Vierter Theil.

Erstes Capitel. Das Präsidio von Ceuta.

Am 21. September, drei Wochen nach den zuletzt erzählten Ereignissen, deren Schauplatz Catania gewesen war, dampfte eine Yacht – es war der »Ferrato« – von einer nordöstlichen Brise getrieben, zwischen derjenigen Spitze Europas, die im spanischen Lande englisches Eigenthum ist, und dem Vorgebirge von Almina, das auf marokkanischem Gebiete spanischer Besitz ist, eilig dahin. Vier Distanzpunkte zählt man von einem Vorgebirge zum anderen. Wenn man der Götterlehre Glauben beimessen darf, war es Hercules gewesen, der, ein Vorgänger des Herrn von Lesseps, sie für den Strom des atlantischen Meeres schuf, indem er mit einem Keulenschlage diesen Theil des mittelländischen Peripels spaltete.

Pointe Pescade hätte es gewiß nicht verabsäumt, seinen Freund Kap Matifu auf den im Norden liegenden Felsen von Gibraltar und auf den Felsen Hacho im Süden aufmerksam zu machen. Calpe und Abyla sind die Säulen, welche noch den Namen von Kap Matifu’s berühmten Ahn tragen. Kap Matifu hätte, wenn er dabei gestanden, zweifellos dieses Kraftstück nach Verdienst belobt, ohne daß der Neid sein bescheidenes und anspruchloses Gemüth bewegt haben würde. Der provençalische Hercules hätte sich ganz gewiß vor dem Sohne Jupiter’s und der Alkmene gebeugt.

Allein weder Kap Matifu noch Pointe Pescade befanden sich unter den Passagieren der Dampf-Yacht. Der Eine hatte noch den Genossen zu pflegen und daher mußten Beide auf Antekirtta zurückbleiben. Sollte später ihre Hilfe benöthigt werden, so sollten sie mittelst Depesche herbeigerufen und auf einem der »Electrics« schnell übergesetzt werden.

Der Doctor und Peter Bathory befanden sich allein an Bord des »Ferrato«, der vom Kapitän Köstrik als erstem, von Luigi als zweitem Lieutenant befehligt wurde. Die letzte Expedition, die sich nach Sicilien richtete und den Zweck verfolgte, die Spuren von Sarcany und Silas Toronthal ausfindig zu machen, hatte keinen Erfolg gehabt, weil Zirone dabei den Tod gefunden. Es handelte sich jetzt also darum, die Fährte wieder aufzufinden und zu diesem Zwecke mußte Carpena gezwungen werden, zu sagen, was er von Sarcany und seinen Genossen wußte. Da der Spanier, zur Galeerenarbeit verurtheilt, in das Präsidio von Ceuta gebracht worden war, so mußte er dort aufgesucht werden, denn nur hier konnte man sich mit ihm in Verbindung setzen.

Ceuta ist eine kleine befestigte Stadt, ein Gegenstück zu dem englischen Gibraltar; sie liegt auf den östlichen Abhängen des Berges Hacho und Angesichts ihres Hafens manövrirte noch am besagten Tage gegen neun Uhr Morgens in der Entfernung von weniger als drei Meilen von der Küste unsere Yacht.

Es gibt im ganzen Mittelmeer keinen belebteren Punkt als diese Stelle, welche der Mund dieses Meeres genannt werden muß. Dort empfängt es die Gewässer des Atlantischen Oceans. Hier hinein segeln die Tausende von Schiffe, die aus dem nördlichen Europa und den beiden Amerikas kommen und welche in die hunderte von Häfen dieses ungeheuren Bassins das vielgestaltige Leben bringen. Dort hinein und hinaus dampfen die großen transatlantischen Dampfer und die Kriegsschiffe, welchen das Genie eines Franzosen einen Hafen im indischen Ocean und in der Südsee geöffnet hat. Es giebt schwerlich etwas Malerischeres als diese schmale Wasserstraße, welche durch die so verschieden geformten Gebirge führt. Im Norden zeichnen sich die Umrisse der Sierras von Andalusien ab. Im Süden, auf der prächtig ausgezackten Küste, vom Kap Spartel an bis zum Vorgebirge Almina ragen die schwarzen Hörner der Bullonen, der Affenberg, die höchsten Gipfel der »sieben Brüder« empor. Zur rechten und zur linken Seite erscheinen malerische Städte, so Tarifa, Algesiras, Tanger, Ceuta; sie bauen sich im Hintergrunde der Buchten auf und werden von den untersten Stufen der Gebirge flankirt; ihre Häuserreihen dehnen sich über die niedrig gelegenen Ufer aus, zu deren Schutz die riesigen Felsenmauern hinter ihnen emporstreben. Zwischen diesen beiden Gestaden, unter den Kielen der dahinsausenden Dampfer, deren Curs weder Wasser noch Wind aufhält, unter dem Tuch der Segelschisse, welche die westlichen Winde mitunter zu hunderten an der Mündung in den Atlantischen Ocean festhalten, entwickelt sich eine buntfarbige, stets wechselnde Wasserfläche, hier erscheint sie grau und aufrührerisch, dort blau und ruhig und durchfurcht von den Kämmen, welche die Linie der Gegenströmungen mit ihren durchbrochenen Zick-Zacks markiren. Kein Mensch kann dem Reize dieser erhabenen Schönheiten gegenüber unempfindlich sein, welche die beiden Erdtheile, Europa und Afrika, in dem Doppelpanorama der Meerenge von Gibraltar, von Angesicht zu Angesicht entfalten.

Der »Ferrato« näherte sich schnell der afrikanischen Küste. Die gekrümmte Bai, in deren Hintergrunde Tanger sich verbirgt, schloß sich bereits, während der Felsen von Ceuta um so sichtbarer wurde, je mehr die Küste jenseits des Golfes von Tanger eine Wendung nach Süden machte. Man sah ihn sich nach und nach isoliren, gerade wie ein umfangreiches Eiland, das am Fuße eines Kaps auftaucht und durch einen schmalen Isthmus an das Festland gefesselt wird. Oberhalb, in der Gegend des Gipfels des Hacho-Berges, erschien eine kleine Schanze; sie ist aus einer römischen Citadelle entstanden und in ihr sind unablässig Beobachtungsposten zu finden, welche den Auftrag haben, die Meerenge und namentlich das marokkanische Gebiet zu überschauen, in welchem Ceuta nur eine Enclave bildet.

Um zehn Uhr Morgens warf der »Ferrato« im Hafen oder vielmehr zwei Ankerlängen vor dem Landungsquai, den die Wogen in ihrer vollen Breite und mit ihrem ganzen Ungestüm peitschen, die Anker aus. Ceuta besitzt nur eine forensische Rhede, welche der Brandung des Mittelländischen Meeres ausgesetzt ist. Glücklicherweise finden die Schiffe, da sie westlich nicht ankern können, einen zweiten Ankerplatz auf der anderen Seite des Felsens, der ihnen vor den Landwinden Schutz gewährt.

Sobald die Sanitätsbehörde an Bord gewesen, die Papiere oberflächlich eingesehen worden waren, ließ sich der Doctor, begleitet von Peter, in der ersten Mittagsstunde auf das Festland bringen; er landete an einem kleinen Quai, am Fuße der Stadtmauer. Daß das Ziel dieser Reise darauf hinauslief, sich Carpena’s zu bemächtigen, unterlag keinem Zweifel. Doch wie wollte der Doctor es erreichen? Er wußte es vorläufig selbst nicht, darüber wollte er sich erst nach Inspicirung der Oertlichkeit entscheiden und es schließlich den Umständen anheimgeben, ob der Spanier mit Gewalt entführt oder ihm die Entweichung aus dem Präsidio von Ceuta erleichtert werden sollte.

Diesmal bemühte sich der Doctor keineswegs, sein Incognito zu bewahren – im Gegentheil. Die Beamten, die an Bord gekommen waren, hatten sofort das Gerücht von der Ankunft der berühmten Persönlichkeit ausgesprengt. Wer im ganzen arabischen Lande, von Suez bis zum Kap Spartel, kannte nicht, wenigstens vom Hörensagen, den gelehrten Taleb, der jetzt zurückgezogen auf seiner Insel Antekirtta im Meere der Syrten lebte? Auch die Spanier bereiteten ihm, ebenso wie die Marokkaner, einen lauten Empfang. Da auch der Besuch des »Ferrato« nichts weniger als untersagt war, so zögerten viele Boote nicht, bei ihm anzulegen.

Dieses geräuschvolle Wesen, das seine Ankunft hervorbrachte, paßte ersichtlich in den Kram des Doctors. Seine Berühmtheit sollte diesmal seinem Vorhaben zu Hilfe kommen. Peter und er bemühten sich also durchaus nicht, sich der Neugierde des Publicums zu entziehen.

In einem offenen Wagen, den das erste Hotel in Ceuta gestellt hatte, wurde zuerst die Stadt besichtigt mit ihren engen, von traurigen Häusern eingerahmten Straßen, Häusern, denen weder Farbe noch irgend eine in die Augen fallende Eigenthümlichkeit zu Eigen war; hier und dort zeigten sich kleine Plätze, auf denen staubbedeckte, magere Bäume sproßten, welche verdächtig aussehende Wirthshäuser beschatteten, ein oder zwei Regierungsgebäude, welche wie Kasernen aussahen – mit einem Worte, Originelles gab es hier nicht zu sehen, vielleicht mit Ausnahme des maurischen Stadtviertels, aus welchem die Farbentöne noch nicht ganz entschwunden waren

Gegen drei Uhr gab der Doctor Befehl, ihn zu dem Gouverneur zu fahren, dem er einen Besuch abstatten wollte – ein Act ganz natürlicher Aufmerksamkeit von Seiten eines so distinguirten Fremden.

Der Gouverneur war natürlich keine Civilperson. Ceuta ist vor allen Dingen eine Militärkolonie, sie zählt ungefähr zehntausend Seelen, Officiere und Soldaten, Kaufleute, Fischer oder Matrosen für die Küstenfahrzeuge; in der Stadt selbst wohnen fast ebenso viele Leute wie auf dem Streifen Landes, dessen Verlängerung nach Osten hin den ganzen Besitz Spaniens ausmacht.

Ceuta wurde damals vom Oberst Guyarre regiert. Dieser höhere Officier hatte unter seinem Befehle drei Bataillone Infanterie, die zur Continentalarmee gehörten und ihre afrikanische Zeit durchzumachen hatten, ein Strafregiment, das ständig in der kleinen Kolonie stationirt war, zwei Batterien Artillerie, eine Compagnie Geniesoldaten, ferner eine Compagnie Mohren, deren Familien ein besonderes Viertel bewohnen. Die Zahl der Sträflinge beläuft sich auf fast zweitausend.

Um von der Stadt zur Residenz des Gouverneurs zu gelangen, mußte der Wagen außerhalb der Umwallung eine chaussirte Straße einschlagen, welche die spanische Enclave bis zu ihrem östlichen Ende begleitet.

Der schmale Streifen Landes zu beiden Seiten dieser Straße, der von dem Fuße der Gebirge und den Sümpfen, die das Meer zurückgelassen, eingeschlossen wird, ist, Dank der Thätigkeit der Bewohner, gut unterhalten, die tapfer gegen die schlechte Beschaffenheit des Bodens angekämpft haben. Weder Feldfrüchte jeglicher Gattung noch Obstbäume fehlen dort; man muß allerdings berücksichtigen, daß es dort auch Arbeitskräfte im Ueberflusse gibt.

Die Deportirten werden nämlich nicht nur vom Staate beschäftigt, sei es in den speciellen Werkstätten, sei es bei den Befestigungen oder auf den Landstraßen, deren Unterhaltung fortgesetzte Pflege erfordert, oder selbst bei der städtischen Polizei, wenn sie es durch ihre gute Führung dahin bringen, Beamte zu werden, welche überwachen und zugleich überwacht werden. Auch Private können diese Sträflinge, welche in Ceuta zwanzig Jahre oder mehr abzumachen haben, unter gewissen, vom Gouvernement erlassenen Bestimmungen für sich anstellen.

Während seiner Besichtigung von Ceuta hatte der Doctor bereits Sträflinge gesehen, welche sich ohne Aufsicht durch die Straßen bewegten, namentlich solche, welche häusliche Arbeiten auszuführen hatten; in einer viel größeren Anzahl mußte man sie außerhalb der Wälle, auf den Chausseen und Feldern zu Gesicht bekommen.

Es war vor allen Dingen wichtig, zu erfahren, zu welcher Kategorie des Sträflingspersonals in Ceuta Carpena gehörte. Der Plan des Doctors mußte eine wesentlich einfachere Form annehmen, wenn der Spanier ohne Aufsicht bei Privatleuten zu arbeiten hatte, als wenn er als Gefangener für Rechnung des Staates thätig war.

»Da seine Verurtheilung erst aus der jüngsten Zeit datirt, sagte der Doctor zu Peter, so ist es leider wahrscheinlich, daß er sich noch nicht der Vortheile erfreut, die älteren Gefangenen in Folge ihrer guten Führung zugestanden werden.

– Und wenn er angeschlossen worden ist? fragte Peter.

– So wird seine Entführung um so schwieriger werden, antwortete der Doctor. Und doch muß sie geschehen, sie soll auch geschehen!«

Inzwischen rollte der Wagen, gezogen von den kurz trabenden Pferden, sanft auf der Landstraße einher. In der Entfernung von zweihundert Metern außerhalb der Befestigungen arbeitete eine größere Zahl von Sträflingen unter der Leitung von Aufsehern des Präsidio an der Betonirung der Straße. Es waren an fünfzig Leute, die Einen zerklopften die Steine, die Anderen breiteten sie über die Straße aus, wieder Andere drückten sie mittelst Walzen in den Erdboden hinein. Der Wagen des Doctors hatte, um den Theil des Weges, der ausgebessert wurde, zu umgehen, einen kleinen Nebenweg eingeschlagen.

Plötzlich ergriff der Doctor den Arm Peter’s.

»Er!« sagte er leise.

Ein Mann stand da, einige zwanzig Schritt vor seinen Gefährten auf den Griff seiner Spitzhacke gelehnt.

Es war Carpena.

Der Doctor hatte den Salzarbeiter aus Istrien nach fünfzehn Jahren in seinem Sträflingsanzuge eben so schnell erkannt, wie Maria Ferrato ihn in seiner maltesischen Kleidung in den Gassen des Manderaggio erkannt hatte. Dieser Sträfling, zu faul und ungeschickt zu jeder Arbeit, war selbst in den Arsenalen des Präsidio nicht zu verwerthen gewesen. Auf der Landstraße Steine zerklopfen, zu dieser rauhen Arbeit paßte er noch gerade.

Das Wiedererkennen war trotzdem nur einseitig, denn Carpena erkannte in dem Doctor schwerlich den Grafen Sandorf wieder. Er hatte diesen nur flüchtig gesehen im Hause des Fischers Andrea Ferrato, in dem Augenblick, als er die Polizisten herbeiführte. Aber auch er hatte wie Jedermann von der Ankunft des Doctors vernommen. Dieser weitberühmte Doctor – Carpena wußte es wohl – war die Persönlichkeit, über welche Zirone während ihrer Unterhaltung bei den Polyphemosklippen an der sicilischen Küste mit ihm gesprochen hatte, dieses der Mann, dem vor Allen zu mißtrauen Sarcany anempfahl, dieses der Millionär, um dessen willen Zirone’s Bande den mißlungenen Handstreich auf die Casa Inglese unternahm.

Was ging wohl in dem Geiste Carpena’s vor, als er sich unerwartet dem Doctor gegenüber sah? Welche Vorstellung bedrückte wohl sein Gehirn mit jener dringlichen Beständigkeit, die gewisse photographische Proceduren charakterisirt? Es wäre das schwer zu sagen gewesen. Jedenfalls fühlte der Spanier plötzlich, daß sich der Doctor seiner Person mit Hilfe einer Art moralischen Uebergewichtes ganz und gar bemächtigte, daß sein eigenes Selbst vor dem Doctor in Nichts aufging, daß ein fremder Wille, der stärker war als der seinige, ihn ohnmächtig machte. Er wollte sich ermannen, es ging nicht: er mußte vor diesem übermächtigen Einflusse zurückweichen. Der Doctor hatte seinen Wagen halten lassen und fuhr fort, Carpena mit einer durchdringenden Stetigkeit anzublicken.



Der Doctor und Peter Bathory befanden sich allein an Bord. (S. 396.)


Der leuchtende Punkt in seinen Augen brachte in dem Gehirn Carpena’s eine befremdliche, unwiderstehliche Wirkung hervor. Die Sinne des Spaniers verdummten nach und nach. Seine Augenlider blinzelten und schlossen sich; sie gingen in ein krampfhaftes Zittern über. Sobald das Bewußtsein ganz entschwunden war, fiel Carpena auf den Straßenrand nieder, ohne daß seine Genossen irgend etwas von der Scene bemerkt hätten. Er war in einen magnetischen Schlaf verfallen, aus dem ihn Keiner von ihnen hätte ziehen können.

Der Doctor ließ nun den Wagen nach der Residenz des Gouverneurs zu weiterfahren. Die Scene hatte überdies kaum eine halbe Minute gedauert Niemand hatte beobachten können, was soeben zwischen dem Spanier und ihm vorgegangen war – Niemand, mit Ausnahme Peter Bathory’s.

»Jetzt gehört der Mensch mir, sagte der Doctor, und ich kann ihn zwingen…

– Uns Alles zu sagen, was er weiß? fragte Peter.

– Nein, das nicht, wohl aber Alles zu thun, was ich verlange, und zwar unbewußt. Beim ersten Blick, den ich auf diesen Elenden geworfen habe, habe ich gefühlt, daß ich sein Meister werden, meinen Willen an Stelle des seinigen setzen kann.

– Trotzdem der Mann nicht krank ist?

– Glaubst Du denn, daß die Wirkungen der Hypnose sich nur bei Nervenkranken zeigen? Nein, Peter, gerade die Irrsinnigen sind die unbrauchbarsten Medien. Im Gegentheil, das Subject muß einen Willen haben und nur die Umstände kamen mir zu Hilfe, indem sie mich in diesem Carpena eine vorzüglich sich meinem Willen fügende Natur finden ließen. Er wird so lange in Schlaf versunken sein, bis ich selbst mich bewogen fühlen werde, diesen Schlaf enden zu lassen.

– Gut, aber welchen Zweck hat dieser Schlaf, da es doch unmöglich ist, Carpena in diesem Zustande von dem sprechen zu lassen, was uns zu wissen wünschenswerth erscheint, erwiderte Peter.

– Richtig, sagte der Doctor, und es ist sehr klar, daß ich ihn nicht etwas sagen lassen kann, was ich selbst nicht weiß. Aber wohl steht es in meiner Macht, ihn zu zwingen, es zu thun, und wann es mir gefallen wird, es ihn thun zu lassen, ohne daß sein Wille sich dem zu widersetzen wagen wird. Zum Beispiel morgen, übermorgen, in acht Tagen, in sechs Monaten, selbst wenn er in einem wachenden Zustande sich befindet. Wenn ich will, daß er das Präsidio verläßt, so wird er es verlassen!

– Das Präsidio verlassen, frei ausgehen? fragte Peter ganz betroffen…. Erst müssen seine Wächter das doch gestatten! Der Einfluß der Eingebung kann doch nicht bis dahin gehen, daß seine Kette gelöst, das Bagnothor geöffnet, eine unübersteigbare Mauer übersteigbar wird…?

– Nein, Peter, antwortete der Doctor, ich kann ihn allerdings nicht dazu zwingen, zu thun, was ich selbst nicht würde unternehmen können, und aus diesem Grunde mache ich den Besuch beim Gouverneur von Ceuta.«

Der Doctor Antekirtt übertrieb in keiner Weise. Diese Eingebungssacta im hypnotischen Zustande sind jetzt erwiesen. Die Arbeiten und Beobachtungen von Charcot, Brown-Séquard, Azam, Richet, Dumontpailler, Maudsley, Hack Tuke, Rieger und vielen anderen Gelehrten lassen in dieser Beziehung keinen Zweifel mehr aufkommen. Der Doctor hatte während seiner Reisen im Orient Gelegenheit gehabt, die merkwürdigsten Vorgänge zu verfolgen und diesem Zweige der physiologischen Wissenschaft einen reichen Beitrag von neuen Beobachtungen zugewendet. Er war also in diesen phänomenalen Erscheinungen sehr bewandert und ebenso in den Wirkungen, welche sich aus ihnen ergaben. Selbst mit einer großen Dosis suggestiver Macht begabt, deren Wirkung er in Kleinasien oft erprobt hatte, baute er darauf, mit Hilfe eben dieser Macht sich Carpena’s bemächtigen zu können, da der Zufall ihm gezeigt hatte, daß der Spanier auf den hypnotischen Einfluß reagirte.

Wenn aber der Doctor in Zukunft Herr über Carpena sein, wenn er ihn handeln lassen wollte, wann und wie es ihm beliebte, dadurch, daß er ihm seinen eigenen Willen einflößte, so war es unumgänglich nothwendig, daß der Gefangene sich frei bewegen konnte, sobald der Augenblick gekommen sein würde, ihn diese oder jene That begehen zu lassen. Zu diesem Zwecke mußte die Vollmacht des Gouverneurs eingeholt werden. Der Doctor hoffte dieselbe von Oberst Guyarre zu erlangen, denn nur auf diese Weise konnte man den Spanier ausgeliefert erhalten.

Zehn Minuten später langte der Wagen am Eingange zu den großen Kasernen an, welche sich fast an der Grenze der Enclave erheben, und fuhr an der Residenz des Gouverneurs vor.

Der Gouverneur Guyarre war von der Anwesenheit des Doctors Antekirtt in Ceuta schon unterrichtet. Diese berühmte Persönlichkeit wurde durch den Ruf, den ihm seine Talente und sein Vermögen eintrugen, wie ein auf Reisen befindlicher Herrscher angesehen. Daher empfing der Gouverneur ihn und seinen jungen Genossen Peter, sobald die Fremden in den Empfangssalon geführt worden waren, mit der ausgesuchtesten Höflichkeit. Vor allen Dingen stellte er sich ihnen, behufs Besichtigung der Enclave, dieses kleinen Stückchens von Spanien, das so glücklich in das marokkanische Gebiet hineingeschoben ist, völlig zur Verfügung.

»Wir nehmen Ihr freundliches Anerbieten gern an, Herr Gouverneur, antwortete der Doctor auf spanisch, welche Sprache Peter ebenso beherrschte und sprach, wie der Doctor selbst. Doch ich fürchte, wir werden nicht die Zeit haben, ihre Liebenswürdigkeit in Anspruch zu nehmen.

– Ich bitte, Herr Doctor, unsere Kolonie ist nicht sehr groß, antwortete der Gouverneur. In einem halben Tage ist die Rundfahrt beendet. Gedenken Sie nicht, sich einige Zeit hier aufzuhalten?

– Vier bis fünf Stunden höchstens, sagte der Doctor. Ich muß heute Abend noch nach Gibraltar fahren, woselbst man mich morgen Vormittag erwartet.

– Heute Abend noch wollen Sie abreisen? rief der Gouverneur. Gestatten Sie mir auf meinem Anerbieten zu bestehen. Ich versichere Sie, Herr Doctor Antekirtt, unsere Militärkolonie verdient es, daß man sie gründlich kennen lernt. Sie haben auf Ihren Reisen gewiß viel gesehen, viel beobachtet, aber gewiß nichts im Hinblick auf die Strafeinrichtungen. Sie dürfen mir schon glauben, daß Ceuta die Aufmerksamkeit der Gelehrten wie diejenige der Volkswirthschaftler verdient.«

Man konnte es dem Gouverneur nicht übel nehmen, daß er voller Eigenliebe seine Kolonie pries. Er übertrieb aber nicht, denn das Verwaltungssystem des Präsidio von Ceuta – identisch demjenigen der Präsidien von Sevilla – wird als eine der besten Einrichtungen der alten und der neuen Welt angesehen, sowohl was den materiellen Zustand der Deportirten als auch ihre moralische Besserung betrifft. Der Gouverneur bestand deshalb darauf, daß ein so bedeutender Mann wie der Doctor Antekirtt seine Abreise verschob, um die verschiedenen Abtheilungen der Strafanstalt mit seinem Besuche zu beehren.

»Es wäre das leider unmöglich, Herr Gouverneur, doch heute gehöre ich Ihnen ganz und wenn Sie wollen…

– Es ist bereits vier Uhr, meinte Oberst Guyarre. Sie werden selbst sehen, daß uns wenig Zeit bleibt…

– In der That, antwortete der Doctor, und es thut mir das um so mehr weh, je mehr ich mich darauf gefreut habe, Ihnen die Honneurs auf meiner Yacht erweisen zu können, nachdem Sie so liebenswürdig sein wollten, persönlich mir Ihre Kolonie zu zeigen.

– Können Sie durchaus nicht Ihre Abreise nach Gibraltar um einen Tag verschieben, Herr Doctor?

– Ich könnte es sehr wohl, wenn mich nicht eine Verabredung, wie schon bemerkt, zwänge, heute Abend noch in See zu gehen.

– Das ist in der That bedauerlich, antwortete der Gouverneur, und ich bin darüber untröstlich, daß es mir nicht gelingt, Sie länger an uns zu fesseln. Doch halt! Ihr Schiff liegt im Bereiche der Kanonen meines Forts; es hängt also nur von mir ab, es in Grund und Boden zu schießen!

– Und die Repressalien, Herr Gouverneur? antwortete lachend Doctor Antekirtt. Wollen Sie sich mit dem mächtigen Reiche Antekirtta in einen Krieg einlassen?


– Ich weiß, daß ich ein gefährliches Spiel beginnen würde, erwiderte der Gouverneur, in demselben scherzhaften Tone fortfahrend. Doch was würde man nicht wagen, nur um Sie vierundzwanzig Stunden länger bei sich zu sehen?«

Peter, der nicht Theil an der Unterhaltung genommen hatte, mußte glauben, der Doctor habe selbst gegen das Ziel gefehlt, welches er zu erreichen hoffte. Der Entschluß, am Abend desselben Tages Ceuta noch zu verlassen, überraschte ihn nicht wenig. Wie wollte der Doctor es ermöglichen, in dieser kurzen Spanne Zeit die nothwendigen Maßregeln zu treffen, welche die Entweichung Carpena’s zur Folge haben sollten? In wenigen Stunden bereits mußten alle Gefangenen in das Präsidio zurückkehren, um über Nacht hinter Schloß und Riegel gehalten zu werden. Es dann noch durchzusetzen, daß dem Spanier die Möglichkeit der freien Bewegung gelassen würde, erschien doch zum Mindesten sehr zweifelhaft.

Allerdings sah Peter andererseits auch ein, daß der Doctor einem genau zurechtgelegten Plane folgen mußte. Er hörte ihn nämlich zum Gouverneur sagen:

»In der That, Herr Gouverneur, ich bin mißgestimmt darüber, Ihnen in dieser Beziehung nicht Genugthuung geben zu können – heute wenigstens nicht. Und doch ließe sich vielleicht noch Alles zum Besten wenden?

– Wie das, Herr Doctor? Sprechen Sie, bitte.

– Da ich morgen Vormittag in Gibraltar sein muß, so ist es allerdings durchaus nothwendig, daß ich heute Abend abfahre. Ich denke aber, daß mein Aufenthalt auf diesem englischen Felsen höchstens zwei bis drei Tage dauern wird. Heute haben wir Donnerstag und anstatt meine Reise in das nördliche Mittelmeer fortzusetzen, soll mich nichts hindern, Sonntag Früh wieder bei Ihnen in Ceuta zu sein.

– Das ginge allerdings, sagte der Gouverneur, und ich wäre Ihnen noch mehr verpflichtet als ich es schon bin. Das klingt zwar stark nach Eigenliebe. Doch gibt es wohl etwas auf dieser Welt, wo hinein sich die Eitelkeit nicht mischt? Also abgemacht, Herr Doctor, auf Sonntag denn.

– Ja, aber unter einer Bedingung.

– Welche es auch sei, ich nehme sie an.

– Daß Sie und Ihr Herr Adjutant dann bei mir, an Bord des »Ferrato«, Ihr Frühstück einnehmen.

– Ich verpflichte mich feierlichst dazu, Herr Doctor Antekirtt…. Doch ebenfalls unter einer Bedingung.

– Wie Sie, Herr Gouverneur, nehme auch ich sie schon im Voraus an, wie sie auch lauten mag.

– Daß Sie und Herr Bathory am Sonntag bei mir zu Mittag speisen.

– Angenommen, sagte der Doctor, so zwar, daß zwischen Frühstück und Mittag…

– Ich mit Hilfe meiner Autorität Sie alle Wunder meines Königreiches schauen lassen werde,« erwiderte Oberst Guyarre, indem er die Hand des Doctors drückte.

Peter Bathory hatte ebenfalls die ihm gewordene Einladung angenommen und verneigte sich vor dem zuvorkommenden und sehr befriedigten Gouverneur von Ceuta.

Der Doctor schickte sich nun an, sich zu verabschieden und Peter las in seinen Blicken, daß Jener sein Ziel erreicht habe. Doch der Gouverneur bestand darauf, seine künftigen Gäste bis zur Stadt zu begleiten. Sie bestiegen also zu Dreien den wartenden Wagen und dieser lenkte in die einzige Straße ein, welche die Residenz mit Ceuta selbst verbindet.

Wenn der Gouverneur während der Fahrt die Gelegenheit ergriff, die Fremden die mehr oder weniger zweifelhaften Schönheiten der kleinen Kolonie bewundern zu lassen, wenn er von den Verbesserungen sprach, die er vom militärischen und civilistischen Gesichtspunkte aus noch einführen wollte, wenn er hinzusetzte, daß die Lage dieses alten Abyla weit werthvoller als diejenige Calpe’s auf der gegenüberliegenden Küste der Meerenge sei, wenn er bestätigte, daß es möglich wäre, daraus ein zweites Gibraltar zu schaffen, welches ebenso uneinnehmbar sein würde als das der Engländer, wenn er gegen die unverschämten Worte des Mr. Ford Verwahrung einlegte, welche lauten: »Ceuta müßte den Engländern gehören, weil Spanien nichts daraus zu machen und kaum es zu halten versteht,« wenn er sich schließlich in sehr bitterer Weise über die zähen Engländer aussprach, die nirgends den Fuß hinstellen können, ohne sich auch sofort festzusetzen, so kann man das einem Spanier nicht übel nehmen.

»Ja rief er. Ehe sie daran denken, sich Ceuta’s zu bemächtigen, sollten sie lieber bedacht sein, Gibraltar ‘zu halten. Es gibt da noch ein Gebirge, das Spanien eines Tages ihnen auf den Kopf schütten könnte!«

Der Doctor wollte nicht fragen, wie die Spanier eine solche geologische Erschütterung hervorzubringen gedächten, und ebenso wenig diese Drohung anfechten, welche mit der ganzen Großthuerei eines Hidalgo hervorgebracht worden war. Die Unterhaltung wurde auch durch ein plötzliches Halten des Wagens unterbrochen. Der Kutscher hatte die Pferde vor einer Ansammlung eines halben Hunderts Sträflinge pariren müssen, welche die Straße versperrten.

Der Gouverneur winkte einen der die Aufsicht führenden Unterofficiere herbei. Dieser eilte sofort im vorschriftsmäßigen Schritte an den Wagen. Mit geschlossenen Absätzen und die rechte Hand an den Schirm der Mütze legend, wartete er in militärischer Haltung auf die Anrede.

»Was gibt es hier? fragte der Gouverneur.

– Wir haben einen Sträfling hier auf der Böschung schlafend gefunden, Excellenz, meldete der Aufseher. Er scheint nur eingeschlafen zu sein und trotzdem gelingt es uns nicht, ihn wach zu machen.

– Wie lange befindet er sich schon in diesem Zustande?

– Seit ungefähr einer Stunde.

– Und er schläft ununterbrochen?

– Zu Befehl, Excellenz. Er ist gerade so unempfindlich, als ob er todt wäre. Man hat ihn geschüttelt, gestochen, sogar einen Pistolenschuß vor seinem Ohr abgefeuert: er fühlte und hörte nichts.

– Warum hat man nicht nach dem Arzt des Präsidio geschickt? fragte der Gouverneur.

– Ich habe nach ihm geschickt, Excellenz, doch war er ausgegangen und bis er zurückkommt, wissen wir nicht, was wir mit dem Menschen machen sollen.

– Man möge ihn in das Hospital bringen.«

Der Unterofficier schickte sich schon an, den Befehl ausführen zu lassen, als der Doctor sich hineinmischte.

– »Wollen Sie mir nicht erlauben, Herr Gouverneur, diesen widerspenstigen Schläfer in meiner Eigenschaft als Arzt zu untersuchen? Ich würde es nicht ungern haben, mir den Mann dort in der Nähe betrachten zu dürfen.

– Richtig, das schlägt ja in Ihr Fach, erwiderte der Gouverneur. Ein Schurke behandelt vom Doctor Antekirtt…. Der Mann hat in der That Glück!«



»Was gibt es hier?« fragte der Gouverneur. (S. 407.)


Die Herren verließen ihren Wagen und der Doctor näherte sich dem Verurtheilten, der noch auf der Böschung der Straße lag. Das Leben zeigte sich bei diesem fest eingeschlafenen Menschen nur durch einen etwas keuchenden Athem und das lebhafte Schlagen des Pulses.



Es waren Sarcany und Namir. (S. 412.)


Der Doctor ließ die Umstehenden etwas zurücktreten. Er beugte sich über den trägen Körper, sprach leise zu ihm und betrachtete ihn andauernd, als wollte er eine seiner eigenen Willensäußerungen auf des Spaniers Gehirn übertragen.

Dann erhob er sich und sagte:

»Es hat nichts zu bedeuten. Der Mann ist ganz einfach in einen magnetischen Schlaf verfallen.

– Ah, wirklich? sagte der Gouverneur. Das ist allerdings sehr sonderbar. Und können Sie ihn diesem Schlafe entreißen?

– Nichts leichter als das,« antwortete der Doctor.

Er berührte die Stirn Carpena’s, hob leicht dessen Augenlider empor und sagte:

»Wacht auf!… Ich will es!«

Carpena bewegte sich, öffnete die Augen, blieb aber in dem schläfrigen Zustande. Der Doctor strich mehrere Male und in schräger Richtung mit der Hand vor dem Gesicht des Spaniers vorbei, um die Schlafsucht zu vertreiben und nach und nach entflog die Betäubung, Carpena erhob sich und ohne das Bewußtsein dessen zu haben, was vorgegangen war, begab er sich wieder in die Reihe seiner Genossen zurück. Der Gouverneur, der Doctor und Peter Bathory bestiegen wieder den Wagen, der seine Fahrt zur Stadt fortsetzte.

»Meinen Sie nicht, fragte der Gouverneur, daß der Spitzbube etwas getrunken hat?

– Ich glaube nicht, antwortete der Doctor. Die Erscheinung sah durchaus nach Somnambulismus aus.

– Doch durch was mag sie hervorgebracht worden sein?

– Darauf kann ich beim besten Willen nichts erwidern, Herr Gouverneur. Vielleicht neigt der Mann zu solchen Zufällen? Jetzt ist er wieder auf den Beinen und vorläufig wird der Anfall nicht wiederkommen.«

Der Wagen langte bald an den Wällen an; er fuhr in die Stadt hinein, dann in schräger Richtung durch dieselbe und hielt schließlich auf einem kleinen Platze, der die Einschissungsquais beherrscht. Der Doctor und der Gouverneur nahmen in herzlichster Weise von einander Abschied.

»Da liegt der »Ferrato«, sagte der Doctor und zeigte auf die Dampf-Yacht, welche sich in den Wellen graziös wiegte. Sie werden doch nicht vergessen, daß Sie mir versprochen haben, am Sonntag bei mir an Bord zu frühstücken?

– Ebenso wenig als hoffentlich Sie, lieber Herr Doctor Antekirtt, vergessen haben, daß Sie am Sonntag in meiner Residenz speisen wollen.

– Ich werde nicht ermangeln.«

Sie trennten sich und der Gouverneur verließ den Quai erst, nachdem er das Boot, welches die Reisenden ihrem Schiffe zuführte, hatte abstoßen sehen.

Unterwegs sagte der Doctor zu Peter, der ihn fragte, ob Alles nach seinem Wunsch verlaufen wäre:

»Ja!… Sonntag Abend soll Carpena mit Erlaubniß des Gouverneurs an Bord des »Ferrato« sein!«

Um acht Uhr verließ die Dampf-Yacht ihren Ankerplatz; sie dampfte nordwärts und bald war der Berg Hacho, der diesen Theil der marokkanischen Küste überragt, in den Abendnebeln verschwunden.

Zweites Capitel. Ein Experiment des Doctors.

Der Passagier, dem man nichts über die Bestimmung des Schiffes, welches ihn trägt, gesagt hat, ahnt nicht, auf welchen Punkt der Erdkugel er den Fuß setzt, wenn er in Gibraltar landet.

Zuerst erblickt man den von vielen kleinen Häfen, in welchen die Schiffe anlegen können, durchbrochenen Quai, dann die Bastion einer Wallmauer, in welche ein Thor, das keinen besonderen Charakter trägt, eingelassen ist, sodann einen unregelmäßigen Platz, der von hohen, sich an die Anhöhen lehnenden Kasernen eingefaßt ist, schließlich ein Stückchen einer langen, schmalen gekrümmten Straße, welche den Namen Main-Street führt.

Am Ausgange dieser Straße, deren Pflaster bei jeder Witterung feucht bleibt, inmitten von Lastträgern, Schmugglern, Stiefelwichsern, Cigarren-und Wachsstreichhölzchenverkäufern, zwischen den Sturzkarren, Blockwagen, und den mit Früchten und Feldfrüchten beladenen Karren hindurch kommen und gehen in einem kosmopolitischen Durcheinander Malteser, Marokkaner, Spanier, Italiener, Araber, Franzosen, Portugiesen, Deutsche – Vertreter fast eines jeden Völkerstammes, sogar Bürger der Vereinigten Staaten, die ganz besonders kenntlich sind an den rothen Wämsern ihrer Fußsoldaten, den blauen der Artilleristen und an den Bäckerburschenkäppis, welche sich nur durch ein Wunder der Equilibristik auf dem Ohre zu halten scheinen.

Man ist eben auf Gibraltar. Diese Main-Street durchschneidet die ganze Stadt, denn sie geht von dem Meerthor bis zur Porta d’Alameda. Von dort verlängert sie sich bis zur Punta d’Europa an bunten Landhäusern und grünenden Anlagen vorüber, durch Blumenparterres und Kugelgärten, Batterien mit Geschützen jeder Gattung, Pflanzengebüsche jeder Zone. Ihre Ausdehnung beträgt viertausenddreihundert Meter, das heißt beinahe so viel, als der ganze Felsen von Gibraltar mißt, welches ein Dromedar ohne Kopf, niedergekauert im Sande von San Roque und mit in das Mittelmeer hineinhängendem Schweife zu sein scheint.

Dieser mächtige Felsblock steigt vom Festlande aus, welches er mit seinen Kanonen, mehr als siebenhundert Geschützen, bedroht, deren Schlünde durch die unzähligen Schießscharten der Casematten gähnen – die »Zähne der Greisin« schimpfen die Spanier sie – bis zu einer Höhe von vierhundertfünfundzwanzig Meter steil empor. Zwanzigtausend Einwohner, sechstausend Mann Garnison, bevölkern die unteren Abhänge des Berges, ausschließlich der Vierfüßler, der berühmten »Monos«, schwanzloser Affen, Abkömmlinge der älteren Geschlechter dieses Ortes, in Wahrheit der wirklichen Eigenthümer dieses Bodens, die noch die Höhen des alten Calpe bewohnen. Von dem Gipfel des Berges beherrscht man die Meerenge, überwacht das ganze marokkanische Gestade, auf der einen Seite das Mittelländische Meer, auf der anderen den Atlantischen Ocean. Die Fernröhre der Engländer bestreichen einen Umkreis von zweihundert Kilometern innerhalb dessen sich auch nicht der kleinste und verborgenste Punkt ihrer Beobachtung entziehen kann – und wie gut beobachten sie!

Wenn glückliche Umstände es ermöglicht haben würden, daß der »Ferrato« zwei Tage früher auf der Rhede von Gibraltar hätte eintreffen können, wenn zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang der Doctor Antekirtt und Peter Bathory an dem kleinen Quai gelandet wären, das Meerthor durchschritten, die Main-Street passirt, durch das Thor von Alameda die Stadt verlassen hätten, um die schönen Gärten zu erreichen, die sich auf der linken Seite bis zur halben Höhe des Berges hinaufziehen, so würden vielleicht die im Laufe der Erzählung berichteten Ereignisse einen schnelleren und wahrscheinlich einen wesentlich anderen Verlauf genommen haben.

Am 19. September Nachmittags nämlich saßen auf einer der hochlehnigen Holzbänke, welche die englischen Gartenanlagen zieren, im Schatten der großen Bäume, den Rücken den die Rhede bestreichenden Kanonen zugewandt, zwei Personen plaudernd, welche das Bestreben zeigten, von den dort Promenirenden nicht gehört zu werden: es waren Sarcany und Namir.

Man hat gewiß nicht vergessen, daß Sarcany mit Namir in Sicilien zusammentreffen wollte, als die Expedition nach Casa Inglese unternommen wurde, die mit dem Tode Zirone’s endete. Sarcany, rechtzeitig benachrichtigt, änderte seinen Feldzugsplan, was zur Folge hatte, daß der Doctor vergebens acht Tage hindurch mit seinem Schiffe vor Catania ankerte. Namir verließ auf die empfangenen Befehle hin unverzüglich Sicilien und kehrte nach Tetuan zurück, woselbst sie damals hauste. Von Tetuan kam sie nach Gibraltar, wohin sie Sarcany bestellt hatte. Sie war am Abend zuvor angekommen und gedachte, am folgenden Tage abzureisen.

Namir, die wilde Genossin Sarcany’s, war diesem mit Leib und Seele ergeben. Sie war es, die ihn in den Duars von Tripolis erzogen hatte, als wenn sie seine Mutter gewesen wäre. Sie hatte ihn niemals verlassen, selbst damals nicht, als er Maklergeschäfte in der Regentschaft verrichtete, wo sie durch geheime Vertraulichkeiten mit den furchtbaren Sectenanhängern des Senusismus in Verbindung stand, deren Pläne auf die Einnahme von Antekirtta hinausliefen, wie schon weiter oben gesagt wurde.

Namir war halb mit ihren Gedanken, halb mit ihren Handlungen an Sarcany durch eine Art mütterlicher Liebe geknüpft, sie war ihm vielleicht ergebener als es Zirone, sein Genosse in Freud und Leid, jemals geworden wäre. Auf ein Zeichen von ihm hätte sie für ihn ein Verbrechen begangen, auf einen Befehl von ihm ohne Zögern den Tod auf sich genommen. Sarcany konnte also zu Namir ein unbedingtes Vertrauen haben, und wenn er sie nach Gibraltar hatte kommen lassen, so war es deshalb, weil er mit ihr von Carpena sprechen wollte, von dem er jetzt Alles zu befürchten hatte.

Diese Unterredung war die erste, welche sie seit Sarcany’s Ankunft in Gibraltar mit einander hatten, sie sollte auch die einzige sein. Sie wurde in arabischer Sprache geführt.

Sarcany stellte zunächst eine Frage und die Antwort, die er empfing, betrachteten Beide jedenfalls als eine überaus wichtige, weil ihre Zukunft davon abhing.

»Sarah?… fragte Sarcany.

– Sie ist in Tetuan gut aufgehoben, erwiderte Namir, in dieser Beziehung kannst Du beruhigt sein.

– Auch während Deiner Abwesenheit?

– Während meiner Abwesenheit ist das Haus einer alten Jüdin anvertraut, die es nicht einen Augenblick verlassen wird. Sie befindet sich wie in einem Gefängnisse; Niemand kommt zu ihr hinein, Niemand vermag zu ihr zu dringen. Sarah weiß übrigens nicht, daß sie sich in Tetuan befindet, sie weiß auch nicht, wer ich bin, nicht einmal, daß sie in Deiner Gewalt ist.

– Du sprichst doch noch immer mit ihr von der Heirat?

– Ja, Sarcany, antwortete Namir. Ich lasse es nicht dazu kommen, daß sie sich von der Idee, Deine Frau zu werden, entwöhnt, und sie wird Deine Frau werden.

– Sie muß, Namir, sie muß es, um so eher, als das Vermögen von Toronthal jetzt kein beträchtliches mehr ist…. Das Spiel war dem armen Silas nie recht hold!

– Du wirst ihn nicht mehr brauchen, Sarcany, denn Du wirst reicher werden als Du jemals gewesen bist.

– Ich weiß wohl, Namir, doch der äußerste Termin, an dem meine Heirat mit Sarah vollzogen werden muß, naht heran. Ich brauche eine freiwillige Einwilligung ihrerseits, und wenn sie sich weigert…

– So werde ich sie zwingen, sich zu unterwerfen, antwortete Namir. Ich werde ihr ihre Einwilligung entreißen…. Du kannst Dich auf mich verlassen, Sarcany.«

Es wäre schwer gewesen, sich eine entschlossenere, wildere Physiognomie vorzustellen, als sie die Marokkanerin zur Schau trug, während sie so sprach.

»Schön, Namir! sagte Sarcany befriedigt. Fahre fort, gut aufzupassen. Ich werde nicht ermangeln, Dir zu Hilfe zu kommen.

– Liegt es nicht in Deiner Absicht, daß wir Tetuan bald verlassen? fragte die Marokkanerin.

– Nein, so lange ich nicht dazu gezwungen werde, gewiß nicht, denn dort kennt und kann Niemand Sarah kennen. Wenn die Ereignisse mich nöthigen werden, Euch von dort fortziehen zu lassen, so werde ich Dich schon rechtzeitig benachrichtigen.

– Und nun sage mir, Sarcany, warum hast Du mich nach Gibraltar kommen lassen?

– Weil ich mit Dir über gewisse Dinge sprechen muß, die man mündlich besser erörtert als in einem Briefe.

– Erzähle, Sarcany, und wenn es sich um einen Befehl handelt, den ich ausführen soll, so wird er ausgeführt, darauf kannst Du rechnen.

– Ich will Dir sagen, wie ich stehe, antwortete Sarcany. Frau Bathory ist verschwunden und ihr Sohn ist todt. Ich habe also von Seiten dieser Familie nichts mehr zu befürchten. Frau Toronthal ist todt und Sarah in meiner Macht. Also auch auf dieser Seite kann ich ruhig sein. Von den anderen Personen, die meine Geheimnisse kennen oder gekannt haben, ist der Eine, Silas Toronthal, mein Genosse, er steht völlig unter meiner Botmäßigkeit; der Andere, Zirone, ist bei der letzten Expedition in Sicilien umgekommen. Also von allen denen, die ich soeben genannt habe, kann Keiner sprechen und wird Keiner sprechen.

– Wen fürchtest Du also? fragte Namir.

– Ich fürchte einzig und allein die Einmischung zweier Individuen, von denen der Eine einen Theil meiner Vergangenheit kennt und von denen der Andere sich in mein jetziges Leben mehr zu mischen scheint, als es mir lieb sein kann.

– Der Eine ist Carpena?… fragte Namir.

– Ja, antwortete Sarcany. Und der Andere ist dieser Doctor Antekirtt, dessen Beziehungen zu der Familie Bathory in Ragusa mir von Anfang an verdächtig erschienen sind. Ich habe auch von Benito, dem Herbergsvater von Santa Grotta vernommen, daß dieser Mann, der Millionen besitzt, mit Hilfe eines gewissen, in seinen Diensten stehenden Mannes, Namens Pescador, Zirone in einen Hinterhalt locken wollte. Der Zweck dieser Unternehmung konnte doch nur der sein, sich Zirone’s zu bemächtigen – da man mich nicht bekam – um ihm seine Geheimnisse abzuzwingen.

– Das klingt nur zu wahrscheinlich, sagte Namir. Mehr als je mußt Du jetzt diesem Doctor Antekirtt mißtrauen.

– Vor allen Dingen ist es nöthig, stets zu wissen, was er thut, und namentlich, wo er sich befindet.

– Ein schwieriges Ding, Sarcany, erwiderte Namir, denn, wie ich in Ragusa gehört habe, ist er eines schönen Tages an einem Ende des Mittelmeeres, und am folgenden an einem ganz entgegengesetzten.

– Ja, dieser Mann scheint die Gabe zu besitzen, sich vervielfältigen zu können, rief Sarcany. Doch soll damit nicht gesagt sein, daß ich mir ohne Weiteres mein Spiel von ihm durchkreuzen lassen werde, und wenn ich ihm bis auf seine Insel Antekirtta folgen müßte, so werde ich es…

– Ist die Heirat einmal vollzogen, meinte Namir, so wirst Du weder von ihm, noch von sonst Jemand etwas zu fürchten haben.

– Das stimmt, Namir, aber bis dahin…

– Bis dahin werden wir auf unserer Hut sein. Wir werden übrigens stets einen Vortheil vor ihm haben: denn wir werden stets wissen, wo er sich aufhält, während er nicht wissen kann, wo wir uns befinden. Sprechen wir jetzt von Carpena! Was hast Du von diesem Manne zu befürchten, Sarcany?

– Carpena weiß von meinen Beziehungen zu Zirone. Seit mehreren Jahren nahm er an Unternehmungen Theil, bei denen ich die Hand im Spiele hatte, und er kann erzählen…

– Vor allen Dingen, Carpena ist jetzt im Gewahrsam in Ceuta und zu lebenslänglicher Galeerenarbeit verurtheilt.

– Das ist es gerade, was mich beunruhigt, Namir…. Carpena kann, um seine Lage zu verbessern, um eine Begnadigung zu erhalten, Aussagen machen Ebenso wie wir wissen, daß er nach Ceuta gebracht worden ist, wissen es Andere auch, wieder Andere kennen ihn persönlich – zum Beispiel Pescador, der sich in Malta so geschickt an ihn machte. Dieser Mann kann dem Doctor Antekirtt das Mittel an die Hand geben, bis zu ihm zu dringen. Er kann ihm seine Geheimnisse zu goldenen Preisen abkaufen. Er kann sogar versuchen, ihn aus dem Präsidio entfliehen zu lassen. Das liegt nämlich in Wahrheit so nahe, Namir, daß ich mich schon vergebens gefragt habe, warum er es bis jetzt nicht gethan hat.«

Sarcany, sehr intelligent und umsichtig wie er war, hatte genau geahnt, welches die Projecte des Doctors bezüglich des Spaniers waren; er begriff genau, wessen er sich zu versehen hatte.

Namir mußte zugeben, daß Carpena in der Lage, in welcher er sich befand, sehr gefährlich werden konnte.

»Warum ist er nicht lieber als Zirone dort unten verschwunden? schrie Sarcany.

– Was sich in Sicilien nicht gemacht hat, erwiderte Namir kühl, sollte sich das nicht in Ceuta bewerkstelligen lassen?«

Da war gleich die Frage, auf die von beiden Seiten gewartet wurde, klar heraus. Namir erklärte in Folgendem Sarcany, daß nichts leichter wäre, als von Tetuan nach Ceuta, so oft als sie es für wünschenswerth erachten würde, zu gelangen. An zwanzig Meilen höchstens trennen diese beiden Städte, Tetuan liegt etwas weiter in das Land hinein als die Strafkolonie, südlich von der marokkanischen Küste. Da die Sträflinge meistens auf den Landstraßen arbeiten oder in der Stadt umhergehen können, so konnte es nicht sehr schwer fallen, mit Carpena in Verbindung zu kommen, der Namir ja kannte. Man könnte ihn glauben lassen, daß Sarcany sich für seine Flucht interessire, ihm etwas Geld zustecken oder irgend eine Beigabe zu der gewöhnlichen Kost des Häftlings. Und wenn selbst ein vergiftetes Stück Brod oder eine Frucht in Carpena’s Mund gelangte, wer hätte wohl um den Tod dieses Menschen besorgt sein sollen, oder seiner Ursache nachforschen wollen?

Ein Schuft weniger im Präsidio; ein solcher Vorfall konnte den Gouverneur von Ceuta nicht im Geringsten beunruhigen. Sarcany aber hatte dann weder von dem Spanier etwas zu befürchten, noch von den Nachstellungen des Doctors Antekirtt, der interessirt war, seine Geheimnisse kennen zu lernen.

Aus dieser Unterredung ging also Folgendes hervor: Während die Einen sich damit beschäftigten, die Entweichung Carpena’s vorzubereiten, wollten die Anderen versuchen, sie dadurch zu vereiteln, daß sie den Spanier schon vor der Zeit in die Strafkolonien einer anderen Welt sandten, aus denen es keine Wiederkehr gibt.



Namir hatte jedes Manöver der Dampf-Yacht verfolgt. (S. 420.)


Als Alles verabredet war, kehrten Sarcany und Namir in die Stadt zurück, wo sie sich trennten Am selben Abend noch reiste Sarcany nach Spanien ab, um mit Silas Toronthal zusammenzutreffen, während Namir am nächsten Tage sich über die Bai von Gibraltar setzen ließ, um sich in Algesiras auf dem Packetboot einzuschiffen, welches den regulären Dienst zwischen Europa und Afrika versieht.

Gerade als der Dampfer den Hafen verließ, kreuzte er sich mit einer Vergnügungs-Yacht, die auf die Bai von Gibraltar lossteuerte, um in den englischen Gewässern vor Anker zu gehen.

Es war der »Ferrato«. Namir, die dieses Schiff während seines Aufenthaltes in Catania genau studirt hatte, erkannte es sofort wieder.

»Doctor Antekirtt hier! murmelte sie. Sarcany hat Recht, es schwebt Gefahr in der Luft und diese Gefahr ist nahe!«

Einige Stunden später schiffte sich die Marokkanerin in Ceuta aus. Ehe sie nach Tetuan zurückkehrte, wollte sie ihre Maßregeln treffen, um sich mit dem Spanier in Verbindung setzen zu können. Ihr Plan war ein höchst einfacher, er mußte gelingen, wenn die Zeit zu seiner Ausführung hinreichte.

Die Sache lag aber doch etwas verwickelter, als Namir wissen konnte. Carpena nämlich hatte sich das Dazwischentreten des Doctors bei dessen erstem Besuch in Ceuta zu Nutze gemacht und sich krank gestellt; wenn er es auch nicht oder nur sehr wenig war, so hatte er es doch durchzusetzen gewußt, auf die Dauer einiger Tage in das Hospital der Strafkolonie aufgenommen zu werden. Namir sah sich also darauf beschränkt, um das Hospital herumschleichen zu müssen, ohne bis zu ihm dringen zu können. Eines nur tröstete sie. Ebenso wie sie selbst Carpena nicht sehen konnte, konnte auch der Doctor Antekirtt und seine Agenten ihn nicht zu Gesicht bekommen. Es ist also keine Gefahr im Verzuge, überlegte sie. Eine Flucht war in der That nicht zu befürchten, so lange der Verurtheilte seine Arbeiten auf den Landstraßen der Kolonie nicht wieder aufgenommen haben würde. Namir täuschte sich in ihren Voraussetzungen. Der Eintritt Carpena’s in das Hospital gerade mußte die Pläne des Doctors fördern und höchst wahrscheinlich ihr Gelingen herbeiführen.

Der »Ferrato« warf am 22. September Abends Anker auf der Bai von Gibraltar, welche leider zu häufig von den Ost-und Südwestwinden bestrichen wird. Die Dampf-Yacht aber sollte dort nur bis zum folgenden Tage, das heißt bis zum Sonnabend bleiben. Der Doctor und Peter begaben sich, sobald sie des Morgens schon an Land gegangen waren, zum Postbureau in der Main-Street, woselbst postlagernde Briefe auf sie warteten.

Der eine rührte von einem der sicilianischen Agenten des Doctors her, sein Inhalt besagte, daß seit der Abfahrt des »Ferrato« Sarcany weder in Catania, noch in Messina, noch in Syrakus aufgetaucht wäre.

Der andere war von Pointe Pescade und für Peter Bathory bestimmt; der Erstere schrieb, daß es ihm schon unendlich besser ginge, und daß die Wunde keine Spuren hinterlassen würde. Der Doctor Antekirtt könnte ihn getrost wieder in seine Dienste nehmen, sobald er es wünschte, in Gemeinschaft mit Kap Matifu, der beiden Herren seine unterthänigsten Empfehlungen als »kalt gestellter« Hercules übersende.

Ein dritter Brief endlich brachte Luigi Nachrichten von seiner Schwester Maria. Dieser Brief war weniger der einer liebenden Schwester als derjenige einer besorgten Mutter.

Wären der Doctor und Peter sechsunddreißig Stunden früher in den Gartenanlagen Gibraltar’s lustgewandelt, so wären sie ebendaselbst mit Sarcany und Namir zusammengetroffen.

Dieser Tag wurde dazu benützt, die Kammern des »Ferrato« mit Hilfe von Lastkrahnen zu füllen, welche die Kohlen von schwimmenden Magazinen herbeischleppen, die auf der Rhede verankert sind. Man erneuerte auch den Vorrath an Süßwasser, theils für die Dampfkessel, theils für die Vorrathskästen und Speisekammern des »Ferrato«. Es war bereits Alles gethan, als der Doctor und Peter, welche in einem Hotel des Commercial Square gespeist hatten, an Bord zurückkehrten, in demselben Augenblick, als ein Geschütz gelöst wurde. Dieser Schuß galt als Zeichen für die Schließung der Thore der Stadt, die dort ebenso gewissenhaft und streng gehandhabt wird, als in irgend einem Gefängnißplatze wie Norfolk oder Cayenne.

Der »Ferrato« lichtete aber an diesem Abende noch nicht die Anker. Da er höchstens zwei Stunden zur Ueberfahrt über die Meerenge brauchte, so dampfte er erst am folgenden Morgen in der achten Stunde ab. Sobald er aus dem Bereiche des Feuers der englischen Batterien gekommen war, welche ihre Uebungsschüsse so abzugeben wußten, daß sie nicht in die Breitseite des »Ferrato« schlugen, gab er vollen Dampf in der Richtung auf Ceuta. Um neunundeinhalb Uhr langte er am Berg Hacho an; doch da die Brise aus Nordwesten wehte, so war an der Stelle, welche er drei Tage zuvor innegehabt hatte, kein sicherer Ankerplatz für ihn. Der Kapitän drehte deshalb auf der anderen Seite der Stadt auf einer kleinen Rhede bei, welche durch ihre Lage vor den Landwinden geschützt ist; hier wurden in einer Entfernung von zwei Ankerlängen von der Küste die Anker geworfen.

Eine Viertelstunde später landete der Doctor an einem kleinen Molo. Namir, die ihn beobachtete, hatte jedes Manöver der Dampf-Yacht verfolgt. Der Doctor, welcher die Züge der Marokkanerin im Schatten des Bazars von Cattaro nur flüchtig hatte beobachten können, hätte sie kaum wiedererkannt, diese dagegen, welche den Doctor in Gravosa und in Ragusa oft genug zu Gesicht bekommen hatte, wußte genau, wer er war. Sie entschloß sich, so lange der Aufenthalt in Ceuta dauern sollte, mehr als je auf der Hut und wachsam zu sein.

Der Doctor fand bereits den Gouverneur und einen seiner Adjutanten, auf ihn wartend, am Quai vor.

»Willkommen, mein werther Gast, rief der Gouverneur. Sie sind ein Mann von Wort. Sie gehören mir nun mindestens für den ganzen Tag…

– Ich werde Ihnen nicht eher gehören, Herr Gouverneur, als bis Sie mein Gast gewesen sind. Vergessen Sie nicht, daß das Frühstück Sie an Bord des »Ferrato« erwartet.

– Nun, wenn es wartet, lieber Herr Doctor, wäre es unhöflich, es noch länger warten zu lassen.«

Das Boot brachte den Doctor und seine Gäste an Bord zurück. Die Tafel war luxuriös gedeckt, und Alle thaten der im Eßsalon der Dampf-Yacht aufgetragenen Mahlzeit Ehre an.

Während des Frühstücks drehte sich die Unterhaltung vornehmlich um die Verwaltung der Kolonie, über die Sitten und Gewohnheiten der Einwohner, über die Beziehungen der spanischen Bewohner zu den Eingeborenen. Ganz beiläufig fühlte sich der Doctor veranlaßt, nach dem Sträfling zu fragen, den er vor zwei bis drei Tagen auf der Landstraße nach der Residenz aus einem magnetischen Schlafe erlöst hatte.

»Er erinnert sich wohl an nichts? fragte er.

– An nichts, antwortete der Gouverneur. Uebrigens ist er augenblicklich nicht bei den Pflasterarbeiten thätig.

– Wo ist er denn? fragte der Doctor, etwas beunruhigt, was aber nur Peter bemerken konnte.

– Er befindet sich im Hospital, erwiderte der Gouverneur. Es scheint, daß jener Anfall seine kostbare Gesundheit angegriffen hat.

– Wer ist dieser Mann?

– Er ist ein Spanier, Namens Carpena, ein gemeiner Mörder, wenig Ihres Interesses werth, Doctor Antekirtt; sein Tod wäre wahrlich kein Verlust für das Präsidio.«

Dann kam man auf andere Dinge zu sprechen. Es paßte dem Doctor augenscheinlich nicht, des Weiteren von dem Deportirten und seinem Leiden zu sprechen, der nach einigen Tagen schon als gesund aus dem Hospital entlassen werden sollte.

Nach Beendigung des Frühstücks wurde der Kaffee auf Deck eingenommen und der Rauch der Cigarren und Cigarretten verflüchtete unter dem Zeltdache des Hinterdecks. Später bot der Doctor dem Gouverneur an, ihn sofort zu begleiten. Er gehörte jetzt ihm und wäre bereit, die spanische Enclave in allen ihren Abtheilungen zu besichtigen.

Das Anerbieten wurde mit Freuden angenommen und bis zur Stunde des Diners hatte der Gouverneur vollauf Zeit, dem berühmten Besucher der Kolonie die Honneurs zu machen.

Der Doctor und Peter Bathory wurden also gewissenhaft in der ganzen Enclave, der Stadt und der Landschaft herumgeführt. Kein Detail wurde ihnen geschenkt, weder in dem Gefängnisse noch in den Kasernen. An jenem Tage – einem Sonntage – waren die Sträflinge natürlich ihrer gewöhnlichen Arbeiten überhoben, der Doctor konnte sie also unter neuen Verhältnissen beobachten. Carpena sah er nur, als er durch einen der Säle des Lazareths schritt; der Doctor schien ihm keine besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Dieser gedachte noch in derselben Nacht nach Antekirtta zurückkehren zu können, doch wollte er zuvor noch den größten Theil des Abends beim Gouverneur verbringen. Gegen sechs Uhr Abends betrat er die Residenz, woselbst ein elegant servirtes Diner ihn erwartete, das als Gegenstück zu dem von ihm gegebenen Frühstück am Vormittag betrachtet wurde.

Der Doctor wurde, was eigentlich selbstverständlich ist, auf seinem Spaziergange »intra et extra muros« von Namir verfolgt; er ahnte wohl kaum, daß er der Gegenstand einer so peinlichen Spionage war.

Man dinirte in sehr heiterer Laune. Einige hervorragende Persönlichkeiten der Kolonie, mehrere Officiere mit ihren Damen, zwei oder drei reiche Kaufleute waren ebenfalls gebeten worden und verbargen unschwer ihr Vergnügen, den Doctor Antekirtt sehen und sprechen hören zu können. Dieser erzählte gern und viel von seinen Reisen im Orient, durch Syrien, Arabien und Nordafrika.

Dann wendete sich die Unterhaltung wieder Ceuta zu und der Doctor konnte nicht umhin, dem Gouverneur für seine verdienstvolle Verwaltung der spanischen Enclave ein lautes Lob zu sagen.

»Macht Ihnen, fügte er hinzu, die Ueberwachung der Gefangenen nicht mitunter große Sorge?

– Und warum, mein lieber Herr Doctor?

– Ich denke, diese Leute machen oftmals den Versuch zu entfliehen? Da jeder Gefangene öfter an die Bewerkstelligung seiner Flucht denkt, als seine Wächter daran, sie zu verhindern, so folgt daraus, daß der Gefangene im Vortheil ist. Ich würde wirklich nicht überrascht sein, von Ihnen zu hören, daß so manchmal Einer beim Abendappell vermißt wird.

– Niemals, antwortete der Gouverneur, niemals! Wohin sollten diese Flüchtlinge auch gehen? Der Weg über das Meer ist ihnen vollständig abgeschnitten. In das Land hinein und unter die wilden Stämme Marokko’s zu fliehen, wäre sehr gefährlich. Folglich bleiben unsere Sträflinge ruhig im Präsidio, wenn auch nicht mit großem Vergnügen, so doch aus Klugheit.

– Wenn dem so ist, so kann man Ihnen Glück wünschen, Herr Gouverneur, denn es steht zu befürchten, daß dieses Hüten von Gefangenen in Zukunft eine noch schwierigere Sache sein wird, als sie es schon ist.

– Wie ist das zu verstehen, Herr Doctor? fragte einer der Gäste, den diese Unterhaltung ganz besonders interessirte, weil er der Director der Strafanstalt war.

– Weil, mein Herr, antwortete der Doctor, das Studium der magnetischen Erscheinungen große Fortschritte gemacht hat, weil die Proceduren mit Jedermann vorgenommen werden können, weil schließlich die Wirkungen der Suggestion von Tag zu Tag sich vermehren und auf nichts Kleineres hinauslaufen, als eine Person vollständig durch eine andere zu ersetzen.

– Wie könnte das in diesem Falle…? fragte der Gouverneur.

– In diesem Falle, denke ich wohl, wird es gerathen sein, die Wächter der Gefangenen nicht weniger überwachen zu lassen als letztere selbst. Ich war auf meinen Reisen häufig ein Zeuge so außerordentlicher Vorgänge, Herr Gouverneur, daß ich von dieser Gattung phänomenaler Erscheinungen eigentlich Alles erwarte. Es liegt in Ihrem Interesse, nicht zu vergessen, daß, wenn ein Gefangener unter dem Einflusse eines fremden Willens unbewußt entfliehen kann, ein demselben Einflusse unterworfener Wächter ihn nicht weniger unbewußt entfliehen lassen kann.

– Würden Sie wohl die Güte haben, uns zu erklären, worin diese überraschende Erscheinung besteht? fragte der Director der Strafanstalt.

– Sehr gern, Herr Director, an einem Beispiele werden Sie am Besten erkennen können, was ich meine, erwiderte Doctor Antekirtt. Nehmen Sie an, ein Wächter besäße eine natürliche Veranlagung, dem magnetischen oder hypnotischen Einflusse, was dasselbe ist, zu unterliegen, und nehmen wir ferner an, daß ein Sträfling diesen Einfluß auf ihn ausübt… Nun gut, so ist von diesem Augenblicke an der Gefangene zum Herrn über den Wächter geworden, er wird diesen thun lassen, wie es ihm gefälle, er wird ihn gehen lassen, wohin es ihm gefällt, er wird ihn nöthigen, ihm das Thor seines Gefängnisses aufzuschließen, wenn er in ihm diese Idee wachrufen wird.

– Sehr richtig, antwortete der Director, doch kann er es nur unter einer Bedingung; er muß den Wächter vorher eingeschläfert haben….

– Darin täuschen Sie sich, Herr Director, antwortete der Doctor. Alle Handlungen können in wachendem Zustande vorgenommen werden und trotzdem vollführt der Wächter sie unbewußt.

– Wie? Sie behaupten…?

– Ich behaupte und will es gern beweisen, daß ein Gefangener unter Ausübung des magnetischen Einflusses zu seinem Wächter sagen kann: An dem und dem Tage, zu der und der Stunde wirst Du das und das thun, und der Wächter wird es thun! An dem und dem Tage bringst Du mir die Schlüssel zu meiner Zelle und er wird sie bringen! An dem und dem Tage wirst Du mir das Thor des Präsidio öffnen und er wird es öffnen. An dem und dem Tage werde ich an Dir vorübergehen und Du wirst mich nicht vorübergehen sehen.

– Im wachenden Zustande?

– Vollständig wachend!«

Bei dieser Behauptung des Doctors machte sich unter den Anwesenden eine schlecht verhehlte Bewegung des Unglaubens geltend.

»Und doch ist, was der Herr Doctor sagt, vollständig richtig, schaltete Peter Bathory ein, ich selbst habe solch’ ähnliche Erscheinungen beobachtet.

– Man kann also, fragte der Gouverneur, die Materiellität einer Person durch die Blicke einer zweiten vollständig aufheben?

– Vollständig, wiederholte der Doctor, bei gewissen Individuen kann man eine so bedeutende Sinnennacht heraufbeschwören, daß sie Salz für Zucker,



Gibraltar.


Milch für Weinessig oder gewöhnliches Wasser für Bitterwasser ansehen und genießen. Im Reiche der Illusionen oder Hallucinationen ist nichts unmöglich, das Gehirn ist jedem Einflusse zu unterwerfen.



Carpena ließ sich vor dem Gouverneur auf die Knie nieder. (S. 428.)


– Ich glaube im Sinne aller meiner Gäste zu sprechen, Herr Doctor Antekirtt, sagte der Gouverneur, wenn ich behaupte, daß man solche Dinge erst glauben kann, wenn man sie gesehen hat.

– Und dann auch nur schwer, warf einer der Anwesenden ein, der wahrscheinlich sehr mißtrauischer Natur war.

– Es ist bedauerlich, fuhr der Gouverneur fort, daß Sie nur so kurze Zeit in Ceuta bleiben. Sonst könnten Sie selbst gewiß uns ein solches Experiment zeigen.

– Gewiß kann ich es, antwortete der Doctor.

– Vielleicht jetzt gleich?

– Wenn Sie es wünschen, sofort.

– Wie also?… Bitte bestimmen Sie nur.

– Sie haben gewiß nicht vergessen, Herr Gouverneur, begann der Doctor, daß einer der Sträflinge des Präsidio vor drei Tagen auf der Straße nach der Residenz schlafend gefunden wurde und zwar war dieser Schlaf, wie ich Ihnen bereits sagte, magnetischer Natur.

– Ganz recht, bemerkte der Director der Anstalt, der Mann befindet sich jetzt im Hospital.

– Sie werden sich erinnern, daß ich es war, der ihn aufweckte, nachdem die Wächter alle möglichen Mittel, ihn aufzumuntern, vergebens angewendet hatten.

– Richtig.

– Dieses Geschehniß hat bereits zwischen mir und dem Deportirten… wie hieß er doch gleich?

– Carpena.

– Zwischen mir und Carpena ein Band geknüpft, welches ihn vollständig meiner Eingebung unterordnet.

– Wenn er sich Ihnen gegenüber befindet

– Nein, auch wenn wir einander nicht sehen.

– Während Sie hier in unserer Mitte und Jener sich im Hospital befindet? fragte der Gouverneur.

– Ja, und wenn Sie Befehl geben wollen, diesen Carpena freizulassen, daß man alle Thüren des Hospitals und des Gefängnisses vor ihm öffnet, wissen Sie, was er dann thun wird…

– Nun, er wird ausrücken,« rief lachend der Gouverneur.

Sein Lachen wirkte so ansteckend, daß alle Anwesenden einstimmten.

»Nein, meine Herrschaften, erwiderte der Doctor Antekirtt sehr ernst, dieser Carpena wird erst »ausrücken,« wenn ich es ihm befehle, und er wird nur das thun, was ich ihm zu thun vorschreibe.

– Und was zum Beispiel?

– Nun, wenn er das Gefängniß verlassen hat, will ich ihm eingeben, sich auf den Weg zu Ihrer Residenz zu machen, Herr Gouverneur.

– Hieher zu kommen?

– Hieher, an diesen Ort, wenn ich es will, und er soll darauf bestehen Sie sprechen zu wollen.

– Mich?

– Sie, und wenn Sie darin nichts Unziemliches erblicken, will ich ihm den Gedanken eingeben, Sie für eine andere Persönlichkeit anzusehen… nehmen wir an, für den König Alphons XII.

– Für seine Majestät den König von Spanien?

– Ja, Herr Gouverneur, und er soll Sie bitten…

– Um Gnade?

– Ja, um Gnade, und, wenn Sie auch darin nichts Unschickliches erblicken, um das Kreuz Isabella’s noch dazu.«

Ein abermaliges allgemeines Gelächter begleitete die letzten Worte des Doctors.

»Und der Mann wird wach sein, während er das thut? fragte der Director der Strafanstalt.

– So wach wie wir selbst.

– Nein!… Nein! Es ist nicht glaubbar, nicht möglich! rief der Gouverneur.

– Machen Sie die Probe!… Befehlen Sie, daß man Carpena jede Freiheit des Handelns lasse…. Zur größeren Sicherheit ordnen Sie ein oder zwei Wächter ab, die ihm von fern folgen, wenn er die Anstalt verlassen hat… Er wird Alles thun, was ich sagen werde.

– Abgemacht, und wann wünschen Sie…

– Es ist bald acht Uhr, antwortete der Doctor, indem er seine Uhr befragte. Ginge es um neun Uhr?

– Gewiß, und nach dem Experiment…

– Nach dem Experiment wird Carpena ruhig in das Hospital zurückkehren und nicht einmal die leiseste Erinnerung an das, was geschehen ist, zurückbehalten. Ich wiederhole Ihnen – und das ist zugleich die einzige Erklärung, welche man dem Phänomen geben kann – Carpena wird sich unter dem Einflusse der Suggestion, der Eingebung befinden, die von mir ausgeht und in Wirklichkeit ist es nicht er, der die verschiedenen Dinge ausführt, sondern ich bin es.«

Der Gouverneur, dessen Unglaube hinsichtlich dieses Phänomens offenbar war, schrieb einige Zeilen, welche dem Oberaufseher des Präsidio den Befehl ertheilten, den Sträfling Carpena sich vollständig frei bewegen zu lassen; man sollte sich lediglich darauf beschränken, ihm in einiger Entfernung zu folgen. Das Billet wurde unverzüglich von einem der Adjutanten in das Gefängniß gebracht.

Da das Diner inzwischen sein Ende erreicht hatte, so erhoben sich die Gäste, und sie begaben sich auf die Einladung des Gouverneurs hin in den großen Salon.

Die Unterhaltung beschäftigte sich natürlich auch jetzt noch mit den verschiedenen Erscheinungen des Magnetismus oder Hypnotismus, welche, wie bekannt, Anlaß zu großer Meinungsverschiedenheit gegeben und ebenso viele Gläubige als Ungläubige geschaffen haben. Doctor Antekirtt erzählte, während die Kaffeetassen umherwanderten, die Cigarren und Cigaretten ihre Rauchwölkchen verbreiteten – von solchen Dingen sind die Spanier anerkannte Liebhaber – zwanzig Vorfälle, deren Zeuge oder Veranlasser er während Ausübung seiner ärztlichen Praxis gewesen war. Diese Vorfälle waren alle wahrscheinlicher, fast unbestreitbarer Natur und dennoch schienen sie Keinen wirklich überzeugen zu können.

Er ergänzte noch seine Mittheilungen dahin, daß diese Suggestionsmöglichkeit die Gesetzgeber, Criminalisten und Magistrate sehr ernstlich werde beschäftigen müssen, da sie leicht zu verbrecherischen Zwecken ausgenützt werden könnte. Mit Hilfe dieser Gedankenübertragung könnten sich unbestreitbare Fälle ereignen oder Verbrechen begangen werden, deren Urheber zu entdecken eine Unmöglichkeit wäre.

Plötzlich, siebenundzwanzig Minuten vor neun Uhr, unterbrach sich der Doctor und sagte:

»Carpena verläßt in diesem Augenblick das Hospital.«

Eine Minute später fuhr er fort:

»Jetzt durchschreitet er das Thor des Gefängnisses.«

Der Ton, in welchem diese Worte vorgebracht wurden, verfehlte nicht, Eindruck auf die Anwesenden zu machen, nur der Gouverneur schüttelte unüberzeugt mit dem Kopfe.

Die Unterhaltung begann von Neuem, der Eine war für, der Andere gegen den Doctor, Alle sprachen auf einmal, bis der Doctor fünf Minuten vor neun Uhr noch einmal den Redeschwall unterbrach und sagte:

»Carpena steht vor der Thür der Residenz!«

Fast in demselben Augenblicke betrat ein Diener den Salon und benachrichtigte den Gouverneur, daß ein in der Sträflingskleidung steckendes Individuum ihn dringlichst zu sprechen wünschte.

»Laß ihn eintreten,« antwortete der Gouverneur, dessen Unglaube vor der Augenscheinlichkeit der Thatsachen merklich abzunehmen begann.

Es schlug gerade neun Uhr, als Carpena sich an der Thür des Salons zeigte. Er schien keinen der Anwesenden zu bemerken, obwohl seine Augen vollständig offen waren und ging direct auf den Gouverneur zu. Er ließ sich vor ihm auf die Knie nieder und sagte:

»Sire, ich bitte um Gnade!«

Der Gouverneur, vollständig verwirrt, als wenn er selbst sich unter dem Eindrucke einer Hallucination befände, wußte nicht, was er ihm antworten sollte.

»Sie können ihm mit ruhigem Gewissen Gnade zu Theil werden lassen, sagte der Doctor lachend. Er wird keine Erinnerung an dieselbe behalten.

– Ich begnadige Dich! antwortete der Gouverneur mit der Würde eines Königs aller Spanier.

– Wollen, Sire, nicht Ihrer Gnade das Kreuz Isabella’s hinzufügen? bettelte Carpena, noch immer auf den Knien liegend.

– Ich verleihe es Dir!«

Carpena machte eine Bewegung, die ausdrücken sollte, daß er einen ihm von dem Gouverneur gereichten Gegenstand entgegennähme und dieses imaginäre Kreuz an seine Brust hefte. Dann stand er auf und schritt rückwärts aus dem Salon.

Diesmal folgten ihm die überzeugten Anwesenden sämmtlich bis zum Thore der Residenz.

»Ich will ihn begleiten, ich will ihn in das Hospital zurückkehren sehen, rief der Gouverneur, der mit sich selbst kämpfte, und sich hartnäckig weigerte, sich gegen seine bessere Ueberzeugung offenbar besiegt zu geben.

– Kommen Sie!« sagte der Doctor.

Der Gouverneur, Peter Bathory, Doctor Antekirtt schlugen, begleitet von mehreren anderen Persönlichkeiten, denselben Weg ein wie Carpena, welcher der Stadt zuschritt. Namir, die diesen seit seinem Fortgange aus dem Gefängniß nicht aus den Augen gelassen hatte, glitt lautlos im Schatten hinter ihnen her und beobachtete sorgsam, was vorging.

Die Nacht war ziemlich dunkel. Der Spanier schritt mit regelmäßigen Schritten, ohne zu zaudern, die Landstraße entlang. Der Gouverneur und die Personen seines Gefolges hielten sich dreißig Schritte hinter ihm; die zwei Beamten des Präsidio, welche den Auftrag hatten, Carpena nicht aus den Augen zu lassen, befanden sich ebenfalls in seiner Begleitung.

Die Straße umgeht, während sie sich der Stadt nähert, die Bucht, welche auf dieser Seite von Ceuta einen zweiten Hafen bildet. Auf dem unbeweglich scheinenden, dunklen Gewässer erzitterte der Widerschein von zwei oder drei Lichtern. Sie drangen aus den Cajütenfenstern und rührten von den Signallaternen des »Ferrato« her, dessen Formen sich flüchtig und von der Dunkelheit bedeutend vergrößert vom Horizont abhoben.

Als Carpena dem Schiffe gegenüber sich befand, verließ er plötzlich die Straße; er wendete sich nach rechts, wo mehrere Klippen wohl an zwölf Fuß das Meer überragen. Eine Geste des Doctors, die von Niemandem gesehen worden war – vielleicht auch nur eine bloße Willensäußerung – hatte den Spanier bewogen, seine Wegrichtung zu ändern.

Die Aufseher zeigten große Luft, ihre Schritte zu beschleunigen, um Carpena einzuholen und ihn auf den richtigen Weg zurückzuführen. Doch der Gouverneur, der wohl wußte, daß nach dieser Seite hin ein Entweichen unmöglich war, winkte ihnen, zurückzubleiben.

Carpena war auf einer der Klippen stehen geblieben, als wenn eine unsichtbare Macht ihn auf dieser Stelle festgebannt hätte. Wenn er hätte die Füße heben, die Beine in Bewegung setzen wollen, so würde er es nicht gekonnt haben. Der Wille des Doctors fesselte ihn an den Erdboden. Der Gouverneur beobachtete ihn einige Augenblicke, dann sich an seinen Gast wendend, sagte er:

»Wohlan, mein lieber Herr Doctor, ob man will oder nicht, man muß sich vor dieser Augenscheinlichkeit besiegt erklären.

– Sie sind also überzeugt, Herr Gouverneur, wirklich überzeugt?

– Ja, sehr überzeugt davon, daß es Dinge gibt, an die man ohne Ueberlegung glauben darf. Jetzt, Herr Doctor Antekirtt, veranlassen Sie, daß der Mann den Gedanken faßt, unverzüglich in das Präsidio zurückzukehren. Alphons XII. befiehlt es!«

Der Gouverneur hatte kaum den Satz beendet, als Carpena jäh, ohne einen Schrei auszustoßen, sich in die See stürzte. War es ein Zufall? War es eine selbständige, freiwillige That? Gelang es ihm, durch irgend einen glücklichen Umstand sich der Macht des Doctors zu entziehen? Niemand hätte es sagen können.

Die Herren liefen auf die Felsen, während die Wächter zum Niveau einer kleinen Bucht hinabliefen, welche das Meer an dieser Stelle ausgehöhlt hat. Von Carpena keine Spur. Einige Fischerboote kamen in aller Eile herbeigefahren ebenso die der Dampf-Yacht… Unnützes Bemühen: Man fand nicht einmal den Leichnam des Deportirten wieder, die Strömung hatte ihn wahrscheinlich in die See hinausgespült.

»Ich bedaure lebhaft, Herr Gouverneur, sagte der Doctor Antekirtt, daß unser Experiment einen so tragischen Ausgang genommen hat, der unmöglich vorauszusehen war.

– Wie erklären Sie sich nun diesen Zwischenfall? fragte der Gouverneur,

– Daß es bei der Ausübung dieser Willensübertragung, deren Macht Sie nicht mehr leugnen können, noch Unterbrechungen gibt. Dieser Mann ist mir, woran ich nicht zweifle, einen Augenblick entschlüpft und sei es in Folge eines Schwindelanfalles, sei es in Folge eines anderen Umstandes, von der Höhe der Klippen heruntergestürzt. Es ist das bedauerlich, denn wir haben in ihm ein wahrhaft kostbares Medium verloren.

– Wir haben einen Schuft verloren, nicht mehr,« erwiderte der Gouverneur philosophisch.

Das war die ganze Leichenrede, welche dem Gedächtnisse Carpena’s zu Ehren gehalten wurde.

Der Doctor und Peter Bathory verabschiedeten sich jetzt von dem Gouverneur. Sie mußten noch vor Tagesanbruch nach Antekirtta in See gehen und so beeilten sie sich, ihrem Wirthe für den freundlichen Empfang zu danken, der ihnen in der spanischen Kolonie zu Theil geworden war.

Der Gouverneur drückte dem Doctor herzlich die Hand, wünschte ihm eine glückliche Ueberfahrt, nachdem er ihm das Versprechen abgenommen hatte, seinen Besuch zu wiederholen, dann kehrte er in die Residenz zurück.

Man wird vielleicht der Meinung sein, daß Doctor Antekirtt soeben das Vertrauen des Gouverneurs von Ceuta gemißbraucht hatte. Schön, man möge seine Haltung bei diesem Vorfalle verurtheilen und kritisiren! Aber man wolle auch nicht vergessen, weder, welchem Vorhaben Graf Mathias Sandorf sein Leben gewidmet hatte, noch was er eines Tages gesagt: »Tausend Wege – ein Ziel!«

Was soeben geschehen, war einer der tausend Wege, die eingeschlagen werden mußten, um dieses eine Ziel zu erreichen.

Einige Augenblicke später hatte ein Boot des »Ferrato« den Doctor und Peter an Bord zurückgebracht. Luigi empfing sie an der Falltreppe.

»Jener Mensch?… fragte der Doctor.

– Ihrem Befehle gemäß erwartete unser Boot ihn am Fuße der Klippen und nahm ihn auf, sobald er heruntergestürzt war. Er ist in eine der Cabinen des Vorderdecks eingeschlossen worden.

– Er hat nichts geäußert?… fragte Peter.

– Wie hätte er sprechen sollen?… Er hat wie im Traum gehandelt und empfindet nicht das Bewußtsein seiner Handlungen.

– Gut! meinte der Doctor. Ich habe gewollt, daß Carpena von den Klippen in das Meer fällt und er ist gefallen!… Ich habe gewollt, daß er einschläft und er schläft!… Wenn ich es werde haben wollen, daß er aufwacht, wird er aufwachen!… Jetzt, Luigi, lasse die Anker lichten und fröhliche Fahrt!«

Die Maschine war unter Druck, die Anker schnell aufgewunden. Einige Augenblicke später hatte der »Ferrato« die hohe See gewonnen und steuerte auf Antekirtta zu.

Drittes Capitel. Siebzehn Mal.

»Siebzehn Mal?

– Siebzehn Mal.

– Ja!… Roth hat siebzehn Mal gepaßt.

– Ist es möglich!

– Es scheint nicht möglich, und doch ist es so.

– Und die Spieler waren darauf versessen?

– Mehr als neunmalhunderttausend Franken Gewinn für die Bank!

– Beim Roulette oder Trente et Quarante?

– Beim Trente et Quarante.

– Seit fünfzehn Jahren hat man das hier nicht gesehen.

– Seit fünfzehn Jahren, drei Monaten und vierzehn Tagen, erwiderte kühl ein alter Spieler, der zu der ehrenwerthen Classe der Rupfer gehörte. Ja, mein Herr, – ein merkwürdiger Umstand – es war im Hochsommer, am 16. Juni 1867… Ich kann etwas davon erzählen.«

So ungefähr lauteten die Ausrufe und Unterhaltungen, welche in dem Vestibul und bis in den Säulengang des Fremden-Cirkels in Monte Carlo hinein am Abend des dritten October, acht Tage nach dem Entweichen Carpena’s aus der spanischen Strafanstalt laut wurden.

Inmitten dieser Menge von Spielern, Männern und Frauen jeder Nationalität, jedes Alters, jedes Standes, erhob sich ein Geschwirr der Begeisterung.



Carpena war auf einer der Klippen stehen geblieben. (S. 430.)


Man hätte am liebsten das Roth so bejubelt, wie man ein den Grand Prix eroberndes Pferd auf den Rennplätzen von Epsom und Longchamps feiert. Für diese Nomaden-Bevölkerung, welche die alte und die neue Welt täglich über das kleine Fürstenthum Monaco ergießt, hatte die Serie von siebzehn Mal ungefähr die Bedeutung eines politischen Ereignisses, welches das europäische Gleichgewicht aus der Lage bringt.

Man wird es gern glauben wollen, daß diese außergewöhnliche Hartnäckigkeit des Roth zahlreiche Opfer auf dem Schlachtfelde zurückließ, der Geldvorrath der Bank belief sich auf eine beträchtliche Summe. Fast eine Million, so sagte man in den verschiedenen Gruppen – woraus man schließen kann, daß fast die Gesammtheit der Gruppen von dieser beträchtlichen Summe in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Zwei Fremde namentlich hatten dem Moloch des grünen Tisches einen ansehnlichen Betrag opfern müssen. Der Eine, sehr kühl und in schroffer Haltung, obwohl auch er von großen Erregungen durchtobt war, deren Spuren sein bleiches Gesicht noch aufwies, der Andere mit empörten Mienen, mit in Unordnung gerathenen Haaren und den Blicken eines Irrsinnigen oder Verzweifelten, stiegen sie soeben die Stufen der Vorhalle hinunter, um sich in dem Schatten zu verlieren, der über der zum Taubenschießen hergerichteten Terrasse lag.

»Mehr als viermalhunderttausend Franken kostete uns diese verwünschte Serie, rief der Aeltere.

– Sie können getrost viermalhundertunddreizehntausend sagen, gab der Jüngere zurück mit dem Tone eines Cassiers, der soeben ein größeres Additionsexempel gemacht hat.

– Jetzt bleiben mir nur noch knapp zweimalhunderttausend Franken, fing der erste Spieler von Neuem an.

– Einmalhundertsiebenundachtzigtausend nur, antwortete der Andere mit seinem unerschütterlichen Phlegma.

– Ja!… nur!… von den zwei Millionen, die ich noch hatte, als Sie mich zwangen, Ihnen zu folgen.

– Eine Million, siebenhundertfünfundsiebzigtausend Franken.

– Und das innerhalb zweier Monate.

– Eines Monats und sechzehn Tage.

– Sarcany! rief der Aeltere, den die Kaltblütigkeit seines Genossen nicht weniger aufregte als die ironische Genauigkeit seiner Zahlenangaben.

– Was soll’s, Silas?«

Silas Toronthal und Sarcany waren es also, die soeben diesen Wortwechsel mit einander hatten. Seit ihrer Abreise aus Ragusa, in der kurzen Zeit von drei Monaten, waren sie an den Ruin gelangt, oder wenigstens nahe daran. Sarcany, nachdem er den ganzen Antheil, den er als Lohn seines erbärmlichen Verrathes empfangen, vergeudet hatte, war nach Ragusa gekommen, um mit seinem alten Genossen wieder anzuknüpfen. Beide hatten mit Sarah die Stadt verlassen und Silas Toronthal war dann von Sarcany auf die Bahnen des Spieles geleitet worden. Die Abwechslungen, die dasselbe mit sich bringt, hatten in äußerst kurzer Zeit sein Vermögen klein gemacht. Man kann wohl sagen, daß es Sarcany nicht schwer wurde, aus dem einstigen Banquier, der ja von jeher ein kühner Speculant gewesen war und mehr als einmal in finanziellen Abenteuern, wo der Zufall der einzige Führer war, seine Situation auf’s Spiel gesetzt hatte, aus diesem einstigen Banquier einen Spieler zu machen, einen regelmäßigen Besucher der Cercles und der Spielhöllen.

Wie hätte Silas Toronthal auch widerstehen sollen? Befand er sich nicht gegenwärtig mehr als je unter der Herrschaft seines ehemaligen tripolitanischen Maklers? Wenn es auch manchmal heftige Auftritte und Empörungen gab, so verstand es Sarcany trotzdem, ihn mit unwiderstehlicher Macht an sich zu fesseln. Der Elende war schon so weit gesunken, daß ihm die moralische Kraft, sich aufzuraffen, vollständig abging. Sarcany beunruhigte sich daher nicht im Geringsten über diese Anwandlungen Toronthal’s, sich seinem Einflusse zu entziehen. Das Brutale seiner Antworten, das Unbestreitbare in seiner Logik brachten Silas Toronthal bald wieder unter das gewohnte Joch zurück.

Als die beiden Verbündeten unter Umständen, die man gewiß nicht vergessen haben wird, Ragusa verlassen hatten, war es ihre erste Sorge gewesen, Sarah in einem sicheren Gewahrsam bei Namir unterzubringen. In der Abgelegenheit von Tetuan, das sich in das Grenzgebiet Marokko’s verliert, wäre es sehr schwer, wahrscheinlich aber unmöglich gewesen, sie zu entdecken. Dort, so hatte sich die unbeugsame Genossin Sarcany’s vorgenommen, wollte sie den Willen des jungen Mädchens zu brechen und ihr die Einwilligung zu ihrer Ehe mit Sarcany zu entreißen suchen. Unerschütterlich in ihrer Weigerung, sich stärkend an der Erinnerung an Peter, hatte das junge Mädchen bis dahin hartnäckig sich dessen geweigert. Doch würde sie es auch in Zukunft können?

Sarcany hatte inzwischen nicht aufgehört, seinen Genossen anzufeuern, die Chancen des Spieles zu erproben, obwohl er selbst sein eigenes Vermögen dadurch verloren hatte. In Frankreich, Italien und Deutschland, in den großen Centren, wo der Zufall in allen Formen sein Wesen treibt, an der Börse, auf den Rennplätzen, in den Spielclubs der Hauptstädte, in den Curorten wie in den Seebädern, gab Silas Toronthal der Verführung Sarcany’s nach und die Folge war, daß sein Vermögen schnell auf einige hunderttausend Franken zusammenschmolz. Während der Banquier sein eigenes Geld wagte, riskirte Sarcany nur das des Banquiers und durch diesen doppelten Abgang näherten sich Beide ihrem Ruine mit verdoppelter Schnelligkeit. Die Karte schlug beständig gegen sie und deshalb versuchten sie das Glück auf jedem Felde. Die Baccarataillen kosteten sie schließlich den größten Theil der Millionen, die aus den Gütern des Grafen Sandorf stammten und das Hotel im Stradone zu Ragusa mußte daher schleunigst verkauft werden.

Nachdem sie sich in verdächtige Spielzirkel gewagt, in denen das »Rien ne va plus« der Croupiers mit dem »corriger la fortune« Hand in Hand geht, betraten sie als letzte Station und um sich ein wenig zu rehabilitiren den Weg zur Roulette und zum Trente et Quarante. Wenn sie auch hier ebenso wie früher ausgeplündert wurden, so hatten sie wenigstens die Genugthuung, daß nur ihr eigener Starrsinn sie antrieb, gegen die ungleichen Glückszufälle zu kämpfen.

Aus diesem Grunde befanden sich die Beiden bereits seit drei Wochen in Monte Carlo. Sie verließen kaum die Spieltische des Clubs, versuchten die zweifelhaftesten Coups, besetzten die widerspänstigsten Felder, studirten die Drehungen des Cylinders der Roulette, denn in der letzten Viertelstunde des Dienstes ermattet gewöhnlich die Hand des Croupiers, sie rechneten das Maximum der durchaus nicht herauskommen wollenden Nummern aus, hörten die Rathschläge gedienter Schlepper an, welche zu Spielprofessoren geworden waren, machten allerhand nur mögliche Versuche und gebrauchten die nichtssagendsten Zauberformeln, welche den Spieler zwischen das Kind, welches seine Vernunft noch nicht hat, und den Idioten, der sie auf immer verloren, rangiren. Wenn man nur noch sein Geld auf’s Spiel gesetzt hätte, aber nein, man schwächte auch seinen Geist, indem man sich bemühte, die dümmsten Combinationen zu erfinden und man stellte seine persönliche Würde in dieser Vertraulichkeit bloß, welche das Zusammensein mit dieser gemischten Gesellschaft Allen auferlegt.

Kurz, in Folge jenes Abends, der im Kalender von Monte Carlo roth angestrichen werden sollte, in Folge ihres Eigensinnes, gegen eine Serie von siebzehnmal Roth im Trente et Quarante zu kämpfen, blieb den beiden Kumpanen nur die bescheidene Summe von zweimalhunderttausend Franken in Händen. Das heißt mit anderen Worten, das Elend nahte mit Riesenschritten.

Doch wenn sie auch beinahe ruinirt waren, so hatten sie doch noch nicht die Vernunft verloren, und während sie auf der Terrasse plauderten, konnten sie einen Spieler wahrnehmen, der mit entblößtem Haupte durch den Park lief und schrie:

»Er dreht sich noch!… Er dreht sich noch!«

Der Unglückliche bildete sich ein, er hätte auf eine Nummer gesetzt, die herauskommen sollte, doch der Cylinder habe, von einem phantastischen Taumel ergriffen, sich immer weiter gedreht und drehe sich noch bis ans Ende aller Dinge…. Der Aermste war wahnsinnig.

»Haben Sie sich endlich beruhigt, Silas? fragte Sarcany seinen Compagnon, der sich nicht mehr zu fassen wußte. Lernen Sie von diesem Unsinnigen, daß man nie den Kopf verlieren soll…. Wir haben kein Glück gehabt, das ist leider wahr, aber die Chance wird wieder eine günstigere für uns werden, weil sie es werden muß und ohne daß wir den Finger zu rühren brauchen…. Wir wollen uns gar nicht bemühen, die Chancen zu verbessern. Es ist dies gefährlich und übrigens unnütz…. Man kann einmal keine Karte anders schlagen lassen, wenn sie schlecht schlägt und ebenso wenig kann man sie anders fallen lassen, wenn sie sich günstig wendet…. Wir wollen unsere Zeit abwarten, und wenn sie da sein wird, so werden wir das Glück kühn an unser Spiel fesseln.«

Hörte Silas Toronthal diese Rathschläge – dumme Rathschläge, wie alle Begründungen, wenn es sich um ein Spiel des Zufalls handelt? Nein! Er war vollständig geknickt und hatte augenblicklich den einen Wunsch: der Herrschaft Sarcany’s entgehen, fliehen, so weit fliehen zu können, daß seine Vergangenheit sich nicht wieder an ihn wagen durfte. Doch solche Anfälle von eigenen Willensäußerungen konnten in diesem unselbständigen, haltlosen Gemüthe nicht lange anhalten.

Silas wurde überdies auch von seinem Complicen nicht aus den Augen gelassen. Ehe Sarcany ihn sich selbst überließ, mußte er seine Heirat mit Sarah vollzogen sehen. Dann wollte er sich von Silas Toronthal gern trennen, ihn vergessen und sich nicht einmal daran erinnern, daß dieses schwache Geschöpf jemals gelebt, daß Beide jemals ihre Hand in einer und derselben Sache im Spiele gehabt hätten. Bis dahin aber mußte der Banquier von ihm abhängig sein.

»Wir sind heute zu unglücklich gewesen, Silas, begann Sarcany von Neuem, als daß die Chancen für uns nicht bessere werden sollten…. Morgen muß uns das Glück hold sein!

– Und wenn ich das Wenige, was ich noch besitze, verliere? warf Silas Toronthal ein, der vergebens sich bemühte, den erbärmlichen Rathschlägen sein Ohr zu verschließen.

– So wird uns Sarah Toronthal noch erhalten bleiben, antwortete Sarcany lebhaft. Sie ist und bleibt das beste Atout in unserem Spiele. Es ist unmöglich, dieses zu übertrumpfen.

– Ja!… Morgen!… Morgen!« rief der Banquier, dessen Sinne sich in der Verfassung befanden, in welcher ein Spieler seinen Kopf riskirt.

Beide kehrten in ihr Hotel zurück, das halben Weges auf der Straße gelegen war, welche von Monte Carlo nach der Condamine hinabführt.

Der Hafen von Monaco, den man vom Vorgebirge Focinana bis zum Fort Antoine rechnet, besteht aus einer ziemlich offenen Rhede, welche den nordöstlichen und südöstlichen Winden ausgesetzt ist. Er rundet sich zwischen dem Felsen, der die Hauptstadt des kleinen Fürstenthums trägt, und dem Plateau ab, auf welchem die Hotels, die Landhäuser und das Etablissement von Monte Carlo errichtet sind, am Fuße des herrlichen Mont Agal, dessen Gipfel in einer Höhe von elfhundert Metern einen großartigen Ueberblick über die Gestade Liguriens gewährt. Die von zwölfhundert Einwohnern bevölkerte Stadt ähnelt einem Tafelaufsatze, der auf den imposanten, von drei Seiten vom Meere bespülten Felsentisch von Monaco gestellt ist und fast verschwindet unter dem ewigen Grün der Palmen, Granaten, der Sycomoren, Pfefferbäume, Orangen, Citronen, Eucalypten, der Geraniumzwergbäume, Aloën, Myrthen, Mastixbäume, der Palme Christi, die hier und dort in einem wunderbaren Durcheinander erblühen.

Auf der anderen Seite des Hafens macht Monte Carlo der kleinen Hauptstadt Platz mit ihrem merkwürdigen Gemisch von Wohnhäusern, die sich über alle Vorsprünge des Berges ziehen, mit ihren schmalen, hügeligen, im Zick-Zack angelegten Straßen, die bis zur Straße der Corniche hinausführen, welche auf halber Höhe des Gebirges schwebt, mit ihrem Schachbrett von ewig blühenden Gärten, ihrem Panorama von Landhäusern jeden Styles, von Villen jeder Gattung, von denen einige buchstäblich über den stets klaren Wogen dieses Busens des Mittelmeeres hängen.

Zwischen Monaco und Monte Carlo, im Hintergrunde des Hafens, von der Küste bis zur Einengung des buchtenreichen Thales, welches die Gebirgsgruppe trennt, breitet sich eine dritte Stadt aus, die Condamine.

Ueber ihr zur Rechten erhebt sich ein wuchtiger Berg, sein dem Meere zugewendetes Profil hat ihm den Namen des Hundskopfes eingebracht. Auf diesem Kopfe, der fünfhundertzweiundvierzig Meter hoch ist, erhebt sich jetzt ein Fort, welches das Recht hat, sich für uneinnehmbar zu halten. Es bildet zugleich auf dieser Seite die Grenze des Fürstenthums Monaco.

Von der Condamine nach Monte Carlo können Wagen über eine herrliche Rampe passiren. Auf ihrem oberen Theile erheben sich abgesonderte Baulichkeiten und Hotels; in einem von diesen wohnten Silas Toronthal und Sarany. Von den Fenstern ihrer Zimmer konnte der Blick über die Condamine und bis über Monaco hinausschweifen. Der Hundskopfberg mit seinem Bulldoggesicht, der das Mittelländische Meer wie eine Sphinx die lybische Wüste zu befragen scheint, schnitt die weitere Fernsicht ab.

Sarcany und Silas Toronthal hatten sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Dort legten sich Beide die Situation zurecht, natürlich Jeder von seinem Gesichtspunkte. Sollte es den Wechselfällen des Spieles gelingen, das Gemeinsame ihrer Interessen zu durchbrechen, welches sie nun schon seit fünfzehn Jahren so eng verband?

Sarcany fand in seinem Zimmer einen Brief vor, der aus Tetuan kam; er erbrach sofort das Siegel.

In wenigen Zeilen schrieb ihm Namir über zwei wichtige Dinge, welche sein höchstes Interesse herausforderten: erstens berichtete sie den Tod Carpena’s, der im Hafen von Ceuta im Anschluß an ganz eigenthümliche Vorfälle ertrunken war; sodann das Erscheinen des Doctors Antekirtt auf jenem Punkte der afrikanischen Küste, die Beziehungen, welche er zu dem Spanier gehabt hatte und sein unmittelbar darauf erfolgtes Verschwinden.

Als Sarcany den Brief gelesen, öffnete er das Fenster seines Zimmers. Sich über die Brüstung lehnend, bemühte er sich mit unstäten Blicken seine Gedanken zu sammeln.

»Carpena todt?… Gelegener konnte er wahrhaftig nicht sterben!… Jetzt sind seine Geheimnisse mit ihm ertrunken!… Von dieser Seite also habe ich nichts zu befürchten!… In dieser Beziehung kann ich nun beruhigt sein!…«



Jetzt bleiben mir nur noch knapp zweimalhunderttausend Franken. (S. 434.)


Dann wendeten sich seine Gedanken dem zweiten Theile des Briefes zu:

»Um so bedenklicher ist das Erscheinen des Doctors Antekirtt in Ceuta!… Wer mag dieser Mann eigentlich sein?… Ich würde im Grunde genommen nach Allem, was bisher geschehen, wenig überrascht sein, wenn ich finden würde, daß dieser Doctor bei allen mich angehenden Dingen mehr oder weniger die Hand im Spiele hat…. In Ragusa hatte er Beziehungen zu der Familie Bathory!… In Catania stellte er Zirone einen Hinterhalt!… In Ceuta war es wahrscheinlich seine Einmischung, welche Carpena das Leben gekostet hat!…

Er war also in der Nähe von Tetuan, doch scheint er nicht dorthin gegangen zu sein, auch scheint er keine Kenntniß von Sarah’s Aufenthalt zu haben. Ihre Auffindung wäre allerdings der furchtbarste Schlag für mich gewesen, er kann aber noch immer eintreten!… Wir wollen sehen, ob es nicht gerathen ist, den Schlag zu pariren, nicht nur für die Zukunft, sondern auch für jetzt. Die Senusisten werden bald die Herren von der ganzen Cyrenäis sein und nur einen Meerarm zu durchschiffen haben, um sich auf Antekirtta zu werfen… Sollte man sie dazu veranlassen müssen, so soll es an mir nicht fehlen!…«

Daß sich verschiedene dunkle Punkte am Horizonte Sarcany’s zeigten, war klar. Bei der schmutzigen Machination, die er Schritt für Schritt verfolgte, angesichts des Zieles, welches er erreichen wollte und dem er sich nahe genug befand, konnte das kleinste Steinchen des Anstoßes ihn so zu Boden schmettern, daß er das Aufstehen vergaß.



Der Spielsaal in Monte Carlo.


Nicht nur das Dazwischentreten des Doctors Antekirtt war geeignet, ihn zu beunruhigen, sondern auch die gegenwärtige Lage von Silas Toronthal; sie begann ihm ernstliche Sorgen zu bereiten.

»Ja, sprach er bei sich weiter, wir sind an die Mauer gedrückt!… Morgen geht es um das Ganze!… Entweder die Bank oder wir werden gesprengt!… Wenn auch Toronthal’s Ruin den meinigen nach sich zieht, so hat das weiter nicht viel zu sagen, ich werde mir schon weiterhelfen!… Aber Silas! Das ist etwas Anderes. Dann wird er gefährlich, er kann sprechen, das Geheimniß aufdecken, auf welchem allein noch meine Zukunft beruht!… War ich bisher sein Gebieter, so kann es dann vielleicht umgekehrt kommen!«

Die Situation war genau die, wie sie Sarcany zeichnete. Er konnte sich über den moralischen Werth seines Gefährten keinen Illusionen hingeben. Er selbst hatte ihm ja einst die besten Lehren gegeben: Silas Toronthal würde schon verstehen, Nutzen aus ihnen zu ziehen, wenn er nichts mehr zu verlieren hatte.

Sarcany fragte sich also, was zu thun am gescheidtesten wäre. Er war so versanken in sein Nachdenken, daß er nichts von dem sah, was am Eingange zum Hafen von Monaco, wenige hundert Fuß unter ihm vorging.

In der Entfernung einer halben Ankerlänge von der Küste glitt ein langes, weder Mast noch Schornstein zeigendes spindelförmiges Fahrzeug an der Oberfläche des Meeres dahin, welche sein Rumpf kaum um zwei oder drei Fuß überragte. Bald, nachdem es sich langsam dem Vorgebirge Focinana genähert hatte, unterhalb dessen das Taubenschießen von Monte Carlo stattfindet, sachte es im Schutze der Brandung ein ruhigeres Fahrwasser auf. Sodann löste sich eine leichte, aus Eisenblech geformte Jolle ab, die wie einkrustirt in die Flanke des fast unsichtbaren Schiffes gewesen war. Drei Männer nahmen in ihr Platz. Einige Ruderschläge brachten sie bald an eine niedrige Uferstelle, an der zwei von ihnen ausstiegen, während der dritte die Jolle an das Schiff zurückführte Einige Augenblicke später war das geheimnißvolle Fahrzeug, das seine Anwesenheit weder durch ein Signalfeuer noch durch ein Geräusch verrathen hatte, in der Dunkelheit verschwunden, ohne eine Spur von seinem Kielwasser zu hinterlassen.

Sobald die beiden Männer das Ufer verlassen hatten, gingen sie am Saume der Klippen entlang dem Bahnhofe zu. Dann lenkten sie in die Avenue des Spelugues ein, welche die Gärten von Monte Carlo umschließt.

Sarcany hatte nichts bemerkt. Seine Gedanken führten ihn in diesem Augenblicke von Monaco fort fern nach Tetuan hin…. Doch ging er nicht allein dorthin, sein Genosse wurde von ihm gezwungen, ihn zu begleiten.

»Silas… mein Herr? wiederholte er bei sich, Silas sollte mit einem Worte mich hindern können, mein Ziel zu erreichen?… Niemals!… Wenn das Spiel uns morgen das nicht wiedergibt, was es uns genommen hat, so werde ich mich schon darauf verstehen, ihn mir folgen zu lassen!… Ja!… Er soll mir schon nach Tetuan folgen müssen und dort, an der marokkanischen Küste, wer sollte dort wohl viel danach fragen, ob Silas Toronthal verschwunden ist?…«

Sarcany war, wie man weiß, der Mann dazu, vor einem Verbrechen nicht zurückzuschrecken, namentlich wenn die Umstände, die Abgelegenheit des Landes, die Wildheit seiner Bewohner, die Unmöglichkeit, den Schuldigen zu suchen und ihn aufzufinden, die That so bequem ausführbar machten.

Der Plan war gefaßt, Sarcany schloß das Fenster, legte sich schlafen und entschlummerte auch sofort, ohne daß das Gewissen sich in ihm irgendwie bemerkbar gemacht hätte.

Nicht so bei Silas Toronthal. Der Banquier verbrachte eine furchtbare Nacht. Was blieb ihm von seinem einstigen Vermögen noch? Kaum zweimalhunderttausend Franken, welche das Spiel bisher verschont hatte, und auch über diese Summe war er schwerlich noch der Herr. Sie war der Einsatz zum letzten Spiele. So wollte es sein Complice, so wollte er selbst es. Sein geschwächtes, von chimärischen Berechnungen erfülltes Gehirn erlaubte ihm nicht mehr, richtig und kühl zu denken. Er war sogar unfähig – in diesem Augenblicke wenigstens – sich über seine Lage klar zu werden, wie es Sarcany gekonnt hatte. Er sagte sich nicht, daß sie die Rollen getauscht, daß er jetzt denjenigen in seiner Macht hätte, der ihn so lange in der seinigen gehabt. Er sah nur die Gegenwart mit seinem bevorstehenden Ruin und dachte nur an den folgenden Tag, der ihn entweder wieder flott machte oder ihn auf die unterste Stufe des Elendes schleuderte.

So verging diese Nacht für die beiden Genossen. Während sie dem Einen einige Stunden des Schlafes gönnte, verhängte sie über den Anderen alle Schrecken der Schlaflosigkeit.

Am folgenden Tage gegen zehn Uhr sachte Sarcany Silas Toronthal auf. Der Banquier saß am Tische und bedeckte die Seiten seines Notizbuches mit Ziffern und Formeln.

»Nun, Silas? fragte Sarcany mit dem oberflächlichen Tone Jemandes der den Misèren dieser Welt nicht mehr Wichtigkeit beizulegen gedenkt als sie es verdienen, nun, haben Sie in Ihren Träumen dem Roth oder dem Schwarz den Vorzug eingeräumt?

– Ich habe nicht einen einzigen Augenblick geschlafen… ganz gewiß… nicht einen einzigen, antwortete der Bankier.

– Um so schlimmer, Silas, um so schlimmer!… Heute ist kaltes Blut von Nöthen und einige Stunden der Ruhe wären Ihnen unbedingt dienlich gewesen. Sehen Sie mich an! Ich habe in einem Zuge geschlafen und bin ganz dazu aufgelegt, gegen das Glück zu kämpfen. Es ist schließlich eine Frau und liebt die Leute, welche im Stande sind, ihr Zügel anzulegen.

– Sie hat uns aber schmählich verrathen!

– Pah!… Eine bloße Laune!… Ist sie vorüber, kommt sie zu uns zurück.«

Silas Toronthal erwiderte nichts. Hörte er überhaupt, was Sarcany sagte, während seine Augen sich nicht von der Seite seines Notizbuches erhoben, auf die er so viele unnütze Combinationen niedergeschrieben hatte?

»Was schreiben Sie da? fragte Sarcany. Berechnungen? Kniffe?… Teufel… Sie scheinen mir wirklich bedenklich krank zu sein, theurer Silas!… Es gibt keine Berechnungen, denen man den Zufall unterordnen könnte, und der Zufall allein könnte es sein, der sich auch heute gegen uns erklärt.

– Schön! meinte Silas und schloß das Notizbuch.

– Das ist nun einmal so, Silas!… Ich kenne nur eine Art, den Zufall zu lenken, sagte Sarcany ironisch. Doch muß man zu diesem Zwecke Specialstudien gemacht haben… und unsere Erziehung weist an dieser Stelle eine Lücke auf. Halten wir uns also an die Chance…. Sie war gestern für die Bank. Es ist möglich, daß sie sich heute von ihr abwendet,… Wenn dem aber so ist, Silas, so kann uns das Spiel Alles wiedergeben, was es uns genommen hat.

– Alles?!…

– Ja, Alles, Silas! Nur keine Muthlosigkeit. Im Gegentheil, Kühnheit und kaltes Blut!

– Und heute Abend, wenn wir ruinirt sind? fragte der Bankier und sah Sarcany scharf ins Gesicht.

– Nun, dann verlassen wir Monaco.

– Und gehen wohin? schrie Silas Toronthal. Verflucht sei der Tag, an welchem ich Sie kennen gelernt habe, Sarcany, verflucht der Tag, an welchem ich Ihre Dienste beanspruchte!… Ich wäre nicht dahin gekommen, wo ich mich heute befinde!

– Sie kommen mit dem Bedauern ein wenig spät, mein Theurer, antwortete der unverschämte Patron, und Sie machen es sich etwas zu bequem, Leute bloßzustellen, deren man sich bedient hat.

– Nehmen Sie sich in Acht! rief der Bankier.

– Ja!… Ich werde mich in Acht nehmen!« murmelte Sarcany.

Diese Drohung Toronthal’s bestärkte ihn mehr als alles Andere in dem Entschlusse, ihn unschädlich zu machen.

Dann sagte er laut:

»Mein lieber Silas, wir wollen uns nicht gegenseitig ärgern. Wozu soll das?… Das regt die Nerven auf und heute dürfen wir nicht nervös sein!… Haben Sie Vertrauen und verzweifeln Sie nicht mehr als ich!… Wenn unglücklicher Weise der Teufel sich gegen uns erklären sollte, so vergessen Sie nicht, daß neue Millionen mich erwarten und daß Sie Ihren Antheil an denselben haben werden.

– Ja, ja! erwiderte Silas Toronthal, ich muß meine Revanche haben. Der Instinct des Spielers, der ihn einen Augenblick verlassen, kam wieder über ihn. Ja, die Bank war gestern zu glücklich, als daß sie heute Abend…

– Heute Abend werden wir reich, sehr reich sein, rief Sarcany, und ich verspreche Ihnen, Silas, diesmal werden wir nicht wieder einbüßen, was wir zurückgewonnen haben. Was auch immer kommen mag, morgen verlassen wir Monte Carlo…. Wir werden reisen…

– Wohin?

– Nach Tetuan, wo wir eine letzte Partie zu spielen haben werden. Es soll aber auch die schönste werden!«


Viertes Capitel. Der letzte Einsatz.

Die Salons des Fremdencirkels – gemeinhin Casino genannt – waren seit elf Uhr geöffnet. Obwohl die Zahl der Spieler noch eine beschränkte war, begannen doch schon einige Roulettetische ihre Arbeit.

Das Ebenmaß dieser Tische war vorher geregelt worden, denn dieselben müssen an jeder Stelle gleich hoch sein. Die kleinste Unebenheit, welche die Bewegung der in den sich drehenden Cylinder geworfenen Kugel abändern würde, würde schnell bemerkt und zum Schaden der Bank ausgelegt werden.

Auf jedem der sechs Roulettetische waren sechzigtausend Franken in Gold, Silber und Bankbillets niedergelegt; auf jedem der beiden Tische, welche dem Trente et Quarante-Spiel dienten, hundertundfünfzigtausend. Das ist vor Eröffnung der Hauptsaison der gewöhnliche Einsatz, und es kommt selten vor, daß die Administration sich zur Erneuerung dieses Grundfonds veranlaßt sieht. Sie soll nur mit dem Refait und dem Zero gewinnen, deren Profit ihr gehört – und immer. Wenn das Spiel an und für sich schon unmoralisch ist, um wie viel mehr, wenn man unter solchen ungleichen Bedingungen operiren muß.

An jedem Roulettetische hatten die acht Croupiers, ihre Harken in den Händen, bereits die ihnen reservirten Plätze eingenommen. Ihnen zu Seiten saßen oder standen die Spieler oder Zuschauer. Durch die Säle spazierten die Inspectoren und beachteten sowohl die Croupiers als die Aussetzenden, während die Garçons des Saales im Auftrage des Publicums wie der Administration, die über nicht weniger als hundertundfünfzig Angestellte für das Spiel verfügt, hierhin und dorthin eilten.

Gegen zwölfundeinhalb Uhr brachte der Zug von Nizza das übliche Contingent der Spieler. An diesem Tage fanden sie sich vielleicht noch zahlreicher als sonst ein. Die Serie von siebzehnmal Roth hatte ihre natürliche Wirkung gethan. Sie bildete eine Anziehungskraft und Alles, was vom Zufalle lebt, kam herbei, um den Wechselfällen das Spieles mit noch größerem Eifer als zuvor zu fröhnen.

Eine Stunde später hatten sich die Säle gefüllt. Man unterhielt sich namentlich von dem außergewöhnlichen Ereignisse, doch durchschnittlich mit leiser Stimme. Nichts Traurigeres, im Ganzen genommen, als diese riesigen Säle, trotz ihres verschwenderisch aufgetragenen Goldschmuckes, ihrer phantastischen Ornamentirung, des Luxus ihrer Ausstattung, der Fülle ihrer Lustres, welche Ströme von Gasstrahlen entsenden, ohne der Oelhängelampen mit ihren grünen Schirmen zu gedenken, welche die Spieltische noch besonders beleuchten. Was hier trotz des Zuflusses der Besucher vorherrscht, ist nicht das Gesurr der Stimmen, sondern das Klimpern der Gold-und Silberstücke, welche gezählt werden oder über das grüne Tuch rollen, und das Knistern der Bankbillets, das unaufhörliche: »Roth gewinnt und Farbe«, oder »siebzehn, schwarz, impair und manque«, welche Redensarten mit gleichgiltiger Stimme der Spielführer ausruft – höchst traurig Alles das!

Zwei der Verlierer vom vorigen Abend, die zu den berühmtesten zählten, waren noch nicht in den Sälen aufgetaucht. Schon versuchten einige Spieler den verschiedenen Chancen zu folgen, das Glück an ihre Person zu fesseln, theils an der Roulette, theils beim Trente et Quarante. Allein die Alternativen des Gewinnes und Verlustes glichen sich aus und es schien nicht, als ob das »Phänomen« des vorigen Abends sich noch einmal zeigen würde.

Erst gegen drei Uhr betraten Sarcany und Silas Toronthal das Casino. Ehe sie in die Spielsäle gingen, machten sie einen Rundgang durch die Halle, wo die Neugierde des lieben Publicums sich sofort ihnen zuwendete. Man betrachtete sie, stellte sich ihnen in der Weg, man fragte sich, ob sie sich heute abermals mit dem Zufalle in einen Kampf einlassen würden, der ihnen theuer genug zu stehen gekommen war. Einige Spielprofessoren hätten gern die Gelegenheit benützt, ihnen ihre unfehlbaren Tabellen zu verkaufen, wenn Jene in diesem Augenblicke leichter zugänglich gewesen wären. Der Banquier mit seinen verstörten Mienen sah kaum, was um ihn her vorging. Sarcany blickte, zugeknöpfter als je um sich. Beide richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Augenblick, in welchem sie ihren letzten Coup ausführen wollten.

Unter den Personen, welche sie mit jener besonderen Neugier beobachteten, die man namentlich Patienten oder Verurtheilten angedeihen läßt, befand sich auch ein Fremder, der sie keinen Augenblick verlassen zu wollen schien.

Es war ein junger Mann, im Alter von zwei-oder dreiundzwanzig Jahren, mit seinen Gesichtszügen, verschmitztem Aussehen, spitzer Nase – einer jener Nasen, welche zugleich zu sehen scheinen. Seine Augen, die eine auffallende Lebhaftigkeit entwickelten, verbargen sich hinter einer mit Schutzgläsern versehenen Brille. Er schien viel baares Geld bei sich zu haben, oder er that so, denn seine Hände steckten tief in den Taschen seines Ueberziehers, vielleicht hätten sie auch sonst irgendwie gesticulirt; seine Füße nahmen, wenn er stillstand, die bekannte erste Position des Tanzunterrichtes ein, gewiß, um seiner Person einen festeren Halt zu geben. Er war angemessen gekleidet, ohne gerade den neuesten Verschrobenheiten des Geckenthums zu huldigen, und legte augenscheinlich keinen besonderen Werth auf seine Erscheinung; vielleicht fühlte er sich auch etwas genirt in den correct sitzenden Kleidungsstücken.



Monte Carlo. – Allgemeine Ansicht.


Man wird ohne besondere Ueberraschung vernehmen, daß kein Anderer als Pointe Pescade dieser junge Fremde war.

Draußen in den Gärten erwartete ihn Kap Matifu.

Die Persönlichkeit, für deren Rechnung sie Beide in besonderer Mission in dieses Paradies oder diese Hölle des Reiches von Monaco kamen, war Doctor Antekirtt.

Das Schiff, welches sie am Abend zuvor auf dem Ufer von Monte Carlo gelandet hatte, war der »Electric 2« der Flotille von Antekirtta gewesen.



Pointe Pescade folgte ihnen in einiger Entfernung. (S. 453.)


Der Zweck ihrer Reise nach Monaco war der folgende:

Zwei Tage nach seiner Ueberbringung an Bord des »Ferrato« war Carpena ans Land gesetzt und trotz seiner Einsprüche in eine der Kasematten der Insel gebracht worden. Dort wurde es dem Flüchtlinge des spanischen Präsidios bald klar, daß er nur ein Gefängniß gegen ein zweites eingetauscht hatte. Anstatt zu der Sträflingskolonie des Gouvernements von Ceuta zu gehören, befand er sich, ohne es zu wissen, in der Gewalt des Doctors Antekirtt. Wo? er hätte es nicht zu sagen gewußt. Hatte er aus diesem Wechsel etwas gewonnen? Das fragte er sich nicht ohne Sorgen. Er war übrigens entschlossen, Alles zu thun, was seine Lage aufbessern konnte.

Er zögerte deshalb auch nicht, in dem ersten Verhör, welchem der Doctor selbst ihn unterwarf, freimüthige Antworten zu geben.

Kannte er Silas Toronthal und Sarcany?

Silas Toronthal nicht, Sarcany ja – er hatte ihn sogar mit nur kurzen Unterbrechungen zu Gesicht bekommen.

Hatte Sarcany Fühlung mit Zirone und seiner Bande, seit Jener in der Umgebung von Catania hauste?

Ja, da Sarcany in Sicilien erwartet wurde und auch sicher dorthin gekommen wäre, wenn der Ausgang jener unglücklichen Expedition, die mit dem Tode Zirone’s endete, ein anderer gewesen wäre.

Wo befand sich Sarcany jetzt?

In Monte Carlo, falls er nicht diese Stadt bereits wieder verlassen hatte, in der er seit einiger Zeit lebte und zwar wahrscheinlich mit Silas Toronthal zusammen.

Mehr wußte Carpena nicht, doch genügte das, was er erfahren dem Doctor, um einen neuen Feldzug zu beginnen.

Natürlich hatte der Spanier keine Ahnung davon, welches Interesse der Doctor gehabt, ihn aus Ceuta entkommen zu lassen und sich seiner Person zu bemächtigen, ebenso wenig, daß sein an Andrea Ferrato begangener Verrath dem wohl bekannt war, der ihn ausfragte. Er wußte nicht einmal, daß Luigi der Sohn des Fischers von Rovigno war. Der Gefangene wurde in seiner Kasematte viel strenger bewacht, als es in Ceuta der Fall gewesen. Er sollte mit Niemandem Verkehr haben können bis zu dem Tage, an dem über sein Schicksal beschlossen werden sollte.

Von den drei Verräthern also, welche den blutigen Ausgang der Triester Verschwörung herbeigeführt hatten, befand sich jetzt Einer in den Händen des Doctors. Es erübrigte nur noch, sich der beiden Anderen zu bemächtigen und Carpena selbst hatte gesagt, wo man sie würde finden können.

Da der Doctor von Silas Toronthal, Peter von diesem und von Sarcany gekannt wurde, so schien es ihnen gerathen, erst in dem Augenblick aufzutauchen, in welchem sie es mit Erfolg thun konnten. Jetzt, nachdem man die Spur der beiden Genossen wieder aufgefunden hatte, war es von Wichtigkeit, sie nicht mehr aus den Augen zu verlieren, so lange, bis die Umstände es erlauben würden, gegen sie zu operiren.

Deshalb waren Pointe Pescade, um Jenen überallhin zu folgen, wohin sie gingen, und Kap Matifu, um wenn nöthig, Pointe Pescade die starke Hand zu reichen, nach Monaco gesandt worden, wohin der Doctor, Peter und Luigi sich auf dem »Ferrato« ebenfalls begeben wollten, sobald der richtige Zeitpunkt gekommen sein würde.

Die in der Nacht angelangten Freunde hatten sich sofort an ihr Werk gemacht. Es war ihnen nicht schwer geworden, das Hotel zu entdecken, in welchem Silas Toronthal und Sarcany abgestiegen waren. Während Kap Matifu in der Umgegend in Erwartung des Abends umherpromenirte, sah Pointe Pescade, der auf der Lauer stand, die beiden Verbündeten in der ersten Nachmittagsstunde fortgehen. Es schien ihm, als ob der sehr niedergeschlagen aussehende Banquier wenig sprach, während Sarcany ihn ziemlich lebhaft unterhielt. Pointe Pescade hatte des Vormittags erzählen gehört, was am Abend vorher in den Sälen des Casino zu Monte Carlo vorgegangen war, das heißt, von jener unglaublichen Serie, die zahlreiche Opfer gefordert hatte, darunter in hervorragender Weise Silas Toronthal und Sarcany. Er folgerte daraus, daß ihre Unterhaltung sich auf dieses unglückliche Ereigniß bezog. Da er übrigens erfahren, daß die beiden Spieler in der letzten Zeit bedeutende Einbußen erlitten hatten, so schloß er nicht weniger juridisch genau daraus, daß ihre letzten Mittel fast vollständig erschöpft sein mußten und daß gewiß der Augenblick herannahe, in dem der Doctor zu passender Zeit auftauchen könnte.

Das Erfahrene wurde einer Depesche anvertraut, die gleich am frühen Morgen ohne Namensnennung an die Station La Vallette auf Malta gerichtet wurde; von dort wurde sie auf einem besonderen Draht schnell nach Antekirtta befördert.

Als Sarcany und Silas Toronthal die Halle des Casino betraten, war Pointe Pescade hinter ihnen; als sie die Thürschwelle zu den Sälen der Roulette und des Trente et Quarante überschritten, that er das Gleiche.

Es war gerade drei Uhr Nachmittags. Das Spiel begann lebhafter zu werden. Der Banquier und sein Gefährte machten erst einen Spaziergang durch die Säle. Sie standen vor den Spieltischen einige Augenblicke und beobachteten die Züge, nahmen aber selbst nicht am Spiele Theil.

Pointe Pescade bewegte sich neugierig hin und her, verlor aber seine beiden Leute dabei nicht aus den Augen. Er glaubte sogar, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, einige Fünkfrankstücke auf die Rubriken der Roulette setzen zu müssen; er verlor sie selbstverständlich, übrigens mit einer bewundernswerthen Kaltblütigkeit. Warum hatte er auch nicht den trefflichen Rath eines äußerst verdienstvollen Spielprofessors befolgt, der zu ihm gesagt hatte:

»Wenn man beim Spiele Glück haben will, mein Herr, so muß man die kleinen Treffer schießen lassen und nur die großen gewinnen. Darin gipfelt die ganze Kunst!«

Vier Uhr schlug es, als Sarcany und Silas Toronthal die Zeit für gekommen erachteten, einen Einsatz zu wagen. An einem der Roulettetische waren mehrere Plätze unbesetzt. Beide ließen sich nebeneinander nieder. Der Leiter des Spieles sah sich sofort nicht nur von Spielern, sondern auch von Zuschauern umringt, die begierig waren, der Revanche der beiden am Abend vorher ausgeplünderten Berühmtheiten der Spielsäle beizuwohnen.

Pointe Pescade stellte sich natürlich in die vorderste Reihe der Neugierigen und er war gewiß nicht Einer der am Wenigsten von den Wechselfällen des Spieles aufgeregten Zuschauer.

Während der ersten Stunden waren die Chancen fast die gleichen. Um sie besser zu verwerthen, spielte Jeder von Beiden für sich. Sie pointirten besonders und machten bedeutende Coups, theils auf Grund einfacher Combinationen, theils auf vervielfachten, wie sie die Roulette ermöglicht, theils mit Hilfe verschiedener Combinationen auf einmal. Das Schicksal wendete sich nicht gegen sie, aber auch nicht ihnen zu.

Zwischen vier und sechs Uhr schien das Glück ihnen am holdesten zu sein. Sie gewannen mehrfach das Maximum auf vollen Nummern, welches sich bei der Roulette auf sechstausend Franken beläuft.

Die Hände von Silas Toronthal zitterten, wenn sie sich über das grüne Tuch ausstreckten, um seinen Einsatz hinzuschieben oder um das Gold und die Bankbillets der Croupiers fast noch unter deren Harke fortzunehmen.

Sarcany, stets seiner mächtig, ließ nicht ein einziges seiner Gefühle sich in seinen Mienen widerspiegeln. Er begnügte sich, mit Blicken seinen Compagnon anzufeuern, und Silas Toronthal war es, auf dessen Seite die Chancen augenblicklich mit großer Beständigkeit lagen.

Pointe Pescade, obwohl etwas benebelt von dem fortwährenden Hin-und Herschieben des Goldes und der Bankbillets, hörte nicht auf, Beide zu beobachten. Er fragte sich, ob sie wohl klug genug sein würden, zur richtigen Zeit abzubrechen, um dieses Vermögen, welches sich unter ihren Händen aufbaute, sich zu erhalten. Dann kam ihm der Gedanke, daß, wenn Sarcany und Silas Toronthal wirklich so klug waren – woran er übrigens zweifelte – sie vielleicht versucht sein würden, Monte Carlo zu verlassen und in irgend einen anderen Winkel Europas zu fliehen, wo man sie dann aufsuchen müßte. Wenn ihnen das Geld wieder zu Gebote stand, würden sie auch nicht mehr so bequem von dem Doctor zu erreichen sein.

»Entschieden, so schloß er seine Ueberlegung, ist es werthvoller, wenn sie sich ruiniren, und ich täusche mich sehr, wenn ich diesen Schuft Sarcany für den Mann halte, der im Stande ist, zur richtigen Zeit aufzuhören.«

Wie auch Pointe Pescade’s Ideen in dieser Hinsicht gewesen sein mögen, ebenso seine Hoffnungen, die Chancen blieben den beiden Associés treu. Sie hätten in der That dreimal die Bank gesprengt, wenn nicht der Spielleiter Zuschüsse von zwanzigtausend Franken erbeten hätte.

Das war unter den Zuschauern dieses Kampfes eine Aufregung! Die Stimmung der Meisten war eine den Spielern günstige. Sah das nicht wie eine Revanche für die unverschämte Serie im Roth aus, aus der die Administration am Abend zuvor einen so reichlichen Nutzen gezogen hatte?

Als um sechs und einhalb Uhr Silas Toronthal und Sarcany das Spiel aufgaben, strichen sie einen baaren Gewinn von zwanzigtausend Louisd’ors ein. Sie erhoben sich von ihren Plätzen und verließen den Roulettetisch. Silas Toronthal wankte mit unsicheren Schritten einher, als wenn er ein wenig zu viel getrunken hätte – er war vielleicht benebelt von der Aufregung und der Abspannung des Gehirns. Sein gefühlloser Genosse überwachte ihn, denn es war ihm noch nicht ganz gewiß, ob Toronthal sich nicht versucht fühlen würde, mit den mehrfachen hunderttausend Franken, die mit so vielem Schweiße zurückerobert worden waren, zu entfliehen und sich seiner Herrschaft zu entziehen.

Beide durchschritten, ohne ein Wort zu sprechen, die Halle, stiegen den Vorbau hinunter und wendeten sich ihrem Hotel zu.

Pointe Pescade folgte ihnen in einiger Entfernung.

Als er ins Freie trat, sah er nahe einem der Kioske des Gartens Kap Matifu auf einer Bank sitzen.

Pointe Pescade trat an ihn heran.

»Ist der Augenblick da? fragte Kap Matifu.

– Welcher Augenblick?

– Um… um…

– Um auf die Scene zu treten?… Nein, mein Kap!… Noch nicht!… Bleibe noch hinter den Coulissen!… Hast Du gespeist?…

– Ja, Pointe Pescade.

– Meine Glückwünsche! Mir hängt der Magen bis in die Fußsohlen… wohin er doch wirklich nicht gehört. Ich werde ihn aber mir schon wieder herausholen, sobald ich Zeit habe!… Also, gehe nicht eher von hier fort, als bis ich Dich wiedergesehen habe.«

Und Pointe Pescade trat auf die Rampe zurück, welche Silas Toronthal und Sarcany hinabstiegen.

Als er sich überzeugt hatte, daß die beiden Associés sich das Diner in ihren Zimmern serviren ließen, nahm sich auch Pointe Pescade die Freiheit, an der Table d’hôte des Hotels Theil zu nehmen. Es war die höchste Zeit, und in einer halben Stunde hatte er, wie er sagte, seinen Magen wieder an den richtigen Platz gebracht, den dieses wichtige Organ in der menschlichen Maschine einnehmen muß.

Dann ging er hinaus, zündete sich eine vortreffliche Cigarre an und nahm seinen Beobachtungsposten vor dem Hotel wieder ein.

»Ich gebe, weiß Gott, eine vortreffliche Schildwache ab. Ich habe meinen Beruf verfehlt!«

Die einzige und immer wiederkehrende Frage, die er sich selbst vorlegte, lautete: werden diese Gentlemen heute noch nach Monte Carlo zurückkehren oder nicht?

Um acht Uhr erschienen Silas Toronthal und Sarcany an der Hotelthür. Pointe Pescade glaubte zu hören und zu verstehen, daß sie lebhaft stritten.

Der Banquier versuchte augenscheinlich zum letzten Male, den Verführungen zu widerstehen und den Einflüsterungen seines Genossen, denn dieser sagte schließlich mit befehlerischer Stimme:

»Es muß sein, Silas!… Ich will es!«

Sie gingen wieder die Rampe hinauf, um die Gärten von Monte Carlo zu erreichen. Pointe Pescade ging ihnen nach, konnte aber – zu seinem großen Bedauern – nichts von der Unterhaltung verstehen.

Was Sarcany in dem Tone sagte, der keine Widerrede von Seiten des Banquiers gestattete, dessen Widerstand überhaupt nach und nach sich legte, war Folgendes:

»Es wäre wahnsinnig, Silas, innezuhalten, wenn die Chance uns günstig ist…. Sie müssen den Kopf verloren haben!… Wie? Im Unglück haben wir das Spiel wie die Verrückten zwingen wollen und sollten es nun im Glück nicht wie die Vernünftigen an uns fesseln?… Es bietet sich uns eine Gelegenheit, die einzig in ihrer Art ist, eine Gelegenheit, die sich uns vielleicht nie wieder zeigen wird, uns zu Meistern unseres Schicksals zu machen, zu Herren unseres Glückes und wir wollen sie durch unsere eigene Schuld entweichen lassen?… Fühlen Sie denn nicht, Silas, daß die Chance…

– Wenn sie noch nicht erschöpft ist, murmelte Silas Toronthal.

– Nein, hundert Mal nein, erwiderte Sarcany. Man kann das nicht so erklären, zum Teufel, aber man fühlt das, es dringt bis in das innerste Mark der Knochen!… Eine Million erwartet uns noch heute Abend an den Tischen von Monte Carlo!… Ja, eine Million, und mir soll sie nicht entgehen!

– Spielt doch Sarcany!

– Ich?… Allein spielen?… Nein, mit Ihnen spielen, Silas, ja!… Und wenn zwischen uns gewählt werden müßte, so würde ich Ihnen unbedingt den Platz einräumen!… Das Glück neigt zu einer Person und offenbar ist es bei Ihnen wieder eingekehrt!… Spielen Sie und Sie werden gewinnen!… Ich will es!«

Sarcany wollte bei Licht betrachtet nur, daß Silas Toronthal es nicht bei dem Besitz einiger hunderttausend Franken bewenden ließe, welche diesem die Mittel an die Hand gegeben haben würden, sich seiner Macht zu entziehen. Er wollte, daß sein Genosse wieder der Millionär würde, der er einst gewesen war, oder ein Bettler. War Jener wieder reich, so konnte er das Leben weiter fortsetzen, welches sie bis dahin geführt hatten. War er ruinirt, so mußte er wohl oder übel Sarcany überallhin folgen, wohin dieser es haben wollte. In beiden Fällen hatte er von Silas Toronthal nichts zu befürchten.

Silas Toronthal übrigens, obwohl er Widerstand zu leisten versuchte, fühlte jetzt alle Leidenschaften des Spielers in sich regen. Er war so elendiglich zerworfen mit sich selbst, daß er Furcht und Lust zugleich empfand, in die Säle des Casinos zurückzukehren. Sarcany’s Worte hatten ihm Feuer in das Blut gegossen. Das Schicksal hatte sich sichtlich für ihn erklärt und zwar während der letzten Stunden mit einer so großen Beständigkeit, daß es wirklich unverzeihlich gewesen wäre, innezuhalten.

Der Narr! Er setzte, wie alle Spieler thun, voraus, daß die Gegenwart dasselbe bringen würde, was nur der Vergangenheit angehören konnte. Anstatt zu sagen: Ich habe die Chance gehabt – was ja die Wahrheit war – sagte er sich: Ich habe Chance – was falsch ist. Und trotzdem greift in dem Gehirn aller derjenigen, welche auf den Zufall rechnen, keine andere Ueberlegung Platz, als diese. Sie vergessen zu sehr, was erst jüngst ein großer Mathematiker Frankreichs gesagt hat: »Der Zufall hat Launen, keine Gewohnheiten.«

Inzwischen waren Sarcany und Silas Toronthal vor dem Casino angelangt, stets gefolgt von Pointe Pescade. Hier blieben sie einen Augenblick stehen.

»Kein Zaudern, Silas! mahnte Sarcany… Sie sind doch entschlossen zu spielen? Nicht wahr?

– Ja!… Entschlossen Alles gegen Alles zu setzen, antwortete der Banquier, dessen Schwanken gewichen war, sobald er sich auf der untersten Stufe des Casinogebäudes befand.

– Es ist nicht mein Fall, Sie beeinflussen zu wollen, nahm Sarcany von Neuem das Wort. Verlassen Sie sich auf Ihre Eingebung, nicht auf die meinige. Sie kann mich täuschen… Wollen Sie zur Roulette gehen…?

– Nein, zum Trente et Quarante, antwortete Silas Toronthal und betrat die Vorhalle.

– Sie haben Recht, Silas. Hören Sie nur auf sich selbst!… Die Roulette hat Ihnen soeben beinahe ein Vermögen eingebracht… Das Trente et Quarante mag das Fehlende ergänzen.«

Beide wanderten erst in den Sälen umher. Zehn Minuten später sah sie Pointe Pescade an einem der Tische, wo Trente et Quarante gespielt wird, Platz nehmen.

Bei diesem Spiele lassen sich in der That kühnere Züge vornehmen. Hier beträgt das Maximum zwölftausend Franken, obgleich die Chancen einfacherer Natur sind, obgleich nur gegen das Refait gekämpft zu werden braucht, und wenige Passes schon können beträchtliche Differenzen hinsichtlich des Gewinnes oder Verlustes erzeugen. Hier ist das Liebhabertheater, das heißt, hier sind die großen Spieler zu finden. Hier bauen sich Vermögen oder Ruine mit Schwindel erregender Schnelligkeit auf, auf welche die Börsen von Paris, New-York oder London mit Recht eifersüchtig sein könnten.



Eza.


Am Tische des Trente et Quarante hatte Silas Toronthal sofort seine Bekümmernisse vergessen. Er spielte jetzt nicht mehr mit Furcht, sondern wüthend, genauer ausgedrückt, wie ein Mann, der nicht zögern will, sich selbst hineinzulegen. Kann man übrigens behaupten, daß es hierbei eine bestimmte Regel zu spielen, sein Geld anzulegen gibt? Ersichtlich nicht, obgleich es die Spielhabitué’s behaupten. Man ist vollständig dem Zufalle unterthan. Der Banquier spielte also unter der Aufsicht Sarcany’s, dessen Interesse an dieser hohen Partie ein doppeltes war, wie immer auch das Ende sein würde.

Während der ersten Stunde waren Gewinn und Verlust fast die gleichen. Der Sieg begann schon sich auf die Seite von Silas Toronthal zu neigen.

Sarcany und er glaubten nun des Erfolges gewiß zu sein. Sie reizten sich selbst und forderten nur noch das Maximum heraus. Bald aber hatte die Bank wieder Oberhand, welche natürlich nicht die Dummheit macht, aus sich herauszugehen und deren, den Spielern aufgelegtes Maximum die Interessen in so beträchtlichem Maße schützt.

Es gab furchtbare Hiebe. Der ganze Gewinn, den Silas Toronthal am Nachmittage eingeheimst hatte, ging nach und nach wieder verloren. Es war schrecklich zu sehen, wie der Banquier mit verzerrten Mienen und weitaufgerissenen Augen sich an den Tischrand, an seinen Stuhl klammerte, an die Bankbillets, an die Goldrollen, die seine Hand nicht freigeben wollte, mit den Bewegungen, dem Aufspringen und den Zuckungen eines Mannes, der ertrinkt. Und Niemand da, der ihn vom Rande des Abgrundes zurückgerissen hätte. Nicht ein Arm, der ihm hingereicht wurde, an dem er sich hätte festklammern können! Kein Versuch Seitens Sarcany’s, ihn von dem Platze zu entfernen, fortzuschleppen, ehe sein Ruin vollständig war, ehe sein Kopf in den Fluthen seines Bankerotts versank.

Um zehn Uhr hatte Silas Toronthal seinen letzten Einsatz gemacht, das letzte Maximum gewagt. Er hatte es gewonnen, dann wieder verloren. Und als er sich mit verwirrtem Haar erhob, kam ihm der Wunsch, die Säle des Casinos möchten zusammenstürzen und Alles vergraben, was sich in ihnen befand, denn er besaß ja nichts mehr – nichts mehr von den Millionen, welche ihm sein mit den Millionen des Grafen Sandorf neu aufgebautes Bankhaus hinterlassen hatte.

Silas Toronthal verließ in der Begleitung Sarcany’s, der sein Kerkermeister zu sein schien, die Spielsäle, er durchschritt die Vorhalle und stürzte aus dem Casino hinaus. Beide flüchteten durch die Anlage in die Fußpfade hinein, welche zur Turbie hinausführen.

Pointe Pescade war ihnen bereits auf den Fersen. Er hatte Kap Matifu im Vorübergehen von der Bank aufgeschreckt, auf welcher der Hercules noch in einem Halbschlaf versanken saß und ihm zugerufen:

»Hurtig!… Gebrauche Deine Augen und Beine!«

Und Kap Matifu hatte sofort mit ihm die Fährte eingeschlagen, welche sie nicht mehr verlieren durften.


Sarcany und Silas Toronthal schritten nebeneinander weiter und stiegen allmählich immer höher, indem sie den gewundenen Fußpfaden folgten, welche sich auf dieser Seite des Gebirges durch die Oliven-und Orangenbäume hindurchschlängeln. Diese muthwilligen Zickzacklinien machten es Kap Matifu und Pointe Pescade bequem, Jene nicht aus den Augen zu verlieren, aber vernehmen konnten sie nicht, was Jene sprachen.

»Kommen Sie in das Hotel zurück, Silas, hörte Sarcany nicht auf, mit befehlerischer Stimme zu wiederholen. Kommen Sie zurück!… Gewinnen Sie doch Ihre Kaltblütigkeit wieder!…

– Nein!… Wir sind ruinirt!… Wir wollen uns trennen!… Ich will Sie nicht mehr sehen!… Ich will nicht mehr…

– Uns trennen?… Und warum!… Sie werden mir folgen, Silas!… Morgen verlassen wir Monaco!… Wir haben noch genügend Geld, um Tetuan zu erreichen, und dort werden wir unser Werk vollenden!

– Nein, Nein!… Lassen Sie mich, Sarcany, lassen Sie mich!« erwiderte Silas Toronthal.

Und er stieß ihn heftig von sich, als jener ihn anfassen wollte. Dann schritt er so schnell weiter, daß Sarcany ihn kaum einzuholen vermochte. Dessen unbewußt, was er that, riskirte Silas Toronthal, in die reißenden Gießbäche zu stürzen, oberhalb deren sich das Netz der Fußpfade entwickelt. Ein einziger Gedanke beherrschte und quälte ihn unaufhörlich: Monte Carlo zu fliehen, wo sein Ruin sich vollzogen hatte, Sarcany zu fliehen, dessen Rathschläge ihn in den Abgrund geführt, mit einem Worte, zu fliehen, dem Zufalle nach, ohne Ziel und Zweck, ohne zu wissen, wohin und was aus ihm werden würde.

Sarcany fühlte wohl, daß, wenn er nicht mehr Vernunft besäße als sein Genosse, dieser ihm entschlüpfen würde. Ja, wenn der Banquier nicht Kenntniß von den Geheimnissen gehabt hätte, die ihn verderben oder wenigstens unheilbar dies letzte Spiel, welches er noch spielen wollte, vereiteln konnten, so hätte er sich wenig Sorgen um den Mann gemacht, den er an den Rand des Verderbens gebracht hatte. Doch ehe Silas Toronthal ganz hineinstürzte, konnte er einen letzten Schrei ausstoßen und dieser Schrei war es, den Sarcany ersticken mußte.

Von dem Gedanken an das Verbrechen, das zu begehen er entschlossen war, bis zu dessen unmittelbarer Ausführung war nur ein Schritt und diesen Schritt zögerte Sarcany nicht zu gehen. Was er eigentlich auf der Landstraße von Tetuan thun wollte, in der Einsamkeit der marokkanischen Landschaft, hinderte Niemand ihn noch in dieser Nacht zu thun, sobald die Anlagen erst von den Besuchern verlassen worden waren.

Doch zu dieser Stunde gab es noch zwischen Monte Carlo und der Turbie Nachzügler, welche die Rampen hinauf oder hinunter stiegen. Ein Schrei von Silas Toronthal hätte sie zu seiner Hilfe herbeilocken können, der Mörder aber wollte, daß der Todtschlag unter solchen Umständen vor sich ginge, die Niemand verdächtigen konnten. Daher der Zwang, warten zu müssen. Weiter oben, jenseits der Turbie und der Grenze des Reiches von Monaco, auf der Straße der Corniche, welche in einer Höhe von zweitausend Meter in die Seitenwände der untersten Absätze der Seealpen eingehauen ist, konnte Sarcany sein Vorhaben mit voller Sicherheit ausführen. Wer hätte da seinem Opfer zu Hilfe kommen sollen? Wie hätte man den Leichnam von Silas Toronthal auf dem Grunde der Schluchten, welche die Straße eingrenzen, auffinden können?

Sarcany wollte indessen erst noch einmal versuchen, seinen Genossen aufzuhalten und ihn nach Monte Carlo zurückzuführen.

»Komm, Silas, komm, rief er und ergriff dessen Arm. Morgen fangen wir noch einmal an!… Ich besitze noch etwas Geld!…

– Nein!… Lassen Sie mich… lassen Sie mich!…« rief Silas Toronthal in einem letzten Wuthanfalle.

Wenn er stark genug gewesen wäre, sich mit Sarcany in einen Kampf einzulassen, wenn er Waffen bei sich gehabt hätte, würde er gewiß nicht gezögert haben, Rache für alles Unheil zu nehmen, welches sein einstiger Makler in Tripolis über ihn gebracht hatte.

Silas Toronthal stieß mit der einen Hand, welcher der Zorn Stärke verlieh, Sarcany zurück; dann wendete er sich der letzten Krümmung des Pfades zu und überschritt einige Stufen, die zwischen kleinen, etagenförmig angelegten Gärten, in roher Manier in den Fels gehauen waren. Bald hatte er die Hauptstraße der Turbie erreicht, die über den schmalen Paß führt, welcher den Hundskopf vom Rumpf des Berges Agal trennt, die einstige Grenze zwischen Italien und Frankreich.

»Geh’ nur, Silas, rief Sarcany nochmals. Geh’ nur, Du wirst nicht weit kommen!«

Er warf sich nach rechts, überkletterte einen niedrigen Steinwall, durchschritt flink einen Treppengarten und eilte dann schnell fort, um Silas Toronthal auf der Straße vorauszukommen. Pointe Pescade und Kap Matifu hatten, obwohl sie von der Unterhaltung nichts verstehen konnten, gesehen, wie der Banquier Sarcany heftig zurückstieß und Sarcany im Dunkel verschwand.

»Der Teufel hat seine Hand im Spiel! rief Pointe Pescade. Der Beste entwischt uns wahrscheinlich… Es fehlt nicht viel und der Andere macht es ebenso!… Jedenfalls ist auch Toronthal eine gute Beute… Uebrigens haben wir keine Wahl… Vorwärts, mein Kap, vorwärts!«

Sie setzten sich in schnellere Bewegung und hatten sich bald Silas Toronthal genähert.

Dieser stieg rüstig auf der Straße der Turbie weiter. Nachdem er den kleinen Hügel, welcher den Thurm des Augustus beherrscht, zur Linken gelassen hatte, eilte er fast im Laufschritt an den schon geschlossenen Häusern vorüber und kam endlich auf die Straße der Corniche.

Pointe Pescade und Kap Matifu waren fünfzig Schritte hinter ihm.

Von Sarcany konnte keine Rede mehr sein. Entweder war er auf der Kante der Anhöhen zur rechten Seite weiter gegangen oder er hatte seinen Genossen definitiv verlassen und war nach Monte Carlo heruntergestiegen.

Die Straße der Corniche, der Ueberrest einer alten römischen Landstraße, senkt sich von der Turbie aus nach Nizza zu und führt in halber Höhe des Gebirges durch herrliche Felspartien, an einzeln stehenden Kegeln und tiefen Abgründen vorüber, welche sich bis zum Eisenbahndamm, der längs des Gestades führt, kreuzen. Jenseits tauchten in dieser sternenklaren Nacht, beim Schimmer des sich im Osten erhebenden Mondes flüchtig sechs Golfe auf, die Insel vom Heiligen Hospiz, die Mündung des Var, die Halbinsel La Garoupe, das Kap d’Antibes, der Golf Juan, die Lerin-Inseln, der Golf der Napoule, der Golf von Cannes und dahinter die Gebirgszüge der Esterel. Hier und dort blitzten Leuchtfeuer auf, das von Beaulieu, am Fuße der Abhänge von Klein-Afrika, das von Villefranche, welches den Berg Leuza beherrscht, ferner einige Signalfeuer von Fischerbooten, welche die ruhigen Gewässer des Meeres zurückwarfen.

Die Uhr zeigte bereits nach Mitternacht. Silas Toronthal bog jetzt dicht hinter der Turbie von der Straße der Corniche ab und lenkte in einen schmalen Pfad ein, der direct nach Eza führt, einer Art Adlernest mit fast uncivilisirter Bevölkerung, das sich auf seinem aus einem Walde von Pinien und Johannisbrodbäumen aufsteigenden Felsen ungemein erhaben fühlt.

Dieser Weg lag vollständig verlassen da. Der Unsinnige verfolgte ihn eine Zeit lang, ohne seinen Schritt zu verlangsamen oder den Kopf zurückzuwenden; plötzlich betrat er einen zur Linken sich öffnenden schmalen Fußweg, welcher nahe den hohen Felsen des Gestades entlang führt, unter denen der Schienenweg und eine Fahrstraße sich durch einen Tunnel ziehen.

Pointe Pescade und Kap Matifu waren ihm jetzt dicht auf den Fersen Hundert Schritte weiter stand Silas Toronthal plötzlich still. Er war einen Felsen hinausgegangen, der einen Abgrund überragte, in dessen Tiefe von vielleicht mehreren hundert Fuß die Brandung schäumte.

Was wollte Silas Toronthal beginnen? Hatte der Gedanke an einen Selbstmord sein Hirn durchkreuzt? Wollte er seinem elenden Leben durch einen Sturz in diesen Abgrund ein Ziel setzen?

»Tausend Teufel! schrie Pointe Pescade. Wir müssen ihn lebendig haben!… Greise ihn Kap Matifu und halte ihn gut fest!«

Beide hatten kaum zwanzig Schritte gemacht, als sie einen Mann rechts vom Wege auftauchen, ihn die Böschung zwischen Büscheln von Mastix-und Myrthenbäumen entlang gleiten sahen und sein offenbares Streben erkannten, den Fels zu erreichen, auf welchem Silas Toronthal stand.

Es war Sarcany.

»Himmel! rief Pointe Pescade, er wird seinem Genossen gewiß einen Genickstoß geben wollen, um ihn von dieser in die andere Welt zu schicken!… Kap Matifu, Du nimmst den Einen, ich nehme den Anderen!«

Sarcany war aber stehen geblieben…. Er fürchtete wiedererkannt zu werden. Ein Fluch entfuhr seinen Lippen. Er entschlüpfte nach rechts, noch ehe Pointe Pescade ihn erreicht hatte und verschwand inmitten der Gebüsche.

Einen Augenblick später, gerade als Silas Toronthal sich hinabstürzen wollte, war dieser von Kap Matifu angepackt und auf den Weg zurückgebracht worden.

»Lassen Sie mich! rief er. Lassen Sie mich!

– Sie einen Fehltritt thun lassen? Nimmermehr, Herr Toronthal,« rief Pointe Pescade.

Der einsichtige Mensch war auf diesen Zwischenfall, den seine Instructionen nicht vorgesehen hatten, in keiner Weise vorbereitet. Wenn nun auch Sarcany entkommen war, so hatte er doch wenigstens Silas Toronthal abgefangen und es handelte sich jetzt zunächst darum, ihn nach Antekirtta zu bringen, wo er mit allen Ehren, die er beanspruchen konnte, empfangen werden sollte.

»Willst Du Dich mit dem Transporte dieses Herrn – zu ermäßigtem Preise – befassen? fragte Pointe Pescade Kap Matifu.

– Gern!«

Silas Toronthal hatte kaum das Bewußtsein von dem, was hier vorging und wagte daher nicht den geringsten Widerstand. Pointe Pescade schlug einen ziemlich abschüssigen Fußpfad ein, der zum Ufer hinab, an dem Abgrunde herum führte, und wurde von Kap Matifu gefolgt, der den trägen Körper des Banquiers bald zog, bald schleppte.

Das Herniedersteigen war ein höchst mühseliges und ohne die wunderbare Geschicklichkeit Pointe Pescade’s, ohne die außerordentliche Kraft seines Genossen, hätten Beide im Umsehen einen tödtlichen Sturz erleiden können.

Nachdem sie gewiß zwanzig Mal ihr Leben auf’s Spiel gesetzt hatten, langten sie endlich glücklich bei den letzten, schon im Niveau des Meeres liegenden Klippen an. Dort wird das Ufer von einer Reihenfolge von kleinen Buchten gebildet, welche von der Natur willkürlich in die Sandsteinmasse hineingetrieben worden sind. Sie werden von hohen röthlichen Felswänden umrahmt und von eisenhaltigen Klippen eingeschlossen, so daß sie kleinen, mit Blut gefärbten Uferseen gleichen.

Der Tag begann schon heraufzudämmern, als Pointe Pescade eine Höhle im Innern einer dieser Einbuchtungen fand, welche die Brandung zur Zeit der geologischen Bewegungen geschaffen haben mag. In dieser konnte man Silas Toronthal bergen und Kap Matifu bei ihm als Wache bleiben.

»Du wirst hier bleiben und auf mich warten, Kap, sagte Pointe Pescade zu dem Riesen.

– So lange es nöthig sein wird, Pointe Pescade.

– Selbst zwölf Stunden, wenn ich so lange fortbleiben muß?

– Selbst zwölf Stunden.

– Ohne zu essen?

– Wenn ich heute Früh auch nicht frühstücken kann, so werde ich doch zu Mittag speisen können. – Dann für Zwei.

– Und solltest Du selbst nicht für Zwei zu Mittag essen können, dann magst Du für Vier das Abendbrod genießen.«

Kap Matifu ließ sich auf einem Felsen nieder, so zwar, daß er seinen Gefangenen stets vor Augen hatte. Pointe Pescade ging an den Rändern der verschiedenen Buchten entlang, bis er Monaco vor sich hatte.

Er sollte weniger Zeit zu seiner Rückkehr gebrauchen, als er geglaubt hatte. In knapp zwei Stunden hatte er den »Electric« wiedergefunden, der auf einer der verlassenen Rheden ankerte, welche die Brandung gegen die Wogen der offenen See stützt. Eine Stunde später langte das Eilschiff vor der schmalen Bucht an, an welcher Kap Matifu, vom Meere aus gesehen, wie der mythologische Proteus auftauchte, die Heerden Neptun’s hütend. Einen Augenblick später waren Silas Toronthal und Kap Matifu an Bord. Weder die Zollwächter noch die Fischer der Küste hatten den »Electric« bemerkt, der mit Entwickelung seiner größten Schnelligkeit die Richtung nach Antekirtta einschlug.

Fünftes Capitel. Durch die Güte Gottes.

Es sei jetzt erlaubt, einen umfassenden Einblick in die Kolonie Antekirtta zu nehmen.

Silas Toronthal und Carpena befanden sich jetzt in den Händen des Doctors und dieser zögerte nicht, die Spuren Sarcany’s zu verfolgen. Seine mit dem Auffinden von Frau Bathory betrauten Agenten hörten nicht auf, ihre Nachforschungen fortzusetzen – bis jetzt waren diese indessen von keinem Erfolge begleitet gewesen. Seit die Mutter verschwunden, deren einzige Stütze der alte Borik war, kam es alle Augenblicke wie Verzweiflung über Peter; welchen Trost hätte auch der Doctor diesem zweimal gebrochenen Herzen spenden können? Wenn Peter mit ihm von seiner Mutter sprach, mußte der Doctor da nicht fühlen, daß Peter auch gleichzeitig an Sarah dachte, wenn auch ihr Name zwischen ihnen nicht ausgesprochen wurde?

In der kleinen Hauptstadt der Kolonie Antekirtta, nicht weit vom Stadthause, bewohnte Maria Ferrato eines der zierlichsten Häuser von Artenak. Die Erkenntlichkeit des Doctors wollte, daß sie hier alle Annehmlichkeiten, die das Leben bieten kann, genoß. Ihr Bruder wohnte mit ihr zusammen, wenn er sich nicht gerade auf der See behufs eines Transportes oder einer Ueberwachung befand. Nicht ein Tag verging, ohne daß die Geschwister nicht dem Doctor einen Besuch abgestattet hätten, oder daß dieser nicht zu ihnen gekommen wäre. Seine Neigung zu den Kindern des Fischers von Rovigno wuchs, je genauer und besser er sie kennen lernte.



Kap Matifu ließ sich auf einem Felsen nieder. (S. 463.)


»Wie glücklich könnten wir sein, wiederholte oft Maria, wenn Peter es wäre.

– Er wird es sein, pflegte Luigi zu antworten, sobald er eines Tages seine Mutter wiedergefunden haben wird. Ich habe nicht alle Hoffnung aufgegeben, Maria! Mit den Mitteln, über welche der Doctor verfügt, muß schließlich ausgekundschaftet werden, wohin Borik Frau Bathory hat führen müssen, nachdem sie Ragusa verlassen.

– Ich hege ebenfalls dieselbe Hoffnung, Luigi. Würde aber auch Peter, selbst wenn seine Mutter ihm wiedergegeben werden sollte, schon ganz getröstet sein?

– Nein, Maria, das ist ganz unmöglich, weil Sarah Toronthal niemals seine Frau wird sein können.

– Ist das, was dem Menschen unmöglich scheint, nicht Gott möglich, Luigi?« fragte Maria.

Als Peter zu Luigi gesagt hatte, sie wollten Brüder sein, wußte er noch nicht, welche zärtliche und ergebene Schwester er in Maria Ferrato finden würde Als er sie näher kennen gelernt hatte, zögerte er nicht, ihr alle seine Sorgen anzuvertrauen. Es beruhigte ihn etwas, wenn er mit ihr sich aussprechen konnte. Was er dem Doctor nicht sagen wollte, was sich von selbst verbot, diesem mitzutheilen, davon sprach er mit Maria. Er fand hier ein liebevolles Herz, welches sich mitleidig öffnete, ein Herz, das begriff und tröstete, eine Gott vertrauende Seele, welche die Verzweiflung nicht kannte. Wenn Peter unsäglich litt, wenn das Uebermaß des Schmerzes seine Brust zu sprengen drohte, ging er zu ihr, und stets wußte Maria ihm ein wenig Vertrauen auf die Zukunft einzuflößen.

Ein Mann befand sich in den Kasematten von Antekirtta, welcher wissen mußte, wo sich Sarah befand und ob sie noch immer in Sarcany’s Gewalt schmachtete. Es war das Silas Toronthal, der sie für seine Tochter ausgegeben hatte. Doch aus Rücksicht auf das Andenken an seinen Vater würde Peter niemals gewagt haben, ihn hierüber zum Sprechen zu bringen.

Silas Toronthal war auch seit seiner Gefangennahme in einer so bedenklichen Gemüthsverfassung, von einer so großen physischen und moralischen Erschlaffung befallen worden, daß er nichts hätte sagen können, selbst wenn sein Vortheil ihn genöthigt haben würde, es zu thun. Im Ganzen genommen hatte er kein Interesse zu enthüllen, was er über Sarah wußte, da er einerseits nicht ahnte, daß es der Doctor Antekirtt war, dessen Gefangener er geworden, und andererseits, daß Peter Bathory sich lebend auf der Insel Antekirtta befand, deren Name sogar ihm fremd war.

Wie Maria Ferrato ganz richtig gesagt hatte, nur Gott konnte diese Situation zu einem befriedigenden Ende führen.

Der actuelle Zustand der kleinen Kolonie würde nicht in das volle Licht gerückt sein, vergäße man in dem Personalbestande von Antekirtta Pointe Pescade und Kap Matifu aufzuführen.

Obwohl es Sarcany gelungen, zu entschlüpfen, obwohl seine Fährte für den Augenblick verloren gegangen war, hatte die Ergreifung von Silas Toronthal doch eine so hohe Wichtigkeit, daß man Pointe Pescade äußerst freigebig mit Belobungen überhäufte. Der tapfere Junge hatte, seiner alleinigen Eingebung überlassen, genau so gehandelt, wie man bei dieser Lage der Dinge nicht anders hätte handeln können. Von dem Augenblicke an, in welchem sich der Doctor befriedigt zeigte, wären die beiden Freunde schlecht angekommen, wenn sie selbst es nicht gewesen sein würden. Sie hatten also ihr niedliches Heim wieder bezogen und warteten, daß man ihre Dienste wieder in Anspruch nehmen würde. Sie hofften sehr stark, der gerechten Sache noch von großem Nutzen sein zu können.

Gleich nach ihrer Ankunft in Antekirtta hatten Pointe Pescade und Kap Matifu Maria und Luigi Ferrato einen Besuch abgestattet, ebenso hatten sie sich einigen Notablen von Artenak vorgestellt. Ueberall empfing man sie gern, denn sie hatten sich bereits beliebt zu machen gewußt. Es war ein Spaß, Kap Matifu bei diesen feierlichen Gelegenheiten sehen zu können; seine enorme Persönlichkeit, die gut ein Zimmer für sich allein beanspruchte, schien ihn an allen Ecken und Enden zu geniren.

»Ich bin so schmächtig, daß sich das ausgleicht,« bemerkte gewöhnlich Pointe Pescade.

Dieser war die Freude der Kolonie, welche er mit seiner stets ungetrübten Laune auf das Beste belustigte. Er stellte seine Klugheit und seine Geschicklichkeit in den Dienst Aller. Wenn die Dinge einen allgemein befriedigenden Verlauf nehmen würden, welche Feste wollte er zu Stande bringen, welches Programm von Vergnügungen und Sehenswürdigkeiten sollte sich in der Stadt und ihrer Umgebung entwickeln. Ja, wenn es sein mußte, würden Kap Matifu und er nicht zögern, noch einmal das Akrobatenhandwerk zu beginnen, um die Bevölkerung Antekirtta’s in Staunen zu versetzen.

Pointe Pescade und Kap Matifu beschäftigten sich inzwischen, in Erwartung dieses schönen Tages, ihren Garten zu verschönern, der von prächtigen Bäumen beschattet war, und ihre Villa, welche vollständig unter Blumen verschwand. Die Arbeiten am kleinen Bassin ließen dieses nun auch schon festere Formen annehmen. Wenn man so Kap Matifu ungeheure Felsstücke losbrechen und fortschleppen sah, konnte man bald erkennen, daß der provençalische Hercules noch nichts von seiner wunderbaren Stärke eingebüßt hatte.

Weder die Agenten, welche der Doctor mit den Nachforschungen über den Verbleib der Frau Bathory beauftragt hatte, noch diejenigen, welche auf die Spur Sarcany’s gelenkt worden waren, hatten glückliche Erfolge zu verzeichnen. Keiner von ihnen hatte entdecken können, wohin sich der Elende nach seiner Abreise von Monte Carlo begeben hatte.

Kannte Silas Toronthal dessen Zufluchtsort? Es war das in Anbetracht der Umstände, unter denen sie sich von einander auf der Landstraße nach Nizza getrennt hatten, zum Mindesten zweifelhaft. Doch zugegeben, daß er es wußte, würde er es freiwillig sagen?

Der Doctor wartete höchst ungeduldig darauf, daß der Banquier in die Lage kommen würde, die Probe zu bestehen.

In einem in der nordwestlichen Spitze von Artenak eingerichteten kleinen Fort war es, wo sich Silas Toronthal und Carpena im strengsten Gewahrsam befanden. Beide kannten sich, doch nur dem Namen nach, denn der Banquier hatte sich niemals direct in die sicilianischen Geschäfte Sarcany’s gemischt. Es war auch eine Verordnung erlassen, dahin zielend, Beide nicht vermuthen zu lassen, daß sie sich zusammen in dem Fort befänden. Sie bewohnten zwei Kasematten, die von einander getrennt lagen, und sie verließen dieselben nur, um in abgesonderten Höfen frische Luft zu schöpfen. Auf die Treue Derjenigen, welche sie bewachten – es waren stets zwei Unterofficiere der Miliz von Antekirtta – konnte der Doctor zählen und gewiß sein, daß kein Verkehr zwischen den beiden Gefangenen sich anbahnte.

Es war also keine Indiscretion zu befürchten, noch mehr: auf alle Fragen die Silas Toronthal und Carpena, die Oertlichkeit ihres Aufenthaltes betreffend, stellten, war ihnen nie geantwortet worden und sollte es auch nicht werden. Nichts konnte weder den Einen noch den Anderen vermuthen lassen, daß sie in die Hände dieses geheimnißvollen Doctors Antekirtt gefallen waren, den der Banquier kannte, weil er ihn mehrfach in Ragusa zu Gesicht bekommen hatte.

Des Doctors unaufhörliche Beschäftigung war es, Sarcany ausfindig zu machen und ihn aufzuheben, wie es mit seinen beiden Genossen geschehen war. Am 16. October endlich, nachdem constatirt worden war, daß Silas Toronthal sich jetzt im Stande befände, auf die ihm vorgelegten Fragen zu antworten, entschloß er sich, ein Verhör mit ihm anzustellen.

Zuvor hielt er eine Berathung über diesen Gegenstand mit Peter und Luigi ab, zu der auch Pointe Pescade gezogen wurde, dessen Ansichten nicht zu verachten waren.

Der Doctor machte sie mit seinem Vorhaben bekannt.

»Wenn man Silas Toronthal erkennen läßt, daß man Sarcany’s Aufenthalt zu erfahren wünscht, warf Luigi ein, läßt man ihn da nicht gleich vermuthen, daß man sich seines Genossen bemächtigen will?

– Ja wohl, antwortete der Doctor, doch gibt es wohl nichts Gefährliches dabei, wenn er es weiß, da er uns nicht mehr entschlüpfen kann.

– Und doch, Herr Doctor, erwiderte ihm Luigi. Silas Toronthal kann der Meinung sein, daß es in seinem Interesse liegt, nichts zu sagen, was. Sarcany schaden könnte.

– Und warum?

– Weil er sich selbst schaden würde.

– Ist mir eine Bemerkung gestattet? fragte Pointe Pescade, der sich ein wenig abseits hielt – aus Discretion.

– Gewiß, mein Freund, sagte der Doctor.

– Meine Herren, begann Pointe Pescade, ich glaube, daß bei der gegenwärtigen Trennung der beiden Gentlemen sie sich gegenseitig keine Schonung mehr aufzulegen brauchen. Herr Silas Toronthal muß Sarcany von ganzem Herzen verabscheuen, da er ihn an den Bettelstab gebracht hat. Wenn also Herr Toronthal weiß, wo Herr Sarcany sich augenblicklich befindet, wird er nicht zögern, es zu sagen – so denke ich wenigstens. Sollte er nichts sagen, so hat er eben nichts zu sagen.«

Dieses Raisonnement entbehrte nicht einer gewissen Richtigkeit. Sehr wahrscheinlich würde der Banquier, im Falle er wußte, wohin Sarcany geflüchtet war, sich nicht für verpflichtet halten, Stillschweigen zu beobachten, wenn sein eigener Vortheil es bedingen würde, dasselbe zu brechen.

»Wir werden heute noch wissen, woran wir uns zu halten haben, antwortete der Doctor, und mir soll es schon klar werden, ob Toronthal nichts weiß oder nichts wissen will. Doch da er noch nicht wissen darf, daß er in der Gewalt das Doctors Antekirtt sich befindet, da er ferner nicht wissen darf, daß Peter Bathory noch am Leben ist, so soll Luigi beauftragt werden, ihn auszuforschen.

– Ich stehe ganz zu Diensten, Herr Doctor!« erwiderte der junge Mann.

Luigi begab sich demgemäß in die Festung und wurde in die Kasematte geführt, welche Silas Toronthal zum Gefängnisse diente.

Der Banquier saß in einer Ecke an einem Tische. Er hatte soeben sein Bett verlassen. Sein moralischer Zustand hatte sich augenscheinlich noch nicht sehr gebessert. Er dachte jetzt zwar weder an seinen Ruin, noch an Sarcany. Was ihn weit directer beunruhigte, war, zu wissen, warum und an welchem Orte man ihn gefangen hielt und wer die mächtige Persönlichkeit war, die ein Interesse daran hatte, sich seiner zu bemächtigen. Er wußte nur soweit zu denken, daß er Alles zu fürchten hätte.

Als er Luigi Ferrato sah, erhob er sich; doch auf ein Zeichen, welches dieser ihm gab, setzte er sich unverzüglich wieder. Es entspann sich nun folgendes kurze Verhör während Luigi’s Besuch bei Silas Toronthal.

»Sie sind Silas Toronthal, einstmals Banquier in Triest und haben in der letzten Zeit in Ragusa Ihren Wohnsitz gehabt?

– Ich habe auf diese Frage nichts zu erwidern. Die, welche mich als Gefangenen zurückhalten, müssen wissen, wer ich bin.

– Sie wissen es.

– Wer sind sie?

– Sie werden es später erfahren.

– Und wer sind Sie?

– Ein Mann, der den Auftrag hat, Sie zu fragen.

– Von wem?

– Von denen, welchen Sie Rechenschaft schuldig sind.

– Noch einmal, wer sind dieselben?

– Ich habe es nicht nöthig, es Ihnen zu sagen.

– In diesem Falle habe ich Ihnen auch nichts zu erwidern.

– Es sei! Sie waren in Monte Carlo mit einem Manne zusammen, den Sie schon seit Langem kannten und der seit Ihrer Abreise von Ragusa nicht von Ihrer Seite gewichen ist. Dieser Mann, ein Tripolitaner von Geburt, nennt sich Sarcany. Er ist entkommen, gerade als Sie auf der Landstraße nach Nizza festgenommen wurden. Ich bin beauftragt, Sie zu fragen: Wissen Sie, wo sich gegenwärtig dieser Mann aufhält, und wollen Sie es, wenn Sie es wissen, sagen?«

Silas Toronthal hütete sich wohl, darauf zu antworten. Wenn man wissen wollte, wo Sarcany war, so geschah es offenbar deshalb, um sich Sarcany’s ebenso zu bemächtigen, wie man sich seiner bemächtigt hatte. Zu welchem Zwecke? Gemeinsamer Thaten aus ihrer Vergangenheit wegen und noch genauer ausgedrückt, Dinge wegen, die sich auf die Verschwörung von Triest bezogen? Doch wie sollten diese Vorgänge bekannt geworden sein und welcher Mann konnte ein Interesse daran haben, den Grafen Mathias Sandorf und seine beiden Freunde, die nun schon länger als fünfzehn Jahre todt waren, zu rächen? Das war es, was sich der Banquier zuerst fragte. Jedenfalls war die Annahme gerechtfertigt, daß er nicht dem Spruche einer regelrechten Gerichtsbarkeit unterworfen war, deren Thätigkeit sich auf ihn und seinen Genossen zu erstrecken drohte – was ihn nur noch mehr beunruhigen mußte. Obwohl er nicht daran zweifelte, daß Sarcany nach Tetuan in das Haus Namir’s geflüchtet war, woselbst er seine letzte Partie und in allernächster Zeit spielen wollte, entschloß er sich doch, nichts hierüber zu sagen. Wenn späterhin sein Interesse ihm befahl zu reden, würde er sprechen. Bis dahin war ihm sehr daran gelegen, sich äußerst reservirt zu verhalten.

»Nun?… fragte Luigi, nachdem er dem Banquier Zeit zum Nachdenken gelassen hatte.

– Mein Herr, antwortete Silas Toronthal, ich könnte Ihnen antworten, daß ich weiß, wo Sarcany ist, von dem Sie mir sprechen und daß ich es nicht sagen will. In Wahrheit aber weiß ich wirklich nicht, wo er ist.

– Das ist Ihre einzige Antwort?

– Die einzige und wahre.«

Luigi zog sich hierauf zurück und erstattete dem Doctor Bericht über seine Unterhaltung mit Silas Toronthal. Da die Antwort des Banquiers im Grunde genommen nichts Anstößiges barg, so mußte man damit vorläufig zufrieden sein. Um Sarcany’s Spur wieder aufzufinden, konnte also vorderhand nichts weiter geschehen, als die Nachforschungen zu vervielfältigen und dabei weder Geld noch Mühen zu sparen.

Während der Doctor auf irgend ein Anzeichen wartete, welches ihm erlaubte, den Feldzug auf’s Neue zu eröffnen, hatte er sich mit Fragen zu beschäftigen, welche die Sicherheit Antekirttas sehr nahe angingen.

Es waren ihm insgeheim Nachrichten aus den afrikanischen Provinzen neuerdings zugegangen. Seine Agenten empfahlen ihm, die Küsten des Golfes der Sidra sorgfältig überwachen zu lassen. Nach ihren Meinungen schien die Genossenschaft der Senusisten



Die »Electrics« erhielten Befehl, im Meere der Syrten zu kreuzen. (S. 473.)


ihre Streitkräfte an der tripolitanischen Grenze sammeln zu wollen. Eine allgemeine Bewegung derselben ging allmählich den Gestaden der Syrten zu. Zwischen dem Großmeister und den verschiedenen Zauyias Nord-Afrikas fand ein Austausch von Meldungen mittelst reitender Boten statt. Aus dem Auslande anlangende Waffen wurden für Rechnung der Brüderschaft geliefert und ausgehändigt. Ein Zusammenziehen von Mannschaften vollzog sich ganz offenbar in dem Vilajet von Ben-Ghazi, also in der nächsten Nachbarschaft Antekirttas.

Zur Abwendung einer Gefahr, welche bedenklich werden konnte, mußte der Doctor alle Maßnahmen treffen, welche die Klugheit gebot. Während der drei letzten Wochen des Octobers unterstützten ihn Peter und Luigi wacker bei diesem Werke und auch alle Kolonisten standen ihm hilfreich zur Seite. Pointe Pescade wurde mehrfach heimlich an das afrikanische Gestade geschickt, um sich mit den Agenten ins Einvernehmen zu setzen. Es wurde constatirt, daß die Gefahr, welche die Insel bedrohte, nichts weniger als eine imaginäre war. Die Piraten von Ben-Ghazi, unterstützt durch eine vollkommene Mobilisirung der Bundesbrüder der ganzen Provinz, bereiteten eine Expedition vor, deren Ziel die Insel Antekirtta war. Stand diese Expedition nahe bevor? Darüber war nichts zu erfahren. Jedenfalls befanden sich die Senusistenführer noch in ihren südlichen Vilajets, und es war mehr als wahrscheinlich, daß keine wichtige Unternehmung ohne ihre persönliche Leitung zur Ausführung gebracht würde. Deshalb hatten auch die »Electrics« den Befehl erhalten, in den Gewässern des Meeres der Syrten zu kreuzen, um sowohl die Küsten der Cyrrhenäischen Halbinsel und von Tripolis, und auch das Gestade von Tunesien bis zum Kap Bon zu beobachten.



Das Eiland bildete eine Gefahr für die Insel. (S. 474.)


Die Vorbereitungen zur Vertheidigung der Insel waren, wie man weiß, noch nicht beendet. Wenn es auch nicht möglich sie in absehbarer Zeit zu Ende zu führen, so waren doch wenigstens Vorräthe an Munition jeder Gattung in dem Arsenale von Antekirtta überaus reichlich vorhanden.

Antekirtta, welches von den Küsten der Cyrrhenäischen Halbinsel an zwanzig Meilen entfernt liegt, wäre vollständig isolirt im Innern dieses Golfes, wenn nicht ein Eiland, bekannt unter dem Namen Eiland Kencraf, welches ungefähr dreihundert Meter im Umkreise mißt, zwei Meilen von seiner südöstlichen Spitze auftauchen würde. Dieses Eiland sollte nach des Doctors Idee als Deportationsort dienen, wenn jemals ein Kolonist diese Strafe verdiente; diese Verbannung würde dann von dem regulären Gerichtshofe der Insel über den Betreffenden verhängt werden – ein Fall, der sich aber bis dahin noch nicht ereignet hatte. Zu diesem Zwecke waren auf dem Eilande einige Baracken aufgeführt worden.

Das Eiland Kencraf war aber durchaus unbefestigt, und falls eine feindliche Flotte Antekirtta angriff, bildete es lediglich durch seine Lage eine Gefahr für die Insel. Es genügte, dort zu landen, um aus dem Eilande eine solide Operationsbasis zu machen. Neben der Bequemlichkeit, die es als Niederlage von Lebensmitteln und Munition bot und neben der Möglichkeit, eine Batterie dort zu errichten, konnte es für die Belagerer ein sehr ernsthafter Stützpunkt werden; es wäre weit besser gewesen, es hätte nicht existirt, da die Zeit fehlte, es in Vertheidigungszustand zu setzen.

Die Lage des Eilandes Kencraf und die Vortheile, welche ein Feind aus ihm gegen Antekirtta ziehen konnte, beunruhigten den Doctor unablässig. Nachdem er Alles reiflich erwogen hatte, entschloß er sich, es zu zerstören, zu gleicher Zeit aber diese Sprengung mit der Vernichtung von einigen hundert Seeräubern, die vielleicht die Kühnheit haben würden, sich auf Kencraf festzusetzen, zu verbinden.

Dieser Plan gelangte zur sofortigen Ausführung. Durch vollständige Durchgrabung des Erdreiches des Eilandes wurde dasselbe schnell zu einer großen Minenkammer umgewandelt und mit Antekirtta durch einen unterseeischen Draht in Verbindung gesetzt. Ein elektrischer Strom, der durch diesen Draht geleitet wurde, war ausreichend, jede Spur seines einstigen Daseins von der Oberfläche des Meeres verschwinden zu lassen.

Weder mit gewöhnlichem Pulver, weder mit Schießbaumwolle noch mit Dynamit wollte der Doctor diese furchtbare Zerstörungskraft entwickeln. Er kannte die Zusammensetzung eines neuen Explosionsstoffes, der neuerdings entdeckt worden war und dessen zerstörende Eigenschaften so bedeutende sind, daß man wohl sagen kann, er ist im Vergleich zum Dynamit das, was das Dynamit im Vergleich zum gewöhnlichen Pulver ist. Viel handlicher als das Nitro-viel transportabler, weil es nur die Anwendung von zwei isolirten Flüssigkeiten erfordert, deren Mischung sich erst im Augenblicke des Gebrauches bildet, viel widerstandsfähiger gegen das Einfrieren bis zu zwanzig Graden unter Null, während das Dynamit schon bei fünf oder sechs Graden erstarrt, und durch einen heftigen Stoß explodirbar wie das Zündhütchen, ist dieses Mittel ebenso furchtbar als einfach in seiner Anwendung.

Wie erhält man es? Lediglich durch die Thätigkeit des anhydrischen und reinen Salpeteroxyd im flüssigen Zustande auf diverse kohlenstoffhaltige, mit mineralischen Oelen durchsetzte, vegetabilische, animalische oder Theile von anderen Fettsubstanzen enthaltende Körper. Aus diesen beiden Flüssigkeiten, die von einander getrennt unschädlich sind und sich in einander auflösen, macht man eine einzige in der gewünschten Menge, wie man eine Wasser-oder Weinmischung herstellen würde. Eine Gefahr bei der Herstellung existirt nicht. Das ist das Panciastil, ein Wort, welches »Alles brechend« bedeutet, und es bricht in Wahrheit auch Alles.

Dieses Zerstörungsmittel wurde in Form zahlreicher Flatterminen in das Erdreich des Eilandes gesenkt. Mit Hilfe des unterseeischen Drahtes von Antekirtta, der den elektrischen Funken auf die Zündhütchen übertragen sollte, mit denen jede Mine versehen war, konnte die Explosion sofort erfolgen. Da es sich jedoch ereignen konnte, daß der Leitungsdraht nicht functionirte durch irgend welche Zufälligkeiten, so waren im Uebermaße der Vorsicht eine gewisse Anzahl Apparate in den festen Boden des Eilandes eingelassen und untereinander durch verschiedene unterirdische Drähte verbunden worden. Es genügte, daß ein Fuß zufällig auf der Erdoberfläche die Plättchen eines dieser Apparate streifte, um die Kette zu schließen, den Strom zu erzeugen und die Explosion hervorzurufen. Es war also mit Leichtigkeit die völlige Zerstörung des Eilandes Kencraf zu bewirken, wenn zahlreiche Angreifer dort landeten.

Diese Arbeiten waren in den ersten Tagen des November bereits weit vorgeschritten, als ein Zwischenfall eintrat, der den Doctor zwang, die Insel auf einige Tage zu verlassen.

Am 3. November Früh warf der Dampfer, der zum Kohlentransporte zwischen Cardiff und Antekirtta diente, im Hafen dieser Insel Anker. Unwetter hatte ihn gezwungen, während seiner Ueberfahrt Schutz in Gibraltar zu suchen. Dort fand der Kapitän einen postlagernden Brief vor, der an die Adresse des Doctors gerichtet war. Dieser Brief war schon eine geraume Zeit hindurch von Postanstalt zu Postanstalt längs der Küste des Mittelländischen Meeres gesandt worden, ohne indessen seinen Adressaten erreichen zu können.

Der Doctor nahm diesen Brief, dessen Umhüllung die Poststempel von Malta, Catania, Ragusa, Ceuta, Otranto, Malaga und Gibraltar trug.

Die Aufschrift – unbeholfene, in zitternden Formen geschriebene Buchstaben – verrieth eine Hand, welche nicht mehr die Uebung, vielleicht auch nicht mehr die Kraft zum Schreiben hatte. Ueberdies trug die Adresse nur einen Namen, den des Doctors, mit folgender rührender Empfehlung:


»Herrn Doctor Antekirtt.

Durch die Güte Gottes.«


Der Doctor erbrach die Umhüllung und öffnete den Brief – ein schon vergilbtes Blatt Papier. Er las:


»Herr Doctor!


Möge Gott diesen Brief in Ihre Hände fallen lassen!… Ich bin schon sehr alt…. Ich kann sterben…. Sie wird allein auf Erden stehen…. Haben Sie auf die letzten Tage eines so schmerzensreichen Lebens Mitleid mit Frau Bathory!… Kommen Sie ihr zu Hilfe…. Kommen Sie!

Ihr ergebener Diener

Borik.«


Dann in einer Ecke: »Carthago« und darunter die Worte »Regentschaft Tunis«.

Der Doctor befand sich allein im Stadthause, als er Kenntniß von dem Inhalte dieses Briefes nahm. Es war ein Schrei der Freude und der Hoffnungslosigkeit, der ihm zu gleicher Zeit entfloh – der Freude, weil er endlich die Spuren von Frau Bathory gefunden hatte – der Hoffnungslosigkeit oder vielmehr der Furcht, denn die Poststempel zeigten an, daß der Brief schon vor einem Monat geschrieben worden war.

Luigi wurde sofort bestellt.

»Luigi, sagte der Doctor, benachrichtige Kapitän Köstrik, er solle Alles vorbereiten, daß der »Ferrato« in zwei Stunden unter Dampf sein kann.

– In zwei Stunden wird er in See stechen können, antwortete Luigi. Geschieht es zu Ihrem eigenen Dienst?

– Ja.

– Handelt es sich um eine weite Ueberfahrt?

– Nur von drei oder vier Tagen.

– Sie reisen allein?

– Nein! Bemühe Dich, Peter aufzusuchen und sage ihm, er solle sich bereit halten, mich zu begleiten.

– Peter ist im Augenblick nicht hier, doch wird er noch vor einer Stunde von den Arbeiten auf Kencraf zurückgekehrt sein.

– Ich wünsche auch, daß Deine Schwester sich mit uns einschifft, Luigi. Sie möchte ihre Vorbereitungen zur Abreise unverzüglich treffen.

– Sofort.«

Luigi ging fort, um die erhaltenen Befehle zur Ausführung zu bringen.

Eine Stunde später betrat Peter das Stadthaus.

»Lies!« sagte der Doctor.

Und er reichte ihm Borik’s Brief hin.

Sechstes Capitel. Die Erscheinung.

Die Dampf-Yacht ging um Mittag unter den Befehlen des Kapitäns Köstrik und des zweiten Lieutenants Luigi Ferrato in See. Sie hatte nur den Doctor, Peter und Maria als Passagiere an Bord, welch’ Letztere beauftragt war, Frau Bathory Sorgfalt angedeihen zu lassen, für den Fall es unmöglich sein sollte, sie unverzüglich von Carthago nach Antekirtta zu befördern.

Man begreift, ohne daß ein directer Hinweis eigentlich noch nöthig wäre, die Herzensbeklemmungen Peter’s. Er wußte, wo seine Mutter sich befand, er sollte sie wiedersehen!… Doch warum hatte Borik sie Hals über Kopf von Ragusa fort und an die ferne Küste Tunesiens geführt? In welchem Elend würde man Beide antreffen?

Maria erwiderte auf die Klagen, die Peter vor ihr ausschüttete, unablässig mit Worten der Hoffnung und des Trostes. Sie fühlte jedenfalls etwas vom Walten des Vorsehung in der Thatsache, daß der Brief Borik’s beim Doctor eingetroffen war.

Es war Befehl gegeben worden, den »Ferrato« das Maximum von Schnelligkeit entfalten zu lassen. Mit Hilfe seiner Hitzapparate legte er durchschnittlich fünfzehn Meilen in der Stunde zurück. Die Entfernung zwischen dem Golfe der Sidra und Kap Bon, welches auf der äußersten Nordostspitze der tunesischen Küste gelegen ist, beträgt höchstens tausend Kilometer; von Kap Bon bis La Golette, das den Hafen von Tunis bildet, brauchte die schnell fahrende Dampf-Yacht nur anderthalb Stunden zur Ueberfahrt. In dreißig Stunden, vorausgesetzt, daß kein Sturm oder ein Unfall die Fahrt verlangsamte, konnte der »Ferrato« an seinem Bestimmungsorte anlangen.

Das Meer war außerhalb des Golfes ruhig, aber der Wind kam aus Nordwest, ohne eine Neigung zum Stärkerwerden zu verrathen. Kapitän Köstrik steuerte etwas unterhalb von Kap Bon auf die Küste zu, um bequemer den Schutz des Landes zu erreichen, für den Fall, daß die Brise plötzlich auffrischte. Er mußte also die Insel Pantellaria vollständig abseits liegen lassen, welche sich ungefähr auf halbem Wege zwischen Malta und Kap Bon erhebt, da er die Absicht hegte, so dicht als möglich am Kap vorüber zu fahren,

Außerhalb des Golfes der Sidra buchtet sich die Küste breit nach Westen aus und beschreibt eine Curve mit großem Radius. Dort entwickelt sich specieller das Gestade der Regentschaft Tripolis, das bis zum Golf von Gabes, zwischen der Insel Dscherba und der Stadt Sfax hinaufreicht; dann wendet sich die Küste wieder ein wenig nach Osten gegen Kap Dinias, um den Golf von Hammamet zu bilden, und dann entwickelt sie sich nach Süden und Norden bis zum Kap Bon.

Also genau genommen richtete der »Ferrato« auf den Golf von Hammamet zu seine Fahrt. Dort mußte er zuerst das Land doubliren, so zwar, daß er es bis La Golette nicht mehr zu verlassen brauchte.

Während des 3. November und der darauf folgenden Nacht schwollen die Wogen der offenen See sichtbar an. Es gehört nicht viel Wind dazu, um das Meer der Syrten aufrührerisch zu machen, durch welches die eigensinnigsten Strömungen des Mittelmeeres ihren Weg nehmen. Am folgenden Morgen gegen acht Uhr wurde bereits, genau in der Höhe von Kap Dinias, Land gemeldet und unter dem Schutze der hohen Küste ging die Weiterfahrt glatt und schnell von Statten.

Der »Ferrato« hielt knapp zwei Meilen vom Lande ab und man konnte daher von ihm aus viele Einzelheiten an demselben erkennen. Jenseits des Golfes von Hammamet, in der Breite von Kelibia, dampfte er noch näher an die kleine Rhede von Sidi-Yusuf heran, welche im Norden von einer langen Reihe dicht stehender Klippen geschützt wird.

Rückwärts breitet sich ein herrlicher Sandstrand aus. Dahinter schließt sich eine Reihenfolge von Hügeln an, welche mit kleinen, verkrüppelten Staudengewächsen bedeckt sind; sie entsprossen einem Boden, der an Steinen reicher ist als an treibendem Erdreich. Im Hintergrunde schließen sich hohe Berge den »Djebels« an, welche die Gebirge des inneren Landes bilden. Hier und dort verliert sich ein verlassener Marabut, wie ein weißer Fleck in das Grün der fernen Höhenzüge. Im Vordengrunde tauchte ein kleines, in Ruinen liegendes Fort auf, weiter oben erhebt sich ein in besserem Zustande befindliches Fort auf dem Hügel, der im Norden die Bucht von Sidi-Yusuf abschließt.

Die Ortschaft war keineswegs öde. Unter dem Schutze der Klippen ankerten mehrere Schiffe der Levante, Schebecken und Polaken, in der Entfernung einer halben Ankerlänge vor der Küste über einer Tiefe von fünf oder sechs Fäden. Die Klarheit dieser grünen Gewässer ist indessen eine so bedeutende, daß man deutlich den Grund aus schwarzen Steinen mit leicht darüber hingestreuten Streifen Sandes sah, in dem die Anker hafteten. Die Fluth gab ihren Widerschein in phantastischen Formen wieder.

Längs des Ufers, am Fuße der kleinen mit Mastixbäumen und Tamarinden bestandenen Dünen, zeigte ein aus etwa zwanzig Gurbis bestehender Duar seine Zelte aus ungebleichter gelbgestreifter Leinwand. Es sah aus, als wäre ein ungeheurer arabischer Mantel unordentlich auf das Ufer geworfen worden. Außerhalb der Falten dieses Mantels weideten Hammel und Ziegen; sie sahen von Weitem wie dicke schwarze Raben aus, die ein einziger Flintenschuß auseinander sprengen kann.



Die Kapelle des heiligen Ludwig. (S. 483.)


Ein Dutzend Kameele, von denen die einen sich in den Sand ausgestreckt hatten, während die anderen unbeweglich dastanden, als wären sie versteinert worden, wiederkäuten nahe einer Klippenreihe, welche als Anlege-Quai dienen konnte.

Der Doctor konnte beim Vorüberfahren an der Rhede von Sidi-Yusuf beobachten, wie man Munitionen, Waffen, ja selbst einige kleine Feldgeschütze ausschiffte. In Folge ihrer abseitigen Lage auf den Grenzgestaden der Regentschaft Tunis eignete sich die Rhede von Sidi-Yusuf nur zu gut zur Landung solcher Contrebande. Luigi machte den Doctor ebenfalls auf die Ausschiffung der genannten Gegenstände an dieser Küste aufmerksam.

»Ja, Luigi, antwortete dieser, wenn ich mich nicht täuschte, sind es Araber, welche die Lieferung von Kriegsmaterial in Empfang nehmen. Ich weiß bereits zu viel, als daß ich mich noch bei dem Glauben beruhigen könnte, diese Waffen seien für die Bergbewohner bestimmt, zu ihrer Vertheidigung gegen die französischen Truppen, welche jetzt in Tunesien gelandet werden. Es muß leider angenommen werden, daß die Lieferung für Rechnung der zahlreichen Verbündeten der Senusisten vor sich geht, dieser Land-und Seeräuber, die sich augenblicklich auf der Cyrrhenäischen Halbinsel zu sammeln beginnen. Ich glaube sogar unter diesen Arabern viel mehr Typen aus dem Innern Afrikas als aus den tunesischen Provinzen zu erkennen.



Eine alte Frau saß vor der Thür… (S. 484.)


– Widersetzen sich denn die Behörden der Regentschaft, wenigstens die französischen Autoritäten nicht dieser Einschmuggelei von Waffen und Munition? fragte Luigi.

– Man weiß in Tunis wohl kaum, was auf dieser Seite des Kaps Bon geschieht, antwortete der Doctor, und wenn die Franzosen selbst Herren von Tunesien sein werden, steht es leider zu befürchten, daß dieser ganze östliche Abhang der Djebels ihnen auf lange hinaus noch entschlüpft. Wie dem auch immer sei, diese Waare scheint mir sehr verdächtig und würde die Schnelligkeit unseres »Ferrato« uns nicht vor jedem Angrise sicher stellen, so würde jene Flotille gewiß nicht zögern, auf uns loszugehen.«

Wenn die Araber wirklich die Gedanken hegten, welche ihnen der Doctor unterschob, so war in der That nichts zu befürchten. Die Dampf-Yacht hatte in weniger als einer halben Stunde die kleine Rhede von Sidi-Yusuf durchmessen. Nachdem sie die Spitze von Kap Bon erreicht hatte, das so massiv aus dem tunesischen Festlande herausgearbeitet ist, doubtirte sie schnell den Leuchtthurm auf seinem äußersten Ende, das ganze wundervolle System von starrenden Klippen.

Der »Ferrato« dampfte mit voller Geschwindigkeit durch den Golf von Tunis, den man zwischen Kap Bon und Kap Carthago liegend versteht. Zu seiner Linken entwickelte sich die Reihe der Abhänge des Djebels Bon-Karnin, des Djebels Rossas und des Djebels Zaghuan mit einigen Ortschaften, welche hier und dort in den Grund der Schluchten hineingebaut sind. Rechts schimmerte im ganzen Glanze des arabischen Kasbah, im vollen Sonnenlichte die heilige Stadt Sidi-Bu-Saïd, die vielleicht eine der Vorstädte des alten Carthago ist. Weiter hinten stieg Tunis, weiß erglänzend in der Sonne über dem See vom Bahira auf, ein wenig rückwärts von dem Arm, den La Golette allen den von den europäischen Packetbooten Ausgeschissten entgegenstreckt.

In einer Entfernung von zwei oder drei Meilen vom Hafen ankerte ein Geschwader französischer Kriegsschiffe; weiter dem Lande zu schaukelten einige Handelsschiffe vor ihren Ketten; ihre verschiedenen Flaggen gaben der Rhede ein buntes Aussehen.

Es war ein Uhr, als der »Ferrato« die Anker warf, drei Längen vor dem Hafen La Golette. Nachdem die üblichen Formalitäten erfüllt waren, wurde den Passagieren der Dampf-Yacht der freie Zutritt zum Festlande gewährt. Der Doctor, Peter, Luigi und seine Schwester nahmen in dem Schiffsboote Platz, welches sofort abstieß. Nachdem es den Molo passirt hatte, glitt es durch den schmalen Canal, der stets von, an beiden Seiten des Quais ankernden Schiffen dicht gefüllt ist, und langte vor dem unregelmäßigen, mit Bäumen bepflanzten, von Landhäusern, Agenturen, Kaffees eingerahmten Platze an, auf dem Malteser, Juden, Araber, französische Soldaten und Eingeborene durcheinander wimmeln, vor dem Eingange zur Hauptstraße von La Golette.

Der Brief von Borik war aus Carthago datirt, und dieser Name, nebst einigen auf der Erdoberfläche zerstreut liegenden Ruinen ist Alles, was von der Stadt Hannibal’s übrig geblieben ist.

Um an die Küste von Carthago zu kommen, braucht man nicht die kleine italienische Eisenbahn zu benützen, die La Golette und Tunis verbindet und um den See von Bahira herumführt. Entweder am Ufer entlang, dessen fester und harter Sand den Fußgängern einen vortrefflichen Fußpfad bietet, oder auf einer staubigen Straße, die etwas weiter zurück durch die Ebene geführt ist, langt man bequem an den Fuß des Hügels, der die Kapelle des heiligen Ludwig und das Kloster der algerischen Missionäre trägt.

Als der Doctor und seine Begleiter ausstiegen, befanden sich gerade mehrere Wagen, mit kleinen Pferden davor, wartend auf dem Platze. Im Handumdrehen hatte man den einen dieser Wagen bestiegen und dem Kutscher Befehl ertheilt, in möglichster Eile nach Carthago zu fahren. Der Wagen durchfuhr im schnellsten Trab seiner Pferde die Hauptstraße von La Golette und passirte die prächtigsten Landhäuser, welche die reichen Tunesen während der großen Hitze bewohnen, ferner die Paläste von Keradine und Mustapha, die sich an der Küste, an den Eingängen zu den alten Häfen der carthaginiensischen Hauptstadt erheben. Vor mehr als zweitausend Jahren bedeckte die Nebenbuhlerin Roms diese ganze Uferstrecke, von der Spitze von La Golette bis zum Kap, welches jetzt noch ihren Namen trägt.

Die auf einem kleinen, zweihundert Fuß hohen Hügel erbaute Kapelle des heiligen Ludwig erhebt sich auf demselben Platze, auf welchem, wie festgestellt ist, der König von Frankreich im Jahre 1270 gestorben ist. Sie nimmt den Mittelpunkt einer kleinen Anlage ein, die mehr antike Scherben, architektonische Fragmente, Bruchstücke von Statuen, Vasen, Säulen, Inschriften, Capitälen, Pfeilern als Bäume oder Gebüsche zählt. Dahinter befindet sich das Kloster der Missionäre, deren Prior augenblicklich der Vater Delattre, ein gelehrter Archäologe, ist. Von der Höhe dieser Anlage beherrscht man die ganze Sandküste von Kap Carthago an bis zu den ersten Häusern von La Golette.

Am Fuße des Hügels erheben sich einige Paläste arabischer Bauart mit Säulenreihen nach englischer Mode; sie spiegeln im Meere ihre eleganten Verpfählungen wieder, an denen die Boote der Rhede anlegen können. Jenseits liegt der herrliche Golf, dessen sämmtliche Vorgebirge, Kaps, Bergzüge in Ermangelung von Ruinen mit geschichtlichen Erinnerungen bedacht sind.

Neben den Palästen und Landhäusern, welche sich bis an die Stelle der alten Kriegs-und Handelshäfen hin erheben, findet man auch hier und dort, in den Falten der Hügel verstreut, inmitten der Steingerölle auf einem grauen und der Cultur fast unzugänglichen Boden, elende Häuschen, in denen die Armen der Umgebung wohnen. Die Meisten von ihnen kennen kein anderes Gewerbe, als auf der Erdoberfläche oder innerhalb der obersten Bodenlage mehr oder weniger kostbare Scherben aus der carthaginiensischen Zeit, Bronzen, Edelsteine, Töpfereien, Medaillen, Geldstücke zu suchen, die das Kloster ihnen für sein archäologisches Museum gern abkauft – weit mehr aus Mitleid als aus Bedürfniß.

Einige dieser Unterschlüpfe haben nur zwei oder drei Mauerwände. Man könnte sie Ruinen von Marabuts nennen, die in dem Klima dieses sonnenreichen Gestades weiß geblieben sind.

Der Doctor und seine Gefährten fuhren von einem dieser Häuschen zum anderen und besichtigten sie alle; sie suchten die Behausung von Frau Bathory, mochten aber nicht glauben, daß sie bis zu diesem Grade des Elends gesunken war.

Plötzlich hielt der Wagen vor einer zerfetzten Behausung, deren Thür nur einem Loche glich, das in die halb von dem Grün der Pflanzen verdeckte Mauer gestoßen war.

Eine alte Frau, deren Kopf eine schwarze Kappe bedeckte, saß vor dieser Thür.

Peter hatte sie sofort wiedererkannt! – Er hatte einen Schrei ausgestoßen!… Es war seine Mutter!… Er stürzte zu ihr, ließ sich vor ihr auf die Knie nieder und schloß sie in seine Arme…. Doch sie erwiderte nicht seine Liebkosungen, sie schien ihn nicht wiederzuerkennen.

»Mutter!… Mutter!« rief er, während der Doctor, Luigi, seine Schwester sich um sie drängten.

Um die Ecke der Ruine trat in diesem Augenblicke ein Greis.

Es war Borik.

Er erkannte zuerst den Doctor Antekirtt und seine Knie beugten sich. Dann bemerkte er Peter… Peter, dessen Leichenzuge er bis auf den Friedhof von Ragusa gefolgt war…. Das war zu viel für ihn. Er fiel, ohne eine Bewegung von sich zu geben, um, nur seine Lippen stammelten noch die Worte:

»Sie hat keinen Verstand mehr!«

Jetzt, wo der Sohn seine Mutter wiederfand, war nur noch ein träger, bewußtlos handelnder Körper von ihr übrig. Der Anblick ihres Kindes, das sie todt glauben mußte, welches plötzlich vor ihren Augen auftauchte, war nicht einmal im Stande, ihr die Erinnerung an die Vergangenheit wiederzugeben… Frau Bathory hatte sich erhoben, ihre Augen blickten verstört, aber noch lebhaft. Ohne irgend etwas gesehen, ohne ein Wort gesprochen zu haben, ging sie in den Marabut zurück, wohin ihr Maria auf einen Wink des Doctors folgte.

Peter war unbeweglich vor der Thür stehen geblieben, er war unfähig und wagte nicht einen Schritt zu thun.

Inzwischen hatte Borik durch die Bemühungen des Doctors sein Bewußtsein wiedererlangt.

»Sie, Herr Peter, Sie… am Leben! rief er aus.

– Ja, antwortete dieser, ja, lebend… wenngleich ich wünschte, todt zu sein!«

Der Doctor klärte mit wenigen Worten Borik über die Vorgänge in Ragusa auf. Dann erzählte der alte Diener seinerseits unter großer Anstrengung von den zwei Monaten ihres Elends.

»Vor allen Dingen, fragte der Doctor zunächst, hat der Tod ihres Sohnes Frau Bathory um den Verstand gebracht?

– Nein, Herr, nein,« antwortete Borik.

Er erzählte Folgendes.

Frau Bathory, die damals allein auf Erden stand, hatte Ragusa verlassen wollen, um sich in dem Dorfe Vinticello niederzulassen, woselbst noch einige Glieder ihrer Familie wohnten. Während dieser Zeit war man darauf bedacht, das Wenige zu veräußern, was noch in dem kleinen Hause ihr Eigenthum war, denn sie wollte es nicht länger bewohnen.

Sie kam deshalb sechs Wochen später in Borik’s Begleitung nach Ragusa zurück, um ihre Geschäfte abzuwickeln, und als sie in der Marinella-Straße angelangt war, fand sie in dem Briefkasten am Hause ein Schreiben vor.

Sie las diesen Brief und stieß einen Schrei aus, gerade so, als ob der Inhalt ihrer Vernunft den ersten Stoß gegeben hätte, dann eilte sie die Straße hinunter in den Stradone, überschritt diesen und klopfte an die Thür des Hotels Toronthal, welche sich sofort öffnete.

»Des Hotels Toronthal? rief Peter.

– Ja! erwiderte Borik, und als ich Frau Bathory eingeholt hatte, erkannte sie mich nicht mehr… Sie war…

– Warum war nur meine Mutter in das Hotel Toronthal geeilt?… Ja… warum? wiederholte Peter, der den alten Diener betrachtete, als wäre er nicht im Stande, dessen Worte zu begreifen.

– Sie wollte jedenfalls Herrn Toronthal sprechen, antwortete Borik, Herr Toronthal aber hatte zwei Tage vorher mit seiner Tochter das Hotel verlassen; man wußte nicht, wohin er gereist war.

– Und dieser Brief… dieser Brief?

– Ich habe ihn nicht wiederfinden können, Herr Peter, antwortete der Greis. Sei es, daß ihn Frau Bathory verloren oder zerstört hat, sei es, daß man ihn ihr genommen hat, kurz, ich habe nie erfahren, was er enthielt.«

Es gab hier also ein Geheimniß. Der Doctor, welcher dem Berichte zugehört hatte, ohne ein Wort hineinzureden, wußte nicht sich diesen Schritt der Frau Bathory zu enträthseln. Welcher befehlerische Beweggrund hatte sie nach dem Hotel im Stradone hintreiben können, das sie vor allen anderen Dingen hätte meiden müssen und warum hatte sie, als sie das Verschwinden von Silas Toronthal hörte, eine so heftige Erschütterung erlitten, daß sie den Verstand verlor?

Die Erzählung des alten Dieners war in wenigen Minuten beendet. Nachdem es ihm geglückt war, den Zustand der Frau Bathory zu verheimlichen, beschäftigte er sich damit, die letzten Habseligkeiten, die ihr geblieben waren, zu veräußern. Der nur still und sanft sich äußernde Wahnsinn der unglücklichen Frau Bathory hatte es ihm ermöglicht, jeden Verdacht zu vermeiden. Er wollte nichts anderes, als Ragusa verlassen und gleichviel wohin flüchten, unter der Bedingung, daß dieser Ort fern von dieser verwünschten Stadt lag. Einige Tage später gelang es ihm, sich mit Frau Bathory auf einem der Packetboote einzuschiffen, welche den Dienst an den Küsten des Mittelmeeres versehen und auf diese Weise kam er nach Tunis oder vielmehr nach La Golette. Hier beschloß er sich festzusetzen.

In den Ruinen dieses verlassenen Marabuts widmete der Greis sich vollständig der Pflege, die der geistige Zustand der Frau Bathory beanspruchte, welche mit der Vernunft zugleich auch die Rede verloren zu haben schien. Doch seine Hilfsquellen waren so winziger Natur, daß er den Augenblick herannahen sah, in welchem Beide auf die letzte Stufe des Elends gesunken sein würden.

In dieser Lage erinnerte sich der alte Diener des Doctors Antekirtt und des Interesses, welches diesem die Familie Bathory stets eingeflößt hatte. Doch Borik wußte nicht, wo sich der Doctor ständig aufhielt. Er schrieb ihm indessen und diesen Brief, der einen Verzweiflungsschrei enthielt, vertraute er dem Walten der Vorsehung an. Es schien, als ob die Vorsehung eine gute Postbehörde war, denn der Brief war, wie bekannt, an seine Adresse gelangt.

Ueber das, was jetzt zu thun war, konnte kein Zweifel herrschen. Frau Bathory, die sich nicht im Geringsten sträubte, wurde zum Wagen geführt, in welchem sie mit ihrem Sohne, Borik und Maria Platz nahm, die sie nicht mehr verlassen sollte. Während der Wagen dann den Weg nach Golette einschlug, kehrten der Doctor und Luigi dahin zu Fuß längs des Ufers zurück.

Eine Stunde später schifften sich Alle auf der Yacht ein, die unter Dampf geblieben war. Der Anker wurde sofort emporgewunden, und sobald der »Ferrato« Kap Bon doublirt hatte, kam sie in den Bereich der Leuchtfeuer von Pantellaria. Am folgenden Morgen bei Tagesanbruch warf sie im Hafen von Antekirtta Anker.

Frau Bathory wurde sofort an das Land gebracht und nach Artenak in eines der Zimmer des Stadthauses überführt; Maria verließ sogar ihr Haus, um in der Nähe derselben weilen zu können.

Welch neuer Gegenstand für den Schmerz Peter Bathory’s! Seine Mutter ihrer Vernunft beraubt, seine Mutter wahnsinnig geworden unter Umständen, die jedenfalls unerklärlich bleiben würden! Wenn die Ursache dieses Wahnsinnes bekannt gewesen wäre, so hätte man vielleicht doch eine heilsame Reaction herbeiführen können. Aber man wußte nichts, man konnte nichts wissen.

»Sie muß geheilt werden!… Ja… sie muß!« sagte sich der Doctor, der sich dieser Aufgabe völlig widmete.

Ein schwieriges Unterfangen, denn Frau Bathory blieb unablässig in vollständigem Unbewußtsein ihrer Verrichtungen und niemals stieg eine Erinnerung an die Vergangenheit in ihr auf.

War der Fall nicht ganz dazu angethan, die Macht der Gedankeneingebung, welche der Doctor in einem so hohen Grade besaß und von der er schon so unleugbare Beweise gegeben hatte, zu erproben, um den geistigen Zustand Frau Bathory’s aufzubessern? Konnte man nicht mittelst magnetischen Einflusses die Vernunft in ihr wachrufen und sie erhalten, bis die Reaction sich vollzogen hatte?

Peter Bathory beschwor den Doctor, selbst das Unmögliche zur Heilung seiner Mutter zu versuchen.

»Nein, meinte der Doctor, es kann nicht gelingen. Die Irren sind die widerspenstigsten Versuchsobjecte auf diesem Gebiete der Willensübertragung. Um diesen Einfluß zu erproben, müßte Deine Mutter, lieber Peter, noch einen persönlichen Willen haben, dem ich den meinigen unterschieben könnte. Ich wiederhole Dir, ich könnte auf sie keine Wirkung ausüben!

– Nein!… Ich kann die Richtigkeit des Gesagten nicht zugestehen, antwortete Peter, der sich nicht zufrieden geben konnte. Ich muß daran festhalten, daß eines Tages meine Mutter ihren Sohn wiedererkennen wird… ihren Sohn, den sie für todt hält!…

– Ja… den sie für todt hält! erwiderte der Doctor. Halt… vielleicht wenn sie Dich am Leben glaubt… oder wenn sie vor Dein Grab geführt, Dich plötzlich auftauchen sähe…«

Der Doctor hielt diesen Gedanken fest. Warum sollte eine moralische Erschütterung nicht ohne eine Einfluß auf den Geist Frau Bathory’s sein, wenn sie unter günstigen Bedingungen sich vollzog.

»Ich werde den Versuch machen,« rief der Doctor.

Als er Peter erklärt, auf welche Probe sich seine Hoffnung, dessen Mutter heilen zu können, aufbaute, fiel ihm dieser in die Arme.

Von dem Tage an war es beider Sorge, die Scenerie, welche den Versuch begünstigen sollte, vorzubereiten. Es handelte sich um nichts Geringeres, als in Frau Bathory die Wirkungen der Erinnerung wieder lebendig zu machen, die durch ihren gegenwärtigen Zustand vernichtet worden waren, und das unter solchen Umständen, daß eine Reaction in ihrem Geiste Platz greifen konnte.

Der Doctor nahm Borik’s und Pointe Pescade’s Mithilfe in Anspruch, um mit einer peinlichen Genauigkeit die Anlage des Kirchhofes in Ragusa und die Form des Grabmonumentes, welches der Familie Bathory als Grabstätte diente, neu erstehen zu lassen.

Bald erhob sich auf dem Kirchhofe der Insel, eine Meile von Artenak entfernt, unter einer Gruppe grüner Bäume eine kleine Kapelle, bis auf Kleinigkeiten fast genau derjenigen in Ragusa gleichend. Es galt nun, alles so zu ordnen, daß die Aehnlichkeit der beiden Denkmäler eine noch in die Augen fallendere wurde. In die Mauer wurde eine Tafel von schwarzem Marmor eingelassen, welche den Namen Stephan Bathory und die Jahreszahl 1867 trug.

Am 13. November schien der geeignete Augenblick gekommen zu sein, in welchem die vorbereitenden Proben behufs Wiedererweckung der Vernunft Frau Bathory’s durch fast unmerkliche Steigerungen begonnen werden konnten.

Gegen sieben Uhr Abends nahm Maria, begleitet von Borik, die Witwe am Arm. Sie verließ mit ihr das Stadthaus und führte sie über das Feld nach dem Kirchhofe.



Frau Bathory ließ sich auf der untersten Stufe auf die Knie nieder. (S. 492.)


Dort vor der Stufe zur Kapelle blieb Frau Bathory still und stumm, wie sie immer war, stehen, obwohl eine Lampe, welche das Innere des Grabmonumentes hell beleuchtete, den in die Marmorplatte eingelassenen Namen Stephan Bathory’s deutlich erkennen ließ. Nur als Maria und der Greis auf den Stufen niedergekniet waren, machte sich in ihren Blicken ein Aufflackern bemerkbar, das jedoch schnell wieder erlosch.

Eine Stunde später befand sich Frau Bathory auf dem Rückwege zum Stadthaus und mit ihr Diejenigen, welche ihr bei diesem ersten Versuche in größerer oder kürzerer Entfernung gefolgt waren.

Am folgenden und den nächsten Tagen begann man mit den Versuchen abermals, sie ergaben jedoch kein anderes Resultat. Peter hatte ihnen mit brennenden Blicken beigewohnt und verzweifelte bereits wegen Unergiebigkeit, obwohl der Doctor ihm wiederholt versicherte, daß die Zeit der beste Bundesgenosse sein würde. Auch wollte er nicht den letzten Schlag führen, bevor nicht Frau Bathory hinlänglich vorbereitet war, um die Wucht desselben auszuhalten.

Man konnte sich trotzdem nicht darüber täuschen, daß mit jedem neuen Besuche auf dem Kirchhofe sich ein gewisser Wechsel in dem geistigen Zustande der Frau Bathory vollzog. Eines Abends, als Borik und Maria vor der Kapelle niedergekniet waren, näherte sich Frau Bathory, die ein wenig zurückgeblieben war, langsam, legte ihre Hand auf das eiserne Schloß, betrachtete die Hinterwand, die von der Lampe hell beschienen war, und zog sich dann jäh zurück.

Maria, die dicht an sie herangetreten war, hörte sie mehrfach einen Namen aussprechen.

Es war das erste Mal seit langer Zeit, daß die Lippen Frau Bathory’s sich zum Sprechen öffneten.

Doch wie groß war das Erstaunen – die Bestürzung möchte man fast sagen – aller Derjenigen, die sie sprechen hörten.

Dieser Name war nicht derjenige ihres Sohnes, war nicht derjenige Peter’s, sondern der Name – Sarah’s!

Wer vermag zu begreifen, was in der Seele Peter Bathory’s widerhallte, wer vermag zu malen, was in dem Herzen des Doctors Antekirtt bei der so unerwartet kommenden Nennung des Namens von Sarah Toronthal vorging? Der Letztere machte keine Bemerkung, er ließ nicht erkennen, was er soeben gefühlt.

An einem anderen Abend wurde der Versuch wiederholt. Diesmal kniete Frau Bathory selbst auf der Schwelle zur Kapelle nieder, gerade als ob sie eine unsichtbare Hand geleitet hätte. Ihr Kopf beugte sich, ein Seufzer entrann ihrer Brust, eine Thräne entfiel ihren Augen. An diesem Abende aber entschlüpfte kein Name ihren Lippen, man hätte annehmen müssen, daß sie denjenigen Sarah’s wieder vergessen.

Frau Bathory, als sie kaum wieder im Stadthause angelangt war, wurde eine Beute eines jener nervösen Anfälle, welche sie bis jetzt noch nie gezeigt hatte. Gerade die bisher gezeigte Ruhe war das Charakteristische an ihrem geistigen Zustande gewesen; sie machte einer eigenthümlichen Erregung Platz. Es ging augenscheinlich in ihrem Gehirn eine lebenswarme Regung vor, welche wohl Hoffnungen erwecken konnte.

Die diesem Abende folgende Nacht wurde eine unruhige und vielfach gestörte. Frau Bathory ließ einige Male zusammenhangslose Worte hören, die Maria kaum erfaßte, ersichtlich träumte sie. Und wenn sie träumte, begann die Vernunft zurückzukehren, mit anderen Worten sie war geheilt, sobald ihre Vernunft auch im wachen Zustande in Thätigkeit blieb.

Der Doctor entschloß sich daher, vom folgenden Tage an einen neuen Versuch zu machen, damit, daß er Frau Bathory in eine noch ergreifendere Scenerie führte.

Während des ganzen achtzehnten hörte Frau Bathory nicht auf, unter der Herrschaft einer intellectuellen Ueberreizung zu stehen. Maria war davon sehr betroffen und Peter, der fast ununterbrochen bei seiner Mutter weilte, hatte das Gefühl einer glücklichen Vorbedeutung.

Die Nacht kam herbei – eine dunkle, windstille Nacht nach einem Tage, der unter diesem niedrigen Breitengrade von Antekirtta sehr heiß gewesen war.

Frau Bathory, von Maria und Borik begleitet, verließ das Stadthaus gegen achtundeinhalb Uhr. Der Doctor folgte ihnen in einiger Entfernung mit Luigi und Pointe Pescade.

Die ganze Kolonie befand sich in angstvoller Erwartung der Wirkung, die sich vielleicht einstellen würde. Einige Fackeln, die unter den großen Bäumen angezündet worden waren, warfen ihr wechselndes Licht auf die Umgebung der Kapelle. In der Ferne erklang in regelmäßigen Intervallen die Glocke der Kirche von Artenak, als würde Jemand begraben.

Peter Bathory war der Einzige, der in dem langsam vorwärts schreitenden Zuge fehlte. Er war zurückgeblieben, um erst im Verlaufe dieser stärksten Prüfung aufzutreten.

Es war gegen neun Uhr, als Frau Bathory auf dem Kirchhofe eintraf. Hier verließ sie plötzlich den Arm Maria Ferrato’s und ging auf die kleine Kapelle zu.

Man ließ sie unter dem Zwange dieses neuen Gefühles, welches sie vollständig zu beherrschen schien, frei handeln.

Inmitten eines tiefen Schweigens, welches nur von den Klängen der Glocke unterbrochen wurde, machte Frau Bathory Halt, sie blieb unbeweglich stehen. Dann ließ sie sich auf der untersten Stufe auf die Knie nieder, sie beugte sich vornüber und man hörte sie weinen….

In diesem Augenblick öffnete sich langsam das Gitterthor der Kapelle. Mit einem weißen Leinen angethan, als wäre er soeben dem Sarge entstiegen, schritt Peter, vom vollen Lichte getroffen, die Stufen herab.

»Mein Sohn… mein Sohn!« rief Frau Bathory; sie streckte ihre Arme aus und fiel ohnmächtig zurück.

Dieser Anfall besagte nichts; denn die Erinnerung und das Denken mußten ihr wiederkommen. Die Mutter war erwacht. Sie hatte ihren Sohn wiedererkannt.

Die Bemühungen des Doctors brachten sie bald zum Bewußtsein zurück und als ihre Augen die des Sohnes gesucht und getroffen hatten, rief sie:

»Peter! Du lebst?… Peter, mein Peter!

– Ja… ich lebe für Dich, meine Mutter, lebe um Dich zu lieben!

– Und um auch – sie – zu lieben…

– Sie?

– Sie!… Sarah!…

– Sarah Toronthal? rief der Doctor.

– Nein! Sarah Sandorf!«

– Und Frau Bathory zog aus ihrer Tasche einen zerknitterten Brief, welcher die letzten Zeilen von der Hand der sterbenden Frau Toronthal enthielt; sie reichte ihn dem Doctor.

Die Zeilen ließen über die Geburt Sarah’s keinen Zweifel aufkommen… Sarah war das Kind, welches man aus dem Schlosse Artenak geraubt hatte!… Sarah war die Tochter des Grafen Sandorf.


Ende des vierten Theiles.


Загрузка...