgendes:

Ehrwürdiger Lord,

Sie werden mich auf Ihrer Route kaum antreffen, denn ich habe keinen Grund, Sie zu reizen. Es ist vertane Zeit, wenn Sie mich daran hindern wollen, den abscheulichen Allsmine zu bestrafen.

Korsar Triplex

Und als daraufhin der junge Mann den Kopf schüttelte, ergänzte Sir Toby: »Und wissen Sie, was daran so dämonisch ist? Auf Befehl des Lords wurden alle Scheinwerfer eingeschaltet, und man suchte sofort den ganzen Hafen ab. Nichts. Nicht eine Barke, kein Boot. Die Mannschaft ist entsetzt. Sie glaubt, daß das Kästchen vom Himmel gefallen ist.«

»Teufel, das könnte man direkt auch meinen«, murmelte James, »Teufel, und wenn die Mannschaft nun recht hätte?«

Der Polizeichef zuckte mit den Schultern.

»Gehen Sie, Mr. Pack, Sie werden doch nicht an Zauberei glauben?«

»Nein, gewiß nicht, Sir, aber dieses Abenteuer ist unerklärlich.«

»Unerklärlich, in der Tat.«

»Wollen Sie, daß ich Ihnen meine Meinung dazu sage, Sir?«

»Gewiß will ich das, Mr. Pack.«

»Also, das Beste, was wir getan haben, war, in der Zeitung eine Prämie von viertausend Pfund Sterling für den auszusetzen, der Triplex ergreifen wird.«

»Das habe ich auch angenommen, aber die Anzeige ist vor acht Tagen erschienen, und wir haben noch nichts gehört.«

»Warten Sie ab, Sir.«

»Warten, warten, wenn die Admiralität … Bedenken Sie doch, daß der Kerl die Frechheit besessen hat, direkt an Ihre Majestät zu schreiben …«

»Das bedenke ich wohl, aber was sollen wir tun?«

Eine von beiden vollführte Geste der Entmutigung bewies, daß keiner der Männer eine Antwort auf diese Frage wußte.

In diesem Augenblick erklangen zwei leichte Schläge an der Tür. Wie auf Kommando hörten die Schreibmaschinen auf zu klappern. Totenstille herrschte in dem Raum, ehe die Stimme des Polizeichefs erklang: »Herein!«

Herein trat eine Frau, elegant und geschmackvoll in einfaches Schwarz gekleidet und unter dem goldenen Schimmer ihres blonden Haares ein charmantes, noch junges Gesicht präsentierend; dennoch verriet der dunkle Schatten, der unter ihren blauen Augen lag, daß sie Tränen gewohnt war, genauso wie leichte Falten auf ihrer ansonsten glatten Stirn von traurigen Gedanken zeugten.

»Lady Allsmine«, murmelten die Angestellten und erhoben sich von ihren Plätzen, um sie zu begrüßen.

Der Polizeichef unterdrückte eine Bewegung der Ungeduld und sagte mit unpersönlicher Stimme: »Sie, Joan! Ich erwartete nicht, Sie in diesem Büro zu sehen.«

»Das ist auch wirklich nicht mein Platz, Toby«, antwortete die Frau sanft. »Können Sie sich nicht vorstellen, daß ich ein ernsthaftes Motiv dafür habe?«

»Was für ein Motiv?«

Joan ging auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Korsar Triplex.«

Allsmine wurde kreidebleich. Ein Fluch lag ihm auf den Lippen. Instinktiv griff er zu seinem Revolver, den er, wie alle seine Mitarbeiter, in einer Tasche seines Überrockes stets bei sich trug.

Mit einer Geste hielt sie ihn zurück.

»Gehen wir ins Nebenzimmer«, sagte sie. »Ich habe jemanden mitgebracht, der Sie unterrichten wird.«

Toby machte James Pack ein Zeichen, ihnen zu folgen, und so verließen die junge Frau und die beiden Männer das Büro, in dem sie die Schreiber mit ihrer Neugier allein zurückließen.

Sie überquerten einen Flur und betraten einen kleinen in Weiß und Gold gehaltenen Salon, der mit Sesseln, Sofas und Stühlen möbliert war. Dort blieben sie überrascht stehen. Auf einem Hocker saß mit gekreuzten Beinen ein etwa fünfzehnjähriger Junge, der ernsthaft darin vertieft war, aus einem mit schwarzen Schriftzügen bedeckten Anschlag einen Papierhut zu falten.

Der Junge war seltsam gekleidet: Er trug einen alten kastanienbraunen Dolman, dazu eine Hose in derselben Farbe, die Füße waren in verwitterte, gerippte Knöchelschuhe gezwängt, die von einem ehemals blauen, um die Waden geschlungenen Band zusammengehalten wurden, das durch die Sonne gebleicht worden war.

Aber viel merkwürdiger schien das Gesicht des seltsamen Knaben zu sein. Die Züge waren fein und regelmäßig, der Mund klein, die Nase gerade, die Stirn glatt und weiß, die langen blonden Haare wurden von einem keck nach hinten geschobenen Barett nur mühsam zurückgehalten – man hätte ihn schön nennen können, wenn nicht die dunkelgrünen Augen einen stumpfen, starrenden Blick gehabt hätten. Das war der Blick eines Menschen, dessen Geist in anderen Sphären weilt: der Blick eines Irren.

»Ah, das ist Silly«, flüsterte James seinem Vorgesetzten ins Ohr.

»Silly?«

»Ja, der kleine Idiot, der durchs Land vagabundiert, heute hier, morgen da, und von Almosen lebt.«

Das Kind schien nicht wahrgenommen zu haben, daß jemand das Zimmer betreten hatte. Ernsthaft fuhr es fort, sein Papier zu falten, um ihm die richtige Form zu geben.

»Also ist er ein Schwachsinniger?«

»Ja, das ist er.«

Sir Toby warf seiner Frau einen fragenden Blick zu. Diese verstand.

»Sie möchten zweifellos wissen, warum ich dieses Kind hierhergebracht habe. Ich werde es Ihnen erklären. Sie wissen, daß meine Freundin Alida Lewis krank ist. Heute morgen ließ ich anspannen, um der armen Leidenden einen Besuch zu machen. Nun, sie war auf dem Wege der Besserung, ich hielt mich nicht lange auf, fuhr wieder nach Hause, als in der Nähe der Docks ein Menschenauflauf meinem Fahrzeug den Weg versperrte.«

Lady Allsmine warf einen Blick auf Silly, der versuchte, einen riesigen Federbusch an seinem endlich fertig gewordenen Papierhut zu befestigen, und fuhr fort: »Es waren Hafenarbeiter, die das Kind lachend und grölend umringten.«

»Verstehe. Sie haben den Jungen ihren Händen entrissen …«

»So warten Sie doch ab, ich bin noch nicht am Ende. Silly klebte sehr gewissenhaft einen Anschlag an die Mauer, ähnlich dem, den er bei sich hat.«

Der Junge hatte sich erhoben und betrachtete sich anscheinend äußerst zufrieden im Spiegel. Mrs. Allsmine ergriff einen der Anschläge, faltete ihn auseinander und erlaubte somit ihrem Mann wie auch James Pack, die rätselhafte Proklamation zu lesen:

Bürger von Sydney. Meine Brüder!

Die Zeitungen und die Polizei schrecken Euch mit meinem Namen. Aber Ihr habt nicht das geringste von mir zu befürchten. Ich führe nur Krieg gegen den nichtsnutzigen Polizeichef, welcher, anstatt der Justiz zu genügen, selbst von ihr belangt werden müßte. Ich denke jedoch, daß das demnächst geschehen wird, aber das, meine Brüder, wird nicht zu Euerm Schaden sein.

Euer ergebener Korsar Triplex

Allsmine war puterrot geworden. Seine zornsprühenden Augen ruhten auf dem Jungen, der noch immer seelenruhig vor dem Spiegel stand. Jeden Moment schien er sich auf ihn stürzen zu wollen, doch Joan hielt ihn zurück.

»Eine Minute noch, bitte! Dieser Kleine ist nicht bei Verstand; er ist nicht verantwortlich für das, was er getan hat, dennoch hat er mir einen Dienst erwiesen.«

»Was, Ihnen?« fragte der Polizeichef ärgerlich und verwundert.

»Ja, mir«, bestätigte seine Frau. »Die Menge hatte mich erkannt. Spottend und frech umringte sie meinen Wagen. Die Männer scherzten: ›Sieh an, die Polizei hat es mit der Angst zu tun gekriegt. Jetzt schickt sie schon ihre Frauen, um den Korsaren zu bekämpfen.‹ Ich war bereits besorgt, da drehte Silly seinen Kopf zu mir. Er sah mich, stellte den vollen Leimtopf und den Pinsel auf die Erde. Einen Augenblick lang schaute er mich mit einem seltsamen Blick an. ›Du bist gut‹, sagte er sanft, ›sehr gut. Silly wird dich beschützen. Gib mir deine Hand.‹ Ich gab sie ihm, er führte sie an seine Lippen. Hämisches Gelächter begleitete diese Bewegung. ›Bravo, Silly, bravo!‹ Aber da drehte sich der Kleine um, seine Augen sprühten Blitze, und seine Nasenflügel bebten. ›Haltet eure Zungen im Zaum‹, sagte er wütend. ›Ihr habt keinen Respekt vor einer Dame. Diese steht unter Sillys Schutz. Silly will nicht, daß ihr etwas geschieht.‹«

»Schöner Schutz«, brummte Sir Toby und zuckte verächtlich mit den Schultern.

»Dennoch ein wirksamer Schutz. Unsere Landsleute haben einen fast abergläubischen Respekt vor Irren und Geistesschwachen. Die Menge schwieg und verlief sich, so daß mein Kutscher weiterfahren konnte. Silly hatte sich neben mich gesetzt. Er hielt meine Hand und wiederholte immer wieder: ›Gut, ja, gut.‹ Und so habe ich ihn hierhergebracht in der Hoffnung, daß Sie von dem armen Unschuldigen erfahren mögen, wie man ihn mit dieser gefährlichen Aufgabe betraut hat.«

»Beim Schwanze Satans!« rief der Polizeichef aus, »Ihre Idee ist vorzüglich, Joan. Ich werde mir diesen kleinen Unschuldigen mal vorknöpfen. Was meinen Sie, Pack?«

»Ich kann das nur gutheißen«, erwiderte der Sekretär.

Sir Toby stand schon neben dem Jungen und schlug ihm auf die Schulter.

»Silly«, sagte er, »Silly, hör mir mal zu.«

Der Junge drehte sich zu ihm um.

»Guten Tag, mein Herr, guten Tag. Die Zeit ist knapp, wissen Sie, und ich probiere meinen Generalshut.«

»Darum geht es nicht, mein Freund. Vorhin hast du doch auf den Mauern am Dock Anschläge angeklebt …«

»Ich habe Anschläge angeklebt«, murmelte der Bursche überrascht. Aber dann schien er sich zu erinnern: »Ach ja, mit einem Pinsel, den ich in einen Eimer tauchte …« Er hielt plötzlich inne und warf einen beunruhigten Blick um sich. »Dabei … Wo ist mein Eimer? Ich habe ihn verloren … Mein Eimer! Mein Eimer!«

Dem Weinen nahe, lief Silly durch den Salon und guckte unter jedes Möbelstück.

»Eh!« schrie Toby unwirsch. »Wir sind nicht hier, um uns mit so was abzugeben.«

Pack beugte sich zum Ohr des Direktors. »Wir müssen auf ihn eingehen; erlauben Sie, daß ich mit ihm spreche.«

»Sehr gern, versuchen Sie es.«

Der Sekretär griff Silly am Arm und sagte sehr behutsam zu ihm: »Sei nicht traurig, Silly, wir geben dir einen anderen Eimer.«

»Einen anderen?« wiederholte der Junge und blickte schon wieder ruhiger.

»Ja, einen viel größeren.«

»Mit Leim und einem Pinsel?«

»Sicher.«

Der Junge schaute Lady Allsmine aus großen Augen an.

»Ist das wahr?« fragte er.

»Ja«, antwortete sie mit ihrer süßen und traurigen Stimme.

Pack tauschte einen neuerlichen Blick mit seinem Vorgesetzten, dann begann er weiterzufragen: »An diesem Morgen also hast du Plakate angeklebt. Warum?«

»Weil es Spaß macht. Haben Sie noch nie Papier an eine Mauer geklebt?«

»Dazu habe ich keine Zeit.«

»Oh, um so schlimmer, um so schlimmer.«

»Aber wer hat dir denn gesagt, daß du diese Papiere ankleben sollst?«

»Wer …? Nun er, der Mann.«

»Welcher Mann?«

»Ich weiß nicht.«

»Nun, wie sah denn dieser Mann aus?«

»Wie alle Männer …, er hatte vor allem Beine … zum Laufen.«

Sir Toby schnaubte wutentbrannt. Es war offensichtlich, daß man von diesem Idioten keinerlei Aufklärung bekam. Dennoch versuchte es James noch ein letztes Mal.

»Was hat dir denn dieser Mann gesagt?«

»Er hat gesagt: ›Silly, nimm diese Papiere und diesen Eimer. Und amüsier dich damit, die Blätter an die Mauern zu kleben.‹«

»Und das war alles?«

»Alles … Ah, nein!« Und indem er sich an die Stirn schlug: »Silly hat ein kurzes Gedächtnis, er hat noch gesagt: ›Bring auch diesen Brief zu Sir Allsmine.‹«

»Welchen Brief?« fragte Pack.

Wortlos kramte Silly in den Taschen seines Kittels und zog einen Briefumschlag hervor, auf dem der Name des Obersten Polizeichefs prangte.

Dieser streckte die Hand aus, um den Brief an sich zu nehmen, aber der Geistesgestörte riß ihn wieder an sich.

»Ich darf Ihnen den Brief nicht geben«, sagte er, »er ist für Sir Toby Allsmine.«

»Ich bin Sir Toby Allsmine.«

»Das stimmt, mein Kind«, fügte Joan hinzu.

»Ah, gut«, sagte der Bursche. »Sie sagen es – also ist er es. Nehmen Sie den Brief.«

Sir Toby ließ sich nicht zweimal bitten. Ungeduldig riß er den Umschlag auf, während sich Joan und der Sekretär neben ihn stellten, um gleichzeitig zu erfahren, was diese so merkwürdig an die bestimmte Adresse gelangte Mitteilung enthalten mochte.

»Exzellenz«, so begann diese Botschaft, »ich wurde von Korsar Triplex gezwungen, das Ankleben seiner Proklamation zu bewerkstelligen. Unter Androhung der Todesstrafe mußte ich gehorchen. Aber ich hoffe, aus den Klauen dieses schrecklichen Menschen gerettet zu werden. Heute abend wird es in den Docks nach dem alljährlichen Verkauf der überzähligen Waren ein Fest geben. Triplex wird anwesend sein. Seien auch Sie dort, um ihn festzunehmen. Wenn der Augenblick gekommen ist, werde ich mich Ihnen vorstellen, um Sie zu führen. Bewahren Sie Stillschweigen, denn ein unvorsichtiges Wort könnte Ihren ergebenen Diener den Kopf kosten.«

Ein Freudenschrei brach aus dem Polizeichef hervor.

»Wir werden hingehen, Mr. Pack, und uns den Kopf dieses Piraten holen. Sie hatten recht, auf unsere Annonce mit den viertausend Pfund Belohnung zu vertrauen. Diese Banditen halten ihre Leute nur durch Geld … Und mit Geld kann man sie bekämpfen. Heute abend zum Fest der Docker. Kommen Sie, Mr. Pack, kommen Sie, wir haben noch einige Vorkehrungen zu treffen.«

Der Sekretär verbeugte sich, doch bevor er seinem Chef folgte, näherte er sich Silly, der an einem Fenster lehnte, das auf den Garten des weitläufigen Anwesens ging, und völlig in den Anblick der Blumen versunken schien.

»Auf Wiedersehen, Silly«, sagte James. »Du bist ein braver Junge, gib mir die Hand.«

Und mit dem kräftigen Händedruck, den er mit ihm tauschte, glitt ein Gegenstand zwischen die Finger des Jungen, den Silly blitzschnell in einer seiner Taschen verschwinden ließ, ohne daß jemand diese Bewegung bemerkt hätte.

Als die beiden Männer verschwunden waren, sagte Silly zu Lady Joan: »Und mein Eimer? Die Dame hat mir einen Eimer versprochen.«

Lady Allsmine lächelte.

»Begleite mich, Silly, ich werde dir ein Frühstück machen und dir das Spielzeug zurückgeben, an dem du so hängst. Ist es dir angenehm, zu frühstücken?«

»Ja, ja, Sie sind gut. Wissen Sie, Silly hat oft Hunger und jetzt auch. Sie sind gut.«

Vor diesem so naiv vorgebrachten Kompliment fühlte Joan mit einemmal eine plötzliche Gefühlsaufwallung, so daß sie sich zu dem Unglücklichen hinabbeugte und ihre Lippen auf dessen Stirn drückte. Dann führte sie ihn in ihre Privatgemächer, die am entgegengesetzten Ende des Gebäudes lagen.


Drittes Kapitel Silly geht spazieren

Im Zimmer von Lady Allsmine hatte sich der Junge vor einen kleinen Tisch gesetzt. Mit gutem Appetit verschlang er ein kaltes Huhn. Die Lady betrachtete ihn voller Sympathie. Als der erste Hunger gestillt war, blickte Silly erstaunt und neugierig um sich. Da waren das Bett aus Edelholz mit feinen Elfenbeinintarsien, der Kamin mit den Reliefkacheln und schließlich ein Bild an der Wand, auf dem ein Mädchen von etwa zwei Jahren abgebildet war, das sich über eine Steinbank lehnte. Das rosa Kleid der Kleinen stach vom Weiß des Steins ab und unterstrich den Eindruck von Beschwingtheit und Grazilität der Szenerie.

Joan war mit den Blicken Sillys Richtung gefolgt. Ein Ausdruck von Trauer erschien auf ihrem Gesicht.

»Wer ist das?« fragte Silly.

Die Frage ließ Lady Allsmine noch trauriger aussehen. Mit einer Stimme, die kurz vor dem Weinen war, erwiderte sie: »Das ist oder vielmehr war meine Tochter Maudlin.«

Silly sprang auf und lief zu Lady Allsmine. Er ergriff ihre Hände.

»Du weinst«, sagte er mitfühlend, »du weinst. Silly weiß nicht, warum. Weil deine Tochter aufgehört hat, deine Tochter zu sein? Ich kann das nicht wissen, ich habe nie eine Mutter gehabt. Ich bin immer ganz allein gewesen im Leben. Meine Eltern sind die Vögel im Wald und die Blumen auf dem Feld. Verzeih mir, wenn ich dumm geredet habe.«

»Mein armer Kleiner, du hast nicht dumm geredet«, beruhigte ihn Mrs. Allsmine. »Du kannst den Tod noch nicht begreifen. Meine Tochter ist nicht mehr. Maudlin ist in einem Fluß ertrunken, vor langer Zeit, ihren Körper hat man nie gefunden. Und ich weine, weil ich ihren Körper nie mehr umarmen kann. Aber Kind, du weinst ja ebenfalls?«

»Ja, Silly weint, weil du gut zu ihm bist wie noch niemand zuvor.«

Joan antwortete nicht. Ein merkwürdiges Gefühl preßte ihr das Herz zusammen. Irgend etwas verband sie mit diesem Jungen, das spürte sie. Und es konnte nicht nur das Gefühl unendlicher Trauer sein.

»Warte, Silly«, sagte sie, »hatte ich dir nicht einen neuen Eimer versprochen?«

»Ach ja«, sagte der Junge, »aber ich werde wiederkommen. Du bist eine Freundin, gute Frau. Silly wird wiederkommen. Er wird vor dir niederknien und dich anschauen, denn er sieht dich gern an.«

Man hätte meinen können, er zwinge sich dazu, aufzubrechen. Ein letztes Mal drückte er einen Kuß auf Joans Hand und entfernte sich aus dem Haus.

Fünf Minuten später eilte der Schwachsinnige durch die Straßen der Stadt zum Hafen. Dieser Hafen, unter dem Namen Port Jackson bekannt, ist einer der größten der Welt. Er ist in drei Hafenbecken unterteilt: Farm-Cove, der Kriegshafen der Pazifikflotte; Sydney-Cove mit dem Circular Quay, an dem die großen Frachtschiffe aus Europa anlegen, und schließlich Darling-Harbour, der hauptsächlich dem inneraustralischen Handel und der Passagierschiffahrt dient. Nach diesem letzteren wandte sich Silly.

Er blieb am Ufer stehen und setzte sich auf den mit großen Steinplatten ausgelegten Kai. Voller Vergnügen schien er das Schauspiel zu genießen, das sich seinen Augen bot. Ihm gegenüber, auf der östlichen Seite von Darling-Harbour, zeichneten sich die Molen, die Landungsstege und Unternehmen verschiedener Schiffahrtsgesellschaften ab, in deren Händen der Handel mit der Stadt und dem Land lag. Über ihnen erhoben sich im Hintergrund die beiden Forts von Middle Head und George’s Head, die mit ihren mächtigen Batterien Sydney wirkungsvoll gegen jeden Angriff schützen würden. Auf den verschiedenen Kais flatterten Fahnen an bunt geringelten Masten und bezeichneten den Platz, wo am heutigen Abend das Fest stattfinden sollte, an dem die überzähligen, nicht verkauften Waren wie in jedem Jahr billiger verkauft werden würden. Vom Wind herangewehte Musikfetzen kündeten davon, daß vor einigen Handelsniederlassungen die Belustigungen schon begonnen hatten.

An dem Platz jedoch, an dem sich Silly niedergelassen hatte, war davon nichts zu spüren. Hier war noch alles bei der Arbeit. Riesige Drehkräne entluden Schiffe; Boten fuhren auf Fahrrädern vorbei und kreuzten die schwerfällig dahinkriechenden, mit Kohlen- oder Ölfeuerung angetriebenen Fahrzeuge.

Etwa eine halbe Stunde saß der Junge so da, dann erhob er sich, streifte scheinbar planlos quer durch die Kais, las dabei überall kleine Kieselsteine auf, die aufzuheben ihm unendliches Vergnügen zu bereiten schien.

Schließlich machte er vor einer Steintreppe halt, deren flache Stufen direkt ins grüne Wasser des Hafenbeckens führten. Vorsichtig stieg er die Stufen hinab, setzte sich auf die letzte und warf seine Kieselsteine ins Wasser, wobei er äußerst interessiert die konzentrischen Kreise betrachtete, die ihr Eintauchen ins Wasser auslöste.

Wenn irgend jemand Silly beobachtet hätte, so würde er zweifellos angenommen haben, daß sich dieser Tölpel einem sehr kindlichen Zeitvertreib widmete. Aber der Kleine hatte eine bestimmte Idee. Plötzlich verlor sich sein stumpfer Gesichtsausdruck. Sorgfältig beobachtete er seine Umgebung. Doch niemand kümmerte sich um den armen Vagabunden. Zwei vorübergehende Matrosen warfen ihm einen mitleidigen Blick zu.

»Der kleine Kerl träumt vor sich hin«, sagte der eine.

»Meinst du, das kann er?« erwiderte der andere. »Wie soll man denn ohne Gehirn träumen?«

Und sie entfernten sich, ohne daß Silly durch eine Bewegung verraten hätte, daß er sie wohl gehört hatte.

Mit einemmal beugte sich der Junge nach vorn. Seine Hand tauchte ins Wasser und schien nach irgend etwas zu greifen. Dann kam sie wieder zum Vorschein und hatte einen Korken umfaßt, der an einer Schnur hing. Die Schnur war straff gespannt, man hätte annehmen können, ihr anderes Ende wäre am Grunde des Hafenbeckens festgemacht.

Ein neuerlicher prüfender Blick strich über die Kais, und der Junge zog den Gegenstand aus seiner Tasche, den ihm James Pack in die Hand gedrückt hatte. Das war ein kleiner Zylinder aus Weißblech, der in der Sonne glitzerte. Silly befestigte ihn sorgfältig an dem Korken und zog dreimal an der Schnur. Zehn Sekunden verstrichen, dann glitt ein zufriedenes Lächeln über das Gesicht des Jungen. Der Metallzylinder schwamm auf dem Wasser, bis er mit einemmal trudelnd unterging.

Silly hatte noch einige Kieselsteine. Er warf sie nacheinander ins Wasser und starrte scheinbar gedankenverloren den Kreisen hinterher, die sie bildeten. In Wirklichkeit ruhten seine grünen Augen jedoch auf einem Signalmast an der Hafeneinfahrt, der soeben das Einlaufen eines Passagierdampfers in Sydney-Cove anzeigte. Der Kleine erhob sich sofort, stieg die Treppe empor und folgte der Uferböschung bis zum Circular Quay. Sein Umherschlendern hatte jetzt ein festes Ziel. Er sah zu, wie die Passagiere den Dampfer, der aus Europa kam, verließen.

Ohne sich zu beeilen, ging er auf das Schiff zu, wich hier und da Kisten und Ballen aus, die sich am Kai stapelten, grüßte mit einem Kopfnicken einige Seeleute, die ihn kannten und ein freundliches, wenn auch mitleidiges »Wie geht’s?« hören ließen. Er pfiff zerstreut eine Melodie vor sich hin und zuckte plötzlich zusammen, als er neben einem Wachposten, der auf dem Kai stand, James Pack entdeckte, der mit ebendiesem Polizisten schwatzte. Er wollte seinen Weg möglichst unbemerkt fortsetzen, aber der Sekretär von Sir Toby Allsmine hatte ihn schon erspäht und sprach ihn an.

»Hallo, Silly.«

»Guten Tag, Sir.«

»Du bist also nicht bei Lady Allsmine geblieben?«

»Nein. Freiheit schmeckt besser.«

»Möchtest du trotzdem heute abend mit mir spazierengehen?«

»Oh, das will ich gern.«

»Fein! Dann sei genau neun Uhr vor dem Haus in der Paramata Street.«

»Vor dem Haus der Dame?«

»So ist es. Ich werde dich zum Fest der Docker mitnehmen.«

Der Kleine klatschte in die Hände.

»Zum Fest der Docker, mit den vielen Buden und dem Velodrom?«

»Genau. Also bis heute abend, Silly.«

»Bis heute abend, Sir.«

Und während Silly seinen Spaziergang fortsetzte, murmelte der Bucklige dem Polizeiposten ins Ohr: »Sie sehen, Mr. Warn, ich entgelte es dem Jungen, daß er uns auf die Spur von Triplex geführt hat, und dann kann er uns vielleicht auch helfen, den Mann zu finden, der ihm die Plakate gegeben hat.«

Der Polizist nickte zustimmend und blickte dem einfältigen Burschen hinterher, der sich schon beträchtlich von ihnen entfernt und inzwischen die Gasse erreicht hatte, in der die im Hafen beschäftigte Bevölkerung zu Hause war. Hier besserten Fischer ihre Netze aus, bevor sie zum nächsten Fang ausliefen, dort lärmten Matrosen der Flotte vor einer aus Brettern errichteten Taverne, aus deren Tür Whisky- und Gindunst in die schmale Gasse strömte. Und nicht weit von dieser Stelle zeterten Händler miteinander, aber diesmal nicht wegen irgendwelcher schwer verkäuflicher Waren, sondern in Vorbereitung des abendlichen Festes.

Silly schlängelte sich zwischen den Grüppchen hindurch und stand bald darauf auf Circular Quai, an dem die mächtigen Passagierdampfer aus Übersee anlegten. Es war höchste Zeit. Das von dem Signalmast angekündigte Schiff hatte am Kai festgemacht. Und während man noch die Gangway ausklappte, drängten sich Händler, Hotelboys und Dolmetscher, um möglichst den besten Platz – und damit den lukrativsten Gast – zu ergattern.

Es war ein Durcheinander von Schreien, Püffen, Drohungen und Gelächter. Silly wurde mit einem derben Spaß begrüßt.

»Da kommt unsere Rettung!« rief ein vierschrötiger, herkulischer Kofferträger. »Verstärkung rollt an! Hierher, Einfaltspinsel, wir brauchen noch kräftige Kerle!«

Die Umstehenden grölten, denn sie fanden den Spaß prächtig. Doch der Bursche ließ sich nicht einschüchtern. Ohne auf den Spaß einzugehen, antwortete er ernsthaft: »Silly ist nicht so stark wie ein Ochse. Er kann einen Koffer tragen und ein Geldstück verdienen, von dem er sich ein Essen leisten kann, das ist alles.«

Die Kofferträger, die zwar grob, aber nicht bösartig waren, hörten auf zu lachen und schienen ein wenig betreten, weil sie ihren Scherz auf Kosten dieses an Kraft und Geist schwachen Kerlchens gemacht hatten.

Sie hätten ihm sicher gern Platz gemacht, wenn in diesem Augenblick nicht die ersten Passagiere den Kai betreten hätten. Und nun dachten diese armen Teufel, die nur hierhergekommen waren, um sich einige Pence zu verdienen, nicht mehr an andere, sondern nur an sich selbst, das heißt an die vielen Koffer, Taschen und Schachteln, die die Passagiere in Händen hielten.

Rufe schwirrten durch die Luft …

»Ein guter Gepäckträger, Lady …«

»Geben Sie mir Ihren Koffer, Gentleman …«

»Hierher, Mylord, Park-Hotel, mäßige Preise …«

»Pavillon-Hotel …, sehr komfortabel …, jeden Abend Tanzmusik, einmal in der Woche eine besondere Attraktion …«

»Blicken Sie dorthin, Mylady … Moose-Park-Hotel …, das größte, das modernste … automatischer Service … Dienstboten sind durch elektrische Apparate ersetzt …, große Sensation!«

Die dampfbetriebenen Omnibusse stießen dicke Wolken aus, während die geschicktesten der Träger das Gepäck auf dem Oberdeck schon verstaut hatten. Und inmitten dieses Tohuwabohus standen die verwirrten Reisenden, die plötzlich kein Gepäckstück mehr hatten und nun ihrerseits hinter den Trägern herliefen.

Eine Gruppe allerdings schien sich der allgemeinen Aufregung zu enthalten und erregte gerade deshalb Sillys Aufmerksamkeit. Sie bestand aus einem Gentleman und zwei jungen Damen. Er war mittelgroß, hatte ein offenes Gesicht, einen flinken, lächelnden Blick, der kastanienbraune Schnurrbart war gezwirbelt, und der Mann hatte etwas, was sofort den Franzosen verriet; von seinen entzückenden Begleiterinnen war die eine blond und die andere schwarz; in der blonden Dame erkannte man unschwer den unwiderstehlichen Charme der Engländerin, während die nicht weniger schmucke Dame mit dem bronzefarbenen Teint und den großen schwarzen Augen die Anmut einer Wüstengazelle besaß.

Sehr ruhig und amüsiert lächelnd, hatte der Gentleman die Träger abgewiesen, die ihm sein Gepäckstück, das er in der Hand hatte, entreißen wollten. Ohne Hast war er dann auf zwei kräftige Gesellen losgegangen, hatte die Koffer abgestellt und sie mit seinem Stock angestoßen.

»He, Boys«, sagte er in ausgezeichnetem Englisch, »zum Centennial-Park-Hotel.«

Einer der so Angesprochenen zeigte mit der Hand auf die Fahrzeuge.

»Der Omnibus ist übervoll, Sir.«

»Macht nichts, wir gehen zu Fuß. Kaum Gepäck, nur drei Köfferchen. Wir reisen zu unserem Vergnügen und kaufen uns unterwegs, was wir brauchen.«

Mit sichtlichem Respekt nahmen die Gepäckträger die Koffer auf. In Australien, wo man nur in Geschäften unterwegs ist, erfreut sich jemand, der »nur zum Vergnügen reist«, besonderer Wertschätzung. Denn zweifellos muß ein Mann, der nur globetrottet, ohne dabei danach zu trachten, Geld zu »machen«, zuviel davon haben. Was man vor sich hatte, war also kein Mensch, sondern ein Stück Kapital. Die Boys hatten sich auf den Weg gemacht. Der Gentleman wandte sich erst zu seiner blonden, dann zu seiner dunklen Begleiterin und fragte mit sanfter, klingender Stimme: »Wenn es dir recht ist, Aurett …, wenn es Ihnen konveniert, Lotia, so heften wir uns an die Fersen der beiden.«

»Mein herzallerliebster Gatte«, antwortete die blonde Engländerin, »ich stehe zur Verfügung.«

»Und Sie, Lotia?«

»Ich ebenfalls, Monsieur Lavarède.«

Silly, der sich inzwischen den dreien genähert hatte, war nicht ein Wort der Unterhaltung, obwohl sie in französisch geführt wurde, entgangen. Ein überraschter, freudiger Ausdruck war auf seinem Gesicht erschienen, in seinen Augen hatte es geblitzt.

»Lotia, Aurett, Lavarède«, murmelte er.

Seine Augen ruhten aufmerksam auf den drei Reisenden, deren Namen er soeben gemurmelt hatte. Plötzlich machte er eine entschlossene Bewegung. Er griff nach der Tasche, die Lotia in der Hand hielt, und bat im plärrenden, klagenden Tonfall der Händler: »Silly tragen Tasche von Miß. Zwei Pence für Weg.«

»Was soll das?« fragte Lavarède.

Die Träger hatten sich umgedreht. Einer von ihnen erklärte: »Das ist Silly, ein armer kleiner Kerl, bei dem eine Schraube locker ist. Man tut ein gutes Werk, wenn man ihm ein paar Pence gibt, damit er sich etwas zu essen kaufen kann.«

»Gut, gut. Also, Bursche, trag diese Tasche und folg uns.«

Silly beugte gravitätisch den Kopf und lief neben den Reisenden her, die miteinander schwatzten, ohne sich weiter um ihn zu kümmern.

»Und Sie meinen, wir werden in Sydney Glück haben?« fragte die braunhäutige Lotia mit einem Anflug von Zweifel in der Stimme den Mann.

»Ich bin sicher, daß wir meinen Cousin Robert hier finden werden, ganz sicher!« Und als er den Zweifel in Lotias Gesicht bemerkte, beeilte er sich hinzuzufügen: »Bedenken Sie, Lotia, wir haben die Spur des Flüchtenden. Und ich war schließlich nicht jahrelang umsonst Journalist, als daß ich jemand aufstöbere, der anscheinend vom Erdboden verschwunden ist. Ich versichere Sie, wir werden ihn wiederfinden.«

»Ich weiß, dank Ihnen haben wir ja seine Spur wiedergefunden und wissen, daß er sich in Italien, in Brindisi, nach Sydney eingeschifft hat. Und in Port Said haben Sie uns ja hinreichend bewiesen, daß er nicht von Bord gegangen ist.«

»Er kann nur hier an Land gegangen sein …«

»Jetzt müssen wir ihn also nur noch ausfindig machen«, sagte Aurett lächelnd.

Aber Lotia schüttelte den Kopf.

»Hier können wir uns doch nur an die Obrigkeit wenden …, es dürfte nicht ungefährlich sein, wenn Robert der englischen Polizei in die Hände fällt.«

»Pardon! Pardon!« fiel da der Journalist liebenswürdig ein. »Es gibt zwei voneinander verschiedene Operationen. Die erste und delikateste ist, meinen Cousin wiederzufinden. Die hiesigen Autoritäten werden uns dabei helfen, und das mit einem Eifer, der sie verdächtigt. Sie zweite Aufgabe besteht darin, ihn dem Zugriff der Polizei zu entreißen …, ein Kinderspiel, hier wie in Europa …, mit ein wenig Geschick.«

»Und wie?«

»Nun, ich werde morgen den Obersten Polizeichef um eine Audienz bitten. Sie aber, Lotia, bitte ich nur um eins: Machen Sie sich keine Sorgen.«

Sie kamen vor dem Centennial-Park-Hotel an, einem klotzigen Bauwerk, das seine imposante Masse inmitten eines prächtigen Parks ausbreitete.

Fünf Minuten später hatten die Reisenden von einem geräumigen Appartement Besitz ergriffen, das mit allen Schikanen des modernen Komforts ausgestattet war: Telefon, elektrisches Licht, Klingel für Dienstboten. Und ein Bediensteter des Hotels informierte Sir Armand Lavarède, daß es im Salon sogar einen Phonographen gäbe.

»Das«, so fügte der Mann hinzu, »ist für Reisende gedacht, die wünschen, ihre Reiseeindrücke im gesprochenen Wort festzuhalten. Bei der Abreise stellt ihnen das Hotel die benutzten Metallplatten gern zur Verfügung, und wenn Sie dann wieder zu Hause sind, brauchen Sie diese Scheiben nur in einen anderen Phonographen einzulegen, um die hier verbrachten Tage aufs neue zu erleben.«

Die Gepäckträger, Silly eingeschlossen, wurden für ihre Mühe entlohnt und entfernten sich, nicht ohne daß der einfältige Junge mit der naiven Neugier der Halbwüchsigen die Sehenswürdigkeiten des Salons genossen hatte, was die beiden jungen Damen sehr amüsierte.

Armand und seine beiden Begleiterinnen waren allein.

»Meine entzückenden Freundinnen«, sagte der Journalist, als sie in ihrem Zimmer saßen, »ich gedenke morgen mit der australischen Polizei in Verbindung zu treten. Gestattet, daß ich euch den Brief an deren Direktor vorlese, den ich während der Überfahrt verfaßt habe. Ich wäre entzückt, eure Meinung zu hören.«

Und als die beiden Damen mit einem artigen Kopfnicken ihr Einverständnis kundtaten, begann Lavarède.


Viertes Kapitel Rapport an Seine Exzellenz, den Herrn Direktor der Pazifikpolizei, Sir Toby Allsmine

»Wir, die Unterzeichner, zunächst Lavarède, Armand, Pariser Lokalreporter, Weltrekordler im Um-die-Erde-Reisen (da ich in einem Jahr mit nichts weiter als two pence und einem halben Penny den Erdball umkreiste); dann meine Gattin Aurett Lavarède, geborene Murlyton, und Miß Lotia Hador, haben die Ehre, Ihnen folgendes zu unterbreiten:

Eure Exzellenz ist gewiß über die anstehenden Fragen der allgemeinen Politik so auf dem laufenden, daß sie über die Hindernisse informiert ist, denen der britische Einfluß auf Ägypten ausgesetzt ist.

Auf dieser illustren, von so vielen Pharaonen regierten Oberfläche unseres Erdballs hat sich eine Partei, genannt die Neoägypter, gebildet, die die Unabhängigkeit für ihr Land will. Rivalitäten zwischen zwei der größten Familien, den Thanis und den Hador, die nicht ohne Blutvergießen waren, haben über Jahrzehnte hinweg die Neoägypter daran gehindert, sich zu formieren. Daraufhin beschloß der letzte der Hador, seine einzige Tochter Lotia dem letzten Überlebenden aus dem Hause der Thanis zur Frau zu geben und dem Vaterland einen jahrhundertelangen Haß zu opfern. Sollte das geschehen, so würden die Grüppchenbildungen ein Ende nehmen, und alle Menschen in Ägypten wären unter einer Flagge geeint.

Nun, der letzte der Thanis lebte in Frankreich, in Paris, von England sorgsam überwacht, das ihm darüber hinaus auch eine nicht unerhebliche Pension zukommen ließ. Ein Abgesandter Hadors, Niari mit Namen, der ihm das Vorhaben mitteilte, brachte jedoch in Erfahrung, daß der junge Mann, der sich an das süße und leichte Leben gewöhnt hatte, vor einem Kampf zurückschreckte und darüber hinaus auch die englische Botschaft über den Vorfall informiert hatte. Diese Denunziation führte nun zu folgendem:

Die Admiralität begriff, daß – falls Thanis offiziell ablehnte, den Aufstand anzuführen – der Aufstand trotzdem losbrechen würde. Es galt, einem kostspieligen und blutigen Krieg vorzubeugen. Man beschloß, daß Thanis scheinbar auf das Angebot, das man ihm unterbreiten würde, eingehen sollte; nur würde man inzwischen die Angelegenheit verzögern und jemanden suchen, den man für Thanis halten sollte. Niari, der der Sache Ägyptens blind ergeben war, würde zweifelsohne diesen Schachzug unterstützen. Sollte die Täuschung gelingen, würde man den falschen Thanis in Ägypten festnehmen, deportieren, und die so ihres Kopfes beraubte Verschwörung würde von selbst zusammenbrechen, was dem echten Thanis erlaubte, lauthals seine Rechtmäßigkeit zu beweisen und dadurch die Aufständischen zu diskreditieren und natürlich sein müßiges Leben fortzusetzen.

All das war sehr geschickt eingefädelt. Die Wahl des Ägypters fiel auf Robert Lavarède, der auf einem Bauernhof in Südalgerien geboren worden war und keine Verwandtschaft weiter hatte als den Unterzeichner, seinen Cousin, der ihn jedoch noch nie gesehen hatte. Er entsprach also allen Anforderungen der Admiralität.

Alles verlief so wie vorgesehen. Robert wurde überraschend entführt und, ohne zu wissen, worum es ging, an die Spitze der ägyptischen Verschwörung gestellt und mit Miß Hador verlobt. Dann wurde er von der englischen Polizei verhaftet und im westlichen Australien interniert. Es gelang ihm allerdings, unter Umständen, die im einzelnen aufzuführen hier zu weit führen dürfte, von dort zu fliehen. Er tötete Thanis in einem dramatischen Duell und kehrte nach Frankreich zurück.

Er hatte die Absicht, Miß Hador zu ehelichen, mit der ihn tiefe Liebe verband, die von ihr erwidert wurde, und wollte ein bürgerliches Leben führen. Aber ach! Seine Leiden sollten ja erst beginnen.

Um Ägypten ruhig zu halten, brauchte England einen Thanis, den es unter Kontrolle hatte. Die britische Regierung hatte also die französische gebeten, dem jungen Mann die französische Staatsbürgerschaft abzuerkennen und ihn als einen Ägypter zu betrachten, den man irrtümlich in den französischen zivilen wie militärischen Listen erfaßt hatte. Dem gab die französische Regierung auch nach.

Robert verlor also auf einmal seinen Namen und seine Nationalität. Er hatte keine andere Alternative, als unter dem Namen des Verräters zu leben, den er soeben gerecht bestraft hatte.

Das alles war unstatthaft, wie Euer Exzellenz unschwer verstehen wird. Welche Nation auch immer es sein möge, der ein edler Mann angehört, sie müßte verhindern, daß dieser Mann einen anderen Namen hat als seinen eigenen – gar noch den eines Verräters an seinem Volk.

Um seine Verlobte ehelichen zu können, mußte mein Cousin seinen Namen und seine Staatsbürgerschaft wiedererlangen!

Nun setzte eine Serie von Eingaben, Ausgaben und Preisgaben ein, die samt und sonders nichts einbrachten, denn die britischen Beamten verhinderten unsere intelligentesten Kombinationen.

Von Tag zu Tag wurde Robert mutloser. Der arme Junge warf sich vor, Miß Hadors Leben durch seinen aussichtslosen Kampf ruiniert zu haben. Umsonst bemühte ich mich, ihm Mut zuzusprechen; Hoffnungslosigkeit übermannte ihn und trübte seinen Verstand.

Schließlich verließ er eines Nachts das Haus, das wir bewohnten. Zurück blieb ein Abschiedsbrief, dessen Kopie ich diesem Schreiben beilege:

Cousin, Ihr alle, die ich liebe,

die Würfel sind gefallen. Mir ist jetzt klargeworden: Ich habe eine Aufgabe übernommen, die über meine Kräfte geht – ein Mann kann nicht über ein Volk triumphieren. Wenn ich bei Euch bleibe, gefährde ich Eure Existenz, ich halte das Glück von Euch fern, ich zerstöre Lotias Leben. Es ist meine Pflicht, ihr dieses Leben zu erhalten. Möge sie den Unglücklichen, der diese Zeilen geschrieben hat, vergessen. Sie soll nicht versuchen, mich zu finden; in dem Augenblick, da Ihr diese Zeilen lest, bin ich schon weit von Euch entfernt, und jede weitere Minute vergrößert die Distanz zwischen mir und Euch.

Die Pflicht ist grausam, aber ein Opfer, das man denjenigen darbringt, die man liebt, gibt meinem verfehlten Leben ein Ziel.

Adieu für immer. Mit Herz und Augen voller Tränen.

Ein Namenloser

Ein Schluchzen unterbrach die Lektüre. Lotia verbarg ihr Gesicht in ihren Händen, und ihr Körper wurde von krampfartigem Weinen geschüttelt.

Aurett hatte sich erhoben und über das Opfer des Dramas gebeugt, deren Schicksal der Brief mit der Trockenheit solcher Schriftstücke soeben enthüllt hatte. Sie streichelte sie und beruhigte sie mit Worten.

Sanft sagte der Journalist: »Mut, Lotia; wenn ich diesen Brief Ihrer Kritik unterziehe, so doch nicht, um Sie zum Weinen zu bringen. Es geht darum, Robert wiederzufinden, und wir werden ihn wiederfinden.«

»Ja, das ist richtig, ich glaube … Aber unsere Lage wird immer die gleiche sein. Im Angedenken an seinen Vater, ein Gefühl, das ich teile, will er seinen Namen Lavarède wiederhaben; aus Liebe zu seiner Heimat will er wieder Franzose werden. Die gleichen Schwierigkeiten werden wieder anfangen.«

Armand lächelte.

»Das ist genau der Punkt, in dem Sie irren.« Und als er den neugierigen Blick der beiden Frauen bemerkte, fuhr er fort: »Mir ist eine Idee gekommen, als ich australischen Boden betrat, eine Idee, die so einfach ist, daß ich mich frage, warum sie mir nicht schon früher gekommen ist.«

»Was für eine Idee?«

»Diese: Als Robert mit Ihnen, Lotia, und dem richtigen Thanis dieses Land verlassen hat, ließ er den Abgesandten der Neoägypter zurück. Dieser Niari ist ja über die Intrige, deren Opfer mein Cousin ist, bestens unterrichtet. Wenn Robert wieder unter uns weilt, suchen wir diesen Burschen, bringen ihn nach Frankreich, und aufgrund seiner und Ihrer Erklärung, Lotia, lassen wir ein Identitätszeugnis ausstellen, das Ihrem Verlobten seinen Namen und seinen Platz in der französischen Gesellschaft wiedergibt.«

Ein Freudenschrei war die Antwort auf diese Erklärung. Aurett und Lotia lächelten erleichtert. Dennoch wagte die Ägypterin, einen Zweifel anzumelden: »Wird denn Niari einwilligen?«

»Aber sicher, sein Interesse ist das gleiche wie das Ihre.«

»Glauben Sie?«

»Das liegt doch auf der Hand. Dieser Mann ist ein ägyptischer Patriot. Das Oberhaupt der Verschwörung ist vernichtet. Sein Wunsch müßte also sein, diese Sache zu bestätigen, damit die Anhänger der Unabhängigkeit einen anderen Anführer wählen und ihre Ziele weiterverfolgen können.«

»Das ist wahr, das ist wahr«, sagte Roberts Verlobte und ergriff die Hände des liebenswürdigen Parisers, »und Ihr Cousin hat Sie mir sehr gut beschrieben, als er sagte: ›Selbst wenn Armand an Händen und Füßen gefesselt in einem Käfig eingeschlossen wäre, der hundert Fuß unter der Erde, von Beton umgeben, eingelassen ist, er ist erfinderisch genug, auch von dort wieder herauszufinden.‹«

»Sie übertreiben«, entgegnete der Pariser bescheiden, »vielmehr Robert übertreibt … Er ist in Algerien geboren, und Algerien liegt immerhin südlich von Marseille, wo es, wie jeder weiß, die allergrößten Aufschneider gibt. Zum Glück haben wir es bei dem zu lösenden Problem weder mit einem Käfig noch mit Beton zu tun, und ich denke, daß meine hypothetische Lösung richtig ist.« Und mit der Kaltschnäuzigkeit, die seinem Charakter eigen war, fügte er hinzu: »Ich fahre in meiner Lektüre fort. Sie wird euch, da der emotionale Teil überstanden, auch nicht weiter aufregen.«

Und so nahm er den Faden dort wieder auf, wo er die Lektüre unterbrochen hatte:

»Wir machten uns an die Verfolgung des Flüchtlings. Durch Nachforschungen, wie sie nur Reporter zu machen verstehen, diese Spürhunde des Journalismus, erfuhren wir, daß Robert Lavarède von Brindisi aus auf dem Dampfschiff Botany nach Sydney unterwegs war. Bei keinem Zwischenaufenthalt hat ein Passagier das Schiff verlassen. Er muß also in Sydney gegen Mitte Juni angekommen sein.«

Armand schwieg.

Die jungen Damen meinten, daß die im Schreiben enthaltenen Ausführungen so präzis seien, daß sie gewiß die Arbeit der Polizei erleichtern würden, Robert zu finden. Armand Lavarède schien entzückt, und indem er das Papier in seinem Koffer verstaute, bemerkte er fröhlich: »Wenn es so ist, werden wir erst morgen zu den ernsthaften Geschäften übergehen. Kümmern wir uns lieber ums Essen. Ich werde etwas bestellen.«

Er hatte sich erhoben und war zu dem in einer Ecke des Zimmers installierten Telefonapparat gegangen, doch in dem Augenblick, da er auf den Knopf des Läutwerkes drücken wollte, tat er einen überraschten Ausruf: »Nanu!«

Auf der Wählscheibe des Telefons entdeckte er einen sorgfältig gefalteten Zettel, auf dem in schwarzer Tinte stand:

»Armand Lavarède, Esquire – Wichtig!«

»Ein Billett für mich …«, murmelte Armand.

Die beiden Damen kamen neugierig näher, und der Journalist las mit einem Erstaunen, das nur zu leicht zu begreifen war, die rätselhafte Botschaft vor:

»Gentleman,

Sir Toby Allsmine, Oberster Chef der Pazifikpolizei, empfängt höchst ungern Ausländer. Wenn Sie sich jedoch morgen früh um sechs Uhr entlang des Hafenbeckens von Farm-Cove begeben wollen, so werden Sie Sir Toby in dem betreffenden Parkstück unweit des Cook-Denkmals antreffen und ihm die Angelegenheit, in der Sie ihn sprechen wollten, zu einem überaus günstigen Augenblick vortragen können.«

Für Sekunden waren die Reisenden sprachlos. Sie schauten sich verstohlen im Zimmer um, ohne zu begreifen, welcher Eindringling die Botschaft überbracht, ja woher jener Unbekannte so genau ihre Absicht erraten haben mochte. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu.

Schließlich ergriff Aurett das Wort: »Was gedenkst du zu tun, Armand?«

»Zum angegebenen Rendezvous gehen. Was riskiere ich? Opfer eines schlechten Scherzes zu werden? Pah! Ich bin Pariser, und die lachen immer zuerst. Trotzdem werde ich gut daran tun, die Leute im Hotel zu befragen.«

Gesagt, getan. Die elektrischen Läutwerke klingelten in den Zimmern der Boys, Stewards; Zimmermädchen, Etagenkellner und auch bei dem Besitzer des Hotels, dem ehrenwerten Mr. Littlething. Aber niemand konnte sich auf den Vorfall einen Vers machen. Littlething erging sich in Entschuldigungen und war untröstlich, daß sich ein so ungewöhnliches Ereignis in einem so tadellos geführten Haus wie dem seinen abgespielt hatte. Augenblicklich wollte er sich auf den Weg machen, um die Polizei über den Zwischenfall selbst zu informieren.

Der Vermutungen und Verdächtigungen überdrüssig, ließen sich die drei Reisenden zu guter Letzt das Abendessen servieren und aßen – obwohl es ein australisches Essen war – mit gutem Appetit, wobei sich allerdings jeder insgeheim doch Gedanken über die geheimnisvolle Botschaft und deren noch geheimnisvolleren Überbringer machte. Gegen neun Uhr schloß sich jeder in sein Zimmer ein und überließ sich einem tiefen, erquickenden Schlaf.


Fünftes Kapitel Das Fest der Sydneyer Docker

Weniger philosophisch als seine Gäste irrte der Besitzer des Centennial-Park-Hotels durch die Straßen der Stadt. Er war wütend. Das Polizeibüro hatte bei seiner Ankunft schon geschlossen, und es wäre vertane Zeit gewesen, zu den Beamten in die Privatwohnungen zu gehen, um eine entsprechende Erklärung zu verlangen. Immerhin stand die Ehre seines Hotels, des komfortabelsten in Sydney, auf dem Spiel. Was soll man von einem Hotel halten, dessen Gäste anonyme Botschaften von geistergleichen Überbringern erhalten, die zudem noch die geheimsten Absichten ebendieser Gäste lesen konnten?

Plötzlich wurden seine Gedankengänge unterbrochen. Vor ihm liefen drei Personen, deren Umrisse ihm nicht unbekannt waren. In der Mitte ging ein großer, kräftiger Mann; ihm zur Rechten befand sich ein etwas kleinerer Mann, dessen Eleganz nur von einem kaum sichtbaren Auswuchs am Rücken geschmälert wurde; zur Linken ein junger Bursche.

»Nanu, habe ich Dreck im Auge«, murmelte Mr. Littlething, »oder ist das Sir Toby höchstselbst mit seinem Sekretär James Pack und diesem komischen Silly. Mein Gott, ich wäre schön dumm, würde ich nicht die Gelegenheit nutzen, um meinen Spruch anzubringen.«

Der Hotelbesitzer ging schneller, überholte die Spaziergänger und versicherte sich mit einem raschen Blick, daß er sich nicht getäuscht hatte.

Es waren tatsächlich der Oberste Chef der Pazifikpolizei, James Pack und Silly, die sich zum Fest der Sydneyer Docker begaben und dabei hofften, in der Nacht den geheimnisvollen Korsaren Triplex zu verhaften.

Den Hut in der Hand – denn die Australier bewahren im Gegensatz zu den Amerikanern sehr wohl die äußeren Formen des Respekts –, sprach Littlething sie an: »Guten Abend, Sir Toby.«

Toby hielt erstaunt inne, als er sich mitten auf der Straße so angesprochen sah, doch dann beruhigte er sich, als er den Sprecher erkannte.

»Ah, Sie sind das, Mr. Littlething, guten Abend.«

»Ich muß Ihnen etwas mitteilen.«

»Heute abend habe ich keine Zeit, kommen Sie morgen zu mir.«

»Morgen habe ich tagsüber zu tun. Ich sage es Ihnen lieber gleich. Ich mache nicht viele Worte.«

Der Geschäftsmann hielt das überraschte Schweigen seines Gegenübers für Zustimmung.

»Heute abend hat man sich erlaubt, in einem Zimmer des Centennial-Park-Hotels einem Gast dieses Schriftstück zukommen zu lassen.«

Und damit wies er den Zettel vor, den man Armand Lavarède überbracht hatte. Beim Schein einer Straßenlaterne überflog Sir Toby die Mitteilung.

»Lavarède …«, sagte er nachdenklich, »Lavarède …, diesen Namen kenne ich von irgendwoher …, wer ist das bloß?«

Pack und Silly zuckten unmerklich zusammen und warfen sich einen raschen Blick zu, dann bemerkte der erstere gleichgültig: »Lavarède ist der Name, den die seinerzeit in Westaustralien internierte Person für sich beanspruchte …, Sie erinnern sich, er hatte sich in ägyptische Angelegenheiten gemischt.«

»Genau, Freund James. Aber das ist sicher nicht derselbe. Der würde doch nicht hierher zurückkommen. Wir werden uns morgen darum kümmern.«

Doch dieses Vertrösten auf den nächsten Tag war Littlething mitnichten recht.

»Je länger ich darauf warten muß, desto mehr leidet der Ruf meines Hauses«, erwiderte der Hotelier.

»Ach, gehen Sie!« rief der Polizeichef ungeduldig aus. »Hören Sie auf, mich zu behelligen. Heute abend bin ich zu beschäftigt. Bitten Sie Ihren Gast nur, nicht zu früh aufzustehen, denn um sechs Uhr werde ich ganz sicher nicht im Park sein. Kommen Sie morgen früh mit Ihren Sorgen zu mir.«

»Ich brauche nicht morgen früh zu kommen, wenn ich sie jetzt gleich mitgebracht habe. Mein Personal ist über jeden Zweifel erhaben. Es ist ein ausgesuchtes Personal, ich verbürge mich für meine Leute. Aber drei Fremde haben das Appartement von Mr. Lavarède betreten: zwei Träger aus dem Hafen und dieser komische Kerl da.«

»Silly?«

»Ja.«

»Der arme Silly hat damit sicher nichts zu tun«, fiel James lebhaft ein. »Falls es jedoch der Herr Direktor gestattet, so würde ich empfehlen, Mr. Lavarède ruhig in den Park kommen zu lassen. Vielleicht haben die Banditen irgendwelche Machenschaften mit ihm vor. Wir werden ihn sorgfältig überwachen.«

Und da Sir Toby zu diesem Vorschlag zustimmend nickte, empfahl der Sekretär sich und die anderen ohne weitere Zeremonie dem Hotelier und setzte den Weg fort. Littlething maulte zwar über die Methoden der heutigen Polizei, aber das hinderte die drei nicht, ihn stehenzulassen und sich bald darauf unter das muntere Völkchen auf den Docks von Darling-Harbour zu mischen.

Eine ganze Seite des Hafenbeckens war beleuchtet; hohe Stangen, die in mehr oder minder regelmäßigen Abständen voneinander standen, waren mit Girlanden miteinander verbunden, an denen venezianische Lampions und bunte Glaskugeln hingen, die leuchtende Arabesken in den dunklen Himmel zeichneten; lange Lampenketten waren an den Fassaden und Dächern der Handelsniederlassungen angebracht; Manegen und Vergnügungszelte waren in aller Eile in den Straßen zwischen den festen Bauwerken errichtet worden. Blechinstrumente, Dampforgeln, Trommeln und Zimbeln dröhnten, wummerten und winselten in einer ohrenbetäubenden Kakophonie und waren akustischer Ausdruck der überschäumenden Freude, deren sich die Menge in den Gassen und Bierzelten hingab.

Denn das Fest der Docker von Sydney ist fast so etwas wie der Nationalfeiertag der Franzosen. Alle sozialen Schichten nehmen daran teil, und die ehrenwerte – in den englischsprachigen Ländern ist eh alles ehrenwert – Gesellschaft der Taschendiebe hat so etwas wie die Schirmherrschaft über dieses Fest übernommen. Denn mit einer Nächstenliebe, die nicht ihresgleichen hat, sorgen sie dafür, daß bei diesem Fest wirklich alle gleich sind, indem sie den Reichen Schmuck, Geldbörsen, Brieftaschen und andere Wertgegenstände auf die liebenswürdigste Art entwenden.

Sir Toby und seine Begleiter waren an der ersten Girlandenkette angekommen.

»Geh nicht von meiner Seite, Silly!« befahl der Polizeichef dem Einfältigen. »Wenn du den Mann siehst, der dir heute morgen die Plakate übergeben hat, so zeigst du ihn mir.«

Silly nickte, ohne zu antworten, und die drei mischten sich unter die Menge. Plötzlich trat ein Mann auf sie zu, es war einer von Allsmines Agenten.

»Exzellenz«, sagte er, »ich war die ganze Zeit vor dem Zirkus Monkey postiert. Da hat sich mir mit einemmal ein Mann genähert und auf einen Mann gezeigt. ›Dort ist Korsar Triplex‹, hat er gesagt. ›Ich bin der, der heute Sir Toby Allsmine die Botschaft zugespielt hat.‹«

»Wo ist diese Person?«

»Er ist in der Menge untergetaucht, bevor ich ihn festnehmen konnte.«

Toby machte eine wütende Geste.

»Das ist sehr ärgerlich.«

»Eure Exzellenz haben gewiß recht, aber wenn wir Triplex festgenommen haben, wird das Entkommen des anderen relativ unwichtig sein.«

»Jedenfalls ist er unwichtiger als der andere«, bemerkte Pack. »Er wird sich schon melden, um die versprochene Prämie in Empfang zu nehmen, wenn wir den Korsaren verhaftet haben.«

Die Bemerkung schien den Polizeichef zu beruhigen.

»Ja, so ist es«, erwiderte er und, an den Agenten gewandt: »Sie haben alles für die Festnahme des Banditen vorbereitet?«

»Noch nicht. Ich wollte die Vorstellung nicht unterbrechen. Aber ich habe vier Leute am Zirkuseingang postiert, vier Kleiderschränke mit Schlagstöcken und Handschellen.« Der Polizist lachte. »So wendig der Spitzbube auch sein mag, diesmal kann er sich nicht herauswinden.«

»Ist er kräftig?«

»Kräftig ist er, Eure Exzellenz, ja, ja. Er ist groß, sieht aus wie ein Athlet, hat blaue Augen; Kinn und Wangen sind von einem dichten blonden Bart bedeckt.«

Sir Toby rieb sich die Hände.

»Endlich haben wir das Signalement dieses Schurken; aber verlieren wir keine Zeit, er ist ein flinkes Kerlchen. Zum Zirkus Monkey, meine Herren.«

So schnell es die schiebende und drängende Menschenmenge in den engen Gassen erlaubte, machte sich die Gruppe, von dem Agenten geführt, zu der Stelle auf, an der der Zirkus Monkey lag. Bald hatte sie das Zelt erreicht, aus dessen Inneren Klatschen und laute Rufe drangen. Am Fuße der Holztreppe, die den Eingang bildete, waren vier schwarze Formen zu erkennen, die mit dem dunklen Umhang, der sie bedeckte, eins geworden zu sein schienen. Mit einer Handbewegung wies der Agent auf diese vier.

»Meine Männer«, flüsterte er.

»Sehr gut, sehr gut!« bemerkte der Polizeichef. »Wir haben, hoffe ich, noch etwas Zeit, bis die Vorstellung zu Ende ist; könnten Sie mir nicht denjenigen zeigen, den wir erwarten?«

»Aber sicher, Exzellenz, wenn Sie mir folgen wollen. Bevor ich Sie benachrichtigt habe, habe ich genau gegenüber dem Künstlereingang ein Guckloch präpariert.«

Von seinem Untergebenen geführt, lief Allsmine um das Zirkuszelt. Sie machten an einem Punkt halt, der dem öffentlichen Eingang schräg gegenüberlag. Ein etwa einen Zentimeter umfassendes Loch war in die Zeltwand geschnitten worden.

»Schauen Sie durch dieses Loch, Exzellenz«, riet der Polizist. »Im ersten Rang werden Sie diesen famosen Korsaren entdecken.«

Ein freudiger Schauer durchrieselte Toby. Der Mann mit dem blonden Bart saß genau auf dem angegebenen Platz und war leicht auszumachen. Er schien Spaß an der Vorführung zu haben, denn auf die Holzbalustrade gestützt, die die Arena umgab, verfolgte er lächelnd die Vorführung eines Clowns.

»Er weiß nicht, was ihn am Ausgang erwartet«, flüsterte der Polizeichef seinem Untergebenen ins Ohr.

»Nein, ganz gewiß nicht, Exzellenz. Und er wird auch nicht wissen, daß er verraten wurde.«

Erneut schaute Sir Toby durch das Guckloch. Er empfand höchste Befriedigung. Er hatte diesen mysteriösen Feind im Visier, dessen Kühnheit, dessen ans Wunderbare grenzende Fähigkeit, an verschiedenen Orten aufzukreuzen, ihn monatelang verblüfften, ja erschreckt hatten; jetzt konnte er ihn dingfest machen. Mit zusammengepreßten Zähnen murmelte er: »Schluß mit der Lächerlichkeit, Schluß damit, uns an der Nase herumzuführen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Er schwieg. Der Zirkusdirektor, Mr. Monkey höchstselbst, hatte soeben die Arena betreten und, in korrektes Schwarz gekleidet, das Ende der Vorstellung verkündet und dem Publikum »für die Ehre gedankt, seinen Künstlern den wohlverdienten Beifall gespendet zu haben«.

»Schnell, beeilen wir uns«, sagte Sir Toby. »Das Publikum bricht auf.«

Fast rennend kam er mit seinem Untergebenen vor der Treppe an, an der seine Polizisten warteten. James Pack und Silly standen erwartungsvoll am Fuße der Treppe. Allsmine gesellte sich zu ihnen, ohne das rätselhafte Lächeln wahrzunehmen, das um ihre Lippen spielte.

In diesem Augenblick öffnete sich die Zeltbahn, die den Ein- wie Ausgang bildete, und das Publikum quoll heraus, drängte sich auf der Treppe, lachte, schrie und gestikulierte und verlor sich in alle Richtungen, sobald es den Platz vor dem Zelt erreicht hatte. Es war eine lange Schlange, die da herunterkroch. Der Polizeichef und seine Männer hatten genug Muße, um jeden einzelnen genau zu examinieren. Und den sie erwarteten, der war ja unschwer an seinem langen blonden Bart zu erkennen, der ihm bis auf die Brust herabhing.

Der Menschenwurm schlängelte sich noch immer die Treppe herab. Allmählich lichtete er sich jedoch. Die letzten Zuschauer eilten rasch aus dem Zelt, dann schloß sich die Zeltbahn wieder, und niemand zeigte sich mehr.

Der Zirkus war leer, und Korsar Triplex war verschwunden!

Sir Toby und seine Untergebenen standen fassungslos am Fuß der Treppe. Dann stieß der oberste Polizeiherr ein schreckliches Geheul aus und stürmte, die Polizisten wie einen Schwanz hinter sich herziehend, die Treppe empor, riß die Zeltbahn auseinander und starrte in die Arena. Dort ließ Mr. Monkey, noch immer in seinen schwarzen Frack gekleidet, von seinen Angestellten den Sand vom Arenarund fegen, bevor er eine neue und diesmal letzte Vorstellung geben würde.

Er lief den Eindringenden entgegen und rief: »Nein, nein, Gentlemen, noch nicht. Alles zu seiner Zeit. Lassen Sie uns erst Ordnung in die Manege bringen.«

»Es geht uns nicht um eine Vorstellung!« brüllte der Polizeichef. »Wir wollen einen Verbrecher verhaften.«

»Ich habe keinen Verbrecher unter meinen Artisten.«

»Wer spricht davon? Der fragliche Mann war ein Zuschauer. Er muß hier herausgekommen sein …«

»Durch die Tür natürlich«, unterbrach ihn Monkey mit dem Ausdruck verletzter Würde. »Am Ende der Vorstellung stand ich persönlich am Ausgang, und alle Zuschauer haben den Zirkus in größter Ordnung verlassen.«

»Wir haben uns jeden genau angeschaut, der herauskam, und keiner entsprach dem Signalement.«

»Dem Signalement?«

»Ja. Ein großer, kräftiger Mann, der leicht an seinem blonden Bart zu erkennen war.«

»Oho! Der seine Brust verdeckte?« fiel ein Clown ein, der zu ihnen getreten war. »Hab ich bemerkt und gedacht: Zu schön, um wahr zu sein.«

»Wieso?« fragten die Umstehenden.

»Nun ja, das war ein Perückenbart.«

»Perücke!« bellte Allsmine so laut, daß alle erzitterten. »Das ist doch …! Perücke!«

»Sehr gut gemacht. Als er ging, hab ich ihn mir genau angeschaut. Und plötzlich, krick-krack, war der hübsche Bart weg und sein Gesicht so blank wie mein Knie, hehe!«

Der Oberste Chef der Pazifikpolizei kochte vor ohnmächtiger Wut.

»Sind Sie sich im klaren, was Sie da sagen?« fragte er mit erstickter Stimme.

Der Clown lachte clownesk.

»Klar bin ich mir im klaren. Schauen Sie, hier hat er gesessen.«

Und indem der fröhliche Artist auf die erste Reihe zuging, klopfte er mit der Hand genau an der Stelle auf den Velour, an der Minuten vorher Sir Toby seinen ungreifbaren Gegner selbst gesehen hatte.

Mit einemmal stieß der Clown einen Schmerzensschrei aus.

»Aua …! Ich hab mich gepiekt. Was ist denn das?«

Alle stürzten zu ihm hin. Auf dem Velour steckte eine Visitenkarte. Sie packen, mit einem Blick überfliegen, einen wutentbrannten Schrei ausstoßen – das war für Sir Toby alles eins.

Schließlich schaute er von der Karte auf und warf einen schreckgeweiteten Blick um sich. Und nun sahen auch die anderen, was auf der Karte stand:

Korsar Triplex

gibt dem sogenannten Herrn Allsmine einen guten Rat: Man henkt keinen – es sei denn, man hätte ihn.

Triplex war nicht nur entwischt, er machte sich auch noch über seinen unglücklichen Verfolger lustig. Und während noch alle etwas ratlos herumstanden und durch den Schreck verwirrt waren, den Sir Tobys Gesicht widerspiegelte, kam ein Polizist angelaufen. Außer Atem berichtete er, daß ihn sein Brigadier hergeschickt habe, um seinen obersten Dienstherrn zu informieren, daß Korsar Triplex an einem Spieltisch im Kasino von Mr. Zachom, das am anderen Ende des Hafenbeckens lag, im Begriff sei, »die Bank zu sprengen«.

Mit einem Schlag aus seiner Erstarrung gerissen und voller Wut, sich als Spielzeug des Korsaren fühlen zu müssen, brüllte er den Polizisten an, der nichts dafür konnte. Schließlich wurde er jedoch durch sein eigenes Geschrei, das durch den Zirkus hallte, wieder ruhiger, und er fragte: »Wie haben Sie ihn denn erkennen können?«

»Nach der Beschreibung, die uns allen zugegangen ist.«

»Sie denken also, daß …«

»Triplex ist ein großer, kräftiger Mann, der einen langen blonden Bart trägt.«

Bei dem grimmigen Blick, mit dem Allsmine den Polizisten bedachte, brachen die Angestellten des Zirkus in Lachen aus. Das war in der Tat zu komisch: ein Korsar, der je nach Bedarf seinen Bart verlor oder wiederfand. Und darüber hinaus ist es in Australien nicht anders als in anderen Ländern auch. Obwohl man den Bemühungen der Polizei, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen, nicht ablehnend gegenübersteht, hat man sich doch ein geheimes Wohlwollen für jene bewahrt, die ebendiese Polizei daran hindern wollen.

»Gut«, sagte James Pack und kam den Flüchen zuvor, die seinem Vorgesetzten auf den Lippen lagen. »In dem Zustand, in dem wir uns jetzt befinden, macht es uns sicher nichts aus, uns zu dem Kasino von Mr. Zachom zu begeben. Wenn wir uns beeilen, können wir vielleicht …«

»Den Korsaren dingfest machen«, fiel Sir Toby ein. Das schien ihn offensichtlich zu beruhigen. Ohne ein weiteres Wort verließ er den Zirkus und drängte sich durch die Menge auf den Kais. Die anderen folgten in seinem Fahrwasser. In zehn Minuten hatten sie das Gelände, auf dem die Buden und Zelte errichtet waren, durchquert und machten vor einem Haus halt, dessen Fenster hell erleuchtet waren.

Ein neben dem Eingang postierter Polizist kam ihnen entgegengelaufen und überreichte dem Polizeichef einen Zettel.

»Was soll das?«

»Ich weiß es nicht, Exzellenz. Ein junger Mann hat eben das Spielkasino verlassen und mich gebeten, Ihnen diese Nachricht zu geben.«

Verstohlen tauschte Pack mit Silly ein flüchtiges Lächeln. Sir Toby hingegen riß dem Polizisten den Umschlag aus der Hand, zog eine Karte daraus hervor und reichte sie seinem Sekretär mit den Worten: »Schauen Sie, Mr. Pack, der Scherz geht weiter!«

In der Tat konnte man auf dem Karton als erstes den Namen Korsar Triplex lesen. Und darunter stand: bedauert, nicht auf Sir Toby warten zu können. Aber hier ist noch nicht der geeignete Ort, wo ein Treffen stattfinden kann.

Diesmal überwog bei dem Polizeichef die Furcht und nicht der Ärger. Er fragte sich, ob sich letztlich ein Kampf gegen den kühnen und unauffindbaren Triplex überhaupt lohne und er sich dabei nicht ins eigene Fleisch schneide.

Dieser Mann mußte über ungekannte Kräfte verfügen, wenn er es wagen konnte, so mit den Leuten zu spielen, die ihm auf den Fersen waren. Zunächst hatte es Toby strikt zurückgewiesen, an die gleichzeitige Anwesenheit des Korsaren an verschiedenen Orten zu glauben. Und nun kam er sich selbst vor wie ein Hampelmann, der an den Fäden des phantastischen Korsaren hing. Zur selben Zeit hatte sich Triplex im Zirkus Monkey und im Spielkasino gezeigt und war jedesmal verschwunden, bevor man seiner habhaft werden konnte.

Das grenzte ans Wunderbare, und das war beängstigend.

Stumm und unfähig, einen Entschluß zu fassen, stand Sir Toby da. In respektabler Entfernung von ihm umringten ihn sein Sekretär James Pack und die Beamten, die auf einen Befehl warteten. Auf ihren Zügen lag Verwirrung und Unruhe. Nur der einfältige Silly schaute auf das Spielkasino und die funkelnden Lichter des Volksfestes und schien sich daran zu erfreuen.

Plötzlich tauchte ein kleiner, untersetzter Mann auf, der wie ein Arbeiter gekleidet war und dessen rebellischer Haarschopf nur unvollkommen von einer speckigen Mütze bedeckt wurde, er zwängte sich ohne sichtbaren Respekt vor soviel Polizei durch den Kreis und faßte den obersten Polizisten im Südlichen Pazifik am Ärmel seines Überziehers.

»Gibt es immer noch eine Prämie von viertausend Pfund Sterling für den Mann, der Korsar Triplex ausliefert?« fragte er.

Und als der zerstreute Allsmine nur mechanisch nickte, ohne wirklich zu begreifen, was der Mann wollte, senkte dieser die Stimme, so daß ihn nur Sir Toby hören konnte, und flüsterte: »Das war ich, Exzellenz, der Euch heute morgen geschrieben hat.«


Sechstes Kapitel Die grünen Masken

Der Geisteszustand des Polizeichefs war derartig strapaziert, daß er den Unbekannten unwirsch anfuhr: »Wohl wieder so ein lächerlicher Rat, damit wir uns blamieren …! Der Korsar lacht sich ins Fäustchen, wissen Sie … Wahrscheinlich schickt er selbst Sie, damit man mich auslachen soll. Ja, so wird es sein … Sie sind einer von seinen Leuten …, ich werde Sie unverzüglich festnehmen lassen.«

Ruhig ließ der Arbeiter diese Flut von Anschuldigungen über sich ergehen. Als Sir Toby einen Augenblick lang innehielt, um Luft zu holen, unterbrach ihn der Arbeiter jedoch rasch: »Wenn Sie mir mißtrauen, dann lassen Sie mir Handschellen anlegen, bevor Sie Ihre Beamten zusammentrommeln und mir folgen. Ich werde Sie zu dem Haus führen, in dem Sir Triplex die ganze Nacht zugebracht hat und wo er jetzt noch anzutreffen ist.«

Bei diesem offensichtlich so loyalen Vorschlag verflog Allsmines Mißmut mit einemmal. Eine Person, die so friedfertig vorschlug, sich Handschellen anlegen zu lassen, konnte keine schlechten Absichten hegen. Der Mann mußte ein ruhiges Gewissen haben, denn bei den Banditen war es nicht üblich, sich so unbedacht in die Hände der Öffentlichen Sicherheit zu begeben.

Und so erstaunte der sanfte Tonfall auch nicht, in dem er den Mann fragte: »Sie sind sich also ganz sicher, daß Sie mir den in die Hände spielen können, von dem die Rede ist?«

»Gewiß, wenn wir keine Zeit verlieren. Sie verstehen, was ich meine?«

»Es geht darum, rasch zu handeln?«

»So ist es.«

»Wenn es so ist, gehen Sie voran, ich folge Ihnen.«

Schon hatte Allsmine Pack, Silly und die Agenten herbeigerufen. Aber der Unbekannte hielt ihn zurück.

»Sie zeigen großen Eifer«, sagte er, »deshalb möchte ich Sie bitten, daß Sie Befehl geben, mir Handschellen anlegen zu lassen.«

»Sie scherzen.«

»Nein, im Ernst; nur sollte man alles voraussehen. Im Fall eines Mißerfolgs möchte ich nur vorbeugen, daß Sie meine Ernsthaftigkeit in Zweifel ziehen. Mir reicht es, daß der andere meine Existenz bedroht.«

Toby zögerte, doch der Unbekannte drängte ihn: »Geben Sie schon Befehl, die Zeit drängt.«

Auf eine Bewegung des Polizeichefs hin wurde der Arbeiter mit Handschellen gefesselt; mit zufriedener Miene betrachtete dieser den Schmuck, der für andere Leute eher genierlich ist, und sagte dann: »Also los, ich führe Sie.«

»Dann führen Sie mal, mein Bester.«

Mit dem schleppenden Schritt der Hafenarbeiter überquerte der Mann das Gelände, auf dem das Fest stattfand, Allsmine und etwa ein Dutzend Beamte im Schlepptau.

James Pack und der Schwachsinnige waren etwas zurückgeblieben. Silly hatte seine Hand unter den Arm des Sekretärs geschoben, und diese Hand zitterte sichtlich. Der Bucklige beruhigte ihn.

»Nur Mut«, sagte er sanft zu ihm. »Nur Mut. Du mußt an die Wahrheit glauben. Es wird nicht mehr lange dauern.«

Der Junge blickte ihn unendlich traurig an.

»Reiß dich zusammen«, sagte Pack. »Sei ganz ruhig, man kann uns beobachten.«

»Ja, James«, erwiderte der Junge. »Sie haben recht. Ich werde mich zusammennehmen.«

»Nun komm schon. Allsmine darf keinen Verdacht schöpfen; wir müssen in seiner Nähe sein.«

Mit diesen Worten zog der Sekretär seinen jungen Begleiter mit sich, und bald befanden sie sich beide neben dem Polizeichef. Sie hatten inzwischen das Areal verlassen, in dem die erleuchteten Buden und Zelte des Dockerfestes standen, und sich in dunklere Gassen begeben. Sie marschierten Richtung Osten. Auf den Trubel des Festes folgten nun schlafende Viertel: leere Straßen, geschlossene Geschäfte, mit eisernen Rolläden gesicherte Fenster – es war ein Schweigen, das alles – außer den Schritten der Vorüberhastenden – erstickte.

Sie hatten das Post-Hotel passiert, einen monströsen neorömischen Bau mit einer majestätischen Granit-Kolonnade; sie kamen am Stadt-Hotel vorbei, dessen sechzig Meter hoher Turm die Stadt beherrschte, und der Arbeiter, den keiner der Beamten aus den Augen verlor, ging noch immer entschlossen weiter.

Jetzt war man bereits in den Vororten.

Plötzlich machte ihr Führer halt und wies auf einen schmalen und dunklen Pfad, der sich zu ihrer Rechten abzeichnete.

»Wir sind am Ziel«, murmelte er.

Klopfenden Herzens versuchte Allsmine die Finsternis in der Straße mit seinen Blicken zu durchdringen.

»Das ist es!«

»Ja, Exzellenz, kaum zwanzig Meter von hier. Ein kleines Haus zur Straße raus. Dahinter ist ein großer Garten. Sie sollten das Grundstück umstellen …«

»… damit uns unser Wild nicht entwischt … Sie haben recht.«

Sofort gab Allsmine Anweisung, und die Polizisten verschwanden in Gruppen zu zweit oder dritt in den angrenzenden Gassen. Der Polizeichef blieb mit einem Beamten, James Pack und dem kleinen Silly vor der Tür zurück.

»Wir vier dürften genügen, um die Eingangstür zu bewachen«, erklärte Allsmine. »Ich habe meinen Revolver bei mir. Und Sie, Mr. Pack?«

»Ich habe meinen ebenfalls dabei.«

»Also, dann laßt uns unsere Plätze einnehmen.«

Der Handwerker bog in das Gäßchen ein, auf das er kurz zuvor gewiesen hatte. Er ging wie auf Sammetpfötchen und achtete darauf, keinen Lärm zu machen, und seine Begleiter taten es ihm nach. Nach etwa dreißig Schritten blieb der Mann stehen. Sie befanden sich vor einem Haus mit gutbürgerlichem Aussehen, dessen hölzerne Eingangspforte mit einem kupfernen Türklopfer versehen war. Die Rolläden waren samt und sonders herabgelassen, aber in der ersten (und einzigen) Etage zeigte sich ein schmaler Lichtstreif zwischen den Fensterläden.

Der Arbeiter wies mit der Hand darauf.

Alle verstanden die Bedeutung dieser Bewegung. Dort also hielt sich Korsar Triplex auf. Endlich würde man den zu Gesicht bekommen und festnehmen können, der seit mehreren Monaten die britische Polizei im Pazifik zum besten hielt.

Er war da.

Wie Jäger vor dem großen Halali, so empfanden auch die Polizisten ein Gefühl der Erregung bei diesem letzten Akt des Schauspiels, in dem sie Darsteller waren. Und Allsmines Körper zitterte nervös bei der Vorstellung, daß er Korsar Triplex gleich in seiner Gewalt haben würde.

Dem Polizeichef schien, daß sein Feind im Schein seiner Lampe schrieb und keinerlei Argwohn hegte, daß die Vertreter der Öffentlichen Sicherheit sein Versteck ausgekundschaftet hatten. Er malte sich dessen Entsetzen aus, wenn er entdeckte, daß alle Ausgänge bewacht wurden. Ungeheure Befriedigung durchrieselte den Beamten. Die Festnahme der phantastischen Person würde seiner eigenen Unruhe ein Ende machen, ja, sie wäre darüber hinaus der Ausgangspunkt neuer Ehrungen. Schon oberster Dienstherr über die Polizei in der Hälfte der englischen Welt – warum nicht gar über die ganze? Warum nicht gar den Lordtitel zu Recht beanspruchen, mit dem ihn seine Untergebenen titulierten, ohne daß er darauf Anspruch gehabt hätte? Und mit der naiven Eitelkeit der Emporkömmlinge gestand sich Toby insgeheim, daß sich sein Name wunderbar dazu eignete, mit dem Titel eines Lords geschmückt zu werden.

Ein Pfeifton, der auf bestimmte Art und Weise erklang, unterbrach seine Träumerei. Das war das mit seinen Beamten vereinbarte Signal. Es zeigte an, daß die Behausung des Korsaren völlig umzingelt war. Entschlossen nahm Sir Toby den Revolver in die rechte Hand – eine Geste, die von seinen Begleitern sofort nachvollzogen wurde –, während er mit der linken den kupfernen Türklopfer packte, ihn mehrmals gegen die Tür wummerte und mit schneidender Stimme rief: »Im Namen der Königin, öffnen Sie!«

Und da geschah etwas Unerwartetes. Der Polizeichef hatte das letzte Wort noch nicht beendet, als die Tür blitzschnell aufgerissen wurde.

Überrascht – denn es war im allgemeinen nicht üblich, daß die außerhalb des Gesetzes stehenden Individuen derart schnell den Aufforderungen der Polizei nachkommen – sahen Sir Toby, sein Sekretär, Silly und der sie begleitende Beamte, wie plötzlich schwarze menschliche Gestalten auf sie zustürzten. Sie wurden von kräftigen Händen gepackt und mit atemberaubender Schnelligkeit entwaffnet, anschließend ins Haus gezerrt, deren schwere Tür sich sofort wieder hinter ihnen schloß.

Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, etwas zu erkennen. Von seiner Begleitung getrennt, den Kopf mit einem Wollschal verhüllt, der seine Schreie erstickte, wurde der Oberste Chef der Pazifikpolizei eine Treppe hinabgestoßen. Er durchquerte einige Zimmer, einen Korridor, und schließlich – wie er an der frischen Luft merkte – gelangte er ins Freie. Im übrigen hatte er keine Muße, sich langen Überlegungen hinzugeben, denn eine rüde Stimme befahl ihm: »Steigen!«

Instinktiv hob er den Fuß und wurde in eine Kutsche gestoßen, die sich sofort in Bewegung setzte.

Er hob die Hände an den Wollschal, der seinen Kopf umschlang. Er wollte sehen, wo er war, aber da riß man ihm die Hände herunter, und dieselbe Stimme, die ihm befohlen hatte einzusteigen, schnauzte ihn an: »Keine Neugier! Das mögen wir nicht!«

Dieser Tonfall hatte nichts Verbindliches an sich. Sir Toby gehorchte, denn das schien ihm im Augenblick die höchste, weil einzige Weisheit. Dennoch erlaubten ihm seine Ohren, sich über einiges klarzuwerden. So merkte er, daß die Kutsche über Schotter hinwegrollte. Man entfernte sich demnach aus der Stadt, deren Straßen alle gepflastert waren. Das war jedoch nicht dazu angetan, den Gefangenen zu beruhigen. Zweifellos befand er sich in der Gewalt des Korsaren, dessen ganze Aktionen nur zu gut bewiesen hatten, daß er zu Allsmine eine besondere Zuneigung gefaßt haben mußte. Nun, er war sich darüber im klaren, daß die Zivilisation in Australien nur auf einem schmalen Streifen entlang der Küste Fuß gefaßt hatte, während das Innere des Landes von jedem polizeilichen Einfluß unberührt blieb. In diesem immensen Landstrich, der so weit wie Europa war und dessen Bevölkerung kaum den 3 500 000 Einwohnern entsprach, die Belgien hatte, war das einzige Gesetz, das anerkannt wurde, das Gesetz des Stärkeren. Außerhalb bewohnter Ortschaften konnte man sich ungestraft eines Feindes entledigen. Die Wüste liefert keinen Verbrecher aus, die Einsamkeit gebiert keine Zeugen. Solche Überlegungen waren alles andere als tröstlich. Und so fühlte Allsmine auch kalten Schweiß seinen Rücken herabrinnen. Das wäre auch dem Tapfersten so ergangen, denn es war schon erschreckend, in der Hand eines Feindes zu sein, der sich an einem Ort befindet, wo niemand ihn aufstöbern würde.

Die Absicht von Sir Tobys Entführern jedoch war keineswegs, ihn in die Wüste zu schleppen, denn nach etwa einer Stunde Fahrzeit verlangsamte die Kutsche ihre Geschwindigkeit, und Sir Toby wurde gewahr, daß die Räder wieder über Pflastersteine rollten.

Wahrscheinlich das Pflaster eines Hofes, dachte der Polizeichef, denn das dumpfe Geräusch ließ darauf schließen, daß der Raum, in dem sich die Kutsche bewegte, umbaut war. Im selben Augenblick hörte jede Bewegung auf, der Wagenschlag öffnete sich mit einem trockenen Klappern, und der Gefangene wurde von zwei Armen gepackt und nach draußen gezogen.

Von seinen Bewachern geführt, erklomm er die sieben Stufen einer Freitreppe, tappte durch einen mit Fliesen ausgelegten Raum, den er als Vorraum einschätzte, dann durch mehrere parkettierte Räume. Endlich stieß ihn einer seiner Begleiter auf einen Stuhl und sagte zu ihm: »Sie können den Wollschal von Ihrem Gesicht wickeln.«

Mit verständlicher Eile entledigte sich Toby des Stoffstückes, das ihn daran hinderte zu sehen, aber die Dinge und die Lebewesen, auf die sein erster Blick traf, ließen ihn diese Eile schon wieder bedauern.

Er saß inmitten eines weiten, kuppelförmigen Saales mit unverputzten Mauern. Ihm gegenüber thronten hinter einer langen, mit einem roten Teppich, der bis zum Boden herabfiel, bedeckten Tafel unbeweglich und erhaben wie Statuen drei rätselhafte Gestalten. Sie waren in lange grüne Gewänder gehüllt. Ihre Köpfe verschwanden unter Kapuzen von derselben Farbe, die nur in Höhe der Augen und des Mundes schwarze Löcher hatten. Den Gefangenen umstanden ebenfalls grünmaskierte Männer in Matrosenkleidung, die wohl seine Bewachung bildeten.

Der Polizeichef wollte sprechen, doch einer von den dreien mit der Kapuze, und zwar der in der Mitte, befahl ihm mit einer Geste zu schweigen; dann wandte er sich an einen der Seeleute mit den grünen Masken, der am unteren Ende der Tafel vor einem großen Apparat stand, dessen Bestimmung dem Gefangenen verborgen geblieben war.

»Ist der Phonograph soweit, daß er eingeschaltet werden kann?« fragte er mit einer Stimme, die Sir Toby völlig unbekannt war.

»Ja, Kapitän.«

»Dann setzen Sie ihn in Gang, damit er das Gespräch aufzeichnet.«

Ein Klicken war zu vernehmen. Der mit »Kapitän« Angesprochene streckte den Arm nach Allsmine aus.

»Name, Vorname?« fragte er mit dem Tonfall eines Gerichtspräsidenten.

Dem Gefangenen stieg Zornesröte ins Gesicht. Was! Man verhörte ihn, den Polizeichef, so wie er sonst Gefangene verhörte! Das war wohl des Guten zuviel! Und so antwortete er mit kaum zu verhehlendem Zorn: »Ich werde kein Wort sagen. Ich billige Ihnen nicht das Recht zu, mich zu verhören.«

Eine Bewegung unter der Kapuze verriet, daß der Kapitän mit den Schultern gezuckt hatte. Nun befahl er mit unbewegter Stimme:

»Los, Jungs! Löst dem Angeklagten die Zunge.«

Augenblicklich blitzten in den Händen der Bewacher Messer auf. Wütend, aber mehr noch ängstlich stotterte der Gefangene: »Sie wagen es, einen Mann zu töten?«

Ruhig erwiderte der Kapitän: »Die wilde Bestie töte ich ohne Zögern, ohne Gewissensbisse. Die Zeit vergeht zu schnell. Also antworten Sie. Name, Vorname!«

»Sir Allsmine«, murmelte der Polizist eingeschüchtert. »Toby, Jehosuah, Sim.«

»Alter …?«

»Siebenundvierzig.«

Der Mann, der den Vorsitz des improvisierten Tribunals zu führen schien, schaute in eine Akte, die vor ihm lag.

»Gut. Stimmt. Sie sind der Sohn armer Einwanderer, die sich am Fluß Lachlan, im Inneren von Neusüdwales, niedergelassen hatten?«

»Ja.«

»Sie traten als junger Mann in die Polizei von Sydney ein. Sie hatten Ambitionen, waren arbeitsam, das muß man sagen, denn Sie verschafften sich Ihre Bildung selbst, da es Ihren Eltern an Geld mangelte, Sie eine Schule besuchen zu lassen. Dennoch waren Sie bis etwa zu Ihrem dreißigsten Lebensjahr auf eher unteren Positionen zu finden. Ist das wahr?«

»Ja.«

Sir Tobys Stimme klang belegt. Auf seinem Gesicht konnte man einen Anflug von Unsicherheit erkennen. Der Kapitän fuhr mit seinen Fragen fort.

»Wie das? In nur sechzehn Jahren sind Sie Polizeipräsident der Pazifikpolizei geworden, ein Titel, der Ihnen beinahe unbegrenzte, beinahe königliche Macht verschafft?«

Der Angeklagte schwieg.

»Ich werde Ihnen sagen, warum, denn wir sind nicht ausschließlich deswegen hier. Mit dreißig hatten Sie das unverschämte Glück, Lord Green vorgestellt zu werden, einem reichen und einflußreichen Engländer, den irgendein Spleen nach Australien führte. Ihre Unterhaltung, der Bericht Ihrer Abenteuer als Polizist amüsierten ihn. Er wollte sich dafür revanchieren, daß Sie ihn so angenehm unterhalten hatten. Durch seinen Einfluß fanden Sie Zugang zur Familie von Miß Joan Heart, die damals neunzehn Jahre alt war und die zu heiraten er gerade im Begriff war. Kurz, in zwei Jahren waren Sie Chef der Kriminalpolizei und Tischgenosse im Haus von Lord Green, dem Haus in der Paramata Street, das Sie jetzt bewohnen.«

Bei diesem letzten, nebenbei hingeworfenen Satz war Sir Toby bleich geworden. Sein Gegenüber schien das kaum bemerkt zu haben, denn er fuhr fort: »All das entspricht der Wahrheit, wie ich hoffe?«

»Das gebe ich zu.«

»Gut. Im übrigen bewiesen Sie Ihren Gönnern eine Anhänglichkeit, die rührend war. Vor allem als eine Familienminiatur verschwunden war, für die Lord Green einen stattlichen Preis bezahlt hatte …«

»Ich entdeckte nur den Dieb«, unterbrach Allsmine den Sprecher aufgebracht. »Ich habe nur meine Pflicht getan, und niemand dachte daran, mir deswegen einen Vorwurf zu machen.«

»Daran denkt doch niemand«, erklärte der Kapitän mit einer gewissen Ironie. »Ich will diesen Vorfall nur gebührend würdigen, denn ohne Ihr Zutun hätte man niemals daran gedacht, Joe Pritchell zu verdächtigen, einen armen und verwaisten Verwandten, den Miß Heart bei sich aufgenommen hatte und dessen Ausbildung sie großzügig bezahlte.«

Die kapuzenbedeckte Person zur Rechten des Sprechers zuckte bei den letzten Worten leicht zusammen.

»Man fand«, so fuhr der Ankläger fort, »die Miniatur bei dem sogenannten Joe, einem Kind von fünfzehn. Sie war unter seinen Sachen versteckt. Trotz des hartnäckigen Leugnens des Knaben konnte an dessen Schuld kein Zweifel bestehen. Die gute Lady wollte sich dennoch nicht von ihm trennen, allerdings gehörte er ab sofort nicht mehr zum Haushalt. Er wurde nach England zurückgeschickt, wo er noch heute wohnt.«

»Diese Einzelheiten kennt doch jeder«, sagte Sir Toby.

»Also ist es alles andere als verwunderlich, daß ich sie ebenfalls kenne, das wollen Sie damit sagen? Das ist richtig. Sie werden freilich sofort merken, daß ich auch weniger allgemein bekannte Tatsachen von Ihnen weiß.«

Die in diesem Satz versteckte Drohung verunsicherte den Angeklagten derart, daß er unwillkürlich für Augenblicke den Kopf einzog.

»Kurze Zeit später wurde die Tochter von Lord Green und Lady Joan, ein hübsches rundes Baby von vierzehn Monaten, das von den Bediensteten respekt- und liebevoll Miß Maudlin genannt wurde, Opfer eines seltsamen Leidens. Das waren Anzeichen von Mattigkeit, von Auszehrung. Die Ärzte waren unfähig, die Ursache dieser Krankheit zu diagnostizieren, und sprachen vage von der schlechten Luft in der Stadt und von der Wohltat ländlichen Daseins. Ihre Mutter, Allsmine, lebte zu dieser Zeit noch. Sie schlugen vor, ihr das Kind anzuvertrauen. Dort auf dem Land, in der Nähe des Lachlan River, so meinten Sie, würde Maudlin bald wieder zu Kräften kommen, und es wäre Ihnen angenehm, zu wissen, so sagten Sie, daß das Mädchen Ihrer Wohltäter dieselbe kräftigende Luft atmen könne, die auch Ihnen selbst Kraft geschenkt habe. Und dann bot ja Ihre brave Mutter auch Garantien, die eine Fremde nie bieten konnte. Es kam also so, wie es kommen sollte. Ihre Gründe überzeugten, und die kleine Kranke wurde Ihrer Mutter zur Genesung übergeben.«

Der Polizeichef schaute sein Gegenüber forschend an.

»Soweit, so gut. Was will man mir daraus vorwerfen?«

Der Angesprochene lachte schallend.

»Sie stellen die richtige Frage, Allsmine, aber sie ist noch ein bißchen verfrüht; ich werde rechtzeitig darauf zurückkommen. Im Augenblick fahre ich fort im Text. Das Schicksal meinte es nicht gut mit der Familie Green. Der Lord wurde kurze Zeit später bei einer Känguruhjagd getötet …, eine verirrte Kugel mitten ins Herz. Und man hat nie feststellen können, aus welchem Gewehr die todbringende Kugel abgefeuert wurde.«

»Es war ein Unfall.«

»Es war nicht der einzige. Kaum hatte sich die Witwe von diesem schrecklichen Trauerfall wieder etwas erholt, als sie ein noch schlimmerer Schlag traf. Ihre vor Entsetzen völlig aufgelöste Mutter erschien in Sydney und berichtete, daß Maudlin in den Lachlan River gestürzt sei, der reißende Strom ihren Körper mit sich gerissen und man ihn nirgends gefunden habe. Niemand hatte dem Drama beigewohnt. Ein Boot, das dazu diente, den Fluß zu überqueren, wurde kieloben treibend aufgefunden. Man schloß daraus, daß das Kind sich vom Haus entfernt habe, ins Boot gestiegen sei und wahrscheinlich das Seil, mit dem es festgemacht war, gerissen sei, was weiß ich?«

Und da Toby kein Wort erwiderte, fragte ihn der geheimnisvolle Ankläger: »Was ist Ihre Meinung über den Tod der armen Kleinen, Allsmine?«

Der Beschuldigte schien sichtlich erregt. Dennoch gelang es ihm, sich zu beherrschen und mit fester Stimme zu antworten: »Ich neige dazu, die Version zu glauben, die Sie soeben vermutet haben. Wie auch im andren Fall, so kenne ich die Wahrheit nicht.«

»Sie wollen es nicht wissen«, murmelte der Kapitän mit einem undefinierbaren Unterton in der Stimme.

Ohne sich um den Angeklagten zu kümmern, der bei diesen Worten kreidebleich geworden war, fuhr er fort: »Lady Joans Zustand war erschreckend. Vielleicht wäre ihr der Tod wie eine Erlösung vorgekommen, wenn Ihre Freundschaft«, keinem der Anwesenden blieb der ironische Unterton verborgen, mit dem er dieses Wort aussprach, »sie nicht aufmerksam umhegt hätte. Jeden Tag schauten Sie im Haus in der Paramata Street vorbei. Sie stärkten die Unglückliche mit erbaulichen Reden, ja, Sie zwangen sie geradezu gewaltsam, sich zu zerstreuen. Überall zeigten Sie sich an ihrer Seite. Bald bezeichnete Sie der öffentliche Stadtklatsch, der natürlich von Ihnen nur zu gern genährt wurde, als künftigen Ehemann der Witwe. Und kurz darauf willigte diese, an ihrem einsamen Los schier verzweifelt und durch Ihre Ergebenheit gerührt, auch ein, Ihre Frau zu werden.«

»Ich empfand für sie nur allergrößte Hochachtung«, unterbrach ihn der Polizist.

Der Kapitän schnitt ihm das Wort ab.

»Sie hatten nichts weiter als krankhaften Ehrgeiz. Die Heirat war das Ziel, auf das Sie schon lange hinarbeiteten, denn es würde Ihnen erlauben, die einflußreichen Beziehungen der Familie Green zu nutzen und so die Stellung einzunehmen, die Sie heute bekleiden. Allein Ihr Wille war Triebfeder Ihres Handelns, allein Tyrannei Ihr Gesetz.«

Mit einer Geste unterband der Sprecher mit der grünen Kapuze den Protest, den der Angeklagte auf den Lippen hatte, und fuhr mit schneidender Stimme, die wie ein Peitschenhieb in das Schweigen des Saales knallte, fort: »Ich, Korsar Triplex, klage Sie, Allsmine, folgender Delikte an: erstens im Zimmer Joe Pritchells die gestohlene Miniatur versteckt zu haben. Joe war ein heller Kopf und stand Ihnen im Wege. Zweitens das Gewehr abgefeuert zu haben, dessen Kugel den Tod Ihres Wohltäters, Lord Greens, verursachte. Auch er stand Ihnen im Wege. Drittens Maudlin Green durch einen Ihnen ergebenen Mann entführt zu haben, dem entweder Bestrafung für ein Verbrechen drohte oder die Begnadigung winkte und der nicht zögerte, sich mit der üblen Aufgabe zu belasten, das Kind zu ertränken, das seiner Mutter später eine Stütze gegen Ihr heuchlerisches Werben hätte sein können.«

Ein Schluchzen unterbrach den Sprecher. Sein Nachbar zur Rechten hatte sich halb erhoben. Seine Hände krampften sich um die Kapuze, die sein Gesicht verdeckte. Mit einer plötzlichen Bewegung wollte er sich die Maske vom Gesicht reißen, doch der Kapitän kam ihm zuvor und hinderte ihn daran. Was er jedoch nicht verhindern konnte, war, daß unter der Kapuze eine Flut blonder Haare zum Vorschein gekommen waren. Allsmine hatte den Vorfall genau verfolgt und konnte ein Gefühl der Überraschung nicht unterdrücken. Man könnte meinen, das wäre Sillys Haarflut, dachte er. Sollte der Direktor vom Centennial-Park-Hotel mit seinem Verdacht gar nicht so unrecht haben?

Sein Gesicht hatte jedoch sofort wieder den unbewegten Ausdruck wie immer angenommen, als sich sein Richter wieder an ihn wandte: »Seit Sie der Erste Beamte im Pazifik geworden sind, haben Sie ein Unrechtsregime errichtet, nach Belieben und nicht nach Recht entschieden. Sie haben erbarmungslos jene schikaniert, die Sie hätten schützen müssen. Um nur auf Ihr letztes Verbrechen zurückzukommen! Warum haben Sie diesen Ägypter namens Niari ins Gefängnis gesteckt? Nun, Sie schweigen, also werde ich für Sie antworten. Sie haben diesen Unglücklichen in Ketten gelegt, weil er für einen Verrat büßte, der an seinem ganzen Volk begangen wurde. Sie wußten sehr wohl, daß Sie damit einen Franzosen in Verzweiflung stürzten, dem die ägyptischen Intrigen völlig fremd waren. Indem Sie ihn von den Menschen fernhielten, beraubten Sie ihn seines ehrlichen Namens Robert Lavarède. Nun muß er auf ewig den des Verräters Thanis tragen.«

»Lavarède …«, murmelte Allsmine und erinnerte sich, daß dieser Name erst heute abend in seinem Beisein erwähnt worden war. Lavarède, was hatte der damit zu tun?

Der Kapitän wollte weiterreden, doch sein Nachbar zur Linken zog ihn am Ärmel. Sie flüsterten miteinander. Endlich redete der Ankläger weiter: »Wenn ich Lavarède erwähnt habe, so nur als Beispiel, daß ich noch hundert andere Namen erwähnen könnte. Aber es wird Zeit, daß wir zum Schluß kommen. Im Wissen um Ihre Verbrechen könnte ich Sie wie ein lästiges Insekt töten, aber der Stein, der Ihr Grab verschließt, würde gleichermaßen die Wahrheit mit einschließen, und ich will, daß sie jedem offenbar wird. Es ist nicht nur die Rache, die ich will, es ist die Wiedergutmachung des Übels, das Sie verursacht haben. In Ihrer Stellung sind Sie unangreifbar; jede Anklage würde sich an der Mauer brechen, mit der Sie sich geschützt haben. Man muß Sie auf die Erde herabholen, Sie absetzen. Auf dem Verwaltungswege tötet nur eine Sache wirksam: Lächerlichkeit, und somit werde ich, Korsar Triplex, Sie zur Lächerlichkeit verurteilen. Morgen werden Sie zum Gespött der Stadt geworden sein, und ich erwarte, daß Sie demnächst zum Gespött ganz Englands werden. Erst wenn man Sie ausgelacht hat, werde ich Sie richten. Und hoffen Sie nicht, daß ich es mir anders überlege. Für heute gebe ich mich damit zufrieden, Sie nur zu verspotten.« Und mit dröhnender Stimme schloß der Korsar: »Alle reden von meiner Großzügigkeit. Auch Sie verdanken mir Ihr Leben bis zu dem Augenblick, da es mir möglich sein wird, Sie der Justiz zu übergeben.«

Aus Allsmines Kehle drang kein Laut. Er hatte Angst, richtiggehend Angst. Die letzten Worte des Kapitäns hatten in seinen Ohren geklungen wie die Posaunen von Jericho. Ja, sein Feind hatte richtig gerechnet; es gab für ihn etwas, was schlimmer war als der Tod – das war die Lächerlichkeit, der Verlust seines Prestiges, die Erschütterung seiner Stellung. Und woher wußte dieser unbekannte Mensch die genauen Details, die er, der Schuldige, für ewig unter dem Tuch des Vergessens begraben glaubte? Denn alles entsprach der Wahrheit in der geißelnden Anklage des Korsaren. Alles!

In seiner ängstlichen Verwirrung glomm nur ein Hoffnungsschimmer. Man würde ihn nicht töten, sein Richter hatte das jedenfalls formell erklärt. Er würde am Leben bleiben … und könnte somit den Kampf ums Überleben wagen. Und dann diese blonden Haare, die anscheinend dem einfältigen Silly gehörten – würden sie ihn nicht auf eine Spur führen? Gaben sie ihm nicht – ihm, einem listigen, einfallsreichen Polizeiwiesel – einen Fingerzeig, der ihn zum Ende des Garnknäuels führen könnte?

Mitten in diesen Überlegungen stieß er plötzlich einen Schrei aus. Auf ein Zeichen ihres Chefs hatten sich die Matrosen auf ihn geworfen, und während ihm die einen eine Kapuze über den Kopf stülpten, banden ihm die anderen die Hände fest hinter dem Rücken zusammen.

Wieder war er blind und bewegungslos.

Wie bei der Ankunft fühlte er, daß er an den Armen gepackt wurde. Er leistete keinen Widerstand, wozu auch! Seine Wächter brachten ihn nach draußen, verstauten ihn in der Kutsche, und die nächtliche Spazierfahrt begann aufs neue.


Siebentes Kapitel Interview mit einem Gehenkten

Wieder hielt die Kutsche nach etwa einer Stunde, und der Polizeichef wurde ohne großes Brimborium aus seinem Gefängnis geholt. Er unterschied einzelne Stimmen und wurde gewahr, daß Hände seinen Körper streiften, daß Stricke um seine Brust geschlungen und unter den Armen hindurchgezogen wurden. Eine Art Kette, an der ein schwerer Gegenstand befestigt sein mußte, wurde auf seine Schulter gelegt. Plötzlich sagte eine Stimme, die er als die des Vorsitzenden des merkwürdigen Gerichts der grünen Masken erkannte: »Zieht hoch, Jungs!«

Die Kapuze wurde ihm abgenommen. Aber er hatte keine Muße, sich umzuschauen. Ein starker Stoß ließ ihn taumeln, eine unwiderstehliche Kraft zog ihn empor, seine Beine verloren den Boden unter sich, und er baumelte in der Luft. Schnelle Schritte erklangen auf dem Erdboden; undeutlich nahm er menschliche Schatten wahr, die eilends flüchteten, dann herrschte wieder Stille, unterbrochen nur hier und da vom Rauschen der Blätter im Wind oder von dem erschreckten Piepsen von Vögeln.

Verblüfft und verstört beschaute sich Sir Toby die Gegenstände, die ihn umgaben.

Er hing zwölf Fuß über der Erde. Unter seiner Brust waren starke Seile hindurchgeschlungen, die in einer gedrehten Pferdeleine endeten. Diese wiederum führte zu einem Balken, der über seinem Kopf schwebte und dessen Umrisse sich vor dem noch nachtdunklen Himmel abzeichneten. Er folgte mit den Augen diesem Holzstück und bemerkte, daß es am anderen Ende mit einem anderen Balken einen rechten Winkel bildete, der parallel zur Halteleine verlief. Allsmine wollte den Kopf drehen, um besser sehen zu können. Diese einfache Bewegung hatte zur Folge, daß sich der Polizeichef um seine eigene Achse drehte. Allsmine stieß einen Schrei aus und blickte nach oben. Die winklig zueinander angebrachten Balken bildeten täuschend echt einen Galgen, an dem er hing …

Der Anblick eines Gehenkten hat etwas Erschreckendes, und es ist besonders peinlich für einen Gentleman, dessen Beruf es im allgemeinen ist, seinen Nächsten zu henken, sich selbst im Schatten eines umgekehrten L baumeln zu sehen.

Zu der physischen Angst kam bald noch eine moralische Folter hinzu. Mit einer Logik, die bewies, daß der oberste Polizeiherr der Pazifikpolizei selbst unter extremsten Umständen noch denken konnte, schloß dieser nämlich, daß er nicht ewig zwischen Himmel und Erde baumeln könne. Nun, da es ihm unmöglich war, sich selbst zu befreien, so schloß er messerscharf, mußten das andere tun. Andere, das heißt Mitbürger, die seiner Gerichtsbarkeit unterstanden. Ihn, dessen Name allein britische Untertanen an allen Pazifikküsten erzittern ließ. Wie eine gerupfte Henne in der Luft baumelnd. Entsetzlich!

Korsar Triplex’ Worte fielen ihm wieder ein: »Lächerlichkeit tötet. Ich werde Sie durch Lächerlichkeit töten.«

Gewiß hatte sich der Kopf eines Feindes noch nie eine teuflischere Strafe ausgedacht.

Ein ungeheures Lachen, so malte sich Sir Toby entsetzt aus, würde alle Australier schütteln, wenn sein Mißgeschick bekannt würde. Sein Ansehen erhielte einen tödlichen Stoß.

Jeder andere Beamte hätte sich unter ähnlichen Umständen aufgegeben und damit abgefunden, auf den Titelseiten der Witzblätter zu fungieren; nicht so Allsmine. Er gehörte zu denen, die ein Hindernis zwar irritiert, aber auch stimuliert.

»Alles in allem«, murmelte er, sich dabei in schwindelerregender Höhe um sich selbst drehend, »kann ein überraschender Schlag alles ändern. Man ist nicht lächerlich, wenn man sich rächt. Ich halte schon ein Ende der Intrige in Händen. Silly. Silly, dessen Haarschopf ich vorhin zu erkennen glaubte. Silly, den der Patron vom Centennial-Park-Hotel zufällig erkannt zu haben meinte.« Und mit einem Lächeln bemerkte er weiter: »Das an Mr. Lavarède adressierte Billett …, noch ein Name, den man sich merken muß …, darin stand doch, daß mich der Tourist im Park in der Nähe des Cook-Denkmals treffen soll. Bin ich vielleicht gar an diesem Ort?«

Die ersten Strahlen der Morgensonne erschienen. Der Gehenkte blickte um sich. Der Galgen war inmitten eines Kreises errichtet, von dem mehrere schattige Parkwege ausgingen. Aber das dichte Blätterwerk der Bäume erlaubte nicht, allzuviel zu erkennen. In dem Maße jedoch, wie das Licht stärker wurde, konnte man durch die belaubten Zweige wie durch Fenster hindurchschauen. Undeutlich und verschwommen zeichnete sich hinter diesen »Fenstern« etwas Weißschimmerndes ab.

»Das Denkmal. Das ist die Statue!« schrie der Polizeichef. Also ist nichts verloren. Wenn ich das Glück habe, daß dieser Mister Lavarède hier ankommt, bevor mich jemand anders sieht, werde ich ihn bitten zu schweigen … Vorausgesetzt, man hat ihm im Centennial nicht ausgeredet, hierherzukommen. Das wäre für mich höchst ärgerlich, denn für mich wäre das schon ein Sieg, wenn allein er auf dem laufenden wäre. Und ohne jemandem etwas zu erzählen, nicht einmal James Pack, der natürlich hinter meinem Rücken ebenfalls lachen würde, werde ich einen Beamten beauftragen, den kleinen Silly zu überwachen. Man darf ihn nicht aus den Augen lassen. Ich fühle, daß ich Triplex auf diese Art und Weise erwischen werde. Das sagt mir mein Instinkt, und der hat mich noch nie im Stich gelassen.

Inzwischen hatte sich die Sonne über den Horizont erhoben. Ihre Strahlen erhellten die Vogelnester, und deren Insassen betrachteten voller Neugier den Gehenkten. Zweifellos wunderten sich diese Geschöpfe, einen Menschen auf einem gewohntermaßen nur ihnen vorbehaltenen Niveau zu erblicken.

Für Sir Toby begannen neue Qualen. Fünf Uhr schlug es von den verschiedenen Stadtuhren. Das langsame Verhallen der Schläge ließ ihn erneut zittern.

Wenn Mr. Lavarède kommt, dachte er, dann nicht vor sechs. Also noch eine Stunde. Vorausgesetzt, niemand entdeckt mich früher. Der Lächerlichkeit entgehen – das ist die Frage. Aber ich habe eigentlich alle Chancen auf meiner Seite. Der Park öffnet ebenfalls nicht vor sechs.

Er schüttelte den Kopf, empfand dabei allerdings einen derartigen Schmerz auf seinen Schultern, als ob man ihm einen schweren Gegenstand aufgebürdet hätte. Er senkte den Blick und entdeckte dabei ein Brett vor seiner Brust, auf dem etwas geschrieben stand. Was war das wohl für ein seltsames Schmuckstück? Indem er vorsichtig versuchte, sich an seiner Leine auszubalancieren, gelang es ihm zwar, einzelne Schriftzüge zu erkennen, doch es war in seiner Stellung – pardon! Hängung – unmöglich, sie zu entziffern. Und da er im Begriff war, durch seine Neugier wieder um die eigene Achse gedreht zu werden, mußte er diese Neugier auf später vertagen. Und allmählich kam der Beamte wieder zur Ruhe – wie ein Pendel, das geruhsam austrudelte.

Er fühlte sich steif und starr, aber es ging auf sechs zu, und das gab ihm Mut. Kurz vor sechs würden die Parktore geöffnet. Ach, wenn doch Lavarède pünktlich sein könnte!

Was wollte dieser Ausländer eigentlich von ihm? War er gar ein Verwandter von Robert Lavarède? Wollte auch er mit ihm über den Ägypter Niari reden? Das wäre eine ärgerliche Zuspitzung, denn der Korsar mit der grünen Kapuze hatte darüber wahr gesprochen.

Niari hatte sich einige Monate vorher bei der Generaldirektion der Pazifikpolizei eingefunden, das heißt bei Sir Toby höchstselbst, und ihm von dem ägyptischen Abenteuer erzählt, das aus Robert Lavarède einen Thanis gemacht hatte; und Allsmine, dem es vor allem darum ging, sich bei seinen Vorgesetzten lieb Kind zu machen, hatte den armen Teufel arretieren lassen. Seitdem schmorte er im geheimen im Fort von Broken Bay, das einige Meilen nördlich von Sydney gelegen war.

»Bah!« sagte der Beamte und verjagte diese Gedanken. »Die im Augenblick einzig interessante Angelegenheit ist die, daß Lavarède mich befreit. Danach werden wir ihn schon dazu bringen, diskret zu sein.«

Und wie um seinen Satz mit einem Ausrufezeichen zu versehen, schlug es in diesem Moment halb sechs.

»Noch dreißig Minuten Ungewißheit«, frohlockte der Gehenkte.

Doch augenblicklich schwieg er still und lauschte. Zu seiner Rechten war das Geräusch von Schritten zu vernehmen …

Wer, zum Teufel, geht denn da im Park spazieren? dachte Toby.

Und wieder lauschte er angestrengt, denn diesmal waren auch Schritte zu seiner Linken zu hören.

Noch ein Spaziergänger?

Währenddessen verstärkte sich sowohl zur Linken wie auch zur Rechten das Geräusch der Schritte. Also kamen die unsichtbaren Personen näher. Doch wer waren sie?

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Aus gegensätzlichen Wegen kommend, betraten zwei junge Männer das Rondell. Beide blond, nach der letzten Mode gekleidet, das Monokel im Auge und untadelige Handschuhe übergestreift. Charakteristisches Zeichen: Jeder hatte einen Notizblock und einen Bleistift in der Hand. Als sie sich sahen, hatten beide den gleichen Ausdruck von Unwillen auf dem Gesicht, den sie jedoch sofort wieder unterdrückten. Lächelnd gingen sie aufeinander zu und führten folgenden bizarren Dialog (den der Autor in ganzer Länge wiederzugeben als überaus glücklich ansieht, denn es sind ja gerade die Anglizismen, die ihm diese besondere Souveränität verleihen):

»Also gemeinsam, lieber Kollege?«

»Sie sagen es.«

»Die New Sydney Review hat den König der Reporter in ihren Reihen.«

»Sie zwingen mich geradewegs zu der Erklärung, daß der Kaiser der Journalisten für den Instantaneous arbeitet.«

»Zu liebenswürdig.«

»Ganz Ihrerseits.«

»Und Sie sind hier …?«

»Interview.«

»Genauso wie ich.«

»Die New Sydney Review hat also eine Mitteilung von Korsar Triplex erhalten?«

»Sie hat. Genauso wie der Instantaneous, denke ich?«

»Also, packen wir es an.«

»Packen wir es an, und ab damit zu unserer Zeitung! Und eine kleine Wette, wo es zuerst erscheint?«

Beide ließen ein fröhliches Lachen ertönen, dann verbeugten sie sich, den Hut in der Hand, voller Respekt vor dem Gehenkten, der auf solcherlei Höflichkeit nur mit einer schrecklichen Grimasse antworten konnte.

Der Polizeichef hatte sich nicht ein Wort der Unterhaltung entgehen lassen. Er hatte sofort begriffen, daß der Korsar, bevor er daranging, sich zu rächen, als erstes die Zeitungen von seiner Absicht informiert hatte. Voller Wut fühlte er, daß er diesen beiden Reportern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Noch nie war ein Interviewter in solch unvorteilhafter Position gewesen! Die Lächerlichkeit war unausweichlich. Sie würde in Tausenden von Exemplaren unter die Leute kommen. Überall würde man sich am Mißgeschick des obersten Polizisten weiden.

Er schauderte, so gut es sein Galgen erlaubte, zusammen, als er ein zweifaches Klicken hörte.

Während er noch überlegte, hatten die beiden Journalisten ihre fotografischen Gerätschaften installiert – mit denen jeder australische Reporter ausgestattet ist – und ein überaus plastisches Konterfei des Gehenkten abgelichtet.

Ohne sich weiter um die wütenden Blicke ihres Opfers zu kümmern, fragten sie ihn ausgesucht höflich: »Danke für die Liebenswürdigkeit, Sir Toby. Die Pose war sehr effektvoll. Wie geht es Ihnen heute morgen?«

»He, Leute!« sagte Toby ächzend. »Anstatt solcher Scherze würdet ihr besser daran tun, eine Leiter zu besorgen, um mich aus dieser mißlichen Lage zu befreien.«

Die so Angesprochenen lächelten.

»Das werden wir auch gleich tun, Sir. Aber es ist sehr schwierig, Sie überhaupt zu erwischen, und die Umstände lassen uns genügend Zeit für ein Interview, was wir natürlich gern nutzen wollen.«

Allsmine ächzte weiter.

»Nur eine kleine Verzögerung«, erklärten die beiden liebenswürdig. »Eine Mitteilung des Korsaren Triplex hat uns über das Geschehene informiert. Und so haben wir uns auf den Weg gemacht. Und sind über die Gitter geklettert, weil die Eingangspforte verschlossen war. Das taten wir aus drei Gründen: erstens, um ein Foto von Ihnen zu machen – das ist geschehen. Zweitens, um den Text abzuschreiben, der vor Ihrer Brust hängt. Das wird in einer Minute geschehen sein.«

Sie zückten ihren Notizblock und Bleistift und lasen laut, was Allsmine erlaubte, nun endlich den Wortlaut zu erfahren, der seine Brust schmückte:

»Korsar Triplex hätte mühelos den sogenannten Allsmine wegen seiner Verbrechen bestrafen können. Es hätte genügt, den Strick um seinen Hals zu legen statt um seine Schultern. Wenn er ihn nicht stranguliert, so aus dem einzigen Grund, diese Aufgabe der britischen Gerichtsbarkeit zu überlassen, der ganz gewiß früher oder später ein Licht über den Genannten aufgehen wird.«

»Die Sache ist notiert«, meldeten die Reporter zufrieden. »Kommen wir nun zu unserem dritten Grund, der mehr von allgemeinem Interesse ist. Wollen Sie uns bitte Ihre Eindrücke über das Hängen schildern?«

Bei diesem Ansinnen konnte Sir Toby nur schreien: »Schert euch zum Teufel!«

Aber die Vertreter der New Sydney Review und des Instantaneous waren kaum die Leute, einer solchen Aufforderung zu folgen. Zuvorkommend erklärten sie: »Nehmen Sie sich ruhig Zeit zum Überlegen, wir werden uns gedulden. Die Frage berührt ein weites Spektrum menschlicher Erfahrung, ja, ich wage zu behaupten, sie ist sogar von philosophischem Interesse. Ihre Gedanken dazu sind vollkommen authentisch. Denn wie es scheint, hatte in der Geschichte ein Gehenkter noch nie soviel Muße, über seine Impressionen zti reflektieren.«

Und da sich Allsmine in seiner ohnmächtigen Wut mit einem hartnäckigen Schweigen am besten zu wappnen glaubte, zog einer der Reporter aus seiner Tasche ein ledernes Zigarrenetui, bot erst seinem Kollegen eine Havanna an und nahm sich dann selbst eine. Friedlich pafften beide vor sich hin.

Wie groß auch immer seine Wut sein mochte, der Polizeichef begriff, daß er kapitulieren mußte.

»Meine Herren!« rief er.

Die beiden kamen sofort näher.

»Sie wünschen, Sir?«

»Auf Ihre Frage zu antworten. Aber beim Schwanze Satans, beeilen Sie sich, ich kann bald nicht mehr.«

Es war der Angestellte des Instantaneous, der die folgende Frage stellte: »Als Sie sich henken sahen, Sir, pardon – hängen, wie waren da Ihre Gedanken?«

»Unangenehm.«

»Kann ich mir denken. Aber was ich meine: Wurde Ihr Intellekt von Angst gelähmt?«

»Nein, ich war mir bewußt, daß mein Leben nicht in Gefahr war.«

Die Journalisten nickten.

»Das geht ja auch aus dem Schreiben des Korsaren hervor. Dieser Seeräuber scheint ein ehrlicher Mann zu sein«, sagten die beiden Zeitungsmänner.

Nichts war empörender für den Gehenkten als das Loblied, das diese beiden Grünschnäbel auf seinen Feind sangen. Sofort vergaß er seine erzwungene Gelassenheit und brüllte: »Er ist ein elender Schuft!«

»Pardon«, unterbrach ihn der Reporter, der die erste Frage gestellt hatte. »Er behauptet, Sie nicht Ihrer Existenz berauben zu wollen, Sie sagen das gleiche. Also ist er doch ehrlich.«

»Er ist ein Verbrecher, der zu allem fähig ist!« schrie Toby außer sich vor Wut.

»Gehen Sie, gehen Sie, Sir, ein bißchen mehr Höflichkeit. Wir können doch derart ausfallende Bemerkungen über einen ehrlichen Korsaren, der sich sogar die Mühe macht, die Presse zu informieren, nicht abdrucken.«

Allsmine biß sich auf die Lippen, um seine lästigen Frager nicht auch noch mit Beschimpfungen zu überschütten.

»Im übrigen«, so schloß der Reporter, »sind wir auch schon so gut wie am Ende unseres Gesprächs. Eine letzte Frage noch: Ist die Polizei dem rätselhaften Triplex auf der Spur?«

Man hätte wirklich vermuten können, der Frager wählte mit Absicht nur solche Fragen, die den Gehenkten am meisten in Rage bringen würden. Dennoch gab sich letzterer, dessen Glieder erbärmlich schmerzten, damit zufrieden, nur mit röchelnder Stimme zu antworten: »Nein. Bisher haben wir noch keine Hinweise.«

Als dieser Satz notiert war, ließen die Reporter Block und Stift verschwinden und wandten sich artig an Allsmine: »Wir sind Ihnen überaus verpflichtet für Ihr Entgegenkommen. Jetzt aber werden wir uns zum Parkgärtner begeben und ihn mit einer Leiter herschicken, damit Sie heruntersteigen können …«

»Nein, nein«, fiel ihnen Allsmine ins Wort. »Zu viele Leute haben mich schon gesehen; ich könnte den Anblick der Gartenarbeiter nicht ertragen.«

»Sie wünschen, daß wir die Leiter selbst herbeischaffen?«

»Wenn Sie das tun würden?«

»Wir werden es. Kommen Sie, lieber Kollege. Wir helfen Sir Toby auf den Boden der Tatsachen herab. Und dann gilt unsere Wette.«

Bald waren die jungen Reporter Allsmines Blicken auf einem Seitenpfad entschwunden …

Man kann sicher sein, daß der wider Willen Interviewte auf ihr Haupt alle Flüche angelsächsischer Deftigkeit prasseln ließ. Denn nun spürte er überall Schmerzen. In seinen abgeschnürten Gliedern stockte das Blut. Vor seinen Augen tanzten Sterne und Kreise. Die Minuten schienen ihm lang wie Jahrhunderte.

Das Geräusch von Schritten brachte ihn wieder zu sich.

»Da sind sie ja schon«, murmelte er.

Mitnichten. Der Mann, der das Rondell betrat, war ihm völlig unbekannt. Es war Armand Lavarède, der sich zu früher Stunde aus dem Bett bemüht hatte und zu dem in dem anonymen Schreiben angegebenen Treffen kam.

Der Pariser blieb beim Anblick des Galgens verblüfft stehen. Überrascht las er das Schild auf Sir Tobys Brust und murmelte: »Sir Toby Allsmine. Mein Gott! Daß die Engländer exzentrisch sind, wußte ich ja, aber nicht, bis zu welchem Grade.«

Natürlich machte diese Bemerkung den Gehenkten wieder wütend, und als sich Armand mit tiefer Verbeugung vorstellte: »Lavarède, Pariser Journalist«, nuschelte er nur unwillig: »Gehen Sie zum Teufel, Sie kommen zu spät.«

Gelassen zog der Franzose seine Uhr.

»Bitte tausendmal um Entschuldigung. Aber es ist genau sechs Uhr.«

Und wie um seine Worte zu bestätigen, schlugen die Uhren der Stadt sechs Uhr.

»Hören Sie selbst …«, fuhr er fort.

Doch Allsmine schnitt ihm das Wort ab.

»Darum handelt es sich nicht. Ich bin Opfer eines dummen Streiches geworden und rechnete mit Ihrem Kommen, bevor mein Mißgeschick in aller Munde wäre.«

»Nichts einfacher als das.«

»Zu spät. Ich sagte es schon. Zwei Reporter waren vor Ihnen da. Sie werden mich losknüpfen, aber sie werden einen sensationellen Artikel veröffentlichen.«

Lavarède lächelte.

»Bah, einen Artikel! Den kann man dementieren. Das ist Sache der Regierung.«

»Zweifellos, zweifellos«, pflichtete Allsmine bei. »Einen Artikel kann man leugnen, aber verflixt, es gibt da noch etwas anderes …«

»Etwas anderes?«

»Fotos.«

»Ich verstehe nicht.«

»Unsere Reporter haben Fotoapparate. Kurz, jeder hat eine belichtete Platte bei sich …«

»… die Sie am liebsten vernichten würden?«

»Natürlich … Aber kein Wort, da kommen sie.«

Die Vertreter der New Sydney Review und des Instantaneous betraten die Lichtung mit einer langen Doppelleiter, die sie dann gewissenhaft unter dem Galgen aufbauten.

Lavarède stellte sich vor und sagte: »Ich bin ein französischer Kollege und beglückwünsche mich genauso wie Sie zu dem ungewöhnlichen Vorfall des heutigen Morgens.«

»Ein Kollege!« riefen die Australier erfreut. »Also können wir Ihnen die Aufgabe überlassen, den Herrn Polizeichef loszuhaken. Wir müssen zu unseren Zeitungen. Sie verstehen, es geht um eine Wette …«

Armand schüttelte den Kopf.

»Zu meinem Bedauern kann ich Ihnen diesen Dienst nicht erweisen. Da ich in diesem Land ein Fremder bin, entspricht es elementarster Gepflogenheit, mich nicht in die inneren Angelegenheiten von Gerechtigkeit und Banditentum zu mischen.«

»Richtig«, erwiderten die Australier, »sehr korrekt!«

Dann klopften sie sich gegenseitig auf die Schulter.

»Die Wette muß noch ruhen. Die Leiter ist doppelt. Jeder steigt auf einer Seite hoch, und wenn Mr. Allsmine abgehängt ist, haben wir unsere Wettfreiheit wieder.«

»All right.«

Mit diesen Worten gingen die beiden zu je einer Seite der Leiter und stellten einen Fuß auf die erste Sprosse.

»Einen Augenblick, meine Herren!« rief da Lavarède.

Beide blickten ihn fragend an. Er zeigte mit dem Zeigefinger auf die beiden Fotoapparate, die die Reporter über der Schulter hängen hatten.

»Fürchten Sie nicht, daß Ihren Apparaten im Verlauf Ihrer Unternehmung etwas zustoßen könnte?«

Die Australier schienen von dieser Überlegung sehr beeindruckt.

»Doch, doch, das fürchten wir durchaus.«

Und mit synchroner Bewegung streiften sie die Lederriemen, an denen die Apparate hingen, über ihren Kopf. Sie blickten sich um und suchten ein geeignetes Plätzchen, an dem sie ihre Ausrüstung abstellen konnten, aber da bat sie schon Armand mit einem freundlichen Lächeln: »Gestatten Sie, sie solange zu halten – ein Zeichen echter Kollegialität.«

»Tausend Dank«, erwiderten die Journalisten.

Danach kletterten sie eifrig wie Eichhörnchen die Leiter hoch und bemühten sich, den halb ohnmächtigen Chef der Pazifikpolizei aus der Luft auf die Erde herabzuholen.

Keine Aufnahmen, dachte Lavarède inzwischen und lächelte verschmitzt, und ich mache mir Sir Toby zum Freund, dessen Hilfe ich brauche, um meinen armen Robert wiederzufinden. Also vernichten wir die Platten.

Vorsichtig nahm er die Platten heraus und belichtete sie. Nun gab es keine belastenden Aufnahmen mehr.

Währenddessen hatten die Reporter Allsmine unter unsäglichen Mühen befreit, die Leiter herabgetragen und auf die Erde gestellt. Nichts in Lavarèdes Gesicht verriet, daß er die Aufnahmen vernichtet hatte. Er ließ sich noch einmal kollegial die Hand schütteln, während die beiden Journalisten ab nun zu erbitterten Konkurrenten wurden.

»Zehn Pfund für den, dessen Artikel zuerst erscheint.«

»Topp!«

»Also los!«

In Windeseile waren sie hinter den Bäumen des Parks verschwunden, in dem Lavarède mit dem Polizisten allein zurückblieb.


Achtes Kapitel Beschattung

Etwa zehn Minuten lang mußte Sir Toby gerüttelt und geschüttelt und massiert werden, bis er seine Glieder wieder gebrauchen konnte. Sein Verstand war glücklicherweise ein wenig früher zu sich gekommen, so daß ihm Lavarède den einfachen und praktischen Vorgang erläutern konnte, dank dem er die Aufnahmen der Reporter wirkungslos hatte werden lassen. Dafür bewies ihm Allsmine durch ein ausgiebiges Händeschütteln, daß er beinahe wieder vollkommen Herr über seinen physischen Zustand war.

Als das geschehen war, machten sich die beiden »Freunde« auf den Weg zum Haus in der Paramata Street. Unterwegs präsentierte Armand dem Polizeichef seinen »Rapport« und erzählte ihm von der Odyssee seines Cousins Robert. Er bat ihn, im Landesinneren Nachforschungen zu veranlassen, um den Flüchtigen wiederzufinden. Mit ruhiger Frechheit versprach ihm Allsmine alles, worum er gebeten hatte, wobei er schamlos erklärte, weder von Robert, von Thanis oder Niari jemals etwas gehört zu haben.

Kurz, sie erreichten das Ziel ihres Spaziergangs und waren voneinander – das muß man gestehen – sehr angetan. Vor dem Eingang des Hauses erwartete den obersten Polizeiherrn eine Überraschung.

Inmitten einer Gruppe Beamter befanden sich Silly und James Pack. Die Ankunft Sir Tobys löste stürmisches Hallo aus. Nachdem ihn James zu seiner Freilassung beglückwünscht hatte, erzählte er seinem Vorgesetzten, daß er – wie jener auch gepackt und gefesselt – sich gegen Mitternacht an einen Pfeiler gegenüber dem Wachposten von Darling-Harbour gebunden wiedergefunden hatte. Bei seinen Schreien sei der Posten herbeigelaufen und habe ihn befreit. Sobald er frei gewesen sei, sei er zu dem Haus gelaufen, das man ihnen als Bleibe des Korsaren beschrieben hatte. Von den Beamten begleitet, die noch immer um das Haus patrouillierten, sei er ins Hausinnere eingedrungen; aber zu seiner größten Überraschung habe er feststellen müssen, daß das Haus leer gewesen sei – nicht einmal Möbel habe es darin gegeben. Er hatte alles durchstöbert, sogar die Mauern und die Fußböden abgeklopft, denn er habe sich dunkel daran erinnert, daß er durch ein unterirdisches Gewölbe geschleppt worden sei – seine Nachforschungen seien samt und sonders ergebnislos geblieben.

Was Silly betraf, den er unterwegs getroffen habe, das sei etwas anderes. Der Schwachsinnige behauptete, er sei in einen Keller gesperrt worden, wo ihm Männer mit grünen Gesichtern – zweifellos waren das maskierte Gestalten – eine üppige Mahlzeit vorgesetzt hätten. Der Junge sei darüber hergefallen, dann habe er geschlafen. Am Morgen sei er am östlichen äußersten Ende der Docks aufgewacht. Die Erinnerung an die Nacht verwischte sich bei ihm; er war sich nicht sicher, ob er das Ganze nicht nur geträumt habe.

Sir Toby hörte sich diesen Bericht ruhig an, ohne daß auch nur das leiseste Zucken in seinem Gesicht irgendeinen Verdacht verriet.

»Gut«, sagte er schließlich. »Es fehlt dem allen die Logik, aber das Wichtigste im Augenblick ist wohl, sich zu erholen. Sie, Mr. Pack, begeben sich ins Büro und erledigen die laufenden Dinge. Ich werde zwei Stunden schlafen und Sie dann ablösen.«

Nach diesen Worten schüttelte er Lavarèdes Hand und begab sich mit seinem Sekretär ins Haus. Er begleitete letzteren bis zur Schwelle des Büros, aber allein gelassen, schloß er sich nicht in seinem Zimmer ein, wie er soeben geäußert hatte, sondern strebte schnell dem Zentralbüro der Pazifikpolizel zu. Dort ließ er einen Beamten namens Dove zu sich rufen und unterhielt sich mit ihm längere Zeit. Schließlich suchte er seine Wohnung auf und verriegelte sich im Bad, duschte, parfümierte, kämmte sich. Danach fühlte er sich frisch und ausgeruht und zeigte keinerlei Spuren von Müdigkeit. Er ersetzte James Pack im Büro, der inzwischen mittels Telefon die ganze Polizei von Sydney alarmiert und auf Korsar Triplex gehetzt hatte.

Armand Lavarède hatte, nachdem er allein auf der Straße zurückgeblieben war, aufmerksam Silly gemustert. Das sanfte Gesicht des Jungen, seine Geistesschwäche waren dazu angetan, in jedermann Mitleid zu wecken. Er zweifelte nicht mehr am Erfolg seines Vorhabens. Erst gestern in Sydney angekommen, hatte er heute schon dem allmächtigen Beamten, dessen Hilfe beim Auffinden seines Cousins unentbehrlich war, einen wirklichen Dienst erwiesen. Freundschaftlich legte er den Arm um die Schultern des Jungen und fragte: »Silly, erinnerst du dich, wie du Reisende ins Centennial-Park-Hotel begleitet hast?«

»Silly begleitet oft Reisende«, erwiderte der Junge gleichgültig.

»Das bezweifle ich nicht. Aber versuch dich zu erinnern. Es war gestern.«

Silly schien angestrengt nachzudenken.

»Ach ja, gestern! Zwei hübsche junge Damen und einen Gentleman, der mir einen Shilling gegeben hat.«

»Genauso war es.«

»Und was weiter?«

»Dieser Gentleman bin ich.«

»Sie sind es vielleicht …«

»Nun, ich habe gerade erfahren, daß du diese Nacht gut gespeist hast. Würde es dir Spaß machen, heute morgen gut zu frühstücken?«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Burschen.

»Gut frühstücken, nachdem man gut zur Nacht gegessen hat«, murmelte er schließlich, als spräche er zu sich selbst, »das ist zuviel Speise für einen Tag.«

»Du möchtest also nicht?«

»Nein, nein, aber ich finde es komisch, soviel Mahlzeiten am selben Tag, und dann wieder keine an anderen.«

»Nutze die Gunst der Stunde und iß!«

Und indem er Silly, der keinerlei Widerstand leistete, unterhakte, führte er ihn zu dem Hotel, in dem er abgestiegen war.

Trotz der sehr morgendlichen Stunde warteten Aurett und Lotia schon in dem Appartement, das für sie reserviert war. Voller Freude vernahmen sie Armands Bericht von der Begegnung mit dem Direktor der Pazifikpolizei und zeigten sich voller Mitgefühl für das Schicksal Sillys. Aurett gab sogar in ihrer Großzügigkeit zu bedenken, ob man den Zurückgebliebenen nicht in ihre Dienste nehmen könne. Nach Europa zurückgekehrt, könne man ihn doch auf irgendeinem ihrer Besitztümer unterbringen und mit Aufgaben betrauen, die seinem Verstand angemessen wären. Auf jeden Fall würde er dort in Frieden leben und stets genug zu essen haben.

Aber der Bursche wies sie sanft zurück.

»Sie sind gut wie die Dame dort unten, aber Silly will nicht. Er lebt frei wie die Känguruhs in der Wüste. Er kann sich nicht daran gewöhnen, in einem Haus zu wohnen. Doch er wird sich an Sie erinnern. Es gibt Dinge, an die sich Silly immer erinnert.«

Vor soviel Hartnäckigkeit gaben die Damen auf. Gegen zehn Uhr machte sich der Kleine, nachdem er sich an exzellentem Tee, Sandwichs, Eiern im Glas und Obst gütlich getan hatte, wieder auf den Weg zum Hafen. Herzlich drückte er Armands Hand, hauchte einen Kuß auf Auretts und Lotias Fingerspitzen und verließ das Appartement, ohne daß unsere drei Reisenden versucht hätten, ihn zurückzuhalten.

»Das ist ein wilder Vogel«, sagte Lotia bei seinem Weggang, »der Käfig würde ihn umbringen.«

Lavarède und seine Begleiterinnen beschlossen, einen Stadtbummel zu machen, als ein unerwarteter Vorfall ihren Entschluß änderte.

Als Armand die Taschen seiner Jacke nach seinem Zigarrenetui durchsuchte, hielt er plötzlich einen mehrfach gefalteten Zettel in Händen. Er betrachtete ihn und rief: »Ha! Eine neue Epistel meines geheimnisvollen Korrespondenten!«

Mit diesen Worten präsentierte er seiner Frau die Botschaft, auf deren Rückseite eine Inschrift keinerlei Zweifel ließ, für wen sie bestimmt war: »Monsieur Armand Lavarède, französischer Journalist.«

»Dieselbe Schrift!« rief Aurett.

»In der Tat«, bestätigte Lotia. »Mein Gott, die erste Botschaft hat so gute Resultate gehabt, daß wir der zweiten nicht mißtrauen werden. Lesen Sie, Monsieur Lavarède, lesen Sie, ich bitte Sie.«

Die zierliche Ägypterin sprach aus, was alle dachten. Und so beeilte sich der Pariser, folgendes zu Gehör zu bringen:

Gentleman,

Sie wünschen Ihren ehrenwerten Cousin Robert Lavarède wiederzusehen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wo er sich befindet, aber ich möchte die Unruhe der jungen Dame besänftigen, die ihn liebt. Er ist nicht in Gefahr und arbeitet daran, ihr endlich seinen Namen, der nicht mehr entehrt sein wird, anzutragen. Sie können ihm dabei tatkräftig helfen. Sie waren glücklich genug, Sir Toby aus einer peinlichen Situation herauszuhelfen; er wird sich Ihnen erkenntlich zeigen müssen. Bitten Sie ihn, den Ägypter Niari aus dem Verlies freizulassen, in dem er schmachtet – aus Broken Bay. Auf diesem Wege werden Sie einen Zeugen gewinnen, der überaus nützlich sein kann.

Ihr ergebener Korsar Triplex

Die Reisenden ergingen sich in Ausrufen des Erstaunens. Diese rätselhafte Korrespondenz mit einem Unbekannten grenzte schon ans Phantastische, denn durch welche geheimen Mittel auch immer – dieser Mann war stets über ihre geheimsten Gedanken informiert.

Aber weshalb interessierte sich diese Person für den Erfolg ihrer Nachforschungen? Welche Verbindung kettete sie an diesen Korsaren, von dem alle Welt sprach, den freilich noch nie jemand gesehen hatte?

Die Fragezeichen häuften sich, die Warum hörten nicht auf, ohne daß ihnen das entsprechende Weil folgte.

Als erster fand Armand seine Kaltblütigkeit wieder.

»Meine lieben Freundinnen«, sagte er zu seinen Begleiterinnen, »eine Sache scheint mir sonnenklar. Monsieur Triplex gehört zu unseren Freunden, jedenfalls handelt er zumindest dementsprechend. Als ich mich an seine erste Nachricht hielt, habe ich mir Verdienste um das Wohlergehen des obersten Pazifikpolizisten erworben. Es ist also nur folgerichtig, wenn ich seiner neuerlichen Einladung nachkomme. Seid ihr auch dieser Meinung?«

»Oh, ich könnte mir nichts sehnlicher wünschen!« rief Lotia schwärmerisch, und ihr Teint rötete sich bei dem Gedanken, ihren Geliebten am Leben und seine Existenz nicht bedroht zu wissen. Die Augen niederschlagend, fügte sie hinzu: »Ich bitte um Pardon, vor Mistreß Aurett so gesprochen zu haben, aber ihr werdet zweifellos verstehen, daß der Gedanke …, das Gefühl …«

Sie stammelte und verlor den Faden ihres Gedankens. Aurett kam ihr mit ihrem freundlichen Lächeln zu Hilfe.

»Entschuldigen Sie sich nicht, Lotia«, sagte sie. »Sie wissen, ich würde nicht anders denken. Als ich weiland meinen Mann bei seiner kurzweiligen Reise um die ganze Welt begleitete, habe ich am eigenen Leib erfahren, daß man mehrere Kilometer in den Beinen haben muß, um einen Lavarède endlich vor den Traualtar zu kriegen. Das ist eine Familie von Wandervögeln.«

»Ohne jedoch fliegen zu können«, sagte der Journalist.

»Pardon, denken Sie an den Zwischenfall mit dem Fesselballon, liebster Gatte?« Und entschieden fügte sie hinzu: »Nun, Monsieur Ehemann, Sie werden gebeten, sich unverzüglich zu dem Monsieur Obersten Dingsbums der Polizei zu begeben und ihm Triplex’ Gesuch zu präsentieren.«

Ohne weiteres Zögern machte sich Lavarède auf den Weg in die Paramata Street.

Der Wächter vor Sir Tobys Tür hatte am Morgen Armand in Begleitung seines Meisters gesehen und ließ ersteren ohne pförtnerische Umständlichkeit eintreten, er begnügte sich mir damit, sein Kommen mittels einer elektrischen Klingel anzuzeigen. Wenig später führte ein Dienstbote den Besucher in ein kleines, dem Schreibbüro benachbartes Zimmer, in dem Allsmine arbeitete.

Beim Eintritt des Franzosen erhob sich der Polizeichef lebhaft und schüttelte Armand die Hand.

»Entzückt, Sie zu sehen, Mr. Lavarède, ich bitte Sie, nehmen Sie Platz. Ich rechnete nicht damit, Sie innerhalb so kurzer Zeit schon wiederzusehen.«

»Ich hätte auch nicht gewagt, Sie zu stören«, entgegnete der Journalist, »wenn der Grund nicht so ernst wäre.«

»Und dieser Grund wäre?«

»Nehmen Sie ihn selbst zur Kenntnis.«

Mit diesen Worten reichte er seinem Gegenüber den Brief von Korsar Triplex.

Toby las ihn langsam, zweifellos wollte er sich Zeit zum Überlegen lassen, denn sein Gegner warf ihm da einen schweren Brocken zu, der schwierig zu verdauen war – das heißt, er mußte eine glaubwürdige Antwort für Lavarède finden. Mit gespielter Offenheit erklärte er dann: »Bei meiner Ehre, Verehrtester, ich muß Ihnen gestehen, daß Ihr Korrespondent besser unterrichtet ist als ich – vorausgesetzt, die Information stimmt. Aber ich will nichts unversucht lassen, Sie zufriedenzustellen. Ich schlage Ihnen folgendes vor. Kommen Sie morgen früh gegen acht Uhr zu mir. Ich werde mit gesattelten Pferden auf Sie warten, und wir werden uns gemeinsam nach Fort Broken Bay begeben, ein einfacher Spazierritt von etwa zwanzig Kilometern. Wir werden uns die Gefangenen zeigen lassen, und wenn dieser Niari, für den Sie sich interessieren, unter einem anderen Namen zufällig infolge eines Deliktes, das von einem meiner Untergebenen verfolgt wurde, dort inhaftiert sein sollte, so verpflichte ich mich, ihn unverzüglich in Ihre Hände zu geben.«

Der Ton des Polizisten war so überzeugend, sein Gesichtsausdruck so wohlwollend, daß Lavarède auf die falsche Freundlichkeit hereinfiel. Er dankte ihm wärmstens für die versprochene Hilfe und zog sich dann diskret zurück, nicht ohne zuvor noch versichert zu haben, am nächsten Morgen pünktlich zu sein. Er hatte schon den Türgriff in der Hand, als ihn Allsmine zurückhielt.

»Apropos«, sagte er, »haben Sie keinen Verdacht, wer Ihnen dieses Schreiben zugesteckt hat, das mir die Ehre Ihres Besuches beschert?«

»Meiner Treu, nein. Ich habe es in der Tasche meiner Weste gefunden.«

»Sie hatten diese Weste heute morgen an?«

»Nein, nein. Warten Sie, ich bin mit dem kleinen Silly zu mir gegangen …«

Bei der Erwähnung dieses Namens lief ein Zucken über Tobys Gesicht.

»Silly«, wiederholte er.

»Oh!« sagte der Pariser unbefangen, »das Kind kann man kaum beschuldigen, denn es rechnete gar nicht damit, ins Hotel zu kommen. Ich selbst habe ihn aus Mitleid zu einem guten Frühstück eingeladen.«

»Es käme also eher jemand in Betracht, der zum Personal des Hauses gehört?«

»Das schiene mir wahrscheinlicher.«

»Letztlich unerheblich. Wir werden morgen weitersehen.«

Mit diesen Worten verabschiedete er Lavarède, der die Tür hinter sich zuschnappen ließ. Hätte er jedoch die Idee gehabt, durchs Schlüsselloch zu schauen, als die Tür ins Schloß gefallen war, dann wäre er über die Haltung Allsmines wohl mehr als erstaunt gewesen.

Der Beamte, der seinen Zorn bisher gezügelt hatte, ließ diesem nun freien Lauf. Wütend trommelte er mit den Fäusten auf dem Schreibtisch herum; seine Augen funkelten, und aus seinem Mund kamen röchelnde Laute, die von kurzen, abgehackten Beschimpfungen unterbrochen waren: »Dieser Silly … Kein Zweifel …, steckt mittendrin … Genieß nur deine letzten Tage, Kleiner …« Und etwas ruhiger fügte er hinzu: »Bald habe ich dich und deine Komplizen dazu. Das ist ein Duell auf Leben und Tod. Wer sind die Leute, die mein Leben kennen? Das muß ich rauskriegen, dann kann ich sie stumm machen. Dove ist sehr geschickt …, er wird Silly überwachen. Heute, spätestens morgen habe ich das Ende des Knäuels in Händen. Und wenn ich es habe, dann finde ich auch das andere Ende.« Plötzlich schlug er mit der Faust wieder wütend auf den Schreibtisch und brüllte: »Und dieser Gimpel von einem Franzosen, der sich einbildet, ich würde ihm Niari rausrücken … Ha! Ich werde doch nicht die Interessen Englands in Ägypten aufs Spiel setzen. Dieser Rotweinschlucker! Morgen gibt es keinen Niari mehr in Broken Bay. Ich werde ihn woandershin verlegen.«

Mit einer ungeduldigen Bewegung drückte er auf einen Knopf. Fast augenblicklich öffnete sich die Tür, und James Pack erschien.

»Sie?« rief Sir Toby überrascht. »Ich dachte, Sie seien im Bett.«

Der Sekretär schüttelte den Kopf.

»Dort war ich auch, aber dann kam mir der Gedanke, daß Sie mich nach den Ereignissen der vorhergehenden Nacht vielleicht doch brauchten. Ein Dampfbad und eine Massage haben mir zehn Stunden Schlaf ersetzt, und nun bin ich frisch für Ihre Befehle.«

»Sie haben weise gehandelt«, erwiderte Sir Toby, »denn ich brauche Sie tatsächlich. Triplex ist wieder zugange, er hat Mr. Lavarède davon in Kenntnis gesetzt, daß der Ägypter Niari in Broken Bay inhaftiert ist.«

»Nicht möglich!« James Pack tat erstaunt.

»Doch, doch; der Beweis ist ja, daß Mr. Lavarède eben von mir weggegangen ist.«

»Sie haben geleugnet?«

»Völlig. Ich habe diesem Weltenbummler sogar vorgeschlagen, morgen mit mir nach Broken Bay zu kommen und sich selbst zu überzeugen …«

James murmelte: »Nicht möglich …, begreife ich nicht.« Dann schlug er sich vor die Stirn. »Oh, ich bitte um Verzeihung«, sagte er laut. »Sie wollen den Gefangenen verlegen lassen.«

»In das Gefängnis von Sydney, jawohl.«

Allsmine nahm ein Schriftstück vom Schreibtisch.

»Hier ist die Order. Bringen Sie sie ins Zentralbüro der Polizei, damit man den Gefängnisdirektor von Broken Bay durch einen Boten informiert, daß er Niari dem Gefängnis von Sydney überstellen soll.«

»Geschieht sofort«, antwortete der Bucklige, wobei seine Augen blitzten, was allerdings Allsmine nicht auffiel. Dann verließ er das Büro seines Chefs.

Gewissenhaft erledigte er seinen Auftrag. Danach schlenderte er, die Hände in den Taschen seiner Hose, wieder zur Paramata Street zurück. Plötzlich glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Auf dem zu dieser Stunde wenig belebten Kai entdeckte er zwei Spaziergänger, die unzweifelhaft seinen Weg kreuzen würden. Der eine war Silly, der noch zerstreuter und in sich gekehrter schien als üblich. Der andere, der dem Burschen in fünfzig Schritt Abstand folgte, schien ein Arbeiter zu sein.

Der Einfältige trottete auf James Pack zu, erkannte ihn und kam auf ihn zu.

»Guten Tag, Mr. Pack.«

»Tag, Kleiner.«

Der Arbeiter war vor einem Schiff stehengeblieben, das beladen wurde.

Der Junge deutete mit einer Kopfbewegung nach ihm und flüsterte James Pack zu: »Der Kerl beschattet mich.«

»Sicher Befehl von Allsmine«, erwiderte James. »Was ich befürchtet habe, ist eingetreten. Die Briefe im Centennial-Park-Hotel, die Haare unter der Kapuze … Er hat Verdacht geschöpft. Silly, du mußt noch heute abend verschwinden.«

»Ich werde auch verschwinden. Aber wegen dieser Klette ist es mir unmöglich, sie zu warnen.«

»Ich werde sie statt deiner warnen.«

»Danke, James …«

Der Junge seufzte, seine Augen wurden plötzlich feucht.

»Es wird mir nicht leichtfallen ohne Sie.«

»Mir auch, Silly. Aber ich hoffe, daß unsere Beweise bald ausreichen werden.«

»Bald«, wiederholte der Junge und lachte hinter tränenfeuchten Augen. »Sie hoffen demnach, James …«

»Ja, Silly.«

»Und dann bleiben wir zusammen?«

Bei dieser Frage überflog ein schmerzlicher Zug das Gesicht des Sekretärs, und seine Stimme klang ernst, als er erwiderte: »Das hängt vom Willen eines anderen ab, dem du und ich gehorchen müssen.«

Silly nickte, und James Pack sagte: »Also, Silly, mach’s gut und gib die Hoffnung nicht auf. Und denk an heute abend, ich werde sie benachrichtigen.«

Mit einem Abschiedsgruß setzte der Bursche seinen Weg fort. Und auch der Arbeiter riß sich von der interessanten Betrachtung der Frachtverladung los und setzte seinen Weg ebenfalls fort. Als er an Pack vorüberging, grüßte er ihn mit einem unmerklichen Nicken. Der Bucklige tat es ihm gleich und murmelte im Weitergehen vor sich hin: »Der gute Dove von der Brigade F. Diese Polizisten können sich eben nur als Polizisten verkleiden.«

Mit dieser durch nichts zu widerlegenden Behauptung schlenderte er gemächlich weiter. Dennoch hielt er, als er an der äußersten Ecke des Hafenbeckens angekommen war, inne und schaute angeekelt auf das trübe, brackige Wasser. Dann verschränkte er dreimal die Hände im Nacken, streckte sich und gähnte.

Danach kehrte er in Allsmines Domizil zurück. Der übrige Tag verging mit der eintönigen Beschäftigung, die ein Polizist eben so hat.

Es wurde Abend.

James Pack packte seine Sachen zusammen und wollte gehen, aber er verspürte eine ungewohnte Trägheit. Vielleicht war es die Müdigkeit? Denn die vorhergehende Nacht war aufregend gewesen, und der menschliche Körper, so widerstandsfähig er auch sein mag, bedarf ausreichender Nachtruhe.

Er verabschiedete sich gerade von Sir Toby, als Dove eintrat.

»Was Neues?« fragte der Polizeichef.

»Der Junge hat sich für die Nacht ein Boot gemietet.«

»Ein Boot?«

»Ja, er hat erklärt, er wolle nachts außerhalb des Hafens fischen, in der Nähe der Jackson-Spitze.«

»Er wird doch nicht spitzgekriegt haben, daß Sie ihn überwachen, Dove?«

»Da könnt ich bei meiner Polizistenehre drauf schwören.«

»Und was sagen Sie zu dem Ort?«

»Daß er mit seinen Komplizen Verbindung aufnimmt.«

Sir Toby rieb sich die Hände, dann klopfte er Pack freundschaftlich auf die Schulter.

»Wir werden auch diese Nacht nicht schlafen, Mr. Pack. Ich lade Sie ein, bei mir zu essen. Und Sie, Dove, lassen die große Zollschaluppe klarmachen, komplette Besatzung, und erwarten uns Punkt acht Uhr am Pier dreiundzwanzig von Farm-Cove.«

»Aber was ist denn passiert?« fragte der Sekretär mit einem verblüfften Gesichtsausdruck, wie er verblüffter nicht gespielt sein konnte.

»Das werden Sie sehen, wenn es soweit ist. Bis dahin denken wir nur ans Essen.«

Und während sich Dove entfernte, betraten die beiden Männer das Speisezimmer. Mrs. Allsmine saß schon an ihrem Platz. Sie zeigte keinerlei Erstaunen, als ihr Mann ihr mitteilte, daß James ihr Gast sei. Der Sekretär bemerkte, daß sie gerötete Augen hatte. Der Polizeichef hatte dieselbe Beobachtung gemacht und bemerkte in wenig galantem Ton: »Was ist mit Ihren Augen, Joan? Haben Sie geweint?«

»Das habe ich, mein Freund, aber kümmern Sie sich nicht weiter darum, ich werde es in Ihrer Gegenwart nicht tun.«

»Na, na!« entgegnete Toby. »Es ist zwar schön, sich zu erinnern, doch traurige Erinnerungen müssen auch mal ein Ende haben. Ich könnte wetten, daß Sie sich wieder vor dem Bild Ihrer kleinen Tochter ausgeweint haben. Wenn das so weitergeht, werde ich das Bild entfernen müssen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist es nicht.«

»Was dann?«

»Dieses Kind, das wir gestern gesehen haben …«

»Silly?«

»Ja. Er muß wiederkommen. Es wäre mir sehr angenehm, ihn wiederzusehen. Daran wird man ihn doch wohl nicht hindern?«

Ein spöttisches Lächeln huschte über Sir Tobys Gesicht.

»Aha, es ist der Bengel, der Sie beschäftigt. Ich wundere mich über eine so plötzliche Sympathie; aber wenn Sie ihn zu sehen wünschen, so werde ich Ihnen das Vergnügen gern machen. Morgen steht es Ihnen frei, ihn nach Belieben zu mustern, und er wird sich nicht wieder entfernen.«

Fragend betrachtete sie ihren Mann und versuchte, hinter den versteckten Sinn seiner Worte zu kommen, doch er fügte jovial hinzu: »Sie haben sehr wohl verstanden, was ich gesagt habe. Fragen Sie nicht weiter. Ich hüte mein Geheimnis. Und jetzt genug lamentiert, alles bereit zur Freude! Puff over!«

»Ja. Puff over!« wiederholte James in seltsamem Ton. »Puff over!«

Er verbeugte sich vor Joan Allsmine.

»Entschuldigen Sie, Madam, wenn ich mir herausnehme, etwas zu bemerken. Aber ich denke genauso wie Mr. Allsmine, daß die Freude die Trauer verjagen wird.«

Sie betrachtete ihn erstaunt. Obwohl sie Pack schon lange kannte, war es das erstemal, daß er außerhalb des Dienstes das Wort an sie richtete. Es war das erstemal, daß sie glaubte, in seinen Worten ein Mitgefühl über ihr Schicksal herauszuhören.

Sie lächelte Pack zu und sagte: »Nun gut, wenn Sie meinen. Puff over!«

Sir Toby schien von dieser Bereitschaft, fröhlich zu sein, schier entzückt. Sie speisten, und dann verabschiedeten sich die beiden Männer von Lady Allsmine. In warmes Zeug gehüllt, verließen sie das Haus und strebten den Kais von Farm-Cove zu.

An der Treppe zum Pier 23 blieben sie stehen und spähten aufs Wasser. Sie meinten die dunklen Umrisse eines Bootes zu erkennen. In diesem Augenblick ertönte es von unten: »Sind Sie das, Euer Ehren?«

»Dove ist auf seinem Posten«, murmelte der oberste Polizeiherr. Und dann rief er: »Ich bin es, Dove. Ist alles bereit?«

»Ja, Euer Ehren.«

»Dann laßt uns einsteigen.«

Der Polizeichef und sein Sekretär stiegen die steilen Stufen hinab, sprangen in das bereitliegende Boot und setzten sich auf die hintere Sitzbank. Sechs Männer saßen an den Riemen; aber es war eine seltsame Besatzung, denn jeder trug einen Karabiner. Die Waffen wurden unter den Bänken verstaut. Dann legte Dove die Hand an die Mütze und fragte: »Was haben Euer Ehren für Befehle?«

»Wir rudern entlang den Kais, dann der Küste, aber so, daß wir im Schatten bleiben. Noch ist der Mond zu hell für uns.«

»Sehr wohl. Übrigens kenne ich an der Jackson-Spitze eine Reihe von kleinen Buchten, wo man sich gut verstecken kann, ohne daß man uns bemerkt.«

»Also los dann.«

»Legt ab!« kommandierte Dove.

Und von den sechs Rudern bewegt, glitt das Boot leicht übers Wasser, eine gekräuselte silbrige Spur im Kielwasser zurücklassend.

Sir Toby hatte recht. Der Himmel war klar und der Mond voll. Das Boot blieb im Schatten der Kais und bewegte sich schemengleich über die Wasseroberfläche. Niemand sprach. Allein das Eintauchen der Ruderblätter war zu vernehmen.

Bald hatten sie die Hafeneinfahrt erreicht und gelangten in die offne See. Hier war die Dünung stärker, und sie kamen schneller voran. Im Norden zeichnete sich etwa zwei Meilen vor ihnen die felsige Linie der Jackson-Spitze ab. Bis dorthin mußten sie eine Wasserfläche überqueren, die vom Mondlicht hell beschienen wurde, doch störte das Allsmine wenig, denn wenn Silly fischte, so geschah das sicher jenseits der Felsenspitze; und da sein Boot nirgends auszumachen war, war es so gut wie sicher, daß er jene nicht sehen konnte, die sein Vorhaben überwachten.

In einer Viertelstunde befand sich die Schaluppe im Schatten des felsigen Ufers und folgte dieser Linie bis zum Ende der ins Wasser hineinragenden Felsenhalbinsel. Je mehr sie sich dem Ziel näherten, desto langsamer tauchten die Ruderer die Riemen ins Wasser. Wie Dove angekündigt hatte, verlief hier der Küstenstreifen als eine felsige Linie. Unaufhörlich von den langen Wellen des Pazifiks ausgehöhlt, war dieser Felsen zerklüftet und gespalten und bildete eine Reihe von Vorsprüngen und kleinen Buchten. Ein Mann saß vorn im Boot und gab die Richtung an, denn wie leicht konnten sie auf ein Felsenriff auflaufen.

Immer weiter stießen sie vor, bis das Boot die äußerste Spitze erreicht hatte. Plötzlich hoben sich mit einem Ruck die Ruder in die Höhe.

»Was ist?« fragte Sir Toby.

Ein Matrose antwortete: »Die fragliche Sache. Quer vor uns.«

Der Direktor blickte in die angegebene Richtung und nahm in einer Entfernung von knapp zweihundert Metern ein Boot wahr, das sich schwarz von den silbrigen Fluten des im Mondlicht spiegelnden Wassers abhob. In ihm saß ein Mensch, und er hatte keine Schwierigkeit, diesen zu erkennen. Das war der schwachsinnige Silly, der sich allem Anschein nach der beruhigenden Beschäftigung des Angelns hingab.

Die Schaluppe befand sich im schattigen Dunkel eines Felsenriffs, das wie ein Posten die Klippen bewachte. Ein Anker wurde herabgelassen. Nun brauchte man nichts weiter, als abzuwarten.

Es wurde eine lange Wache. Ohne zu ahnen, daß spähende Augen jede seiner Bewegungen verfolgten, widmete sich Silly seinem Zeitvertreib. Zeitvertreib ist nicht das richtige Wort, eher müßte man Broterwerb sagen, denn schon oft hatte sich der Bursche von der Beute seines Fanges ernährt. Von Zeit zu Zeit riß er die Angel aus dem Wasser, an der etwas silbrig Glänzendes zappelte. Dann warf er die Beute ins Heck seines Bootes; das Aufklatschen des Fischleibes tönte bis zu den Polizisten; dann befestigte der Junge einen neuen Köder an seiner Angel und widmete sich wieder der geduldigen Aufgabe.

Das ging sechs Stunden so.

Von dieser bisher ergebnislosen Beobachtung eingeschläfert, feuchteten Allsmine und Pack ihre Kehle hin und wieder mit Whisky an, den sie mitgenommen hatten. Die bauchige Metallflasche machte auch bei den Matrosen ihre Runde.

Währenddessen verfolgte der Mond am Himmel seine Bahn. Unmerklich wanderten die Felsschatten und erreichten bald die Stelle, an der Silly »arbeitete«. Schließlich hatte der dunkle Streifen das Boot völlig eingehüllt, so daß Boot und Bursche unsichtbar wurden. Eine halbe Stunde dauerte das etwa, dann war der Schatten weitergewandert und gab den Blick auf das Boot wieder frei.

»Beim Schweife Satans«, brummelte Allsmine, nachdem er die Stelle lange betrachtet hatte. »Ich sehe zwar das Boot, aber wo ist der Insasse?«

»Er wird sich im Boot zum Schlafen ausgestreckt haben«, erwiderte Pack. »Es passiert oft, daß ihn Schiffer so angetroffen haben.«

»Es gibt wirklich mehr Glück als Verstand für die Schwachsinnigen«, bemerkte Sir Toby. »Ein normaler Mensch würde gewiß Opfer eines Unfalls, wenn er derartig unvorsichtig wäre.«

Die Schaluppe war zu weit entfernt, als daß Silly diese Beobachtung hätte bemerken können, er blieb weiter unsichtbar. Und die Wache ging weiter.

Im Osten dämmerte es bereits. Allmählich machte der Chef der Polizei seinem Ärger Luft. Wieder hatte er eine ganze Nacht ohne Resultat zugebracht. Er war erzürnt. Sollte Korsar Triplex auch diesmal wieder die Lacher auf seiner Seite haben?

Wütend befahl er: »An die Ruder!«

Schläfrig kamen die Ruderer dem Befehl nach, doch Pack fragte sofort: »Wir kehren in den Hafen zurück?«

»Nein«, belferte Sir Toby, »wir halten geradewegs auf diesen Kahn zu. Wir werden den Kerl festnehmen. Einmal im Gefängnis, werde ich ihn schon dazu bringen, endlich den Mund aufzumachen, um zu hören, was wir wissen wollen.«

»Sie denken also noch immer, daß der Korsar mit diesem Kind unter einer Decke steckt?«

»Genau das denke ich.«

Auf ein Zeichen hin tauchten die Ruder gemeinsam ins Wasser, und das Zollboot schoß, so schnell es die kräftigen Arme der Männer zuließen, auf den verdächtigen Anglerkahn zu.

Bald befanden sich die beiden Wasserfahrzeuge Bord an Bord nebeneinander.

»Hoch mit dir, Bursche!« schrie Allsmine. »Auf! Kratz dein bißchen Grips, das du noch im Schädel hast, zusammen, um mit mir zu reden.«

Der rüde Ton blieb ohne Resultat. Sir Toby stieß einen Schrei aus, als er sich über die Bordwand beugte.

Das Boot war leer. Silly war verschwunden!


Neuntes Kapitel Lotia findet ihr Lächeln wieder

Was war dem Jungen zugestoßen? War er ins Wasser geglitten? Hatten ihn die Fluten, diese gewaltigen Menschenfresser, gar verschlungen? Es blieb ein Geheimnis!

Das Zollboot mußte zum Hafen zurück. Es hatte das verlassene Boot im Schlepptau. Die Ruderer waren niedergeschlagen. Abergläubische Furcht lag auf ihren Gesichtern, und manch einer schaute mit ängstlichem Blick zu den Ufern der Bucht und erwartete, Korsar Triplex, in eine Wolke aus Rauch und Feuer gehüllt, auftauchen zu sehen.

Ganz entschieden nahm der Feind von Sir Toby immer mehr die Ausmaße einer Legende an. Für die einfachen und gläubigen Männer der Mannschaft war nur er es gewesen, der den armen Silly hatte verschwinden lassen. Magie und Wunderglaube vermischten sich. Zauberei hatte bewirkt, daß sich Silly in Luft auflöste.

Nicht minder besorgt zeigte sich auch der Chef der Polizei. Wieder einmal war seine Absicht zunichte gemacht worden. Der rote Faden, der ihm in diesem geheimnisvollen Kampf als Richtschnur dienen sollte, war zerrissen. Mehr als die anderen Male zuvor tappte er im dunkeln. Wut und Angst zerrten an seinen strapazierten Nerven.

Was sollte er jetzt tun? Welches neuerliche Unglück erwartete ihn wohl?

Und mit einemmal erinnerte er sich wieder an das Treffen mit Armand Lavarède, das für diesen Morgen vereinbart worden war. Ohne Muße zu haben, sich zu erholen, ein wenig Ordnung in seine Gedanken zu bringen, mußte er zu Pferd den Franzosen nach Broken Bay begleiten, um ihm zu beweisen, daß der Ägypter Niari dort nicht interniert war.

Zweifellos würde das ein angenehmer Spazierritt werden, dem er sich unbeschwert widmen würde, denn der Gefangene war des Nachts entsprechend seinem Befehl nach Sydney transportiert worden, doch hätte Allsmine es gern vorgezogen, allein zu bleiben und ein wenig nachzudenken.

Ach, die Ereignisse folgten zu unmittelbar aufeinander! Jetzt war es unmöglich, die Exkursion zu verschieben. Schließlich hatte ihm Lavarède ja einen unschätzbaren Dienst erwiesen, als er die Platten vernichtet hatte, die ihn der Lächerlichkeit preisgegeben hätten.

Die Schaluppe legte am Kai an, an derselben Stelle, von der sie abgelegt hatte. Allsmine und James Pack sprangen an Land, während Dove die Matrosen entließ, die auch sofort machten, daß sie nach Hause kamen, wo sie, bevor sie eine verdiente Mahlzeit zu sich nahmen, nicht versäumen würden, des langen und breiten ihren Frauen, ihren Nachbarn, ihren Freunden und Bekannten die Ereignisse der Nacht zu schildern. Und das in den glühendsten Farben.

Jedenfalls war es gegen acht Uhr, als sich Sir Toby und Armand Lavarède nach einem kräftigen Handschlag anschickten, in die Sättel ihrer Pferde zu steigen, stadtbekannt, daß Silly vor den Augen der Polizei von einem Ungeheuer, das aus der Meerestiefe aufgetaucht wäre und dessen Augen wie Scheinwerfer gestrahlt hätten, entführt worden war.

Allsmine wußte von dieser Legende noch nichts. Neben Armand reitend, durchquerte er mit ihm die Stadt, wobei ihnen eine kleine Eskorte von Polizeibeamten folgte. Bald hatten sie den Vorort Richmond hinter sich gelassen und schwenkten in die Broken-Bucht ein, die von dem Fort beherrscht wurde, zu dem die Reiter unterwegs waren.

Der Journalist war von der Freundlichkeit Sir Tobys sehr beeindruckt und entschuldigte sich bei ihm für den Aufwand, den er ihm bereitete, doch Toby, der froh war, daß nach dem mißglückten Vorfall mit Triplex wieder jemand nett zu ihm war, tat es mit den Worten ab: »Reden Sie nicht weiter darüber, ich bitte Sie, es ist mir ein Vergnügen.«

Nun, vielleicht war es das wirklich, denn die aufgehende Sonne hatte das Land mit einem goldenen Schimmer überzogen, der Allsmines Gemüt außerordentlich wohltat. Einmal würde er den Korsaren doch besiegen. Einmal würde der doch eine Unvorsichtigkeit begehen. Nichts macht nachlässiger als stetiger Erfolg! Und feierte er nicht in diesem Augenblick einen ersten Sieg, indem er die Pläne seines Gegners vereitelte, der versucht hatte, den französischen Journalisten auf Niari anzusetzen, diesen belastenden Zeugen, der fähig wäre, Roberts Identität zu beweisen. Diesmal würde er triumphieren. Puff over!

Aber die Freude sollte nicht von langer Dauer sein. Der Weg führte über einen bewaldeten Hügel. Kurz bevor sie sich dem Wäldchen näherten, hörten sie Stimmengewirr. Das war eine Mischung aus Stöhnen, Seufzen und verschreckten Ausrufen. Man hätte meinen können, Menschen erflehten etwas, was andere ihnen verweigerten. Neugierig geworden, gaben die Reiter ihren Pferden die Sporen. Sie ritten um einen Eukalyptushain, der wie eine Halbinsel auf den Weg ragte, und da bot sich ihren Augen ein bizarres Schauspiel.

Auf dem Weg palaverte eine Bauernmenge, wobei sie die Arme emporreckte und sich in umständlichen Erörterungen erging, sich jedoch in respektvoller Entfernung eines Dutzends von Individuen hielt, die wie Polizisten gekleidet und sorgfältig und gewissenhaft an die Bäume am Wegrand gebunden waren. Die Festgebundenen baten mit flehentlicher Stimme die Landleute, sie doch ihrer Fesseln zu entledigen, was letztere entschieden ablehnten. Die neu Hinzugekommenen begriffen auch sehr schnell, weshalb. Über dem Kopf eines jener Unglücklichen war mit einem Dolch ein weißer Karton am Baum befestigt, auf dem sich folgende schwarze Schrift abhob:

»Daß sich ja keiner untersteht, jene anzurühren, die Korsar Triplex bestraft hat! Der Polizeichef selbst wird heute morgen auf diesem Weg entlangreiten. Ihm soll es obliegen, seine Angestellten zu befreien. Mag er auch diesmal seine Ohnmacht erkennen, die Pläne von Triplex zu durchkreuzen. Friedlichen Passanten garantiere ich Hilfe, Schutz, Freundschaft. Schmach über die, die meine Befehle mißachten!«

Beim Anblick Allsmines, der in der Gegend wohl bekannt war, verstummten die Stimmen.

Der Polizeichef gab ein Zeichen. Daraufhin stiegen die Männer seiner Eskorte ab, liefen zu ihren Kameraden und schnitten jenen die Stricke durch.

Kaum war das geschehen, so näherte sich Sir Toby verlegen ein schon älterer Korporal, der der Anführer der Opfer des Korsaren zu sein schien, schlug die Hacken zusammen, legte die Hände an die Hosennaht und wartete darauf, daß ihn sein Vorgesetzter über das Vorgefallene befragte.

»Was tun Sie denn da?« fragte letzterer stirnrunzelnd.

»Ich habe starke Beschwerden, Euer Ehren. Der Stamm eines Eukalyptusbaumes ist weniger weich als eine gute Wollmatratze, und mein Rücken hatte fast acht Stunden das Vergnügen.«

»Das glaube ich gern. Aber wer hat denn Sie und Ihre Männer in diesen beklagenswerten Zustand versetzt?«

Der Korporal wies auf das Schild.

»Möge Euer Ehren lesen. Der Kerl verheimlicht seine Aktionen nicht. Und wenn ich behaupte, daß wir noch am Leben sind, so nur, weil er es so wollte. Sonst hätte er uns genauso leicht töten können wie an diese Bäume zu fesseln.«

»Was ist denn überhaupt geschehen? Welchen Grund hatten Sie, sich hier aufzuhalten?«

»Ein Befehl des Gefängnisdirektors von Broken Bay.«

»Was!« schrie Armand auf. »Wir selbst sind auf dem Wege zu ihm. Wie sich das trifft!«

Sir Toby war zusammengezuckt. Plötzliche Blässe überzog sein Gesicht, und in schneidendem Ton erwiderte er: »Begleiten Sie uns bis Broken Bay. Dort werden wir die Angelegenheit klären.«

»Wie es Euch gefällt, Euer Ehren«, brummelte weise der Korporal. »Unterwegs kann ich Euch ja den ganzen Vorfall der Reihe nach erzählen.«

Armand unterstützte ihn.

»Er hat recht«, sagte er. »Falls Sir Toby nichts dagegen hat, würde ich meinerseits sehr gern wissen, warum man in Australien Polizisten wie Schutzringe an Bäume bindet. Kommt Ihnen das nicht auch merkwürdig vor, Sir Toby?«

Da der Polizeichef, dem das alles sehr peinlich sein mußte, darauf nichts erwiderte, wertete der alte Korporal dieses Schweigen als Zustimmung und begann langsam und umständlich zu erzählen: »Gestern abend sagte Mr. Goldblow zu mir …«

»Wer ist Mr. Goldblow?«

»Der Gefängnisdirektor von Broken Bay.«

»Ah ja, fahren Sie fort, fahren Sie fort …«

»Also, gestern abend sagte Mr. Goldblow zu mir«, fuhr der Korporal fort, »›Alber‹, so heiße ich, ›Alber‹, so sagte er, ›nehmen Sie sich zehn Männer, und schaffen Sie einen Gefangenen nach Sydney!‹ – ›Zehn Männer!‹ rief ich, ›wo soll ich denn zehn Männer hernehmen?‹ – ›Sie warten bereits vor dem Fort auf Ihre Befehle. Also machen Sie‹, sagte er. ›Aha‹, sagte ich, ›wenn das so ist, werden Sie nicht lange warten müssen. Aber welcher Gefangene soll denn nach Sydney geschafft werden?‹ – ›Der Insasse von Zelle neunzehn.‹ – ›Aha, der wilde Ägypter.‹«

Bei dieser Bemerkung richtete sich Lavarède im Sattel überrascht auf, aber er kam nicht dazu, zu äußern, was er dachte, denn der Korporal stieß einen Schmerzensschrei aus, und mit der Hand zu seinem Bein fahrend, wimmerte er: »Aua! Was soll das?«

Sir Toby hatte ihm einen mächtigen Schlag mit der Reitgerte versetzt, denn er war über das redselige Ungeschick des Beamten mehr als verärgert, der ungewollt die Anwesenheit Niaris in Broken Bay bestätigt und sich nicht mehr hatte zurückhalten können.

»Heißt dieser Ägypter vielleicht Niari?« fragte Lavarède, der anscheinend nichts bemerkt hatte.

Die Frage versetzte den Korporal in höchste Schwierigkeiten, denn er hatte wohl verstanden, daß in bezug auf den Namen des Gefangenen Stillschweigen herrschen mußte. Und so schaute er abwechselnd seinen höchsten Chef und abwechselnd den Fragesteller an und sagte: »Ja, nein …, ich kann es nicht sagen …, vielleicht, das ist nicht unwahrscheinlich …«

Allsmine bemerkte, daß der Journalist nur unzufrieden den Kopf schüttelte, und begriff, daß eine Erklärung unausweichlich war. Scharf wandte er sich an den Korporal: »Antworten Sie klar und deutlich!«

Der Beamte riß die Augen auf, so weit er konnte.

Der arme Kerl fand sein Metier zu kompliziert. Der Mund des Polizeichefs befahl ihm zu antworten, seine Peitsche verbot es ihm. Er mußte also gleichzeitig schweigen und sprechen, was, wie jeder weiß, außerordentlich technische Schwierigkeiten bereitet.

Also begann er erneut, wie er glaubte, diesmal eindeutiger: »Ja … Nein … Vielleicht … Ich kann es nicht leugnen.«

Toby sah ein, daß er ihm zu Hilfe kommen mußte. Deshalb unterbrach er ihn: »Dieser Gentleman und ich sind genau deswegen unterwegs, um uns zu versichern, daß der ägyptische Gefangene in Broken Bay inhaftiert ist. Ich selbst weiß nichts von der Existenz dieses Gefangenen, und da Sie ihn zu kennen scheinen, so wäre es sehr freundlich, wenn Sie uns etwas mehr über ihn erzählten.«

Der Korporal stieß einen Seufzer aus. Zumindest der Befehl war klar! Also begann er zögernd: »Diese Nummer neunzehn trug, so glaube ich, tatsächlich den Namen Niari. Wie ich schon sagte, sollte ich ihn nach Sydney bringen. Wir brachen gegen Mitternacht auf. Zunächst ging alles gut. Aber als wir den Wald erreichten, in dem wir uns jetzt befinden, stolperten die beiden Männer, die an der Spitze gingen, über ein Seil, das quer über den Weg gespannt war. Bevor wir uns noch über den Zwischenfall klar waren, stürzte sich eine Bande von Dämonen auf uns, entwaffnete uns und band uns mit den Rücken an die Bäume – so wie Sie uns gefunden haben. Alle trugen sie grüne Masken vor dem Gesicht. Einer, der ihr Anführer sein mußte, sagte zu mir: ›Du wirst Meister Allsmine‹, Pardon, Euer Ehren, ich wiederhole nur seine Worte, ›sagen, daß wir Niari befreit haben und darauf warten, daß wir auch jene noch befreien, die er in der Ehe und im Grab gefangenhält.‹ Dann sind sie verschwunden, und wir haben eine fürchterliche Nacht verbracht.«

Sir Toby war kreidebleich geworden. Die Worte, die der Abgesandte des Korsaren gesagt hatte, jagten ihm einen Kälteschauer über den Rücken. Er entsann sich des geheimnisvollen Tribunals, vor dem er aussagen mußte. Und er verstand die Anspielung auf die Ehe und das Grab: Das waren seine Frau Joan, und das war ihr Kind – Maudlin Green.

Wollte der Korsar gar die Tote von den Lebenden erwecken – die Lebende aus seiner – Tobys – Macht befreien?

So unwahrscheinlich ihm dies auch vorkommen mochte, er hatte nicht mehr dasselbe ungebrochene Vertrauen in die Zukunft wie noch vor kurzem. Nach längerem Schweigen gab er schließlich den Befehl zum Aufbruch. Ohne sich um die neugierige, fragende Miene Lavarèdes zu scheren, behielt er absolutes Schweigen bei; weniger aus Vorsicht, sondern weil er Gedanken nachhing, die ihn frösteln ließen.

Triplex führte ihn an der Nase herum und jagte ihm gleichzeitig Angst ein. Und beides war wohldurchdacht. Er war schon soweit, daß ihm jeder unbescholtene Passant verdächtig vorkam. Es fehlte nicht viel, und er hätte am liebsten die ganze Bevölkerung des Landes unter der Anklage der Komplizenschaft verhaftet. Denn der unsichtbare Feind mußte zahlreiche Helfer haben, sonst wäre er nicht immer wieder den Nachforschungen der Polizei entwischt.

In der Paramata Street entließ Sir Toby seine Eskorte und schüttelte zerstreut Armands Hand. Allein betrat er das Haus.

Eine vage Furcht ließ ihn den Schritt zum Appartement seiner Frau richten. Hatte gar Joan das Haus schon verlassen, wie der drohende Satz des Korsaren zu besagen schien? Lautlos schlich er bis zu der Zimmertür. Einen Augenblick blieb er stehen, um zu lauschen.

Seltsam! Stimmen drangen an sein Ohr. Irgend jemand war bei ihr, vielleicht ein Abgesandter von Triplex. Er riß die Tür auf.

Joan war allein, sie kniete auf dem Teppich, stammelte etwas Unverständliches, das von Tränen erstickt wurde, und preßte ein Stück Papier an ihre Lippen.

Beim Anblick ihres Mannes versuchte sie das Papier verschwinden zu lassen; doch Allsmine war mit einem Satz bei ihr, packte entschlossen ihr Handgelenk und drehte es um. Die Finger ließen den Zettel los. Der Polizeichef nahm ihn an sich, faltete ihn auseinander und las:

Mutter. Das Verbrechen hat uns voneinander getrennt. Aber Gerechtigkeit wacht. Sie wird Rache nehmen. Glaube, was Deine Maudlin schreibt, die so glücklich ist, Dir endlich mitteilen zu können, daß sie am Leben ist.

Unsagbarer Zorn bemächtigte sich Sir Tobys. Er zerriß die Nachricht in lauter kleine Fetzen. Dann fielen seine Blicke auf das Bild mit den Zügen des kleinen Mädchens, vor dem Joan so oft geweint hatte. Er riß es von der Wand, schmiß es zu Boden und trampelte darauf herum. Erst als von der Malerei nichts mehr zu sehen war, wurde er sich seiner Raserei bewußt, mit der er sich ja selbst anklagte. Ruhiger geworden schaute er zu seiner Frau.

Joan hatte sich nicht gerührt.

Ihr Gesicht hatte nacheinander Überraschung, Zweifel, Abscheu, dann eine unverständliche Freude gezeigt.

»Ich bitte Sie um Verzeihung«, begann der Polizeichef, »vor Wut habe ich die Beherrschung verloren.«

Sie machte eine unbewußte Bewegung.

»Doch, doch, ich habe mich vergessen. Aber wenn ich sehe, daß sogar mein eigenes Haus von meinen Feinden nicht verschont wird …«

»Feinde«, sagte sie sanft. »Wieso meinen Sie das? Ich könnte jemand nicht als Feind betrachten, der mir meine Tochter zurückgeben wird.«

»Sie glauben an diese Märchen?«

Joan nickte und sagte betont deutlich: »Ja, ich glaube daran.« Und da er protestieren wollte, gebot sie ihm mit einer Geste Schweigen und sagte: »Märchen, behaupten Sie. Selbst wenn! Sie sind nicht Vater, Sie können nicht verstehen, was ich leiden mußte. Und man hat den Körper meiner toten Maudlin nie gefunden; eine Hoffnung hegte ich immer. Der Brief, den Sie soeben vernichtet haben, beweist, daß ich Grund hatte zu hoffen.«

»Winkelzüge eines Verbrechers.«

»Nein. Ich habe niemals jemand Böses zugefügt. Selbst ein Verbrecher hätte dieses eine Wort nicht schreiben wollen: Mutter.«

»Kurz, Sie machen demnach mit meinen Gegnern gemeinsame Sache?«

»Ich bin Mutter, und ich segne jeden, der mir Hoffnung macht, daß meine Tochter noch lebt.«

Sir Toby stampfte mit dem Fuß auf, seine Züge verzerrten sich.

»Aha, so ist das. Es kümmert Sie wenig, daß man sich gegen mich verschwört. Ihr Gatte ist nichts für Sie.«

Erstaunt betrachtete sie ihn.

»Warum sollte meine mütterliche Zuneigung zum Nachteil für Sie sein?«

Er senkte vor ihrem Blick die Augen und sagte verbindlicher: »Weil man diese Zuneigung ausnutzt, um Sie von mir zu trennen.«

»Davon ist nicht die Rede. Man verspricht nur, mir Maudlin zurückzugeben.«

Das stimmte. Allsmines Name war nicht einmal erwähnt worden. Seine Mißstimmung wuchs, als er merkte, daß er sich in seiner Wut in mehr verrannt hatte, als zuzugeben notwendig war.

»Wenn ich Ihnen dasselbe Versprechen machte, glaubten Sie mir nie.«

»Warum wohl?«

»Weil Sie nachgedacht haben. Sie ahnten, wenn das Kind noch am Leben war, hätte man nicht so viele Jahre gewartet, es Ihnen zu vermelden …, vor allem, da unsere Nachforschungen soviel Aufhebens verursacht haben. Aber ein Fremder, ein Unbekannter schreibt Ihnen einen Brief, der nicht einmal eine Unterschrift trägt …, und sofort hat er Ihr Vertrauen.«

Eine Träne rollte langsam über die Wange der jungen Frau, und mit tonloser Stimme murmelte sie: »Der Fremde macht mir wenigstens Hoffnung, während Sie …, Sie konnten mir immer nur logisch erklären, warum ich nicht mehr hoffen sollte.«

»Ach, Sie sind verrückt; verrückt, sich an so etwas zu klammern«, belferte Allsmine aufgebracht, »ich lasse Sie mit Ihren Hirngespinsten allein.«

Und die Tür hinter sich zuschlagend, verließ er das Zimmer.


Inzwischen war Lavarède ins Centennial-Park-Hotel zurückgekehrt und hatte darüber nachgedacht, was soeben passiert war.

Trotz der Freundlichkeit des obersten Polizeiherrn und seiner offenen Art ihm gegenüber fühlte der Journalist, wie der Zweifel an ihm nagte. Es war undenkbar, daß der hohe Beamte nichts von der Existenz eines so wichtigen Gefangenen wie Niari gewußt haben wollte. Von da bis zu dem Schluß, daß nur Sir Toby selbst den Befehl zur Verlegung des Gefangenen gegeben haben konnte, war es nur ein Schritt. Wie man sieht, traf Armand damit fast genau ins Schwarze.

Dann dachte er an die geheimnisvolle Person, die den Ägypter entführt hatte. Wer war dieser Triplex, der sich in den Angelegenheiten des Parisers so gut auskannte? Welches Interesse hatte er, sich unausgesetzt in ebendiese Angelegenheiten einzumischen? Es war leichter, diese Fragen zu formulieren, als darauf zu antworten. Und so erreichte Lavarède auch bald das Hotel, ohne eine plausible Erklärung dafür gefunden zu haben.

Den Gruß des Besitzers beantwortend, erreichte er die Treppe, die zu seinem Appartement führte, aber schon auf den ersten Stufen hielt er inne. Die Klänge eines Klaviers und die Stimme einer Frau drangen an sein Ohr.

»Unzweifelhaft Lotias Stimme«, murmelte er. »Sie singt?«

Der überraschte Ton, in dem er das sagte, bewies hinlänglich, wie melancholisch die Erbin der Hador gewöhnlich war. Seit Armand die junge Dame kannte, hatte er sie nur traurig und düster erlebt; und niemals hatte sie einen dieser Freudenausbrüche gehabt, die einen singen lassen. Welches Ereignis hatte diesen Sinneswandel wohl herbeigeführt?

Nach einem kurzen Klopfen betrat er den gemeinsamen Salon. Lotia saß am Klavier. Sie sang. Neben ihr stand die lächelnde Aurett. Beim Anblick Armands stießen die beiden Frauen gleichzeitig einen Schrei aus. Sie liefen auf ihn zu, und mit einer Mischung aus Mitleid und Ironie fragte ihn Lotia: »Sie sind umsonst gereist, nicht wahr?«

Er konnte eine Bewegung der Überraschung nicht unterdrücken.

»Das ist wahr, aber wieso wußtet ihr das?«

Sie schauten sich an und prusteten lachend los.

»Gut«, sagte der Journalist, »ich fühle mich geehrt zu sehen, daß euch mein Mißgeschick erheitert. Aber es wäre überaus freundlich, wenn ihr mir erklären würdet …«

»Das tun wir gern«, sagte Aurett, »wenn du uns dein Wort gibst, daß …«

»Mein Wort?«

»Daß du niemand erzählst, was wir dir sagen. Selbst nicht deinem teuren Freund Sir Toby Allsmine.«

Und wieder brachen Aurett und Lotia in Lachen aus.

»Worum handelt es sich denn, zum Teufel?« fragte der Journalist neugierig.

»Schwöre erst!«

»Wie ihr meint. Also gut, Aurett, also gut, Lotia, ich verpflichte mich bei meiner Ehre, kein Wort zu sagen.«

»In diesem Falle werden wir Sie zu unserem Vertrauten machen«, erklärte Lotia und zog einen Brief aus ihrer Korsage. Der Umschlag trug den Poststempel von Sydney.

»Was ist das?«

»Lesen Sie.«

Lotia reichte ihm den Brief. Lavarède nahm ihn und rief baß erstaunt: »Roberts Schrift!«

Lotia lächelte, aber sie wiederholte nur: »Lesen Sie.«

Der Pariser gehorchte und entzifferte folgendes:

Meine süße Lotia,

ich war zu früh hoffnungslos geworden. Niari fehlte uns, er konnte also nicht meine Identität bestätigen, um uns notariell beglaubigen zu lassen, daß ich Robert Lavarède und nicht Thanis bin. Dann wäre ich wieder ich geworden und hätte Dir meine Hand antragen können. Mein Herz gehört Dir ohnehin. Zu meinem Glück hat mich ein Mann unter seinen Schutz genommen und mir geholfen. Durch ihn wurde Niari befreit und befindet sich bei mir. Ich würde eilen, um dorthin zu gelangen, wo Du bist, mein Stern, mein Licht, wenn ich mich aus Dankbarkeit meinem Wohltäter nicht verpflichtet fühlte. Er hat mir geholfen, ich muß ihm bei der Erfüllung einer schrecklichen Pflicht helfen; aber er erlaubt mir, daß ich Euch alle beruhige und Dir das bevorstehende Ende unserer Drangsal ankündige. Während zweier Monate wirst Du nichts mehr von mir hören, doch mach Dir keine Sorgen; Du wirst von Korsar Triplex reden hören und immer daran denken, daß er uns hilft, uns wieder zu vereinigen.

Du sollst wissen, Lotia, daß meine Seele und mein Sinnen nur Dir gilt. Neben Armand und meiner lieben Cousine Aurett wirst Du Mut finden.

Euch dreien in Liebe und Hoffnung

gez. Robert Lavarède

P. S. Absolutes Stillschweigen über diesen Brief!

Nun war es an Armand, in Lachen auszubrechen, und die Hand seiner beiden entzückenden Damen fassend, rief er aus: »Endlich! Robert lebt. Er verspricht, uns aufzusuchen. Aber zum Teufel! Noch nie in meinem Leben war ich in eine Intrige verwickelt, die so undurchschaubar ist!«


Zehntes Kapitel Triplex handelt, ohne sich zu zeigen

Seit diesem Tag lebte Lavarède in einem unbeschreiblichen Zustand. Sein neugieriges Temperament eines Journalisten fand sich schlecht mit dem Geheimnis ab, und das Geheimnis war überall um ihn her.

Oft begegnete er Allsmine, der ihm gegenüber Zutrauen gefaßt hatte und ihm kaum seine Sorgen vorenthielt. Er war von den immer dringlicher werdenden Depeschen der Admiralität unterrichtet, die Sir Toby ausdrücklich befahlen, Korsar Triplex, koste es, was es wolle, dingfest zu machen. Und diese Depeschen wurden von Mal zu Mal kürzer und drohender.

Gewiß, man konnte mit dem Obersten Polizeichef der Pazifikpolizei nicht umspringen wie mit einem x‑beliebigen. Dazu war er zu mächtig und kannte durch seine Position manches Geheimnis, dessen Verbreitung schreckliche Folgen gehabt hätte. Große Familien und ehrenwerte Mitglieder der Gesellschaft wären entsetzt gewesen, wenn er der Öffentlichkeit seine »geheimen Dossiers« in die Hände gespielt hätte. Und deshalb behandelte man ihn ganz oben wie ein rohes Ei. Doch die öffentliche Meinung drängte die Regierung. Es war schließlich mehr als verwirrend, wenn ein hergelaufener Abenteurer wie dieser unbekannte Korsar die gesamte britische Macht ins Wanken brachte.

Wenn dieser Krieg einzig gegen Sir Toby Allsmine geführt wird, so meinten einflußreiche Kreise in der Regierung, so sollten wir diesen Beamten eben opfern. Stellen wir ihn vor ein Gericht, wie es der Korsar fordert.

Denn Triplex forderte dies wiederholt. Auf unbekannten Kanälen wurden der englischen, indischen und australischen Presse Informationen zugespielt, die dies beinhalteten.

Und darüber hinaus waren die Unterseekabel, die die Depeschen des Polizeichefs an seine Vorgesetzten übermittelten und in einer mittleren Tiefe von viertausend Metern durch die Ozeane liefen, keine Geheimnisträger mehr. Sie waren »durchlässig« geworden. Wie hätte man sich sonst erklären sollen, daß der Korsar über alle Kabelgramme unterrichtet war, wie die telegrafischen Antworten bewiesen, die er mit spöttischer Ironie seinem Feind übersandte. Denn Allsmine erhielt fast jeden Tag ein Kabelgramm ähnlichen Inhalts: Erbitten Schutz Lord X … Sohn in die Towtec-Bank-Affäre verwickelt, Dossier 147. Sie haben recht, aber Schutz wirkungslos. Ihrer Strafe entgehen Sie doch nicht. Triplex hat Zeit und kann abwarten.

Die kompliziertesten Chiffres, die intelligentesten Schlüssel, die man sich ausdachte, um die Depeschen geheimzuhalten, verwirrten den Korsaren nicht im mindesten. Dieser Kerl hatte nicht nur die Gabe, überall gegenwärtig zu sein, sondern schien auch noch die verwickeltsten Hieroglyphen moderner Diplomatie mit Leichtigkeit entziffern zu können.

Doch wie ein Pyromane ein Feuerwerk durch die blumigste Rakete enden läßt, so beendete Triplex diesen telegrafischen und polygrafischen Kleinkrieg durch eine Apotheose.

Eines Abends, als das elegante Sydney in schönster Vollzähligkeit einer Vorstellung des berühmten Longfoot-Zirkus beiwohnte, ergoß sich plötzlich aus der Zirkuskuppel ein Blumenregen über die Besucher. Und an jeder Papierblüte steckte eine Visitenkarte, auf der die Zuschauer lesen konnten:

»KORSAR TRIPLEX gibt sich die Ehre zu verkünden, daß er Australien von der Schande befreien wird, von dem Verbrecher Allsmine überwacht zu werden.«

Sir Toby wohnte der Vorstellung bei. Unter spöttischen Blicken zog er sich zurück. Eine sofort eingeleitete Untersuchung des Zirkus blieb erfolglos. Der Korsar war entsprechend seiner Gewohnheit verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen.

Und in der folgenden Woche konnte man eines Morgens an den Mauern von Sydney folgende Worte lesen, die Unbekannte dort mit weithin leuchtender weißer Farbe aufgetragen hatten:

Einwohner von Sydney!

Begebt Euch heute abend zum Hafen. Schaut auf den Horizont, und Ihr werdet die Augen von Korsar Triplex erleben, die auf Eure unglückliche Stadt blicken, die einen Mörder zum Polizeichef hat.

Gewiß überpinselten Polizeibeamte sofort die Aufschriften, aber ein Teil der Bevölkerung von Sydney hatte die seltsame Einladung schon gelesen und sie sofort Nachbarn, Bekannten und Freunden mitgeteilt.

Als es Abend geworden war, waren die Kais, Molen und Landzungen von Port Jackson schwarz vor Menschen. Das drängelte und knuffte sich, stieg auf Poller, Simse und Dächer. Aller Augen waren aufs offene Meer gerichtet. Im Hafen deuteten einige rauchende Schlote von Kriegsschiffen an, daß auch die Seeleute Ihrer Majestät bereitstanden, auszulaufen, falls sich auf dem Meer irgend etwas tun sollte.

Man schloß Wetten ab, ob diese kriegerischen Vorbereitungen den Korsaren vielleicht davon abhalten würden, seine Augen auf die Stadt zu richten. Doch wer so wettete, hatte kein gutes Geschäft gemacht, denn genau um neun Uhr abends flammten plötzlich drei leuchtende Punkte am Horizont auf. Begeistert applaudierte die Menge, die entzückt war, nicht umsonst gekommen zu sein.

Aber diese Menge hatte nicht einmal Zeit zu überlegen, welcherart diese leuchtenden Punkte über der Wasseroberfläche sein mochten; die Sirenen der Kriegsschiffe ließen ihr sonores Geheul ertönen, und die Schiffe wandten sich langsam und schaumschlagend zum Hafenausgang.

Und nun kannte die Begeisterung der Gaffer keine Grenzen mehr. Man würde eine Seeschlacht erleben! Pazifikflotte gegen Triplex. Und natürlich schlug bei dem Gedanken allen Müttern, Ehefrauen und Bräuten das Herz höher, wenn sie daran dachten, daß ihre Männer auf den Schiffen einer unbekannten Gefahr trotzen sollten. Wie heroisch!

Auf der Brücke der Destroyer, eines mit Panzertürmen bestückten Kreuzers, der an der Spitze dampfte, betrachtete eine Gruppe von Leuten mit gemischten Gefühlen die unbeweglichen, entfernten Scheinwerfer. Das waren Sir Toby Allsmine, James Pack, Armand Lavarède, Lotia und Aurett. Der erste stand dort von Berufs wegen; die anderen hatten dank ihren guten Beziehungen zu ersterem die Erlaubnis erhalten, an dieser Expedition teilzunehmen.

Dicht neben Aurett und Lotia stand eine Frau, die in einen weiten Mantel gehüllt war, dessen Kapuze sie bis zu ihrem Gesicht herabgezogen hatte. Es war Lady Allsmine.

Aus eigenem Willen hatte sie ihren Mann gebeten, sie mitzunehmen. Der schien mehr als erfreut darüber gewesen zu sein, denn er sagte sich, daß eine solche Haltung auf die Flottenleitung einen guten Eindruck machen würde. Er hätte ihr jedoch keine Einwilligung gegeben, wenn er gewußt hätte, daß das Drängen seiner Gemahlin durch eine lakonische Mitteilung hervorgerufen worden war, die sie im Laufe des Tages empfangen hatte. Von unsichtbarer Hand war ihr ein Schreiben in ihr Zimmer gelegt worden:

Mutter, bald werde ich Dir zurückgegeben. Begleite heute abend den Mann, dessen Namen Du trägst. Du wirst den goldenen Harlekin wiederfinden.

Und Joan hatte gehorcht.

Der goldene Harlekin! Diese Worte riefen bei ihr vergessene Erinnerungen wach. Sie dachte plötzlich wieder an die letzte Reise, die sie zu dem Bauernhaus am Lachlan River unternommen hatte. Es war die letzte Reise gewesen, bei der sie ihre Tochter lebend gesehen hatte. Sie sah das Zimmer vor sich, in der ihr Tobys Mutter eine rosige, frische und lächelnde Maudlin zugeführt hatte. Sie hatte das Kind in die Arme genommen und an sich gedrückt; dabei hatte die Kleine mit einem Schmuckstück gespielt, das Lady Joan erst vor einigen Tagen aus London erhalten hatte. Es war eine Goldkette, an der eine Figur aus demselben Metall hing: ein fein ziselierter kleiner, entzückender Harlekin.

Sie freute sich, weil sich Maudlin freute; sie war glücklich über das Glück der Kleinen, die in ihrem kindlichen Spiel den Harlekin wie eine Puppe behandelte.

Und dann kam der Augenblick der Trennung. Maudlin wollte den Schmuck nicht herausgeben, und Joan hatte nicht den Mut, ihn ihr wegzunehmen; sie schenkte ihn ihr, und die triumphierende Kleine hängte sich die Goldkette um ihren Hals.

Heute nun war in der Botschaft die Rede von dem goldenen Harlekin, diesem Schmuckstück, dessen Existenz Joan längst vergessen hatte. Und nur deshalb stand sie nachdenklich und schweigend neben Aurett und Lotia auf der Brücke der Destroyer.

Die beiden letzteren empfanden beim Anblick der Scheinwerfer natürlich ganz anders. Für sie war das der Ort, wo Robert den Befehlen seines Beschützers, ebenjenes gefürchteten Korsaren Triplex, gehorchte.

Allsmine war hin- und hergerissen zwischen Wut und innerer Unruhe.

Allein James Pack schien gegenüber dem, was um ihn herum passierte, gleichgültig. Ruhig unterhielt er sich mit den Offizieren über die Art und Weise des Lichts, dem man sich von Minute zu Minute näherte. Alle waren sich einig über das offensichtlich elektrische Phänomen, aber während die einen behaupteten, starke Leuchtröhren von außerordentlicher Intensität wahrgenommen zu haben, plädierten die anderen für eine Art von besonders kräftiger Phosphoreszenz. Und tatsächlich wirkte eine beträchtliche Fläche so, als ob sie von unten beleuchtet würde. Der Schaum der langgezogenen Wellen wirkte wie im Schmelzen begriffenes Gold, und die Augen der Betrachter zerflossen beim Betrachten dieser intensiven Strahlung.

Etwa eine Meile trennte die Destroyer von dem anvisierten Punkt. In dieser immerhin noch beträchtlichen Distanz schwamm das Schiff in einem leuchtenden Nebel. Neugier hatte jedermann gepackt, Offiziere, Matrosen, Passagiere. Die Maschinen stampften, denn der Maschinenmeister hatte volle Kraft voraus befohlen. Spätestens in einer Viertelstunde würde man klüger sein.

Plötzlich drang ein Aufschrei aus allen Kehlen. Die seltsamen Meteore setzten sich in Bewegung. Mit schwindelerregender Schnelligkeit beschrieben sie einen Kreisbogen und tauchten hinter den Kriegsschiffen wieder auf, formten zwischen ihnen und dem Hafen das geheimnisvolle Dreieck neu.

Es gab einen Augenblick der Unentschlossenheit, dann drehte sich die Destroyer langsam um sich selbst und nahm die Verfolgung des Gegners auf. Die anderen Schiffe taten es ihm gleich.

»Na, man los«, murmelte ein alter Offizier, der neben Allsmine stand, »wenn wir ihn einholen wollen, dann nur, wenn er es auch will.«

Die Bemerkung ließ den Polizeichef zusammenfahren.

»Wie können Sie so etwas zu behaupten wagen!«

»Weil er soeben seine Operation mit einer Geschwindigkeit ausgeführt hat, die mindestens sechzig Knoten betrug. Die Destroyer schafft kaum zwanzig. Machen Sie sich selbst einen Reim darauf.«

»Aber was vermuten Sie denn?«

»Daß wir es mit bewundernswert ausgestatteten Unterseebooten zu tun haben.«

»Unterseeboote?«

»So ist es. Wenn es nicht Satan selber ist, so gibt es keine andere Erklärung.«

Erneut näherte sich die Destroyer den seltsamen Scheinwerfern. Was würde passieren? Entwickelte sich ein Kampf? Das hätte man meinen können nach der Aktivität auf dem Kreuzer. Jeder stand auf seiner Gefechtsstation. Neben den Armstrong-Geschützen und den Hotchkiss-Kanonen hatten die Artilleristen ihre Plätze eingenommen, um gefechtsbereit zu sein. Enterkommandos hatten an der Bordwand Aufstellung genommen. Einige hundert Meter trennten das Schiff noch von den Augen des Korsaren Triplex, als ein unerwarteter Zwischenfall geschah.

Plötzlich verloschen die Scheinwerfer, und auf den tintenschwarzen Fluten entdeckten die Ausschau haltenden Männer nicht die geringste Markierung.

»Stopp!« befahl der Vierte Offizier.

Die Schiffsschraube hörte auf, sich zu drehen, und die Destroyer glitt auf ihrem Kurs mit geringer werdender Geschwindigkeit dahin.

Aus der Gruppe der Offiziere drangen Unmutsäußerungen. Mußte man etwa gar in den Hafen zurückkehren, ohne Kontakt mit dem Feind aufgenommen zu haben? Man würde ja zum Gespött der gesamten Bevölkerung werden. Aber was sollte man gegen einen unsichtbaren und nicht zu fassenden Feind denn tun?

Das gleiche Zögern gab es auch auf den anderen Schiffen, und alle richteten sich nach der Destroyer. Ganz offensichtlich wußten die Kapitäne nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Die Schiffe am Ende der Reihe hatten ihre Maschinen gestoppt und schaukelten schwerfällig auf den Fluten.

Und als sie sich endlich mit Lichtsignalen verständigten und entschlossen, in den Hafen zurückzukehren, gischtete es an der Flanke des Kreuzers, auf dem sich der Polizeichef mit seiner Begleitung befand, mit einemmal stark auf. Ein leuchtender Lichtstrahl schoß aus dem Wasser; ein Gegenstand erhob sich in die Lüfte, beschrieb einen weiten Bogen und fiel auf die Brücke, genau vor die Füße von Lady Joan. Das Meer hatte sich wieder beruhigt.

Alle eilten herbei. Der Kapitän höchstselbst hob das Geschoß auf – es war ein hölzernes Ei, ähnlich einem Stopfpilz. Und besonders merkwürdig war, daß dieses aus dem Meer aufgetauchte Etwas kein bißchen naß war. Nichts konnte unverfänglicher sein, und der Kapitän reichte den Gegenstand weiter, als sein Blick von einem kleinen Etikett angezogen wurde, das auf der polierten Oberfläche klebte.

Hurtig näherte er sich mit einem Sprung der Sturmleuchte und las in deren Licht: »Für Mrs. Joan Allsmine.«

Galant reichte der Kapitän der Destroyer der Gattin des Polizeichefs das Holzei. Eine schwarze Linie umriß die Mitte und wies darauf hin, daß es aus zwei Hälften zusammengesetzt war. Mit Leichtigkeit konnte es Lady Joan um die eigene Achse drehen. Es öffnete sich. Im gepolsterten Inneren lag eine goldene Kette mit einem Anhänger aus demselben Metall.

Mit zitternden Händen packte Maudlins Mutter den Schmuck. Der Brief hatte also nicht gelogen. Das war der goldene Harlekin, den sie einst selbst um den Hals ihrer Tochter gelegt hatte.

»Das letzte Geschenk, das ich meiner Tochter gegeben habe«, murmelte sie.

»Dieser Elende weidet sich am Schmerz einer Mutter!« bemerkte Allsmine zähneknirschend.

Aber Joan unterbrach ihn heftig: »Nein, er hat die Wahrheit gesagt. Maudlin lebt, und ich werde sie wiedersehen.«

Bei allen, die diese Szene miterlebt hatten, hinterließ sie starke Wirkung. Und so bewahrte auch jeder Schweigen, als der Konvoi wieder im Hafen einlief.

Auf den Kais drängte sich noch immer die Menge und diskutierte die Vorfälle des Abends. Ganz Sydney war in Bewegung. Ein einziger Mann nur bewahrte kühlen Kopf und sein Lächeln, und dieser Mann war James Pack.

Ruhig verabschiedete er sich von seinem Vorgesetzten und den anderen und entschuldigte sich, daß er dem Wunsch, sich auszuschlafen, nicht widerstehen könne. Danach entfernte er sich mit seinem schleppenden Schritt und einer gleichmütigen Haltung; sobald er jedoch aus dem Gesichtskreis der Menge getreten war, straffte er sich plötzlich, sein Gang wurde elastisch, und mit schnellem Schritt umging er die Hafenbecken.

Eine halbe Stunde später erreichte er die Heide der Jackson-Spitze am äußersten Ende, an dem der nördliche Leuchtturm steht. Die Nacht war dunkel, und der Weg mußte ihm schon vertraut sein, um so rasch vorwärts zu kommen.

Plötzlich blieb er stehen. Ein menschlicher Schatten hatte sich vor ihm aufgerichtet. Zweifellos hatte ihn dieser Schatten erwartet, denn er zeigte weder Furcht noch Überraschung.

»Sind Sie es?« fragte er den Schatten.

»Ich bin es, Kapitän, zu Ihrer Verfügung.«

»Sie reisen unverzüglich zu den Goldminen der Sandy-Wüste ab. Säumen Sie nicht. In wenigen Tagen wird er gewarnt sein. Er muß sich durch diese lange Reise verraten.«

»Ist klar.«

»Verlieren Sie also keine Minute, denn er darf Sie um keinen Preis treffen.«

»Seien Sie unbesorgt.«

Die beiden Männer tauschten einen herzlichen Händedruck. Sie wollten schon auseinandergehen, als James seinen Gesprächspartner mit den Worten zurückhielt: »Und sie?«

»Sie bleibt hier. Sie möchte Sie sehen.«

»Nein, nein«, sagte Pack entschlossen. »Zu gefährlich.« Und traurig fügte er hinzu: »Wir müssen uns an die Trennung gewöhnen. Doch ich hoffe, daß unsere Anstrengung von Erfolg gekrönt sein wird. Nun werden sich unsere Wege trennen, und wir werden uns möglicherweise nicht wiedersehen.«

Einen Augenblick schien der Sekretär zu zögern, als ob er noch einige Worte hinzufügen müsse, aber dann schüttelte er den Kopf, drückte die Hand des Unbekannten und sagte nur ein Wort: »Adieu.«

Daraufhin nahm er den Weg zur Stadt. Bald verlor sich sein Umriß in der Dunkelheit.

Der Mann, mit dem er geredet hatte, blickte ihm nach, bis er verschwunden war, und murmelte: »Ich bin ja hier. Du hast mir geholfen, ich helfe dir.«

Und kurz darauf war auch der mysteriöse Spaziergänger in der Nacht verschwunden.


Elftes Kapitel Das Telegrafenbüro

Allsmine war von der Schiffsexpedition als gebrochener Mann zurückgekehrt. Triplex hatte ihm einen furchtbaren Schlag versetzt, denn Joan hatte öffentlich für den Korsaren Partei ergriffen. Und dazu noch dieser seit langen Jahren verschwundene goldene Harlekin, der plötzlich aus der Vorzeit wie ein Zeuge der Anklage auftauchte. Hatte demnach das Tribunal der grünen Masken doch die Wahrheit gesprochen? Maudlin lebte, und der Mann, den Allsmine zu dem Verbrechen gedungen hatte, hatte ihn hintergangen.

Die ganze Nacht wälzte sich Toby auf seinem Bett, ohne in den Schlaf zu finden. Zwar übermannte ihn manchmal die Müdigkeit, und seine Augen schlossen sich von selbst. Aber sofort riß ihn ein Alptraum wieder empor. In seinen Ohren rauschte es merkwürdig; von den Wänden lösten sich zunächst noch undeutliche, dann immer klarer werdende Schatten. Das waren Harlekine mit Narrenkappe und Schlagholz in einer in den verschiedensten Goldtönen glänzenden Kleidung: kupferfarbenes Gold, mit Grünspan überzogenes Gold, Rotgold, mattes Gold, glänzendes Gold. Alle trugen die grüne Maske und bleckten die Zähne, so daß ihr weißes Gebiß aus den grinsenden Mündern hervorstach. Alle richteten sie anklagend den Arm auf ihn.

Schweißüberströmt fuhr Sir Toby hoch und warf einen gehetzten Blick um sich. Die Traumbilder waren verflogen, tauchten jedoch wenig später wieder auf. Als es schließlich tagte, war der Polizeichef wie gerädert. Seine gemarterten Glieder schmerzten, und jede Bewegung verursachte ihm unendliche Mühe.

Er kleidete sich dennoch sorgfältig an und verließ sein Zimmer. Er trat auf die Straße wie ein Mensch, dem es unangenehm ist, einem bekannten Gesicht zu begegnen.

Er hatte geradezu Angst, sich Joan gegenüberzusehen, ja sogar James Pack. Ihm schien, daß alle seine Gedanken lesen könnten, ja, daß ihm früher begangene Verbrechen auf der Stirn standen. Eine einzige Person erfreute sich seines Vertrauens, eine einzige. Das war Armand Lavarède.

Warum? Der Polizeichef hätte es sicher nicht erklären können. Vielleicht weil in Zeiten des Mißerfolgs schwache Charaktere abergläubisch werden. Und Sir Toby war gewiß ein entschlossener, tatkräftiger Mann, aber im Grunde seiner Seele feige. Und Armand war Sir Toby an dem Tage zu Hilfe gekommen, als dieser hilflos am Galgen hing. Armand hatte die fotografischen Platten vernichtet. Armand war für ihn zu einer Art von Fetisch geworden.

Allsmine bildete sich ein, wenn es ihm gelänge, den Journalisten für seine Pläne zu gewinnen, würde er gewiß über die Gegner triumphieren, und so lenkte er seine Schritte ganz natürlicherweise zum Centennial-Park-Hotel. An der Rezeption verlangte er den Franzosen zu sprechen. Dieser kam auch sofort, obwohl nicht wenig überrascht wegen dieses frühen Besuchs.

Aber der Polizist ging sofort mit ausgestreckter Hand auf ihn zu und sagte ohne weitere Begrüßung: »Mr. Lavarède, meine Anwesenheit zu dieser Stunde mag Ihnen unangemessen erscheinen. Ich werde Ihnen den Grund in einem Satz erklären. Ich möchte mit Ihnen ein Bündnis abschließen.«

Mit einer Geste deutete Armand an, daß er nicht verstehe.

»Hören Sie mir nur zu«, sagte Toby. »Sie und ich werden von demselben Feind bedroht – Korsar Triplex.« Er senkte die Stimme, als er den Namen aussprach. »Korsar Triplex attackiert mich in meinem Ansehen; und Ihnen ist er doch wohl alles andere als sympathisch. Verbünden wir uns also gegen ihn.«

»In meiner Ergebenheit für Sie lasse ich mir nichts vergeben«, erwiderte der Journalist und machte dabei ein unschuldiges Gesicht. Die Unterhaltung amüsierte ihn. Der Mann, der Niari gefangengehalten hatte, der Robert daran gehindert hatte, seinen rechtmäßigen Namen anzunehmen, bot ihm an, sein Verbündeter zu werden? Das war die Komödie aller Komödien. Andererseits konnte es ihm natürlich unendlich nützlich sein, das Vertrauen des Polizeichefs zu besitzen; deshalb hielt er es für taktisch klug, die Tür nicht von vornherein zuzuschlagen.

»Ich danke Ihnen, daß Sie so sprechen«, sagte Allsmine, der die Ironie in den Worten des Journalisten nicht herausgehört hatte. »Sie sind ein intelligenter Mensch und begreifen sofort. Also möchte ich Ihnen vorschlagen, daß wir zusammenarbeiten.« Er überlegte einen Augenblick und fuhr dann fort: »Das ist die Situation: Ich wünsche meine Stellung als Chef der Pazifikpolizei zu behalten. Sie sind mit der Absicht hier, Ihrem Cousin seinen Namen und seine Nationalität zu verschaffen. Wer widersetzt sich unseren Wünschen? Korsar Triplex. Machen wir also gemeinsame Sache, um ihn zu schlagen. Ich werde im übrigen alles tun, was in meiner Macht steht, um uns den Sieg zu sichern, wenn Sie mein Verbündeter werden.«

»Abgemacht«, murmelte der Pariser.

»Ich bin Ihnen für diese Erklärung überaus verbunden. In diesem Land, in dem sich der Elende jeden mit offensichtlich gestohlenem Geld kaufen kann, sind Sie der einzige, auf den ich zählen kann. Selbst meine Frau hat sich von mir entfernt. Ich darf mit Ihnen rechnen?«

»Wie auf sich selbst, Sir Toby.«

»Dann kommen Sie. Ich werde Ihnen – unter dem Siegel der Verschwiegenheit – eine ungeheure Neuerung zeigen, die, so denke ich, uns den Erfolg sichert.«

»Und das wäre?«

»Sie werden sehen. Kommen Sie.«

Nun, Lavarède war neugierig von Natur, er widerstand nicht lange. Er lief in sein Zimmer, kleidete sich an, verabschiedete sich von Aurett und Lotia und ging fünf Minuten später mit dem Polizisten zu dessen Büro. Sir Toby war entzückt. Seine Ängste waren vorerst verflogen.

In seinem Büro angekommen, nahm sich Allsmine einen Schlüssel aus dem Schreibtisch und forderte Lavarède auf mitzukommen. Wieder betraten sie die Straße und befanden sich bald darauf vor der Telegrafenzentrale, einem großen, viereckigen Gebäude, in dessen Mauern der gesamte telegrafische und telefonische Dienst von Sydney untergebracht war.

Sie durchquerten riesige Säle, in denen eine Schar von Angestellten daran arbeitete, die Verbindung mit der Welt herzustellen. Schließlich gelangten sie zum Keller und stiegen eine Wendeltreppe hinab. In den Mäandern des Kellergewölbes gingen sie um mehrere Ecken und blieben schließlich vor einer eisernen, hermetisch abgeschlossenen Tür stehen. Mit Hilfe seines aus dem Büro geholten Schlüssels öffnete sie Allsmine und drückte auf einen Knopf neben der Tür. Augenblicklich leuchteten Lampen auf und erhellten einen Raum, der seltsam eingerichtet war. Von der Decke hingen wie von einem riesigen Spinnennetz zahlreiche Kabel herab, die in einem Schaltpult endeten, das auf einem Eichentisch festgeschraubt war, der die ganze Länge des Raumes einnahm. Vor jeder Kopfseite des Schaltpultes standen elektrische Schreibmaschinen, die unablässig vor sich hin hämmerten, obwohl kein Mensch zu sehen war.

Der erste Eindruck, den Lavarède empfand, war der der Überraschung; der zweite, der Wunsch zu begreifen.

»Wo sind wir?« fragte er.

»Im Telefonbüro der Polizei«, antwortete Sir Toby lächelnd. Und mit selbstgefälliger Miene erklärte er: »Eine Erfindung von mir. Ich werde sie Ihnen erläutern. Sie wissen sicher nicht, daß jede wichtige telegrafische Depesche von der Polizei mitgelesen werden kann. Mit Hilfe von Röntgenstrahlen sind wir sogar in der Lage, einen verschlossenen Brief zu lesen. Aber böswillige Menschen wissen das und ziehen es oftmals vor, das Telefon zu benutzen, dessen Überwachung uns nicht möglich war.«

»Nicht möglich war, sagen Sie? Und dieses Imperfekt bedeutet, daß …«

»Daß es uns nicht mehr unmöglich ist.«

»Genau.«

Zufrieden schüttelte der Polizeichef dem Franzosen die Hand.

»Ein Vergnügen, mit Ihnen zu plaudern, Sir Lavarède, Sie begreifen sofort.«

»Und das Telefon?«

»Ist heute mein treuester Beamter.« Ernsthaft sagte er dann: »Allein Sie und ich kennen dieses Geheimnis, nicht einmal mein Sekretär weiß davon. Also strengste Diskretion. Wenn ich Sie ins Vertrauen gezogen habe, dann, weil ich mir Ihrer sicher bin und Ihre Hilfe brauche.«

Lavarède verbeugte sich und sagte: »Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, nur …«

»Nur was?«

»Ich würde mich glücklich schätzen, mehr zu wissen.«

»Sie sollen zufriedengestellt werden.«

Sir Toby stützte sich auf dem Eichentisch auf und sagte: »Die Einwohner der Stadt wissen nichts von dieser Einrichtung. Die Arbeiter, die ihn eingerichtet haben, glaubten, daß es sich um ein zusätzliches Telefonbüro handelte. Ich allein besitze den Schlüssel zu der Tür dieses Raumes.«

»Gut. Und weiter?«

»Hier das Prinzip meiner Apparate. Jedes Kabel, das von der Decke kommt, ist mit einem Netzanschluß der städtischen Telefonleitung verbunden.«

»Ich bin im Bilde. Sie zapfen also die Unterhaltungen an und leiten Sie hierher.«

»Ja, aber solcherart, daß der Sprecher davon nichts mitbekommt. Ich zweige eine so kleine Zahl ab, daß sie nicht einmal das feinste Gehör mitbekommt.«

»Und wie geschieht das?«

»Die Abhörkabel enden in dem Fächerkasten, den Sie hier sehen. Mit Hilfe eines Transformators werden ihre Vibrationen in elektrische Impulse umgewandelt, die über andere Kabel an die elektrischen Schreibmaschinen weitergegeben werden. Diese werden durch Strom in Bewegung gesetzt und registrieren alle Töne auf einem Papierstreifen, der automatisch durch ein Uhrwerk bewegt wird.«

»Kurz, Sie transformieren die telefonische Unterhaltung in telefonische Schrift!« rief Armand aus.

»Genau! Sie sind überaus intelligent. Es genügt, wenn ich mir jeden Tag die mit Zeichen bedeckten Bänder abhole, um die geheimen Gedanken der Stadt vor Augen zu haben.«

Für einen Augenblick war der Journalist nicht bei der Sache. Diese Informationsbeschaffung stellte alles in den Schatten, was sich die bestinformierten Zeitungen leisten konnten. Das war die praktische Realisierung der direkten Befragung der öffentlichen Meinung.

Der Polizeichef genoß die Überraschung des Journalisten. Freundschaftlich nahm er ihn beim Arm und sagte: »Die Papierrollen liegen unter dem Tisch. Sie sind siebenhundert Meter lang. Der Verbrauch liegt bei etwa sieben Meter in vierundzwanzig Stunden.«

»Ist mir klar«, murmelte der Pariser, »aber ich sehe noch nicht, wie ich Ihnen von Nutzen sein kann.«

»Ich werde es Ihnen sagen.«

»In diesem Fall werde ich meine Ohren öffnen, um meinen Augen zu Hilfe zu kommen.«

»Dann hören Sie.«

Und indem er die Stimme senkte, als ob er befürchtete, von einem unbekannten Zeugen gehört zu werden, flüsterte Allsmine: »Meine tägliche Anwesenheit in der Post erregt schon Aufsehen. Sie hingegen als Ausländer sind hier unbekannt, keiner wird Sie beachten. Ich hoffe, daß Sie einwilligen, jeden Morgen hierherzukommen, um die Papierstreifen zu wechseln.«

»Mit dem allergrößten Vergnügen und mit besonderem Interesse«, erwiderte der Franzose.

»Unser gemeinsamer Feind Korsar Triplex wird gegenüber Telegrammen mißtrauisch sein und sich gewiß des Telefons bedienen. Es geht nur darum, jeden Tag die Papierstreifen zu untersuchen, ob er sich gemeldet hat.«

»Ist mir klar.«

»Und Sie finden die Idee gut?«

»Ausgezeichnet.«

»Nun, Mr. Lavarède, dann sind Sie der absolute Herrscher in diesem Gemäuer. Hier ist der Schlüssel. Ich verlasse mich auf Sie, wie Sie sich auf mich verlassen können.«


Seit fünf Tagen ging Armand jeden Morgen in das Städtische Telegrafenbüro. Er nahm die alten Streifen an sich und brachte seine Ernte in das Haus in der Paramata Street.

Bis jetzt hatte Allsmine noch nichts Interessantes entdeckt. Er fragte sich, ob Korsar Triplex selbst dem Telefon mißtraute, um Befehle an seine Komplizen weiterzugeben.

Es war am sechsten Tag, daß der Polizeichef in seinem Arbeitszimmer saß und mit schlechter Laune die Streifen entzifferte, die ihm Armand gebracht hatte.

»Nichts, noch immer nichts«, fluchte er.

– Schicken Sie mir fünfzig Bettlaken Nr. 7 – las er da. »Zum Teufel mit den Kaufleuten!« – Klein Coco hat ein Kasperletheater geschenkt bekommen – ging es weiter. »Zum Teufel mit den Kindern und ihrem Spielzeug.«

Entmutigt griff er zu dem letzten Band. Ein Meter, zwei Meter, vier Meter glitten an seinen Augen vorbei. Seine Miene drückte Langeweile aus. Plötzlich ein Schrei, seine Augen funkelten, er sprang auf und las laut:

– Hallo, hallo! Geben Sie mir 15722 –

– Sehr wohl, mein Herr, 15722 –

– Ja. –

Ein Punkt bezeichnete das Wählen der Vermittlung.

– Hallo. Sind Sie es, Goodeye? –

– Ja, Fairnose. –

– Gut, sind die Befehle von Kapitän Triplex ausgeführt? –

– Sie sind es. Und wie geht es ihm? –

– Ich denke, gut. Er ist nach den Goldminen von Brimstone Mounts in der Großen Sandwüste abgereist. –

– Eine lange Reise. –

– Aber nicht zu lang. Übers Meer bis zur Mündung des Skaim River. Von dort bis zur Quelle, und von da sind es noch drei Tage Fußmarsch bis zur Mine »Die drei Nadeln«. –

– Und er wird den Zeugen herbringen … –

– Der »Mr. Alles ist meins« unter die Erde bringt. –

– Perfekt. Keine neuen Instruktionen? –

– Nein. –

– Also dann, auf Wiedersehen, Fairnose. –

– Auf Wiedersehen, Goodeye. –

Eine Minute blieb Sir Toby regungslos sitzen. Er dachte an den Vorteil, den er aus dieser Mitteilung ziehen konnte.

Kein Zweifel. Kapitän Triplex war der Korsar und Mr. Alles ist meins er selbst.

»Puff over!« rief der Polizeichef schließlich aus. »Diesmal habe ich sie.«

Er griff zu seinem Hut und lief zum Centennial-Park-Hotel.

Dort stand Lavarède gerade in der Rezeption und las die Zeitung. Allsmine lief auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter.

»Mr. Lavarède«, sagte er.

Der Franzose hob den Kopf.

»Sir Toby, Sie?«

»Ich selbst.«

»Was verschafft mir die Ehre eines so angenehmen Besuchs?«

»Etwas Ernstes.«

»Deswegen lachen Sie?«

»Das ist der beste Beweis für die Ernsthaftigkeit dieser Angelegenheit.«

Vor dieser Bemerkung mußte Lavarède kapitulieren, aber seine Augen spiegelten seine Neugier wider.

»Sie sind doch ein Reisender?« nahm der Polizist den Faden wieder auf, ohne auf die stumme Frage zu antworten.

»Wenn schon nicht von Berufs wegen, so doch aus Berufung«, sagte sein Gegenüber bescheiden.

»Eine Ortsveränderung von einem Monat erschreckt Sie hoffentlich nicht?«

»Mitnichten, aber …«

Mit einer Geste winkte der Polizeichef ab.

»Zu niemandem ein Wort, denn wir werden morgen eine kleine Seereise machen.«

»Das gebe ich Ihnen gern, wenn auch …«

»Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich Ihr Cousin in der Großen Sandwüste im Westen von Australien aufhält. Sie fahren dorthin, ich begleite Sie.«

»Wie das?«

»Nun, ich weiß, wo wir Triplex treffen werden.«

Lavarède erbleichte.

»Wie haben Sie das …«

»Herausgekriegt? Sie selbst haben das gemacht.«

»Ah, die abgehörten Telefone, verstehe …«

»So ist es. Also, sind Sie einverstanden?«

»Sehr gern«, erwiderte Armand. »Im übrigen reibt mich Nichtstun auf, und, bei meiner Treu, ich würde mich nicht ärgern, diesem Korsaren einmal gegenüberzustehen. Als Mythos leben, ohne dafür eine Erklärung zu haben, das ist für einen Journalisten unerträglich.«

»Dann treffen Sie Ihre Vorbereitungen. Ich werde Sie heute abend abholen.«

Und indem er die Hand seines »Verbündeten« schüttelte, scherzte der Polizeichef gutgelaunt: »Puff over! Mr. Lavarède. Puff over! Wer zuletzt lacht, lacht am besten.«

Die beiden Männer trennten sich. Allsmine ging wieder nach Hause, während der Franzose sein Zimmer aufsuchte. Dort mußte er die Fragen von Aurett und Lotia über sich ergehen lassen. Denn als er ihnen erzählte, was er mit Sir Toby vereinbart hatte, waren die beiden Damen empört. Was? Es ging darum, daß er seinen Freund, seinen Cousin Robert, traf? Und darüber hinaus bildete er sich noch ein, daß sie damit einverstanden wären? Daraus würde nichts. Sie beide hätten schließlich ein Anrecht darauf, mitzukommen. Und eine Last wären sie bestimmt nicht. Und immerhin sei Aurett auch schon um die Welt gereist, da möge er sich bloß nichts darauf einbilden. Also: Entweder sie wären dabei, oder Lavarède bleibe hier.

Schließlich mußte der Journalist nachgeben. Er ging in die Paramata Street, um den Polizisten mit dem Wunsch seiner entzückenden Begleiterinnen vertraut zu machen. Doch dieser hatte zur großen Überraschung Armands nichts gegen die Begleitung der beiden Damen einzuwenden.

Als ihn Lavarède verlassen hatte, übergab er James Pack die Amtsgeschäfte und schärfte diesem besonders ein, auf Lady Joan aufzupassen.

»Die arme Frau macht mir Sorge«, sagte er heuchlerisch. »Triplex’ unberechenbares Handeln hat auf ihren Verstand keinen günstigen Einfluß. Achten Sie auf sie wie auf ein Kind.«

Gegen zwei Uhr morgens fanden sich Lavarède mit den beiden Damen sowie Allsmine auf dem Kreuzer Destroyer ein, den letzterer für die Jagd auf den Korsaren requiriert hatte. Kurz darauf setzte sich das Schiff langsam in Marsch und verließ Port Jackson in Richtung Westen.


Zwölftes Kapitel Das Goldsucherlager von Brimstone Mounts

Zwei oder drei Tage nach den im vorherigen Kapitel geschilderten Ereignissen fuhr eine leichte Piroge den Skaim River stromaufwärts, der sich im Westen Australiens in den Indischen Ozean ergießt.

Acht Männer handhabten die Ruder. An ihrem wettergebräunten Teint, ihren entschlossenen Blicken und ihren rhythmischen Bewegungen hätte der aufmerksame Betrachter unschwer Seeleute erkannt, noch dazu alle mit dem weiten Hemd und der engen, in Büffellederstiefeln steckenden Hose bekleidet waren. Im Hintergrund des Bootes saß ein mit einem Tropenhelm bedeckter Mann. Er schien der Anführer der kleinen Schar zu sein.

»Kapitän«, sagte respektvoll einer der Ruderer, »wir müßten uns bald der Stelle nähern.«

Der Mann hob den Kopf.

»Ja, mein Junge. Ich denke, daß der Fluß nach wenigen Meilen Richtung Süden abbiegt. Das ist der Punkt, von dem aus wir zu Fuß weitermarschieren.«

Dieser Satz wurde in reinem Englisch gesprochen, doch mit einem französischen Akzent, der den Nicht-Briten verriet.

Wieder herrschte Schweigen. Schnell schoß das Boot zwischen den bewaldeten Ufern dahin. Das Wasser, das sich an der Bordwand brach, war trübe, die Ufer einsam. Von Zeit zu Zeit durchschnitt ein kurzer Schrei die Luft. Ein Vogel flog schwerfällig über den Fluß und verschwand bald darauf zwischen den Blättern. Oder Känguruhs hopsten mit ihren seltsamen Sprüngen über eine Lichtung. Bei jedem Sprung der Beuteltiere schlugen ihre Hinterpfoten den Erdboden wie ein Trommelwirbel.

Doch im allgemeinen herrschte Schweigen über der tristen australischen Landschaft, nur hin und wieder vom Eintauchen der Ruder unterbrochen. Die Sonne hatte fast ihren Zenit erreicht und übergoß das Land mit blendender, gleißender Klarheit. Schweiß rann den Matrosen übers Gesicht, in dicken Tropfen tränkte er ihre Wangen, ihre Nase und ihren Mund. Alle litten unter der trockenen, heißen Luft.

Derjenige, der soeben mit dem Titel »Kapitän« angesprochen worden war, befahl: »Ans Ufer, Jungs. Wir ruhen uns im Schatten aus, bis die größte Hitze vorbei ist.«

Statt einer Antwort erklang aus den Kehlen der Männer ein rauhes Lachen, und die Piroge schoß weiter in der Flußmitte dahin. Nach einiger Zeit kamen sie an eine Flußbiegung, und der Matrose, der vorhin das Wort an den Kapitän gerichtet hatte, bemerkte: »Schauen Sie, dort vorn, Kapitän. Der Fluß macht eine weitere Krümmung nach Süden, und ich kann von hier die drei Spitzen erkennen, die man uns bezeichnet hat.«

Der Seemann hatte recht. Hinter einer von Bäumen noch verdeckten Biegung ragten drei Felszacken hervor.

»Nun, Kapitän?« fragte der Matrose.

»Ich glaube, Sie haben recht, Braddy. Zwei Meilen dürften uns noch von der Stelle trennen; also, eine letzte Anstrengung, Jungs, dann können wir uns ausruhen.«

Bald vermochten sie Einzelheiten zu erkennen. Seltsame Zeichnungen bedeckten die Felswände. Auf dem rötlichen Granit kreuzten sich eingemeißelte Linien mit einem geheimnisvollen Netz von grauen Strichen. War das eine Laune der Natur? Oder das Werk der Eingeborenen, der Aborigines? Kündeten die Monolithen als stumme Zeugen von einer naiven Religion, an die sich die heutigen Menschen schon nicht mehr erinnerten?

Niemand wußte es. Weder die australischen Stämme noch die europäischen Eroberer.

Aber diese geklöppelten Felsspitzen bildeten für die Reisenden einen Orientierungspunkt, der sie nicht fehlgehen ließ. Und falls sie doch noch im Zweifel gewesen wären, so wäre der rasch verflogen, denn als sich ihr Boot dem Ufer näherte, trat ein tätowierter, nur mit einem Lendenschurz bekleideter Eingeborener aus dem Gebüsch und stieß einen gutturalen Ruf aus.

»Dort ist der Führer, Kapitän!« rief Braddy.

»Ja, in der Tat, scheint unser Mann zu sein.«

»Also müssen wir uns hier trennen.«

»Ja, mein Junge.«

»Und erwarten wie abgesprochen hier Ihre Rückkehr.«

»Versteckt euch und die Piroge im Busch.«

»All right.«

Sanft glitt die Piroge mit einem leichten Knirschen auf den goldfarbenen Sand. Der am Ufer stehende Eingeborene grüßte mit erhobener Hand. Er war halbnackt, die Lenden waren mit einem hellen Schurz bedeckt, seinen struppigen Haarschopf zierten Raubtierzähne, die rechte Hand hatte er in die Hüfte gestützt, in der linken hielt er einen Karabiner. Er war häßlich für europäische Begriffe, aber seine Erscheinung strahlte Kraft und Zähigkeit aus.

»Mora-Mora grüßt Kapitän Triplex«, sagte er in einem rauh klingenden Englisch.

Der Mann mit dem Tropenhelm antwortete genauso: »Kapitän Triplex grüßt Mora-Mora.«

Danach sprangen die Insassen des Bootes ans Ufer. Die Ruderer luden sich das Boot auf die Schultern und verschwanden mit ihm im Dickicht, das einige Schritt vom Ufer entfernt begann.

»Wünscht der Kapitän zu speisen?« fragte der Australier.

»Ja.«

»Wir werden den Teppich unseres Weges erst nach der größten Hitze entrollen und wenn die Sonne, nachdem sie den Himmelsberg herabgestiegen, an dieser Stelle angekommen sein wird.«

Mit der Hand wies der Führer an eine Stelle am Firmament.

Sein Gegenüber gab mit einem Kopfnicken sein Einverständnis.

»Gut. Mora-Mora hat das Lebenslicht eines jungen Känguruhs gelöscht; Mora-Mora hat das Wildbret gehäutet und es der zärtlichen Liebkosung der Flammen ausgesetzt. Vielleicht möchte sich der Kapitän vor der Pause noch stärken?«

»Sicher, und meine Gefährten ebenfalls.«

Der Eingeborene lächelte und entblößte eine Reihe blendend weißer Zähne, die spitzgefeilt waren, warf seinen Karabiner über die Schulter und wandte sich zum Dickicht, in dem er verschwand.

Der Europäer blieb zurück und wunderte sich über die poetische Sprache des Führers. Das war eine Besonderheit der australischen Psyche. Männer, Frauen, Kinder sind physische Monster, die den Affen ähnlicher sehen als den Menschen; aber durch eine besondere Laune der Natur, durch eine unerwartete Kapriziosität der Schöpfung, ist ihr Ethos voller Anmut, poetischer Leuchtkraft, die sicher inspiriert ist von der herben Großartigkeit des dichtbewachsenen Busches und der schrecklichen Großartigkeit der ausgeglühten Einöden.

Der Kapitän hatte jedoch nicht die Zeit, sich diesen Überlegungen in aller Tiefe hinzugeben, denn die Matrosen hatten das Boot sicher versteckt und kamen nun zurück. Im selben Augenblick zeigte sich auch Mora-Mora wieder. In einer Hand trug er ein Bündel dickfleischiger Blätter, in der anderen schwenkte er triumphierend ein gebratenes Känguruh, das am Bajonett seines Gewehrs aufgespießt war. Dieser Anblick entlockte den Ruderern ein kräftiges Hurra! In Sekundenschnelle hatten sich alle im Schatten niedergelassen, und kurz darauf bewiesen Schmatzen und das Krachen der Kiefer, daß den ausgehungerten Mägen endlich Genüge getan wurde. Nachdem der Hunger gestillt war, streckte sich jeder auf dem Erdboden aus, und in der drückenden Hitze, die durch die Nachbarschaft des Flusses kaum gemildert wurde, gab sich die erschöpfte Truppe erst einmal dem Schlaf hin.

Relative Kühle weckte die Schläfer. Sie öffneten die Augen. Die weiße, stechende, blendende Glut der Tagesmitte war einer mattgoldenen Helle gewichen, die schon mit den roten Streifen des Abendrots durchsetzt war.

Mora-Mora hielt zwei gesattelte und aufgezäumte Pferde am Zügel und sagte: »Kapitän, der Augenblick ist gekommen.«

Mit einem Satz war dieser auf den Beinen.

»Ich bin bereit, Mora-Mora.«

Und nachdem er mit gedämpfter Stimme dem alten Braddy schnell einige Instruktionen gegeben hatte, sprang Triplex in den Sattel. Auch der Eingeborene bestieg sein Pferd. Beide verschwanden auf einem kaum wahrzunehmenden Pfad im Busch.

Fast zwei Stunden ritten sie so, eingepfercht zwischen zwei blätterbewachsenen Mauern, dann erreichten sie schließlich eine weitgestreckte Ebene, die von Gummibäumen gesäumt war. Der Weg erlaubte ihnen jetzt, ihre Pferde schneller ausgreifen zu lassen.

Zur Nacht erreichten sie eine Herberge, wenn man dieses Wort für den schmucklosen, rohen und ziemlich baufälligen Aufenthaltsort überhaupt gebrauchen darf. Unterwürfig empfing sie der Besitzer.

»Möchte schwören, ein Gentleman, der sich auf dem Weg nach den Goldfeldern von Brimstone Mounts befindet«, sagte er, wobei er die Hände vor seinem rundlichen Bauch faltete.

»So ist es«, antwortete der Kapitän gleichgültig.

»Gute Idee. Die Ernte lohnt sich.«

»Kümmert mich wenig. Ich suche nur einen Goldgräber.«

»Bei der Seele Cawsons!« rief der Wirt aus. »Ich glaube davon kein Wort. Das Goldfeld läßt keinen mehr los, der es erst einmal betreten hat.«

»Mich schon, denn ich brauche Gold nicht.«

»Ah, der Gentleman ist reich!« rief Cawson erfreut und zog instinktiv seine Mütze.

Der Kapitän lächelte.

»Ihr Respekt vor dem Reichtum läßt vermuten, daß er in diesem Landstrich sehr selten ist.«

»Ha! Wo wohnt dieser phantastische Götze?«

»Mir scheint doch, daß dieses Goldland …«

»Irrtum, Gentleman, Irrtum. Die Claims enthalten mehr Desillusionen als kostbares Metall.«

»Wirklich?«

»Nun, wäre ich Goldwäscher geblieben, wäre ich verhungert. Aber ich bin auf eine Goldader gestoßen.«

»Und die wäre?« fragte der Kapitän amüsiert.

»Hier. Die Herberge.«

»Ach was!«

»Doch. Die Pioniere, die voller Elan hierherkommen, überlassen mir einen Teil ihrer Vorräte; und die, die voller Enttäuschung wieder abziehen, überlassen mir einen Teil ihrer Ausbeute. Sie werden arm und ich reich.« Der dicke Mann schnaufte, dann redete er in einem belehrenden Ton weiter: »Ich will Ihnen was sagen, Gentleman. Die Schürfplätze sind der Köder für die Verkäufer von Nahrungsmitteln und Wasser.«

»Nicht möglich.«

»Aber ja doch, sage ich Ihnen. Wenn ein Schürfer gut arbeitet, hat er, nun, sagen wir, mittelmäßiges Glück, dann schürft er etwa hundert Goldfranken am Tag.«

»Teufel! Das ist doch was!«

»Warten Sie. Das wäre ein anständiger Lohn in einer gewöhnlichen Stadt; aber hier ist wegen der schwierigen Verbindungen und der fehlenden Konkurrenz alles teurer.«

»Verstehe. Die Händler nutzen die Situation aus.«

»Es ist das Gesetz von Angebot und Nachfrage, Gentleman. Brauchen Sie etwas nicht unbedingt, so fällt der Preis der betreffenden Produkte; wird dieses Produkt unerläßlich, so steigt sein Preis.«

»Wie hoch denn?«

»Nun, ein Ei kostet fünf Franken, eine Flasche Wasser vier, normaler Tafelwein die Flasche zwanzig Franken, ein Huhn ein bis zwei Pfund, Bier zehn Franken der Liter. Eine ganz normale Mahlzeit kostet Sie etwa dreißig Franken. Wenn Sie Kleidung, Werkzeug hinzurechnen, die ebenfalls sehr teuer sind, dann kommen Sie zu der Überzeugung, daß hundert Franken am Tag einen Schürfer nur in Schulden stürzen.«

»Zu der Überzeugung komme ich, in der Tat.«

»Und das ist nicht alles, die Schürfer werden zudem noch von den Goldhändlern ausgebeutet, denn diese kennen die Situation der Schürfer sehr genau. Findet ein Schürfer eine hübsche Ader, dann ist in Null Komma nichts der Händler da und bietet dem Schürfer an, sie für ein Viertel des tatsächlichen Wertes zu kaufen. Der Schürfer nimmt an, denn er bekommt ja bares Geld in die Hand. Alles in allem, Sie finden dort, wo es das meiste Gold gibt, auch die größte Armut.«

»Nun, Mr. Cawson«, unterbrach ihn der Kapitän. »Nach dieser philosophischen Betrachtung wäre etwas Materie nicht schlecht. Tischen Sie uns was auf. Und behandeln Sie uns nicht wie arme Goldschürfer.«

Dieser Hinweis entlockte dem Wirt ein sonores Lachen. So schnell, wie es seine Korpulenz erlaubte, deckte er einen Tisch in dem einzigen Saal und gab zwei schwarzen Bediensteten seine Befehle. Nachdem diese Vorbereitungen beendet waren, kam er zu den Reisenden zurück und sagte: »Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie ein wenig warten lasse, denn meine Frau Peggy ist nicht da. Sie bringt unser Geld zur Bank. Wir bewahren hier nur wenig auf, denn die enttäuschten Schürfer haben kaum Skrupel zu stehlen, wo sie können.«

»Von den Händlern bestohlen, stehlen sie selbst bei jeder Gelegenheit«, sagte Triplex. »Das ist das Gesetz des Gleichgewichts, Mr. Cawson.«

»Das Gesetz kenne ich nicht«, erwiderte Cawson und kratzte sich am Kopf. »Aber sicher gibt es so ein Gesetz, wenn Sie das sagen.«

»Gibt es nicht auch Goldschürfer, die ein Vermögen machen?«

»O gewiß! Einer auf zehntausend vielleicht findet eine ergiebige Ader; wenn er sie ausbeuten kann, ohne daß die anderen es merken, ist er reich; und wenn sich sein Fund rumspricht, ist er verloren. Hundert Messer warten in der Dunkelheit, um ihn um die Früchte seiner Entdeckung zu bringen.«

Bei diesen Worten berührte der Führer, der bis dahin unbewegt der Unterhaltung gelauscht hatte, den Kapitän leicht am Arm und sagte: »Mora-Mora und seine Brüder mißtrauen den goldenen Steinen. Damit ein Krieger seine Begleiterin ernährt, bedarf es nur eines guten Gewehrs, eines Bumerangs und Muts. Mit Worten mißachten die Weißen das Gold, aber sie zerfleischen sich, um in seinen Besitz zu kommen. Warum behaupten sie, daß wir Wilde sind?«

Eine lästige Frage an die Weißen; deshalb begnügte sich der Kapitän damit, beistimmend zu nicken, um dann auf den Kern ihrer Reise zu sprechen zu kommen.

»Apropos, Mr. Cawson«, fragte er, »kennen Sie vielleicht einen gewissen Bob Sammy in Brimstone Mounts?«

»Bob Sammy, ja. Ein Riese von Mann, finster und schweigsam.«

»Das ist er.«

»Ein seltsamer Kerl, der anderen Angst einflößt. Er hat keine Freunde. Seine Hütte hat er auf einem Felsen errichtet, der wie eine Insel zwischen zwei schmalen Hohlwegen liegt. Er arbeitet allein, und abends sitzt er meist vor seiner Hütte und schaut nach Westen. Man behauptet, daß er dort manchmal die ganze Nacht sitzt. Ein Schürfer hat mir erzählt, daß er einmal bei Vollmond Bob Sammy beobachtet hat, und das war eine Stunde nach Mitternacht. Bob machte ganz irre Bewegungen und schien irgend jemand zu rufen. Im übrigen tut er keiner Flieg’ was, aber man hält ihn für ein bißchen meschugge.«

Die Reisenden hatten keine Zeit mehr, darauf zu antworten, denn in diesem Augenblick wurde ihnen ein einnehmendes Opossumragout vorgesetzt. Damit waren sie für einige Zeit beschäftigt.

Danach rollte sich der Kapitän in eine Decke, die während des Rittes hinter seinem Sattel festgeschnallt war, und legte sich in einer Ecke des großen Raumes schlafen, ungeachtet der Redseligkeit des dicken Cawson. Dieser wollte sich dafür an dem Führer schadlos halten, aber der Australier hatte es dem Kapitän schon gleichgetan.

Dem Wirt blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls schlafen zu gehen, nachdem er den Eingang mit einem eisernen Riegel verschlossen hatte. Dann stieg er eine wacklige Treppe empor, die in einen schmalen Verschlag führte, den er stolz »mein Appartement« nannte.

Am Morgen verabschiedeten sich die beiden Reisenden von dem Wirts-Philosophen und ritten Richtung Osten weiter. Ihre Siesta hielten sie unter Gummibäumen, die eine Quelle umstanden; die Nacht verbrachten sie in einem felsigen Tal. Da sich in der Gegend weit und breit kein Anwesen befand, hatten der Führer und der Kapitän beschlossen, die Nacht hier zu verbringen.

Der kommende Tag war eintönig. War das Land bisher grün gewesen, so änderte es nun sein Aussehen. Sie ritten durch eine flache, glatte, nur selten hügelige Gegend. Der gelbe Sand wurde nur hin und wieder durch rötliche Felsen unterbrochen.

»Die australische Große Sandwüste«, sagte Mora-Mora.

Glücklicherweise kannte er sich hier aus, und so konnten sie die ärgste Glut des Tages in einer kleinen Grotte verbringen. Dann setzten sie ihren Weg fort. Zwei Tage ritten sie durch die Wüste. Endlich zeigte sich am dritten eine schwache dunkle Linie am Horizont.

Der Australier wies mit der Hand darauf.

»Die Berge von Brimstone!«

Bei diesen Worten spornte der Kapitän sein Pferd an, aber der Eingeborene fiel ihm in die Zügel.

»Wenn Sie Ihr Reittier galoppieren lassen, werden wir heute nicht mehr unser Ziel erreichen«, sagte er.

»Ach was! Es sind doch kaum zehn Meilen!«

»Wenn Sie das Doppelte veranschlagen, kommen Sie der Wahrheit um einiges näher. Sie sind nicht an flaches Gebiet gewohnt und ermessen die Entfernungen kaum.«

Die Bemerkung entsprach der Wahrheit, denn sie erreichten die Ausläufer der Berge erst, nachdem die Sonne sich zum Horizont geneigt hatte.

Triplex hatte ein grandios-schauriges Bild vor Augen. Gezackte Höhenzüge, hin und wieder von offenen Spalten durchzogen und durch schmale, schluchtartige Taleinschnitte voneinander getrennt, in denen bläulicher Nebel waberte, dessen Geruch dem Begleiter des Eingeborenen den Ausruf entlockte: »Aha! Schwefelsäuredämpfe!«

Die chemische Bezeichnung war dem Führer unverständlich, aber den Ausdruck, der diese Bemerkung begleitete, verstand er wohl.

»Du riechst das Leid«, erklärte er. »Hier ist das Land, wo man es erntet. Es gibt Quellen, die ganze Schlamm- und Staubfontänen voller Leid herausschleudern. Schau es dir genau an. Hier findet man die größten Goldsteine.«

Die Reiter schwenkten in einen Taleinschnitt ein, der breiter war als die anderen. Spalten und kleine Erhebungen durchzogen den Boden. Aus allen entwich bläulicher Dampf, und ihre Seiten waren von gelblichem Schwefelstaub bedeckt. Das waren Solfatare oder schweflige Vulkane, die der Hügelkette, die die Reisenden jetzt durchritten, ihren Namen gaben.

Zunächst schien die Gegend menschenleer, aber als er genauer hinschaute, entdeckte der Kapitän doch Menschen. Die einen knieten am Ufer eines gelblichen Flusses und wuschen dessen Schlamm und Sand, um daraus die wertvollen Nuggets zu sieben; die anderen hämmerten auf die Quarzfelsen ein.

Als sie weiterritten, stellte der Europäer fest, daß die unterirdische Bodenaktivität ständig zu spüren war. Überall lagen verstreute Basaltblöcke – Zeugen leichter Beben, die von den Felsen losgerissen worden waren. Unter ihren Füßen brodelte der Boden wie das Wasser in einem Pfeifkessel, und immer wieder entwich hier und da ein beißender, scharfer Dampf dem Boden, der das Atmen erschwerte und die Augen verklebte.

Mora-Mora ritt auf einen der Goldwäscher zu und fragte: »Können Sie mir sagen, wo sich das Haus von Bob Sammy befindet?«

Der Arbeiter richtete sich auf, betrachtete die Reiter mißtrauisch und entgegnete grob: »Völlig zwecklos, euch den Weg zu erklären. Bob läßt niemanden rein.«

»Was läßt Sie denn denken, daß mein Chef ›rein‹ will; aber es dürfte ihm doch gestattet sein, den Schürfplatz des Mannes von nahem zu besehen.«

»Damit er für seine Neugier eine Kugel in den Pelz kriegt? Gut, gut, das bringt ein wenig Abwechslung. Der Weg ist nicht schwer zu finden. Reitet den Bach etwa eine Meile aufwärts entlang; ihr kommt an eine Stelle, wo die Schwefeldämpfe so dicht sind, daß sie den Boden bedecken. Dort mittendrin steht ein Felsen von vielleicht zwanzig Meter Höhe und auf dem Felsen eine Hütte. Dort ist es.«

Und ohne sich weiter um die beiden zu kümmern, nahm der Mann seine Arbeit wieder auf.

Der Führer machte sich daran, den Hinweisen des Mannes zu folgen. Zusammen mit dem Kapitän schritt er, die Pferde am Zügel, am Wasser entlang. Hin und wieder drehte sich einer der Goldwäscher nach dem Geräusch um, das die Schritte der Pferde machten. Diese Gesichter waren hart, und in ihren Blicken lag sowohl etwas Drohendes wie Fanatisches.

Wenn man sie sah, mußte man unwillkürlich an die Sentenz des Hinduphilosophen Nuraki denken:

»Wer nur die Sucht nach Gold besitzt, wird zum Banditen. Das Leben erschöpft sich für ihn in einem Wort: nehmen. Und wenn sich die Gelegenheit bietet, nimmt er, ohne zu zögern; wenn möglich, mit List und Tücke, denn Tücke entspricht eher dem Geist des Schwachen, es sei denn, er entscheide sich, Gewalt anzuwenden. Die Sucht nach Gold ist kein Ideal, kein hehres Gefühl und kein großer Gedanke, es ist einfach nur Appetit, der aus jedem menschlichen Wesen einen von jedem Edelmut weitentfernten Menschen macht und ihn unweigerlich der Niedertracht und dem Stumpfsinn überantwortet.«

Als der Kapitän sie sah, verstand er, warum es soviel Morde auf den Goldfeldern gab. Auf den sorgenvollen Stirnen der Goldsucher las er das Aufbegehren der Verdammten, in ihren Augen das Blitzen blanker Hoffnungslosigkeit, und selbst aus ihren Mündern schienen beim Sprechen Morddrohungen zu entweichen.

Inzwischen waren sie weiter vorangekommen. Die Hügel, die das Tal einschnürten, wurden enger; die Löcher, aus denen Schwefeldämpfe entwichen, waren dichter geworden, der Dunst stickiger, so daß den Erdboden ein dicker weißlicher Teppich zu bedecken schien. Und hundert Schritt von ihnen entfernt ragte ein Felsmassiv ähnlich einem aus Wolkendunst emporsteigenden phantastischen Schloß empor, auf dem eine Hütte stand. Am Rande des felsigen Abgrundes stand ein Mann aufrecht inmitten von Felsgeröll und blickte nach Westen. Man hätte ihn für ein Denkmal halten können, so war er mit der Granitmasse verschmolzen.

Die Schwefeldämpfe wogten um die beiden Reiter. Mit tränenden Augen und brennender Kehle konnten sie nur mühsam Atem holen. Ihre Tiere hoben erwartungsvoll den Kopf, als ahnten sie instinktiv, daß sie weiter oben reinere Luft finden würden.


Dreizehntes Kapitel Bob Sammys Hütte

Plötzlich machte der nachdenkliche Schürfer eine Bewegung. Er hatte die Besucher wahrgenommen.

»Seine Augen ruhen auf uns«, flüsterte Mora-Mora.

Einen Augenblick lang betrachtete der Schürfer baß erstaunt die Kühnen, die es gewagt hatten, bis zu seinem Domizil vorzudringen. In dem Bild, das er von ihm entworfen hatte, hatte der Wirt die Wildheit des Mannes kaum übertrieben, und mehr als einer der Goldsucher hatte seine Neugier schon bitter bereut.

»Sind Sie Bob Sammy?« schrie der Korsar.

»Und Sie, wer sind Sie?« schrie der Riese mit rauher Stimme zurück, die die Distanz zwischen ihnen mühelos überbrückte.

Ruhig erwiderte der Kapitän: »Ich bin der, auf den du wartest.«

Der Mann setzte sein Gewehr ab, das er beim Anblick der beiden Reiter instinktiv in Anschlag gebracht hatte, und schien zu überlegen.

»Welchen Beweis haben Sie dafür?« fragte er mißtrauisch.

»Der Lachlan River fließt wie immer träge dahin«, sprach der Reiter, »aber der goldene Harlekin ist aus den Wassern aufgetaucht, um Tränen zu trocknen.«

Der Schürfer warf seinen Karabiner zu Boden, auf den er mit einem trockenen Klicken niederfiel, breitete die Arme aus und rief mit bewegter Stimme: »Ich komme herab, Meister. Ich komme herab, um Sie zu führen.«

Wie von der Tarantel gestochen, rannte er zu dem entgegengesetzten Felsrand und stieg einen schmalen Pfad herab, der in die Ebene führte. Der Weg war ihm gut vertraut, denn sonst hätte er sich bei der Geschwindigkeit auf dem steinigen, glatten Pfad sicher den Hals gebrochen.

In fünf Minuten war er bei den Besuchern, doch als ihm der Kapitän die Hand hinstreckte, wich er zurück.

»Noch nicht, Meister, noch nicht. Warten Sie damit, bis das Unheil wieder gutgemacht wurde«, sagte er. »Aber kommen Sie erst einmal, Meister. Seit Jahren erwartet meine bescheidene Hütte Ihren Besuch.«

Zweifellos mußte der Kapitän über die geheimen Gedanken seines Gegenübers bestens unterrichtet sein, denn er zeigte keinerlei Spur von Überraschung.

»Und unsere Pferde?« fragte er nur.

»Der Sie begleitet, kann die Tiere zu Roboam Smith führen, sein Haus liegt da unten, etwa fünfhundert Meter von hier entfernt.«

Mora-Mora nickte.

»Du kannst ihm sagen, daß die Pferde Bob Sammy gehören. Das genügt; sie werden gut versorgt werden. Und dann komm ruhig in meine Hütte. Du bist der Diener des Kapitäns, und mein Haus gehört dir.«

Majestätisch senkte der Eingeborene den Kopf.

»Mora-Mora nimmt Ihre Gastfreundschaft dankend an. Aber Mora-Mora ist ein Häuptling und niemandes Diener. Er ist der Freund des Kapitäns.«

»Nun gut«, sagte der Riese, und in seinen Worten schwang das Mißtrauen mit, das die Pioniere der Insel angesichts der Ureinwohner verspüren, »dann erneuere ich meine Einladung an dich als Freund

Seine Ironie entging dem Führer, oder wollte er nur die Unterhaltung nicht fortsetzen? Nichts in seiner Physiognomie verriet den leisesten Argwohn. Er griff nach den Zügeln seines Pferdes und denen vom Pferd des Kapitäns und wandte sich zu dem Haus, das ihm der Schürfer bezeichnet hatte.

Letzterer war mit seinem Gast allein geblieben. Er schaute diesen mit einer Mischung aus Erstaunen und Befriedigung an.

»Das ist seltsam«, sagte er schließlich. »Er ist es, und ich erkenne ihn nicht wieder.«

Ein Lächeln spielte um die Lippen des Korsaren.

»Versuch es nicht zu verstehen, Bob. Es wird dir rechtzeitig erklärt werden. Ich bin der, den du erwartest, und dennoch bin ich nicht der, der zu sein du glauben magst.«

Mit einer Bewegung schnitt er dem Goldsucher, der etwas erwidern wollte, das Wort ab.

»Ich wiederhole es. Gehorche und verlang keine Erklärungen. Auch wenn ich nicht er bin, so bin ich doch auch er, und das Unheil wird wieder gutgemacht.«

Der vierschrötige Goldsucher verbeugte sich so tief, daß man meinte, er wolle niederknien, und sagte ehrerbietig: »Wenn es Ihnen genehm ist, Meister, so kommen Sie in meine Hütte.«

»Es ist mir genehm, Bob.«

Ein letzter Blick auf den Führer, der zum Haus von Roboam Smith unterwegs war, und der freiwillige Eremit wandte sich zu dem Basaltmassiv, dem mächtigen Fundament seiner Hütte. Der Kapitän folgte ihm. Beide machten sich daran, den Anstieg zum Plateau zu erklimmen. Bei jedem Schritt stützte der Pionier mit seiner kräftigen Hand den Begleiter. Seine rauhe Stimme wurde geradezu sanft, wenn er Hinweise zu den Tücken des Weges gab: »Den Fuß auf diesen Vorsprung, Meister … Die Hand in diese Vertiefung … So … Fein! Vorsicht, dieser Felsblock wackelt … Gut!«

Schließlich war der gefahrvolle Aufstieg geschafft, und die beiden Kletterer standen auf dem Plateau.

Trotz der glättenden Arbeit des Regens ließ die Oberfläche des Felsens – etwa vier bis fünf Meter je Seite – die gewaltige tektonische Kraft ahnen, die ihn früher über das Tal hatte emporragen lassen. Überall war der Boden geborsten und mit Blasen übersät; man fühlte, daß man auf erkalteter Lava ging.

Es war schrecklich und finster: Kein Grashalm, nicht eine dieser Schmarotzerpflanzen, die sich selbst an den härtesten Granit krallen. Basalt widersteht Sporen. Der Vulkan schleudert ihn als Schlacke aus der Erde heraus. Erkaltet bleibt er schwarz und abweisend, ein Todesbote aus dem Inneren der Erde, der jedes Leben abweist.

Durch ein natürliches Bollwerk aus Felsgestein geschützt, stand hier die Hütte des Goldsuchers. Bob öffnete die schwere Tür und bat den Korsaren einzutreten. Dieser kam der Aufforderung nach und blickte neugierig um sich. Die Unterkunft war erbärmlich, aber die hölzerne Wand, der Fußboden aus gestampftem Lehm, die Waffen und Werkzeuge und die Pfannen in der Küche waren sauber.

Der Riese rückte einen Schemel heran und sagte dröhnend: »Zweifellos haben Sie Hunger. Ich habe letzte Nacht gejagt und Vorräte beschafft: einen Emu, Beutelratten und Hasen. Hier, Meister, setzen Sie sich, während ich das Essen vorbereite.« Und mit einem Augenzwinkern: »Sie stehen auf der Klappe, die mein Versteck verschließt. Dort habe ich zwei Sack Goldstaub. Zu Ihrer Verfügung, wenn die Mittel fehlen, um den Kerl zu besiegen, der aus mir einen Mörder machen wollte.«

Schwatzend zog er, aus einem großen Schnappsack das Wild. Er warf die Tiere nach draußen und nahm sie aus. Bald erschien Mora-Mora wieder. Wortlos half der Australier dem Goldsucher beim Ausnehmen des Wildes. In kurzer Zeit waren die Tiere ihres Felles oder Federkleides beraubt und bereit zum Braten.

Es wurde Nacht. Eine in einer Flasche steckende Kerze beleuchtete die Hütte. Draußen garte der Emu, groß wie ein riesiger Truthahn, über der offenen Flamme, die das Felsplateau mit einem rötlichen Schimmer überzog. Der Kapitän näherte sich den beiden am Feuer hockenden Männern. Seine Blicke irrten über die ganz im Dunkeln liegende Gegend.

Plötzlich schien der Boden unter seinen Füßen zu zittern.

»Was ist das?« fragte er.

Der Riese zuckte mit den Schultern und erwiderte gleichgültig: »Nichts. Schwefelvulkane. Passiert von Zeit zu Zeit. Es wird etwas mehr Rauch geben, aber hier werden wir davon nicht belästigt. Wir sind zu hoch.«

Dann schwieg er wieder.

»Letztes Jahr«, sagte er nach einiger Zeit, »sind Gelehrte hier gewesen. Sie gebrauchten Worte, die ich nicht verstanden habe. Ich habe nur soviel mitbekommen, daß sie das Tal für einen riesigen Krater hielten, dessen Kruste ständig in Bewegung war. Ihrer Meinung nach säßen wir hier auf dem Deckel eines kochenden Topfes. Riskant, aber unmittelbare Gefahr bestehe nicht, solange der Druck in der Erde durch Spalten und Solfatare entweichen würde. Doch ich bin kein Gelehrter.«

Plötzlich hielt er inne.

»Sehen Sie, in den Schwefelgruben brennt es.«

Der Korsar folgte der Richtung von Bobs Blicken. Unten in der Ebene leuchtete es grün und rot auf. Erst vereinzelt, dann immer häufiger, wie ein riesiges Feuerwerk. Als würde sich die Erde öffnen und einen Blick in die Hölle gestatten. Der Kapitän hatte freilich nicht lange Zeit, sich an diesem schaurig-schönen Anblick zu erfreuen. Bob meldete, daß der Emubraten gar sei.

»Lassen Sie den Schwefel brennen, Meister, und kommen Sie zu Tisch.«

Der Tag war anstrengend gewesen, und so ließen sich sowohl der Korsar als auch sein Führer nicht zweimal bitten. Der Emu schmeckte exzellent. Und nachdem die Reisenden ihren Hunger gestillt hatten, waren sie rechtschaffen müde. In Sekundenschnelle hatte ihr Gastgeber Matten auf den Boden der Hütte gelegt. Dort streckten sie ihre ermatteten Glieder aus und waren bald eingeschlafen. Bob räumte sorgfältig die Reste der Mahlzeit weg und legte sich dann ebenfalls, in eine Decke gerollt, auf den Boden schlafen.

Aber keiner der drei konnte sich einem unbeschwerten, friedlichen Schlummer überlassen. Sie schliefen zwar, doch es schien ihnen, als würden sie einen seltsamen Alptraum miterleben. Sie hatten den Eindruck, als würde ihre Schlafstätte eine Schiffskajüte sein und sich auf stürmischer See befinden, so schwankten sie hin und her. Kampfgeräusche drangen in ihr Unterbewußtsein, Detonationen von Geschützen und Musketen, die Takelage ächzte; nichts fehlte, die Illusion war perfekt. Zunehmende Hitze trieb ihnen den Schweiß auf die Stirnen, drückende Luft machte ihnen das Luftholen schwer. Plötzlich schreckten alle drei gleichzeitig hoch und blickten entsetzt um sich.

Durch die Fenster der Hütte drang zwar das Tageslicht, aber es war ein trübes Licht; bläulicher Nebel waberte in der Hütte, und, was noch seltsamer war, dieser Dunst brannte in den Augen und verursachte Hustenreiz.

»Was ist denn los?« stammelte der Kapitän zwischen zwei Hustenanfällen.

»Die Schwefelgruben rauchen«, erwiderte der Hüne gelassen. »Es ist nur das erstemal, daß ihre Dämpfe bis zum Plateau steigen.«

Er hatte kaum geendet, als ein pfeifender Knall die Luft zerriß; der Basaltkegel wurde geschüttelt wie ein Baum im Sturm, und fahle Blitze zuckten durch den Nebel.

Mit einem Satz waren die drei Männer auf den Beinen. Sie liefen nach draußen. Dort warf sich der Australier augenblicklich auf die Erde und wimmerte furchtsam: »Die Feuergeister haben sich von ihren Ketten gerissen!«

Die Europäer standen sprachlos angesichts dessen, was sie sahen.

Ihr Felsplateau bildete eine Insel, die von den anderen Felsmassen durch enge Schluchten getrennt war. Durch diese Schluchten ergoß sich jetzt ein Lavastrom.

»Ein Vulkanausbruch«, murmelte der Korsar.

Genauso war es. Die unterirdische Kraft hatte die Erdkruste gesprengt; der »Topf« war übergekocht, und die Lavamassen ergossen sich nun ins Tal, bedeckten es mit ihrer brodelnden, dampfenden Masse, auf der Irrlichter zu tanzen schienen.

»Wir sind vom Feuer eingeschlossen!«

Diese Worte ließen seine Gefährten erzittern. Sie rückten an den Rand des Plateaus vor und schauten in die Tiefe. In der Tat, von überallher leckten die Flammen an dem Basaltblock. Sie befanden sich auf einer Insel, die jedoch nicht vom Meer, sondern von glühender, kochender Lava umgeben war.

Der Schiffbrüchige, den es auf eine mitten im Ozean liegende Insel verschlägt, ist gewiß zu beklagen; aber der Baum schenkt ihm dort Schatten und vielleicht auch Früchte; der Vogel singt ihm ein Lied, das Wasser selbst sorgt für seine Nahrung, indem es Muscheln und Krebse an den Strand spült.

Hier war allerdings nichts von alledem zu hoffen. Ein nackter, kahler Fels, der von einer flammenden Glut umgeben war. Es gab keine Hoffnung auf Hilfe. Das Tal war menschenleer. Die Schürfer waren geflohen, soweit sie das noch konnten. Nacheinander wurden ihre Behausungen eine Beute des sich langsam dahinwälzenden Lavastromes. Sie waren allein auf sich gestellt. Und was konnten schon drei Menschen gegen die entfesselten Naturgewalten ausrichten?

Mora-Mora hatte sich auf den Boden geworfen. Rief er seine Götter zu Hilfe, oder ergab er sich schon dem Todesgesang seines Stammes? Der Kapitän stand am Rande des Felsplateaus und blickte nach Osten. Der Goldsucher trat zu ihm.

»Meister«, sagte er, »wir haben noch Vorräte für drei oder vier Tage. Frühstücken wir erst einmal. Danach können wir immer noch beraten, was wir tun sollen.«

Dieser Appell an die physischen Bedürfnisse riß sie aus ihren betrüblichen Betrachtungen. Essen – das hieß ums Leben kämpfen.

»Essen wir«, antworteten die beiden Besucher Bobs.

Die Eruptionen hatten etwas nachgelassen, aufkommender Wind hatte die Schwefeldämpfe weggeweht.

Bob lächelte und bereitete ein kräftigendes Frühstück.

»Wir müssen weg von hier«, sagte der Kapitän kauend.

»Ja«, antwortete Bob. »Es gibt vielleicht eine Möglichkeit.«

Die anderen schauten ihn fragend an.

»Eine Möglichkeit?«

»Kühn, aber vielleicht haben wir Erfolg.«

»Und die wäre?«

»Dieser Baum.«

Er wies auf einen gewaltigen, hundertjährigen Gummibaum, der sich ihnen gegenüber auf der anderen Seite der Schlucht erhob.

»Wenn wir ihn so zu Fall bringen, daß seine Spitze auf unser Plateau stürzt, dann hätten wir eine Brücke, um den Abgrund zu überwinden.«

»Um ihn abzuschlagen, muß man erst hinüberkommen.«

»Richtig. Ich werde es versuchen.«

»Wie denn?«

»Mit einem Seil, an dem ein Enterhaken hängt. Das eine Ende befestige ich hier an einem Felsblock, das andere Ende mit dem Haken werfe ich nach drüben. Der Haken wird sich an einer Gabelung im Geäst verfangen, ich klettere mit einer Axt am Seil hinüber und …«

Der Kapitän schüttelte den Kopf. Ein verrücktes Unterfangen. Doch Bob beharrte darauf und tat, wie er gesagt hatte. Er holte aus der Hütte ein Seil, so dick wie sein kleiner Finger, an dessen Ende ein eiserner Haken mit vier Klauen, ähnlich einem Anker, befestigt war.

»Ich weiß, wie man damit umgeht«, erklärte er. »Wie oft bin ich schon Felsen daran hochgeklettert. Eine Sache der Gewöhnung.«

Ein neuerlicher Erdstoß unterbrach das Vorhaben des mutigen Goldsuchers. Während des ganzen übrigen Tages folgte ununterbrochen ein Ausbruch dem anderen. Mehrere Male glaubten die Gefangenen des Feuers schon, ersticken zu müssen, so beißend waren die Dämpfe, die über dem Plateau zusammenschlugen. Es wurde Abend, ohne daß die in hellem Wahn begriffene Natur Bob Sammy erlaubt hätte, sein gewagtes Experiment zu versuchen.

Es blieb den im Feuer Gestrandeten nichts weiter übrig, als sich schlafen zu legen und am nächsten Tag den Versuch zu starten. Schon hatten sie sich mit den vulkanischen Eruptionen abgefunden. Das Prasseln und Stöhnen der Erdrinde hinderte sie nicht daran, einzuschlafen, und am Morgen erhoben sie sich frischer als tags zuvor. Sie waren zuversichtlicher geworden und hatten Vertrauen in ihre eigene Kraft.

Hinzu kam, daß an einem blauen Himmel die Sonne lachte. Die vulkanischen Eruptionen waren abgeklungen, und wäre nicht der desolate Anblick des Tales gewesen, so hätten die drei glauben können, das alles nur geträumt zu haben.

Der Augenblick des Handelns war gekommen.

Von seinen Begleitern gefolgt, trat Bob an die Felswand, die derjenigen, auf der der Gummibaum stand, genau gegenüberlag. Er befestigte das Seil an einem Felsblock, schwang das Ende mit dem Haken über seinem Kopf und warf.

Die leine schwirrte durch die Luft, der eiserne Klauenhaken klickte trocken gegen die rauhe Baumrinde, hakte sich allerdings nicht fest.

Ohne sich entmutigen zu lassen, rollte der Schürfer die Leine wieder ein und unternahm einen weiteren Versuch. Dreimal wiederholte er das Manöver erfolglos. Endlich, beim viertenmal, verhakte sich das Eisen in einer Astgabelung. Zunächst vorsichtig, dann härter, ruckte Bob an dem Seil. Es spannte sich. Der Haken hielt. Der Versuch war geglückt.

Das Schwierigste stand nun bevor, und wieder widersetzte sich der Kapitän dem Unterfangen. Vom Plateau aus gesehen, wirkte das Lasso wie der Faden eines Spinnennetzes. Es schien unmöglich, daß es das Gewicht des Hünen aushalten könnte. Letzterer beantwortete die Vorhaltungen des Kapitäns mit einem Lachen. Es war nicht das erstemal, daß er sich seinem Seil anvertraute. Er wußte, wieviel es aushielt. Und um das unnütze Gerede zu beenden, packte er es mit beiden Händen und ließ sich daran über den Abgrund gleiten. Langsam hangelte er sich Zentimeter um Zentimeter weiter. Dieser Mann, der da über einem flammen- und rauchspeienden Abgrund schwebte, bot ein grandioses Schauspiel. Aber er kam voran. Schon hatte er die Mitte seines gefahrvollen Weges erreicht. Das Seil bog sich.

Plötzlich stieß Bob einen Schrei aus.

»Der Anker löst sich! Zieht das Lasso hoch!«

Bevor der Kapitän und der Australier begriffen hatten, hörten sie ein Krachen. Der Ast, in dessen Gabelung das Eisen festgehakt war, brach ab und stürzte in die Tiefe. Sammy stieß gegen den Basaltblock.

Doch der couragierte Pionier hatte nicht den Kopf verloren. Ohne das Seil loszulassen, drehte er sich um sich selbst und fing sich mit den Füßen am Fels ab. Der Aufprall hatte keine ärgerlicheren Folgen, allerdings baumelte Bob nur wenige Meter über der Lava, in die der Anker eingetaucht war.

Schreckensstarr beugten sich seine Gefährten über den Felsrand und riskierten abzustürzen.

»Zieht! Zieht!« schrie der Goldsucher atemlos. »Das Seil fängt Feuer. Beeilt euch, oder ich bin verloren!«

Der eiserne Haken war in der Tiefe verschwunden, und eine tanzende Flamme kroch vom anderen Ende des Seiles auf den Goldsucher zu.

Mit einem Satz war Mora-Mora neben dem Felsblock, an dem das Seil befestigt war. Der Kapitän tat es ihm gleich, und beide legten sich das Seil um ihre Schultern. An diesem Seil allein hing das Leben ihres Kompagnons. Es war ein schwieriges Unterfangen. Der Mann hatte ein beträchtliches Gewicht. Dennoch rückte er nach und nach höher.

»Los, Kinder, los!« rief er. »Die Flamme kommt näher, aber ihr schafft das schon!«

Endlich tauchte der Kopf Sammys am Rande des Plateaus auf. Jetzt konnte er sich auch mit den Füßen abstützen. Es war höchste Zeit. Seine Freunde stürzten zu ihm und zogen ihn auf den Felsen. Einige Zeit blieben alle drei erschöpft liegen, unfähig zu irgendeiner Reaktion.

»Danke«, sagte der Goldsucher schließlich, »danke. Obwohl mir nun auch nichts weiter übrigbleibt, als mit euch zu sterben.«

Sie blickten auf.

»Scheiße!« rief er. »Unser Seil ist futsch. Wir haben nur noch Nahrung für zwei Tage, und dann …«

»Es ist möglich, daß Hilfe kommt.«

Ein Schulterzucken und ein Auflachen begleiteten die Antwort Sammys: »Solange es hier qualmt, kommt kein Mensch her. Vielleicht vergehen Wochen oder gar Monate, bis man uns findet. Und dann sind wir schon verhungert. Es sei denn, dieser gottverdammte Gummibaum fällt von allein herüber.«

Er hatte ihre Situation deutlich umrissen. Die einzige Chance der drei Männer, dem Lavastrom zu entkommen, war gleichzeitig mit dem Lasso des Goldsuchers in Rauch aufgegangen. Von dieser Feststellung bis zur Verzweiflung war es nur ein Schritt. Der Tag verging trübsinnig und eintönig, nur hin und wieder von der schwächer werdenden Tätigkeit der Vulkanausbrüche unterbrochen.

Das gleiche in der Nacht. Das gleiche am nächsten Tag. Die letzten Nahrungsmittel wurden rationiert. Zwei Tage ging das gut, dann war vor allem das letzte Wasser verbraucht. Und noch immer rollte der Lavastrom durch die Schluchten, noch immer grummelte der Vulkan, noch immer reckte der Gummibaum seine grünen Zweige wie zum Hohn in den Himmel.

Das gleiche nach neun Tagen.

Der Kapitän und Mora-Mora lagen wie leblos auf dem Felsen. Bob Sammy, kräftiger als sie, schleppte sich manchmal bis zum Rande des Felsplateaus und blickte sehnsüchtig zum fernen Horizont, der irgendwo hinter den Lavadämpfen sein mußte. Nichts.

Der Himmel verdunkelte sich, die Sterne gingen auf. Die drei hatten nicht einmal mehr die Kraft, sich zum Schlaf in die Hütte zu schleppen. Die nächtlichen Stunden brachten die Schlafenden dem Tod immer näher. Die Morgenröte beleuchtete drei ausgemergelte, bleiche Gestalten, denen selbst das Sprechen zuviel Kraft kostete. Nur Mora-Mora, dessen Stimme leicht wie ein Hauch war, gab sich einem Singsang hin, der aus englischen und Brocken seiner eigenen Sprache bestand und in dem von gebratenen Emus und Känguruhs und sanften Mädchen die Rede war. Und natürlich von Wasser.

»Wasser … Wasser«, flüsterte der Kapitän.

Er hob den Kopf und schien zu lauschen. Seine Augen leuchteten.

»Wasser«, flüsterte er wieder. »Es läuft den Felsen herab. Ah, tut das gut!«

Er tat so, als würde er mit langen Zügen trinken.

»Sauber, kalt, köstlich«, flüsterte er noch, dann sank sein Kopf nach hinten. Schlief er, oder glitt er bereits hinüber ins Nichts?

Das fragte sich Bob Sammy, als er ihn mit einem trauernden Blick bedachte. Allein er schien noch eine Weile mit seinen Kräften haushalten zu können. Dennoch schüttelte er niedergeschlagen den Kopf.

»Heute abend wird alles zu Ende gehen«, murmelte er und schlug mit der Faust auf den Felsen. »Niemand kommt uns zu Hilfe. Wir werden verrecken wie Hunde.«

Er zuckte mit den Schultern und streckte seinen schweren Körper lang auf dem Boden aus. Gegenwärtig stand die Sonne im Zenit. Ihre sengenden Strahlen stachen bereits auf den Felsen, aber die Gefährten des Goldsuchers waren für die Hitze nicht mehr empfänglich, denn sie konnte die innere Kälte nicht mehr bezwingen.

Plötzlich horchte Bob auf. Er stützte den Kopf auf einen Arm und lauschte. Er glaubte weit entfernt ein Geräusch vernommen zu haben, das sich von den Geräuschen, die er all die Tage über vernommen hatte, unterschied.

»Pferde«, sagte er gedehnt.

Aber umsonst versuchte er, dieses Geräusch genauer auszumachen. Es verschwand schließlich wieder.

»Ich träume«, sagte er, »das ist der Hunger …«

Und entmutigter als eben noch, ließ er sich nach hinten sinken. Ein Hoffnungsschimmer hatte ihn durchzuckt, die Enttäuschung war niederschmetternd. Er begann zu heulen und stammelte entnervt: »Geh, Bestie. Du bist verdammt. In der Stunde des Todes soll man Buße tun. Du bist verloren und nimmst den mit dir, der das Verbrechen verhindert hat. Ein geplantes Verbrechen verfolgt uns also auch, selbst wenn man es nicht begangen hat.«

Der Körper des Goldsuchers wurde von Schluchzern geschüttelt.

»Ich habe Durst. Mir ist kalt, obwohl mich die Sonne verbrennt. Im Herzen ist mir kalt! Ach Kind, von der Mutter getrennt, es ist mir versagt, dich ihr zurückzugeben … Ah, wen sehe ich da …! Mylord Green selbst.«

Blicklos schaute der Sterbende in die Weite. Er phantasierte: »Ich war ein Ganove, Mylord Green. Der Whisky und die Karten hatten meine Taschen völlig leer gemacht. Er verfolgte mich. Er hat mich getäuscht. Er hat mir Guineen angeboten, viel Guineen. Auf seinen Befehl hin bin ich zum Lachlan River gezogen. Dort hab ich die kleine Maudlin gepackt …, aber ich habe sie nicht in den Fluß geworfen, so wie er es gesagt hatte … Nein, sie lebt … Sie lebt. Nur, Sie haben recht, sie hat ihre Mutter nicht gekannt; und diese hat den Mörder geheiratet. Erbarmen, guter Lord, Erbarmen … Sie sehen, daß ich mich verabscheue; ich habe allein gehaust, ich habe nach Gold gegraben, das ich hasse, aber der Kapitän wollte es so …, ich brauchte nur zu gehorchen … Ich hoffte die Vergangenheit auszulöschen; es ist der Vulkan, das Feuer, das die Erde verschlingt, Gnade, Mylord … Gnade.«

Der Hüne war wie von Sinnen. Er rang die Hände, seine Züge waren verzerrt, und seine Augen tränten.

Plötzlich ließ seine Angst nach. Ein Ausdruck des Erstaunens glitt über sein Gesicht. Er preßte sein Ohr auf den Felsen.

»Einbildung oder Wirklichkeit?« sagte er langsam. »Ich höre immer noch Pferde.«

Einen Augenblick schwieg er und lauschte angestrengt. Dann sprang er mit einem Satz auf.

»Ich habe mich nicht getäuscht! Dort unten müssen irgendwo Pferde sein, Reiter. Holla, Kameraden, auf! Rettung naht. Wir müssen ihnen unsere Gegenwart signalisieren!«

Er war aufgesprungen und schüttelte seine Gefährten; aber diese antworteten nur mit einem Lallen auf seine Worte. Sie waren nicht mehr fähig, etwas zu begreifen.

Wie ein Betrunkener taumelte er zu seiner Hütte. Er brauchte lange, um sie unter unglaublichen Anstrengungen zu erreichen. Jeder Schritt schmerzte in seinem Kopf, in seiner Brust, in seinen Gliedern; dennoch schleppte er sich vorwärts, nur von der Idee besessen, dem knöchernen Zugriff des Todes zu entgehen.

Mühsam griff er nach seinem Karabiner. Wie schwer doch die Waffe geworden war! Er stopfte sich die Taschen mit Patronen voll und schleppte sich auf wackligen Beinen, das Gewehr geschultert, wieder zum Felsrand gegenüber dem Gummibaum zurück. Dort ließ er sich auf einem Gesteinsbrocken nieder. Er hustete, rasselnd pfiff ihm die Luft aus der Lunge, sein Herz klopfte dumpf in der Brust.

Nach und nach beruhigte er sich. Bob Sammy schob eine Patrone in den Lauf und drückte ab.

Die Detonation rollte durch das Tal und brach sich an den gegenüberliegenden Felswänden, wurde verstärkt durch das Echo. Mit wächsernem Gesicht lauschte der Goldsucher, dann schoß er erneut, und wieder rollte der Donner der Explosion von Fels zu Fels.

Diesmal erhielt er Antwort. Ein weitentferntes Knattern drang bis zu ihm. Die er gerufen hatte, hatten sein Zeichen gehört. Das war gut, aber sie mußten sich beeilen, und deshalb mußte er sie so schnell wie möglich zu dem Punkt führen, auf dem er und seine Freunde gefangensaßen. Auf dem Höhenzug der Brimstone Mounts war es leicht, sich zu verirren, und jede Verzögerung konnte dem Kapitän und Mora-Mora den Tod bringen.

Alle fünf Minuten feuerte Bob einen Schuß ab. Automatisch widmete er sich dieser Aufgabe. Die Fremden antworteten, und der anwachsende Schall ihrer Schüsse erlaubte abzuschätzen, welchen Weg sie bereits zurückgelegt hatten.

Schließlich erfolgte eine Detonation so nahe, daß Bob begriff, daß seine Rolle als Signalgeber beendet war. Er entlud ein letztes Mal seine Waffe und ließ sie dann, am Ende seiner Kräfte, neben sich sinken. Nun galt es nur noch, die unbekannten Retter zu erwarten.

Wie lange dauerte das wohl? Wahrscheinlich nicht einmal wenige Minuten, aber für Bob wurden die Sekunden zu Jahrhunderten. Er hatte seine letzten Kräfte aufgebraucht und konzentrierte seinen ganzen Willen nur noch darauf, nicht vom Felsen zu stürzen. Endlich hörte er menschliche Stimmen. Auf dem gegenüberliegenden Felsen erschienen menschliche Gestalten. Nun richtete sich der Goldsucher zu voller Größe auf, zeigte auf den Gummibaum und rief: »Schlagt den Baum und baut eine Brücke!«

Dann stürzte er ohnmächtig zu Boden.


Der Kapitän, Mora-Mora und Bob erwachten unter einem Zelt. Sie lagen auf Matten. Eine viereckige Öffnung erlaubte ihnen, nach draußen zu schauen. Einige Schritt von ihnen entfernt sahen sie die Wurzeln eines Baumes, dessen Spitze auf einem Felsabgrund auflag. Sie erkannten ein Basaltplateau, auf dem Bobs Hütte stand. War es ihnen also doch gelungen, den Lavastrom auf einer Brücke zu überqueren? Die Frage war ihnen von den Augen abzulesen.

»Ja«, antwortete ihnen eine Stimme, die sie nicht kannten.

Sie versuchten in der Ecke, aus der die Stimme gekommen war, etwas zu erkennen. Aber alles, was sie von dem Mann sahen, war, daß er dort im Schneidersitz hockte und einen Tropenhelm aufhatte.

»Ja«, sagte dieser noch einmal. »Wir haben den Baum geschlagen und Sie herübergeholt. Es war höchste Zeit. Eine Stunde später, und Sie wären … Wenn es Ihnen besser geht, möchte Sie der Chef sprechen.«

Der Unbekannte stand auf und verließ das Zelt. Bald kam er mit einer großen stattlichen Person zurück, deren markantes Gesicht von einem dichten Backenbart umrahmt war.

»Euer Ehren kann sich davon unterrichten, daß die Leute in der Verfassung sind, ihm zuzuhören«, sagte er respektvoll.

»Ja.«

Der neu Hinzugekommene betrachtete die drei Männer, dann näherte er sich dem Goldsucher.

»Sie sind Bob Sammy, nicht wahr?« fragte er.

»So ist es«, antwortete der Schürfer.

Der Mann nickte zufrieden und zeigte auf den Australier.

»Und das ist sicher Mora-Mora, der australische Führer.«

»So ist es«, antwortete Bob Sammy statt des Australiers. »Aber sagen Sie, woher haben Sie Ihre Informationen?«

Ein ironisches Lächeln spielte um die Lippen des bärtigen Mannes.

»Sie waren nicht in dem Zustand, sich vorzustellen«, sagte er schließlich, »und so mußte ich meine Erkundigungen einziehen. So habe ich auch erfahren, daß Ihr letzter Begleiter«, sein ausgestreckter Finger berührte fast die Brust des Kapitäns, »daß Ihr letzter Begleiter, sage ich, niemand anders ist als Korsar Triplex.«

Die drei zuckten zusammen, was dem Mann nicht entgangen war.

»Wie ich sehe, drücken meine Worte einen exakten Sachverhalt aus.«

Bevor ihm noch einer der drei etwas hätte erwidern können, zog der Mann eine kleine Pfeife aus seiner Tasche, setzte sie an die Lippen und ließ einen durchdringenden Ton hören.

Sofort stürmten mehrere Männer in das Zelt und stellten sich neben den Matten auf, auf denen der Kapitän und dessen Freunde lagen.

»Tapfere Männer«, sagte derjenige, der sie herbeigepfiffen hatte, »ihr habt Nächte unter freiem Himmel verbracht, seid hierhin und dorthin marschiert und habt eine lange Überfahrt hinter euch. Man hat euch an der Nase herumgeführt, verspottet, lächerlich gemacht. Der Mann, dessentwegen ihr soviel gelitten habt, bezeichnet sich stolz als Korsar Triplex. Nun gut, da ist er, in unserer Gewalt!«

Und während auf eine Handbewegung von ihm seine Untergebenen die Gefangenen packten, die noch zu schwach waren, als daß sie ernsthaft hätten Widerstand leisten können, neigte sich der Mann mit dem blonden Bart zu dem Kapitän herab und sagte hämisch: »Sie kennen mich zweifellos, Mr. Triplex. Es ist unmöglich, daß Sie einen Krieg gegen mich führen, ohne mich kennenzulernen. Ich werde korrekt sein bis zuletzt; das gebietet einem der Anstand gegenüber einem Feind. Schließlich möchte ich Sie nicht im ungewissen lassen, mit wem Sie es zu tun haben.«

Er unterbrach sich mit einem höhnischen Auflachen.

Dann machte er eine Pause, verbeugte sich vor dem Kapitän, legte die Hand auf die Brust und sagte: »Ich bin Sir Toby Allsmine, Oberster Chef der Pazifikpolizei Ihrer Majestät der Königin von Großbritannien.«


Vierzehntes Kapitel Wiedergefunden …! Und dennoch verloren

Es war tatsächlich Allsmine, der dank der angestifteten Verwirrung durch den unvorhergesehenen Vulkanausbruch rechtzeitig eingetroffen war, um sich des bis dahin so erfolglos gehetzten Feindes zu bemächtigen.

Von Sydney mit der Destroyer ausgelaufen, hatte der Polizeichef das Schiff vor der Mündung des Skaim River ankern lassen. Lavarède, Aurett und Lotia waren entsprechend seiner Order auf dem Kreuzer zurückgeblieben, während er selbst in Begleitung mehrerer Männer den Weg nach Brimstone Mounts eingeschlagen hatte. Unterwegs hatte er erfahren, daß eine Naturkatastrophe die Goldfelder verwüstet hatte. Flüchtende Goldsucher hatten ihm berichtet, daß zwei Unbekannte kurz vor dem Ereignis nach Bob Sammy gefragt hätten; er hatte also die Gewißheit, daß derjenige, den er suchte, der Eruption nicht entkommen war.

Dennoch hatte er seinen Weg fortgesetzt, weil ihn der Wunsch beseelte, den Beweis für den Tod seines Erzfeindes zu erhalten. Der Zufall war ihm zu Hilfe gekommen und hatte seine kühnsten Erwartungen übertroffen. Der Korsar wurde sein Gefangener.


Als sie den Namen Allsmine hörten, waren der Kapitän und Sammy blaß geworden. Sie schienen beide dasselbe gedacht zu haben, denn ihr Blick schweifte zu den Lavadämpfen und schien zu sagen: Besser Gefangene des Feuers als des obersten Polizeiherrn des Pazifiks. Gefangene! Das Wort war genau richtig, und Toby bemühte sich bestens, sie es unentwegt spüren zu lassen. Zwei Männer wurden zur Bewachung der Europäer abgestellt. Da Mora-Mora offensichtlich nichts mit dem Kleinkrieg Allsmine–Korsar zu tun hatte, wurde er freigelassen. Man gab ihm seine Waffen wieder, dazu Nahrung für einige Tage und forderte ihn auf, sie unverzüglich zu verlassen und sich nicht wieder blicken zu lassen.

Die Bewacher wußten, wie wertvoll ihre Gefangenen waren, deshalb ketteten sie sie auch aneinander, um jeden Fluchtversuch zu vereiteln. Derart aneinandergekettet durchlebten und durchlitten die beiden die verschiedenen Stadien ihrer Gesundung. Am dritten Tag waren ihre Kräfte soweit wieder hergestellt, daß man sie auf zwei Pferde hieven konnte, die ihre Bewacher am Zügel führten. Nachdem das getan war, machte sich die Truppe auf den Rückweg.

Der Weg durch die Wüste war unerträglich; die Sonne marterte nicht nur die Menschen, sondern auch die Erde mit ihren unerbittlichen Strahlen. Nachts konnten die Unglücklichen wenigstens atmen, doch tagsüber war es kaum auszuhalten. Dennoch schien der anfangs sehr niedergeschlagene Kapitän allmählich wieder Zuversicht zu schöpfen.

Am Ende des dritten Tages bemerkte Bob Sammy, daß ihn sein Leidensgefährte scharf fixierte. Er vermutete, daß ihm der Kapitän etwas mitteilen wollte. Und sobald die Truppe haltmachte, streckte er sich neben dem Kapitän auf dem Erdboden aus. Beide behaupteten, müde zu sein und unverzüglich schlafen zu wollen.

Die Bewacher waren argloser geworden, denn für die Gefangenen wäre es der sichere Tod gewesen, wenn sie versuchen würden, hier, in der Wüste, zu entkommen. Und während sich Allsmine in sein Zelt zurückzog und seine Männer die abendliche Mahlzeit vorbereiteten, schienen sich die Gefangenen einem wohlverdienten Schlaf hinzugeben.

Plötzlich öffnete der Kapitän leicht die Augen, vergewisserte sich, daß niemand sie beobachtete oder hören konnte, was sie sich zu sagen hätten. Dann rief er leise: »Bob.«

Der Goldsucher flüsterte: »Ich höre Sie, Meister.«

»Gut! Morgen werden wir wohl Cawsons Herberge erreichen.«

»Ich denke auch.«

»Dort mußt du entwischen, Bob!«

»Ich werde tun, was Sie befehlen. Ich habe alle meine Kräfte wiedergewonnen, und ich werde Ihre Handschellen und Stricke wie Bindfäden zerreißen. Nur will ich mich nicht von Ihnen trennen.«

»Keine Widerrede. Du mußt tun, was ich dir sage.«

Einer der Bewacher kam auf sie zu. Vielleicht hatte der Mann irgendein Geräusch vernommen und trat nun aus professionellem Mißtrauen näher, um einen Blick auf die Gefangenen zu werfen. Er sah sie unbeweglich und mit geschlossenen Augen, die Hände zur Faust geballt, daliegen.

»Hm«, sagte er, »meine Ohren sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Die schlafen fest.«

Und mit einem Schulterzucken wandte er sich wieder seinen Kameraden zu, die beim Essen waren.

Nach seinem Weggang herrschte kurze Zeit Schweigen, dann rief der Kapitän wieder: »Bob.«

»Ich höre, Meister.«

»Du mußt fliehen, unterbrich mich nicht, die Zeit drängt. Daß wir beide entwischen, ist unmöglich. Man achtet besonders auf mich. Aber du kannst es. Du kennst die Gegend. Du schlägst dich zum Skaim River durch. Bei der Flußbiegung an den drei Felsspitzen haben sich meine Freunde mit einem Boot versteckt. Du wirst ihnen sagen: Ich bin der, den der Kapitän holen wollte. Er ist von Allsmine gefangengenommen worden und wird nach Sydney gebracht. Dorthin müssen wir auch. Miß Maudlin wird entscheiden, was zu tun ist.«

»Ich werde handeln, wie Sie wünschen, Meister. Aber still!«

Ihr Bewacher tauchte zum zweitenmal auf.

»Beim Schwanze Satans«, knurrte dieser, »meine Ohren spielen mir doch nicht zweimal einen Streich. Ich werde diese Galgenstricke trennen, dann hab ich endlich Ruhe.«

Mit einem Fußtritt weckte er Sammy.

»He, was soll das!« beschwerte sich der Goldsucher und rieb sieh die Augen wie ein Mensch, den man unsanft aus dem Schlaf gerissen hat; »es ist nicht gerade angenehm, so auf einem herumzutrampeln!«

Der Polizist lachte.

»Quatsch nicht! Hoch mit dir!«

»Warum denn?«

»Weil es mir so paßt. Du kannst weiterschlafen. Aber dort drüben.«

Und er wies auf einen anderen Platz.

»Es ist nicht korrekt, einen Gefangenen zu treten.«

»Red nicht, ein Fußtritt ist erträglicher als der Galgen, der auf euch wartet. Also los, auf!«

Sammy warf dem Wächter einen wutentbrannten Blick zu, erhob sich jedoch und folgte dem Mann. Zwanzig Meter weiter zeigte der Beamte auf eine Stelle, auf der ein wenig Moos zu schillern schien.

»Hier, leg dich hin. Du siehst ja, daß deine Klagen ungerechtfertigt waren, hier hast du direkt eine Matratze. Schlaf und sei mir lieber dankbar für soviel Aufmerksamkeit.«

Der Hüne warf sich wortlos auf die Erde, und der Polizist gesellte sich zu seinen Kameraden, die um das Feuer herumsaßen.

Der Kapitän hatte sich nicht gerührt. Man hätte glauben können, er habe nichts gesehen, nichts gehört. Man mußte ihn schütteln, um ihn zu wecken, damit er seine Abendmahlzeit einnehmen konnte. Danach schlief er sofort weiter.

Die Nacht verging ohne jeden weiteren Zwischenfall. Am frühen Morgen stiegen die Männer wieder in die Sättel. Gegen Abend kamen sie in Cawsons Herberge an. Dieser zeigte, durch eine lange Erfahrung von Auf und Ab gewitzt, keinerlei Überraschung, als er die Gefangenen erkannte. Er kümmerte sich nicht um sie und gab auch durch nichts zu verstehen, daß er sie schon einmal gesehen hatte.

Aber Vorsicht schützt vor Neugier nicht, und der Wirt wußte es besser als sonst jemand, daß Bob Sammy alles andere als ein Mensch war, der sich friedlich in sein Schicksal schickt. Und so machte er sich zunutze, daß die Bewacher gerade bei einem opulenten Mahl saßen, um sich unter das Fenster des Zimmers zu schleichen, in dem der Schürfer gefangengehalten wurde.

Es stand halb offen.

»He! Bob Sammy, bist du es?«

»Frag nicht so blöd, klar bin ich das, und ich freu mich, dich zu sehen.«

»Ich würde mich auch freuen, wenn deine Situation nicht so mies wäre.«

Der Hüne lachte.

»Glaub ich gern, Cawson, und ich zögere nicht, dir zu versichern, daß du sie ändern kannst.«

»Dir helfen«, stammelte der Wirt und wurde todernst. »Du willst doch damit nicht sagen, daß ich dir helfen soll, der Polizei zu entwischen. Denk daran, daß ich mein Haus in jahrelanger ehrlicher Arbeit zu dem gemacht habe, was es jetzt ist.«

»Nein, nein …, das will ich damit nicht sagen«, entgegnete Bob. »Du könntest mir helfen, mein lieber Cawson, indem du dich meiner Flucht nicht entgegenstellst!«

Der Wirt rollte mit den Augen.

»Mich nicht entgegenstellen …?«

»Ja. Es reicht aus, wenn du deine Hunde heute nacht an die Kette legst … Du riskierst nichts, die Polizeiposten genügen, damit das Haus bewacht ist.«

»Stimmt schon. Nur …, wenn man mich nun beschuldigt, dein Komplize zu sein?«

»Das wird niemand vermuten, mein Lieber … Und dann könnte ich dir für diese Gefälligkeit einen anderen Gefallen tun und dir sagen, wo ich zwei Säcke feinsten Goldstaub versteckt habe. So annähernd vierzig Pfund …«

Bei diesen magischen Worten wurde das feiste Gesicht des Wirts geradezu spitz.

»Vierzig Pfund …«, wiederholte er. »Habe ich richtig gehört?«

»Genau.«

»Vierzig Pfund … Und die gibst du mir?«

»Ich werde dir verraten, wo sie versteckt sind, und du kannst sie dir holen.«

»Wenn du das tust, werde ich meine Doggen sogar mit zu mir ins Bett nehmen.«

»Na fein. Also hör zu, sie liegen in Brimstone Mounts in meiner Hütte. Von der Tür vier Schritt in die Hütte. Dann gräbst du an der Stelle vierzig Zentimeter tief. Du stößt auf ein Brett, und unter dem Brett ist das Versteck.«

Cawson hörte zu, hin- und hergerissen zwischen Freude und Mißtrauen.

»Du machst dich nicht über mich lustig?«

»Ich gebe dir mein Wort als Gentleman.«

»Ich glaube dir, Bob, ich glaube dir. Du gehörst nicht zu den raffgierigen Burschen, das weiß ich. Also werde ich mich nach Brimstone Mounts aufmachen und mir zur Erinnerung an dich die vierzig Pfund holen. Nur zur Erinnerung, klar, denn du bist ein wirklicher Freund.«

»Schon gut, aber vergiß nicht die Hunde.«

»Keine Bange, Cawson kennt sich aus in Geschäften; sei unbesorgt, und viel Glück auf dem Weg.«

Die Essenden verlangten nach dem Wirt, der sich nach einem letzten Gruß von Bob entfernte. Letzterer blieb allein. Er hörte noch einige Zeit das Lachen der Polizisten, dann wurde es still. Hin und wieder erklang das Geräusch eines regelmäßig auf und ab gehenden Wachpostens vor seinem Fenster.

Vorsichtig spannte der Herkules seine Muskeln. Die Stricke, mit denen er an Händen und Knöcheln gefesselt war, rissen. Er lachte kurz auf.

»Stopfgarn für Weiber! Die Menschheit muß ziemlich schwach geworden sein, wenn das ausreicht, um sie festzubinden.«

Danach glitt er leise von seinem Bett, ließ sich auf Hände und Knie herab und kroch zum Fenster.

Der Wachposten drehte ihm den Rücken zu.

»He«, murmelte Bob, »das Bürschchen kenn ich doch. Das ist der Halunke, der mir gestern abend die Fußtritte verpaßt hat. Der ist mir der liebste von allen.«

Vorsichtig öffnete er das Fenster, kletterte auf den Sims und sprang auf den Polizisten. Der wollte noch einen Schrei ausstoßen, aber die gewaltige Faust Bobs fällte ihn wie einen Ochsen.

Der Hüne beugte sich über ihn und tätschelte ihm die Stirn.

»Hab vielleicht ein bißchen derb zugehauen«, preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Scheint, daß ich ihm den Schädel eingeschlagen habe.« Und sich erhebend, fügte er hinzu: »Um so schlimmer für ihn. Aber andererseits habe ich ihm ja auch einen Dienst erwiesen. Ein Polizistenleben ist doch alles andere als amüsant.«

Nach dieser lakonischen Grabrede packte der Schürfer die Waffen des Wachpostens, schlich zum Stall, ergriff eins der Pferde, sattelte es und führte es leise am Zügel aus der umfriedeten Herberge. In einiger Entfernung schwang er sich in den Sattel, gab dem Pferd die Sporen und galoppierte in Richtung Osten davon.

Der Kapitän, der in einem anderen Raum von Cawsons Anwesen gefangengehalten wurde, fand keine Ruhe. Gespannt lauschte er auf etwaige Geräusche. Da er wußte, daß Bob nur die Nacht nutzen konnte, um seine Bewacher zu täuschen, fürchtete er jeden Lärm, der ihm den Mißerfolg des Unternehmens angezeigt hätte.

Im Falle des Mißlingens wären sie beide verloren gewesen. Die Hoffnung, die er auf das Zusammentreffen des Goldsuchers mit den Männern seiner Mannschaft gesetzt hatte, wäre zerstoben wie Staub im Wind.

Inzwischen vergingen die Stunden, ohne daß er den geringsten Laut vernommen hätte.

Hinter den Fenstern seines Gefängnisses sah der Kapitän, wie allmählich die dunkle Nacht von feinen grauen Schwaden verdrängt wurde. Schwere Schritte dröhnten durch das Haus. Die Männer erhoben sich. Bald würde man den Weg fortsetzen. Besorgt näherte sich der Kapitän der Tür. Wenn Bob seinen Befehl ausgeführt hatte, wenn es ihm gelungen war, seinen aufmerksamen Bewachern zu entwischen, dann war jetzt der Augenblick gekommen, wo man seine Flucht entdecken mußte. Diese Flucht würde Schreie und Flüche zur Folge haben, deren Echo unzweifelhaft bis zu den Ohren des Gefangenen dringen mußte.

Zehn Minuten vergingen in fieberhafter Erwartung. Was … Nichts? Hatte Sammy nicht gehorcht? War er auf unüberwindliche Hindernisse gestoßen? Das Gesicht des Kapitäns war bleich geworden, die Lippen hatte er zusammengepreßt, alles an ihm verriet gespannte Unruhe, die fast zur Qual wurde.

Plötzlich entspannten sich seine Züge. Ein überraschter, wütender Schrei drang bis zu ihm. Bald unterschied er einzelne Rufe und Flüche. Am meisten fluchte Sir Toby.

»Verdammt!« tobte der Polizeichef wütend. »Und es fehlt ein Pferd! Verflucht! Wehe euch, wenn Triplex entkommen ist! Schnell, lauft zu seinem Zimmer.«

Man rief sich etwas zu, Getrappel auf der Treppe, man hätte denken können, eine Hundemeute verfolgt ein Tier; die Tür knallte dumpf gegen das Mauerwerk, und alles, was Beine hatte, ergoß sich in den Raum, in dem der Kapitän ruhig auf seinem Bett saß.

»Na, was ist?« bellte Sir Toby von unten.

»Der Kapitän ist hier«, antworteten seine Männer.

»Aber was ist denn überhaupt los? Bringt den Gefangenen runter, wir werden die Sache klären.«

Von mehreren Händen gepackt und gestoßen, stolperte Triplex aus seinem »Gefängnis« die Treppe hinab, bis er vor Sir Toby stand, der neben dem von Bob Sammy niedergestreckten Körper des Bewachers kniete.

Sir Toby hatte begriffen. Das offene Fenster, durch das der Goldsucher geflohen sein mußte, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Er war ins Zimmer getreten und hatte bemerkt, daß es leer war.

Als der Korsar vor ihn geführt wurde, schaute er ihn böse lächelnd an.

»Ihr Freund hat es vorgezogen, uns zu verlassen. Bah! Das soll uns nicht kümmern. Wir werden um so sorgfältiger darauf achten, daß uns der Wichtigere von beiden nicht entwischt. Ja, ja, Mr. Triplex, wir passen mehr auf Sie auf als eine Mutter auf ihr Kind.«

Dann wandte er sich an seine Männer.

»Los, meine Tapferen, zu Pferd!« befahl er. »Heute abend werden wir an den drei Spitzen sein, und auf der Überfahrt können wir uns von den Strapazen erholen.«

Mit Blitzeseile schwangen sich die Reiter in die Sättel und verließen die Herberge, bis zur Umfriedung von respektvollen Grüßen Cawsons begleitet, der ob der stattgefundenen Ereignisse nicht gerade unglücklich war.

Sie machten mittags nur eine kurze Rast, und gegen vier Uhr kamen die erschöpften Menschen und Tiere in dem Wäldchen am Ufer des Skaim River an, zu Füßen der drei Felsnadeln.

Direkt am Ufer war ein kleines Dampfboot festgemacht, und mehrere Männer lagen im Gras. Das waren die Mannschaft und das Boot, mit denen Sir Toby stromauf gekommen war.

Es war zu spät, den Weg sofort zu Wasser fortzusetzen. Die im Sommer fast ausgetrockneten australischen Flüsse führen im Frühjahr und Herbst ziemlich viel Wasser, und es wäre unvorsichtig gewesen, sich nachts den Untiefen und Strudeln auszusetzen. Eine rasche Mahlzeit wurde eingenommen, dann legte sich jeder zur Ruhe. Der Kapitän war an Bord gebracht und in eine Kabine gesperrt worden, und zwei Männer bewachten ihn, den Revolver in der Hand.

Der Kapitän selbst schien von diesen Vorsichtsmaßnahmen nicht sonderlich beeindruckt, denn er legte sich mit derselben Ruhe nieder, als würde er von guten Freunden bewacht.

Nichts hätte seinen und den Schlummer der anderen gestört in dieser duftenden und sternenklaren Nacht, wenn nicht gegen ein Uhr ein Wachposten einen Schuß abgegeben hätte. In einer Sekunde war alles auf den Beinen, was Beine hatte, doch der Alarm schien ohne ersichtlichen Grund erfolgt zu sein. Zwar behauptete der Wachposten, eine schwarze Masse auf dem Fluß gesehen zu haben, die zwischen den Felsen hindurchgeglitten sei, aber unter den derben Scherzworten seiner Kameraden war er sich seiner Sache letztlich selbst nicht sehr sicher. Kurz, er zweifelte an dem, was er eben mit eigenen Augen zu sehen geglaubt hatte. Damit tat er seinen Augen allerdings bitteres Unrecht, denn die auf dem Fluß entlanggleitende Masse war nichts anderes gewesen als das Boot des Korsaren, dessen Mannschaft um einen Kopf stärker geworden war: Bob Sammy. Da dieses Boot leichter als das von Sir Toby war, brauchte es sich um Untiefen weniger zu scheren.

Überzeugt, daß der Wachposten nur geträumt habe, legte man sich wieder zur Ruhe, bis es tagte. So früh wie möglich schiffte man sich ein. Das Boot stand unter Dampf, und auf den Befehl von Sir Toby legte es vom Ufer ab und tuckerte auf der Mitte des Stroms flußabwärts. Dreimal während vierundzwanzig Stunden mußte man den Kessel mit klarem Wasser füllen. Jeden Abend legte man am Ufer an und brach erst bei Morgengrauen wieder auf.

Nur am vierten und letzten Tag der Reise wurde eine Ausnahme gemacht. In der Abenddämmerung hatte das Schiffchen die breite Mündung erreicht, durch die sich der Skaim in den Indischen Ozean ergießt. Hier war das Flußbett breit und tief, und Sir Toby entschied, daß man trotz der Dunkelheit unverzüglich weiterfuhr, um noch in derselben Nacht die Destroyer zu erreichen. Das geschah auch gegen zwei Uhr morgens, das Boot legte am Kreuzer an, auf dem außer der Wache alles schlief, und die Mannschaft und die Polizisten stiegen an Bord.

Der Korsar wurde in einer Kabine im hinteren Teil des Schiffes untergebracht, deren Tür mit einem Bullauge versehen war, so daß seine Bewacher jede seiner Bewegungen beobachten konnten. Der Polizeichef war vollauf zufrieden: Jetzt konnte ihm sein Häftling nicht mehr entwischen, denn der Ozean in seiner grünen Unendlichkeit würde ihn sicherer verwahren als eine Armee von Gefängniswärtern.

Und so suchte denn Allsmine seinerseits die ihm zustehende Kabine auf und schlief so tief, wie er seit langem nicht mehr geschlafen hatte. All seine Ängste waren verschwunden; der unheimliche Feind war endlich dingfest gemacht. Er würde ihn hängen lassen wie einen Feind Großbritanniens, diesen Korsaren, der die Stirn hatte, ihn herauszufordern. Und gleichzeitig würde er sich von seinem Ankläger befreien, er würde weiterhin in Ehren, Macht und Ansehen leben können. Ein Schatten allerdings blieb: Joan, deren mütterliche Zärtlichkeit geweckt worden war. Aber mit diesem unbedeutenden Detail würde der Polizist schon fertig werden. Joan würde sich wie alle Welt seinem Erfolg beugen müssen, und er würde sie mit einem so dichten Kordon von Spionen umgeben, daß ihre Tochter Maudlin – sollte sie tatsächlich noch am Leben sein – niemals bis zu ihr vordringen könnte.

Kurz und gut, Sir Toby erhob sich sehr spät. Das Schaukeln des Schiffes bewies ihm, das man den Anker gehievt hatte, und er rieb sich die Hände, wenn er daran dachte, wie er in Sydney ankommen würde, den Korsaren, der ihn so lächerlich gemacht hatte, im Schlepptau.

Lächelnd stieg er auf die Brücke. Ein Blick bewies ihm, daß man bereits eine erkleckliche Strecke Wegs zurückgelegt hatte. Die Küste erschien im Osten nur noch als ein schwacher, dunkler Streifen, der mit jedem Augenblick heller wurde. Fröhliche Stimmen rissen ihn aus seinen angenehmen Betrachtungen.

Vor ihm standen Armand Lavarède und die ganz in helle, duftige Gewänder gekleideten Aurett und Lotia.

»Guten Tag, mein lieber Sir!« rief Armand. »Endlich bekommt man Sie wieder einmal zu sehen. Wie geht es Ihnen nach dieser Reise?«

»So gut wie nie zuvor, Sir; und Ihnen selbst und den Damen, deren Erscheinung an duftende Blüten erinnert?«

»Ein Gedicht, nicht wahr. Ich dachte, so etwas gäbe es nur unter französischem Himmel.«

»Irrtum, Irrtum. Im milden Klima Australiens gedeihen die schönsten Rosen.«

»Sie Schmeichler. Apropos, mir scheint, Ihre Expedition war ein voller Erfolg?«

»Nun, meine Vorbereitungen waren maximal …, und das Resultat dementsprechend.«

»Korsar Triplex ist also …«

»… dreifacher Gefangener: des Meeres, der Mannschaft der Destroyer und meiner selbst.«

Ein Schweigen folgte diesen Worten, und ein aufmerksamer Beobachter hätte auf den Gesichtern von Armand und den jungen Damen alles andere als Genugtuung lesen können. Aber der Polizeichef war von seinem Erfolg so blind, daß er dafür keinen Blick hatte.

»Ja, ja, der Bursche hat mir sehr zu schaffen gemacht«, fuhr er fort. »Immerhin war er ein fairer Verlierer. Als das Spiel verloren war, hat er nicht aufgemuckt, und ich habe ihn ohne große Schwierigkeiten aus der Großen Sandwüste in diese Kabine verfrachtet«, dabei zeigte er mit dem ausgestreckten Arm Richtung Hinterschiff, »ohne daß er sich bisher darüber beklagt hätte.«

»Aha, er steckt also in einer Kabine«, bemerkte Lavarède gleichgültig.

»Ja, hinter doppelten Riegeln.«

»Und er sieht sicher entsetzlich aus«, sagte Aurett.

»Nein, ganz und gar nicht.«

»Ist das die Possibilität?«

»Sicher, Mylady, es ist sie. Der Kerl ist sogar ein schmucker Bursche. Träumende Augen und … ja, das hat mich selbst überrascht, dieser kühne Korsar wirkt fast schüchtern. Wenn ich mir einen poetischen Vergleich erlauben darf, so würde ich sagen: ein Wolf im Schafpelz!«

»Seltsam, sehr seltsam«, murmelte die blonde Aurett. »Ihre Worte machen mich direkt neugierig, diesen Mann einmal von nahem zu sehen.«

»Nichts einfacher als das.«

»Was? Meine Bitte erscheint Ihnen nicht aufdringlich?«

»Aber schöne Lady, wie sollte sie. Wie gesagt, er steckt im hinteren Schiff. An der Tür ist ein Bullauge …«

»So daß man ihn sehen kann, ohne daß er es merkt … Oh, gehen wir … Kommst du, Armand, kommst du, Lotia?«

Galant bot Sir Toby der jungen Dame den Arm.

»Erlauben Sie, daß ich Sie führe.«

»Gern.«

Und schon hatte Aurett den Fuß auf die erste Stufe der Treppe gesetzt, die zum Kabinengang hinabführte, als der Kapitän der Destroyer auf die Gruppe zutrat und den Polizeichef um einige Minuten Gehör bat.

Toby entschuldigte sich bei seinen »Freunden« und bat sie, inzwischen allein ins Hinterschiff zu gehen. Die Damen ließen sich nicht zweimal bitten und stiegen die Treppe mit einer Geschwindigkeit hinab, die beredt genug bewies, wie sehr sie den berühmten Korsaren zu sehen wünschten. Armand hatte Mühe, ihnen zu folgen. Jetzt scherzten sie nicht mehr, ihre anmutigen Gesichter blickten ernst. Nein, das war nicht reine Neugier, die sie zu Triplex’ Unterkunft führte. Das war reine Sympathie. Der Kapitän hatte schließlich seine schützende Hand über Robert gehalten, und zweifellos war er derjenige, der Niari entführt hatte, den unerläßlichen Zeugen für Roberts und Lotias Glück.

Dennoch verlangsamten sie ihren Schritt, je näher sie der Kabine kamen. Eine unerklärliche Beklemmung ließ sie zögern.

»Na, was?« fragte der Journalist. »Wollt ihr auf einmal nicht mehr die Bekanntschaft unseres geheimnisvollen Verbündeten machen?«

Vor ihnen lagen drei Kabinen mit je einem Bullauge in der Tür. Lotia stellte sich auf Zehenspitzen und blickte durch das erste Kabinenfensterchen. Der Raum war leer.

Im zweiten war ebenfalls nichts zu erkennen.

Die dritte Kabine war belegt. Ein Mann stand mit dem Rücken zur Tür und blickte durch ein weiteres Bullauge auf das Meer. Der Umriß des Mannes kam ihr vertraut vor, besonders diese träumende Haltung. Sie seufzte. In diesem Augenblick drehte sich der Gefangene um, als würde ihn Gedankentelepathie den Wunsch der Betrachterin ahnen lassen. Seine Gesichtszüge waren deutlich zu erkennen. Lotia griff sich ans Herz und schrie erstickt auf: »Robert!«

»He? Was sagen Sie da?« fragte Lavarède verwundert.

Lotia hatte nicht mehr die Kraft, zu antworten. Sie zeigte auf das Bullauge. Armand preßte seine Augen dagegen und sagte seinerseits mit einem unbeschreiblichen Ton der Überraschung: »Mein Cousin!«

»Was? Er! Korsar Triplex?« stammelte Aurett, die endlich begriff.

»Er selbst.«

»Das muß ein Irrtum sein.«

»Das werden wir gleich haben.«

Mit der für ihn typischen Schnelligkeit zu handeln eilte der Journalist zum Ende des Kabinengangs, versicherte sich mit einem raschen Blick, daß sie unbeobachtet waren, lief zur Kabinentür zurück und klopfte in einem bestimmten Rhythmus an dieselbe.

Bei dem Klopfen horchte der Gefangene auf. Er näherte sich dem Bullauge, erkannte den Besucher, lächelte, wurde bleich, dann rot und machte ihm dann ein Zeichen, sich zu gedulden.

Er zog ein Notizbuch aus der Tasche, riß ein Blatt Papier heraus, kritzelte eilig ein paar Zeilen darauf und schob den Zettel unter der Gott sei Dank nicht fugendicht schließenden Tür hindurch. Armand bückte sich nach dem Papier, und unter Roberts Blicken, denn der stand ja noch immer mit plattgedrückter Nase am Bullauge, las er:

»Schweigt. Niemand darf wissen, wer ich bin. Versucht herauszukriegen, wo ich in Sydney eingesperrt werde, und teilt es James Pack mit. Bald werden wir wieder zusammen sein.«

Armand hatte die Lektüre beendet und schaute Robert fragend an. Der nickte hinter dem Bullauge, und Armand gab seinem Cousin mit einer Handbewegung zu verstehen, daß er so verfahren würde, wie letzterer wünsche.

Das Geräusch von Schritten war zu vernehmen. Gleich würde man die stumme Unterhaltung zwischen dem Gefangenen und seinen Freunden unterbinden.

Lotia näherte sich schnell der Scheibe und drückte einen Kuß auf das kühle Glas, das durch die heiße Leidenschaft, die in diesem Kuß lag, gleich beschlug.

Da tauchte Allsmine im Kabinengang auf. Er entschuldigte sich, die Damen allein gelassen zu haben, ohne zu ahnen, welches Vergnügen ihnen gerade diese Abwesenheit bereitet hatte. Dann erst schien er die Anzeichen der Verwirrung auf den Gesichtern der beiden zu bemerken.

»Hat Sie denn der Anblick dieses Verbrechers so erschreckt?« fragte er.

Armand beeilte sich zu versichern: »Aber ja doch. Schließlich hat man nicht alle Tage Gelegenheit, einen so berühmten Banditen zu sehen, ohne sich nicht insgeheim zu gestehen, daß diese Begegnung sicher weit aufregender verlaufen würde, wenn er nicht hinter Schloß und Riegel säße.«

Sir Toby lachte sonor.

»Was? Wirklich? Unsere charmanten Damen zittern bei diesem Gedanken?«

»Sie zittern. Eine durchaus natürliche Regung. Schließlich gehört es in Mitteleuropa nicht zur Gewohnheit, mit Korsaren Umgang zu haben.«

»Ja, ja, aber die Ladys können ganz beruhigt sein.«

»Ich denke auch.«

»Triplex wird niemandem mehr Kummer machen.«

»Das dürfte in seiner jetzigen Lage nicht so ganz sicher sein.«

»Seine Lage wird sich ändern.«

»Wie das?«

»Nun, da bin ich mir sicher. Der Kerl wird vor ein ordentliches Gericht gestellt werden, da er die Sicherheit englischen Besitzes gefährdet hat, und ich wette mit Ihnen, daß er eine Woche nach unserer Ankunft in Sydney am Galgen baumeln wird. Das ist mein einziger Kummer.«

Lotia konnte bei diesen Worten eine nervöse Geste nicht unterdrücken. Der Polizeichef wertete den Grund ihrer Aufregung jedoch anders und sagte, breit lächelnd: »Ich werde Ihnen zum Andenken an das Abenteuer etwas schenken, meine Damen. Ihnen auch, Mr. Lavarède. In Frankreich, nicht wahr, behauptet man doch, daß der Strick eines Gehenkten Glück bringt. Ich werde Ihnen einige Zentimeter von dem köstlichen Seil, das dem Schurken helfen wird, den Körper von der Seele zu trennen, zum Geschenk machen.«

Von diesem Beweis seiner Liebenswürdigkeit außerordentlich entzückt, begleitete Allsmine die drei zur Brücke. Dort zogen sich jedoch letztere unter einem Vorwand in ihre Kabinen zurück. Kurz darauf trafen sie sich in Lotias Kabine, um zu beratschlagen, und die junge Dame ließ ihren Tränen freien Lauf. Armand versuchte sie zu trösten, indem er ihr versicherte: »James Pack muß mit dem Korsaren unter einer Decke stecken. Roberts Brief beweist es. Haben Sie Vertrauen, Lotia. Alles wird gut.«


Fünfzehntes Kapitel Ein Verblichener, dem es gut geht

Die Überfahrt dauerte elf Tage, aber trotz aller Anstrengungen konnte sich Lavarède seinem Cousin nicht noch ein zweites Mal nähern. Gewiß, er sah den Gefangenen, denn der wurde jeden Nachmittag für zwei Stunden an die frische Luft gebracht – eine besondere Aufmerksamkeit von Sir Toby –, doch stets unter allerschärfster Bewachung. Es war ihm nur mehr möglich, über die Entfernung hinweg einige Blicke mit ihm zu tauschen.

Armand wich Allsmine kaum von der Seite, und nach eingehender Befragung, wobei er vorgab, sich über die sozialen, administrativen und juristischen Zustände Australiens zu informieren, gelangte er zu der Gewißheit, daß Robert als politischer Häftling – angeklagt, die Stabilität des Landes untergraben zu haben – nur in dem für politische Häftlinge vorbehaltenen Gefängnis von Fort Macquarie inhaftiert sein konnte. Das Gefängnis von Macquarie war eine alte Befestigungsanlage, deren Uneinnehmbarkeit jedoch durch die Weiterentwicklung moderner Geschosse zur Fama geworden war und die nun nur noch als Gefängnis genutzt wurde. Dennoch waren die Mauern vier Meter dick, die Zellen eng, die Wände glatt und ein Fluchtversuch so gut wie ausgeschlossen.

Diese im Laufe der Fahrt aufgeschnappten Details waren kaum dazu angetan, den Journalisten zu beruhigen. Er schloß daraus, daß eine Befreiung Roberts wenn nicht ganz und gar ausgeschlossen, so doch außerordentlich schwierig werden würde.

Und so richtete Armand auch, als die Destroyer in Sydney Anker geworfen hatte, seine Schritte – gleich nachdem er Aurett und Lotia wieder im Centennial-Park-Hotel untergebracht wußte – zur Paramata Street, um entsprechend Roberts Wunsch mit James Pack zu sprechen, obwohl er nicht allzu großes Vertrauen in eine Intervention des Buckligen setzte.

Aber er mußte gar nicht bis zum Haus in der Paramata Street laufen. Als er noch überlegte, wie er Sir Tobys Argwohn zerstreuen konnte, falls dieser ihn nach dem Grund dieses Besuches fragen würde, kam ihm auf dem Trottoir James höchstselbst lächelnd entgegen.

»Guten Tag, Mr. Lavarède«, grüßte ihn der Bucklige und verbeugte sich. »Ihr Gesicht strahlt vor Gesundheit, und deshalb kann ich ohne Sorge fragen: Wie geht es Ihnen heute morgen?«

»Was die Gesundheit betrifft, ausgezeichnet. Und Ihnen?«

»Danke.«

»All right; aber ich habe ein krankes Gemüt.«

»Wirklich?«

»So ist es. Wenn Sie im übrigen einige Minuten Zeit für mich hätten, so könnte ich Ihnen den Grund meines Leidens plausibel machen.«

»Ich stehe Ihnen gern zur Verfügung.«

»Gehen wir ein paar Schritte zur Seite, ich fürchte, irgendein Neugieriger könnte uns belauschen.«

Ein leichtes Lächeln blitzte in den Augen des Sekretärs auf; doch tat er, wie der Journalist wünschte, und paßte seinen Schritt dem seines Gesprächspartners an. Dieser schwenkte in die erste Seitenstraße ein, auf die er stieß, so daß man ihn auch von Allsmines Haus in der Paramata Street nicht mehr sehen konnte. Dort endlich begann er zu sprechen.

»Ich habe eine Botschaft für Sie, Mr. Pack.«

»Eine Botschaft? Ich höre. Von wem denn?«

»Von Korsar Triplex.«

Bei der Erwähnung dieses Namens lächelte der Bucklige.

»Ach ja. Von dem Korsar, den mein aufrechter Chef in Brimstone Mounts gefangengenommen hat.«

»Genau.«

»Sehr gut.«

James lächelte wieder.

»Und Sie haben Zweifel an seiner Identität?« fragte er. Und da er die Überraschung auf den Zügen seines Gegenübers bemerkte: »Sehen Sie mich genau an, Mr. Lavarède. Ich verstehe Ihren Gemütszustand sehr gut, glauben Sie mir, sehr gut. Nur …, ich muß Ihnen gestehen, daß Ihre Aufregung umsonst ist. Ich bin über alles informiert.«

»Über alles?«

»Ich weiß sogar, was Sie mir mitteilen sollen.«

Armand fuhr zusammen.

»Sie belieben zu scherzen.«

»Ganz und gar nicht.«

»Der Beweis?«

»Nichts leichter als das.«

Und sich zum Ohr des Journalisten beugend, flüsterte er: »Fort Macquarie.«

Armand schaute verdutzt.

»Ihr Informationsdienst ist ausgezeichnet«, erklärte er. »Das ist tatsächlich der Name, den ich Ihnen mitteilen wollte. Sie kennen ihn, schön. Der Wunsch des Gefangenen ist ausgeführt.«

»Teilweise. Er hat noch einen anderen geäußert.«

»Einen anderen?«

»Aus dem Gefängnis herauszukommen!«

»Ah, das stimmt; aber das zu realisieren erscheint mir wenig wahrscheinlich.«

Pack lachte kurz auf.

»Gehen Sie, gehen Sie, Mr. Lavarède, Ihr Cousin ist da anderer Meinung.«

»Dann weiß er mehr als ich.«

»So ist es. Er weiß zum Beispiel, daß er übermorgen abend außerhalb der Mauern von Fort Macquarie ist.«

»Übermorgen!« rief der Journalist, baff vor Erstaunen.

»Ja. Kehren Sie nach Hause zurück. Warten Sie im Zimmer, und halten Sie sich bereit, dem Mann zu folgen, der Sie aufsuchen wird.«

Mit diesen Worten machte James Pack auf dem Absatz kehrt und ließ den zum erstenmal in seinem Leben fassungslosen Journalisten allein zurück. Bald war er an der Straßenecke zur Paramata Street verschwunden.

»Nein«, murmelte erst geraume Zeit später Lavarède und bewies damit, daß er zumindest teilweise die Überraschung verdaut hatte. »Nein, mit so einem geheimnisvollen Geheimnis habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht zu tun gehabt.«

Ohne zu zögern, machte er sich dann auf den Weg zum Hotel, um Aurett und Lotia die überraschende, aber schließlich alles andere als traurige Neuigkeit mitzuteilen.


Während sich Roberts Cousin also seiner Aufgaben zu entledigen suchte, wie wir soeben beschrieben haben, nahm dieser, von zwei Polizisten flankiert, in einer Kutsche Platz. Das Fahrzeug rollte durch die engen Straßen des alten Sydney, erreichte die breiten Avenuen der neueren Stadt und hielt schließlich vor der massiven Eingangspforte von Fort Macquarie.

Bewacher in grauen Uniformen empfingen den Gefangenen aus den Händen der Polizisten. Mit metallischem Knirschen schlossen sich die Gefängnistore hinter ihm. Er wurde in einen kleinen Raum geführt, wo ein weiterer Wärter mit der Schreibfeder in der Hand darauf wartete, ein neues Opfer in seine Liste einzutragen.

Der Schreiber blickte auf ein Schriftstück, das auf seinem Pult lag, und fragte höflich: »Sie sind der Korsar Triplex?«

Robert nickte.

»Gut. In Europa hat man die entsetzliche Gewohnheit, den Gefangenen Nummern zu geben. Das ist etwas, was wir, freie Söhne eines freien Australien, niemals dulden werden; das heißt, wünschen Sie Ihren Namen zu behalten, oder bevorzugen Sie irgendein Pseudonym?«

Robert riß die Augen auf ob soviel Freiheitssinn und erwiderte: »Da Sie der individuellen Freiheit soviel Respekt bezeigen, könnten Sie mich da nicht gleich freilassen?«

Die Idee schien dem Wärter so exzellent, daß er in Gekicher ausbrach.

»Alles, nur das nicht. Nicht wir halten Sie hier gefangen, sondern die Gesellschaft. Innerhalb dieser Mauern sind wir allmächtig, aber unsere Autorität endet an der Gefängnismauer. Sie werden sehen, daß wir uns im Inneren der größten Freizügigkeit erfreuen.« Und mit gewinnendem Ton fügte er hinzu: »Zweifellos wünschen der Herr Korsar ein komfortables Zellchen?«

»Nun …«

»Vielleicht ist Ihnen auch die Küche des Hauses wenig schmackhaft, und Sie würden es gern sehen, wenn Ihre Mahlzeiten von außerhalb kämen?«

»Sie erraten meine Wünsche.«

»Zu glücklich, Ihnen zu Diensten zu sein. Ich möchte hinzufügen, daß es Ihnen freisteht«, er betonte das letzte Wort besonders, »alles, was Sie wünschen, zu beschaffen. Selbst wenn Ihnen die Strafe, die ein strenges Gerichtsurteil beschließt, zu hart sein sollte, wird Sie nichts daran hindern, sich ein befreiendes Gift zu besorgen. Ich insistiere in dieser Hinsicht nicht weiter, aber sollten Sie sich zu diesem Schritt entschließen, steht die Apotheke des Hauses Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Und die Preise sind hier sogar billiger als in der Stadt.«

Robert lachte bei diesem seltsamen Vorschlag freiheraus. Seine gute Laune mißfiel dem Schreiber mitnichten, der hinzufügte: »Ich rede zu Ihnen wie zu einem unerfahrenen Schurken. Ein Mann Ihrer Erfahrung, verehrter Herr Korsar, hat gewiß alles vorhergesehen, und sicher haben Sie schon das Mittel, dem Galgen zu entgehen, in Ihrer Tasche.«

Der Gefangene schüttelte den Kopf.

»Sie müssen sich nicht verteidigen. Ein freier Mann hat das Recht, Gift dem Galgen vorzuziehen. Man wird Sie, entgegen den barbarischen Gepflogenheiten auf dem alten Kontinent, auch nicht durchsuchen. Ich fasse zusammen: Ihre Eintragung enthält den Vermerk: Korsar Triplex – komfortable Zelle: drei Shilling je Tag; Mahlzeiten von draußen: acht Shilling je Tag sind doch nicht zuviel?«

»Ich akzeptiere gern.«

»Nun, Sir Korsar, dann gestatten Sie mir, daß ich Sie auf das herzlichste willkommen heiße.« Und zu einem Wärter gewandt, sagte der Schreiber: »Crossby, dieser Gentleman auf Zimmer Nummer zwei; ich bitte, dafür zu sorgen, daß es ihm an nichts fehlen möge.«

Danach machte unser Mann vor dem soeben ordentlich ins Gefängnis überführten Robert einen tiefen Bückling und setzte seine Arbeit fort.

Auf ein Zeichen Crossbys verließ Robert mit diesem das Büro, überquerte Höfe und dunkle Korridore und gelangte schließlich zu einem relativ geräumigen Zimmer, in dem ein Bett stand, ein Glasschrank, ein Waschtisch, mehrere Stühle, ein Tisch. Diese Zelle machte den Eindruck eines Hotelzimmers zweiter Kategorie. Am vergitterten Fenster hingen geblümte Vorhänge, und auf dem Fußboden lag ein Teppich.

»Keine schlechte Zelle«, erklärte der angebliche Korsar.

»O Sir, es ist die beste auf dem Kontinent«, sagte der Wärter. »Bisher hat sich hier jeder sehr wohl gefühlt. Wenn Sie auf den Stuhl steigen, können Sie hinter der Umfassungsmauer die ganze Altstadt und den Hafen sehen. Herrliches Panorama. Sehr gute Luft. Bedauerlich, daß Ihre Angelegenheiten mit der Justiz wohl nicht zulassen, daß Sie für längere Zeit bei uns weilen.« Und indem er sich mit der Hand auf den Mund schlug: »Ich sage da Sachen, die sicher ganz dumm sind. Entschuldigen Sie. Wenn Sie erlauben, werde ich mich um Ihr Menü kümmern. Ich kenne hier in der Nähe einen Koch, dessen Mahlzeiten Tote wieder zum Leben erwecken.«

Als er ging, verschloß er sorgfältig die Tür. Schloß und Riegel schnappten zu und bewiesen dem Gefangenen, daß man zwar seinem Appetit schmeichelte, aber ganz gewiß nicht seiner Lust, hier zu entweichen.

Roberts Gesicht verdüsterte sich, als er allein war. Er lief in der Zelle auf und ab und murmelte dabei: »Vorausgesetzt, Armand benachrichtigt James Pack … Vorausgesetzt, James Pack ist in Sydney … Vorausgesetzt, er ist es nicht. Oh? Arme Lotia …«

Man hatte ihm nicht verheimlicht, daß sein Prozeß so rasch wie möglich über die Bühne gehen sollte, und die Aussicht, gehenkt zu werden und seine geliebte Lotia nie mehr wiederzusehen, hätte sicher auch kaltblütigere Gemüter als ihn trübsinnig gemacht. Zum Glück riß ihn Crossbys Rückkehr aus dieser Verzweiflung. Der höfliche Wärter kam mit einem großen Korb in der Hand zurück, in dem sich Teller, Gläser, Flaschen und sonstiges befanden.

Während er Teller und Platten wie ein Hoteldiener symmetrisch auf dem Tisch anordnete, schien er zu überlegen. Plötzlich sagte er entschlossen: »Sir Korsar.«

Robert blickte ihn fragend an.

»Ein Gentleman hat mich auf der Straße gebeten, Ihnen etwas zu übergeben.«

»Ein Päckchen? Geben Sie her«, sagte Robert zitternd.

»Oh, ich werde es Ihnen geben, keine Sorge, Sie haben die Freiheit, jeden Gegenstand, der nicht zur Flucht benutzt werden kann, zu empfangen. Aber vorher möchte ich Sie noch um etwas bitten.«

»Eine Bitte? Machen Sie schon.«

»Gut! Das ist vielleicht das Gift, von dem heute morgen unser Schreiber gesprochen hat. Sie haben natürlich das Recht, es zu schlucken, nur wäre es ratsam, damit so lange wie möglich zu warten. Ich bin Vater von sieben Kindern, und der Dienst im Gefängnis ist mein Hauptverdienst.«

Die Naivität dieses Strafvollzugs verwirrte Robert. Also hatte der Schreiber nur die Wahrheit gesagt. Alle nur denkbaren Freiheiten – einschließlich des Rechtes, sich selbst umzubringen – waren den Zelleninsassen erlaubt.

»Ich hätte also nach meiner Berechnung noch etwa acht Tage zu leben?« fragte Robert den Wärter.

»Ja, etwa.«

»Was würden Sie denn an mir verdienen?«

Der Wärter überlegte einen Augenblick und sagte dann zögernd: »Zwei Shilling je Tag, wär das zuviel?«

»Aber nein. Insgesamt also sechzehn Shilling.«

»Genau, wenn es Euer Ehren beliebt.«

»Es beliebt mir.«

Und indem er in seiner Tasche kramte, zog Robert eine Fünfpfundnote hervor, die er dem Wärter reichte.

»Hier, mein Lieber, das sind hundert Shilling.«

Crossby griff mit zitternden Fingern danach.

»Hundert …, soviel Wohltaten kann ich Euer Ehren ja gar nicht mehr erweisen.«

»Behalten Sie das Geld, geben Sie mir nur die kleine Schachtel, die man Ihnen anvertraut hat.«

Mit einer Mischung aus Respekt und Trauer angesichts der Großzügigkeit des Gefangenen reichte der Wärter dem Häftling ein Kästchen, das etwa fünf Zentimeter lang und drei Zentimeter breit war und mit einem Wachssiegel verschnürt war.

»Warten Sie noch, Sir Korsar«, beschwor ihn der Wärter bewegt. »Man weiß nie, solange man lebt, gibt es immer noch Hoffnung. Warten Sie.«

Der Häftling machte eine unbestimmte Geste und verabschiedete den Wärter. Er hatte es eilig, allein zu sein, um endlich Zweck und Ziel des merkwürdigen Geschenks kennenzulernen.

Kaum hatte sich die Tür hinter Crossby geschlossen und hatten sich dessen Schritte auf dem Flur entfernt, lief Robert zum Fenster, zog die Vorhänge zu, riß Siegel und Schnur von dem Päckchen, öffnete die Schachtel und starrte überrascht auf den Inhalt. In Watte gepackt, lag da ein kleines Fläschchen mit einer farblosen Flüssigkeit. Auf dem Flaschenetikett stand: »Blausäure«.

Der Gefangene betrachtete voller Entsetzen den Flakon. Er wußte, daß er eins der schrecklichsten Gifte vor sich hatte. Ein Tropfen genügte, um sofort den Tod herbeizuführen. Er hielt genug in seiner Hand, um ein ganzes Regiment umzubringen. Was bedeutete diese Todesbotschaft? Sahen ihn seine Freunde etwa schon als verloren an? Sollte der makabre Scherz bei seiner Einlieferung in Fort Macquarie gar bittere Realität werden? Oder verbarg sich dahinter eine neuerliche Kabale Allsmines? Sollte er diese Art von Freiheit dem Galgen vorziehen?

Vorsichtig nahm er die Flasche aus der Schachtel. Da entdeckte er einen winzigen Zettel.

Er hatte das Empfinden, daß der kleine Zettel die gesuchte Erklärung enthalten müsse. Zitternd hielt er ihn an seine Augen. Zwei Zeilen nur enthielt die Botschaft: »Vertrauen. Trink alles aus. Vernichte den Zettel.«

»Seine Schrift«, murmelte Robert. »Seine Schrift.«

Eine Zeitlang lief er in der Zelle auf und ab und überlegte. Was hat er vor? dachte er. Ich weiß es nicht, aber ich vertraue ihm. Ich habe mich seinem Willen untergeordnet, mich ganz in seine Hand begeben. Ich gehorche und hoffe.

Er zündete eine Kerze an und hielt den Zettel daran. Der verbrannte sofort. Die Asche zerkrümelte er sorgfältig.

»So«, sagte er. »Keine Spuren hinterlassen. Nun muß ich nur noch meinen Tod in Szene setzen.«

Mit eiskalter Ruhe setzte sich Robert an den Tisch, riß ein Blatt Papier aus seinem Notizblock und warf einige Zeilen hin: »Ich setze meinem Leben aus freien Stücken ein Ende. Niemand außer mir ist schuldig an meinem Tod.«

Als das getan war, griff er zu dem Fläschchen.

»Nun«, sagte er seufzend, »Vertrauen ist gut, aber Kontrolle wär mir lieber.«

Dann warf er sich lächelnd auf sein Bett.

»Was auch immer mit meinem Körper geschehen mag, Lotia, meine Seele trinkt nur dich.«

Er leerte das Fläschchen auf einen Zug. Ein starker Bittermandelgeruch erfüllte den Raum. Das war das einzige, was er noch klar empfand, bevor es schwarz um ihn wurde.


Eine Stunde vor der Abendmahlzeit suchte Crossby den Gefangenen auf, um die Wünsche für das Abendessen entgegenzunehmen. Er stieß einen Schrei aus, als er ihn auf dem Bett liegend fand. Er stürzte auf ihn zu, schüttelte ihn, doch er spürte sofort den eiskalten Hauch des Todes. Traurig blickte er ihn an.

»Sicher, sie ziehen alle Gift dem Strick vor«, murmelte er. »Schade. Er war zwar Pirat, allerdings so großzügig. Und dann hat er ja auch niemandem was getan. Nur die Polizei geärgert. Wenn man dafür alle henken würde … Aber ich muß den Gefängnisdirektor benachrichtigen.«

In Sekundenschnelle war ganz Fort Macquarie in hellem Aufruhr. Mr. Caumbay, der Gefängnisdirektor selbst, machte sich auf den Weg zu Allsmine, um diesen über den Vorfall zu unterrichten.

Groß, dick, stattlich – so präsentierte er sich im Haus in der Paramata Street. Ein Mann von dieser Statur beengt jedes Vorzimmer, und so wurde Mr. Caumbay auch sofort ins Arbeitszimmer von Allsmine geführt, in dem dieser dabei war, mit James Pack die Anklagepunkte gegen Korsar Triplex durchzugehen.

»Ah, Mr. Caumbay, es ist mir eine Ehre, Sie bei mir zu sehen«, sagte Allsmine. »Erst neulich habe ich ein Buch von Ihnen in der Hand gehabt, zweifellos ein Produkt Ihrer Freizeit, in dem Sie mit seltener Meisterschaft alle achthundert Affenarten, die wir auf unserem Erdball zählen, katalogisiert haben.«

»Oh«, erwiderte der Besucher bescheiden, »wie Sie wissen, stammt der Mensch vom Affen ab. Affenarten zu katalogisieren ist demnach nichts weiter als Stammbaumforschung. Aber erlauben Sie, daß ich als Hobbyautor in den Hintergrund trete und als Direktor von Fort Macquarie spreche.«

»Wenn Sie wollen, natürlich. Was ist denn geschehen?«

»Ein ärgerlicher Vorfall«, sagte Mr. Caumbay. »Ja wirklich. Korsar Triplex …«

»… ist geflohen?«

Es war kein Aufschrei, sondern ein unmenschliches Geheul, mit dem der Polizeichef diese beiden Worte begleitete. Gleichzeitig war er wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl emporgeschnellt.

»Er ist vor dem Leben geflohen«, beruhigte ihn der Gefängnisdirektor. »Das ist die einzige Art von Flucht, die unsere Mauern erlauben.«

»Tot?«

»Vollkommen tot.«

»Wie konnte das geschehen?«

»Er hat Blausäure genommen.«

Allsmine schien schon nicht mehr zuzuhören. Aufgeregt schritt er im Zimmer auf und ab. Plötzlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Mr. Caumbay«, sagte er, »warten Sie eine Sekunde. Ich werde Sie zum Gefängnis begleiten. Sie, Mr. Pack, rühren sich hier nicht von der Stelle. In einer Stunde bin ich vom Gefängnis zurück, dann brauche ich Sie.«

Dann eilte er zu seiner Wohnung und war im Handumdrehen, einen Hut auf dem Kopf, wieder da. Er wiederholte noch einmal: »Sie rühren sich nicht von hier weg, Mr. Pack.«

Nach einer Viertelstunde hielt die Kutsche, die Allsmine unterwegs gemietet hatte, vor dem Gefängnistor.

Das Auftauchen des Chefs der Pazifikpolizei stürzte das Personal in helle Aufregung. Doch schnitt Allsmine jede Erklärung mit einer Handbewegung ab und ließ sich zur Zelle von Robert führen. Er untersuchte den Leichnam und stellte befriedigt fest, daß sein Feind für immer zum Nichtstun verurteilt war. Tot war tot; ob nun gehenkt oder vergiftet. Er war, wie die Angestellten ursprünglich befürchtet hatten, über den Vorfall alles andere als erzürnt und gab seiner Genugtuung Ausdruck. Er beglückwünschte das Personal wegen seines Eifers und versprach, bei der nächsten Beförderung und Gehaltserhöhung die Betreffenden wohlwollend zu bedenken. Dann verabschiedete er sich wieder von Mr. Caumbay und fuhr mit der Kutsche nach Hause.

Während der Fahrt frohlockte er. Die schreckliche Unruhe, die ihn seit Monaten nervös gemacht hatte, war nun endgültig dahin. Er war glücklich. Und da sich Glück, selbst bei den erbärmlichsten Charakteren, meist großzügig gibt, so war er spendabel zu jedermann. Der erste, der das spürte, war der Kutscher. Er erhielt ein fürstliches Trinkgeld.

Der Selbstmord des Korsaren war die Lösung. Es würde keine Gerichtsverhandlung geben, keine Anklageerhebung und keine Zeugenaussagen, die vielleicht hätten peinlich werden können, obwohl ihn der Staatsanwalt seiner Loyalität versichert hatte. Wirklich, das Spiel lief ganz nach seinen Wünschen. Und es hätte nicht viel gefehlt, daß der oberste Polizist der südlichen Hemisphäre die schreckliche Sentenz des antiken Herrschers wiederholt hätte: »Der Leichnam eines Gegners riecht immer gut.«

Mit diesen angenehmen Gedanken erreichte er sein Arbeitszimmer, in dem sein Sekretär ihn erwartete.

»Ich hatte meine Gründe, Sie auf mich warten zu lassen, Mr. Pack!« rief er beim Eintreten mit einer guten Laune, die sein Untergebener noch nie an ihm bemerkt hatte. »Wir müssen alles für die Beerdigung des Korsaren vorbereiten.«

In den Augen des Buckligen blitzte es auf. Scheinbar überrascht, fragte er: »Was? Ist er wirklich gestorben?«

»Er ist es, mein Freund, er ist es. Ich habe mit eigenen Augen seine sterblichen Überreste gesehen.«

»Mr. Caumbay ebenfalls?«

»Ja, ja, er hat den Tod bestätigt. Der Kerl hat eingesehen, daß die Partie verloren ist, und hat Blausäure genommen. Erstaunlich, wieviel kaltblütige Verbrecher Angst vor dem Strick haben. Aber letzten Endes erspart uns das eine Menge. Es gibt keinerlei Zweifel über die Todesursache, eine Autopsie ist deshalb unnötig. Ich möchte Sie bitten, deshalb zur Medizinischen Fakultät zu gehen und dort den Doktoren Formentine und Cawson auszurichten, daß es keinen Grund gibt, sie wegen dieses Todes zu bemühen. Auch der Gefängnisarzt hat den Tod bestätigt. Wir könnten also morgen schon den schrecklichen Banditen zu Grabe tragen.«

James machte Anstalten, das Büro zu verlassen, als Allsmine ihm noch auftrug: »Benachrichtigen Sie ebenfalls den Staatsanwalt, und veranlassen Sie Mr. Caumbay, die notwendigen Schritte einzuleiten. Das ist vorläufig alles.«

Der Bucklige verließ das Büro, beauftragte einen der Schreiber, im Gefängnis anzurufen und dort das Notwendige zu veranlassen. Er selbst machte sich auf den Weg zur Medizinischen Fakultät. Er lief schnell. Auf seinem Gesicht war ein leichtes Lächeln zu erkennen, so daß ihn unterwegs ein Reporter einer großen Sydneyer Zeitung ansprach: »Ihrem Gesicht nach zu urteilen, muß etwas Erfreuliches passiert sein, Mr. Pack. Etwas, das für uns vielleicht von Interesse wäre?«

James sah keinen Grund, die Neuigkeit geheimzuhalten. »Oh, es gibt etwas überaus Bemerkenswertes.«

»Was denn, ich bitte Sie.«

»Den tragischen Tod von Korsar Triplex.«

»Was! Dieser arme Korsar?«

»Heute nachmittag tot aufgefunden worden. Wegen Einzelheiten wenden Sie sich bitte an die Verwaltung von Fort Macquarie.«

»Ich eile!« rief der Journalist und nahm die Beine in die Hand. »Und danke auch.«

Einen Augenblick verfolgte ihn James mit den Augen, dann ging er weiter. An der Medizinischen Fakultät waren die Professoren, denen er die Erklärung Allsmines übermittelte, zwar zunächst enttäuscht, das Innenleben eines so berühmten Banditen nicht kennenzulernen; als sie jedoch von der Beschaffenheit des Giftes erfuhren, schätzten sie den Verlust nicht allzu hoch ein, denn Blausäure hat die Eigenschaft, alle Organe mehr oder weniger stark zu zerfressen. Und da der Gefängnisarzt den Tod ja bestätigt hatte, würde eine Autopsie nur reine Formsache sein.

Als sein Auftrag erledigt war, ging der Sekretär jedoch nicht auf direktem Wege zur Paramata Street zurück. Er begab sich zum Hafen und ging dort spazieren, wobei er nach irgendwem Ausschau zu halten schien. Das allerdings wäre nur einem aufmerksamen Beobachter aufgefallen. Plötzlich faßte er eine Gruppe von drei Seeleuten ins Auge, die an einer weniger belebten Ecke des Kais standen und die kleinen silbergrauen Fische angelten, die im trüben Wasser des Hafens herumwimmelten. Offenbar wollten sie sie als Köderfische für größere Fänge benutzen. James schlenderte auf sie zu.

Die Männer schienen ihn nicht zu beachten. Sie schienen ihn auch nicht wahrzunehmen, als er nur zwei Schritt neben ihnen stehenblieb. Vorsichtig schaute James nach rechts und nach links. Niemand beobachtete die Gruppe.

»Morgen abend«, flüsterte er. »Zehn Männer. Das Kind ins Centennial. Treffpunkt dort unten.«

»Well«, murmelten die Männer zwischen zusammengepreßten Lippen und wandten keinen Blick von ihrer Angel.

Wie ein müßiger Spaziergänger schlenderte James weiter.


Die Auflage der Abendzeitung war größer als sonst. Auf der Titelseite prangte in großen Lettern, was die Verkäufer aus vollem Halse schrien: SENSATIONELLER SELBSTMORD – KORSAR TRIPLEX VERGIFTET!

Die Gaffer eilten herbei, rissen den Verkäufern die Zeitungen aus der Hand und verleibten sich gierig die Einzelheiten des Vorfalls ein. Sydney wirkte wie eine Stadt, in der plötzlich alle vom Lesefieber gepackt zu sein schienen.

Entsprechend James Packs Instruktionen hatte sich Armand wieder ins Centennial-Park-Hotel begeben, dort seinen beiden Begleiterinnen erzählt, was ihm James aufgetragen hatte, und war nicht wieder ausgegangen. Mit Aurett und Lotia saß er jetzt im Klubzimmer und spielte, um sich abzulenken, eine Partie Dame nach der anderen. Da drangen die Rufe der Zeitungsverkäufer an sein Ohr.

Er horchte auf und wurde bleich. Ängstlich blickte er auf Lotia. Auch sie hatte die Rufe gehört. Mit starrem Blick, in der Hand noch einen Stein, den sie eben geschlagen hatte, schien sie wie jemand zu lauschen, der nicht begreift, was er hört.

Der Journalist stand auf und hakte sie unter.

»Lotia«, bat er, »Lotia, ich bring Sie auf Ihr Zimmer.«

»Nein«, wehrte sie ab. »Ich will diese Zeitung lesen.«

Lavarède versuchte sie am Arm zu packen, aber sie erhob sich, ging automatisch durch das Vestibül auf die Straße. Armand wollte sie zurückhalten, doch er wagte nicht, sie anzufassen.

Auf dem Trottoir machte Lotia einem Zeitungsverkäufer ein Zeichen, näher zu kommen. Wortlos griff sie nach einer Zeitung, die der herbeigeeilte Lavarède bezahlte, warf einen Blick auf die Schlagzeile und ging mit dem gleichen Schritt zurück. Mechanisch stieg sie die Treppe zu ihrem Appartement empor, ohne sich weiter um die im Klubraum sitzende Aurett zu kümmern, öffnete ihre Zimmertür und drückte auf den Knopf des elektrischen Lichts.

Die Lampen flammten auf und tauchten das Zimmer in gleißende Helle. Sie faltete die Zeitung auseinander, ihre Augen starrten auf die schreckliche Nachricht. Mit blutleeren Lippen überflog sie den Artikel, in dem die Einzelheiten des Selbstmordes beschrieben wurden. Nicht eine Träne netzte ihre Augen; nur das mechanische Buchstabieren ihrer Lippen zeigte die innere Bewegung.

»Tot«, sagte sie nur.

Plötzlich sank sie ohnmächtig in die Arme von Aurett, die schon einige Zeit hinter ihr gestanden hatte.

Als sie die Augen wieder öffnete, lag sie auf einem Sofa. Vor ihr knieten Armand und dessen Frau und hielten ihre eiskalten Hände umklammert.

Schlagartig kam ihr die Erinnerung; ihr Blick spiegelte blankes Entsetzen wider. Mühsam brachte sie nur immer wieder ein Wort hervor: »Tot, tot, tot …«

Ihre Hoffnungslosigkeit machten Aurett und Armand stumm. Was hätten sie ihr auch Beruhigendes sagen sollen? Sie selbst hatten ja auf ihrer Weltreise ähnliches durchgemacht. Nichts würde Lotias Leid lindern können. Noch immer wiederholte sie, stumpfsinnig vor sich hin blickend, dieses eine Wort.

Plötzlich zuckten Aurett und Armand zusammen. Es hatte leise an die Tür geklopft. Bevor sie noch reagierten, öffnete sich die Tür jedoch, und James Pack betrat das Appartement.

Er machte eine hilflose Geste.

»Ich fürchte, ich komme zu spät«, sagte er. »Ich war zu sehr mit der Zukunft beschäftigt, so daß ich versäumt habe, Sie zu benachrichtigen.«

Sein Erscheinen zeitigte seltsame Wirkung. Lotia war anscheinend wieder zu sich gekommen, denn sie schaute den Buckligen aus großen, dunklen Augen fragend an.

»Ich hätte früher kommen müssen«, fuhr der Sekretär fort, »wenn auch nur auf einen Sprung. Aber ich war so beschäftigt, hatte soviel am Hals …« Er lächelte verlegen. »Nun, Miß Lotia, Sie müssen mir glauben. Man stirbt nicht so ohne weiteres, wenn man eine so charmante Person wie Sie liebt. Verlangen Sie keine Erklärung von mir, ich muß schweigen. Folgen Sie morgen abend nur der Person, die Ihnen und Ihren Begleitern sagen wird: James Pack schickt mich! Folgen Sie dieser Person, und Sie werden den Beweis haben, daß …«

»Daß was?« unterbrach ihn die Ägypterin.

»Daß trotz aller Umstände, die dagegen sprechen, trotz der Meldungen in der Zeitung und obwohl er bleich und starr in seinem Sarg liegen sollte und man sich anschickt, ihn in die Erde zu versenken …, verstehen Sie …«

»Was denn, reden Sie!«

»Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, Miß Lotia; ich schwöre Ihnen, Mr. Lavarède und Mrs. Aurett Lavarède …«

»Wir glauben Ihnen, reden Sie.«

»Ich schwöre Ihnen, daß der verstorbene Robert Lavarède, fälschlicherweise als Korsar Triplex angesehen, sich bester Gesundheit erfreut.«

»Aber dieser Selbstmord, dieser Tod …?«

»Sind das Geheimnis eines Mannes, der sein Leben dafür geopfert hat, von anderen begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Dringen Sie nicht weiter in mich, mir ist nicht erlaubt zu sprechen; doch glauben Sie mir, was ich Ihnen sage: Dem Verblichenen geht es gut.«

Und indem er Lotias Hand ergriff und sie küßte, sagte er: »Kein Wort, nicht wahr, äußerstes Stillschweigen. Morgen werden Sie alles wissen.«

Er verließ seine Zuhörer, die zwar beruhigter als zuvor, wenn auch nicht minder erstaunt waren.


Sechzehntes Kapitel Eine Vision auf dem Friedhof

Vierundzwanzig Stunden später herrschte bei den Totengräbern des Friedhofs von Killed Town eitel Freude.

Das hatte natürlich seinen Grund. Am Nachmittag war eine Abordnung aus Fort Macquarie auf dem Friedhof eingetroffen. Das war der Leichenzug desjenigen, der zu seinen Lebzeiten für die Regierung Korsar Triplex und für sich selbst Robert Lavarède gewesen war.

Gefängniswärter, Polizisten, Sir Toby Allsmine, von seinem Sekretär Pack begleitet, folgten dem dunklen Gefährt. Der Sarg wurde rasch in der Erde versenkt, wie üblich bei der Kundschaft der Haftanstalt. Dann trollten sich die Totengräber. Trinkgeld würde es ohnehin nicht geben.

Allein der Polizeichef, der seinen großen Tag hatte, vermittelte den Totengräbern einen Anteil seiner Freude in Form einer doppelten Guinee. Und da, wie einer der glücklichen Empfänger scherzhaft bemerkte, Geld zu Geld kommt, glaubte James seinem Vorgesetzten nichts schuldig bleiben zu müssen, indem er dessen Trinkgeld noch verdoppelte.

Vier Guineen! Das passierte nicht alle Tage, daß man solch ein Glück hatte.

Und so beschloß der Obmann der Totengräber, der ehrenwerte Jeremiah Tomy Looker, zusammen mit seinen Kollegen des Toten durch ein opulentes Mahl und einen tüchtigen Schluck zu gedenken. All diese Leute, die vom Tod lebten, waren fröhliche Menschen. Die zahlreichen Speisen und die noch zahlreicheren Schnäpse ließen den Frohsinn der solcherart »Gedenkenden« derart anschwellen, daß einer der Zecher gar die Befürchtung äußerte, sie könnten den Schlaf derjenigen stören, die hier zur ewigen Ruhe gebettet worden waren.

Ein schallendes Gelächter war das Echo, und ein anderer sagte: »Bah! Sogar wenn Korsar Triplex selbst uns bitten sollte, weniger laut zu sein, meiner Treu, wir würden ihm einen Brandy anbieten, und er würde gewiß nicht ablehnen.«

»Ja, ja«, sagte einer der Zecher mit schwerer Zunge, »er wird singen, davon die Ohren uns gar klingen, hihi.«

»Was redest du da?«

»Der Anblick eines Auferstandenen ist alles andere als angenehm.«

Ein Geschnatter und Geplapper war die Antwort. War der Kerl tatsächlich schon so blau, daß er ihnen – gewissermaßen Fachleuten auf dem Gebiet – klug kommen mußte? Da wußten sie doch ganz andere Geschichten zu erzählen. Und je eifriger der Krug kreiste, desto schrecklicher wurden die Geschichten von auferstandenen Toten und wandelnden Gerippen und Gespenstern und umherflatternden Seelen und und und … Kurz, es war ein anschauliches Bild aller Gruselgeschichten, die naive Gemüter schrecken können. Und natürlich hatte jeder der Anwesenden alles, was da zusammengesponnen wurde, mit eigenen Augen erlebt.

»Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn ich lüge!« schrie Jeremiah.

Nun, das Schicksal meinte es nicht gar so schlecht mit ihm. Er fiel nicht.

Es war bereits Mitternacht, als der Brandy zur Neige ging und sich die Totengräber anschickten, nach Hause zu torkeln. Nur Jeremiah, der gleichzeitig auch der Friedhofswächter war, würde über Nacht auf dem Friedhof bleiben.

»Ich mach gleich meine Runde«, sagte er zu den Zechbrüdern, als er sie zum Tor brachte. »Soll niemand behaupten, daß Jeremiah Tomy Looker mit ’ner Flasche Brandy im Bauch seine Pflicht nicht tut! Oder waren es zwei Flaschen?«

Mit zitternden Händen versuchte er, seine Laterne anzuzünden. Beim zehnten oder zwanzigsten Versuch gab er es auf.

»Bah!« murmelte er, »der Mond scheint ja, seh ich allemal genug.«

Und er torkelte davon.

»Feiner Brandy«, murmelte er, »wirklich erstklassig. Dreht sich mir direkt der Kopf, könnte man meinen. Frische Luft wird mir guttun.«

Der Mond stand wolkenlos am Himmel, wie er gesagt hatte, doch nach dem heißen Tag stieg in der Kühle der Nacht jetzt Dunst von der Erde auf; ein Tischtuch aus Nebel – so wirkte es.

»He, he«, brummte der Betrunkene. »Nebel. Fehlt mir gerade noch. Soll mir der Teufel den Hals umdrehn, aber entweder ist es trübe, oder ich sehe trübe. Verdammter Nebel, mach, daß du verschwindest.«

Vor sich hin fluchend, taumelte er zwischen den Grabstellen umher. Und wie er da so im Nebel herumirrte, wirkte er selbst wie ein auferstandener Toter.

»Eieiei, sind die Wege schlecht. Man stolpert ja über jeden Stein!« fluchte er.

Der pflichteifrige Mann machte den Boden dafür verantwortlich, daß er schwankte. Aber mochte er auch äußerlich schwanken, sein Pflichtgefühl war so starr wie ein eiserner Ladestock, und den Weg fand er selbst mit geschlossenen Augen.

»Ist das komisch«, brabbelte er, »ach, ist das komisch, all diese Grabsteine, ist das komisch. Wie eine in Linie angetretene Armee. Und ich bin der General, der seine Truppen abschreitet – nur warum wackeln die Leute so?« Und nach einigen taumelnden Schritten des Überlegens: »Ha, ich hab’s. Das ist eine andere Armee.« Er stampfte mit dem Fuß auf die Erde. »Wenn die wenigstens aufrecht stehen könnten, aber nichts, alles f… fi… fi… fini…, sch… sch… sche… schöne Truppe!«

Da tat er einen Fehltritt und schlug längelang hin. Sofort war er wieder auf den Beinen und fluchte: »Scheißweg. Ich werde mich beim Friedhofsminister beschweren.« Dann fiel ihm die Sache mit den Auferstandenen ein. »Der ist doch verrückt. Auferstandene! Der mit seinen Auferstandenen.«

Das Lachen des Betrunkenen überschnitt sich in der nächtlichen Stille mit anderen Geräuschen. Looker blieb plötzlich stehen und warf einen erstaunten Blick um sich.

»Was? Was ist das?« stammelte er. »Ich hab doch irgendwas gehört.«

Einen Augenblick stand er da und spitzte die Ohren. Da alles ruhig blieb, setzte er seinen Gang fort.

»Hab mich getäuscht! Das muß der Brandy sein, der in meinem Kopf dröhnt. Ist ja auch gleich. Der Friedhof ist aber heute abend auch groß. Ich bin immer noch nicht am Ende. Wahrscheinlich haben sie die Mauer versetzt, ohne mir Bescheid zu sagen. Oh, diese Verwaltung. Keine Ordnung! Keine Ordnung!«

In diesem Augenblick strich ihm ein heftiger Windstoß über die brennende Wange. Mechanisch griff er sich mit der Hand ans Gesicht.

»He! Was soll das? Keine Vertraulichkeiten! Wer erlaubt sich, mir an die Nase zu fassen?«

Mit seiner freien Hand packte er plötzlich seine andere, die er gerade in Höhe seines Gesichtes gehoben hatte. Ihm schauderte vor Entsetzen.

»Eine Hand! Das glaubt mir keiner …, ich habe sie … Was bedeutet das? Eine Hand, die nachts allein auf dem Friedhof spazierengeht. Nein! Das ist doch nicht zu fassen! Zu Hilfe! Diese verdammten Auferstandenen!«

In seiner Verwirrung packte Jeremiah die Hand immer fester, ohne zu merken, daß es seine eigene war. Und die ließ ebenfalls nicht locker.

»Was! Was! Du willst mir widerstehen? Zwecklos, ich halte dich fest, im Namen des Gesetzes.«

Mitten im Kampfgetümmel stieß der Totengräber mit dem Kopf an eine Grabstele. Es war ein arger Schmerz, so daß die beiden Hände ihr Opfer mit einem Ruck losließen und sich zum Himmel reckten.

»Man hat mich geschlagen! Wo steckt der Kerl? Brauchst dich gar nicht zu verstecken … Warte … Gleich haben wir ihn … Hat sich losgerissen. Eben hatte ich noch seine Hand …!«

Einige Sekunden drehte sich Looker wie ein Kreisel um sich selbst. Als er wieder gerade stand, versuchte er in dem Dunst etwas auszumachen …

»Nichts! Nichts! Ich verlange einen Hund von der Verwaltung, einen Hund! Oder zwei …, die brauch ich unbedingt …, unbedingt!«

Von Minute zu Minute wurde er betrunkener.

»Seltsam! Den Lehrer hab ich ausgelacht, wenn er sagte, die Erde dreht sich um sich selbst … Und jetzt …, eh, Monsieur Lehrer, Sie haben recht, ich spür’s.«

Der arme Totengräber hatte tatsächlich das Empfinden, der Boden gebe unter seinen Schritten nach. Die mit seltsamen Monumenten bestandene Erdoberfläche – dunkel erinnerte er sich, daß dies Gräber, Monumente, Stelen, Kreuze, Türmchen sein mußten – drehte sich wie ein Karussell, während der sternenübersäte Himmel im entgegengesetzten Sinn rotierte. Um dem Drehen Einhalt zu gebieten, klammerte sich Looker an ein Grabmal, das am Wege stand.

»Mein armer Junge«, wimmerte er, »Gott sei Dank, daß du hier liegst … Ohne dich hätte ich keinen Halt mehr. Aber es ist hier auch nicht besser …, das dreht sich ja immer noch …, die Erde soll aufhören, oder ich guck selber nach …«

Seine Beine kamen seinem Wunsch sofort nach. Er schlug längelang zu Boden.

In dieser Lage fand er momentane Erleichterung.

»So geht’s besser«, stammelte er und streichelte die Erde. »Dreh dich, mein Mädchen, dreh dich nur, ich sitze.«

Aber mit einemmal versagte ihm die Stimme, seine Augen weiteten sich.

»Was ist denn das? Man läuft auf dem Friedhof umher … Das ist diesmal keine Hand; das sind Füße.«

Er beugte sich vor und versuchte, die nächtlichen Spaziergänger besser zu erkennen.

»Sicher sind das genauso arme Leute wie ich«, brabbelte er. »Denn man trifft sich doch hier nicht, um zu feiern … Hmhm, schwankende Schritte … Die Armen haben Brandy getrunken.«

Und nachdem er vor sich hin gekichert hatte, war er plötzlich von der behutsamen Sorge der Betrunkenen beseelt, ihresgleichen helfen zu müssen.

»Ich werde sie auf ihren Weg zurückführen … Wie sind sie nur hierhergekommen? Ha, man hat die Mauer nicht versetzt, man hat sie abgerissen! Oh, die Verwaltung … Aber wenn es keine Mauer mehr gibt, bin ich vielleicht schon außerhalb des Friedhofes … Zum Teufel! Mal gucken … Wo geht es hier eigentlich lang … Nein, nein, Irrtum …, ich bin noch im Friedhof. Genau gegenüber ist die Weide, unter der das Grab von Korsar Triplex ist …, dieser edle und tapfere Korsar, der mir einen so angenehmen Abend verschafft hat …«

Und er fing an zu flennen.

»Armer lieber guter alter Korsar … Wie blöd von ihm, sich begraben zu lassen. Wär doch viel lustiger für ihn, wenn er mit uns getrunken hätte. Aber beruhige dich, armer lieber guter alter Freund, ich hab für zwei getrunken, und immer auf deine Gesundheit … und nun wein ich um dich«, schloß er und wischte sich die Tränen ab, die über seine Wangen kullerten.

Das plötzliche Auftauchen mehrerer Personen unter der Weide, die er eben noch als Markierung ausgemacht hatte, gab seiner Irrerederei eine neue Wendung.

Im nächtlichen Dunst waren bizarre Gestalten zu erkennen; und Looker glaubte Männer und Frauen zu unterscheiden.

»Ah, die sind das«, murmelte er ängstlich. »Was wollen sie denn hier?«

Eine der nächtlichen Erscheinungen hatte sich vorgebeugt.

»Der gräbt ja«, flüsterte Looker.

Der dumpfe Ton einer Schaufel, die in die Erde fuhr, bewies dem Betrunkenen, daß er richtig gesehen hatte.

»Wollen die etwa den armen lieben alten guten Freund von Korsar ausbuddeln? Hallo! hallo! Ich bin hier! Das wollen wir doch mal sehen.«

Jeremiah krampfte sich verzweifelt an den Grabstein und versuchte, in eine vertikale Lage zu gelangen. Bevor jedoch sein Bemühen von Erfolg gekrönt sein mochte, drang eine Stimme bis zu ihm.

»Fürchten Sie nichts, Miß«, sagte diese Stimme, »unser Triplex wird aus seinem Sarg steigen und Ihnen die Hand küssen.«

»Er wird aus dem Sarg steigen«, stammelte der Totengräber, und seine Haare sträubten sich.

Seine Zähne klapperten. Von neuem knickten ihm die Beine weg, und er fiel so unglücklich, daß er sich den äußerst empfindlichen verlängerten Rücken seines Körpers an einer Ecke der Grabeinfassung stieß. Er wimmerte. Er hatte sich weh getan und wohnte nun entgeistert und stumm, die rechte Hand aufs Herz, die linke auf die malträtierte rückwärtige Stelle gepreßt, einem außergewöhnlichen Schauspiel bei.

Die Unbekannten wühlten die Erde auf; jetzt arbeiteten mehrere. Man hörte Eisen auf Stein treffen, und neben den Gestalten erhob sich bald ein Erdhaufen. Soweit der Totengräber im Dunst unterscheiden konnte, wohnten elegant gekleidete Frauen diesem geheimnisvollen Tun bei. Es waren drei. Die eine schien verzweifelt zu sein, während ihr die anderen Mut zu machen schienen.

Bald hörte man einen dumpfen Ton.

»Der Sarg«, sagte dieselbe Stimme, die Looker schon vernommen hatte. »Springt hinab und befestigt die Gurte.«

Zwei Schatten schienen in die Erde hinabzutauchen. Das war zuviel für die strapazierten Sinne von Looker. Er preßte die Hände vor die Augen.

»Nein …, das kann ich nicht mit ansehen … Der Tote wird sich erheben … Ach, wenn ich es doch genauso machen und mich in Sicherheit bringen könnte.«

Es war ein überflüssiger Wunsch, denn da er an allen Gliedern zitterte, zudem besoffen und verängstigt, war er außerstande, eine Bewegung zu machen.

Er sah nichts, aber seine Ohren vermittelten ihm deutlich, was vor sich ging. Er vernahm das Festzurren der Seile am Sarg, das Reiben des Eichenholzes an den Grubenwänden, das Absetzen der Last auf dem Erdboden.

Danach signalisierte ein leichtes Knirschen, daß man den Sargdeckel entfernt hatte.

Eine Frauenstimme sagte: »Wie bleich er ist.«

Und die männliche Stimme, die er nun schon zweimal vernommen hatte, antwortete: »Seine Wangen werden wieder frisch aussehen, Miß, seien Sie unbesorgt. Zum Glück ist es Brauch, daß man die verstorbenen Häftlinge mit allem bestattet, was sie auf dem Leibe tragen. Sonst hätte unser Freund bei diesem Nebel eine ernsthafte Lungenentzündung riskiert.«

Ein Toter, der Schnupfen bekommt, ein erkälteter Leichnam … Diese absurde Idee raubte Looker die letzten Kräfte. Ohne daß er seine Hände daran hindern konnte, bedeckten sie sein Gesicht, und aus schreckgeweiteten Augen sah er …

Er sah, daß das Wesen, das soeben gesprochen hatte, die Hand hob. Zwischen den Fingern blitzte im Mondlicht ein glänzender Gegenstand, in dem er einen kleinen Kristallflakon zu erkennen meinte.

»Hier ist das Gegenmittel«, sagte die Erscheinung.

Dann beugte sich die menschliche Erscheinung – der Totengräber hätte es niemals gewagt, ihn als Menschen zu bezeichnen – über den Sarg und flößte dem Verblichenen den Inhalt des Fläschchens ein.

Als das getan war, richtete er sich auf und sagte ruhig: »In einer Minute wird er wieder auf den Beinen sein.«

O die unendliche Minute. Looker konnte seinen Blick nicht vom Sarg reißen. Mit Schaudern vermischte Neugier ließ ihn darauf warten, daß sich das Wunder vollzöge.

Plötzlich gab es ein Poltern in der länglichen Kiste. Dann war es ein Geräusch, als zerrisse man Stoff, und allmählich und bedächtig erschienen erst der Kopf und dann der Oberkörper des Toten.

Der Korsar saß in seinem Sarg!

Zwei Schreie ertönten.

»Er lebt!«

»Er lebt, um dich zu schauen, meine geliebte Lotia. Er lebt, um dich nie mehr zu verlassen.«

Das waren die Worte des vermeintlich Toten. Er stieg aus dem Sarg, reckte sich, ging auf die Frau zu und nahm sie in die Arme.

Noch einmal ergriff derjenige, der bisher gesprochen hatte, das Wort: »Los, wir müssen verschwinden!«

Schweigend kam die Gruppe der Aufforderung nach. Der Korsar nahm die junge Frau, mit der er geredet hatte, bei der Hand, und alle verschwanden wie bei einer Prozession geistergleich zwischen den Gräbern, während der Totengräber – am Ende seiner Kräfte – zu Boden sank und nicht wußte, ob er wachte oder träumte.


Der bescheidene Wächter der Nacht, der Mond, verblaßte in den ersten Morgenstrahlen, als der ehrenwerte Jeremiah Tomy Looker die Augen öffnete. Unmerklich war er aus seinem Staunen in den Schlaf geglitten, und der Rausch des Betrunkenseins war verflogen.

Zunächst hatte er sich gewundert, in einer Gasse des Friedhofs geschlafen zu haben, dann erinnerte er sich allmählich wieder.

»Zum Teufel!« schimpfte er und schien bestürzt. »Ich hab ja hier die Nacht verbracht! Teufel! Teufel! Das ist dieser gottverdammte Brandy, der mich umgehaun hat. Ab jetzt keinen Brandy mehr; Gin und Whisky sind auch was für Männer.«

Dann erinnerte er sich allmählich.

»Und was für ein Alptraum. Dieser Korsar, der aus seinem Grab steigt. Ach, hat man komische Ideen, wenn man Brandy trinkt.«

Der ehrenwerte Mann lachte; seine Freude war jedoch kurz, denn wieder kam ihm in den Sinn, daß er ja seine Unterkunft so schnell wie möglich aufsuchen mußte.

Umständlich erhob er sich und war schon im Begriff, sich auf den Weg zu machen.

Nein, zunächst muß ich am Grab des Korsaren vorbeischauen, dachte er. Dieser Traum verfolgt mich; ich muß sicher sein, daß das alles nur Einbildung war. Es ist ein lächerliches Unternehmen, ich weiß ja selber gut genug, daß meine Pensionäre nicht aus ihren Unterkünften verschwinden, haha …, nur, ich wäre ruhiger, wenn ich es genau wüßte.

Er ging bis zu der Weide, unter der sich das Grab von Triplex befand.

Dort blieb er starr vor Schrecken stehen.

Neben einem Erdhaufen gähnte ein Loch. Und neben diesem Loch stand der Sarg. Leer.

Der Totengräber machte den Mund weit auf, griff sich mit beiden Händen an den Kopf – eine beredte Haltung für seine Überraschung. Verdammt noch mal, er hatte also doch nicht geträumt! Was denn? Es war also doch möglich, daß die Toten hin und wieder auferstehen und den Friedhof verlassen? Kopfschüttelnd ging Looker bis zum Rande der Grube und schaute hinab. Vielleicht … Aber nein, der gestern noch so tote Korsar war nicht mehr da.

Und plötzlich schoß ihm ein noch entsetzlicherer Gedanke durch den Kopf: Man wird mich dafür verantwortlich machen. Wenn das die Verwaltung erfährt! O Gott, o Gott! Eine hübsche Affäre!

Und nachdem er sich eine Viertelstunde lang diesem Gedanken ausgiebig gewidmet hatte, kam dem armen Teufel eine geniale Idee: Bin ich dumm, sagte er sich. Die Polizei ist doch zuständig für verlorene Gegenstände. Also …, selbst wenn ich bei dem Obersten Polizeichef vorsprechen müßte. Dieser Beamte hat sicher besonderes Interesse an meinem Ausreißer, das beweist ja sein reichliches Trinkgeld. Das ist es. Ich werde zu Mr. Allsmine gehen.

Gesagt, getan. Looker suchte sein Domizil auf, wusch und kämmte sich und machte sich dann sofort auf zu dem Haus in der Paramata Street.

»Sir Toby Allsmine?« fragte er den Türwächter.

Der Diener wies ihn mit imposanter Geste ab.

»Es ist noch nicht einmal sieben Uhr, mein Lieber. Kommen Sie später noch einmal vorbei.«

»Ich muß aber den Herrn Oberchef sofort sehen«, bestand der Totengräber auf seinem Vorhaben. »Ich muß. Seien Sie versichert, er wird es Ihnen nicht verzeihen, wenn Sie mich nicht sofort vorlassen.«

Diese Selbstsicherheit beeindruckte den Türhüter. Er entschloß sich, seinen Dienstherrn so sachte wie möglich von dem frühen Besucher in Kenntnis zu setzen.

Sir Toby hatte sich gerade von einem erquicklichen Schlaf erhoben. Als er erfuhr, daß ihn ein Angestellter des Friedhofs zu sprechen wünsche, lief es ihm kalt über den Rücken. Was wollte dieser Mann von ihm? Das einfachste, es zu erfahren, wäre, den Mann zu empfangen. Also gab Sir Toby Anweisung, den Mann hereinzuführen.

»Sie kommen sehr früh, Kerl«, sagte er zu Looker, als dieser eingetreten war. »Ihr Anliegen muß schon außerordentlich sein, daß ich diese frühe Störung toleriere.«

»Euer Ehren mögen entschuldigen, aber ich bin sicher, es ist etwas Außerordentliches.«

»Worum handelt es sich?«

»Um Korsar Triplex.«

Allsmine stutzte, beruhigte sich jedoch sofort wieder.

»Gut. Aber das lohnt nicht mehr die Mühe. Wir haben ihn gestern begraben …«

»Zweifellos, zweifellos!« unterbrach ihn der Totengräber. »Nur hat er den Friedhof heute nacht wieder verlassen.«

»Er hat ihn verlassen? Wie denn? Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Polizist, dessen Gesicht kreideweiß geworden war.

»Wie ich Euer Ehren schon gesagt habe. Diese Nacht hat der Korsar seinen Sarg verlassen und sich gemächlich aus dem Friedhof entfernt.«

»Was ist das für eine Geschichte?«

»Die Wahrheit, Exzellenz. Ich habe es selbst gesehen.«

»Sie?«

»Ja. Ich machte gegen Mitternacht die vorgeschriebene Runde und habe die Auferstehung des Verblichenen selbst miterlebt.«

Allsmine schaute sein Gegenüber aufmerksam an. Offensichtlich fragte er sich, ob ihm nicht ein Verrückter gegenüberstand.

Looker schien diesen Gedanken zu ahnen.

»Wenn Euer Ehren mich zum Friedhof begleiten will? Dann kann sich Euer Ehren selbst überzeugen, daß ich alle meine Sinne beisammen habe.«

Hastig warf sich der Polizeichef den Mantel über, griff zu Hut und Stock und machte sich zusammen mit dem Totengräber auf den Weg zum Friedhof.

Zwanzig Minuten später beugten sich beide über die Grube, in die man am Vortag im Beisein Tobys den toten Piraten gesenkt hatte.

Jetzt war es an Allsmine, zu zittern. Begierig fragte er den Totengräber aus und ließ sich die kleinsten Einzelheiten berichten.

Es war kein Zweifel möglich. Der Tote war am Leben. Der Feind, den man besiegt glaubte, hatte sich mächtiger und gefährlicher als je zuvor wieder erhoben. Es war anzunehmen, daß dieses Abenteuer, wenn es bekannt würde, dem flüchtigen Toten – nein Lebenden – ungeheures Ansehen in der Bevölkerung verschaffen würde. In diesen prosaischen Zeiten gierte ja das Volk geradezu nach legendären Figuren und Ereignissen.

Der Anblick des vergewaltigten Grabes verursachte Toby unbeschreibliches Unbehagen. Er verabschiedete sich mechanisch von dem Totengräber und verließ gedankenversunken den Friedhof. Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er nur einen Feind ergreifen, dem alle Mittel recht waren, ihm zu entkommen und ihn zu narren. Selbst als Toter war er nicht tot genug!

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er hörte, wie Zeitungsverkäufer die Schlagzeilen der Morgenzeitung herausschrien:

KORSAR TRIPLEX VON DEN TOTEN AUFERSTANDEN! TELEGRAMM AN DIE PRESSE! AUSSERORDENTLICH WICHTIGE ERKLÄRUNG!

Er kaufte eine Zeitung und las den betreffenden Artikel:

Wir meldeten gestern das Begräbnis des Korsaren Triplex. Wir hatten unrecht, anzunehmen, ein so bedeutender Mann würde so gewöhnlich von hinnen gehen. Von hinnen ging er schon. Das heißt, aus Fort Macquarie. Dazu hatte er ein Narkotikum benutzt, das ihm den äußeren Anschein eines Toten verliehen hatte. Heute nacht hat er nun sein Grab verlassen. Gleichzeitig erhielten wir von ihm eine Botschaft. Wir veröffentlichen sie kommentarlos:

Heute nacht hat Korsar Triplex, der nicht tot war, sondern nur sehr ausgiebig geschlafen hat, den Friedhof verlassen, auf dem ihn gestern beizusetzen man die Ehre hatte. Diese Botschaft geht gleichlautend an die englische Admiralität und die europäische Presse. Besagte Note hat zum Ziel, die englische Flotte zu einem Rendezvous im Pazifik einzuladen. In zwei Monaten, gerechnet ab heute, werde ich die Flotte an der Goldinsel im Cookarchipel erwarten. Ich hoffe, daß dann endlich Sir Toby Allsmine seine gerechte Strafe bekommen wird.

Triplex

Als Sir Toby diese Zeilen überflogen hatte, senkte er den Kopf. Er fühlte sich machtlos gegenüber den Aktivitäten seines Feindes. Was war das nur für ein Mann, der kühn genug war, sich lebendig begraben zu lassen, und, kaum daß er dem Grab entkommen, schon wieder zur Attacke blies?

Der Polizeichef war mit den Nerven am Ende. Er hatte das Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Unwillkürlich lenkte er seine Schritte zum Centennial-Park-Hotel. Er schmeichelte sich, dort Armand zu treffen und von dem findigen Journalisten vielleicht einen Rat, einen Hinweis zu erhalten. Doch eine Enttäuschung erwartete ihn! An der Rezeption erfuhr er, daß am Vorabend ein Offizier der Kriegsmarine den Pariser Journalisten aufgesucht hatte. Letzterer hatte daraufhin seine Rechnung beglichen und war noch am selben Abend mit seinen beiden Begleiterinnen abgereist.

Lavarèdes Verschwinden beunruhigte den Obersten Polizeichef der englischen Pazifikpolizei nicht wenig.

So schnell wie möglich kehrte er nach Hause zurück. Verflixt! Sollte er James Pack ins Vertrauen ziehen? In letzter Zeit war ihm dessen Verhalten immer sonderbarer vorgekommen. Er war pflichtbewußt und hatte sich immer loyal verhalten, gewiß. Aber hatte er nicht eine besondere Zuneigung zu Silly gehabt? Wußte James Pack vielleicht mehr, als er ihm gegenüber zugab? Dennoch konnte man von James Pack immer einen Rat erhoffen. Und den brauchte er jetzt.

Doch das Schicksal schien sich gegen ihn verschworen zu haben, denn er suchte seinen Sekretär vergeblich; Pack war am Morgen nicht im Büro erschienen. Verärgert schickte Allsmine einen Beamten in die Wohnung des Buckligen mit der Order, seinen Sekretär unverzüglich herbeizuschaffen.

Nach einer Stunde kam der Beamte zurück, allerdings allein. James Pack hatte am Abend zuvor das Haus verlassen. Seitdem hatte ihn niemand mehr gesehen.

Allsmine wurde nachdenklich. Schließlich ergriff ihn direkt Bestürzung.

Erst Lavarède verschwunden – nun James Pack! Ein Zufall, der gerade mit der Flucht des Korsaren zusammenfiel. Nur Zufall? Oder war das der Zusammenklang eines einzigen und ausgeklügelten Planes gegen ihn? Wollte ihn der Korsar zweier Menschen berauben, auf die er im Notfall zu rechnen glaubte? Oder steckten gar diese beiden mit dem Korsaren unter einer Decke … Aber nein, das war ausgeschlossen. Ach, dieser Korsar! Der überall und nirgends war. Der unaufhörlich zuschlug. Mein Gott! Warum hatte er ihn nicht eigenhändig getötet, als er sich in seiner Hand befand? Jetzt war der Feind in Freiheit, und er würde sich hüten, sich ein zweites Mal gefangennehmen zu lassen.

Allsmine würde isoliert bleiben und den Schachzügen des Korsaren wehrlos ausgesetzt sein. Ja, er konnte diese Züge nicht einmal vorausahnen. Und zu allem Unglück würde in zwei Monaten, dem von dem Korsaren festgelegten Tag, die englische Regierung – ob nun von seiner Unschuld überzeugt oder nicht – den Polizeichef opfern, da sie seine Gegenwart von anderen wichtigen Amtsgeschäften abhielt.

Ja gewiß. Der vorausschauende Rächer hatte alles genau geplant. Er hatte ihn all seinen Getreuen entfremdet, auf die er früher zählen konnte; es war ihm sogar gelungen, seine Frau Joan wankelmütig zu machen.

Joan!

Dieser Name erschien ihm jetzt wie ein Lichtstreif in dunkler Nacht. Joan! Ja, er war ungerecht, geradezu brutal ihr gegenüber gewesen; aber doch nur angesichts einer ungeheuren Gefahr, da er nicht mehr ein noch aus wußte. Er war doch seiner Sinne nicht mehr Herr gewesen! Sie würde das sicher verstehen und ihm auch verzeihen, wenn er an ihre Großzügigkeit, die sie so oft bewiesen hatte, appellierte.

Freilich, sie war nicht mächtig genug, ihn vor dem Korsaren zu schützen; aber er wünschte ja nichts weiter als jemanden, der ihn verstand. Was er erhoffte, was er wünschte, das war jemand, mit dem er reden, dem er seine Zweifel und seine Nöte jetzt mitteilen konnte.

Er fühlte sich einsam, und er hatte Angst vor der Einsamkeit. Dieses Gefühl gewann die Oberhand über jede andere Regung. Er durfte nicht allein bleiben; um jeden Preis mußte er vermeiden, jetzt allein zu sein.

Ja, er würde Joan aufsuchen und ihr zu Füßen fallen. Schnell schritt er durch die Flure, die zu den Zimmern der unglücklichen Mutter führten. Als er ihren Salon betrat, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Nicht das leiseste Geräusch war zu vernehmen. Auf Möbeln und Gegenständen schien die Schwermut verlassener Dinge zu liegen. Er ging durch all ihre Zimmer. Sein Ohr hoffte einen Ton, eine Stimme zu vernehmen, ein Indiz ihrer Anwesenheit. Nichts! Überall Schweigen. Und dieses Schweigen wurde immer schwerer, immer bedrohlicher.

In Panik lief er noch einmal durch die Zimmer. Vor dem Schlafzimmer zögerte er kurz, er hatte es vorhin nicht betreten. Aber das war nur ein kurzer Augenblick. Er mußte Gewißheit haben. Heftig stieß er die Tür auf, trat ein und blickte sich um.

Das Zimmer war leer. Das unberührte Bett bewies, daß die Bewohnerin letzte Nacht nicht in ihm geschlafen hatte.

Allsmine heulte auf wie ein verwundetes Tier. Seine blutunterlaufenen Augen musterten das Zimmer. Plötzlich verhielten sie auf einem Brief, der mitten auf einem Kissen lag. Offensichtlich sollte man ihn nicht übersehen. Mit einem Sprung war Toby bei dem Brief, riß den Umschlag auf, auf dem stand »Für Sir Toby Allsmine«, faltete ein Blatt Papier auseinander, das in ihm steckte, und überflog mit einem Blick, was darauf stand: »Zu dieser Stunde bin ich bei meiner Tochter Maudlin. Ich will nicht anklagen, aber an der Seite meines geliebten Kindes hoffe ich in der Zurückgezogenheit auf die Gerechtigkeit, die die Schuldigen zur Verantwortung zieht.«

»Abgereist«, stammelte Sir Toby, »abgereist …! Ihre Tochter am Leben … Korsar Triplex! Das ist die Hölle! Alles hat sich gegen mich verschworen!«

Ohnmächtig fiel er zu Boden.


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