Fünfter Theil.

Erstes Capitel. Ein Händedruck Kap Matifu’s.

Wenn Graf Mathias, wie man weiß, der Doctor Antekirtt, wenn auch nicht für Peter, so doch für das ganze Personal der Kolonie bleiben wollte, so geschah es deshalb, weil er bis zur völligen Durchführung aller seiner Pläne nur der Doctor Antekirtt sein wollte. Deshalb hatte er, als der Name seiner Tochter von Frau Bathory so plötzlich ausgesprochen wurde, noch genug Herrschaft über sich selbst, seine Bewegung nicht zu verrathen. Sein Herz aber hatte doch für einen Augenblick zu schlagen aufgehört und wäre er nicht ein so großer Meister seiner selbst gewesen, wäre er zweifellos auf die Stufen der Kapelle niedergestürzt, als wenn ihn ein Blitzstrahl getroffen hätte.

Seine Tochter war also noch am Leben! Sie also liebte Peter und er wurde von ihr wiedergeliebt. Und er selbst, Mathias Sandorf, hatte alles Mögliche gethan, das Zustandekommen der Verbindung zu hindern. Dieses Geheimniß, welches ihm Sarah wiederschenkte, wäre nie entdeckt worden, wenn nicht Frau Bathory wie durch ein Wunder ihren Verstand wiedergefunden hätte.

Was war vor fünfzehn Jahren im Schlosse Artenak geschehen? Man wußte es jetzt nur zu gut! Dieses Mädchen, welches die einzige Erbin der Güter des Grafen Mathias Sandorf geblieben war, dieses Kind, dessen Tod niemals constatirt werden konnte, war entführt und Silas Toronthal in die Hände gespielt worden. Einige Zeit später, als der Banquier sich in Ragusa niedergelassen hatte, hatte Frau Toronthal Sarah Sandorf als ihre Tochter erziehen müssen.

Nunmehr war die von Sarcany ausgeklügelte und von seiner Helferin Namir aufgeführte Machination aus Licht gekommen. Sarcany war es wohl bekannt, daß Sarah im Alter von achtzehn Jahren in den Besitz eines bedeutenden Vermögens kommen würde und er wollte sie, sobald sie seine Frau geworden sein sollte, als die Erbin der Sandorf’s anerkennen lassen. Dieser Triumph sollte die Krone seines abscheulichen Lebenswandels bilden. Er wollte Herr über die Domänen von Schloß Artenak werden.

War dieser Plan bis dahin mißglückt? Ja, jedenfalls. Wenn die Heirat vollzogen worden wäre, hätte Sarcany sich schon beeilt, alle seine Vortheile zu wahren.

Mußte sich nicht Doctor Antekirtt jetzt Gewissensbisse machen? War er es nicht gewesen, der diese unselige Kette von Vorgängen heraufbeschworen hatte, erst die Verweigerung seiner Unterstützung Peter’s, dann indem er Sarcany ruhig seine Pläne verfolgen ließ, obwohl er recht wohl bei ihrem Zusammentreffen in Cattaro ihn hätte unschädlich machen können, schließlich dadurch, daß er Frau Bathory den Sohn vorenthielt, welchen er dem Tode entrissen hatte? Wie großes Unglück wäre nicht vermieden worden, wenn Peter sich bei seiner Mutter befunden hätte, als der Brief Frau Toronthal’s in dem Hause der Marinella-Straße eintraf? Hätte Peter gewußt, daß Sarah die Tochter des Grafen Sandorf war, würde er es nicht verstanden haben, sich den Gehässigkeiten Sarcany’s und Silas Toronthal’s zu entziehen?

Wo befand sich jetzt Sarah Toronthal? Zweifellos in der Gewalt Sarcany’s. Doch wo mochte dieser sie versteckt halten? Wie sie ihm entreißen? Und überdies hatte in wenigen Wochen die Tochter des Grafen Sandorf ihr achtzehntes Lebensjahr erreicht – die gesetzlich bestimmte Grenze, falls sie nicht ihrer Ansprüche als Erbin verlustig gehen wollte – und dieser Umstand mußte Sarcany zwingen, alles Mögliche aufzubieten, um Sarah zu einer Einwilligung zu dieser verwünschten Heirat zu zwingen.

Im Nu hatte dieser Hergang der Ereignisse den Sinn des Doctors Antekirtt durchzogen. Nach dieser Zurechtlegung der Vergangenheit, wie es Frau Bathory und Peter in ähnlicher Weise thaten, fühlte er die jedenfalls unverdienten Vorwürfe, welche die Frau und der Sohn Stephan Bathory’s ihm zu machen versucht sein mußten. Denn, wenn die Dinge wirklich so gelegen hätten, wie er annehmen mußte, hätte er eine Annäherung zwischen Peter und derjenigen gutheißen können, die für Alle und für ihn selbst den Namen Sarah Toronthal trug?

Er mußte um jeden Preis jetzt Sarah, seine Tochter, wiederfinden. Nicht ein Tag war zu verlieren.

Frau Bathory war bereits in das Stadthaus zurückgeführt worden, als der Doctor in Begleitung Peter’s, der zwischen Freude und Hoffnungslosigkeit schwankte, ebendaselbst eintraf, ohne ein Wort gesprochen zu haben.

Frau Bathory, sehr geschwächt durch die heftige Rückwirkung, die sich in ihr gezeigt hatte, doch geheilt, völlig geheilt, saß in ihrem Zimmer, als der Doctor und ihr Sohn bei ihr eintraten.

Maria, die schicklicherweise sie allein zu lassen wünschte, zog sich in den großen Saal des Stadthauses zurück.

Der Doctor näherte sich der alten Dame und die Hand auf die Schulter Peter’s legend, sagte er:

»Frau Bathory, ich hatte bereits Ihren Sohn zu dem meinigen gemacht. Wenn er bis jetzt nur mein Sohn aus freundschaftlichen Rücksichten war, so werde ich nun Alles thun, damit er es auch aus väterlicher Liebe wird, indem er Sarah heiratet… meine Tochter…

– Ihre Tochter? rief Frau Bathory.

– Ich bin Graf Mathias Sandorf.«

Frau Bathory erhob sich plötzlich, streckte ihre Hände aus und fiel in die Arme ihres Sohnes zurück. Wenn sie auch selbst nicht sprechen konnte, so konnte sie doch hören. In wenigen Worten unterrichtete sie Peter von Allem, was sie noch nicht wußte, wie Graf Sandorf durch die Ergebenheit des Fischers Andrea Ferrato gerettet wurde, wie er fünfzehn Jahre lang für todt hatte gelten wollen, wie er in Ragusa unter dem Namen des Doctors Antekirtt wieder aufgetaucht war. Er erzählte, was Sarcany und Silas Toronthal zu dem Zwecke, die Verschwörer von Triest auszuliefern, gethan hätten, ferner den Verrath Carpena’s, dem sein Vater und Ladislaus Zathmar zum Opfer fielen, schließlich, wie der Doctor ihn lebendig dem Grabe auf dem Kirchhofe von Ragusa entrissen hätte, um ihn dem Werke der Gerechtigkeit, welches der Doctor ausüben wollte, zu verbinden. Er beendete seine Erzählung damit, daß er sagte, daß zwei von den Uebelthätern, der Banquier Silas Toronthal und der Spanier Carpena, bereits in ihrer Macht wären, daß man aber des Dritten, Sarcany’s, noch nicht habhaft hätte werden können, desselben Sarcany, der Sarah Sandorf zu seiner Frau zu machen wünsche.

Der Doctor, Frau Bathory und ihr Sohn, welche die Zukunft in enger Verwandtschaft aneinanderschließen sollte, besprachen während einer Stunde noch des Näheren die auf das junge Mädchen bezüglichen Umstände. Ersichtlich würde Sarcany vor nichts zurückschrecken, was das junge Mädchen zwingen könnte, ihn zu heiraten, wodurch ihm das Vermögen des Grafen Sandorf zufiel. Sie beleuchteten die augenblickliche Lage der Dinge von allen Seiten. Was bisher geschehen war, hatte allerdings Sarcany einen Strich durch die Rechnung gemacht, was noch geschehen konnte, war das Furchtbarste. Vor Allem also mußten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt werden, um Sarah aufzufinden.

Es wurde zunächst verabredet, daß Frau Bathory und Peter die Einzigen bleiben sollten, die wußten, daß Graf Sandorf sich unter dem Namen des Doctors Antekirtt verbarg. Offenbarte man das Geheimniß, so wurde damit auch ausgedrückt und bekannt, daß Sarah seine Tochter sei; im Interesse der neuen Nachforschungen aber, die unternommen werden mußten, war es von Wichtigkeit, daß Solches geheim bliebe.

»Doch wo ist Sarah?… Wo sie suchen?… Wo sie auffinden? fragte Frau Bathory.

– Wir werden es erfahren, erwiderte Peter, in welchem die Hoffnung einer Energie Platz gemacht hatte, welche nur stärker werden konnte.

– Ja… wir werden es erfahren, sagte der Doctor, und zugegeben, daß Silas Toronthal wirklich nicht weiß, wohin Sarcany geflüchtet ist, so wird er doch zum Mindesten wissen, wo dieser Elende meine Tochter zurückhält!…

– Und wenn er es weiß, muß er es uns sagen, rief Peter.

– Ja… er muß sprechen, erwiderte der Doctor.

– Augenblicklich!

– Augenblicklich!«

Doctor Antekirtt, Frau Bathory und Peter wären nicht im Stande gewesen, länger in dieser Ungewißheit zu verharren.

Luigi, der sich mit Pointe Pescade und Kap Matifu im großen Saale des Stadthauses befand, wo Maria sich ihnen beigesellt hatte, wurde alsbald herbeibefohlen. Er erhielt den Auftrag, sich von Kap Matifu nach dem Fort begleiten zu lassen und Silas Toronthal herzuführen.

Eine Viertelstunde später verließ der Banquier die Kasematte, welche ihm zum Gefängniß gedient hatte; sein Gelenk wurde von der breiten Hand Kap Matifu’s umklammert; so gingen sie die große Straße von Artenak entlang. Luigi, den er gefragt, wohin man ihn führe, hatte ihm keine Antwort geben wollen. Der Banquier war deshalb sehr besorgt, umsomehr, als er noch immer nicht wußte, welches die mächtige Persönlichkeit war, in deren Gewalt er sich seit seiner Verhaftung befand.



»Zum letzten Male, wo befindet sich Sarah?« (S. 499.)


Silas Toronthal betrat den Saal; Luigi ging ihm voran, während Kap Matifu ihn noch immer festhielt. Er bemerkte zuerst Pointe Pescade, denn Frau Bathory und ihr Sohn hielten sich noch abseits. Plötzlich befand er sich dem Doctor gegenüber, mit dem in Verbindung zu kommen er sich bei dessen Aufenthalt in Ragusa vergeblich abgemüht hatte.

»Sie… Sie?« rief er.

Dann sich aufraffend meinte er:

»Ah, also der Herr Doctor Antekirtt ist es, der mich auf französischem Gebiete hat festnehmen lassen…. Also er hält mich gegen jedes Recht als Gefangenen zurück…

– Doch nicht gegen jede Gerechtigkeit, antwortete der Doctor.

– Und was habe ich Ihnen gethan? fragte der Banquier, dem die Anwesenheit des Doctors ersichtlich Vertrauen einflößte. Wollen Sie mir, bitte, sagen, was ich Ihnen gethan habe?

– Mir?… Sie werden es erfahren, erwiderte der Doctor. Aber vorher, Silas Toronthal, fragen Sie nur, was Sie dieser unglücklichen Frau gethan haben…

– Frau Bathory! rief der Banquier und wich vor der Witwe zurück, die langsam auf ihn zukam.

– Und ihrem Sohne, setzte der Doctor hinzu.

– Peter!… Peter Bathory!« stammelte Silas Toronthal.

Er wäre entschieden zusammengesunken, wenn Kap Matifu ihn nicht mit unentrinnbarer Kraft auf seinem Platze aufrecht gehalten hätte.

Peter Bathory, den er für todt hielt, dessen Leichenzug er hatte vorüberziehen sehen, Peter, den man auf dem Kirchhofe von Ragusa begraben hatte, dieser Peter stand vor ihm, wie ein dem Grabe entstiegenes Gespenst. Seine Gegenwart machte Silas Toronthal mürbe. Er begann zu begreifen, daß er der Vergeltung für seine Thaten nicht entgehen würde…. Er fühlte sich verloren.

»Wo ist Sarah? fragte der Doctor barsch.

– Meine Tochter?

– Sarah ist nicht Ihre Tochter!… Sarah ist die Tochter des Grafen Sandorf, den Sarcany und Sie in den Tod getrieben, nachdem Sie ihn und seine beiden Genossen, Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar, feiger Weise verrathen haben.«

Diese förmliche Anklage vernichtete den Banquier vollends. Der Doctor Antekirtt wußte nicht nur, daß Sarah nicht seine Tochter wäre, er wußte sogar auch, daß sie die Tochter des Grafen Sandorf sei. Er wußte wie und durch wen die Verschwörer von Triest angezeigt worden waren. Die ganze schmachvolle Vergangenheit von Silas Toronthal war mit einem Male wieder lebendig geworden.

»Wo ist Sarah? fragte der Doctor von Neuem, der nur mit Hilfe seiner aufgebotenen Willensstärke an sich hielt. Wo ist Sarah, die Sarcany, Ihr Genosse bei allen Schandthaten, vor fünfzehn Jahren aus dem Schlosse Artenak gestohlen hat?… Wo ist Sarah, welche der Elende an einem Orte zurückhält, den Sie kennen müssen, denn Jener will ihr die Einwilligung zu einer Ehe entreißen, welche sie für eine Schmach hält…. Zum letzten Male, wo befindet sich Sarah?«

So erschreckend auch die Haltung des Doctors war, so drohend auch seine Worte klangen, Silas Toronthal antwortete nicht. Er hatte begriffen, daß die gegenwärtige Lage des jungen Mädchens ihm als Lebensschutz dienen mußte. Er fühlte, daß sein Leben unangetastet bleiben würde, so lange er sich noch im Besitze dieses letzten Geheimnisses befand.

»Hören Sie mich, Silas Toronthal, sagte der Doctor, der seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen hatte, hören Sie mich. Sie glauben vielleicht Ihren Genossen schonen zu müssen. Sie fürchten vielleicht, ihn bloßzustellen, wenn Sie reden würden. Merken Sie sich: Sarcany hat, um sich Ihres Schweigens versichert zu halten, nachdem er Sie ruinirt hatte, versucht, Sie zu ermorden, gerade wie er Peter Bathory in Ragusa erstochen hat…. So ist es!… In dem Augenblicke, als meine Vertreter sich Ihrer auf der Straße nach Nizza bemächtigten, war er im Begriff, Sie anzufallen…. Bestehen Sie jetzt noch auf Ihr Schweigen?«

Silas Toronthal war in die Idee wie verbohrt, daß sein Schweigen seinen Gegner zu seiner Schonung nöthigen würde. Er antwortete daher abermals nicht.

»Wo ist Sarah… wo ist Sarah? rief der Doctor, der sich nun von seiner Erregung hinreißen ließ.

– Ich weiß es nicht… ich weiß es nicht,« antwortete der Banquier, entschlossen, sein Schweigen fortzusetzen.

Plötzlich stieß er einen markerschütternden Schrei aus und wand sich vor Schmerzen; er versuchte vergebens, Kap Matifu zurückzustoßen.

»Gnade!… Gnade!« wimmerte er.

Kap Matifu hatte, vielleicht unbewußt, des Banquiers Hand mit der seinen etwas gequetscht.

»Werden Sie reden?

– Ja… ja… Sarah… Sarah… stöhnte Silas Toronthal, der nur in abgebrochenen Worten zu reden vermochte, ist im Hause von Namir… der Spionin Sarcany’s… in Tetuan.«

Kap Matifu ließ den Arm Toronthals fahren, der völlig abgestorben herniedersank.

»Führt den Gefangenen zurück, sagte der Doctor. Wir wissen jetzt, was wir wissen wollten.«

Luigi führte Silas Toronthal zum Stadthause hinaus und in die Kasematte zurück.

Sarah in Tetuan! Als der Doctor Antekirtt und Peter Bathory vor zwei Monaten in Ceuta waren, um den Spanier aus dem Präsidio zu holen, hatten sie nur wenige Meilen von dem Orte getrennt, wo die Marokkanerin das junge Mädchen gefangen hielt.

»Heute Nacht noch fahren wir nach Tetuan, Peter,« sagte der Doctor gelassen.

Damals führte die Eisenbahn noch nicht von Tunis direct an die Grenze Marokkos. Um in möglichst kurzer Zeit nach Tetuan zu gelangen, war es daher am Gerathensten, sich auf einem der elektrischen Eilschiffe der Flotte von Antekirtta einzuschiffen.

Vor Mitternacht noch war der »Electric 2« in See gegangen und durchflog nun das Meer der Syrten.

An Bord befanden sich nur der Doctor, Peter, Luigi, Pointe Pescade und Kap Matifu. Sarcany kannte nur Peter, die Uebrigen nicht. Sobald man in Tetuan angekommen war, wollte man das Nähere beschließen. Ob man mit List oder Gewalt vorgehen würde, das sollte ganz von der Stellung Sarcany’s in dieser rein marokkanischen Stadt, von seiner Installation im Hause Namir’s, von dem Personal abhängen, über welches er verfügte. Vor Allem galt es, nach Tetuan zu gelangen.

Vom Meer der Syrten bis zur marokkanischen Grenze zählt man ungefähr zweitausendfünfhundert Kilometer – das heißt also fast dreizehnhundertfünfzig Seemeilen. Der »Electric 2« konnte bei Aufwendung der größten Schnelligkeit siebenundzwanzig Meilen in der Stunde zurücklegen. Viele Eisenbahnzüge besitzen diese Schnelligkeit nicht! Dieses eiserne, spindelförmige Fahrzeug, das dem Winde keine Fläche darbot, das durch jede aufrührerische See glitt und nicht um den Sturm besorgt war, gebrauchte höchstens fünfzig Stunden, um an seinen Bestimmungsort zu gelangen.

Am folgenden Morgen vor Tagesanbruch hatte der »Electric 2« bereits Kap Bon doublirt. Nachdem man die Oeffnung des Golfes von Tunis passirt hatte, gebrauchte man von dort aus nur wenige Stunden, um das Vorgebirge von Bizerte aus den Augen zu verlieren. La Calle, Bône, das Kap Fer, dessen metallische Masse, wie man sagt, die Compaßnadel abweichen läßt, die algerische Küste, Stora, Bougie, Dellys, Alger, Cherchell, Mostagenem, Oran, Nemours, dann die Gestade des Rif, die Spitze von Mellila, die wie Ceuta den Spaniern gehört, das Kap Tres-Forcas, von dem aus der Continent bis zum Kap Negro sich abrundet – kurz das ganze Panorama des afrikanischen Gestades zog an den Blicken unserer Reisenden während des 20. und 21. November vorüber, ohne jeden Zwischenfall und ohne jeden Unfall. Die von den Strömen aus den Accumulatoren gespeiste Maschine hatte noch nie so vortrefflich functionirt. Wenn der »Electric«, sei es längs der Küste, sei es mitten in den Golfen, die er von Kap zu Kap durchschnitt, bemerkt wurde, so mußten die Küstenwächter unwillkürlich an das Auftauchen eines phänomenalen Schiffes oder vielleicht an dasjenige eines Wales von außerordentlicher Kraft glauben, wie sie kein Dampfschiff in den Gewässern des Mittelländischen Meeres aufzuwenden vermag.

Gegen acht Uhr Abends landeten der Doctor Antekirtt, Peter, Luigi, Pointe Pescade und Kap Matifu an der Mündung des kleinen Flußwassers von Tetuan, an welcher ihr Eilschiff sich vor Anker legte. Hundert Schritte vom Fluß entfernt, inmitten eines Karawanserais, fanden sie Maulesel und einen arabischen Führer, der sich erbot, sie zur Stadt zu geleiten, die höchstens vier Meilen entfernt lag. Der geforderte Preis wurde ohne Feilschen bewilligt und der kleine Trupp brach sofort auf.

In dieser Partie des Rif haben die Europäer nichts von der eingeborenen Bevölkerung zu befürchten, nicht einmal von den das Land durchziehenden Nomaden. Es ist das übrigens eine wenig bewohnte und fast gar nicht cultivirte Gegend. Die Landstraße zieht sich durch eine mit mageren Gebüschen besetzte Ebene – eine Landstraße, die weniger durch Menschenhand als durch den Tritt der Saumthiere hergestellt zu sein scheint. Auf der einen Seite liegt der Fluß mit seinen buchtenreichen Ufern. Sie widertönen von dem Gequak der Frösche und dem Zirpen der Grillen. Einige Fischerbarken ankern mitten in der Strömung, andere sind auf den Sand gezogen. Auf der anderen, der rechten Seite, zieht sich eine Kette steiniger Hügel entlang, die sich mit den südlicher liegenden massigen Gebirgsstöcken verbinden.

Die Nacht war herrlich. Der Mond tauchte die ganze Landschaft in sein Licht. Von dem Wasserspiegel zurückprallend, gab dasselbe die Zeichnungen der Anhöhen am nördlichen Horizonte in weicheren Contouren wieder. In der Ferne hob sich im weißen Gewande die Stadt Tetuan ab – ein blendender Punkt inmitten der dichten Nebel im Hintergrunde der Landschaft.

Der Araber führte seine Gesellschaft im schnellen Trabe. Zwei-oder dreimal mußte vor vereinzelt stehenden Stationen angehalten werden, durch deren vom Monde beschienene Fenster gewöhnlich ein gelber Lichtstrahl in die Nacht hinaus drang. Ein oder zwei Marokkaner traten dann aus dem Innern, sie führten eine Blendlaterne mit sich und unterhielten sich mit dem Führer. Nachdem einige Erkennungsworte ausgetauscht waren, ging die Reise weiter.

Weder der Doctor noch seine Genossen sprachen. In Gedanken vertieft ließen sie ihre an diese Straße durch die Ebene gewöhnten Maulesel gehen, wie sie Lust hatten; die Stellen, wo sie holprig oder mit Steinen bedeckt war, oder wo Wurzeln sich über sie hinzogen, vermied der sichere Fuß der Thiere. Das kräftigste derselben blieb jedoch regelmäßig zurück. Deshalb war es durchaus nicht untüchtig, es trug nur – Kap Matifu.

Dieser Umstand gab Pointe Pescade den Gedanken ein, ob es nicht gerathener sei, daß Kap Matifu den Maulesel trüge, als der Maulesel ihn.

Gegen einundeinhalb Uhr machte der Araber vor einer großen weißen Mauer Halt; sie wird von Thürmen und Schießscharten gekrönt und vertheidigt auf dieser Seite die Stadt In dieser Mauer öffnet sich ein niedriges, von Arabesken nach marokkanischer Manier umrahmtes Thor. Durch die zahlreichen Schießscharten oberhalb desselben gähnen den Kommenden die Mündungen der Kanonenrohre entgegen; sie gleichen großen, beim Glanze des Mondlichtes nonchalant eingeschlafenen Krokodilen.

Das Thor war geschlossen. Es mußte mit Geld in der Hand parlamentirt werden, um die Oeffnung zu erzwingen. Dann gerieth man in gekrümmte enge, meistens überwölbte Straßen. Sie waren von anderen, ebenfalls verriegelten Thoren abgesperrt, die wiederum nacheinander mit Hilfe desselben Mittels geöffnet werden mußten.

Eine Viertelstunde später langten der Doctor und seine Genossen endlich vor einer Herberge, einer »Fonda« an – der einzigen am Orte; ein Jude hielt sie und seine einäugige Tochter bediente.

Der Mangel an Comfort in dieser Fonda, deren bescheidene Zimmer einen inneren Hof einschlossen, erklärt sich damit, daß nur wenige Fremde es wagen, nach Tetuan vorzudringen. Es findet sich nur ein einziger Vertreter der europäischen Großmächte dort, nämlich ein spanischer Consul, der völlig abgeschnitten inmitten einer Bevölkerung von einigen tausend Seelen sitzt, in welcher das eingeborene Element vorherrscht.

So sehnlichst es auch der Doctor Antekirtt erstrebte, zu fragen, wo das Haus Namir’s gelegen wäre, und sich dorthin führen zu lassen, so energisch bezwang er sich vorläufig. Es mußte mit äußerster Klugheit zu Werke gegangen werden. Eine Entführung konnte unter den Verhältnissen, in denen Sarah wahrscheinlich aufgefunden, wurde, ernstliche Schwierigkeiten bieten. Alle Gründe für und gegen waren sorgfältig überlegt worden. Vielleicht konnte, gleichviel zu welchem Preise, die Freiheit des jungen Mädchens erkauft werden? Dann mußten der Doctor und Peter sich allerdings ganz besonders davor hüten, sich erkennen zu lassen – namentlich von Sarcany, der sich vielleicht in Tetuan aufhielt. In seinen Händen bot Sarah eine Garantie für die Zukunft, die er sich so leichten Kaufes nicht entreißen lassen würde. Man befand sich auch dort nicht in einem der civilisirten Länder Europas, wo das Gericht und die Polizei in nützlicher Weise hätten interveniren können. Wie beweisen in jener Sclavengegend, daß Sarah nicht das gesetzmäßige Eigenthum der Marokkanerin war? Wie beweisen, daß sie die Tochter des Grafen Sandorf, wenn der Brief von Frau Toronthal und das Geständniß des Banquiers keine Anerkennung fanden? Diese arabischen Häuser sind verwünscht sorgfältig verschlossen und wenig zugänglich! Man kommt nicht so ohne Weiteres hinein. Die Intervention eines Kadi war unter Umständen auch sehr zweifelhafter Natur, vorausgesetzt, daß man sie überhaupt erlangte.

Es wurde also beschlossen, daß zunächst, und um den geringsten Verdacht zu vermeiden, das Haus Namir’s der Gegenstand peinlichster Ueberwachung werden mußte. Pointe Pescade ging schon am frühen Morgen mit Luigi, der während seines Aufenthaltes auf der kosmopolitischen Insel Malta etwas arabisch gelernt hatte, fort, um Erkundigungen einzuziehen. Beide versuchten zu erfahren, in welchem Stadttheile, in welcher Straße diese Namir wohnte, deren Name bekannt sein mußte. Danach würde sich zunächst das fernere Verhalten zu richten haben.

Der »Electric 2« hatte unterdessen in einer der verborgenen Buchten des Gestades bei der Mündung des Flusses von Tetuan Zuflucht gesucht; er sollte sich bereit halten, beim ersten Signal in See zu gehen.

Diese Nacht also, deren Stunden dem Doctor und Peter viel zu langsam verstrichen, wurde in der Fonda verbracht. Wenn Pointe Pescade und Kap Matifu jemals der Gedanke gekommen wäre, auf mit Fayencen eingelegten Betten zu schlafen, so waren sie hier gewiß zufriedengestellt.



Nachdem einige Erkennungsworte ausgetauscht waren… (S. 502.)


Am folgenden Morgen also begaben sich Pointe Pescade und Luigi auf den Bazar, woselbst schon ein Theil der teluanischen Bevölkerung zusammenströmte.

Pointe Pescade kannte Namir, denn er hatte sie gewiß zwanzig Male in den Straßen von Ragusa gesehen, als sie für Sarcany Dienste als Spionin that. Es konnte sich also ereignen, daß man sie traf; da Pointe Pescade ihr unbekannt war, so konnte das Zusammentreffen nichts unbequemes im Gefolge haben. Traf man sie, so brauchte man ihr also nur nachzugehen.



In dieser buntscheckigen Gesellschaft… (S. 506.)


Der Hauptbazar von Tetuan bildet ein Ensemble von Schuppen und niedrigen, engen, stellenweise sogar schmutzigen Baracken, welche feuchte Alleen einnehmen. Verschiedenartig gefärbte, auf Schnüre gezogene Leinwanddächer beschützen sie vor den glühenden Strahlen der Sonne. Ueberall düstere Gewölbe, in denen mit Seide gestickte Stoffe, in schreienden Farben gehaltene Besatzartikel, türkische Pantoffel, Almosenbeutel, Burnusse, Töpferwaaren, Leuchter, Räucherkerzen, Laternen ausgebreitet sind – mit einem Worte, was sich beständig in den Specialgeschäften der großen Städte Europas vorfindet.

Es waren schon ziemlich viele Käufer da. Man wollte die Morgenkühle benützen. Bis zu den Augen verhüllte Maurinnen, Jüdinnen mit unverhülltem Antlitz, Araber, Kabylen, Marokkaner kamen und gingen auf dem Bazar und beschwatzten die kleine Anzahl Fremder. Die Anwesenheit Luigi’s und Pointe Pescade’s konnte daher nicht besonders auffallen.

Beide versuchten eine ganze Stunde hindurch, in dieser buntscheckigen Gesellschaft Namir zu begegnen. Es war vergebens. Die Marokkanerin zeigte sich nicht, noch weniger Sarcany.

Luigi wollte darauf einige von den halbnackten Jungens befragen – es sind Bastardsprößlinge aller afrikanischen Rassen, deren Mischung sich vom Rif bis zu den Grenzen der Sahara vollzieht – die in den marokkanischen Bazars umherlungern.

Die Ersten, an welche er sich wandte, konnten ihm auf seine Fragen keine Antwort geben. Endlich versicherte ein zwölf Jahre alter Kabyle mit richtigem Straßenjungengesicht, daß er die Behausung der Marokkanerin kenne, und er bot sich an, gegen Hinterlegung einiger Geldstücke, die beiden Europäer dorthin zu führen.

Das Anerbieten wurde angenommen und alle Drei wanden sich jetzt durch die verwickelten Straßenzüge, welche nach den Befestigungen der Stadt hin auslaufen. In zehn Minuten hatten sie ein fast verlassenes Stadtviertel erreicht, in welchem die fensterlosen Häuser spärlich gesäet waren.

Der Doctor und Peter Bathory erwarteten mit fieberhafter Ungeduld die Rückkehr Luigi’s und Pointe Pescade’s. Wohl an zwanzig Male fühlten sie sich versucht, auszugehen und selber Nachforschungen anzustellen. Doch Beide waren Sarcany und der Marokkanerin bekannt. Man mußte im Falle eines Zusammentreffens darauf gefaßt sein, Alles zu riskiren, denn Jene würden unbedingt sich sofort ihren Nachstellungen entzogen haben. Sie blieben also eine Beute der lebhaftesten Unruhe. Neun Uhr war es, als Luigi und Pointe Pescade in die Fonda zurückkehrten. Ihre traurigen Mienen sagten nur zu deutlich, daß sie schlechte Nachrichten mitbrächten.

Sarcany und Namir hatten in der Begleitung eines jungen Mädchens, welches Niemand kannte, vor fünf Wochen bereits Tetuan verlassen; das Haus war unter der Obhut einer alten Frau geblieben.

Der Doctor und Peter waren auf diese Nachricht nicht gefaßt gewesen: sie waren wie niedergeschmettert.

»Der Grund dieser Abreise ist klar genug, sagte Luigi. Mußte Sarcany nicht befürchten, daß Silas Toronthal entweder aus Rachsucht oder aus einem anderen Grunde seinen Zufluchtsort verrathen würde?«

So lange es sich lediglich darum gehandelt, die Verräther zu verfolgen, hatte Doctor Antekirtt niemals daran gezweifelt, sein Werk vollenden zu können. Jetzt, wo es galt, die eigene Tochter den Händen Sarcany’s zu entreißen, ließ ihn seine Zuversicht im Stich.

Peter und er stimmten jedoch darin überein, unverzüglich dem Hause Namir’s einen Besuch abzustatten. Vielleicht fanden sie dort doch noch etwas mehr als das bloße Andenken an Sarah? Vielleicht würde ihnen irgend ein Anzeichen verrathen, was aus ihr geworden war. Vielleicht auch könnte ihnen die alte Jüdin, der die Hütung des Hauses anvertraut war, ihren Nachforschungen dienliche Mittheilungen machen oder verkaufen.

Luigi führte sie sofort dahin. Der Doctor, der das Arabische so gut sprach, als wäre er in der Wüste geboren, gab sich für einen Freund Sarcany’s aus. Er wäre, wie er sagte, glücklich gewesen, bei der Durchreise durch Tetuan ihn anzutreffen, nun wolle er wenigstens dessen Behausung einen Besuch abstatten.

Die Alte machte zuerst einige Schwierigkeiten; doch eine Handvoll Zechinen bewirkte, daß sie geschmeidiger wurde. Jetzt erst bequemte sie sich dazu, auf die Fragen zu antworten, welche der Doctor ihr mit sichtbarem Interesse für ihren Herrn vorlegte.

Das junge Mädchen, welches durch die Marokkanerin hergeführt worden war, sollte die Frau Sarcany’s werden. Das war schon seit Langem beschlossen und sehr wahrscheinlich würde die Hochzeit bereits in Tetuan vollzogen worden sein, wäre die überhastete Abreise nicht dazwischen gekommen. Dieses junge Mädchen war seit seiner Ankunft, das heißt, seit drei Monaten ungefähr, nicht vor die Thür gekommen. Man sagte zwar, sie wäre arabischer Abkunft, doch hätte sie, die Jüdin, Jene für eine Europäerin gehalten. Sie hätte sie aber nur sehr wenig zu Gesicht bekommen, oder nur wenn die Marokkanerin sich nicht im Hause befand. Mehr wußte sie nicht.

Ebensowenig vermochte sie zu sagen, in welches Land Sarcany mit Beiden gezogen war. Sie wußte nur, daß sie vor ungefähr fünf Wochen mit einer Karawane fortgezogen waren, die nach Osten ging. Von jenem Tag an war das Haus unter ihrer Obhut geblieben und sie sollte es so lange hüten, bis Sarcany eine Gelegenheit gefunden haben würde, es zu verkaufen. Damit war seine Absicht, nicht mehr nach Tetuan zurückzukehren, offenkundig geworden.

Der Doctor hörte frostig diesen Antworten zu und nach Maß und Bedürfniß übersetzte er sie Peter Bathory.

Im Ganzen genommen stand nur das Eine fest, daß Sarcany es nicht für gerathen gehalten hatte, sich auf einem der Packetboote einzuschiffen, welche Tanger anlaufen, noch die Eisenbahn zu benützen, deren Endpunkt der Bahnhof von Oran bildet. Er hatte sich also einer Karawane angeschlossen, die Tetuan verlassen hatte, um – wohin zu gehen? Vielleicht nach einer Oase in der Wüste oder darüber hinaus in ein Territorium der halbwilden Völkerschaften, wo Sarah vollständig ihm zu Willen sein mußte. Wie es erfahren? Auf den Landstraßen des nördlichen Afrikas ist es ebenso schwer eine Karawane wiederzufinden, als einen einzelnen Reisenden.

Der Doctor drang daher noch weiter in die alte Jüdin. Er hätte wichtige Nachrichten erhalten, welche Sarcany interessiren würden, sagte er wiederholt, und gerade betreffs des Hauses, dessen er sich entledigen wollte. Doch was er auch that und sagte, eine andere Auskunft konnte er nicht erhalten. Die Frau wußte ersichtlich nichts von dem neuen Zufluchtsorte, den Sarcany sich erwählt hatte, um die Entwicklung dieses Dramas zu beschleunigen.

Der Doctor, Peter und Luigi begehrten alsdann die nach arabischer Sitte eingetheilte Wohnung zu besichtigen, nach welcher die verschiedenen Zimmer von einem Patio ihr Licht erhalten, der von einer rechtwinkligen Galerie umgeben ist.

Sie langten bald in dem Zimmer an, welches Sarah bewohnt hatte – einer vollkommenen Gefängnißzelle. Wie viele Stunden hatte das junge Mädchen, eine Beute der Verzweiflung, dort verbringen müssen, ohne darauf rechnen zu können, irgend welche Hilfe zu erhalten! Der Doctor und Peter durchmusterten das Zimmer mit den Blicken, ohne ein Wort zu sprechen; sie suchten nach den geringfügigsten Anzeichen, welche sie auf die von ihnen gesuchten Spuren hätten leiten können.

Plötzlich näherte sich der Doctor lebhaft einem kleinen kupfernen Feuerbecken, das in einer Ecke des Zimmers auf einem Dreifuße stand. Auf dem Boden dieses Beckens erzitterten einige von dem Feuer zerstörte Papierstückchen, die noch nicht ganz zu Asche geworden waren.

Sarah hatte also geschrieben. Von der schleunigen Abreise überrascht, hatte sie sich entschlossen, den Brief vor dem Verlassen von Tetuan zu verbrennen.

Oder – was sehr leicht möglich war – der Brief war bei Sarah gefunden und von Sarcany oder Namir verbrannt worden.

Auf den Papierresten, die der Wind ganz zu Asche machen konnte, hoben sich noch einige Worte in schwarzer Schrift ab – unter Anderem stand da, unglücklicherweise unvollständig: »Fr.. Bath…«

Sarah, die nicht wußte und nicht wissen konnte, daß Frau Bathory aus Ragusa verschwunden war, hatte wahrscheinlich versucht, der einzigen Person auf dieser Welt, von der sie auf Beistand hoffen konnte, zu schreiben.

Neben dem Namen der Frau Bathory konnte man einen anderen ebenfalls entziffern – denjenigen ihres Sohnes….

Peter, der seinen Athem anhielt, versuchte noch ein vielleicht lesbares Wort ausfindig zu machen… Doch sein Blick hat sich getrübt… Er sah nichts mehr…

Es stand aber noch ein Wort da, welches auf die Spur des jungen Mädchens leiten konnte – ein Wort, welches der Doctor fast unverletzt auffand…

»Tripoli,« rief er.

Also in der Regentschaft von Tripolis, in seinem Geburtslande, wo er unbedingte Sicherheit finden mußte, hatte Sarcany seine Zuflucht gesucht. Dieser Provinz entgegen bewegte sich die Karawane, die nun schon einen fünfwöchentlichen Marsch hinter sich hatte.

»Nach Tripolis!« sagte der Doctor.

Noch am selben Abend hatte der »Electric 2« das Meer wieder gewonnen. Sarcany, der sich gewiß beeilte, die Hauptstadt der Regentschaft zu erreichen, konnte höchstens einige Tage vor ihnen dort ankommen.

Zweites Capitel. Das Fest der Störche.

Am 23. November bot die Ebene von Sung-Ettelateh, die sich außerhalb der Mauern von Tripolis ausbreitet, einen merkwürdigen Anblick dar. Wer hätte an jenem Tage behaupten wollen, ob diese Ebene dürr oder fruchtbar ist?

Ihre Oberfläche bedeckten vielfarbige Zelte, die mit Quasten und in schreienden Farben gehaltenen Fähnchen ausstaffirt waren; elende Schänken, deren verblichene und vielfach geflickte Leinwandumhüllungen ihre Gäste gegen die unfreundliche »Gibly«, den trockenen Südwind, nur unzulänglich beschützen konnten; hier und dort sah man Gruppen von reich nach orientalischer Manier aufgeschirrten Pferden, von Meharis, die ihre platten Köpfe, welche wie halbleere Schläuche aussahen, im Sande ausstreckten, von kleinen Eseln, die wie große Hunde aussahen und großen Hunden, die kleinen Eseln ähnelten, von Mauleseln, die den riesigen arabischen Sattel trugen, dessen Sattelbausch und Sattelknopf sich abrunden wie die Höcker des Dromedars; Reiter mit Flinten über dem Rücken, Knien in Brusthöhe, Füßen, die in pantoffelartigen Steigbügeln steckten, mit dem doppelten Säbel im Gürtel; sie galoppirten durch die Menge von Männern, Frauen und Kindern, ohne sich im Geringsten zu scheeren, ob Jemand ihnen im Wege stand; schließlich Eingeborene die fast ohne Unterschied in den Burnus gehüllt waren, unter welchem man einen Mann nicht von einer Frau unterscheiden könnte, wenn nicht die Männer die Falten dieses Mantels auf der Brust mit Hilfe eines kupfernen Schlosses zusammenhalten würden, während die Frauen den oberen Zipfel so über das Gesicht fallen lassen, daß nur das linke Auge sichtbar bleibt – ein Kostüm, welches je nach dem Stande seiner Träger variirt, denn die Armen tragen nur den einfachen, leinenen Mantel, unter dem sich ihr bloßer Körper zeigt, die Wohlhabenden tragen die Jacke und das breite Beinkleid der Araber, die Reichen kostbaren, weiß und blau carrirten Schmuck auf einem zweiten Gazemantel, auf dem die leuchtende Seide sich mit dem Matt der Wolle über dem mit goldenen Flittern besetzten Hemde mischt.

Doch nicht Tripolitaner allein bewegten sich auf der weiten Ebene. An den Ausgängen der Hauptstadt drängten sich Kaufleute aus Ghadames und Sokna mit dem Gefolge ihrer schwarzen Sclaven; ferner Juden und Jüdinnen der Provinz; sie zeigten unverhüllte, schmutzige Gesichter nach der Sitte des Landes und waren in wenig geschmackvoller Form »behost«; sodann Neger; sie waren aus einem benachbarten Orte gekommen und hatten ihre elenden Kabachen aus Binsen und Palmen verlassen, um Theil an dieser öffentlichen Lustbarkeit zu nehmen – ihre Kleidung zeichnete sich weniger durch den Aufwand an Leinen, als vielmehr an Schmucksachen, dicken Kupferarmringen, Halsketten mit Muschelwerk, »Rivieren« von Thierzähnen, silbernen Ringen in den Ohrläppchen und Nasenknorpeln aus; schließlich Benulier, Awagnjer, aus dem Küstenlande der großen Syrte stammend, denen die Dattelpalme ihres Landes Wein, Früchte, Brod und Näschereien liefert. Inmitten dieser Ansammlung von Mauren, Berbern, Türken, Beduinen und selbst von »Mußafirs«, das heißt Europäern, promenirten Paschas, Scheiks, Kadis, Kaïds, alle Edelleute der Ortschaft; sie spalteten die Menge der Raayas, die sich demüthig und vorsichtig vor dem blanken Säbel der Soldaten oder dem Polizistenstocke der Zaptiehas öffnete, wenn mit seiner erhabenen Gleichgiltigkeit der Generalgouverneur dieser afrikanischen Provinz des türkischen Reiches, deren Verwaltung vom Sultan selbst abhängt, vorüberschritt.

Während man mehr als eine Million fünfmalhunderttausend Einwohner auf Tripoli rechnet, nebst sechstausend Mann Soldaten, besitzt die Stadt Tripolis für sich allein höchstens nur zwanzig-bis fünfundzwanzigtausend Seelen. An jenem Tage aber konnte man dreist behaupten, daß die Bevölkerung durch den Zufluß der Neugierigen, die von allen Seiten des Festlandes hergeströmt waren, sich verdoppelt hatte. Diese »Landleute« hatten allerdings kein Unterkommen in der Hauptstadt der Regentschaft selbst gesucht. Weder die Häuser, deren schlechte Baumaterialien sie bald in Trümmer fallen lassen, noch die engen, pflasterlosen, gewundenen Straßen – man könnte sie fast himmellose nennen –, noch das an den Molo grenzende Stadtviertel, in welchem sich die Consulate befinden, noch der westliche Theil, wo die Juden ansässig sind, noch die für die Bedürfnisse der muselmännischen Rasse ausreichenden sonstigen Theile der Stadt wären, innerhalb der wenig elastischen Mauern der Umwallung, einem solchen Völkerstrome gewachsen gewesen.

Die Ebene von Sung-Ettelateh jedoch war groß genug für die Menge der Zuschauer, die zu dem Feste der Störche, dessen Andenken noch immer in den orientalischen Ländern Afrikas in Ehren gehalten wird, zusammengeströmt war. Diese Ebene – ein gelbsandiges Stück der Sahara, welche das Meer vielfach bei Ostwind überfluthet – umgibt die Stadt auf drei Seiten und mißt in der Breite ungefähr einen Kilometer. An ihrem südlichen Ende entwickelt sich – ein wundersam berührender Gegensatz – die Oase der Mendschjeh mit dem blendenden Weiß ihrer Bauten, ihren Gärten und Orangen-, Citronen-, Dattelbäumen, den Massen ihrer grünenden Gesträuche und Blumen, ihren Antilopen. Gazellen, Flamingos – eine riesige Enclave, auf der sich eine Bevölkerung von mindestens dreißigtausend Einwohnern vorfindet. Jenseits der Oase beginnt die Wüste, die mit keinem anderen ihrer Endpunkte dem Mittelmeere so nahe kommt wie hier; die Wüste beginnt dort mit ihren wandernden Dünen, ihrem unendlichen Sandteppiche, auf dem, wie Baron von Krafft sagt, »der Wind ebenso wie auf dem Meere Wellen formt«, das lybische Meer, dem selbst die aus undurchdringlichem Staube sich bildenden Nebel nicht fehlen.

Tripolis – ein fast ebenso großes Gebiet, wie Frankreich selbst ist, umfassend – breitet sich zwischen der Regentschaft von Tunis, Aegypten und der Sahara aus und nimmt über dreihundert Kilometer des Gestades des Mittelländischen Meeres ein.

In diese Provinz, eine der am wenigsten bekannten Nordafrikas, in der man vielleicht am allerlängsten sich allen Nachforschungen entziehen kann, hatte sich Sarcany nach dem Verlassen von Tetuan geflüchtet. Tripolitaner von Geburt, war es nur natürlich, daß er in sein Heimatland, auf den Schauplatz seiner ersten Versuche, zurückkehrte. Wie man nicht vergessen haben wird, war er überdies mit der furchtbarsten Secte Nordafrika’s sehr bekannt, er wußte also, daß er bei den Senusisten, deren Agent in der Fremde behufs Beschaffung von Waffen und Munition er zu sein nie aufgehört hatte, ausreichenden Schutz finden würde. Deshalb hatte er sich auch sofort nach seiner Ankunft in Tripolis in dem Hause des Moyaddems Sidi Hazam, des wohlbekannten Chefs der Sectenbrüder dieses Districtes, einquartiert.

Sarcany hatte nach der Aufhebung von Silas Toronthal auf der Landstraße von Nizza – ein Vorgang, der ihm völlig räthselhaft geblieben war – sofort Monte Carlo verlassen. Die von dem letzten Gewinne erübrigten wenigen tausend Franken – er gebrauchte die Vorsicht, sie nicht als allerletzten Einsatz auf’s Spiel zu setzen – hatten hingereicht, um die Kosten der Reise zu decken und den Eventualitäten vorzubeugen, vor denen er zunächst Front machen mußte. Es stand in der That zu befürchten, daß der zur Verzweiflung gebrachte Silas Toronthal sich gedrängt fühlte, sich an ihm zu rächen, entweder dadurch, daß er Sarcany’s Vergangenheit enthüllte oder Sarah’s Lage verrieth. Denn der Banquier wußte wohl, daß diese in Tetuan, in den Händen Namir’s, sich befand. Daraus entsprang Sarcany’s Entschluß, Marokko in kürzester Frist zu verlassen.

Es war das klug gehandelt, weil Silas Toronthal nicht zögern würde, zu sagen, in welchem Lande und in welcher Stadt das junge Mädchen unter der Obhut der Marokkanerin zurückgehalten werde.

Sarcany beschloß deshalb, in die Regentschaft von Tripolis sich zurückzuziehen, woselbst ihm sowohl Actions-als Vertheidigungsmittel zu Gebote



Auf den Papierresten… (S. 509.)


stehen mußten. Sich dorthin mittelst der Packetboote der Küste oder mittelst der algerischen Eisenbahnen begeben, hieß aber – wie der Doctor ganz richtig vermuthet hatte – zuviel Gefahr laufen. Er zog es daher vor, sich einer Senusisten-Karawane anzuschließen, welche in die Cyrrhenäische Halbinsel zog und aus neu angeworbenen Mitgliedern aus den größten Vilajets von Marokko, Algerien und der tunesischen Provinz bestand. Diese Karawane, die in Eilmärschen zwischen Tetuan und Tripolis fünfhundert Meilen zurückzulegen hatte, indem sie der nördlichen Grenze der Wüste folgte, brach am 12. October auf.

Jetzt befand sich Sarah vollständig in der Macht ihrer Peiniger. Ihr Entschluß war aber trotzdem ein unerschütterlicher geblieben. Weder die Drohungen Namir’s, noch die Wuthausbrüche Sarcany’s hatten auf sie Eindruck machen können.

Beim Aufbruche von Tetuan zählte die Karawane bereits fünfzig Mitglieder oder Khuans; sie standen unter der Oberleitung eines Imam, der sie militärisch organisirt hatte. Die Provinzen, welche der französischen Regierung unterworfen waren, wurden übrigens sorgfältig umgangen, um ja keine Schwierigkeiten hinsichtlich des Durchzuges zu haben.

Der afrikanische Continent bildet in Folge der Küstenbildung der algerischen und tunesischen Gebiete einen Bogen bis zur Westküste der großen Syrte, die jäh nach Süden abfällt. Es folgt daraus, daß die directeste Straße, um von Tetuan nach Tripoli zu gelangen die ist, welche die Sehne dieses Bogens bildet und die im Norden nicht höher als bis nach Laghuat steigt, einer der äußersten Städte unter französischer Hoheit an der Grenze der Sahara.

Die Karawane zog zuerst nach dem Verlassen des marokkanischen Gebietes an der Grenze der reichen Provinzen Algeriens entlang, welche man das »neue Frankreich« nennt und die in Wirklichkeit Frankreich selbst vorstellen – mit mehr Berechtigung als Neu-Kaledonien, Neu-Holland, Neu-Schottland Schottland, Holland und Kaledonien vorstellen, weil die afrikanischen Provinzen Frankreichs nur dreißig Stunden zu Wasser von diesem selbst entfernt sind.

In Beni-Mutan, in Oulad-Mail, Scharfat-El-Hamel verstärkte sich die Karawane durch eine ziemliche Anzahl von Bundesbrüdern. Ihre Theilnehmerzahl belief sich auf mehr denn dreihundert Menschen, als sie die tunesische Grenze am Ende der großen Syrte erreichte. Sie brauchte jetzt nur noch dem Zuge der Küste zu folgen und kam, während sie sich in den verschiedenen Ortschaften der Provinz durch neue Khuans verstärkte, am 20. November, nach einer sechswöchentlichen Reise an der Grenze der Regentschaft an.

Zur Zeit, als unter großem Gelärm das Fest der Störche begangen werden sollte, waren Sarcany und Namir erst seit drei Tagen die Gäste des Moqaddem Sidi Hazam, dessen Behausung gleichzeitig Sarah Toronthal als Gefängniß diente.

Diese von einem schlanken Thurm überragte Behausung macht mit ihren weißen, fensterlosen Mauern, die von einigen Schießscharten durchbrochen waren, mit ihren mit Zinnen versehenen Terrassen, mit ihrer schmalen und niedrigen Thür allerdings den Eindruck einer Art Festung. Diese vollkommene Zauiya lag außerhalb der Stadt, an dem Saume der Sandwüste und der Anpflanzungen der Mendschje, deren durch eine hohe Mauer beschützten Gärten auf die Domäne der Oase hinüberreichten.

Das Innere zeigte die gewöhnliche Einrichtung der arabischen Baulichkeiten, nur hier in dreifacher Gestalt, das heißt man zählte anstatt eines drei Patios oder Höfe. Diese Patios umschloß ein Viereck von Säulengalerien und Arkaden, auf welche wiederum die zahlreichen, meist reich ausgestatteten Zimmer führten. Im Hintergrunde des zweiten Hofes fanden die Besucher oder Gäste des Moqaddem eine ungeheure »Skifa«, eine Art Vorhalle, in der schon oft Conferenzen unter dem Vorsitze des Sidi Hazam abgehalten worden waren.

Dieses Haus wurde in natürlicher Weise von seinen hohen Mauern beschützt; es schloß außerdem aber auch ein zahlreiches Personal ein, welches im Falle eines Ueberfalles seitens der Nomaden oder selbst der tripolitanischen Behörden, deren Anstrengung darauf hinauslief, den Senusisten der Provinz wirksam die Hände zu binden, nachdrücklich über seine Sicherheit wachen konnte. Es befanden sich im Hause fünfzig Bundesbrüder, die sowohl zur Vertheidigung wie zum Angriff gleich gut gerüstet waren.

Eine einzige Thür gewährte Einlaß in diese Zauiya; doch diese sehr dicke und unter ihren Schlössern höchst solide Thür war nicht leicht aufzudrücken, und wenn sie selbst aufgestoßen war, nicht leicht zu durchschreiten.

Sarcany hatte also bei dem Moqaddem ein sehr sicheres Asyl gefunden. Dort hoffte er seine Unternehmung zu einem guten Ende führen zu können. Seine Heirat mit Sarah mußte ihm ein beträchtliches Vermögen einbringen und nöthigenfalls konnte er auf den Beistand der Brüderschaft rechnen, die direct an dem Gelingen seines Planes interessirt war.

Die von Tetuan angelangten oder in den Vilajets aufgelesenen Senusisten hatten sich über die Oase von Mendsehje zerstreut, bereit, sich beim ersten Zeichen zusammenzufinden. Dieses Fest der Störche diente überaus der Sache der Senusisten, das war für die tripolitanische Polizei eine ausgemachte Sache. Dort auf der Ebene von Sung-Ettelateh sollten die Khuans von Nordafrika die Parole von den Muftis erhalten, um danach ihre Concentration auf der Cyrrhenäischen Halbinsel ins Werk zu setzen und dort unter der allmächtigen Oberhoheit eines Khalifen ein vollkommenes Piratenreich zu begründen.

Die Umstände lagen so günstig als möglich, denn gerade in dem Vilajet von Bhen-Ghazi zählte die Brüderschaft bereits die meisten Parteigenossen.

Am Tage des Festes der Störche in Tripolis spazierten Fremde inmitten der Menge auf der Ebene von Sung-Ettelateh umher.

Diese Fremden in ihrer arabischen Tracht hätte Niemand für Europäer gehalten. Der Aelteste von den Dreien trug die seinige mit einer so vollkommenen Unbefangenheit, wie sie nur lange Uebung hervorbringen kann.

Es war Doctor Antekirtt, ihn begleiteten Peter Bathory und Luigi Ferrato. Pointe Pescade und Kap Matifu waren in der Stadt zurückgeblieben, woselbst sie gewisse Vorbereitungen zu treffen hatten; sie wollten jedenfalls erst in dem Augenblick auf dem Schauplatze erscheinen, in welchem ihre Arbeit begann.

Erst vierundzwanzig Stunden früher war am Nachmittage der »Electric 2« im Schutze der Klippen vor Anker gegangen, welche für den Hafen von Tripolis eine Art natürlichen Dammes bilden.

Die Ueberfahrt war auch diesmal wieder eine äußerst schnelle gewesen. Nur drei Stunden Aufenthalt in Philippeville, auf der kleinen Rhede von Filfila, sonst nichts – damit war genügend Zeit zur Beschaffung der arabischen Kostüme gewonnen worden. Dann war der »Electric« unverzüglich wieder abgefahren, ohne daß seine Anwesenheit im Numidischen Golfe signalisirt worden wäre.

Als der Doctor und seine Gefährten – nicht auf den Quais von Tripoli, sondern an den Klippen außerhalb des Hafens – gelandet, waren es nicht fünf Europäer, die den Fuß in die Regentschaft von Tripolis setzten, sondern fünf Orientalen, deren Kleidung in keiner Weise Aufmerksamkeit erregen konnte. Vielleicht würden sich Peter und Luigi in Folge mangelnder Gewohnheit in den Augen eines sorgfältigen Beobachters leicht verrathen haben. Pointe Pescade und Kap Matifu jedoch, die im Kostümwechsel bewandert waren, wie ihn der Seiltänzerberuf in vielgestaltiger Weise mit sich bringt, setzte diese Maskerade in keiner Weise in Verlegenheit.

Der »Electric« verbarg sich, als die Nacht angebrochen war, auf der anderen Seite des Hafens, in einer der wenig bewachten Buchten des Ufers. Dort sollte er sich bereit halten, zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht in See gehen zu können. Der Doctor und seine Gefährten stiegen nach ihrer Landung die felsigen Uferpartien hinan und betraten nach Ueberschreitung des aus groben Blöcken hergestellten Quais, der nach Bab-el-Bahr führt, durch das Meerthor die engen Straßen der Stadt. Das erste Hotel, auf welches sie stießen – die Auswahl war überhaupt keine große – schien ihren Bedürfnissen während eines Aufenthaltes von einigen Tagen, wenn nicht nur von wenigen Stunden, vollkommen zu genügen. Sie gaben sich daselbst das Ansehen anspruchsloser Leute, von einfachen tunesischen Kaufleuten, die bei ihrem Aufenthalte in Tripoli die Gelegenheit, das Fest der Störche mitanzusehen, wahrnehmen wollten. Da der Doctor das Arabische ebenso correct wie die anderen Idiome am Mittelmeere sprach, so konnte seine Sprache kaum den Verräther spielen.

Der Hotelier empfing die fünf Reisenden, welche ihm die große Ehre, bei ihm vorzusprechen, zu Theil werden ließen, mit Auszeichnung. Er war ein dicker, geschwätziger Mann. Der Doctor, der ihn anfeuerte zu erzählen, hatte bald gewisse Dinge, die ihn besonders interessirten, von ihm erfahren. Er hörte zunächst, daß jüngst eine Karawane von Marokko in Tripoli angelangt wäre; ferner erfuhr er, daß der in der Regentschaft sehr bekannte Sarcany dieser Karawane sich angeschlossen hätte und der Gastfreund im Hause Sidi Hazam’s wäre.

Deshalb hatten sich am selben Abend noch der Doctor, Peter und Luigi unter Beobachtung gewisser Vorsichtsmaßregeln, um nicht erkannt zu werden, unter die Nomadenmassen gewagt, die auf der Ebene von Sung-Ettelateh lagerten. Auf ihrem Spaziergange jedoch beobachteten sie genau das Haus des Moqaddem am Saume der Oase von Mendschje.

Dort also war Sarah Sandorf eingeschlossen. Seit des Doctors Aufenthalte in Ragusa waren Vater und Tochter nie wieder so dicht beieinander gewesen, wie jetzt. Aber eine unüberschreitbare Mauer trennte sie. Peter hätte, um sie zu befreien, zweifellos Allem beigestimmt, selbst einem Vergleiche mit Sarcany. Graf Mathias Sandorf und er wären gern bereit gewesen, das Vermögen fahren zu lassen, welches der Schuft zu erlangen wünschte. Sie durften aber nicht vergessen, daß sie gleichzeitig auch an dem Verräther Stephan Bathory’s und Ladislaus Zathmar’s Vergeltung zu üben hatten.

Jedenfalls boten in der Lage, in welcher sie sich augenblicklich befanden, ein Festnehmen Sarcany’s und die Entführung Sarah’s aus dem Hause des Sidi Hazam fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Eine Entführung mit Gewalt mußte mißglücken; würde das Unternehmen, mit einer List ausgeführt, besser glücken? Würde das Fest am folgenden Tage die Ausführung ermöglichen? Man nahm es an und mit diesem Plane beschäftigten sich der Doctor, Peter und Luigi noch am selben Abend – einem Plane, der dem Gehirn Pointe Pescade’s entsprungen war. Der tapfere Kerl konnte bei der Ausführung desselben sein Leben einbüßen; selbst wenn es ihm gelang, in die Behausung des Moqaddem zu dringen, würde es ihm schwer möglich sein, Sarah Sandorf zu befreien. Seinem Muthe und seiner Geschicklichkeit aber schien nichts unmöglich.

Behufs Ausführung des gutgeheißenen Planes fanden sich deshalb am folgenden Abend der Doctor Antekirtt, Peter und Luigi auf der Ebene von Sung-Ettelateh ein, während Pointe Pescade und Kap Matifu sich zuhause auf die Rollen vorbereiteten, welche sie auf dem Feste der Störche zu spielen gedachten.

Bis zu dieser Stunde hatte sich auf dem Festplatze noch nichts ereignet, was den Lärm und das Gewühl ahnen lassen konnte, die später am Abend beim Scheine unzähliger Fackeln die Ebene beherrschen sollten. Man konnte kaum inmitten der gedrängten Massen das Gehen und Kommen der senusistischen Parteigänger bemerken, die in möglichst einfache Gewänder gehüllt waren und sich nur mittelst eines freimaurerischen Zeichens die Befehle ihrer Führer mittheilten.

Es ist hier der geeignete Platz, das orientalische oder vielmehr afrikanische Märchen kennen zu lernen, dessen Hauptereignisse durch dieses Fest der Störche veranschaulicht werden sollen, welches auf die Muselmannen einen Hauptreiz auszuüben pflegt.

Es existirte ehedem auf dem afrikanischen Continent eine Rasse der Djins. Unter dem Namen der Bu-lhebrs bewohnten diese Djins ein mächtiges Gebiet, welches auf der Grenze der Wüste Hammada, zwischen Tripolis und dem Königreich von Fezzan gelegen war. Sie bildeten ein mächtiges Volk, das ebenso furchtbar war als es gefürchtet wurde. Denn es war ungerecht, treulos, unmenschlich und kriegslustig. Noch kein afrikanischer Herrscher hatte es zu unterjochen vermocht.

Eines Tages geschah es, daß der Prophet Suleyman versuchte, nicht die Djins anzugreifen, sondern sie zu bekehren. Zu diesem Zwecke sandte er ihnen einen Apostel, der ihnen die Liebe zum Guten, den Haß des Bösen predigen sollte. Verlorene Mühe! Die wilden Horden bemächtigten sich des Missionärs und nahmen ihn gefangen.

Die Djins zeigten deshalb sich so außerordentlich kühn, weil sie wohl wußten, daß in ihr isolirt gelegenes und schwer zugängliches Land kein König mit seinem Heere sich wagen würde. Sie glaubten überdies, daß kein Bote den Propheten Suleyman unterrichten würde, welches Schicksal sein Sendling gefunden hatte. Sie täuschten sich darin.

In ihrem Lande gab es eine Unmenge Störche. Das sind, wie man weiß, wohlgesittete Thiere, außerdem sind sie äußerst intelligent und sehr zartfühlend, denn die Sage behauptet, daß sie niemals ein Land bewohnen, dessen Name auf einem Geldstücke figurirt – das Geld ist nämlich die Quelle jedes Uebels und der mächtigste Verführer des Menschen zu schlechten Leidenschaften.

Die Störche, die wohl sahen, in welchem Unglauben die Djins lebten, beriefen eines Tages eine Rathsversammlung und beschlossen einen aus ihrer Mitte zum Propheten Suleyman zu schicken, um die Mörder des Missionärs seiner gerechten Rache zu empfehlen.

Alsbald befahl der Prophet seinem Wiedehopf, der sein Lieblingsbote war, alle Störche der Erde in den hohen Luftschichten des afrikanischen Himmels zu versammeln. Das geschah und als die unzähligen Geschwader dieser Vögel vor dem Propheten Suleyman vereinigt waren, »bildeten sie,« so sagt die Legende wörtlich, »eine Wolke, die das ganze Land zwischen Mezda und Morzug beschattet haben würde.«

Darauf nahm jeder Storch einen Stein in seinen Schnabel und flog dem Lande der Djins zu. Darüber hinstreichend steinigten sie diese gemeine Menschenrasse, deren Seelen jetzt für die Ewigkeit auf dem Grunde der Wüste Hammada eingekerkert sind.

Das ist das Märchen, welches das Fest der Störche veranschaulichen sollte. Mehrere hunderte von Störchen waren unter mächtigen Netzen, die über die Oberfläche der Ebene von Sung-Ettelateh gespannt waren, vereinigt worden. Dort erwarteten sie, meistens auf einem Beine stehend, die Stunde ihrer Befreiung und das Klappern ihrer Kinnbacken drang oft wie Trommelwirbel durch die Lüfte. Sobald das Zeichen gegeben war, sollten sie aufsteigen und unter dem Geheul der Zuschauer,



Die Reiter entluden ihre langen Flinten… (S. 521.)


dem betäubenden Lärm der Instrumente, Flintenfeuer und beim Aufleuchten der vielfarbigen Fackeln unschädliche Steine aus fester Erde auf ihre Getreuen fallen lassen.

Pointe Pescade kannte das Programm dieses Festes und dieses Programm hatte in ihm den Gedanken rege gemacht, eine Rolle in demselben zu spielen. Er konnte unter solchen Umständen am Leichtesten in das Innere des Hauses Sidi Hazam’s dringen.

Sobald die Sonne untergegangen war, gab ein auf der Festung Tripoli gelöster Kanonenschuß das von den Massen auf Sung-Ettelateh sehnsüchtig erwartete Signal.

Der Doctor, Peter und Luigi wurden zuerst halb betäubt von dem, das Trommelfell zerreißenden, ringsherum sich erhebenden Lärm, dann fast geblendet von den tausenden von Lichtern, die auf der ganzen Ebene erglänzten.

Als der Kanonenschuß fiel, war die ganze Menge der Nomaden noch mit der Zurichtung ihres Abendbrotes beschäftigt gewesen. Hier gab es gerösteten Hammel und gekochte Hühner für die, welche Türken waren oder als solche erscheinen wollten; dort Kuskussu für die wohlhabenderen Araber; für die große Masse der armen Teufel, die in ihren Taschen mehr Kupfermahbubs als Geldmittel hatten, gab es eine einfache »Bazihna«, eine Art mit Oel durchsetzten Gerstenschleimes; in Strömen floß der »Lagby«, das aus dem Dattelbaume gezogene Getränk, welches, in den Zustand des alkoholhaltigen Bieres versetzt, vollständig berauschend wirkt.



Kap Matifu stand unerschütterlich. (S. 524.)


Einige Minuten nach Abfeuerung des Schusses waren Männer, Frauen, Kinder. Türken, Araber, Neger nicht mehr zu halten. Es bedurfte der ganzen Sonorität der barbarischen Orchester, um dieses menschliche Tohuwabohu noch zu übertönen. Hier und dort sprengten Reiter einher, wobei sie ihre langen Flinten und Sattelpistolen abfeuerten, während Feuerwerkskörper und Kanonenschläge mit geschützartigem Knall explodirten – alles inmitten eines Tumultes, der sich unmöglich beschreiben läßt.

Hier führte beim Scheine der Fackeln, beim Wirbel der Holztrommeln und einem monotonen Singsang ein phantastisch gekleideter Negerführer, dessen Lenden vom Gerassel des an ihm hängenden Knochenschmuckes widertönten, während eine teuflische Maske sein Gesicht verdeckte, an dreißig Grimassen schneidende Schwarze zum Tanze in den Kreis convulsivisch mit den Händen schlagender Frauen.

Wilde Aïssassuyas, die schon auf der letzten Stufe religiösen Wahnsinnes und alkoholischer Trunkenheit angelangt waren, denen der Schaum vor dem Munde stand, die Augen aus ihren Höhlen getreten waren, welche Holz zerkauten und Eisen zerbissen, sich die Haut abschunden und mit glühenden Kohlen jonglirten, umwickelten sich mit langen Schlangen, die sie in die Handgelenke, Knie, Lippen bissen und denen sie das Gleiche thaten, indem sie ihren blutenden Schwanz auffraßen.

Doch bald drängte das Volk in ausgesprochener Weise dem Hause des Sidi Hazam zu, gerade als ob ein neuartiges Schauspiel es dort erwartete.

Zwei Männer, der Eine dick, der Andere dünn – zwei Akrobaten hatten sich dort eingefunden, deren wunderbare, mit Kraft und Geschicklichkeit ausgeführte Exercitien einen vierfachen Kreis von Zuschauern herbeilockten; brausende Hurrahs, wie sie nur tripolitanische Kehlen von sich zu geben im Stande sind, lohnten den Künstlern.

Es waren Pointe Pescade und Kap Matifu. Sie hatten den Schauplatz ihrer Thaten nur wenige Schritte vom Hause des Sidi Hazam entfernt gewählt Beide hatten bei dieser Gelegenheit ihr Handwerk als Meßbudenakrobaten noch einmal ergriffen. Mit Flitterzeug angethan, das sie sich aus arabischen Stoffen zurechtgeschnitten hatten, gingen sie auf neue Erfolge aus.

»Wirst Du auch nicht schon zu steif geworden sein? hatte Pointe Pescade Kap Matifu gefragt.

– Nein, Pointe Pescade, hatte Jener geantwortet.

– Und Du wirst vor keinem Exercitium, welches es auch immer sein mag, zurückschrecken, um diese Dummköpfe zu begeistern?

– Ich?… Zurückschrecken?

– Selbst wenn Du Kieselsteine aufbeißen und Schlangen verzehren solltest?

– Gekochte –? fragte Kap Matifu.

– Nein… rohe.

– Rohe?

– Und lebendige!«

Kap Matifu hatte zwar ein schiefes Gesicht gezogen, aber er war entschlossen, wenn es nicht anders sein konnte, auch lebendige Schlangen zu essen wie der gewöhnlichste Aïssassuya.

Der Doctor, Peter und Luigi, die sich unter die übrigen Zuschauer gemischt hatten, verloren die beiden Genossen nicht aus den Augen.

Nein! Kap Matifu war gewiß nicht steif. Er hatte nichts von seiner wunderbaren Kraft eingebüßt. Zunächst hatten die Schultern von fünf bis sechs Arabern, die sich mit ihm hatten messen wollen, die Erde geküßt.

Dann waren es die Jongleurkunststückchen, welche die Araber entzückten, als entzündete Fackeln zwischen den Händen Kap Matifu’s und Pointe Pescade’s in krausen Linien einherflogen.

Dieses Publicum war gewiß nicht leicht zufrieden zu stellen. Es gab da eine ganz bedeutende Menge von Anhängern der halbwilden Tuaregs, »deren Geschicklichkeit derjenigen der furchtbarsten Thiere dieser Breitengrade gleichkommt«, wie sich die Ankündigung des großartigen Programmes der berühmten Bracco-Truppe ausdrückte. Diese Kenner hatten schon dem unbeugsamen Mustapha, dem Samson der Wüste, dem Kanonenkönige applaudirt, dem »die Königin von England durch ihren Kammerdiener hatte bestellen lassen, er möge seine. Experimente nicht wiederholen, aus Furcht, es könnte ihm ein Unglück zustoßen!« Doch Kap Matifu war in allen seinen Krafttouren unerreichbar und er hatte keine Nebenbuhler darin zu befürchten.

Ein letzter Trick sollte die Begeisterung der die europäischen Künstler umgebenden kosmopolitischen Menge auf die Spitze treiben. Er wird häufig in den Arenen Europas gezeigt, doch den tripolitanischen Gaffern war er jedenfalls noch unbekannt.

Die Zuschauer drängten so dicht als möglich an die beiden Akrobaten heran, die beim Scheine der Fackeln »arbeiteten«, um nichts von ihren Künsten zu verlieren.

Kap Matifu ergriff eine fünfundzwanzig bis dreißig Fuß lange Stange und hielt sie vertical mit seinen fest auf die Brust gestemmten Fäusten. An der Spitze dieser Stange, auf welche Pointe Pescade mit affenartiger Geschwindigkeit geklettert war, balancirte dieser in ausnehmend kühnen Stellungen, während er das obere Ende dadurch in beunruhigender Weise herunterbog.

Kap Matifu jedoch stand unerschütterlich; er fußte nur langsam hin und her, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Gerade als er sich dicht an der Mauer des Hauses von Sidi Hazam befand, hatte er noch die Kraft, die Stange auf Armeslänge von sich abzuhalten, während Pointe Pescade in der Haltung eines Siegers dem Publikum Kußfinger zuwarf.

Die durchaus bezauberte Menge der Araber und Neger heulte, klatschte in die Hände und trampelte mit den Füßen. Niemals hatte der Samson der Wüste, der unbeugsame Mustapha, der Kühnste der Tuaregs, sich zu einer solchen Leistung aufgeschwungen.

Plötzlich tönte ein zweiter Kanonenschuß von den Wällen der Festung Tripoli hinüber. Bei diesem Zeichen erhoben sich die plötzlich aus den Netzen, in denen sie gefangen gehalten worden waren, losgelassenen hunderte von Störchen in die Lüfte und ein Hagel falscher Steine prasselte auf die Ebene herunter inmitten des betäubenden Concerts überirdischen Geklappers, das mit nicht weniger großer Heftigkeit gegen das irdische Getöse ankämpfte.

Damit war der Höhepunkt des Festes erreicht, der Paroxismus stieg auf den Gipfel. Man konnte dreist behaupten, daß alle Irrenhäuser der Erde ihre Insassen auf die Ebene von Sung-Ettelateh bei Tripolis ausgespieen hätten.

Nur die Behausung des Moqaddem war, als wenn man in ihr taub und stumm gewesen wäre, während der Stunden allgemeinen Vergnügtseins nicht geöffnet worden, kein Einziger der Anhänger des Sidi Hazam hatte sich an der Thür oder auf den Terrassen gezeigt.

Aber o Wunder! Gerade als die Fackeln nach dem Aufsteigen der Störche plötzlich erloschen, war auch Pointe Pescade plötzlich verschwunden, gerade als wenn er mit den treuen Thieren des Propheten Suleyman den Flug in die Lüfte gemacht hätte.

Was war aus ihm geworden?

Kap Matifu sah nicht so aus, als ob er gerade sehr besorgt wegen dieses Ereignisses wäre. Nachdem er seine Stange fortgeschnellt hatte, fing er sie an ihrem anderen Ende wieder auf und ließ sie, wie ein Tambourmajor, um die Finger wirbeln. Das Verschwinden Pointe Pescade’s schien für ihn das natürlichste Ding auf Erden zu sein.

Das Erstaunen der Zuschauer war natürlich nun noch ein größeres und ihr Enthusiasmus endete in einem so brausenden Hurrah, daß man es über den Saum der Oase hinaus noch hörte. Keiner von ihnen zweifelte daran, daß der Akrobat einen kleinen Ausflug durch die Lüfte in das Königreich der Störche gemacht habe.

Hat nicht das Unerklärliche stets den größten Reiz für die große Menge?

Drittes Capitel. Das Haus des Sidi Hazam.

Es ging auf neun Uhr. Musketenfeuer, Gelärm, Musik, Alles war plötzlich verstummt. Die Menge begann sich zu verlaufen. Die Einen kehrten nach Tripoli zurück, die Anderen suchten die Oase von Mendsehje und die benachbarten Ortschaften zu erreichen. Ehe eine Stunde um war, lag die Ebene von Sung-Ettelateh schweigsam und verlassen da. Die Zelte waren zusammengelegt, die Lagerstätten abgebrochen worden, die Neger und Araber hatten sich schon auf den Marsch nach ihren Provinzen in Tripolis gemacht, während die Senusisten sich der Cyrrhenäischen Halbinsel und namenlich Ben-Ghazi zuwendeten, woselbst sich alle Streitkräfte des Khalifen sammeln sollten.

Der Doctor Antekirtt, Peter und Luigi nur beabsichtigen den Platz während der ganzen Nacht nicht zu verlassen. Auf jedes Ereigniß seit dem Verschwinden Pointe Pescade’s gefaßt, hatte Jeder von ihnen alsbald seinen Beobachtungsposten am Fuße der Mauern des Hauses von Sidi Hazam selbst gewählt.

Pointe Pescade, der mit einem staunenswerthen Satze in dem Augenblick als Kap Matifu die Stange mit gestreckten Armen hielt, sich abgeschnellt hatte, war auf den Kranz einer der Terrassen gefallen, welche das die verschiedenen Höfe des Hauses beherrschende Minaret umgaben.

Inmitten der dunklen Nacht hatte ihn Niemand weder von außen noch vom Hause aus sehen können, nicht einmal von der Skifa; diese lag auf dem zweiten Patio, in welchem eine Anzahl von Khuans, theils schlafend, theils auf Befehl des Moqaddem wachend vereinigt war.

Pointe Pescade konnte begreiflicher Weise sich keinen feststehenden Plan zurechtgelegt haben, denn die verschiedenartigsten Umstände konnten eintreten und das Lustgebäude über den Haufen werfen. Die innere Eintheilung des Hauses Sidi Hazam’s war ihm nicht bekannt, er wußte ferner nicht, wo das junge Mädchen eingeschlossen war, ob sie allein sich befand oder bewacht wurde und ob ihr die physische Kraft zur Flucht nicht abgehen würde. Er sah sich deshalb genöthigt, auf gut Glück vorzugehen. Seine Ueberlegungen lauteten:

»Ich muß vor Allem, entweder mit List oder Gewalt, zu Sarah Sandorf dringen. Wenn sie mir nicht unverzüglich folgen kann, wenn es mir nicht gelingt, sie heute Nacht noch zu entführen, so soll sie wenigstens erfahren, daß Peter Bathory am Leben, daß er hier, am Fuße dieser Mauern sich befindet, und daß Doctor Antekirtt und seine Genossen bereit sind, ihr zu Hilfe zu kommen; schließlich, daß sie, wenn die Flucht nicht so schnell zu ermöglichen ist, keiner Drohung nachgeben soll…. Es ist ja allerdings möglich, daß ich, noch ehe ich sie sehen und sprechen kann, überrascht werde…. Doch dann habe ich noch immer Zeit, andere Entschlüsse zu fassen.«

Er sprang über die Brustwehr, eine Art weißschimmernden Wulstes, den Mauerzinnen durchbrachen. Seine erste Sorge war es nun, einen dünnen, mit Knoten versehenen Strick abzuwickeln, welchen er unter seinem leichten Clowngewande verborgen gehabt hatte; er befestigte das eine Ende an einer der Zinnen, so daß er außerhalb der Mauer bis zum Boden hinabhing. Es war das eine Vorsichtsmaßregel, die nur gutzuheißen war. Darauf wagte sich Pointe Pescade weiter vor und zwar kroch er auf dem Bauche die Brustwehr entlang. In dieser Stellung, welche ihm die Klugheit eingab, lauschte er mit angehaltenem Athem. Wenn er gesehen worden wäre, hätten die Leute Sidi Hazam’s gewiß bereits die Mauer erstiegen, und in diesem Falle konnte er für sein Theil schwerlich den Strick benützen, aus dem er ein Rettungsmittel für Sarah Sandorf hatte machen wollen.

Ein tiefes Schweigen herrschte im Hause des Moqaddem. Da weder Sidi Hazam, noch Sarcany, noch die Leute des Ersteren Theil an dem Feste der Störche genommen, so hatte sich die Thür der Zauiya seit Sonnenaufgang noch nicht geöffnet.

Nachdem Pointe Pescade einige Minuten gewartet, rutschte er nach der Ecke hin, in welcher das Minaret aufstieg. Die Treppe, welche den oberen Theil dieses Minarets zugänglich machte, führte jedenfalls zum Erdboden des ersten Patio hinunter. Eine Thür, die auf die Terrasse führte, ermöglichte das Herabsteigen zu den Erdgeschossen der inneren Höfe.

Diese Thür war von innen verschlossen, nicht mittelst eines Schlüssels – sondern mit einem Riegel, der von außen nur aufgestoßen werden konnte, wenn ein Loch in den Thürflügel gebohrt wurde. Mit dieser Arbeit hätte Pointe Pescade ganz gewiß fertig werden können, denn in seiner Tasche steckte ein mit den verschiedenartigsten Klingen versehenes Messer, ein kostbares Geschenk des Doctors, das er gut gebrauchen konnte. Aber die Arbeit hätte längere Zeit in Anspruch genommen und wahrscheinlich ein Geräusch verursacht.

Sie war auch unnöthig. Denn in einer Höhe von drei Fuß über der Terrasse befand sich in der Mauer des Minarets ein Lichtfenster in Form einer Schießscharte. Es hatte zwar nur einen geringen Durchmesser, aber auch Pointe Pescade war nur dünn. Besaß er im Uebrigen nicht auch die Gewandtheit einer Katze, die im Stande ist, ihren Körper zu verlängern, wenn sie einen kaum passirbar erscheinenden Weg zu nehmen wünscht? Er versuchte und mit einigen Abschürfungen der Schulter ging es: er befand sich bald im Innern des Minarets.

»Das hätte Kap Matifu gewiß nicht fertig bekommen,« konnte er zu sich selbst mit vollem Rechte sagen.

Er tastete sich bis zur Thür, deren Riegel er zurückschob um sie offen vorzufinden, wenn es nöthig sein sollte, auf demselben Wege zurückzukehren.

Er stieg die Wendeltreppe des Minarets hinunter und zwar ließ er sich gleiten, so daß er die Holzstufen kaum zu berühren brauchte, die vielleicht unter seinen Tritten geknarrt hätten. Unten angelangt, sah er wiederum eine geschlossene Thür vor sich, doch diese brauchte er nur aufzustoßen, damit sie sich öffnete.

Diese Thür führte auf eine Colonnadenreihe, welche nur den ersten Patio einschloß; in ihr mündeten eine Anzahl Zimmer. Nach der auf der Treppe herrschenden vollständigen Dunkelheit erschien diese Umgebung in einem doppelt so hellen Lichte. Im Uebrigen zeigte sich im Innern weder ein Licht noch hörte man irgend etwas.

In der Mitte des Patio befand sich ein rundes Springbrunnenbassin, umgeben von großen Blumenkübeln, aus denen die verschiedenartigsten Staudengewächse. Pfeffersträucher, Palmen, Rosenlorbeer, Cactusse sproßten, deren dichtes Grün einen Wald um den Rand des Bassins zu bilden schien.



Pointe Pescade kroch die Brustwehr entlang… (S. 526.)


Pointe Pescade schlich mit den Tritten eines Wolfes durch die Galerie, indem er vor jedem Zimmer stehen blieb. Sie schienen unbewohnt zu sein. Doch nicht alle, denn hinter der Thür des letzten ließ sich ein Gemurmel menschlicher Stimmen vernehmen.

Pointe Pescade wich zunächst zurück. Es war Sarcany’s Stimme – dieselbe, die er in Ragusa mehrfach vernommen hatte; obwohl er sein Ohr an die Thür legte, konnte er doch nichts von dem, was dort im Zimmer verhandelt wurde, hören.



Es war der Moqaddem selbst, der mit Sarcany sprach. (S. 530.)


Jetzt ließ sich ein stärkeres Geräusch vernehmen. Blitzschnell eilte Pointe Pescade zurück und duckte hinter einem der großen, um das Bassin vertheilten Blumenkübel nieder.

Sarcany öffnete soeben die Thür des betreffenden Zimmers. Ein hochgewachsener Araber begleitete ihn. Beide setzten ihre Unterhaltung auf ihrem Spaziergange in der Galerie des Patio fort.

Unglücklicherweise konnte Pointe Pescade nicht verstehen, wovon sich Sarcany und sein Begleiter unterhielten, denn sie bedienten sich der arabischen Sprache, deren er nicht mächtig war. Zwei Worte jedoch schlugen an sein Ohr, die er verstand: der Name Sidi Hazam’s – es war in der That der Moqaddem selbst, der mit Sarcany plauderte – und derjenige Antekirtta’s, der mehrfach in der Unterhaltung wiederkehrte.

»Das ist zum Mindesten befremdlich, sagte sich Pointe Pescade. Warum sprechen sie von Antekirtta?… Sollten Sidi Hazam, Sarcany und alle Piraten von Tripolis wirklich eine Expedition gegen unsere Insel unternehmen wollen? Tausend Teufel! Muß man auch gerade nichts von der Sprache verstehen, welche die beiden Schufte dort reden!«

Pointe Pescade gab sich Mühe, noch ein anderes verdächtiges Wort aufzufangen, während er sich ganz in die Pflanzen verkroch, als Sarcany und Sidi Hazam sich dem Bassin näherten. Die Nacht war so dunkel, daß sie ihn nicht sehen konnten.

»Wenn Sarcany noch allein in diesem Hofe gewesen wäre, sprach er weiter zu sich, dann hätte ich ihm an die Gurgel springen und ihn unschädlich machen können. Damit wäre aber Sarah Sandorf allerdings nicht geholfen gewesen und ihretwegen habe ich eigentlich den waghalsigen Sprung unternommen… Geduld… Sarcany kommt später an die Reihe.«

Die Unterhaltung Sidi Hazam’s mit Sarcany dauerte vielleicht zwanzig Minuten. Der Name Sarah’s wurde wiederholt ausgesprochen und zwar stets mit dem Zusatze eines arabischen Wortes, welches, wie er gehört, die Bedeutung »verlobt« hat. Der Moqaddem kannte ersichtlich Sarcany’s Pläne und lieh diesem hilfreiche Hand.

Dann zogen sich beide Männer durch eine der Eckthüren des Patio zurück, welche diese Galerie mit den anderen Flügeln in Verbindung setzte.

Sobald sie verschwunden waren, glitt auch Pointe Pescade diese Galerie entlang und blieb vor derselben Thür stehen. Er stieß sie auf und befand sich vor einem schmalen Gange, welchem er folgte, indem er sich an der Mauer entlang tastete. An seinem Ende breitete sich eine doppelte Arkade aus; sie wurde von einer Centralsäule getragen, die den Eingang zum Hofe vermittelte.

Helles Licht strahlte aus den Oeffnungen der Skifa, die auf den Patio hinausführten und spiegelte seine Reflexe auf dem Boden wider. Es wäre nicht gerathen gewesen, sie jetzt zu überschreiten. Ein Gemurmel zahlreicher Stimmen wurde hinter der geschlossenen Thür dieses Saales vernehmbar.

Pointe Pescade zögerte einen Augenblick. Was er suchte, war das Zimmer, in welchem Sarah gefangen gehalten wurde; er konnte kaum noch darauf zählen, daß es der Zufall ihm entdeckte.

Plötzlich tauchte grell ein Licht am anderen Ende des Hofes auf. Eine Frau, die eine arabische, mit Kupferzierrathen und Scheiben ausgestattete Laterne trug, kam aus einem in der gegenüberliegenden Ecke des Patio befindlichen Zimmer und ging durch die Galerie, auf welche sich die Thür der Skifa öffnete… Pointe Pescade erkannte diese Frau sofort wieder… es war Namir.

Da es möglich war, daß diese sich in das Zimmer begab, in welchem sich das junge Mädchen befand, so mußte ein Mittel erdacht werden, welches ermöglichte, ihr zu folgen, und um ihr zu folgen, mußte sie vorübergelassen werden, ohne daß sie ihn bemerken konnte. Dieser Augenblick mußte über das kühne Unterfangen Pointe Pescade’s und über das Schicksal Sarah Sandorf’s entscheiden.

Namir kam näher. Ihre, fast den Boden erreichende Laterne tauchte die obere Galerie in um so größere Dunkelheit, je heller das Mosaikpflaster beleuchtet war. Da sie unter den Arkaden entlang gehen mußte, so wußte Pointe Pescade in der That nicht, was er beginnen sollte; plötzlich zeigte ihm ein aus der Laterne fallender Strahl, daß der obere Theil der Arkade aus durchbrochenen Arabesken in maurischem Geschmacke bestand.

Auf die Mittelsäule klettern, sich an eine der Arabesken klammern, mit Hilfe der Armmuskeln einen Aufzug machen, sich um den Säulenschaft legen und dort unbeweglich wie ein Heiliger in seiner Nische verharren, war für Pointe Pescade das Werk eines Augenblickes.

Namir ging unter ihm vorüber, ohne ihn zu sehen und erreichte die gegenüberliegende Seite der Galerie. Vor der Thür der Skifa angekommen, öffnete sie diese.

Ein blendender Lichtstrahl fiel in den Hof und erlosch sofort, als sich die Thür wieder geschlossen hatte.

Pointe Pescade überlegte – hätte er einen besseren Ort dazu finden können, als den unfreiwillig gewählten?

»Namir ist also in diesen Saal gegangen, meinte er. Ersichtlich wird sie sich nicht in Sarah Sandorf’s Zimmer begeben. Vielleicht aber ist sie aus demselben gekommen und in diesem Falle müßte das in der Ecke dort das betreffende sein… Wir wollen uns gleich überzeugen.«

Pointe Pescade wartete noch einige Augenblicke, ehe er seinen Zufluchtsort aufgab. Das Licht im Innern der Skifa schien allmälig an Intensität nachzulassen und auch das Gewirr der Stimmen beschränkte sich jetzt auf ein schwaches Gemurmel. Die Stunde war wohl gekommen, in der das ganze Personal des Sidi Hazam sich zur Ruhe begab. Die Umstände waren also so günstig als möglich, um die That auszuführen, denn dieser ganze Theil des Hauses versank bereits in Schweigen, trotzdem noch nicht der letzte Lichtschimmer verblichen war. Doch auch das geschah. Pointe Pescade ließ sich an der Säule der Arkade heruntergleiten, und schlüpfte auf dem Fußboden der Galerie an der Thür der Skifa vorüber; er ging um den Patio herum und erreichte in der gegenüberliegenden Ecke das Zimmer, aus welchem Namir getreten war.

Pointe Pescade öffnete die Thür, die kein Schlüssel verschloß. Beim Scheine einer arabischen Lampe, die in ihrem matten Glase einer Nachtlampe ähnelte, nahm er hastig das Zimmer in Augenschein.

Einige Decken, die an den Wänden hingen, hier und dort Fußbänke in maurischer Form, in den Ecken aufgehäufte Kissen, ein über den Mosaikboden gebreiteter doppelter Teppich, ein niedriger Tisch, der noch die Reste einer Mahlzeit trug, ein mit einem Wollstoff bedeckter Divan – Alles das sah Pointe Pescade zunächst.

Er trat ein und schloß die Thür.

Eine weibliche Gestalt – sie ruhte wohl mehr als daß sie wirklich schlief – lag halb bedeckt von einem jener Burnusse, in welche sich die Araber gewöhnlich vom Kopf bis zu den Füßen zu hüllen pflegen, auf dem Divan.

Es war Sarah Sandorf.

Pointe Pescade erkannte das junge Mädchen ohne Bedenken wieder, denn er war ihm oft genug in den Straßen von Ragusa begegnet, doch wie hatte es sich seit jener Zeit verändert! Seine bleiche Farbe, dieselbe, die es in dem Augenblick bedeckte, als der Hochzeitswagen mit dem Leichenzuge Peter Bathory’s zusammenstieß, Sarah’s Haltung, ihr trauriges Aussehen, ihre unnatürliche Betäubung – Alles das verrieth deutlich, was sie gelitten haben mußte und noch litt.

Kein Augenblick war zu verlieren.

Da die Thür nicht verschlossen gewesen, so war anzunehmen, daß Namir in jedem Augenblicke zurückkehren konnte. Die Marokkanerin bewachte sie augenscheinlich Tag und Nacht. Unnütze Vorsicht; selbst wenn das junge Mädchen dieses Zimmer verlassen hätte, wie sollte sie es ermöglichen, ohne eine von draußen kommende Hilfe zu entfliehen? Das ganze Haus Sidi Hazam’s wurde bewacht wie ein Gefängniß.

Pointe Pescade beugte sich über den Divan. Er war nicht wenig betroffen von der Aehnlichkeit Sarah’s mit dem Doctor Antekirtt – die ihm bisher nicht aufgefallen war.

Das junge Mädchen öffnete die Augen.

Als Sarah einen vor ihr stehenden Fremden in einem sonderbaren Akrobatencostüm erblickte, der den Finger auf die Lippen drückte, den Blick flehend auf sie richtete, da war sie zunächst mehr bestürzt als wirklich erschrocken. Sie richtete sich auf, hatte aber die Geistesgegenwart, nicht zu rufen.

»Schweigen Sie! bat Pointe Pescade. Sie haben nichts zu befürchten. Ich komme her, um Sie zu retten… Hinter diesen Mauern erwarten Ihre Freunde Sie, Freunde, die sich gern tödten lassen, nur um Sie den Händen Sarcany’s zu entreißen… Peter Bathory lebt…

– Peter… lebt? rief Sarah. Die Schläge ihres Herzens schienen zu stocken.

– Lesen Sie!«

Pointe Pescade reichte dem jungen Mädchen einen Zettel hin, auf dem die Worte standen:

»Sarah, vertrauen Sie sich dem an, der mit Gefahr seines Lebens zu Ihnen dringt…. Ich bin am Leben…. Ich bin hier…

Peter Bathory.«

Peter am Leben! Er am Fuße der Mauern. Durch welches Wunder?… Sarah sollte es später erfahren… Eines genügte vorläufig, Peter war da!

»Wir wollen fliehen! rief sie.

– Ja, wir wollen fliehen, antwortete Pointe Pescade, aber unter für uns günstigen Umständen. – Eine Frage gestatten Sie: Bringt Namir die Nacht gewöhnlich in diesem Zimmer zu?

– Nein, erwiderte Sarah.

– Gebraucht sie die Vorsicht, Sie einzuschließen, wenn sie längere Zeit abwesend ist?

– Ja.

– So wird sie also zurückkehren?

– Ja… Lassen Sie uns fliehen!

– Sofort,« sagte Pointe Pescade.

Vor Allem mußte die Treppe zum Minaret und die Terrasse erreicht werden, welche auf der Seite der Ebene lag.

Einmal da, konnte mit Hilfe der Leine, die an der Außenwand der Mauer bis zur Erde hing, die Flucht leicht bewerkstelligt werden.

»Kommen Sie!« sagte Pointe Pescade und nahm Sarah bei der Hand.

Er schickte sich an, die Thür des Zimmers zu öffnen, als sich auf den Fliesen der Galerie Schritte vernehmen ließen. Gleichzeitig hörte man einige Worte in befehlerischem Tone sprechen. Pointe Pescade hatte die Stimme Sarcany’s erkannt, er blieb auf der Schwelle der Thür stehen.

»Er ist es… er ist es…, flüsterte das junge Mädchen. Sie sind verloren, wenn er Sie hier findet.

– Er wird mich nicht finden,« gab Pointe Pescade zurück.

Der geschickte Jüngling warf sich zu Boden und mit Hilfe eines Akrobatenknisses, den er oft genug in den Jahrmarktsbuden gezeigt, wickelte er sich in einen der am Boden liegenden Teppiche und rollte sich in die dunkelste Ecke des Zimmers.

Die Thür öffnete sich gerade vor Sarcany und Namir und schloß sich hinter ihnen.

Sarah hatte ihren Platz auf dem Divan wieder eingenommen. Was wollte Sarcany zu solcher Zeit von ihr? Wollte er neue Gründe vorbringen, die ihre Weigerung hinfällig machen sollten?… Sarah war jetzt stark! Sie wußte, daß Peter lebte und sie draußen erwartete!

Pointe Pescade konnte unter dem Teppiche Alles hören, wenn er auch nichts sehen konnte.

»Sarah, sagte Sarcany, wir werden morgen Mittag dieses Haus verlassen und einen anderen Wohnort uns suchen. Doch will ich nicht von hier fortgehen, bevor Sie nicht in unsere Ehe gewilligt haben, bevor nicht die Heirat vollzogen ist. Alles ist bereit, sie kann jetzt im Augenblick…

– Weder jetzt noch später, antwortete das junge Mädchen mit ebenso gelassener Stimme als entschiedenem Tone.

– Sarah, fuhr Sarcany fort, als hätte er absichtlich ihre Antwort überhört, in unserem beiderseitigen Interesse muß Ihre Einwilligung eine freiwillige sein, in unserem beiderseitigen Interesse, verstehen Sie mich wohl?…

– Wir haben noch nie ein gemeinsames Interesse gehabt und werden auch nie eines haben.

– Hüten Sie sich!… Ich erinnere Sie an die Einwilligung, die Sie zur Zeit in Ragusa ausgesprochen haben…

– Aus Gründen, die heute nicht mehr maßgebend sind.

– Hören Sie mich, Sarah, sagte Sarcany, dessen scheinbare Ruhe nur schlecht den mühsam verhaltenen, gewaltigen Zorn verbarg, zum letzten Male bitte ich Sie um Ihre Einwilligung…

– Ich werde sie verweigern, so lange ich die Kraft dazu haben werde… – Nun gut, diese Kraft wird man Ihnen nehmen, schrie Sarcany. Treiben Sie mich nicht zum Aeußersten! Diese Kraft, deren Sie sich gegen mich bedienten, wird Namir zu vernichten wissen und gegen Ihren Willen, wenn es sein muß! Leisten Sie mir weiter keinen Widerstand, Sarah!… Der Imam ist hier, um unsere Heirat nach der Sitte dieses Landes, welches meine Heimat ist, zu vollziehen…. Folgen Sie mir also!«

Sarcany ging auf das junge Mädchen zu, die hastig aufgesprungen und bis an die hinterste Wand des Zimmers zurückgewichen war.

»Elender! rief sie.

– Sie werden mir folgen!… Sie werden folgen! wiederholte Sarcany, der jede Herrschaft über sich selbst verloren hatte.

– Niemals!

– Nehmen Sie sich in Acht!«

Sarcany hatte ihren Arm gepackt und bemühte sich in Gemeinschaft mit Namir Sarah mit Gewalt in die Skifa zu schleppen, wo Sidi Hazam und der Imam Beide erwarteten.

»Zu Hilfe!… Zu Hilfe! schrie Sarah. Zu Hilfe, Peter Bathory!

– Peter Bathory! schrie Sarcany. Du rufst einen Todten zu Deiner Hilfe?

– Nein… er lebt!… Zu Hilfe, Peter!«

Diese Antwort flößte Sarcany einen jähen Schrecken ein; die Erscheinung seines Opfers hätte ihm wahrscheinlich keine größere Furcht eingeflößt als dieser Ausruf. Doch kam er schnell wieder zu sich. Peter Bathory am Leben!… Peter, den er mit eigener Hand niedergestochen, dessen Körper er auf den Kirchhof von Ragusa hatte tragen sehen…. Das konnte nur der Einfall einer Wahnsinnigen sein und möglich war es ja, daß Sarah in einer Anwandlung von Verzweiflung den Verstand verloren hatte.

Pointe Pescade hatte die ganze Unterredung angehört. Damit, daß Sarah Sarcany verrieth, Peter wäre am Leben, spielte Sarah um ihr Leben; das war gewiß. Für den Fall, daß der Elende seine rohen Angriffe erneuerte, hielt er sich bereit, mit dem Messer in der Hand zu erscheinen. Wer ihn für fähig gehalten hätte, noch zu zaudern, Jenen niederzustechen, der kannte Pointe Pescade schlecht.

Doch kam es nicht dahin. Sarcany zog Namir in schroffer Weise mit sich fort. Das Zimmer wurde mittelst eines Schlüssels verschlossen, das junge Mädchen, dessen Schicksal sich nun entscheiden mußte, war gefangen.

Pointe Pescade hatte den Teppich abgeworfen und war mit einem Satze auf den Beinen.

»Kommen Sie!« sagte er zu Sarah.

Da das Schloß der Thür sich innerhalb des Zimmers befand, so deckte der geschickte Mensch es schnell und ohne Geräusch mit Hilfe des Schraubenziehers an seinem Messer auf.

Sobald die Thür geöffnet und hinter ihnen wieder geschlossen worden war, ging Pointe Pescade dem jungen Mädchen voran die Galerie entlang, der Mauer des Patios folgend.–

Es konnte elfundeinhalb Uhr Nachts sein. Etwas Helligkeit schimmerte noch durch die Oeffnungen der Skifa. Pointe Pescade vermied es daher, an diesem Saale vorüberzugehen, um in der entgegengesetzten Ecke den Gang zu erreichen, der sie auf den vordersten Hof des Hauses bringen mußte.

Beide durchschritten den Gang bis zu seinem Ende. Sie hatten bis zur Thür des Minarets nur noch einige Schritte zurückzulegen, als Pointe Pescade plötzlich stillstand und Sarah zurückhielt, deren Hand nicht aus der seinigen gekommen war.

Drei Männer wandelten auf diesem Hofe um das Bassin. Der Eine derselben – es war Sidi Hazam – ertheilte den beiden Anderen soeben einen Befehl. Sofort verschwanden Beide auf der Treppe des Minarets, während der Moqaddem in eines der Zimmer des Erdgeschosses zurückkehrte. Pointe Pescade begriff, daß Sidi Hazam es sich angelegen sein ließ, die Ausgänge seiner Behausung überwachen zu lassen. Wenn er mit dem jungen Mädchen auf der Terrasse erscheinen würde, war sie gewiß schon besetzt und bewacht.

»Es muß trotzdem gewagt werden, sagte Pointe Pescade.

– Ja… Alles!« antwortete Sarah.

Beide durchschritten die Galerie und erreichten die Treppe, die sie mit äußerster Vorsicht hinaufstiegen. Als Pointe Pescade auf der obersten Sprosse angelangt war, blieb er stehen. Kein Geräusch, nicht einmal der Schritt einer Schildwache war auf der Terrasse hörbar.



Pointe Pescade ging dem jungen Mädchen voran. (S. 536.)


Pointe Pescade öffnete leise die Thür und von Sarah gefolgt, glitt er längs der Zinnen dahin.

Plötzlich wurde von der Höhe des Minarets seitens eines dort postirten Wächters ein Schrei ausgestoßen. Im selben Augenblick sprang ein zweiter auf Pointe Pescade, während Namir auf die Terrasse stürzte und das Personal Sidi Hazam’s durch die inneren Höfe der Behausung strömte.

Sollte sich Sarah ergreifen lassen? Nein…. Wurde sie von ihm ergriffen, so war sie verloren…. Hundertmal zog sie den Tod vor.

Das muthige Mädchen empfahl ihre Seele Gott, stürzte auf die Brustwehr und sich ohne Zögern in die Tiefe hinunter.

Pointe Pescade war es nicht möglich, den Sturz zu verhindern; es gelang ihm aber, sich den Mann abzuschütteln, der ihn gepackt hatte, den Strick zu fassen und sich blitzschnell herunterzulassen; in einer Secunde stand er am Fuße der Mauer.

»Sarah!… Sarah! rief er.

– Hier ist das Fräulein! antwortete eine ihm sehr bekannte Stimme Sie hat sich nichts gethan…. Ich war zur Stelle, um sie…«

Ein Wutschrei, dem ein dumpfer Aufschlag folgte, schnitt Kap Matifu das Wort ab.

Namir hatte in einem Anfalle von Wildheit die Beute nicht fahren lassen wollen, die ihr zu entschlüpfen drohte; sie zerschmetterte ihr Gehirn am Boden. Sarah hätte vielleicht dasselbe Schicksal gedroht, wenn nicht zwei kräftige Arme sie vor dem fürchterlichen Sturze bewahrt haben würden.

Doctor Antekirtt, Peter und Luigi hatten sich Kap Matifu und Pointe Pescade, die dem Ufer zuflohen, angeschlossen. Sarah wog, obgleich sie ohnmächtig war, so gut wie nichts in den Armen ihres Retters.

Einige Augenblicke später trat Sarcany mit einer Handvoll wohlbewaffneter Leute die Verfolgung der Flüchtlinge an.

Als diese Schaar am Rande der kleinen Bai ankam, auf welcher der »Electric« geankert hatte, befand sich der Doctor mit seinen Genossen schon an Bord; einige Drehungen der Schraube des Schiffes brachten dasselbe bald aus dem Bereiche jeglicher Gefahr.

Sarah, die mit dem Doctor und Peter allein geblieben war, kam bald wieder zu sich. Sie erfuhr jetzt, daß sie die Tochter des Grafen Mathias Sandorf wäre, daß sie in den Armen ihres Vaters läge.

Viertes Capitel. Antekirtta.

Fünfzehn Stunden nach Verlassen des tripolitanischen Gestades wurde der »Electric 2« von den Küstenwachen Antekirtta’s avisirt; am Nachmittage drehte er im Hafen bei.

Man begreift unschwer, welcher Empfang dem Doctor und seinen Getreuen bereitet wurde.

Obwohl Sarah sich außer dem Bereiche jeglicher Gefahr befand, wurde dennoch beschlossen, daß man ein unverbrüchliches Schweigen über die Bande beobachten wollte, welche sie mit dem Doctor Antekirtt verbanden.

Graf Mathias Sandorf wollte bis zum vollständigen Gelingen seines Werkes unerkannt bleiben. Doch es genügte, daß Peter, der sein Sohn geworden war, öffentlich mit Sarah Sandorf verlobt wurde, um eine allgemeine Freude, rührende Kundgebungen, sowohl im Stadthause als in der ganzen Stadt Artenak hervorzurufen.

Man möge auch nachfühlen, was Frau Bathory empfand, als ihr Sarah nach so vielen Prüfungen zurückgegeben wurde. Das junge Mädchen erholte sich schnell; einige wenige Tage des Glückes stellten es bald wieder her.

Pointe Pescade hatte sein Leben für Sarah gewagt, darüber konnte kein Zweifel herrschen. Da er das ganz natürlich fand, so war jede Möglichkeit, ihm in anderer Weise als in Worten Dank abzustatten, ausgeschlossen. Peter hatte ihn an sein Herz gezogen und der Doctor Antekirtt ihn mit so liebevollen Blicken angesehen, daß er nichts weiter hören wollte. Er schob übrigens seiner Gewohnheit gemäß das ganze Verdienst bei dem Unternehmen Kap Matifu zu.

»Ihm muß man danken, sagte er wiederholt. Er hat Alles gethan. Wenn mein Kap nicht so große Geschicklichkeit beim Balanciren der Ruthe gezeigt hätte würde ich nie mit einem Satze in das Haus dieses Schurken Sidi Hazam geflogen sein, und Sarah Sandorf hätte sich bei ihrem Sturze das Leben genommen, wenn mein Kap sie nicht in seinen Armen aufgefangen haben würde.

– Bitte… bitte…, sagte Kap Matifu darauf. Du gehst etwas zu weit, und Deine Idee von…

– Schweige doch, Kap, nahm Pointe Pescade wieder das Wort. Teufel auch! Ich bin nicht stark genug, um Complimente dieses Kalibers auszuhalten, während Du… Komm, wir wollen unseren Garten pflegen!«

Und Kap Matifu schwieg; er kehrte in sein niedliches Landhaus zurück und schließlich nahm er die Glückwünsche an, die man ihm aufzwang, »um dem kleinen Pescade nicht ungehorsam zu sein«.

Es wurde beschlossen, daß die Hochzeit Sarah’s und Peter’s in kurzer Frist, bereits am 9. December, gefeiert werden sollte. Peter, als Gatte Sarah’s, sollte dann die Anerkennung ihrer Rechte betreiben, um die Erbschaft des Grafen Sandorf antreten zu können. Der Brief Frau Toronthal’s konnte über die Abstammung des jungen Mädchens keinen Zweifel aufkommen lassen und wenn es nöthig sein sollte, würde der Banquier eine formelle Erklärung abgeben müssen. Zweifellos sollte die Constatirung deshalb erst in der genannten Frist erfolgen, weil Sarah noch nicht das Alter zur Geltendmachung ihrer Rechte erreicht hatte. Erst sechs Wochen später wurde sie achtzehn Jahre alt.

Ueber das Schicksal des Spaniers Carpena und des Banquiers Silas Toronthal sollte endgiltig erst nach Einlieferung Sarcany’s in die Kasematten von Antekirtta beschlossen werden. Alsdann sollte das Werk der Gerechtigkeit sein Ende erreichen.

Doch zu derselben Zeit, in welcher der Doctor die Mittel überlegte, die ihn an das letzte Ziel bringen mußten, sah er sich ganz nachdrücklich darauf verwiesen, über den wirksamen Schutz seiner kleinen Kolonie nachzudenken. Seine Agenten in Tripolis und auf der Cyrrhenäischen Halbinsel benachrichtigten ihn, daß die senusistische Bewegung einen immer stärker werdenden Umfang annähme, und zwar namentlich in Ben-Ghazi, das der Insel zunächst gelegen ist. Geheime Couriere stellten zwischen Dscherhbub, »diesem neuen Pol der Welt des Islams«, wie Herr Duveyrier dieses metropolitanische Mekka genannt hat, woselbst der gegenwärtige Großmeister des Ordens, Sidi Mohammed El-Mahedi residirte, und den Führern zweiten Ranges in allen Provinzen eine regelmäßige Verbindung her. Da die Senusisten in Wahrheit nichts weiter als würdige Nachkommen der einstigen berberischen Piraten sind, und da sie jedem Europäer einen tödtlichen Haß entgegenbringen, so mußte der Doctor allerdings sehr auf seiner Hut sein.

Den Senusisten und Niemandem sonst müssen die seit zwanzig Jahren in Afrika verübten Greuelthaten und Massenmorde zur Last gelegt werden. Man hat umkommen sehen: Bourman in Kanem im Jahre 1863, Von der Decken und seine Gefährten auf dem Flusse Djuba 1865, Fräulein Alexine Tinné und die Ihrigen 1865 in Uahdi-Abedjuhsch, Dournaux Duperré und Joubert 1874 nahe dem Brunnen von In-Azhar, die ehrwürdigen Väter Paulmier, Bouchard und Ménoret jenseits von In-Cahlah 1876, die Geistlichen Richard, Morat und Pouplard der Mission von Ghadames im Norden von Azdjer, Oberst Flatters, die Hauptleute Masson und de Dianous, den Doctor Guiard, die Ingenieure Beringer und Roche auf der Straße von Marglah im Jahre 1881 – die blutdürstigen Bundesgenossen übersetzten eben die Lehren der Senusisten ins Praktische zum Nachtheile der kühnen Forschungsreisenden.

Ueber diesen Gegenstand unterhielt sich der Doctor oft mit Peter Bathory, Luigi Ferrato, den Kapitänen seiner Flotte, den Führern der Miliz und den Würdenträgern der Kolonie. Würde Antekirtta einem Angriffe widerstehen können? Ja, zweifellos. Obwohl das Ganze der Vertheidigungsanlagen noch nicht beendet worden war und unter der Voraussetzung, daß die Zahl der Angreifer nicht eine zu riesige sein würde. Hatten andererseits die Senusisten einen so großen Vortheil davon, wenn sie sich der Insel bemächtigen konnten? Ja, sie beherrschte den ganzen Golf der Sidra, den die Küsten der Cyrrhenäischen Halbinsel und von Tripolis bilden.

Man wird nicht vergessen haben, daß südöstlich von Antekirtta, in einer Entfernung von zwei Meilen, das Eiland Kencraf aus dem Wasser aufstieg. Dieses Eiland, das man nicht mehr hatte befestigen können, bildete eine Gefahr für den Fall, daß eine feindliche Flotte dasselbe zur Basis ihrer Operationen machen würde. Der Doctor hatte deshalb die Vorsicht gebraucht, es unterminiren zu lassen. Ein furchtbares Zerstörungsmittel füllte jetzt die in die Felsen eingelassenen Flatterminen.

Ein elektrischer Funke, durch den unterseeischen Draht, der Antekirtta mit dem Eiland verband, gesandt, war ausreichend, um Kencraf mit Allem, was sich auf ihm befand, zu vernichten.

Hinsichtlich der sonstigen Vertheidigungsmittel der Insel war Folgendes gethan worden. Die in Gebrauchszustand versetzten Küstenbatterien erwarteten nur noch die abzubeordernden Bedienungsmannschaften der Miliz. Das kleine Fort der Centralstelle war vollständig bereit, aus seinen weittragenden Geschützen das Feuer zu eröffnen. Zahlreiche, in die Durchfahrt versenkte Torpedos vertheidigten den Eingang zum kleinen Hafen. Der »Ferrato« und die drei »Electrics« waren für jedes Ereigniß gerüstet, sei es, um den Angriff zu erwarten oder um eine angreifende Flotte zu durchbrechen.

Einen wunden Punkt jedoch bot die Insel auf ihrer südwestlichen Küste. Auf diesem Theile des Ufers, den das Feuer der Strandbatterie und des Forts nicht bestreichen konnte, war eine Landung möglich.

Dort lag die Gefahr und vielleicht war es bereits zu spät, auch an dieser Stelle umfassende Vertheidigungsarbeiten vorzunehmen.

War es nun auch schon ganz gewiß, daß die Senusisten die Absicht hatten, Antekirtta anzugreifen? Es war das im Grunde genommen keine so leichte Unternehmung, sondern eine gefahrvolle Expedition, die viel Aufwand an Material forderte. Luigi zweifelte noch daran. Er ließ eine daraufhin zielende Bemerkung eines Tages fallen, als der Doctor, Peter und er die Befestigungen der Insel inspicirten.

»Ich bin anderer Ansicht, gab der Doctor zur Antwort. Antekirtta ist reich und beherrscht die Syrten-Gewässer. Diese Gründe genügen bereits, um die Insel früher oder später einem Angriffe auszusetzen; die Senusisten haben eben ein übergroßes Interesse daran, sich Antekirttas zu bemächtigen.

– Das ist ganz gewiß so, setzte Peter hinzu und gegen diese Eventualität müssen wir gut gerüstet sein.

– Ich fürchte einen nahe bevorstehenden Angriff auch deswegen, nahm der Doctor von Neuem wieder das Wort, weil Sarcany ein Parteigänger der Senusisten, ich weiß sogar, daß er stets ihr Agent im Auslande gewesen ist. Denkt daran, Freunde, daß Pointe Pescade im Hause des Moqaddem eine Unterhaltung zwischen Sidi Hazam und ihm belauscht hat. In dieser Unterredung ist der Name Antekirtta mehrfach genannt worden und Sarcany weiß wohl, daß diese Insel dem Doctor Antekirtt gehört, das heißt dem Manne, den er fürchtet, den er durch Zirone auf den Abhängen des Aetna angreifen ließ. Was ihm dort in Sicilien nicht gelang, wird er jedenfalls hier noch einmal und unter günstigeren Bedingungen versuchen.

– Hat der Mensch einen persönlichen Haß auf Sie, Herr Doctor? fragte Luigi, kennt er Sie?

– Es ist möglich, daß er mich in Ragusa gesehen hat, antwortete dieser. Jedenfalls ist es ihm bekannt, daß ich in jener Stadt Beziehungen zu der Familie Bathory hatte. Ueberdies wurde er an die Existenz Peter’s in dem Augenblicke erinnert, als Pointe Pescade aus dem Hause Sidi Hazam’s Sarah entführte. Alles das muß sich in seinen Gedanken ineinander gefügt haben. Er kann kaum noch daran zweifeln, daß Peter und Sarah auf Antekirtta ein Asyl gefunden haben. Mehr bedarf es nicht, um gegen uns den vollen Haß der Senusisten zu entflammen, die uns gewiß kein Quartier geben werden, wenn es ihnen gelingt, sich unserer Insel zu bemächtigen.«

Diese Beweisführung war klar genug. Sarcany wußte allerdings noch nicht, daß Doctor Antekirtt eigentlich Graf Mathias Sandorf sei, das stand fest, wohl aber wußte er mehr als genug, um ihm die Erbin von Schloß Artenak entreißen zu wollen.

Man wird also wenig erstaunt sein, zu vernehmen, daß er es war, der den Khalifen angespornt hatte, eine Expedition gegen die Kolonie Antekirtta auszurüsten.

Der 3. December war inzwischen herangekommen, ohne daß Anzeichen eines bevorstehenden Angriffes laut geworden wären.

Die Freude, sich endlich vereinigt zu sehen, wiegte Alle in einen schönen Traum, dem sich der Doctor selbst jedoch nicht hingab. Der Gedanke an die nahe bevorstehende Heirat Peter Bathory’s und Sarah Sandorf’s erfüllte Aller Herzen und Gemüther. Man versuchte im Hinblick auf dieses freudige Ereigniß sich einzureden, daß die schlechten Tage vorüber wären und nicht mehr wiederkehren würden.

Pointe Pescade und Kap Matifu theilten die allgemeine Sicherheit. Sie freuten sich des Glückes der Anderen und darüber, daß sie im beständigen Hochgenusse aller Dinge leben konnten.

»Es ist nicht zu glauben, wiederholte Pointe Pescade.

– Was ist nicht zu glauben?… fragte Kap Matifu.

– Daß Du ein behäbiger Rentner geworden bist, mein Kap. Ich muß jetzt ernstlich daran denken, Dich zu verheiraten.

– Mich… verheiraten?

– Ja, mit einer hübschen kleinen Frau.

– Warum mit einer kleinen?…

– Weil es nicht anders geht! Eine riesige schöne Frau!… Frau Kap Matifu!… Das würde Dir so passen, nicht wahr?… Da müssen wir uns schon eine von den Patagoniern holen!«

In Erwartung der Heirat Kap Matifu’s, für den man nöthigen Falles bald eine würdige Genossin würde gefunden haben, beschäftigte sich Pointe Pescade ernsthaft mit der Hochzeit Peter’s und Sarah Sandorf’s.



Die Küstenbatterien erwarteten nur noch die Bedienungsmannschaften. (S. 541.)


Mit Bewilligung des Doctors arbeitete er einen Plan zu einem Volksfeste aus, mit Spielen, Gesang und Tänzen, Artilleriesalven, großem Festschmaus unter freiem Himmel, einer den Neuvermälten darzubringenden Serenade, Fackelzug und Feuerwerk. Das war sein Element, hierin stand er seinen Mann. Das sollte herrlich werden! Davon sollte man noch lange, stets reden.



Zweihundert Fahrzeuge näherten sich. (S. 546.)


All’ dieser Jubel sollte schon im Keime erstickt werden!

In der Nacht vom 3. zum 4. December – einer ruhigen, doch von dichten Wolken verdunkelten Nacht – ertönte plötzlich die elektrische Klingel in des Doctors Cabinet im Stadthause.

Es war zehn Uhr Abends.

Der Doctor und Peter verließen in Folge dieses Zeichens sofort den Salon, in welchem sie den Abend mit Frau Bathory und Sarah Sandorf verbracht hatten. Im Cabinet angelangt, sahen sie, daß das Zeichen von dem Beobachtungsposten gegeben worden war, der auf dem Centralkegel Antekirtta’s die Wache hatte. Fragen und Antworten wurden sofort auf telephonischem Wege hin-und zurückbefördert.

Die Wache benachrichtigte den Doctor, daß aus Süden eine Flotille herannahe, deren Umfang man nur undeutlich in der Finsterniß wahrnehmen könne.

»Der Kriegsrath muß sofort zusammentreten,« sagte der Doctor.

Zehn Minuten später traten der Doctor, Peter, Luigi, die Kapitäne Narsos und Köstrik und die Führer der Miliz zu einer Berathung im Stadthause zusammen. Dort wurde ihnen die Mittheilung von der Beobachtung, welche der Wachposten gemacht hatte. Eine Viertelstunde später hatten sich Alle an den Hafen begeben und auf der äußersten Spitze des großen Dammes, auf dem das Leuchtfeuer aufblitzte, Posto gefaßt.

Von diesem nur wenig über dem Niveau des Meeres gelegenen Punkte aus war es unmöglich, die Flotille zu unterscheiden, was der Beobachtungsposten, der auf dem Centralkegel seinen Platz hatte, wohl konnte. Doch durch Erleuchtung des südöstlichen Horizontes mußte es zweifellos zu ermöglichen sein, die Zahl der Schiffe zu unterscheiden und in welcher Weise sie sich näherten.

Wäre es aber nicht zugleich eine Unvorsichtigkeit gewesen, auf diese Weise die Lage der Insel zu verrathen? Der Doctor glaubte es nicht. Wenn das der erwartete Feind war, so fuhr er auch nicht blind darauf los; er kannte genau die Lage von Antekirtta und nichts war im Stande, ihn von seinem Kurse abzubringen.

Die Apparate wurden also in Thätigkeit gesetzt und mit Hilfe der Tragfähigkeit der beiden in die Weite geschleuderten Strahlenbüschel erleuchtete sich plötzlich ein ziemlich großer Kreisabschnitt des Horizontes.

Die Wachen hatten sich nicht getäuscht. Zweihundert Fahrzeuge wenigstens rückten in einer Linie an, Schebecken, Polaken, Trabacolos, Sacoleven und andere Schiffskörper untergeordneterer Gattung. Kein Zweifel, es war die Flotte der Senusisten, die sich die Seeräuber aus allen Häfen der Küste zusammengeholt hatten. Da keine Brise wehte, so nahten sich die Schiffe mit Hilfe der Ruder der Insel. Für diese verhältnißmäßig kurze Ueberfahrt von dem Festlande nach Antekirtta konnten sie sehr gut der Mithilfe des Windes entbehren. Die Ruhe des Meeres mußte ihren Plänen durchaus förderlich sein, denn sie erlaubte ihnen auch eine Landung unter günstigeren Umständen. Augenblicklich befand sich die Flotte noch vier bis fünf Seemeilen südöstlich vor Antekirtta.

Vor Sonnenaufgang kam sie schwerlich dazu anzulegen. Es wäre aber äußerst unklug gewesen, es dahin kommen zu lassen, das heißt zu einem Erzwingen der Hafeneinfahrt oder einer Landung auf der südlichen Küste Antekirttas, die, wie schon gesagt, höchst ungenügend vertheidigt wurde.

Nach dieser ersten Recognoscirung stellten die elektrischen Apparate ihre Thätigkeit wieder ein und der Himmelsraum tauchte wieder in das Dunkel zurück. Man mußte den Anbruch des Tages abwarten.

Auf Befehl des Doctors sammelte sich sofort die Miliz.

Man mußte sich bereit machen, die allerersten der Coups auszuführen, denn davon hing der ganze Ausgang des Unternehmens ab.

Eines stand jetzt fest, daß nämlich die Angreifer nicht mehr darauf rechnen konnten, die Insel zu überraschen, da das Auswerfen des Lichtes es ermöglicht hatte, sowohl ihre Richtung als auch ihre Anzahl zu erkennen.

Während der ferneren Stunden der Nacht ließ man keine Vorsicht aus den Augen. Der Horizont wurde noch zu verschiedenen Malen beleuchtet, dadurch erhielt man noch genauere Kenntniß von der Position der feindlichen Flotte.

Daß die Angreifer in großer Stärke heranrückten, war nunmehr gewiß. Daß sie mit hinlänglichem Material versehen waren, um das Feuer der Strandbatterien auszuhalten, mußte als selbstverständlich angenommen werden. Artillerie war das einzige, was ihnen vielleicht fehlte. Doch durch die Anzahl der Kämpfer, welche der Oberbefehlshaber der Expedition gleichzeitig an mehreren Punkten der Insel landen konnte, machten sich die Senusisten furchtbar.

Endlich erwachte langsam der Tag und die Strahlen der Sonne begannen die tiefer gelegenen Nebelschichten des Horizontes zu zerstreuen.

Aller Blicke richteten sich auf die offene See hinaus, nach Osten und Süden von Antekirtta.

Die Flotte entwickelte sich jetzt so, daß sie eine lange abgerundete Linie bildete, deren eines Ende sich bestrebte, an die Insel heranzukommen. Wenigstens zweihundert Schiffe konnte man jetzt zählen, darunter einige von dreißig und vierzig Tonnen Tragkraft. Sie konnten vielleicht, Alles in Allem gerechnet, fünf zehnhundert bis zweitausend Mann an Bord haben.

Um fünf Uhr befand sich die Flotte in der Höhe des Eilandes Kencraf. Es mußte abgewartet werden, ob die Feinde dort anlegen und festen Fuß fassen würden, ehe sie die Insel selbst angriffen. Wenn sie das thaten, so lagen die Umstände äußerst günstig. Die vom Doctor ausgeführten Minenarbeiten würden, wenn sie vielleicht auch nicht gleich die ganze Frage zur Entscheidung brachten, dennoch vom Beginn des Gefechtes an eine niederschmetternde Wirkung auf die Senusisten ausüben.

Eine halbe Stunde banger Erwartung verstrich. Man konnte bereits des Glaubens sein, daß die sich nach und nach dem Eiland nähernden Schiffe eine Landung bewerkstelligen würden… Es wurde aber nichts daraus. Kein Fahrzeug hielt sich dort auf, die feindliche Linie zog sich nach Süden hin mehr in die Länge und ließ das Eiland rechts liegen. Es war nun offenbar, daß Antekirtta direct angegriffen oder besser gesagt noch vor Ablauf einer Stunde umzingelt werden sollte.

»Jetzt bleibt uns nur noch die Vertheidigung,« sagte der Doctor zum Führer der Miliz.

Ein Signal ertönte und die gesammte Besatzung schwärmte vom flachen Lande in die Stadt hinein, woselbst sich Jeder auf seinen ihm schon vorher bezeichneten Platz begab.

Gemäß der Anordnung des Doctors übernahm Peter den Befehl über den südlichen Theil der Befestigungswerke, Luigi über den östlichen. Die Vertheidiger der Insel – höchstens fünfhundert Milizen – wurden so vertheilt, daß sie, wo immer nur der Feind versuchen sollte, die Umgürtung der Stadt zu nehmen, diesem die Front zukehrten. Der Doctor behielt sich vor, von Punkt zu Punkt dahin zu eilen, wo seine Gegenwart erforderlich sein würde.

Frau Bathory, Sarah Sandorf, Maria Ferrato mußten in dem Stadthause bleiben. Die anderen Frauen sollten, falls die Stadt eingenommen würde, mit den Kindern in die Kasematten flüchten, so war es beschlossen, woselbst sie nichts zu befürchten hatten, wenn selbst die Feinde einige Feldgeschütze aufpflanzten.

Die Frage bezüglich des Eilandes Kencraf war nun – zum Nachtheile der Belagerten – gelöst, es blieb noch die Frage hinsichtlich des Hafens offen. Wenn die Flotille das Bestreben zeigte, die Einfahrt zu erzwingen, so hielten die sich kreuzenden Feuer der Forts auf den beiden Dämmen, die Kanonen des »Ferrato«, die Electric-Torpedoboote, die in die Einfahrt gesenkten Torpedos die Feinde gewiß in Raison. Es war das eine günstige Chance, wenn der Angriff auf dieser Seite erfolgte.

Allein – und es war das nur zu wahrscheinlich – der Führer der Senusisten kannte vollständig die Vertheidigungsmittel von Antekirtta und wußte nur zu gut, wie leicht ihm im Süden der Insel ein Landen gemacht wurde. Ein directer Angriff auf den Hafen kam einer unmittelbaren und vollständigen Vernichtung gleich. Es war daher in der That der Plan entworfen worden, eine Landung auf der Südseite vorzunehmen, welche sich für diese Operation vorzüglich eignete. Daher ließ man die Einfahrt zum Hafen genau so unbeachtet, wie man das Eiland Kencraf nicht besetzt hatte und die ganze Flotille wendete sich nunmehr mit Hilfe der Ruder dem schwächsten Punkte Antekirtta’s zu.

Der Doctor traf, sobald er das Manöver der Feinde durchschaut hatte, die Maßregeln, welche ihm die jetzige Lage der Dinge vorschrieb. Die Kapitäne Köstrik und Narsos bestiegen je eines der Torpedoboote, die bereits mehrere Matrosen bargen und fuhren mit denselben aus dem Hafen hinaus.

Eine Viertelstunde später warfen sich die »Electrics« auf die feindliche Flotte; sie durchbrachen deren Linie, sprengten fünf bis sechs Schiffe in die Luft und bohrten ein Dutzend in den Grund. Die Anzahl der Angreifer war aber eine so beträchtliche, daß die beiden Kapitäne befürchten mußten, ihre Schiffe würden geentert werden, wenn sie nicht schleunigst den Schutz der Hafendämme aufsuchten.

Inzwischen hatte der »Ferrato« Position genommen und begann die Beschießung der Flotille; allein seine Kugeln, welche wirksam durch diejenigen der Batterien secundirt wurden, reichten nicht hin, zu verhindern, daß das Gros der Piraten die Landung versuchte. Obwohl schon eine beträchtliche Zahl ihren Tod gefunden hatte, obwohl gewiß an zwanzig Fahrzeuge kampfunfähig gemacht worden, waren noch immer an tausend Mann da, um die Klippen im Süden zu ersteigen, denen man sich in Folge der Ruhe des Meeres bequem nähern konnte.

Nun sah man auch, daß die Senusisten über Artillerie verfügten. Die größten Schebecken führten auf rollende Lafetten gehobene Feldgeschütze mit sich. Sie konnten sie auf diesem Punkte der Küste ziemlich unbehelligt aus Land bringen, da er außerhalb des Bereiches der Kanonen der Stadt und selbst der Geschütze in dem Fort auf dem Centralkegel gelegen war.

Der Doctor, der auf dem vordersten Vorsprunge stand, hatte diese ganze Operation genau verfolgt. Ihr sich widersetzen, wäre unmöglich gewesen, denn er mußte sein relativ schwaches Personal berücksichtigen. Seine Stärke lag im Kampfe hinter Mauern und in diesem Falle war es sehr zweifelhaft, ob die Belagerer, so zahlreich sie waren, den Sieg erringen würden.

Diese hatten zwei Colonnen gebildet, beide führten Geschütze in ihren Reihen. Sie marschirten ohne Deckung zu suchen, mit jener sorglosen Tapferkeit des Arabers, mit jener fanatischen Kühnheit, wie sie nur Todesverachtung, die Hoffnung auf Plünderung und der Haß gegen die Europäer erzeugen kann.

Als sie auf Schußweite nahe gekommen waren, spieen die Batterien ihren Eisenhagel aus. Mehr als hundert stürzten, doch die Anderen wichen nicht zurück. Ihre Feldgeschütze wurden gerichtet, und bald hatten sie in eine Mauer Bresche gelegt, welche eine Ecke des noch nicht fertiggestellten südlichen Mittelwalles bildete.

Ihr Führer, der inmitten der um ihn Fallenden seine Kaltblütigkeit vollständig bewahrte, leitete den Angriff. Sarcany, der neben ihm stand, feuerte ihn an, eine Sturmcolonne von mehreren hundert Mann auf die Bresche zu dirigiren.

Doctor Antekirtt und Peter Bathory erkannten Letzteren von fern. Er erkannte sie ebenfalls.

Eine compacte Masse der Angreifer wälzte sich jetzt auf das Loch in der Mauer zu, welches ihnen Durchlaß gewähren konnte. Wenn es ihnen gelang, durch die Bresche zu dringen, wenn sie die Stadt besetzten, so waren die Belagerten, die zu schwach waren, um Widerstand zu leisten, gezwungen, den Platz zu räumen. Bei dem heißblütigen Temperament der Piraten wäre dem Sieg unmittelbar ein allgemeines Blutbad gefolgt.

Der Kampf, Körper an Körper, wurde auf diesem Punkte furchtbar. Unter den Augen des Doctors, der furchtlos in der Gefahr und wie unverwundbar inmitten des Kugelregens blieb, verrichteten Peter Bathory und seine Gefährten wahre Wunder des Muthes. Pointe Pescade und Kap Matifu unterstützten sie mit einer Kühnheit, die nur durch ihr Geschick, jedem Hiebe aus dem Wege zu gehen, aufgewogen wurde.

Der Hercules, in der einen Hand ein Messer, in der anderen eine Axt, schaffte gewaltig um sich her einen leeren Raum.

»Kräftig, mein Kap, kräftig!… Schlage sie nieder!« feuerte Pointe Pescade ihn an, dessen flink abgefeuerter und wieder geladener Revolver wie eine kleine Mitrailleuse dazwischen knatterte.

Doch der Feind wich nicht. Nachdem er mehreremale durch die Bresche zurückgedrängt worden war, schien er nun so weit zu sein, dieselbe endgiltig nehmen und in die Stadt selbst einrücken zu können, als sich in seinen hinteren Reihen plötzlich eine Bewegung bemerkbar machte.

Dem »Ferrato« war es gelungen, in der Entfernung von nur drei Ankerlängen vom Ufer unter geringem Dampf beizudrehen. Von dort aus griff er die Senusisten mit seinen Schiffskanonen, die sämmtlich über einen Bord gerichtet waren, mit seinem langen Jagdgeschütz, seinen Hotchkiß-Revolverkanonen und seinen Gatlings-Mitrailleusen, welche die Feinde wie die Sichel das Getreide niedermähten, plötzlich im Rücken an; er schoß sie am Ufer in Grund und Boden und zerstörte und durchlöcherte gleichzeitig ihre Schiffe, die am Fuße der Klippen vor Anker gegangen oder festgebunden worden waren.

Das war ein schmerzlicher und den Senusisten höchst unerwartet kommender Schlag. Sie wurden jetzt nicht nur im Rücken angegriffen, sondern es wurde ihnen auch jedes Fluchtmittel genommen, falls es dem »Ferrato« gelang, mit seinen Geschossen ihre Fahrzeuge in tausend Stücke zu schießen.

Die Stürmenden standen deshalb vor der Bresche still, welche die Miliz hartnäckig vertheidigt hatte. Schon mehr als fünfhundert hatten den Tod auf dem Ufer gefunden, trotzdem war die Anzahl der Belagerer im Verhältniß noch keine geringere geworden.

Der Oberbefehlshaber sah ein, daß er unverzüglich das Meer erreichen mußte, falls er nicht seine Leute einem gewissen und vollständigen Untergange weihen wollte. Vergebens versuchte Sarcany ihn zu bewegen, die Stadt zu nehmen, der Befehl zum Rückzuge auf das Meer wurde gegeben und die Senusisten führten diese Rückzugsbewegung mit derselben Gleichgiltigkeit aus, als wenn ihnen befohlen worden wäre, sich bis auf den letzten Mann tödten zu lassen.

Es sollte jedoch den Seeräubern noch eine Lehre verabfolgt werden, die ihnen nie aus der Erinnerung kommen konnte.

»Vorwärts, Freunde! rief der Doctor, Vorwärts!«



Die »Electrics« durchbrachen die Linien der Schiffe. (S. 549.)


Unter den Befehlen Peter’s und Luigi’s warfen sich an hundert Milizen auf die Fliehenden, die dem Ufer zuhasteten. Zwischen die Feuer der Schiffskanonen des »Ferrato« und der Wallgeschütze der Stadt genommen, mußten sie bald weichen.

Die Unordnung in ihren Reihen wurde allgemein und man sah sie sich in sieben oder acht Fahrzeuge flüchten, welche die Lagen aus der Breitseite des »Ferrato« verschont hatten.

Peter und Luigi erstrebten mitten im Gewimmel nur eines einzigen Menschen habhaft zu werden, Sarcany’s. Sie wollten ihn durchaus lebendig fangen und entkamen nur durch ein Wunder den Revolverschüssen, die der Elende ihnen mehrfach zusandte.

Allein noch einmal schien ihn das Schicksal der Vergeltung entziehen zu wollen

Sarcany und der Senusistenführer, gefolgt von einem Dutzend Männer, hatten glücklich eine kleine Polake erreicht, deren Anker bereits aufgewunden wurde und die schon manövrirte, um die offene See zu erreichen. Der »Ferrato« war zu weit entfernt, als daß man ihm hätte ein Zeichen geben können, das Schiffchen zu verfolgen; es schien entschlüpfen zu wollen.

In diesem Augenblick sah Kap Matifu ein Feldgeschütz im Sande liegen, dessen Lafette zerschossen war.

Auf das noch geladene Geschütz zustürzen, es mit übermenschlicher Kraft auf ein Felsstück legen, sich gegenstemmen, um es auf seinem Platze an seinen Zapfen festzuhalten, war das Werk eines Augenblickes. Ebenso schnell hatte er mit Donnerstimme gebrüllt: »Hierher, Pointe Pescade, hierher!«



Der Hercules hatte kaum einen leisen Ruck abbekommen. (S. 554.)


Pointe Pescade folgte sofort dem Rufe Kap Matifu’s, er sah, was sein Kap gethan hatte, er begriff und richtete die Kanone, welche von der lebendigen Lafette gestützt wurde, auf die Polake. Dann feuerte er ab. Das Geschoß traf das Hintertheil des Fahrzeuges und zerschmetterte es…. Der Hercules hatte von dem Zurückweichen des Geschützes kaum einen leisen Ruck abbekommen.

Der Befehlshaber der Senusisten und seine Genossen versanken in den Fluthen, woselbst die Meisten umkamen. Sarcany kämpfte noch mit der Brandung, als Luigi sich bereits flink in das Meer geworfen hatte.

Einen Augenblick später wurde Sarcany von den breiten Händen Kap Matifu’s in Empfang genommen, die sich über ihm schlossen.

Der Sieg war ein vollständiger. Von den zweitausend Feinden, welche die Insel angegriffen hatten, entgingen kaum einige hundert der Vernichtung und erreichten den heimischen Boden.

Man durfte hoffen, daß Antekirtta auf viele Jahre hinaus nicht mehr der Zielpunkt dieser Räuberbande sein würde.

Fünftes Capitel. Die Vergeltung.

Graf Mathias Sandorf hatte Maria und Luigi Ferrato die Schuld seiner Erkenntlichkeit abgetragen. Frau Bathory, Peter und Sarah waren vereinigt. Auf den Lohn sollte nun noch die Vergeltung folgen.

Während der Tage, die der Niederlage der Senusisten folgten, war das Personal der Insel thätig, Alles wieder in Stand zu setzen. Bis auf einige unbedeutende Wunden waren Peter, Luigi, Pointe Pescade und Kap Matifu – das heißt also alle Diejenigen, welche in intimeren Beziehungen zu den Ereignissen dieses Dramas standen – heil und gesund geblieben. Daß sie sich trotzdem nicht geschont hatten, wußte Jeder. Das war eine Freude, als sie in das Stadthaus zu Sarah Sandorf, Maria Ferrato, Frau Bathory und dem alten Borik zurückkehrten. Nachdem den Gefallenen die letzte Ehre erwiesen worden war, konnte die kleine Kolonie wieder in das ruhige Geleise ihrer sorgenfreien Existenz zurückkehren, die in Zukunft höchst wahrscheinlich nicht mehr gestört werden wird. Die Niederlage der Senusisten kam einer Vernichtung derselben gleich und Sarcany, der Jene zum Feldzuge gegen Antekirtta aufgereizt hatte, war nicht mehr da, um ihnen Gedanken des Hasses und der Rache einzugeben. Der Doctor verharrte trotzdem bei seiner Absicht, sein Vertheidigungssystem in kürzester Frist zu Ende zu führen. Artenak sollte nicht nur vor jedem Handstreiche in Sicherheit gebracht werden, sondern auch auf keinem einzigen Punkte mehr eine Lücke bieten, wo eine Landung möglich war. Man wollte sich auch damit beschäftigen, neue Kolonisten in das Land zu ziehen, denen die Reichthümer des Bodens ein wirkliches Wohlergehen verschaffen mußten.

Jetzt konnte der Verehelichung Peter Bathory’s mit Sarah Sandorf nichts mehr im Wege stehen. Die Ceremonie war ursprünglich auf den 9. December anberaumt gewesen: sie sollte auch an diesem Tage von Statten gehen. Pointe Pescade nahm sein Vergnügungs-Programm von Neuem in Angriff, nachdem es durch den Ueberfall der afrikanischen Piraten unterbrochen worden war.

Ohne Verzug sollte auch über das Schicksal Sarcany’s, Silas Toronthal’s und Carpena’s Beschluß gefaßt werden. Sie waren abgesondert in den Kasematten des Forts untergebracht worden und wußten nicht, daß sie sämmtlich in der Gewalt des Doctors Antekirtt wären.

Am 6. December, zwei Tage nach dem Rückzuge der Senusisten, ließ der Doctor sie in das Stadthaus führen, woselbst er mit Peter und Luigi ihnen entgegentrat.

Hier sahen sich die Gefangenen vor dem Gerichtshofe von Artenak, der aus den höchsten Beamten der Kolonie bestand, unter der Hut einer Abtheilung Milizen zum ersten Male wieder.

Carpena erschien beunruhigt; seine Physiognomie hatte indessen noch nichts von ihrem tückischen Aussehen eingebüßt; er warf nach links und rechts verstohlene Blicke und wagte nicht, seine Augen zu seinen Richtern aufzuschlagen.

Silas Toronthal, sehr niedergeschlagen aussehend, senkte den Kopf und floh instinctiv die Berührung mit seinem einstigen Genossen.

Sarcany hatte nur ein Gefühl – die Wuth, in die Hände dieses Doctors gefallen zu sein.

Luigi stellte sich nunmehr vor die Richter und ergriff das Wort. Er wandte sich an den Spanier.

»Carpena, sagte er, ich bin Luigi Ferrato, der Sohn des Fischers von Rovigno, den Deine Angeberei in das Zuchthaus zu Stein gebracht hat, wo er gestorben ist.«.

Carpena hatte sich einen Augenblick abgewendet. Eine Anwandlung von Wuth trieb ihm das Blut in die Augen. Es war also doch Maria gewesen, die er in den Gassen des Manderaggio auf Malta erkannt zu haben glaubte, und ihr Bruder, Luigi Ferrato, war es, der ihn jetzt beschuldigte.

Peter trat nun ebenfalls vor und streckte den Arm gegen den Banquier aus:

»Silas Toronthal, sagte er, ich heiße Peter Bathory und bin der Sohn Stephan Bathory’s, desselben ungarischen Patrioten, den Sie im Einverständniß mit Ihrem Mitschuldigen Sarcany feiger Weise der Polizei von Triest angezeigt und dadurch in den Tod getrieben haben.«

Dann zu Sarcany gewendet:

»Ich heiße Peter Bathory, den Sie in einer Straße Ragusa’s zu ermorden versuchten. Ich bin der Verlobte Sarah’s, der Tochter des Grafen Mathias Sandorf, die Sie vor fünfzehn Jahren aus dem Schlosse Artenak rauben ließen.«

Silas Toronthal war es zu Muthe, als hätte ihn ein Keulenschlag niedergeschmettert, als er mit einem Male Peter Bathory leibhaftig vor sich stehen sah.

Sarcany hatte die Arme über die Brust gekreuzt und bis auf ein leichtes Zittern seiner Augenlider bewahrte er vollständig seine unverschämte Unbeweglichkeit.

Weder Silas Toronthal noch Sarcany erwiderten etwas. Was hätten sie ihrem Opfer, das aus dem Grabe auferstanden schien, um sie anzuklagen, auch erwidern sollen?

Etwas ganz anderes war es, als Doctor Antekirtt auftauchte und mit ernster Stimme sagte:

»Und ich, ich bin der Freund Ladislaus Zathmar’s und Stephan Bathory’s, die durch Euren Verrath im Hofe der Festung Pisino die Füsilade erhielten. Ich bin der Vater Sarah’s, die Ihr entführt habt, um Euch ihr Vermögen anzueignen…. Ich bin Graf Mathias Sandorf!«

Die Wirkung dieser Erklärung war, daß die Knie Silas Toronthal’s fast den Boden berührten, während Sarcany sich beugte, als wollte er in sich selbst zurückkriechen.

Die drei Angeklagten wurden nun nacheinander verhört. Ihre Verbrechen waren solcher Art, daß sie weder geleugnet werden konnten, noch daß eine Gnade möglich war. Der Vorsitzende des Gerichtshofes erinnerte Sarcany daran, daß der durch sein persönliches Eingreifen veranlaßte Sturm auf die Insel eine große Anzahl Opfer gefordert habe, deren Blut nach Rache schreie. Nachdem er den Gefangenen völlige Freiheit zu ihrer Vertheidigung gewährt hatte, berief er sich auf das Gesetz, und gemäß der Rechte, welches ihm diese regelrechte Verhandlung verlieh, verkündete er das Urtheil:

»Silas Toronthal, Sarcany, Carpena, Ihr habt den Tod Stephan Bathory’s, Ladislaus Zathmar’s und Andrea Ferrato’s verschuldet. Ihr seid zum Tode verurtheilt!

– Wie Sie befehlen, erwiderte Sarcany, dessen Unverschämtheit wieder die Oberhand gewonnen hatte.

– Gnade!« rief Carpena feige.

Silas Toronthal hatte nicht die Kraft, etwas zu sprechen.

Man brachte die drei Verbrecher in ihre Kasematten zurück, wo sie sorgfältigst bewacht wurden.

Wie sollten diese Elenden hingerichtet werden? Sollten sie in einer Ecke der Insel füsilirt werden? Das hieße Antekirtta mit dem Blute der Verräther beschmutzen. Es wurde daher beschlossen, daß die Hinrichtung auf dem Eilande Kencraf vor sich gehen sollte.

Am selben Abend noch nahm einer der »Electrics«, der mit zehn Matrosen unter dem Befehle Luigi Ferrato’s bemannt worden war, die Verurtheilten an Bord und führte sie auf das Eiland, wo sie bis Tagesanbruch auf das Executionspeloton warten sollten.

Sarcany, Silas Toronthal und Carpena mußten annehmen, daß ihr letztes Stündlein geschlagen habe. Als sie aus Land gesetzt worden waren, ging Sarcany auf Luigi zu und fragte:

»Heute Abend?«

Luigi antwortete nichts. Die drei Verurtheilten wurden allein gelassen und die Nacht brach schon an, als der »Electric« in Antekirtta wieder anlangte.

Die Insel war jetzt von der Gegenwart der Verräther befreit. Von dem Eiland Kencraf zu entfliehen war eine Unmöglichkeit, denn zwanzig Meilen trennten es von dem Festlande.

»Vor morgen Früh hat gewiß schon der Eine den Anderen aufgefressen, sagte Pointe Pescade.

– Puah!« schüttelte sich Kap Matifu vor Abscheu.

Die Nacht verging ungestört; nur im Stadthause konnte man beobachten, daß Graf Mathias Sandorf nicht einen Augenblick Ruhe fand. Er hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen und verließ es erst wieder um fünf Uhr Morgens er stieg in die Halle hinunter, wohin Peter Bathory und Luigi Ferrato sogleich bestellt wurden.

Ein Peloton Milizen war bereits im Hofe des Stadthauses aufgestellt; es wartete auf den Befehl, sich nach dem Eilande Kencraf einzuschiffen.

»Peter, Luigi, sagte Graf Sandorf, ist es auch gerecht, daß die Verräther zum Tode verurtheilt worden sind?

– Ja, sie verdienen ihn, antwortete Peter.

– Ja, setzte Luigi hinzu, kein Mitleid mit diesen Schurken!

– Die Gerechtigkeit ist also geübt, möge Gott ihnen die Gnade schenken, welche die Menschen ihnen verweigern mußten….«

Graf Sandorf hatte kaum geendet, als eine furchtbare Explosion das Stadthaus und die ganze Insel erzittern machte, als hätte sie ein Erdbeben heimgesucht.

Graf Sandorf, Peter und Luigi stürzten ins Freie, während die erschrockene Bevölkerung schleunigst die Häuser von Artenak verließ.

Eine ungeheure Feuer-und Dampfgarbe, untermischt von enormen Felsblöcken und einem Hagel von Steinen, loderte in unermeßlicher Höhe zum Himmel auf. Dann fielen die Massen um die Insel in das Meer zurück, sie peitschten dasselbe zu Wogen auf und eine dicke Wolke blieb in der Luft hängen.

Von dem Eiland Kencraf war nichts übrig geblieben, die drei Verurtheilten waren durch die Explosion in unendlich viele Stückchen zerrissen worden.

Was war geschehen?

Man wird nicht vergessen haben, daß das Eiland für den Fall einer Landung der Senusisten nicht nur unterminirt worden war, sondern daß auch, falls der unterirdische Draht, der das Eiland mit Antekirtta verband, versagte, elektrische Apparate in das Erdreich eingelassen worden waren; es brauchte nur ein Fuß diese zu streifen und alle mit Panclastit gefüllten Flatterminen flogen mit einem Male in die Luft.

Zufällig mußte einer der Verurtheilten einem solchen Apparate zu nahe gekommen sein. Die Folge war die sofortige und vollständige Vernichtung des Eilandes.

»Gott hat uns die Schrecken einer Execution ersparen wollen,« sagte Graf Mathias Sandorf.


Drei Tage später wurde die Hochzeit Peter Bathory’s und Sarah Sandorf’s in der Kirche Artenak gefeiert. Bei dieser Gelegenheit unterschrieb sich Doctor Antekirtt mit seinem wahren Namen Mathias Sandorf. Er brauchte ihn jetzt nicht mehr zu verheimlichen, da Vergeltung geübt war.

Wenige Worte genügen, um unserer Erzählung einen Schluß zu geben.

Nach drei Wochen wurde Sarah Sandorf als Erbin der einbehaltenen Besitzungen des Grafen Sandorf anerkannt. Der Brief der Frau Toronthal, eine vom Banquier erlangte Erklärung – eine Erklärung, welche die Umstände und den Zweck der Entführung des Kindes erläuterte – hatten genügt, die Identität festzustellen. Was von der Besitzung in den Karpathen in Siebenbürgen noch übrig war, fiel ihr zu.

Graf Sandorf hätte jetzt auf Grund einer Amnestie, die inzwischen für sämmtliche politische Verbrecher erlassen worden war, in sein Vaterland und in seinen Besitz zurückkehren können. Wenn er auch öffentlich wieder Mathias Sandorf geworden war, so wollte er doch auch das Oberhaupt seiner großen Familie auf Antekirtta bleiben. Dort sollte sein Leben inmitten derer, die ihn verehrten, seinem Ende zugehen.

Die kleine Kolonie wuchs, Dank der neuen Bemühungen für ihr Wohl, zusehends. Gelehrte und Erfinder, durch den Grafen Sandorf dorthin berufen, brachten dort ihre Entdeckungen zur Ausführung, die ohne seine Rathschläge und das Vermögen, über welches er verfügte, für die Welt verloren gegangen sein würden.



Eine ungeheure Flammengarbe stieg zum Himmel auf. (S. 558.)


Antekirtta wurde bald der wichtigste Punkt des Meeres der Syrten und nach Beendigung seines Vertheidigungssystemes war seine Sicherheit eine unverletzliche.

Was soll man noch von Frau Bathory, Maria und Luigi Ferrato, von Peter und Sarah erzählen? So etwas fühlt man besser, als man es ausspricht.

Was von Pointe Pescade und Kap Matifu, die zu den angesehensten Kolonisten Antekirtta’s zählten? Sie bedauerten nur eines, keine Gelegenheit mehr zu haben, sich für den aufzuopfern, dem sie eine solche Existenz verdankten.

Graf Mathias Sandorf hatte sein Unternehmen zu einem glücklichen Ende geführt und wäre die Erinnerung an seine beiden Genossen, Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar, nicht gewesen, so würde er vermuthlich ebenso glücklich gewesen sein, als es ein edelmüthiger Mann auf Erden ist, wenn er um sich Glück verbreiten kann.

Man möge weder im ganzen Mittelmeer noch in einem anderen Meere der Erdkugel – nicht einmal in der Gruppe der Fortunat-Inseln – nach einer Insel suchen, deren Glückseligkeit mit derjenigen Antekirtta’s rivalisiren könnte…. Es wäre das verlorene Mühe.

Als Kap Matifu im Rausche des Glückes einmal sagen zu müssen glaubte:

»Verdienen wir es denn wirklich, so glücklich zu sein? hatte Pointe Pescade ihm erwidert:

– Nein, mein Kap. Doch was willst Du?… Man muß, wohl oder übel, sich so etwas gefallen lassen!«


Ende.


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