8. Kapitel. Allerlei Luftballons

»Ich wüßte gern, Mary Poppins«, sagte Mistreß Banks, als sie eines Morgens ins Kinderzimmer geeilt kam, »ob Sie Zeit haben, für mich ein paar Einkäufe zu erledigen.«

Und sie bedachte Mary Poppins mit einem liebenswürdigen, nervösen Lächeln, als wüßte sie nicht recht, wie die Antwort lauten würde.

Mary Poppins wandte sich vom Kaminfeuer weg, wo sie Annabels Windeln angewärmt hatte.

»Das könnte ich«, meinte sie, nicht allzu ermunternd.

»Ach, ich seh schon . . .«, sagte Mistreß Banks und sah nervöser aus denn je.

»Oder vielleicht auch nicht«, fuhr Mary Poppins fort, während sie ein wollenes Jäckchen ausschüttelte und über den Ofenschirm hängte.

»Nun, falls Sie Zeit haben sollten, so ist hier die Einkaufsliste und eine Pfundnote. Und den Rest können Sie für sich verwenden.«

Mistreß Banks steckte das Geld in die Kommodenschublade.

Mary Poppins sagte nichts. Sie zog nur die Luft durch die Nase.

»Ach!« sagte Mistreß Banks, da ihr plötzlich etwas einfiel, »die Zwillinge müssen heute laufen, Mary Poppins. Robertson Ay hat sich heute morgen in den Kinderwagen gesetzt, er hat ihn für einen Armsessel gehalten. Jetzt muß er repariert werden. Können Sie ohne ihn fertig werden? — und Annabel tragen?«

Mary Poppins öffnete den Mund, klappte ihn aber gleich wieder zu.

»Ich«, bemerkte sie verletzt, »kann mit allem fertig werden und mit noch mehr, wenn ich will!«

»Das ... weiß ich!« sagte Mistreß Banks und rückte näher zur Tür. »Sie sind ein Juwel — ein vollkommenes Juwel — eine -- -- -- wahrhaft wundervolle und in jeder Hinsicht zufriedenstellende... « Ihre Stimme erstarb, während sie die Treppe hinabeilte.

»Und doch — und doch — manchmal wünschte ich, sie wär nicht ganz so vollkommen!« bemerkte Mistreß Banks zur Fotografie ihrer Urgroßmutter, als sie im Wohnzimmer abstaubte. »Ihr gegenüber fühle ich mich ganz klein und häßlich, als wäre ich wieder ein kleines Mädchen. Und das bin ich doch nicht!« Mistreß Banks warf den Kopf zurück und blies ein Staubfusselchen von der gefleckten Kuh auf dem Kaminsims. »Ich bin eine bedeutende Persönlichkeit und Mutter von fünf Kindern. Das vergißt sie!« Und sie fuhr mit ihrer Arbeit fort, wobei sie sich alles mögliche ausdachte, was sie Mary Poppins gerne sagen würde; aber die ganze Zeit über wußte sie, daß sie dazu nie den Mut aufbringen würde.

Mary Poppins steckte die Einkaufsliste und die Pfundnote in ihre

Handtasche; im Nu hatte sie ihren Hut festgesteckt und eilte aus dem Haus, Annabel auf dem Arm und gefolgt von Jane und Michael, die jeweils einen Zwilling an der Hand führten.

»Nehmt bitte die Beine in die Hand!« sagte sie und drehte sich scharf nach ihnen um.

Sie beschleunigten ihre Schritte und schleiften dabei die armen Zwillinge über das Pflaster. Sie vergaßen, daß sie John und Barbara fast die Arme ausrenkten. Sie dachten nur an eines: nämlich daran, mit Mary Poppins Schritt zu halten und zu sehen, was sie mit dem Rest der Pfundnote anfangen würde.

»Zwei Pakete Kerzen, vier Pfund Reis, drei Pfund braunen Zucker und sechs Pfund Würfelzucker; zwei Büchsen Tomatensuppe, eine Herdbürste, ein Paar Gummihandschuhe, eine halbe Stange Siegellack, einen Beutel Mehl, einen Feueranzünder, zwei Schachteln Streichhölzer, zwei Köpfe Blumenkohl und ein Bund Rhabarber.«

Mary Poppins, die jenseits des Parks in den ersten Laden gerannt war, las die Liste laut vor.

Der Kolonialwarenhändler, ein fetter, kahler und etwas kurzatmiger Mann, schrieb die Bestellung auf, so rasch er konnte.

»Einen Beutel Gummihandschuhe . . . « , schrieb er nieder und leckte dabei nervös am falschen Ende seines Bleistiftstummels.

»Mehl, sagte ich!« berichtigte Mary Poppins spitz.

Der Händler wurde rot wie eine Himbeere.

»Oh, Verzeihung. Wollte Sie nicht beleidigen, gewiß nicht. Schöner Tag heute, wie? Ja. Mein Versehen. Ein Beutel Gummi. .. ähh... Mehl.«

Schleunigst schrieb er es nieder und fügte hinzu:

»Zwei Schachteln Herdbürsten .. .«

»Streichhölzer!« fuhr Mary Poppins ihn an.

Dem Händler begannen die Hände auf dem Pult zu zittern.

»Ach, natürlich. Der Bleistift muß daran schuld sein — er scheint alles falsch aufzuschreiben. Ich muß mir einen neuen zulegen. Streichhölzer natürlich! Was noch, bitte?« Nervös blickte er auf und dann wieder auf seinen kleinen Bleistiftstummel.

Mary Poppins entfaltete die Liste wieder und las sie ungeduldig und ärgerlich noch einmal vor.

»Tut mir leid«, sagte der Händler, als sie am Ende angelangt war. »Der Rhabarber ist ausgegangen. Tun's nicht auch Pflaumen?«

»Keinesfalls. Ein Paket Tapioka.«

»Ach nein, Mary Poppins — keinen Tapioka. Den hatten wir erst vorige Woche«, erinnerte Michael sie.

Sie warf erst ihm und dann dem Händler einen Blick zu, der ausdrückte, daß sie sich keine Hoffnung machen sollten. Tapioka, dabei blieb es. Der Händler, der immer röter wurde, ging nach hinten, um ihn zu holen.

»Wenn sie so weitermacht, bleibt von dem Geld nichts übrig«, sagte Jane, die zusah, wie der Haufen auf dem Ladentisch immer höher wuchs.

»Vielleicht bleibt noch genug für ein Päckchen saure Drops — aber mehr bestimmt nicht«, sagte Michael düster, als Mary Poppins die Pfundnote aus ihrer Tasche zog.

»Besten Dank«, sagte sie, als der Händler ihr das Wechselgeld herausgab.

»Habe Ihnen zu danken!« erwiderte er höflich und stemmte die Arme auf den Ladentisch. Er lächelte ihr auf liebenswürdige Weise zu und fuhr fort: »Es wird wohl schön bleiben, meinen Sie nicht auch?« Seine Stimme klang stolz, als wäre er höchstpersönlich für das Wetter verantwortlich und hätte extra für sie schönes Wetter bestellt.

»Uns wäre Regen lieber!« sagte Mary Poppins spitz und ließ gleichzeitig ihren Mund und ihre Tasche zuschnappen.

»Da haben Sie recht«, sagte der Händler schnell, im Bemühen, sie nicht zu verletzen. »Regen ist immer so unterhaltsam.«

»Das nie!« erwiderte Mary Poppins und rückte Annabel bequemer in ihrem Arm zurecht.

Der Händler machte ein langes Gesicht. Was er auch sagte, war falsch.

»Ich hoffe«, bemerkte er und öffnete höflich die Tür, »Sie beehren uns weiter mit Ihrer Kundschaft, Madam.«

»Guten Tag!« Mary Poppins rauschte hinaus.

Der Händler seufzte.

»Hier«, sagte er und krabbelte eifrig in einer Büchse neben der Tür herum. »Da nehmt! Ich wollte sie nicht ärgern, wahrhaftig nicht, ich wollte nur höflich sein.«

Jane und Michael streckten die Hand aus. Der Händler ließ in Michaels Hand drei und in Janes Hand zwei Schokoladenplätzchen gleiten.

»Eins für jeden von euch, eins für die beiden Kleinen, und eins .. .« Er nickte hinter Mary Poppins her. »Für sie.«

Sie bedankten sich und eilten, an ihren Schokoladenplätzchen lutschend, Mary Poppins nach.

»Was eßt ihr da?« fragte sie und blickte auf den dunklen Rand um Michaels Mund.

»Schokoladenplätzchen. Der Händler gab uns jedem eins. Und eins für dich.« Er streckte ihr das Plätzchen hin. Es war schon recht klebrig.

»Diese Frechheit sieht ihm ähnlich!« sagte Mary Poppins, nahm das Plätzchen aber trotzdem und verschlang es in zwei Happen; es schien ihr zu schmecken.

»Ist viel Geld übriggeblieben?« erkundigte sich Michael ängstlich.

»Das geht dich nichts an.«

Sie eilte in eine Drogerie und kam mit einem Stück Seife, einem Senfpflaster und einer Tube Zahnpasta wieder heraus.

Jane und Michael, die mit den Zwillingen vor der Tür gewartet hatten, seufzten schwer.

Die Pfundnote, so meinten sie, müßte bald ausgegeben sein.

»Ihr bleibt kaum noch genug, um eine Briefmarke zu kaufen, und wenn sie die hat, ist es nicht mehr interessant«, sagte Jane.

»Nun zu Mister Tip!« befahl Mary Poppins; an der einen Hand baumelten ihr die Päckchen aus der Drogerie und ihre Handtasche, und mit der anderen hielt sie Annabel an sich gepreßt.

»Aber was können wir denn da noch kaufen?« fragte Michael entmutigt. Denn in Mary Poppins' Börse klimperte es kaum noch.

»Kohlen — zweieinhalb Tonnen!« sagte sie und eilte weiter.

»Was kostet Kohle?«

»Zwei Pfund die Tonne.«

»Aber — Mary Poppins! Das können wir ja gar nicht mehr bezahlen!« Entsetzt blickte Michael sie an.

»Es geht auf Rechnung.«

Das bedeutete für Jane und Michael eine solche Erleichterung, daß sie neben ihr herhüpften, John und Barbara wurden im Trab mitgeschleift.

»Ist das nun alles?« fragte Michael, als sie Mister Tip und seine Kohlen ohne Schaden hinter sich gelassen hatten.

»Keksladen!« sagte Mary Poppins, die ihre Liste durchsah und dann auf eine dunkle Tür zueilte. Durchs Schaufenster beobachteten sie, wie sie auf einen Haufen Makronen deutete. Die Verkäuferin überreichte ihr eine große Tüte.

»Sie hat mindestens ein Dutzend gekauft«, sagte Jane traurig. Für gewöhnlich erfüllte sie der Anblick eines Menschen, der Makronen kaufte, mit Entzücken, aber heute wünschte sie heiß und innig, daß es auf der ganzen Welt keine Makronen gäbe.

»Wohin nun?« fragte Michael und hüpfte von einem Bein aufs andere vor Aufregung, weil er gern wissen wollte, ob von der Pfundnote noch etwas übrig war. Er war überzeugt, daß dies nicht der Fall sein könnte, aber dennoch — er hoffte.

»Nach Hause«, sagte Mary Poppins.

Sie machten lange Gesichter. Es war also kein Geld mehr übrig, nicht einmal ein Penny; sonst hätte Mary Poppins ihn sicherlich ausgegeben. Aber Mary Poppins, die die Tüte mit Makronen Annabel auf die Brust gesetzt hatte, machte ein solches Gesicht, daß sie keine Bemerkung mehr wagten. Sie wußten nur, daß sie zum erstenmal von ihr enttäuscht worden waren, und das, fühlten sie, konnten sie ihr nicht verzeihen.

»Aber hier entlang geht's ja gar nicht nach Hause«, beschwerte sich Michael, der lustlos über das Pflaster schlurfte.

»Liegt der Park nicht auf dem Weg nach Hause, möcht ich wissen?« fuhr sie ihm heftig über den Mund.

»Das schon — aber ...«

»Man kann auf mehr als einem Weg durch einen Park gehen«, bemerkte sie und führte sie durch einen Teil, den sie bisher noch nie besucht hatten.

Die Sonne schien warm hernieder. Die hohen Bäume beugten sich über die Gitterstäbe und raschelten mit den Blättern. In den Zweigen kämpften zwei Spatzen um einen Strohhalm. Ein Eichhörnchen hüpfte die Steinbalustrade entlang, setzte sich auf die Hinterbeine und bettelte um eine Nuß.

Aber heute beachteten sie das alles nicht. Jane und Michael waren anderweitig in Anspruch genommen. Sie dachten nur daran, daß Mary Poppins die ganze Pfundnote für Kinkerlitzchen ausgegeben und nichts übrigbehalten hatte.

Müde und enttäuscht trotteten sie hinter ihr her zum Parktor. Über dem Eingang — er war ihnen fremd, sie hatten ihn bisher noch niemals benutzt — wölbte sich ein hoher Steinbogen, in den ein Löwe und ein Einhorn prächtig eingemeißelt waren. Unter dem Bogen saß eine uralte Frau; ihr Gesicht war so grau und verwittert wie der Stein und verrunzelt wie eine Walnuß. Auf ihren müden alten Knien hielt sie ein Brett, auf dem etwas aufgestapelt lag, das wie kleine, farbige Gummistreifchen aussah; über ihrem Kopf, fest ans Parkgitter gebunden, hüpfte und schwankte und tanzte ein Bündel hell leuchtender Luftballons.

»Luftballons! Luftballons!« rief Jane. Die Hand aus Johns klebrigen Fingern befreiend, lief sie auf die alte Frau zu. Michael rannte hinter ihr her und ließ Barbara einsam und verlassen mitten auf dem Wege stehen.

»Na, meine Täubchen!« sagte die Ballonfrau mit einer alten, zittrigen Stimme. »Welchen wollt ihr haben? Sucht euch einen aus! Und laßt euch Zeit.« Sie beugte sich vor und schüttelte das Brett vor ihrer Nase.

»Wir wollten nur mal gucken«, erklärte Jane. »Wir haben kein Geld.«

»Tz — tz — tz! Was nützt es, einen Ballon anzugucken? Einen Ballon muß man fühlen, einen Ballon muß man halten, man muß ihn kennenlernen! Kommen und angucken! Was habt ihr davon?«

Die Stimme des alten Weibleins zitterte wie ein Flämmchen. Sie wiegte sich auf ihrem Stuhl.

Jane und Michael starrten sie hilflos an. Sie wußten, daß sie recht hatte. Aber was war zu machen?

»Als ich klein war«, fuhr die alte Frau fort, »verstanden die Leute sich wirklich noch auf Ballons. Die kamen nicht bloß und guckten! Sie kauften — jawohl, sie kauften! Ohne Ballon ging kein Kind durch dieses Tor. Damals hätten sie die Ballonfrau nicht dadurch beleidigt, daß sie nur guckten und vorbeigingen!«

Sie beugte den Kopf in den Nacken und blickte zu den tanzenden Ballons hoch.

»Ach, meine lieben Täubchen!« rief sie. »Sie verstehen nichts mehr von euch — keiner versteht was, nur die alte Frau. Ihr seid aus der Mode gekommen. Keiner verlangt mehr nach euch!«

»Wir doch«, sagte Michael nachdrücklich. »Aber wir haben kein Geld. Sie hat die ganze Pfundnote ausgegeben, um ...«

»Und wer ist >sie

Er drehte sich um und wurde rot.

»Ich meinte, äh — daß du — äh . . .«, begann er unsicher.

»Sprich höflich von anderen; vielleicht sind sie mehr wert als du!« bemerkte Mary Poppins zurechtweisend; über seine Schulter hinweg legte sie eine halbe Krone auf das Brett der Ballonfrau.

Verdutzt blickte Michael auf das Geldstück, das da schimmernd zwischen den leeren, schlaffen Ballonhüllen lag.

»Es ist also doch etwas übriggeblieben!« sagte Jane und wünschte, sie hätte nicht so unfreundlich von Mary Poppins gedacht.

Das Ballonweiblein nahm die Münze auf und betrachtete sie ein Weilchen mit ihren alten, glitzernden Augen.

»Es schimmert, es schimmert, König und Krone!« rief sie. »Ich habe keins dieser Dinger mehr gesehen, seit ich ein Kind war!«

Sie blickte Mary Poppins mit schief geneigtem Kopf an. »Möchtest du einen Ballon, mein Herzchen?«

»Wenn es Ihnen keine Mühe macht!« sagte Mary Poppins mit betonter Höflichkeit.

»Wieviel, mein Täubchen, wieviel?«

»Vier!«

Jane und Michael, die fast aus der Haut fuhren vor Freude, drehten sich um und flogen ihr um den Hals.

»Oh, Mary Poppins, ist das dein Ernst? Für jeden einen? Wirklich?«

»Ich denke, es ist mir stets Ernst mit dem, was ich sage«, sagte sie steif und sah dabei sehr selbstzufrieden aus.

Sie sprangen auf das Brett zu und begannen, die farbigen Ballonhüllen um und um zu wühlen.

Die Ballonfrau ließ die Silbermünze in ihre Schürzentasche gleiten. »So, mein Silberfüchslein!« sagte sie und klopfte liebevoll auf die Tasche. Dann half sie den Kindern beim Herumwühlen.

»Vorsichtig, meine Täubchen!« mahnte sie. »Denkt daran, es gibt verschiedene Ballons und für jeden nur einen! Trefft eure Wahl und laßt euch Zeit dabei. So manches Kind hat den falschen Ballon erwischt, und sein Leben war von da ab verpfuscht.«

»Ich möchte den hier!« sagte Michael, der einen gelben mit roten Tupfen ausgesucht hatte.



»Schön, dann will ich ihn dir aufblasen, und du kannst sehen, ob es der richtige ist!« sagte die Ballonfrau.

Sie nahm ihm den Ballon aus der Hand und blies ihn mit einem einzigen, mächtigen Atemstoß auf. Zip! Da war er! Kaum war es zu glauben, daß eine so winzige Person so viel Atem in Leibe hatte. Der gelbe Ballon mit den roten Punkten bäumte sich am Ende der Schnur.

»Na so was!« sagte Michael und sperrte den Mund auf. »Da steht ja mein Name drauf.« Die roten Punkte bildeten Buchstaben, die insgesamt die beiden Worte >Michael Banks< ergaben.

»Aha!« kicherte das Ballonweiblein. »Was hab ich dir gesagt? Du hast dir Zeit gelassen und den richtigen gewählt!«

»Sieh nach, wie es bei mir ist«, sagte Jane und reichte der alten Frau eine schlaffe blaue Ballonhülle.

Sie holte Luft und blies sie auf; da stand quer über der dicken blauen Kugel in großen weißen Buchstaben: >Jane Caroline Banks.<

»Heißt du so, mein Täubchen?« fragte die Ballonfrau.

Jane nickte.

Die Ballonfrau lachte in sich hinein, ein dünnes, altweiberhaftes Gekicher; Jane nahm ihr den Ballon aus der Hand und ließ ihn in die Luft steigen.

»Mir! Mir!« schrien John und Barbara und fuhren mit fetten Patschen in den Haufen Ballonhüllen. John zog einen rosafarbenen heraus, und als die Ballonfrau ihn aufblies, lächelte sie. Deutlich waren auf der runden Ballonhülle folgende Worte zu lesen: >John und Barbara Banks — einen für beide gemeinsam, weil sie Zwillinge sind.<

»Aber«, sagte Jane, »das verstehe ich nicht. Woher wußtest du das? Du hast uns doch noch nie gesehen.«

»Ach, mein Täubchen, sagte ich dir nicht, daß es vielerlei Arten Ballons gibt und diese hier etwas ganz Besonderes sind?«

»Aber hast du die Namen darauf gesetzt?« fragte Michael.

»Ich?« Das alte Weiblein kicherte. »Wie käm ich dazu?«

»Wer denn sonst?«

»Das darfst du mich nicht fragen, mein Täubchen! Alles, was ich weiß, ist, daß sie dastehen! Und daß es für jeden in der Welt einen Ballon gibt, vorausgesetzt, daß er den richtigen wählt!«

»Auch einen für Mary Poppins?«

Das Ballonweiblein legte den Kopf auf die Seite und sah Mary Poppins mit seltsamem Lächeln an.

»Sie kann's ja versuchen!« Die alte Frau schaukelte auf ihrem kleinen Stuhl hin und her. »Triff deine Wahl und laß dir Zeit! Such dir einen aus und sieh zu!«

Mary Poppins zog voller Wichtigkeit die Luft durch die Nase. Ihre Hand schwebte einen Augenblick über den Ballonhüllen und deutete dann auf eine rote. Sie streckte den leeren Ballon auf Armeslänge von sich, und zu ihrer Überraschung sahen die Kinder, wie er sich langsam, ganz von allein, mit Luft füllte. Größer und immer größer wurde er, bis er so groß war wie der von Michael. Aber immer noch schwoll er an, bis er dreimal größer war als die anderen. Und quer auf ihm stand in goldenen Buchstaben: >Mary Poppins.<

Der rote Ballon tanzte in der Luft, und das alte Weiblein band ihn an eine Schnur; mit leisem Kichern gab sie ihn Mary Poppins wieder zurück.

Hoch in die Luft stiegen die vier Ballons. Sie zogen an ihrer Schnur, als wollten sie sich von ihrer Fessel befreien. Der Wind ergriff sie und warf sie vor und zurück, nach Norden, Süden, Osten und Westen.

»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen! Für jeden einen, wenn sie's nur alle wüßten!« rief das Ballonweiblein glücklich.

Im gleichen Augenblick trat ein älterer Herr in steifem Hut durch das Parktor, blickte herüber und sah die Ballons. Die Kinder merkten, wie er ein wenig zögerte. Dann eilte er zu dem Ballonweiblein hin.

»Wieviel?« fragte er und klimperte mit seinem Geld in der Tasche.

»Sieben Pence und ein halber Penny. Treffen Sie Ihre Wahl und lassen Sie sich Zeit! «

Er nahm sich einen braunen, und die Ballonfrau blies ihn auf. In großen grünen Buchstaben erschienen die Worte: >Der ehrenwerte Wetherill Wilkins.<

»Lieber Himmel!« sagte der ältere Herr. »Lieber Himmel, das ist mein Name!«

»Du hast richtig gewählt, mein Täubchen. Unter vielerlei Arten von Ballons!« sagte die alte Frau.

Verblüfft betrachtete der ältere Herr seinen Ballon, der mit Macht an der Schnur zog.

»Höchst ungewöhnlich«, sagte er und schnaubte sich mit einem Trompetenton die Nase. »Vor vierzig Jahren, als ich noch ein kleiner Junge war, versuchte ich, hier einen Ballon zu kaufen. Aber man erlaubte mir's nicht. Es hieß, wir könnten uns das nicht leisten. Vierzig Jahre — und so lange hat er hier auf mich gewartet. Ich muß schon sagen, wirklich höchst merkwürdig!«

Er eilte davon, und weil seine Augen nur an dem Ballon hafteten, rannte er gegen einen Pfeiler. Die Kinder sahen ihn mehrmals aufgeregt in die Luft hüpfen.

»Da, schau hin!« schrie Michael, als der ältere Herr immer höher und höher hüpfte. Aber im gleichen Augenblick fing sein eigener Ballon an, mächtig an der Schnur zu ziehen, und er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor.

»Hallo, hallo! Wie komisch! Mir geht's genauso!«

»Vielerlei Arten Ballons, mein Täubchen!« sagte die Ballonfrau und brach in ihr kicherndes Gelächter aus, während nun auch die Zwillinge, beide ihren Ballon an der einen Schnur festhaltend, vom Boden abstießen.

»Ich fliege! Ich fliege!« schrie Jane, als auch sie in die Luft getragen wurde.

»Nach Hause, bitte!« sagte Mary Poppins. Und sofort stieg auch der rote Ballon auf und schleppte Mary Poppins hinter sich her. Auf und ab hüpfte sie, Annabel und die Pakete im Arm. Durchs Tor und über den Pfad trug der rote Ballon Mary Poppins; ihr Hut saß ebenso gerade wie sonst, ihr Haar war ebenso straff, und ihre Füße wanderten ebenso energisch durch die Luft wie sonst über die Erde. Jane und Michael und die Zwillinge, von den Ballons gezogen, taumelten hinter ihr her.

»Oh, oh, oh!« schrie Jane, als sie durch die Zweige einer Ulme wirbelte. »Was für ein köstliches Gefühl!«

»Mir ist, als wäre ich aus lauter Luft!« sagte Michael, der gerade eine Parkbank streifte und sich daran wieder abstieß. »Was für eine spaßige Art, nach Hause zu gehen!«

»Oh, oh, oh! Ih, ih, ih!« quiekten die Zwillinge, die dauernd zusammenstießen und wieder auseinander fuhren.

»Beeilt euch und bummelt nicht herum!« sagte Mary Poppins und blickte streng über die Schulter zurück; es klang wahrhaftig, als wanderte sie gelassen über die feste Erde, statt durch die Luft gezogen zu werden.

Am Haus des Parkaufsehers vorbei ging es in die Lindenallee. Dort trafen sie den älteren Herrn, der vor ihnen her hoppelte. Michael wandte einen Augenblick den Kopf und blickte zurück.

»Guck, Jane, guck! Jeder hat einen!«

Sie drehte sich um. Hinter ihnen her trieb eine ganze Gruppe von Leuten, die, alle Ballons in der Hand, in der Luft auf und ab wippten.

»Auch der Eismann hat einen gekauft!« rief Michael und staunte so, daß er ums Haar eine Statue umgeworfen hätte.

»Ja, sogar der Straßenfeger. Und da — siehst du? —, da ist Miß Lark!«

Über den Rasen kam eine wohlbekannte Gestalt angehüpft, in Hut und Handschuhen und einen Ballon in der Hand, der den Namen >Lu-cinda Emily Lark< trug. Sie schwebte über die Ulmenallee, wobei sie ebenso würdig wie vergnügt aussah, und entschwand um die Ecke beim Springbrunnen.

Mittlerweile hatte sich der Park mit Leuten gefüllt, und jeder hielt einen Ballon mit einem Namen darauf, und jeder hüpfte in der Luft herum.

»Anker auf, ihr da! Platz für den Admiral! Wo ist mein Hafen? Anker auf!« rief eine mächtige Seemannsstimme, als Admiral Boom und

Frau durch die Luft schlingerten. Sie hielten einen großen, weißen Ballon an der Schnur, auf dem in blauen Buchstaben ihr Name stand.

»Backen und Wanten! Austern und Krabben! Ändert den Kurs, meine Lieben!« brüllte der Admiral, der gerade vorsichtig an einer großen Eiche vorbeisteuerte.

Immer größer wurde der Haufen von Ballonleuten. Im ganzen Park gab es kaum noch einen Flecken in der Luft, in dem nicht bunt wie ein Regenbogen die Ballons trieben. Jane und Michael sahen, wie Mary Poppins sich energisch einen Weg bahnte, und auch sie wanden sich eilig durchs Gedränge, John und Barbara ihnen auf den Fersen.

»Oje, oje, mein Ballon hüpft nicht mit mir! Ich muß den falschen gewählt haben!« sagte eine Stimme nahe bei Jane.

Eine altmodische Dame mit einem Federgesteck am Hut und einer Federboa um den Hals stand gerade unter Jane auf dem Gehsteig.

Zu ihren Füßen lag ein purpurfarbener Ballon, auf dem in Goldbuchstaben >Der Premierminister stand.

»Was mach ich nun?« rief sie. »Die alte Frau am Parktor sagte: >Triff deine Wahl und laß dir Zeit, mein Täubchen!<, und das tat ich. Aber ich hab den falschen erwischt. Ich bin nicht der Premierminister!«

»Verzeihung, aber ich!« sagte neben ihr eine Stimme; ein hochgewachsener Herr, sehr elegant gekleidet und einen zusammengerollten Regenschirm über dem Arm, trat auf sie zu.

Die Dame drehte sich um. »Ach, dann ist das Ihr Ballon! Lassen Sie mal sehen, ob Sie nicht meinen haben!«

Der Premierminister, dessen Ballon ihn gleichfalls nicht tragen wollte, zeigte ihn her. Die Aufschrift lautete >Lady Muriel Brighton-Jones<.

»Ja, das ist er! Wir sind verwechselt worden!« rief sie und, dem Premierminister seinen Ballon überreichend, ergriff sie den ihren. Gleich darauf lösten sie sich vom Erdboden und schwebten, sich lebhaft unterhaltend, zwischen den Bäumen dahin.

»Sind Sie verheiratet?« hörten Jane und Michael Lady Muriel fragen.

Und der Premierminister antwortete: »Nein. Ich kann keine passende Dame mittleren Alters finden — nicht zu jung und nicht zu alt und ein bißchen munter, denn ernst bin ich selbst.«

»Wäre ich wohl die Rechte?« fragte Lady Muriel Brighton-Jones. »Ich bin fast immer vergnügt.«

»Ja, ich glaube, wir passen zusammen«, sagte der Premierminister, und Hand in Hand gesellten sie sich zu der herumhüpfenden Menge.

Jetzt war der Park schon ziemlich überfüllt. Jane und Michael hopsten hinter Mary Poppins her über die Wiesen und stießen dauernd mit anderen Leuten zusammen, die von der alten Frau Ballons gekauft hatten. Ein hochgewachsener Mann, der einen langen Schnurrbart, eine blaue Uniform und einen Helm trug, wurde von einem Ballon gezogen, der ihn als >Polizeiinspektor< auswies. Ein anderer mit der Aufschrift Oberbürgermeister schleifte eine runde, fette Gestalt mit einem Dreispitz, einem roten Umhang und einer großen Messinghalskette.

»Bitte weitergehen! Keinen Auflauf im Park! Beachten Sie die Vorschriften! Allen Abfall in die Papierkörbe!«

Der Parkaufseher, brummend und schimpfend, einen kleinen kirsch-farbenen Ballon mit der Aufschrift >F. Smith< in der Hand, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Mit einer Handbewegung verscheuchte er zwei Hunde — eine Bulldogge, auf deren Ballon >CD< stand, und einen Foxterrier, der >Albertine< zu heißen schien.

»Lassen Sie meine Hunde in Ruhe! Oder ich schreibe mir Ihre Nummer auf und melde Sie!« schrie eine Dame, deren Ballon bekanntgab, daß sie die Herzogin von Maifeld war.

Aber der Parkaufseher beachtete sie nicht und trieb hüpfend vorbei; dabei rief er dauernd: »Alle Hunde an die Leine! Keinen Auflauf im Park! Rauchen verboten! Vorschriften beachten!«, bis er ganz heiser war.

»Wo ist Mary Poppins?« fragte Michael und winkte Jane.

»Da! Gerade vor uns!« erwiderte sie und deutete auf die steife, adrette Gestalt, die an dem größten Ballon im ganzen Park hing. Sie folgten ihr nach Hause.

»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen!« rief eine zitternde Stimme hinter ihnen her.

Und sich umblickend, sahen sie die Ballonfrau. Ihr Brett war leer und nirgends in ihrer Nähe ein Ballon zu sehen; dennoch flog sie durch die Luft, als würde sie von hundert unsichtbaren Ballons fortgezogen.

»Alle verkauft!« schrie sie im Vorbeigleiten. »Für jeden ist ein Ballon da, wenn sie's nur alle wüßten. Sie würden ihre Wahl treffen und sich Zeit lassen! Und ich wäre den ganzen Bestand los! All die verschiedenen Ballons.«

In ihren Taschen klimperte es gewaltig, als sie vorüberflog; Jane und Michael machten in der Luft halt und sahen zu, wie die kleine, verschrumpelte Gestalt zwischen den tanzenden Ballons hindurchschoß, vorbei am Premierminister und am Oberbürgermeister, vorbei an Mary Poppins und Annabel, bis sie immer winziger wurde und in der Ferne verschwand.

»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen!« klang es wie ein leises Echo zu ihnen zurück.

»Macht vorwärts, bitte!« sagte Mary Poppins. Alle vier umdrängten sie. Annabel, von Mary Poppins' Ballon gewiegt, kuschelte sich dichter an sie und schlief ein.

Das Tor von Nummer siebzehn stand offen, die Haustür gleichfalls. Mary Poppins schwebte steif und leicht anstoßend hindurch und die Treppe hinauf. Die Kinder folgten, hüpfend und wippend. Und als sie die Tür zum Kinderzimmer erreichten, setzten sich die vier Paar Füße mit einem Klapp auf den Fußboden. Mary Poppins schwebte nieder und landete geräuschlos.

»Ach, was für ein reizender Nachmittag!« sagte Jane und flog Mary Poppins um den Hals.

»Reizend? — Na, von dir kann man das im Augenblick nicht sagen. Bürste dir gefälligst das Haar. Ich wünsche keine Vogelscheuchen«, sagte Mary Poppins scharf.

»Ich fühle mich wie ein Ballon«, sagte Michael vergnügt. »Ganz leuchtend, luftig und locker!«

»Wenn einer so leuchtend aussieht wie du, dann kann er mir leid tun«, sagte Mary Poppins. »Geh und wasch dir die Hände. Du siehst aus wie ein Schornsteinfeger!«

Als sie sauber und wohlgebürstet zurückkamen, schwebten die vier Ballons an der Decke, ihre Schnüre waren hinter dem Bild über dem Kamin sicher verankert.

Michael blickte hoch, zu seinem eigenen gelben, Janes blauem, dem rosafarbenen der Zwillinge und Mary Poppins' rotem. Sie rührten sich nicht; kein Lüftchen bewegte sich. Leicht und leuchtend, stetig und still schwebten sie unter die Decke.

»Wissen möchte ich aber doch . . .«, sagte Michael leise, halb zu sich selbst.

»Was möchtest du wissen?« fragte Mary Poppins, die ihre Pakete sortierte.

»Ich möchte wissen, ob all das passiert wäre, wenn du nicht bei uns gewesen wärst.«

Mary Poppins zog die Luft hoch.

»Ich möchte wissen, ob du nicht viel zuviel wissen möchtest«, sagte sie.

Und damit mußte Michael sich zufriedengeben.

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