9. Kapitel. Nelly Rubina

»Ich glaube, das hört nie wieder auf!«

Jane ließ ihren >Robinson Crusoe< sinken und blickte düster zum Fenster hinaus.

Draußen fiel gleichmäßig der Schnee, senkte sich in großen, weichen Flocken und deckte den Park und die Bürgersteige und die Häuser im Kirschbaumweg mit seinem dicken, weißen Mantel zu. Seit einer Woche hatte es nicht aufgehört zu schneien, und die ganze Zeit über hatten die Kinder nicht an die Luft gehen können.

»Mir macht das nichts — jedenfalls nicht viel«, sagte Michael vom Fußboden herauf, wo er gerade eifrig die Tiere aus seiner Arche Noah aufstellte. »Wir können ja Eskimo spielen und Wale essen.«

»Blödsinn — wie können wir an Wale kommen, wenn es so schneit, daß wir uns nicht einmal Hustenbonbons holen können!«

»Sie können ja herkommen. Das tun Wale manchmal«, erwiderte er.

»Woher weißt du das?«

»Na, ich weiß es nicht gerade. Aber sie könnten doch, Jane! Wo ist die zweite Giraffe? Ach, da ist sie — unter dem Tiger!«

Er stellte die beiden Giraffen nebeneinander in die Arche.

»Die Paare traten ein im Nu, Der Elefant und 's Känguruh«,

sang Michael. Und weil er kein Känguruh besaß, führte er eine Antilope mit dem Elefanten hinein und dahinter Mister und Mistreß Noah, um Ordnung zu halten.

»Ich frage mich, warum sie eigentlich keine Verwandten haben!« bemerkte er nach einer Weile.

»Wer?« fragte Jane ungnädig, denn sie wollte nicht gestört werden.

»Die Noahs. Ich habe sie nie mit einer Tochter oder einem Sohn gesehen oder mit einem Onkel oder mit einer Tante. Warum?«

»Weil sie keine haben«, sagte Jane. »Und jetzt halt den Mund.«

»Na, ich hab doch bloß eine Bemerkung gemacht. Darf ich das etwa nicht?«

Nun wurde er ungnädig und bekam es satt, im Kinderzimmer eingesperrt zu sein. Er stand auf und stolperte zu Jane hinüber.

»Ich sagte ja nur . . . « , begann er hartnäckig und schüttelte die Hand, die das Buch hielt.

Jetzt aber riß Jane die Geduld, und sie schleuderte Robinson Crusoe quer durchs Zimmer.

»Was fällt dir ein, mich zu stören?« schrie sie und fuhr auf Michael los.

»Was fällt dir ein, mich keine Bemerkung machen zu lassen?«

»Das habe ich ja gar nicht!«

»Doch!«

Im nächsten Augenblick hatte Jane Michael bei der Schulter gepackt und schüttelte ihn wütend, während er ihr mit beiden Händen ins Haar fuhr.

»WAS SOLL DAS HEISSEN?«

In der Tür stand Mary Poppins und blickte düster auf sie nieder.

Sie ließen voneinander ab.

»S — s — sie hat mich geschüttelt!« jammerte Michael, blickte Mary Poppins aber schuldbewußt an.

»E — er hat mich an den Haaren gezogen!« schluchzte Jane, das Gesicht in den Armen verborgen, denn sie traute sich nicht, dem strengen Blick zu begegnen.

Mary Poppins kam ins Zimmer. Über dem Arm trug sie einen Haufen Mäntel, Mützen und Schals, und ihr auf den Fersen folgten die Zwillinge, mit runden Augen und höchst interessiert.

»Lieber«, schnaubte sie verächtlich, »lieber würde ich eine Kannibalenfamilie beaufsichtigen, die wären menschlicher!«

»Aber sie hat mich geschüttelt. . .«, fing Michael wieder an.

»Erzähl das deiner Großmutter!« fuhr Mary Poppins ihn an. Und dann, als er aufbegehren wollte, warnte sie: »Untersteh dich, mir zu widersprechen!« Damit warf sie ihm seinen Mantel zu. »Zieht bitte eure Sachen an! Wir gehen aus.«

»Aus?«

Sie trauten ihren Ohren nicht, doch beim Klang dieses Wortes schmolz ihre schlechte Laune sofort. Michael, der seine Gamaschen zuknöpfte, tat es leid, daß er Jane gereizt hatte, und als er zu ihr hinblickte, sah er sie ihre Kappe aufsetzen und ihm zulächeln.

»Hurra! Hurra! Hurra!« schrien sie, stampften mit den Füßen und klatschten in ihre wollbehandschuhten Hände.

»Kannibalen!« sagte Mary Poppins streng und schob sie vor sich her zur Treppe.

Es schneite nicht mehr, doch häuften sich überall im Garten große Schneewehen, und weiter drüben im Park lag eine dicke, weiße Decke. Die nackten Zweige der Kirschbäume trugen einen glitzernden Schneesaum, und die Parkgitter, die sonst grün und zierlich waren, sahen jetzt weiß aus und fast wollig.

Über den Gartenweg schob Robertson Ay gemächlich seine Schneeschaufel; alle paar Schritte machte er halt und ruhte sich gehörig aus. Er hatte einen alten Mantel von Mister Banks an, der viel zu lang für ihn war. Kaum hatte er ein Stückchen Weg freigeschaufelt, so fegte der hinter ihm herschleppende Mantel eine neue Lage Schnee auf das eben gesäuberte Stück.

Die Kinder rannten schreiend, rufend und mit den Armen fuchtelnd an ihm vorbei zum Tor.

Draußen auf der Straße war alles, was hier lebte, auf den Beinen und schnappte ein wenig Luft.

»Ahoi, Schiffsmaaten!« brüllte eine heisere Stimme; Admiral Boom trat auf sie zu und schüttelte allen die Hand. Von Kopf bis Fuß umhüllte ihn ein großes Wettercape, und seine Nase leuchtete röter denn je.

»Guten Tag!« sagten Jane und Michael höflich.

»Potz Steuerbord!« rief der Admiral. »Das nenn ich keinen guten Tag. Hrrrrumph! Einen scheußlichen, schimmligen Tag für unbefahrene Landratten nenne ich das! Warum wird es nicht Frühling, möcht ich wissen!«

»Hierher, Andy! Hierher, Willibald! Bleibt schön bei Frauchen!«

Miß Lark, die in ihrem langen Pelzmantel und mit der Pelzmütze wie eine Teepuppe aussah, ging mit ihren beiden Hunden spazieren.

»Guten Morgen allerseits«, grüßte sie zerstreut. »Was für ein Wetter! Wo bleibt die Sonne? Und warum wird es nicht Frühling?«

»Mich dürfen Sie danach nicht fragen!« brüllte Admiral Boom. »Das ist nicht meine Sache. Sie sollten zur See gehen. Da ist immer Schönwetter! Gehen Sie zur See!«

»Ach, Admiral Boom, das kann ich doch nicht. Ich habe keine Zeit dazu. Ich will grade Andy und Willibald ein Pelzmäntelchen kaufen.«

Die beiden Hunde wechselten einen Blick voller Scham und Entsetzen.

»Pelzmäntelchen!« brüllte der Admiral. »Potz Fernrohr! Pelzmäntelchen für diese Promenadenmischungen! Werfen Sie sie über Bord! Und 'raus aus dem Haufen, sag ich! Anker auf! — Pelzmäntelchen!!«

»Admiral! Admiral!« rief Miß Lark und hielt sich die Ohren zu. »Was für eine Sprache! Bitte, bitte, denken Sie daran, daß ich so etwas nicht gewöhnt bin. Und meine Hunde sind keine Promenadenmischungen. Keineswegs! Der eine hat einen ellenlangen Stammbaum und der andere zum mindesten ein gutes Herz. Promenadenmischungen, so etwas!«

Und sie eilte davon, mit hoher, ärgerlicher Stimme weiter vor sich hin sprechend; Andy und Willibald trotteten neben ihr her, pendelten mit den Schwänzen und sahen sehr unbehaglich und beschämt aus.

Der Eismann fuhr mit seinem Wagen vorbei; er war in rasender Eile und bimmelte wie verrückt.

»NICHT ANHALTEN, SONST ERKÄLTE ICH MICH!« verkündete das Schild vorn am Wagen.

»Kommt der Frühling überhaupt noch mal?« rief der Eismann dem Straßenfeger zu, der gerade um die Ecke geschlendert kam. Um sich vor der Kälte zu schützen, hatte er sich ganz mit Besen zugedeckt, so daß er eher wie ein Igel aussah als wie ein Mensch.

»Bur — rum, bummel!« kam seine Stimme unter dem Besen hervor.

»Wie bitte?« sagte der Eismann.

»Bummel!« bemerkte der Straßenfeger und verschwand in Miß Larks Haus.

Im Parktor stand der Aufseher, schlug die Arme übereinander, stampfte mit den Füßen und blies in seine Hände.

»Könnten ein bißchen Frühling gebrauchen, wie?« sagte er freundlich zu Mary Poppins, als sie und die Kinder an ihm vorbeigingen.

»Ich bin ganz zufrieden!« bemerkte Mary Poppins steif und warf den Kopf in den Nacken.

»Selbstzufrieden, willst du wohl sagen«, murmelte der Aufseher. Aber da er dabei die Hand vor den Mund hielt, verstanden es nur Jane und Michael.

Michael zottelte wieder einmal hinterdrein. Er bückte sich und hob eine Handvoll Schnee auf, den er zwischen den Händen zu rollen begann.

»Hallo, Jane!« rief er scheinheilig. »Ich hab was für dich!«

Sie drehte sich um, und der Schneeball pfiff durch die Luft und traf sie an der Schulter. Aufquietschend begann sie im Schnee zu graben, und bald flogen Schneebälle nach allen Seiten. Und mitten drin, zwischen den fliegenden, glitzernden Bällen, wanderte Mary Poppins, sehr stolz und adrett, und dachte heimlich, wie hübsch sie aussah in ihren langen, wollenen Handschuhen und ihrem Pelzmantel aus Kaninchenfell.

Und gerade, als sie das dachte, streifte ein großer Schneeball ihre Hutkrempe und landete auf ihrer Nase.

»Oje«, schrie Michael auf und hob vor Schrecken beide Hände vor den Mund. »Das wollte ich nicht, Mary Poppins! Wirklich, das wollte ich nicht. Das galt Jane!«

Mary Poppins drehte sich um, und das Gesicht, das hinter dem zerplatzten Schneeball erschien, war zum Fürchten.

»Mary Poppins«, sagte er ernsthaft, »es tut mir leid. Es war ein Versehen!«

»Versehen oder nicht«, gab sie zurück. »Auf alle Fälle ist jetzt Schluß mit der Schneeballerei. Versehen! So was! Ein Zulukaffer hat bessere Manieren!«

Sie sammelte die Überbleibsel des Schneeballs von ihrem Hals und rollte sie zwischen ihren wollenen Handflächen zu einer kleinen Kugel. Dann warf sie die Kugel geradeaus über den schneebedeckten Rasen und stampfte hochnäsig hinterher.

»Jetzt hast du was angerichtet«, flüsterte Jane.

»Das wollte ich nicht«, flüsterte Michael zurück.

»Ich weiß. Aber du weißt doch, wie sie ist!«

Als Mary Poppins die Stelle erreichte, wo der Schneeball hingefallen war, hob sie ihn auf und schleuderte ihn abermals von sich, mit einem langen, mächtigen Wurf.

»Wohin will sie denn?« sagte Michael plötzlich. Denn der Schneeball war unter die Bäume gerollt, und statt auf dem Weg zu bleiben, eilte Mary Poppins hinter ihm her. Ab und zu duckte sie sich, wenn von einem Zweig ein kleiner Schneeschauer niederrieselte.

»Ich komme fast nicht mehr mit!« sagte Michael und stolperte über seine eigenen Füße.

Mary Poppins beschleunigte ihre Schritte. Die Kinder folgten ihr keuchend, und als sie schließlich den Schneeball erreichten, da lag er neben dem seltsamsten Bauwerk, das sie jemals erblickt hatten.

»Ich erinnere mich nicht, das Haus schon mal gesehen zu haben!« rief Jane aus, die vor Erstaunen die Augen aufriß.

»Es sieht eher wie eine Arche aus als wie ein Haus«, sagte Michael und gaffte.

Das Haus stand fest im Schnee, mit einem dicken Tau an einem Baumstamm verankert. Rundum lief wie eine Veranda ein langes, schmales Deck, und das hohe, spitze Dach war hellrot angestrichen. Aber das Merkwürdigste war, daß es zwar einige Fenster, aber nicht eine einzige Tür besaß.

»Wo sind wir?« fragte Jane aufgeregt und neugierig.

Mary Poppins antwortete nicht. Sie führte sie über das Deck, wo sie vor einer Tafel haltmachte, auf der stand:

»DREIEINHALBMAL KLOPFEN!«

»Was heißt >ein halbmal klopfen

»Pst«, machte sie und deutete nickend auf Mary Poppins, und das Nicken sagte so deutlich, als hätte sie's ausgesprochen: >Wir stehen an der Schwelle eines Abenteuers. Zerstöre bitte nicht alles durch deine Fragerei.<

Mary Poppins ergriff den Klopfer, der über dem Schild hing, hob ihn etwas an und klopfte dreimal laut gegen die Wand. Dann nahm sie ihn behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger ihres Wollhandschuhs und machte ganz zart, leise, wie hingetupft: tapp. Etwa so:

RAP! RAP! RAP ! . . . tapp.

Gleich darauf, als hätte man auf dieses Signal schon gelauscht und gewartet, flog das Dach des Hauses in großen Scharnieren zurück.

»Oohh!« Michael konnte den Ruf nicht unterdrücken, denn der durch das Aufklappen des Daches erzeugte Wind hätte ihm um ein Haar den Hut vom Kopf geblasen.

Mary Poppins ging bis ans Ende des schmalen Decks und begann, eine kleine, steile Leiter hochzuklettern. Oben angelangt, drehte sie sich um und winkte feierlich und geheimnisvoll mit dem wollenen Finger.

»Klettert mir nach, bitte!«

»Springt!« rief Mary Poppins und hüpfte von der Höhe der Leiter ins Haus. Dann drehte sie sich um und fing die Zwillinge auf, die oben über die Kante gestolpert kamen, gefolgt von Jane und Michael. Kaum waren sie allesamt sicher im Haus, da schloß sich das Dach wieder und klappte mit einem kleinen Ruck zu.

Sie blickten um sich. Vier Augenpaare weiteten sich vor Überraschung.

»Was für ein komischer Raum!« rief Jane.

Aber in Wirklichkeit war er mehr als komisch. Er war ganz außergewöhnlich. Das einzige Möbelstück darin war ein großer Ladentisch, der sich an einem Ende des Raums entlangzog. Die Wände waren weiß gekalkt; dagegen lehnten Stapel von ausgeschnittenen Brettern, die die Umrisse von Bäumen und Ästen zeigten, alle grün gestrichen. Kleine hölzerne Blattbüschel, frisch bemalt und poliert, lagen auf dem Fußboden verstreut. An den Wänden hingen Anschläge, die besagten:

ACHTUNG! FRISCH GESTRICHEN!

oder

NICHT BERÜHREN!

oder

NICHT DEN RASEN BETRETEN!

Aber das war nicht alles.

In einer Ecke stand eine Herde von hölzernen Schafen, auf deren Pelz noch die Farbe trocknete. Dicht zusammengedrängt fanden sich in der nächsten kleine Blumengruppen: steifer, gelber Fingerhut, grün-weiße Schneeglöckchen und Scyllas von strahlendem Blau. Alle sahen sie noch sehr glänzend und klebrig aus, wie soeben frisch bemalt. Den gleichen Anblick boten die hölzernen Vögel und Schmetterlinge, die in Stapeln in der dritten Ecke lagen, und die flachen, weißen, hölzernen Wolken, die gegen den Ladentisch lehnten.

Nur der riesige Krug, der am Ende des Raumes auf einem Regal stand, war nicht angemalt. Er bestand aus grünem Glas und war bis zum Rand mit Hunderten von kleinen, flachen Plättchen gefüllt, Plättchen von jedem Umriß und jeder Farbe.

»Du hast recht, Jane«, sagte Michael und staunte. »Das ist ein komischer Raum.«

»Komisch?« fragte Mary Poppins und sah geradezu beleidigt aus.

»Na, seltsam eben.«

»SELTSAM?«

Michael stockte. Er konnte das rechte Wort nicht finden.

»Ich wollte sagen ... «

»Ich finde, es ist ein sehr hübscher Raum, Mary Poppins...«, kam Jane ihrem Bruder eilig zu Hilfe.

»Ja, das ist er«, sagte Michael, merklich erleichtert. »Außerdem«, fügte er schlau hinzu, »finde ich, du siehst in diesem Hut sehr nett aus.«

Vorsichtig guckte er hoch. Ja, ihr Gesicht war schon ein wenig sanfter — schon zeigte sich der Anflug eines geschmeichelten Lächelns um ihren Mund.

»Hmpf«, machte sie und wandte sich dem Hintergrund des Raumes zu. »Nelly Rubina!« rief sie. »Wo steckst du? Wir sind da!«

»Ich komme gleich! Ich komme gleich!«

Das höchste und dünnste Stimmchen, das sie jemals gehört hatten, schien unter dem Ladentisch hervorzukommen. Und nach einer Weile tauchte aus dieser Richtung ein Kopf auf, auf dem ein kleiner, flacher Hut thronte. Ihm folgte eine rundliche, etwas untersetzte Gestalt, die in der einen Hand einen Topf roter Farbe hielt und in der anderen eine noch rohe, hölzerne Tulpe.

Bestimmt, dachten Jane und Michael, bestimmt war das die seltsamste Person, die sie je gesehen hatten.

Nach Gesicht und Größe zu schließen, war sie noch ziemlich jung, aber irgendwie schien sie nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Holz zu bestehen. Ihr steifes, glänzendes, schwarzes Haar wirkte, als sei es mitsamt dem Kopf aus einem Holzplättchen herausgeschnitzt und dann bemalt worden. Ihre Augen waren wie zwei kleine, schwarze Bohrlöcher, und bestimmt war der helle rosa Fleck auf ihrer glänzenden Backe mit Farbe aufgetragen.

»Ach, Mary Poppins!« sagte die seltsame Person, und ihre Lippen schimmerten beim Lächeln. »Das ist aber nett von dir, das muß ich schon sagen!« Sie legte Farbtopf und Tulpe hin und kam um den Ladentisch herum, um Mary Poppins die Hand zu schütteln.

Da merkten die Kinder, daß sie überhaupt keine Beine hatte! Von der Taille ab bestand sie aus einem Stück, und sie bewegte sich rollend fort mit Hilfe einer runden, flachen Scheibe, die dort war, wo eigentlich ihre Füße hätten sein müssen.

»Nicht im geringsten, Nelly Rubina«, sagte Mary Poppins mit ungewohnter Höflichkeit. »Es ist mir ein großes Vergnügen.«

»Wir haben dich natürlich erwartet«, fuhr Nelly Rubina fort, »weil wir auf deine Hilfe rechneten bei...« Sie brach plötzlich ab, nicht nur, weil Mary Poppins ihr einen warnenden Blick zugeworfen hatte, sondern weil sie jetzt erst die Kinder entdeckte.

»Oh!« rief sie mit ihrer hohen, freundlichen Stimme. »Du hast Jane und Michael mitgebracht! Und die Zwillinge auch. Was für eine Überraschung!« Sie rollte auf die Kinder zu und schüttelte allen die Hand.

»Kennst du uns denn?« fragte Michael, der sie verblüfft anstarrte.

»Aber natürlich!« trillerte sie fröhlich. »Ich habe Vater und Mutter oft von euch sprechen hören. Ich freue mich, eure Bekanntschaft zu machen.« Sie lachte und bestand darauf, allen nochmals die Hände zu schütteln.

»Ich dachte mir, Nelly Rubina«, sagte Mary Poppins, »daß du vielleicht für eine Unze Unterhaltungen übrig hättest.«

»Gewiß!« sagte Nelly Rubina und rollte lächelnd zum Ladentisch. »Für dich tue ich alles, Mary Poppins, es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen!«

»Aber kann man denn Unterhaltung nach Unzen kaufen?« fragte Jane.

»Ja natürlich. Auch nach Pfunden. Oder tonnenweise, wenn du willst.« Nelly Rubina brach ab. Sie streckte die Arme nach dem großen Krug auf dem Regal aus. Sie waren zu kurz, um hinaufzureichen. »Tz — tz—tz! Nicht lang genug! Ich muß mir noch ein Stück anleimen lassen. Inzwischen kann ihn mein Onkel herunterholen. Onkel Dodger! Onkel Dodger!«

Die letzten Worte rief sie durch eine Tür hinter dem Ladentisch, und alsbald erschien eine äußerst merkwürdig aussehende Gestalt.

Der Mann war rundlich wie Nelly Rubina, aber viel älter, auch hatte er ein trauriges Gesicht. Er trug wie sie einen kleinen, flachen Hut auf dem Kopf, und sein Mantel war eng über einer Brust zugeknöpft, die ebenso hölzern wirkte wie die Nelly Rubinas. Als seine Schürze einen Augenblick umschlug, konnten Jane und Michael sehen, daß er wie seine Nichte von der Taille ab aus einem Stück bestand. In der Hand trug er einen hölzernen Kuckuck, zur Hälfte grau angestrichen, und Spritzer der gleichen Farbe saßen ihm auf der Nase.

»Du hast gerufen, meine Liebe?« fragte er mit einer sanften, respektvollen Stimme.

Dann aber entdeckte er Mary Poppins.

»Ach, da bist du ja endlich, Mary Poppins! Das wird Nelly Rubina aber freuen. Sie hat dich erwartet, um uns zu helfen beim . . .«

Sein Blick fiel auf die Kinder, und er brach plötzlich ab.

»O Verzeihung! Ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist, meine Liebe! Laß mich nur schnell den Vogel fertigmachen und . . .«

»Tu das nicht, Onkel Dodger!« sagte Nelly Rubina scharf. »Ich möchte, daß du mir die Unterhaltungen herunterholst. Willst du so nett sein?«

Obwohl sie ein so fröhliches, freundliches Gesicht hatte, bemerkten die Kinder, daß sie beim Sprechen dem Onkel eher Befehle erteilte als um etwas bat.

Onkel Dodger sprang herbei, so rasch, wie das bei einem Mann ohne Beine nur möglich war.

»Aber gewiß doch, meine Liebe, gewiß doch!«

Er setzte den Krug auf den Ladentisch.

»Genau vor mich hin, bitte!« befahl Nelly Rubina von oben herab. Mit ängstlicher Geschäftigkeit schob Onkel Dodger den Krug weiter.

»Hier, meine Liebe, entschuldige bitte!«

»Sind das die Unterhaltungsstücke?« fragte Jane und deutete auf den Krug. »Sie sehen eher aus wie Süßigkeiten.«

»Das sind sie ja auch, Miß! Es sind Unterhaltungssüßigkeiten«, sagte Onkel Dodger, der den Krug mit der Schürze abwischte.

»Ißt die einer?« erkundigte sich Michael.

Onkel Dodger beugte sich mit einem vorsichtigen Blick auf Nelly Rubina über den Ladentisch.

»Eine schon«, flüsterte er hinter der vorgehaltenen Hand. »Aber ich nicht, denn ich bin nur ein angeheirateter Onkel. Sie hingegen . . .« — er deutete mit einem respektvollen Nicken auf seine Nichte —, »sie ist die älteste Tochter und ein direkter Nachkomme!«

Jane und Michael hatten keine Ahnung, was er damit meinte, aber sie nickten höflich.

»Nun?« rief Nelly Rubina fröhlich, während sie den Deckel vom Krug hob, »wer will zuerst?«

Jane steckte ihre Hand in den Krug und brachte ein flaches, sternförmiges Bonbon zum Vorschein, das aussah wie ein Pfefferminzplätzchen.

»Da steht ja etwas drauf!« rief sie aus.

Nelly Rubina quietschte vor Lachen. »Natürlich! Es ist doch ein Unterhaltungsbonbon! Lies vor!«

»Du bist mein Ideal«, las Jane laut.

»Wie reizend!« zwitscherte Nelly Rubina und schob Michael den Krug hin. Er zog ein rosafarbenes, muschelförmiges Bonbon hervor.

»Ich liebe dich. Liebst du mich auch?« buchstabierte er.

»Hahaha! Das ist was besonders Gutes! Ja, ich dich auch!«

Nelly Rubina lachte laut und gab ihm rasch einen Kuß, der auf seiner Backe einen klebrigen Farbklecks hinterließ.

Johns gelbes Bonbon lautete: »Dideldideldumpling!«, und auf dem Barbaras stand in großen Buchstaben: »Unser Sonnenscheinchen!«

»Und das bist du auch!« rief Nelly Rubina und lächelte ihr über den Ladentisch zu.

»Nun du, Mary Poppins«, und während Nelly Rubina ihr den Krug zuschob, bemerkten Jane und Michael, wie beide einen seltsam verständnisvollen Blick wechselten.

Da kam der große wollene Handschuh; Mary Poppins schloß die Augen und wühlte einen Augenblick in den Bonbons. Dann schlossen sich ihre Finger um ein weißes, das wie ein Halbmond geformt war, und sie streckte es vor sich hin.

»Heute abend um zehn«, las Jane laut vor.

Onkel Dodger rieb sich die Hände.

»Das stimmt. Das ist die Stunde, wo wir . . .«

»Onkel Dodger!!« rief Nelly Rubina warnend.

Das Lächeln erlosch auf seinem Gesicht, und er sah noch trauriger aus als vorher.

»Verzeihung, meine Liebe!« sagte er demütig. »Ich bin ein alter Mann und sage manchmal etwas Falsches, fürchte ich — entschuldige bitte.« Er sah sehr beschämt aus, aber Jane und Michael begriffen nicht recht, was er falsch gemacht haben sollte.

»Na denn«, sagte Mary Poppins und steckte ihr Unterhaltungsbonbon sorgfältig in die Tasche. »Entschuldige uns bitte, aber ich glaube, wir müssen weg!«

»Was, schon?« Nelly Rubina rollte auf ihrer Scheibe ein wenig näher. »Es war uns ein Vergnügen! Aber«, sie blickte aus dem Fenster, »es könnte wieder zu schneien anfangen, dann sitzt ihr hier fest. Und das möchtet ihr wohl nicht, wie?« wandte sie sich zwitschernd an die Kinder.

»Ich doch«, sagte Michael mit Nachdruck. »Mir würde es Spaß machen. Dann fände ich vielleicht auch heraus, wozu diese Dinger hier da sind.« Er deutete auf die gemalten Zweige, die Schafe, die Vögel und die Blumen.

»Die? Ach, das sind nur Dekorationen«, sagte Nelly Rubina obenhin und verabschiedete sie mit einer eckigen Handbewegung.

»Aber was tust du damit?«

Onkel Dodger beugte sich eifrig über den Ladentisch.

»Ja, siehst du, wir nehmen sie mit uns . . .«

»Onkel Dodger!!!« Nelly Rubinas dunkle Augen funkelten gefährlich.

»Ach, meine Liebe! Jetzt hab ich mich wieder verplappert. Immer falle ich aus der Rolle. Ich bin eben zu alt, das ist es«, sagte Onkel Dodger.

Nelly Rubina warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Dann wandte sie sich lächelnd den Kindern zu.

»Lebt wohl«, sagte sie und schüttelte ihnen ruckhaft die Hand. »Ich werde an unsere Unterhaltungsbonbons denken: >Du bist mein Ideal, Ich liebe dich, Dideldideldumpling und Sonnenscheinchen!<«

»Du hast Mary Poppins' Spruch vergessen. Er hieß: >Heute abend um zehn<«, erinnerte sie Michael.

»Ach, die denkt schon daran!« sagte Onkel Dodger und lächelte glücklich.

»Onkel Dodger!!«

»Oh, entschuldige bitte, entschuldige!«

»Lebt wohl!« sagte Mary Poppins. Sie klopfte bedeutungsvoll auf ihre Handtasche, und wieder wechselten sie und Nelly Rubina einen seltsamen Blick.

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«

Wenn Jane und Michael später daran dachten, konnten sie sich nicht erinnern, wie sie aus dem seltsamen Haus herausgekommen waren. In dem einen Augenblick waren sie noch drinnen gewesen und hatten sich von Nelly Rubina verabschiedet, und im nächsten standen sie schon wieder draußen im Schnee und eilten hinter Mary Poppins her.

»Weißt du, Michael«, sagte Jane, »ich glaube, das Bonbon war eine Botschaft.«

»Welches? Meines?«

»Nein. Das von Mary Poppins.«

»Meinst du?«

»Ich glaube, heute nacht um zehn wird sich etwas ereignen; ich möchte wach bleiben und sehen, was passiert.«

»Da mache ich mit«, sagte Michael.

»Kommt weiter, bitte! Macht voran!« sagte Mary Poppins. »Ich kann hier nicht den ganzen Tag vertrödeln . . .«

Jane lag in tiefem Schlaf. Im Traum rief jemand leise und dringlich ihren Namen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und sah Michael im Pyjama neben ihrem Bett stehen.

»Du wolltest doch wach bleiben!« flüsterte er vorwurfsvoll.

»Was? Wie? Wo? Ach, du bist's, Michael! Na, das wolltest du doch auch.«

»Horch«, sagte er.

Nebenan schlich jemand auf Zehenspitzen durchs Zimmer.

Jane zog scharf den Atem ein. »Schnell! Zurück ins Bett. Tu, als ob du schläfst. Vorwärts!«

Mit einem Satz war Michael unter seiner Decke. In der Dunkelheit hielten er und Jane lauschend den Atem an.

Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich verstohlen. Der schmale Lichtspalt erweiterte sich. Langsam schob sich ein Kopf um die Ecke und spähte ins Zimmer. Dann schlüpfte jemand durch die Tür, die sich leise wieder schloß.

Mary Poppins, in ihren Pelzmantel gehüllt und die Schuhe in der Hand, schlich auf Zehenspitzen durchs Zimmer.

Die Kinder lagen ganz still und horchten, wie ihre Tritte die Treppe hinabeilten. Nach einem Weilchen drehte sich unten an der Haustür der Schlüssel im Schloß. Jemand eilte die Stufen zum Gartenpfad hinunter, und dann schnappte das Tor zu.

Im gleichen Augenblick schlug die Uhr zehn!

Mit einem Satz waren beide aus dem Bett und rannten ins Nebenzimmer, dessen Fenster nach dem Park hinausgingen.



Die Nacht war schwarz und prächtig, von hohen, funkelnden Sternen erleuchtet. Aber heute blickten sie nicht nach den Sternen. Wenn Mary Poppins' Bonbon wirklich eine Botschaft enthalten hatte, gab es bestimmt Interessantes zu sehen.

»Guck!« Jane schluckte aufgeregt und streckte deutend ihre Hand aus. »Da!«

Drüben im Park, gleich beim Eingangstor, stand das seltsame, archenartige Haus, lose an einem Baumstamm verankert.

»Aber wie kommt das denn hierher?« sagte Michael verwundert. »Heute morgen war es doch am anderen Ende des Parks.«

Jane antwortete nicht. Sie war ganz von ihren Beobachtungen in Anspruch genommen.

Das Dach der Arche war aufgeklappt, und oben auf der Leiter stand, auf ihrer runden Scheibe balancierend, Nelly Rubina. Von innen reichte Onkel Dodger ein Bündel angemalter Holzzweige nach dem anderen heraus.

»Bist du soweit, Mary Poppins?« zwitscherte Nelly Rubina und ließ einen Armvoll zu Mary Poppins hinunter, die auf dem Deck stand, um ihn in Empfang zu nehmen.

Die Luft war so klar und ruhig, daß Jane und Michael, auf der Fensterbank kniend, jedes Wort hören konnten.

Plötzlich gab es im Innern der Arche ein großes Getöse, denn eine der hölzernen Formen war zu Boden gefallen.

»Onkel Dodger!! Gib bitte acht! Sie sind zerbrechlich!« sagte Nelly Rubina streng. Und Onkel Dodger erwiderte, während er einen Haufen gemalter Wolken herausreichte, reuevoll:

»Verzeihung, meine Liebe!«

Als nächstes kam die Herde hölzerner Schafe zum Vorschein, alle sehr steif und gediegen. Und zuletzt die Vögel, Schmetterlinge und Blumen.

»Das ist 'ne Masse!« sagte Onkel Dodger und schwang sich selbst durch die Dachöffnung hinauf. Unter seinem Arm trug er den hölzernen Kuckuck, der nun ganz mit grauer Farbe bedeckt war. Und in der Hand schwang er einen großen, grünen Farbtopf.

»Sehr schön«, sagte Nelly Rubina. »Nun, wenn du bereit bist, Mary Poppins, dann fangen wir an!«

Und jetzt begann die seltsamste Arbeit, die Jane und Michael je gesehen hatten. Nie, nie, so dachten sie, würden sie das vergessen, und sollten sie auch neunzig Jahre alt werden.

Von dem Stapel angemalter Hölzer nahmen Nelly Rubina und Mary Poppins große Blattbüschel und befestigten sie, ein wenig hochhüpfend, rasch an den nackten, frostigen Ästen der Bäume. Die Büschel schienen leicht zu haften, denn es beanspruchte nicht mehr als eine Minute, sie anzubringen. Und als alles an seinem Platz saß, hüpfte Onkel Dodger hoch und verdeckte mit einem grünen Farbtupfer die Stelle, wo sich die Blattbüschel mit den Ästen verbanden.

»Du meine Güte, du meine Güte!« rief Jane, als Nelly Rubina leicht zur Spitze einer hohen Pappel hinaufsegelte und dort einen großen Zweig festmachte. Michael aber war viel zu verblüfft, um überhaupt etwas zu sagen.

Durch den ganzen Park gingen die drei; wie auf Springfedern hüpften sie zu den höchsten Zweigen hinauf. Und im Handumdrehen war jeder Baum mit hölzernen Blattbüscheln umkleidet, während Onkel Dodger dem Ganzen durch einen Farbtupfer den letzten Pfiff gab.

Ab und zu hörten Jane und Michael Nelly Rubinas schrillen Ruf:

»Onkel Dodger! Gib acht!« und Onkel Dodgers Entschuldigungen.

Und jetzt nahmen Nelly Rubina und Mary Poppins die flachen, weißen, hölzernen Wolken in die Arme. Damit stiegen sie noch höher empor als bisher, ja sie schossen geradezu über die Baumwipfel hinaus und drückten die Wolken behutsam gegen den Himmel.

»Die bleiben kleben, die bleiben ja kleben!« rief Michael und tanzte vor Aufregung auf der Fensterbank. Und wahrhaftig, dort oben am glitzernden, funkelnden Himmel saßen die weißen Wolken und klebten fest.

»Wupps«, rief Nelly Rubina, als sie auf die Erde herabrutschte. »Und jetzt die Schafe!«

Sehr sorgfältig setzten sie die hölzerne Herde auf einen beschneiten Rasenstreifen, stellten die großen Schafe dicht zusammen und steckten die steifen, weißen Lämmchen dazwischen.

»Wir kommen gut voran!« hörten Jane und Michael Mary Poppins sagen, als sie das letzte Lamm auf die Beine stellte.

»Ich weiß nicht, was wir ohne dich hätten machen sollen, Mary Poppins, wahrhaftig nicht!« sagte Nelly Rubina vergnügt. Dann, in einem ganz anderen Ton:

»Blumen, bitte, Onkel Dodger! Und paß auf!«

»Hier, meine Liebe.« Eiligst rollte er zu ihr hin, die Schürze bis zum Platzten gefüllt mit Schneeglöckchen, Scyllas und Himmelschlüsselchenpflanzen.

»Guck nur, guck!« rief Jane und kuschelte sich vor Entzücken enger in die eigenen Arme. Denn Nelly Rubina steckte jetzt die Holzformen rings um ein leeres Blumenbeet. Immer rundum rollte sie, pflanzte ihren hölzernen Blumenrand und streckte immer wieder ihre Hand nach einer neuen Blume aus Onkel Dodgers Schürze aus.

»Das sieht gut aus!« sagte Mary Poppins bewundernd, und Jane und Michael staunten über den freundlichen Klang ihrer Stimme.

»Ja, nicht wahr?« zwitscherte Nelly Rubina und wischte sich den Schnee von den Händen. »Ein hübscher Anblick! Was ist noch da, Onkel Dodger?«

»Die Vögel, meine Liebe, und die Schmetterlinge!«

Er hielt ihr die fast leere Schürze entgegen. Nelly Rubina und Mary Poppins griffen nach den übriggebliebenen Holzformen und rannten geschwind im Park umher; die Vögel setzten sie auf Zweige oder in Nester und warfen die Schmetterlinge in die Luft. Und das Merkwürdige war, daß sie sich dort hielten, schwebend über der Erde, mit glänzenden Farbflecken auf den Flügeln, die im klaren Sternenlicht aufleuchteten.

»So! Das ist alles, denke ich!« sagte Nelly Rubina und blieb, die Hände auf die Hüften gestützt, auf ihrer Scheibe stehen, während sie ihr Werk ringsum betrachtete.

»Noch eins, meine Liebe!« sagte Onkel Dodger.

Und etwas wacklig, als hätte die nächtliche Arbeit ihn alt und müde gemacht, rollte er zum Eschenbaum neben dem Parktor. Er zog den Kuckuck unter seinem Arm hervor und setzte ihn auf einen Zweig mitten zwischen die hölzernen Blätter.

»So, mein Herzchen, so, mein Täubchen!« sagte er und nickte dem Vogel zu.

»Onkel Dodger! Wann wirst du das lernen! Es ist keine Taube, es ist ein Kuckuck.«

Demütig beugte er den Kopf. »Ein Täubchen von einem Kuckuck — das meinte ich nur. Verzeihung, meine Liebe!«

»Und nun, Mary Poppins, müssen wir leider gehen!« sagte Nelly Rubina; auf Mary Poppins zurollend, nahm sie deren rosiges Gesicht zwischen ihre beiden Holzhände und küßte es.

»Auf baldiges Wiedersehen, tralala!« rief sie lustig und rollte das Deck der Arche entlang und die Leiter hoch. Oben angelangt, drehte sie sich noch einmal um und winkte Mary Poppins ruckhaft zu. Dann sprang sie mit einem hölzernen Klappern von der Leiter und verschwand im Inneren der Arche.

»Onkel Dodger! Mach voran! Laß mich nicht warten!« klang es dünn zurück.

»Ich komme ja schon, meine Liebe, ich komme schon! Verzeihung!« Onkel Dodger rollte, Mary Poppins im Vorübereilen die Hand schüttelnd, zum Deck. Der hölzerne Kuckuck starrte von seinem belaubten Zweig hinter ihm her. Onkel Dodger warf ihm einen liebevoll-traurigen Blick zu. Dann hob sich seine flache Scheibe in die Luft und widerhallte hölzern, als er drinnen landete. Das Dach flog herab und schnappte ein.

»Weiterfahren!« ertönte von drinnen Nelly Rubinas schriller Befehl. Mary Poppins trat einige Schritte vor und löste das Haltetau vom Baum. Im Nu wurde es durch eines der Fenster eingezogen.

»Macht Platz, bitte, ihr da! Macht Platz!« rief Nelly Rubina. Schleunigst zog sich Mary Poppins zurück.

Michael kniff Jane aufgeregt in den Arm.

»Da ziehn sie hin!« rief er, als die Arche sich von ihrem Standort löste und schwerfällig über den Schnee glitt. Dann begann sie zu steigen; wie betrunken taumelte sie zwischen den Bäumen. Schließlich gewann sie ihr Gleichgewicht, schwebte leicht empor und trieb fort.

Aus einem der Fenster winkte ruckhaft ein Arm, doch bevor Jane und Michael sich darüber klarwerden konnten, ob er Nelly Rubina oder Onkel Dodger gehörte, glitt die Arche in die sternhelle Luft, und eine Ecke des Hauses verbarg sie vor ihren Augen.

Ein Weilchen blieb Mary Poppins noch beim Parktor stehen und winkte mit ihren wollenen Handschuhen.

Dann eilte sie über die Straße und über den Gartenweg. Der Haustürschlüssel drehte sich wieder im Schloß. Unter einem vorsichtigen Schritt knackten die Treppenstufen.

»Rasch wieder ins Bett!« sagte Jane. »Sie darf uns hier nicht finden.«

Herunter von der Fensterbank und hinüber ins Schlafzimmer! Mit einem Plumps landeten sie in ihren Betten. Sie hatten gerade noch Zeit, sich die Decken über den Kopf zu ziehen, da öffnete Mary Poppins schon leise die Tür und schlich auf Zehenspitzen herein.

Zup! Das war der Mantel, der auf seinen Haken gehängt wurde. Ra-schel-raschel! Das war ihr Hut, der in seiner Papiertüte verschwand. Aber weiter hörten sie nichts mehr. Denn bis Mary Poppins ausgezogen war und in ihr Feldbett schlüpfte, hatten sich Jane und Michael längst in ihre Decken gekuschelt und schliefen fest.

»Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!«

Über die Straße klang der sanfte Vogelruf.

»Hast du Worte!« rief Mister Banks beim Rasieren, »der Frühling ist da!«

Und er warf den Rasierpinsel beiseite und rannte hinaus in den Garten. Einen Blick nur warf er um sich, dann legte er den Kopf in den Nacken und formte seine Hände zu einer Trompete.

»Jane! Michael! John! Barbara!« brüllte er zu den Fenstern des Kinderzimmers hinauf, »kommt herunter! Der Schnee ist weg, und der Frühling ist da!«

Sie stolperten die Stiegen hinunter und zur Haustür hinaus und fanden draußen die ganze Straße auf den Beinen.

»Schiff ahoi!« brüllte Admiral Boom und winkte mit dem Schal. »Tau und Takel! Muscheln und Krabben! Der Frühling ist da!«

»Ach!« sagte Miß Lark, die aus ihrem Gartentor gestürzt kam, »endlich ein schöner Tag! Ich habe schon daran gedacht, Andy und Willibald je zwei Paar Lederschuhchen zu kaufen, aber jetzt, wo der Schnee weg ist, brauchen sie wohl keine mehr!«

Bei diesen Worten sahen Andy und Willibald merklich erleichtert drein und leckten ihr die Hand aus Dankbarkeit, weil sie sie nicht so blamiert hatte.

Der Eismann fuhr gemächlich auf und ab und behielt seine Kundschaft im Auge. Auf seinem Schild stand heute:

»Der Frühling ist da!

Hurra! Hurra!

Willst du nicht 'ne Waffel kaufen,

Oder soll sie erst zerlaufen?

Hurra! Hurra!

Der Frühling, der ist da!«

Und der Straßenfeger, der heute nur einen Besen trug, kam über die Straße gewandert und blickte befriedigt von rechts nach links, so, als hätte er höchstpersönlich den schönen Tag bestellt.

Inmitten der allgemeinen Aufregung standen Jane und Michael regungslos still und hielten verwundert Umschau.

Alles glitzerte und gleißte im Sonnenlicht. Nicht ein Fleckchen Schnee war mehr zu sehen.

Überall an den Zweigen sprangen zarte lichtgrüne Knospen auf. Rings am Rand der Blumenbeete im Park zeigten sich die zarten grünen Sprossen der Himmelschlüssel, der Schneeglöckchen und der Scyllas und wollten ihre gelben, weißen und blauen Blüten entfalten. Nach einer Weile erschien auch der Parkaufseher, pflückte sich ein winziges Sträußchen und steckte es sorgsam ins Knopfloch.

Von Blume zu Blume gaukelten farbenprächtige Schmetterlinge auf sanften Flügeln, und in den Bäumen sangen jetzt Drosseln, Meisen, Schwalben und Finken und bauten ihre Nester.

Eine Schafherde, gefolgt von wolligen Lämmchen, zog blökend vorüber.

Und aus den Wipfeln des Eschenbaumes neben dem Parktor ertönte der klare Doppelruf:

»Kuckuck! Kuckuck!«

Michael wandte sich Jane zu. Seine Augen leuchteten.

»Das also haben sie gestern gemacht, Nelly Rubina, Onkel Dodger und Mary Poppins!«

Jane nickte und blickte bewundernd umher.

Zwischen dem lichtgrünen Schimmer der Knospen wiegte sich auf einem Eschenzweig ein grauer Vogelleib.

»Kuckuck! Kuckuck!«

»Aber ich dachte, die wären alle aus angemaltem Holz!« sagte Michael. »Glaubst du, die sind über Nacht lebendig geworden?«

»Vielleicht«, sagte Jane.

»Kuckuck! Kuckuck!«

Jane nahm Michael an der Hand, und als ahnte er, was sie vorhatte, rannte er mit ihr durch den Garten, über die Straße und hinein in den Park.

»Hallo! Wo wollt ihr hin, ihr beiden?« rief Mister Banks.

»Ahoi, Meßmaaten!« brüllte Admiral Boom.

»Ihr werdet euch verirren!« warnte Miß Lark schrill.

Der Eismann klingelte wie wild, und der Straßenfeger starrte hinter ihnen her.

Aber Jane und Michael achteten nicht darauf. Sie liefen weiter, geradeaus durch den Park, zu dem Platz unter den Bäumen, wo sie die Arche das erstemal gesehen hatten.

Keuchend langten sie an. Hier, unter den düsteren Zweigen, war es kalt und schattig, und der Schnee war noch nicht weggeschmolzen. Spähend hielten sie Ausschau; sie suchten und suchten. Aber unter den dunkelgrünen Wipfeln breitete sich nur ein großer Schneefleck aus.

»Sie ist wirklich fort!« sagte Michael nach einem Blick in die Runde. »Glaubst du, wir haben es uns bloß eingebildet, Jane?« fuhr er voller Zweifel fort. Plötzlich bückte sie sich und las etwas aus dem Schnee auf.

»Nein«, meinte sie bedächtig, »bestimmt nicht.« Sie streckte die Hand aus. In ihrer Handfläche lag ein rundes, rosafarbenes Bonbon. Laut las sie vor, was darauf stand:

»Auf Wiedersehen im nächsten Jahr, Nelly Rubina Noah.«

Michael holte einmal tief Luft.

»Die also war's! Onkel Dodger sagte zwar, sie wäre die älteste Tochter. Aber darauf wär ich nicht gekommen.«

»Sie hat den Frühling mitgebracht!« sagte Jane verträumt und blickte auf das Bonbon.

»Ich wäre euch dankbar«, sagte hinter ihnen eine Stimme, »wenn ihr sofort nach Hause frühstücken kommen wolltet!« Es war Mary Poppins.

Schuldbewußt drehten sie sich um.

»Wir wollten gerade . . .«, versuchte Michael zu erklären.

»Wollt lieber nicht«, sagte Mary Poppins scharf. Sie griff Jane über die Schulter und nahm ihr das Bonbon weg.

»Das gehört, glaube ich, mir!« bemerkte sie, steckte es in die Schürzentasche und führte sie durch den Park nach Hause.

Michael brach sich ein grünes Knospenzweiglein ab, bevor er ging. Gründlich untersuchte er es.

»Jetzt scheinen sie ganz wirklich zu sein«, meinte er.

»Vielleicht waren sie's immer«, sagte Jane.

Vom Eschenbaum herüber flötete eine spöttische Stimme:

»Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!«

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