Teil Drei IHNEN GEHÖRT DIE NACHT

Montgomery sagte mir, daß das Gesetz... vor Anbruch der Nacht seltsam geschwächt wurde; daß das Tier da am stärksten war; daß sie bei Dämmerung von Abenteuerlust gepackt wurden; dann wagten sie Dinge, von denen sie bei Tage nicht einmal zu träumen gewagt hätten.

H. G. WELLS Die Insel des Dr. Moreau



1

In den von Büschen bewachsenen Hügeln rings um die verlassene Ikarus-Kolonie herum krochen Maulwürfe und Feldmäuse und Kaninchen und ein paar Füchse aus ihren Löchern und standen zitternd und lauschend im Regen. In den nächstgelegenen Pinien- und Gummibaum- und herbstlich kahlen Birkenhainen, einer südlich, der andere gleich östlich von der Kolonie, standen Eichhörnchen und Waschbären starr da.

Die Vögel reagierten als erste. Sie flogen trotz des Regens aus ihren geschützten Nestern in den Bäumen, in dem verfallenen alten Stall und in den verfallenden Erkern des Hauptgebäudes selbst heraus. Sie flogen zwitschernd und kreischend himmelwärts, flogen hin und her und kreisten und schössen dann senkrecht auf das Haus hinunter. Stare, Zaunkönige, Krähen, Eulen und Falken kamen alles in schriller, flügelschlagender Verwirrung herbei. Manche prallten gegen die Mauern, als wären sie mit Blindheit geschlagen, und flogen immer wieder dagegen an, bis sie sich das Genick brachen, oder die Flügel, worauf sie zu Boden fielen, wo sie herumflatterten und zwitscherten, bis sie erschöpft waren oder starben. Andere, ebenfalls in Raserei, fanden offene Türen und Fenster, durch die sie hineinflogen, ohne sich selbst ein Leid zuzufügen.

Zwar hatten die Tiere in einem Radius von zweihundert Metern den Lockruf vernommen, aber nur die in nächster Nähe folgten gehorsam.

Kaninchen sprangen, Eichhörnchen hüpften, Koyoten liefen, Füchse rannten und Waschbären trotteten auf ihre eigentümliche Weise durch nasses Gras und vom Regen gebeugte Unkräuter und Schlamm zur Quelle des Sirenengesangs. Manche waren Raubtiere und manche von Natur aus ängstliche Beute, aber sie liefen, ohne übereinander herzufallen, Seite an Seite. Es hätte eine Szene aus einem Zei-chentrickfilm von Walt Disney sein können - das nachbar-schaftlich und in Freundschaft lebende Volk von Feld und Wald folgte der lieblichen Gitarren- oder Akkordeonmusik eines älteren, schwarzen Mannes, der ihnen, sobald sie sich um ihn versammelt hatten, Geschichten von Magie ur?d großen Abenteuern erzählen würde. Aber sie liefen nicht zu einem freundlichen Neger, der Geschichten erzählte, und die Musik, die sie anzog, war düster, kalt und unmelodisch.

2

Während sich Sam damit abmühte, Harry die Leiter hoch auf den Speicher zu schleppen, brachten Tessa und Chris sie den Rollstuhl in die Kellergarage. Es war ein schweres, mo -torisiertes Modell, kein leichter, zusammenklappbarer Stuhl, und er paßte nicht durch die Falltür. Tessa und Chrissie parkten ihn hinter dem großen Garagentor, so daß es aussah, als wäre Harry soweit gekommen und hätte das Haus dann möglicherweise im Auto eines Freundes verlas -sen.

»Glauben Sie, sie fallen darauf herein?« fragte Chrissie besorgt.

»Wäre möglich«, sagte Tessa.

»Vielleicht denken sie sogar, daß Harry die Stadt gestern verlassen hat, bevor die Straßensperren errichtet wurden.«

Tessa stimmte zu, aber sie wußte - und vermutete, Tessa wußte es auch -, daß die Chancen, daß der Trick funktionieren würde, gering waren. Wenn Harry und Sam wirklich so fest daran geglaubt hätten, daß der Speichertrick funktionierte, hätten sie Chrissie ebenfalls dort oben versteckt, anstatt sie mit in die sturmgepeitschte Alptraumwelt von Mo-onlight Cove hinauszunehmen.

Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock zurück, wo Sam gerade die Leiter hochschob und die Falltür zumachte. Moose sah ihm neugierig zu.

»Siebzehn Uhr zweiundvierzig«, sagte Tessa, die auf die Uhr sah.

Sam nahm die Kleiderstange, die er entfernen mußte, um die Falltür herunterzulassen, und befestigte sie wieder in den Halterungen.

»Helft mir, die Kleider wieder aufzuhängen.«

Hemden und Hosen waren samt den Bügeln aufs Bett gelegt worden. Sie arbeiteten zusammen und reichten die Kleidungsstücke wie Amateurfeuerwehrmänner, die eine Eimerkette bildeten, von einem zum anderen, und so stellten sie rasch das frühere Aussehen des Schrankes wieder her.

Tessa stellte fest, daß sich die dicken Mullbinden um Sams Handgelenk wieder mit Blut vollzusaugen begannen. Die Anstrengung hatte die Verletzungen wieder aufbrechen lassen. Es waren zwar keine lebensgefährlichen Verletzungen, aber sie mußten ziemlich schmerzhaft sein, und alles, was ihn bei der vor ihnen liegenden Aufgabe ablenken konnte, machte ihre Erfolgschancen geringer.

Sam machte die Tür zu und sagte: »Mein Gott, es gefällt mir nicht, ihn so zurückzulassen.«

»Siebzehn Uhr sechsundvierzig«, erinnerte Tessa ihn.

Während Tessa ihre Lederjacke anzog und Chrissie in einen zu großen blauen Regenmantel schlüpfte, der Harry gehörte, lud Sam den Revolver. Er hatte im Haus der Coltranes sämtliche Munition in den Taschen verschossen. Aber Harry besaß einen 45er Revolver und eine 38er Pistole, die er beide mit auf den Dachboden genommen hatte, und er hatte für jedes einen Karton Munition, daher hatte sich Sam bei den Patronen Kaliber 38 bedient.

Er steckte die Waffe ins Halfter, ging zum Teleskop und studierte die Straßen, die westlich und südlich lagen und zur Central School führten. »Immer noch jede Menge Aktivität«, berichtete er.

»Patrouillen?« fragte Tessa.

»Und jede Menge Regen. Außerdem wird der Nebel immer dichter.«

Dank des Gewitters war die Dämmerung früh hereingebrochen und ging bereits in die Nacht über. Über den wir-belnden Wolken leuchtete zwar noch ein schwaches Licht, aber die Nacht war nicht mehr fern, cbnn ein Mantel der Düsternis hing über der nassen und wartenden Stadt.

»Zehn vor sechs«, sagte Tessa.

Chrissie sagte: »Wenn Mr. Talbot der erste auf ihrer Liste ist, könnten sie jeden Augenblick hier sein.«

Sam wandte sich vom Teleskop ab und sagte: »Also gut. Gehen wir.«

Tessa und Chrissie folgten ihm aus dem Schlafzimmer. Sie gingen die Treppe zum Erdgeschoß hinunter.

Moose nahm den Fahrstuhl.

3

Shaddack war heute nacht ein Kind.

Während er wiederholt durch Moonlight Cove fuhr, vom Meer zu den Hügeln, von der Holliwell Road im Norden bis zur Paddock Lane im Süden, konnte er sich nicht erinnern, jemals in besserer Stimmung gewesen zu sein. Er veränderte die Routen seiner Patrouille, damit er sicher sein konnte, daß er letztlich jeden Block jeder Straße der Stadt einmal abgefahren hatte; der Anblick jedes Hauses und jedes Einwohners, der zu Fuß im strömenden Regen unterwegs war, berührte ihn wie bislang noch niemals, denn schon bald würden sie alle ihm gehören, und er könnte ganz nach seinem Gutdünken mit ihnen verfahren.

Aufregung und Vorfreude erfüllten ihn, wie er sie zuletzt während seiner Kindheit an Weihnachten verspürt hatte. Moonlight Cove war ein riesengroßes Spielzeug, und in ein paar Stunden, wenn es Mitternacht schlug, wenn diese dunkle Nacht in den nächsten Tag überging, konnte er mit diesem tollen Spielzeug soviel Spaß haben. Er würde Spiele machen, die er schon lange machen wollte, sich aber bisher stets verweigert hatte. Künftig würde er keinen Wunsch und kein Verlangen mehr unterdrücken, denn wie blutrünstig und ausgefallen die Spiele auch sein mochten, die er sich ausdachte, er würde keine Abweichler geben, und keine Behörden, die ihn bestrafen könnten.

Wie ein Kind, das zum Schrank schleicht und Münzen aus den Hosentaschen seines Vaters nimmt, um sich ein Eis zu kaufen, war auch er so vollkommen von den Gedanken an die Belohnungen gefesselt, die seiner harrten, daß er die Möglichkeit einer Katastrophe völlig vergessen hatte. Die Bedrohung durch die Regressiven verschwand mit jeder Minute aus seinem Gedächtnis. Er vergaß Loman Watkins nicht ganz, aber er konnte sich nicht mehr genau erinnern, warum er sich den ganzen Tag lang in Parkins' Garage vor dem Polizeichef versteckt hatte.

Mehr als dreißig Jahre unbarmherziger Selbstbeherrschung, anstrengende und gnadenlose Ausbeutung seiner geistigen und körperlichen Kräfte, angefangen an dem Tag, als er Runningdeer und seine Eltern ermordet hatte, dreißig Jahre, in denen er seine Bedürfnisse und Begierden unterdrückt oder in seine Arbeit sublimiert hatte, hatten ihn endlich an den Rand der Vollendung seines Traums gebracht. Er konnte nicht zweifeln. Seine Mission anzuzweifeln oder sich über ihren Ausgang Sorgen zu machen, wäre Zweifeln an seinem heiligen Schicksal und einer Beleidigung der großen Geister gleichgekommen, die ihn auserwählt hatten. Er war nicht mehr imstande, auch nur noch die Kehrseite zu sehen; er verwarf jeden Gedanken an eine Katastrophe.

Er spürte die großen Geister im Sturm.

Er spürte, wie sie im Geheimen durch seine Stadt gingen.

Sie waren hier, um dabeizusein und zu billigen, wie er den Thron des Schicksals bestieg.

Seit dem Tag, als er seine Mutter, seinen Vater und den Indianer getötet hatte, hatte er keine Kaktusplätzchen mehr gegessen, aber er hatte im Lauf der Jahre lebhafte Flashbacks erlebt. Sie kamen unvorbereitet über ihn. Eben noch war er in dieser Welt, und im nächsten Augenblick an jenem anderen Ort, dieser unheimlichen Welt, die parallel zu unserer lag, wohin ihn die Kaktusplätzchen immer geführt hatten, eine Wirklichkeit, in der die Farben gleichzeitig lebhafter und gedämpfter waren, wo jeder Gegenstand mehr Winkel und Flächen als in der gewöhnlichen Welt zu haben schien, wo er seltsam schwerelos zu sein schien -leicht wie ein mit Helium gefüllter Ballon - und wo die Stimmen der Geister zu ihm sprachen. Im Jahr nach den Morden waren diese Flashbacks häufig gewesen, etwa zweimal pro Woche, als er ein Teenager war, hatte zwar ihre Häufigkeit, nicht aber ihre Lebhaftigkeit, allmählich nachgelassen. Diese traumartigen, vorübergehenden Anfälle, die für gewöhnlich eine oder zwei Stunden dauerten, aber manchmal auch einen halben Tag lang anhalten konnten, waren teilweise für seinen Ruf bei Familie und Lehrern verantwortlich, daß er irgendwie ein geistesabwesendes Kind war. Selbstverständlich hatten alle Verständnis für ihn, weil sie sein geistesabwesendes Verhalten natürlich dem erschütternden Trauma zuschrieben, das er erlebt hatte.

Während er jetzt mit seinem Lieferwagen herumfuhr, glitt er langsam in den Kaktusplätzchen-Zustand. Auch dieser Flashback war unerwartet, überfiel ihn aber nicht so plötzlich wie die anderen. Er... driftete irgendwie allmählich hinein, immer tiefer und tiefer. Und je länger es anhielt, desto überzeugter wurde er, daß er diesesmal nicht grob aus diesem Reich erweiterten Bewußtseins gerissen werden würde. Von nun an würde er ein Bewohner beider Welten sein, wie die großen Geister selbst, vom Wissen um die höheren und niedereren Ebenen des Daseins erfüllt. Er fing sogar an zu denken, daß er momentan einer eigenen seelischen Verwandlung unterlag, die tausendmal tiefgreifender war als die der Bewohner von Moonlight Cove.

In diesem exaltierten Zustand war alles besonders und wundersam für Shaddack. Die funkelnden Lichter der verregneten Stadt schienen wie in der herabsinkenden Dunkelheit verteilte Juwelen zu sein. Die geschmolzene, silberne Schönheit des Regens selbst erstaunte ihn, wie auch der zunehmend dunkler werdende, großartig turbulente, graue Himmel.

Als er an der Kreuzung Paddock Lane und Saddleback Drive bremste, berührte er seine Brust und spürte dort das

Telemetriegerät, das er an einer Kette um den Hals trug, aber einen Augenblick wußte er gar nicht, was es war, und auch das schien geheimnisvoll und wunderbar zu sein. Dann fiel ihm ein, daß das Gerät seinen Herzschlag aufzeichnete und sendete, der bei New Wave empfangen wurde. Es war auf eine Entfernung von fünf Meilen funktionstüchtig und funktionierte auch, wenn er irgendwo innerhalb eines Hauses war. Würde die Sendung seines Herzschlags länger als eine Minute unterbrochen, war Sonne darauf programmiert, über Mikrowelle einen Vernichtungsbefehl an sämtliche Mikrokugelcomputer in allen Neuen Menschen zu senden.

Als er das Gerät ein paar Minuten später in der Basten-churry Road wieder berührte, war ihm sein Zweck erneut klar. Er spürte, daß es ein mächtiger Gegenstand war; wer immer ihn besaß, hielt das Leben anderer in Händen, und das Kind in ihm, das Fantasiegespinsten nachhing, kam zur Überzeugung, daß es ein Amulett sein mußte, welches ihm die großen Geister geschenkt hatten, ein weiteres Zeichen dafür, daß er in zwei Welten stand, mit einem Fuß auf der gewöhnlichen Ebene gewöhnlicher Menschen und mit dem anderen Fuß in der höheren Ebene der großen Geister und Götter und Kaktusplätzchen.

Sein langsamer, gleitender Flashback hatte ihn, wie von der Zeit freigesetzte Medizin, in den Zustand seiner Jugend zurückversetzt, in die sieben Jahre, in denen er unter dem Einfluß von Runningdeer gestanden hatte. Er war ein Kind. Und er war ein Halbgott. Er war das auserwählte Kind des Mondfalken, daher konnte er alles mit allen machen, was er wollte, mit allen, und während er fuhr, dachte er darüber nach, was genau er machen wollte... und mit wem.

Hin und wieder lachte er leise und etwas schrill, und seine Augen funkelten wie die eines grausamen und gestörten Jungen, der die Auswirkungen von Feuer auf gefangene Ameisen studiert.

4

Chrissie wartete mit Tessa und Sam in der Küche, bis noch mehr Licht aus dem sterbenden Tag blutete, während Moose um sie herumstrich und so heftig mit dem Schwanz wedelte, daß man Angst haben mußte, er würde abfallen.

Schließlich sagte Sam: »Also gut. Bleibt dicht bei mir. Und macht die ganze Strecke über alles, was ich sage.«

Er sah Chrissie und Tessa lange an, bevor er tatsächlich die Tür aufmachte; sie umarmten einander ohne ein Wort zu sagen. Tessa küßte Chrissie auf die Wange, dann küßte Sam sie, und sie küßte die beiden ebenfalls. Man mußte ihr nicht sagen, weshalb sich plötzlich alle so zärtlich fühlten. Sie waren Menschen, echte Menschen, und es war wichtig, daß sie ihre Gefühle ausdrückten, weil sie vor Ende der Nacht vielleicht keine echten Menschen mehr waren. Vielleicht würden sie nie wieder empfinden, was echte Menschen empfanden, daher waren ihre Empfindungen mit jedem Augenblick kostbarer.

Wer wußte, was diese unheimlichen Gestaltveränderer empfanden? Wer wollte es wissen?

Und wenn sie die Central nicht erreichten, dann wahrscheinlich, weil sie unterwegs von einem Suchtrupp oder einem der Schreckgespenster gestellt würden. In diesem Fall war dies vielleicht ihre letzte Chance, einander auf Wiedersehen zu sagen.

Schließlich führte Sam sie auf die Veranda.

Chrissie machte sorgfältig die Tür hinter ihnen zu. Moose versuchte nicht herauszukommen. Für so billige Tricks war er ein zu guter und edler Hund. Aber er steckte die Schnauze durch den schmaler werdenden Spalt, schnupperte an ihr und versuchte, ihr die Hand zu lecken, so daß sie Angst hatte, sie würde ihn einklemmen. Aber er wich im letzten Augenblick zurück, und die Tür fiel zu.

Sam führte sie die Stufen hinab und durch den Garten zum Haus südlich von dem Harrys. Dort brannte kein Licht. Chrissie hoffte, daß niemand zu Hause wäre, aber sie stellte sich vor, wie in diesem Augenblick ein monströses Geschöpf hinter einem der dunklen Fenster lauerte, sich die Lippen leckte und sie beobachtete.

Der Regen schien kälter als während ihrer gestrigen Flucht, aber das konnte daran liegen, daß sie gerade aus dem warmen, trockenen Haus kam. Im Westen erhellte nur noch ein schwacher grauer Schimmer den Himmel. Die eisigen, schneidenden Tropfen schienen den letzten Rest dieses Lichts aus den Wolken zu reißen, und in den Boden zu stampfen und eine undurchdringliche, feuchte Dunkelheit herabzuziehen. Noch bevor sie den Zaun erreicht hatten, der Harrys Grundstück vom benachbarten trennte, war Chrissie dankbar für den Nylonregenmantel mit Kapuze, obwohl er ihr zu groß war und sie sich darin fühlte, als wäre sie ein kleines Kind, das sich mit den Kleidungsstücken ihrer Eltern verkleidet hatte.

Es war ein Scherenzaun, über den man leicht klettern konnte. Sie folgten Sam durch den Nachbargarten zum nächsten Zaun. Chrissie kletterte auch darüber in den Nachbargarten, dicht gefolgt von Tessa und erst da wurde ihr klar, daß dies das Grundstück der Coltranes war.

Sie sah zu den leeren Fenstern. Auch hier brannte kein Licht, und das war gut, denn wenn hier Licht gebrannt hätte, hätte das bedeutet, jemand hätte die Überreste der Coltranes nach ihrem Kampf mit Sam gefunden.

Während sie zum nächsten Zaun durch den Garten ging, bekam Chrissie Angst, die Coltranes könnten sich irgendwie wiederbelebt haben, nachdem Sam sie erschossen hatte, sie könnten in eben dieser Minute am Küchenfenster stehen und heraussehen, hätten ihren Nemesis und seine beiden Begleiter erkannt und machten gerade jetzt die Tür auf. Sie rechnete damit, daß zwei Robotergeschöpfe mit Metallarmen und großen Metallhänden herauskommen würden, Blutsverwandte der lebenden Toten in alten Zombiefilmen, auf deren Köpfen sich winzige Radarantennen drehten und aus deren Körperöffnungen Dampf zischte.

Ihre Angst mußte sie langsamer gemacht haben, denn Tes-sa stolperte hinter ihr fast in sie hinein und gab ihr einen sanften Schubs, um sie zur Eile anzutreiben. Chrissie duckte sich und eilte zum Südrand des Gartens.

Sam half ihr über einen schmiedeeisernen Zaun mit speerähnlichen Spitzen auf den Stangen. Sie hätte sich wahrscheinlich aufgespießt, wenn sie alleine geklettert wäre. Chrissie -Schaschlik.

Im nächsten Haus waren Leute anwesend, und Sam suchte hinter Büschen Schutz und peilte die Lage, bevor er weiterlief. Chrissie und Tessa gesellten sich rasch zu ihm.

Während sie über den letzten Zaun geklettert war, hatte sie die aufgeschürfte linke Hand angeschlagen, obwohl sie bandagiert war. Es tat weh, aber sie biß die Zähne zusammen und beschwerte sich nicht.

Chrissie bog die Zweige des Maulbeerbuschs auseinander und sah zu dem Haus, das nur sechs Meter entfernt war. Sie sah vier Menschen durch das Küchenfenster. Sie machten gemeinsam das Abendessen. Ein Paar in mittleren Jahren, ein grauhaariger Mann und ein Mädchen, das noch keine zwanzig war.

Sie fragte sich, ob sie schon verwandelt worden waren. Sie glaubte nicht, konnte aber nicht sicher sein. Und da sich die Roboter und Schreckgespenster manchmal in schlauen menschlichen Verkleidungen versteckten, konnte man keinem vertrauen, nicht einmal seinem besten Freund... oder seinen Eltern. Ziemlich genau so, als wären Außerirdische gelandet.

»Sie werden uns, selbst wenn sie herausschauen, nicht sehen«, sagte Sam. »Kommt weiter.«

Chrissie folgte ihm aus der Deckung das Maulbeerbuschs über den offenen Rasen zur Grenze des nächsten Grundstücks, und dabei dankte sie Gott für den Nebel, der mit jeder Minute dichter wurde.

Schließlich kamen sie zum Haus am Ende des Blocks. Die Südseite dieses Gartens grenzte an die Querstraße an, Ber-genwood Way, die zur Conquistador hinunterführte.

Als sie zwei Drittel des Weges über den Rasen zurückgelegt hatten, weniger als sechs Meter von der Straße entfernt, bog eineinhalb Block weiter oben ein Auto in die Straße ein und fuhr herunter. Chrissie folgte Sams Beispiel und warf sich flach auf den nassen Rasen, weil kein Gebüsch in der Nähe war, hinter dem sie Zuflucht suchen konnten. Wenn sie versuchten, zu weit zu laufen, könnte der Fahrer des näherkommenden Autos sie vielleicht sehen, während sie noch Schutz suchten.

Am Bergenwood Way standen keine Straßenlaternen, was ihr Vorteil war. Das letzte aschefarbene Licht am westlichen Horizont war verschwunden - auch ein Bonus.

Während das Auto näherkam und langsam fuhr, entweder wegen des Wetters, oder weil die Insassen einem Such-trupp angehörten, verschwammen die Scheinwerferlichter im Nebel, der das Licht nicht zu reflektieren schien, sondern wie aus eigener Kraft leuchtete. Meterweit wurden Gegenstände auf beiden Seiten des Autos in der Nacht halb enthüllt und von den langsam wabernden, am Boden klebenden leuchtenden Wolken seltsam verzerrt.

Als das Auto weniger als einen Block entfernt war, schaltete jemand auf dem Rücksitz einen Handscheinwerfer an. Er richtete ihn zum hinteren Fenster hinaus und ließ ihn über die Vorgärten der Häuser gleiten, die am Bergenwood Way standen, und über die seitlichen Gärten der Häuser an den Querstraßen. Im Augenblick wurde der Lichtstrahl auf die andere Seite gerichtet, nach Süden, zur anderen Seite des Bergenwood Way. Bis sie hierher gekommen sein würden, würden sie vielleicht beschlossen haben, die Grundstücke nördlich am Bergenwood anzustrahlen.

»Zurück«, sagte Sam schroff. »Aber bleibt unten und kriecht, kriecht.«

Das Auto kam an die einen halben Block entfernte Kreuzung.

Chrissie kroch hinter Sam her, aber nicht direkt zurück, woher sie gekommen waren, sondern auf das nahe Haus zu. Sie konnte kein Versteck sehen, weil das Geländer der hinteren Veranda ziemlich offen war und es keine größeren Büsche gab. Vielleicht wollte er um die Hausecke huschen, bis die Patrouille vorbei war, aber sie glaubte nicht, daß sie und Tessa das rechtzeitig schaffen würden.

Als sie über die Schulter sah, konnte sie erkennen, daß der Suchscheinwerfer immer noch auf die Häuserfronten und Vorgärten der Südseite der Straße gerichtet war. Aber auch die Scheinwerfer des Autos strahlten zur Seite, worüber man sich Gedanken machen mußte, und die würden in wenigen Augenblicken den Rasen hier erhellen.

Sie krabbelte halb und kroch halb auf dem Bauch, womit sie schnell vorankam, aber zweifellos jede Menge Schnecken und Regenwürmer zerdrückte, die herausgekommen waren und durch das nasse Gras krochen, aber daran dachte sie lieber nicht. Sie kam zu einem Betonweg dicht am Haus - und stellte fest, daß Sam verschwunden war.

Sie blieb auf Händen und Knien stehen und sah nach rechts und links.

Tessa erschien neben ihr. »Kellertreppe, Liebes. Beeil dich!«

Sie kroch weiter und entdeckte eine Außentreppe aus Beton, die zur Kellertür hinunterführte. Sam kauerte unten, wo gesammeltes Regenwasser leise gurgelnd in einen Gully vor der Tür abfloß. Chrissie gesellte sich zu ihm in die Zuflucht, und Tessa folgte ihnen. Etwa vier Sekunden später glitt der Suchscheinwerfer über die Hausfassade und spielte einen Augenblick Zentimeter über ihren Köpfen auf dem Betonrand der Treppe.

Sie kauerten eine Minute, nachdem der Scheinwerfer verschwunden war, noch reglos und stumm beisammen. Chris -sie war sicher, daß etwas in dem Haus sie gehört hatte, daß die Tür hinter Sams Rücken jeden Augenblick aufgehen und etwas sie anspringen würde, ein Wesen, das halb Werwolf und halb Computer war und fauchte und piepste, Zähne und Programmiertasten im Mund, auf denen sinngemäß stand: »Um getötet zu werden, drücken Sie bitte ENTER und gehen weiter.«

Sie war sehr erleichtert, als Sam schließlich flüsterte: »Weiter.«

Sie gingen wieder über den Rasen zum Bergenwood Way. Diesesmal blieb die Straße glücklicherweise verlassen.

Wie Harry gesagt hatte, verlief ein gemauerter Abwasserkanal parallel zum Bergenwood. Laut Harry, der als Kind darin gespielt hatte, war der Kanal etwa neunzig Zentimeter breit und vielleicht einen Meter fünfzig tief. Legte man diese Abmessung zugrunde, mußten derzeit etwa dreißig Zentimeter Regenwasser darin fließen. Die Strömung war schnell und fast schwarz und lediglich anhand eines gelegentlichen dunklen Funkeins und Gluckerns von fließendem Wasser am Grund des schattigen Grabens zu erkennen.

Dieser Kanal bot eine weitaus unverdächtigere Route als die offene Straße. Sie gingen ein paar Meter bergauf, bis sie die eingemauerten Handgriffe aus Eisen fanden, die sie laut Harrys Versprechen alle paar hundert Meter entlang den offenen Teilen des Kanals finden würden. Sam kletterte als erster hinab, Chrissie als zweite, Tessa machte den Schluß.

Sam bückte sich, damit sein Kopf nicht über den Rand ragte, Tessa bückte sich nicht ganz so sehr. Aber Chrissie mußte sich überhaupt nicht bücken. Es hatte schon seine Vorteile, elf zu sein, besonders wenn man vor Werwölfen oder Robotern oder heißhungrigen Außerirdischen oder Nazis auf der Flucht war, und sie war in den vergangenen vierundzwanzig Stunden vor den ersten dreien auf der Flucht gewesen, aber glücklicherweise noch nicht vor Nazis, obwohl Gott allein wissen konnte, was noch alles passieren würde.

Das strömende Wasser um ihre Füße und Waden herum war kalt. Sie stellte überrascht fest, daß es ziemlich reißend war, obwohl es ihr nur bis an die Knie ging. Es zog und zerrte unablässig, als wäre es ein Lebewesen mit der bösen Absicht, sie umzuwerfen. Solange sie breitbeinig und abgestützt dastand, lief sie nicht Gefahr zu fallen, aber sie war nicht sicher, wie lange sie beim Gehen das Gleichgewicht halten könnte. Der Graben verlief steil abwärts. Nach mehreren Jahrzehnten Regen war der Steinboden glatt und schlüpfrig geworden. Aufgrund dieser Faktoren war der Graben fast schon so etwas wie eine Rutschbahn auf dem Jahrmarkt.

Wenn sie fiele, würde sie den ganzen Weg hinuntergespült werden, bis einen halben Block von der Klippe entfernt, wo der Kanal breiter wurde und senkrecht in den Boden hinab führte. Harry hatte gesagt, daß Balken direkt vor dem Wasserfall stünden und diesen in schmale Anschnitte unterteilten, aber sie dachte sich, wenn sie dorthin gespült würde und sich auf diese Balken verließe, würden sie entweder fehlen oder verrostet sein, so daß sie ungehindert bis auf den Grund fallen würde. Das System kam am Fuß der Klippe wieder heraus und führte noch ein Stück über den Strand, wo es seine Wasserladungen entweder in den Sand oder, bei Flut, ins Meer ergoß.

Sie hatte keine Mühe sich vorzustellen, wie sie hilflos zappelte und sich wand, an schmutzigem Wasser würgte und verzweifelt aber erfolglos nach den Steinwänden griff, um sich festzuhalten, um dann plötzlich viele Meter in die Tiefe zu stürzen, auf die Wände des Schachts aufzuschlagen, wenn er wieder vertikal wurde, die Knochen zu brechen, sich den Schädel zu zertrümmern, mit schrecklicher Wucht auf dem Boden auf...

Nun ja, sie hatte keine Mühe, sich das alles vorzustellen, aber plötzlich hielt sie es nicht mehr für sehr klug.

Glücklicherweise hatte Harry sie vor diesem Problem gewarnt, daher war Sam vorbereitet. Er hatte sich unter dem Jackett ein Seil um die Hüfte geschlungen, das er aus einem längst nicht mehr benützten Flaschenzug in Harrys Keller genommen hatte und jetzt aufrollte. Das Seil war zwar alt, aber Sam sagte, daß es immer noch hielt, und Chrissie hoffte, er hätte recht. Ein Ende hatte er um sich verknotet, bevor sie das Haus verlassen hatten, das andere schlang er jetzt um Chrissies Gürtel und band es schließlich um Tessas Taille, so daß etwa zwei Meter Spielraum zwischen allen blieb. Wenn einer von ihnen stürzte - nun, man konnte es getrost aussprechen, Chrissie war bei weitem die wahrscheinlichste Kandidatin zu stürzen und einem nassen und blutigen Tod entgegengespült zu werden -, konnten die anderen stehenbleiben, bis er wieder auf die Beine gekommen war.

So jedenfalls war der Plan.

Sicher verankert gingen sie den Kanal entlang. Sam und Tessa bückten sich, damit niemand in einem vorbeifahrenden Auto ihre Köpfe über dem Rand des Grabens sehen könnte, und Chrissie bückte sich auch ein wenig und hielt die Beine gespreizt, eine Art Trollgang, wie sie ihn schon gestern nacht im Tunnel unter der Wiese praktiziert hatte.

Sie hielt sich laut Sams Anweisung mit beiden Händen am Seil vor sich fest und zog es hoch, wenn sie nahe bei ihm war, damit sie nicht darüber stolperte, dann ließ sie es wieder los, wenn sie ein paar Schritte zurückfiel. Tessa hinter ihr machte es genauso; Chrissie spürte das sanfte Ziehen des Seils am Gürtel.

Sie näherten sich einer Öffnung, die einen halben Block entfernt war. An der Conquistador wurde der Graben zum unterirdischen Tunnel, und zwar nicht nur bis über die Kreuzung hinweg, sondern zwei volle Blocks lang; er kam erst an der Roshmore wieder zur Oberfläche.

Chrissie sah an Sam vorbei zum Tunneleingang, und ihr gefiel ganz und gar nicht, was sie da sah. Die Röhre war rund und betoniert, nicht gemauert. Sie war breiter als der rechteckige Graben und etwa einen Meter fünfzig im Durchmesser, zweifellos, damit Arbeiter leichter hineinklettern und saubermachen konnten, falls sie von Unrat verstopft wäre. Aber weder Form noch Größe des Tunnels machten ihr Unbehagen; es war die absolute Schwärze, bei der sich ihre Nackenhärchen aufstellten, denn es war dunkler dort als selbst die Essenz der Nacht auf dem Grund des Abwasserkanals - absolute, absolute Schwärze, und es schien, als würden sie in den klaffenden Mund eines urzeitlichen Behemoths spazieren.

Ein Auto fuhr langsam an der Bergenwood entlang, ein weiteres an der Conquistador. Das Licht ihrer Scheinwerfer wurde von der Nebelbank gebrochen, so daß die Nacht selbst zu leuchten schien, aber nur wenig dieser seltsamen Beleuchtung drang in den Graben herunter und gar nichts in den Tunnel hinein.

Als Sam die Schwelle dieses Tunnels überschritten hatte und nach zwei Schritten nicht mehr zu sehen war, folgte Chrissie ihm ohne zu zögern, wenn auch noch voll böser Vorahnungen. Sie gingen langsamer weiter, da der Boden des Tunnels nicht nur steil war, sondern darüber hinaus noch gekrümmt und noch tückischer als der nicht überdachte Graben.

Sam hatte eine Taschenlampe, aber Chrissie wußte, er wollte sie in der Nähe der Tunnelenden nicht benützen. Der Strahl könnte von außen sichtbar sein und die Aufmerksamkeit einer Patrouille auf sie lenken.

Der Tunnel war so durch und durch dunkel wie der Bauch eines Walfischs. Nicht, daß sie gewußt hätte, wie es im Bauch eines Walfischs aussah, aber sie bezweifelte, daß es dort eine Lampe oder auch nur ein Donald-Duck-Nacht-tischlämpchen geben würde, wie sie als Kind eines gehabt hatte. Der Vergleich mit dem Bauch des Wals schien zutreffend zu sein, weil sie das unheimliche Gefühl hatte, der Tunnel wäre in Wirklichkeit ein Magen und das fließende Was -ser Verdauungssaft, eine ätzende Lösung, in der sich ihre Turnschuhe und die Beine der Jeans bereits aufzulösen begannen.

Dann stürzte sie. Sie rutschte auf etwas aus, möglicherweise einem Pilz, der auf dem Boden wuchs und sich dort so sehr festklammerte, daß die Strömung ihn nicht weggespült hatte. Sie ließ das Seil los und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, aber sie fiel dennoch mit einem lauten Platschen hin und spürte sofort, wie sie von der Strömung mitgerissen wurde.

Sie war geistesgegenwärtig genug, nicht zu schreien. Ein Schrei hätte die Suchtrupps auf sie aufmerksam gemacht -oder Schlimmeres.

Sie prallte atemringend und keuchend, als ihr Wasser in den Mund floß, gegen Sams Bein und brachte auch ihn aus dem Gleichgewicht. Sie spürte, wie er fiel. Sie überlegte, wie lange sie alle tot und verwesend am Ende des langen vertikalen Abflusses am Fuß der Klippe liegen würden, bis man ihre aufgeblähten und purpurnen Überreste finden würde.

5

Tessa hörte das Mädchen im Grabesdunkel des Tunnels fallen und blieb auf der Stelle stehen, stemmte die Füße so gut sie konnte gegen den geneigten und gekrümmten Boden und hielt die Sicherungsleine mit beiden Händen fest. Das Seil wurde binnen einer Sekunde straff, als das Mädchen fortgerissen wurde.

Sam grunzte, und Tessa war klar, daß das Mädchen gegen ihn geprallt war. Das Seil wurde einen Augenblick straff, was ihrer Meinung nach bedeutete, daß Sam weitertaumelte und versuchte, auf den Füßen zu bleiben, während das Mädchen gegen seine Beine drückte und ihn umzuwerfen drohte. Wäre Sam auch gestürzt und von der reißenden Strömung mitgerissen worden, wäre das Seil nicht nur straff gespannt worden, der Ruck hätte ausgereicht, auch Tessa umzuwerfen.

Sie hörte eine Menge Plätschern vor sich. Und einen Fluch von Sam.

Das Wasser stieg höher. Zuerst dachte sie, sie bildete es sich nur ein, aber dann merkte sie, daß die Strömung schon bis über ihre Knie reichte.

Die verdammte Dunkelheit war das Schlimmste, weil man überhaupt nichts sehen konnte, buchstäblich blind war und nicht sicher sein konnte, was vor sich ging.

Sie wurde unvermittelt nach vorne gezogen. Zwei, drei -O Gott! - ein halbes Dutzend Schritte.

Sam, nicht fallen!

Tessa stolperte, verlor beinahe das Gleichgewicht und spürte, daß sie sich am Rand einer Katastrophe befanden, daher stemmte sie sich gegen das Seil und benützte es, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, anstatt in der Hoffnung weiterzustolpern, daß es schlaff werden würde. Sie betete zu Gott, daß sie sich nicht zu heftig dagegen stemmte und von den Füßen gerissen wurde.

Sie schwankte. Das Seil zog heftig an ihrer Taille. Da kein schlaffes Seil durch ihre Hände gleiten konnte, gelang es ihr, den größten Teil der Belastung mit den Armen abzufangen.

Der Druck des Wassers gegen ihre Waden wurde heftiger.

Ihre Füße rutschten.

Seltsame Gedanken rasten ihr durch den Kopf wie ein Film, der in einem Videorekorder im schnellen Vorlauf abgespielt wurde; ein Dutzend Gedanken innerhalb von Sekunden, alle-samt ungewollt, und manche überraschten sie. Sie dachte an das Leben, ans Überleben, daß sie nicht sterben wollte, und das war nicht so überraschend, aber dann dachte sie an Chris -sie, daß sie das Mädchen nicht im Stich lassen wollte, und sie sah im Geiste ein deutliches Bild von sich und Chrissie zusammen vor sich, irgendwo in einem gemütlichen Haus, wo sie wie Mutter und Tochter lebten, und es überraschte sie, wie sehr sie das wollte, da es falsch war, denn Chrissies Eltern waren nicht tot, soweit man sagen konnte, und sie waren vielleicht nicht einmal hoffnungslos verwandelt, denn die Verwandlung - was immer das auch war - ließ sich vielleicht umkehren. Chrissies Familie wurde vielleicht wieder vereint. Dieses Bild konnte sich Tessa nicht vorstellen. Es schien nicht so wahrscheinlich, wie das, auf dem sie und Chrissie vereint waren. Aber es könnte sein. Dann dachte sie an Sam, daß sie vielleicht nie die Möglichkeit hatte, mit ihm zu schlafen, und das verblüffte sie, denn er war zwar attraktiv, aber bisher war ihr nicht klar gewesen, daß sie sich auf romantische Weise zu ihm hingezogen fühlte. Natürlich war seine Verbissenheit im Angesicht seelischer Verzweiflung bewundernswert, und seine völlig ernstgemeinten vier Gründe weiterzuleben machten ihn zu einer Art Herausforderung. Konnte sie ihm einen fünften geben? Oder Goldie Hawn als vierten ersetzen? Erst als sie vor dem Tod durch Ertrinken stand, war ihr bewußt geworden, welch großen Eindruck er in der kurzen Zeit auf sie gemacht hatte.

Ihre Füße rutschten weiter. Der Boden unter dem strömenden Wasser war viel glitschiger als in dem gemauerten Kanal, als würde Moos auf dem Beton wachsen. Tessa versuchte, die Fersen einzugraben.

Sam fluchte verhalten. Chrissie gab ein ersticktes Husten von sich.

Die Wassertiefe war in der Mitte des Tunnels auf etwa fünfzig bis sechzig Zentimeter gestiegen.

Einen Augenblick später zog das Seil heftig und wurde dann völlig schlaff.

Das Seil war gerissen. Sam und Chrissie waren in den Tunnel gespült worden.

Das Gurgeln-Plätschern-Blubbern des Wassers hallte von den Wänden, neue Echos übertönten die alten, und Tessas Herz schlug so laut, daß sie es hören konnte, aber sie hätte auch ihre Schreie hören sollen, während sie fortgerissen wurden.

Dann hustete Chrissie wieder. Nur ein paar Schritte entfernt.

Die Taschenlampe ging an. Sam deckte fast die ganze Linse mit der Hand ab.

Chrissie war an der Seite des Tunnels, wo der Sog nicht so stark war, sie hatte den Rücken und beide Hände gegen die Wand gepreßt.

Sam hatte die Beine weit gespreizt. Wasser strömte und wirbelte um seine Füße. Er hatte sich herumgedreht. Er sah jetzt bergauf.

Das Seil war doch nicht gerissen. Es war schlaff geworden, weil Sam und Tessa wieder Halt gefunden hatten.

»Alles in Ordnung?« flüsterte Sam dem Mädchen zu.

Sie nickte und hustete immer noch an dem schmutzigen Wasser, das sie geschluckt hatte. Sie runzelte angewidert die Nase, spie ein oder zweimal aus und sagte: »Bäh.«

Sam sah Tessa an und sagte: »Okay?«

Sie konnte nicht sprechen. In ihrem Hals hatte sich ein Kloß gebildet, der so hart wie Stein war. Sie schluckte ein paarmal und blinzelte. Eine verspätete Woge der Erleichterung lief durch sie hindurch und nahm ihr den fast unerträglichen Druck von der Brust, und schließlich sagte sie: »Okay. Ja. Okay.«

6

Sam war erleichtert, als sie das Ende des Tunnels ohne weitere Zwischenfälle erreicht hatten. Er blieb einen Augenblick direkt außerhalb des anderen Tunnelendes stehen und sah glücklich zum Himmel auf. Er konnte den Himmel wegen des dichten Nebels nicht sehen, aber das war nebensächlich;

er war trotzdem erleichtert, daß er wieder im Freien war, wenn auch bis zu den Knien in schmutzigem Wasser.

Sie standen jetzt fast in einem Fluß. Entweder regnete es in den Bergen am Ostende der Stadt heftiger, oder ein Damm im System hatte nachgegeben. Der Wasserspiegel war rasch bis über Sams Knie gestiegen und reichte Chrissie fast bis zur Taille, und die Flut strömte mit eindrucksvoller Ge -schwindigkeit aus der Öffnung hinter ihnen. Es wurde mit jeder Sekunde schwieriger, in diesem Sturzbach nicht den Halt zu verlieren.

Er drehte sich um, griff nach dem Mädchen, zog sie dicht an sich und sagte: »Ich werde von jetzt an deine Hand halten.«

Sie nickte.

Die Nacht war schwarz wie ein Grab, und selbst Zentimeter vor ihrem Gesicht konnte er nur einen schattenhaften Eindruck von ihren Zügen bekommen. Als er zu Tessa aufsah, die wenige Schritte hinter dem Mädchen stand, sah er nur einen schwarzen Schatten, der jemand ganz anderer hätte sein können.

Er nahm das Mädchen fest an der Hrnd und sah wieder zu dem Weg, der vor ihnen lag.

Der Tunnel war über zwei Blocks hinweg verlaufen, bevor er seine Fluten in einen weiteren offenen Abwasserkanal ergoß, genau wie Harry sich aus seinen Kindertagen daran erinnerte, als er trotz des Verbots seiner Eltern in dem Abwasserkanal gespielt hatte. Gott sei Dank für ungehorsame Kinder.

Einen Block voraus mündete dieser neue Abschnitt des gemauerten Grabens wieder in einen Betontunnel. Diese Rohrleitung endete laut Harry an dem langen vertikalen Abfluß am Westende der Stadt. Auf den letzten zehn Metern des Haupttunnels befanden sich angeblich eine Reihe kräftiger senkrechter Eisenträger, die sich in Abständen von zwanzig Zentimetern vom Boden bis zur Decke erstreckten und ein Hindernis schufen, durch das nur Wasser und kleinere Ge -genstände hindurch konnten. Es war völlig unmöglich, daß man die sechzig Meter hinunterstürzen konnte.

Aber Sam wollte kein Risiko eingehen. Es durfte keine Stürze mehr geben. Wenn sie bis ans Ende gespült würden und gegen die Sicherheitsbarriere prallten und nicht Myriaden Knochenbrüche hätten, wenn sie aufstehen und sich bewegen könnten, um den langen Tunnel zurückzugehen, den steilen Hang hinauf und gegen das fließende Wasser, so war das eine Prüfung, an die Sam nicht einmal denken, geschweige denn sie durchmachen wollte.

Er hatte sein ganzes Leben lang geglaubt, er hätte Menschen im Stich gelassen. Er war zwar erst sieben gewesen, als seine Mutter bei dem Unfall ums Leben gekommen war, aber er hatte immer nagende Schuldgefühle angesichts ihres Todes verspürt, als hätte er sie trotz seines zarten Alters und trotz der Tatsache, daß er mit ihr im Wrack eingekeilt gewesen war, retten müssen. Später war es Sam nie gelungen, seinen betrunkenen, bösen Hurensohn von Vater zufriedenzustellen - und er hatte sehr unter diesem Unvermögen gelitten. Er war wie Harry der Meinung, daß er das Volk von Vietnam im Stich gelassen hatte, obwohl die Entscheidung, sie im Stich zu lassen, von weit höheren Dienstgraden gefällt worden war, auf die er keinen Einfluß hätte haben können. Keiner der FBI-Agenten, die in seinem Beisein gestorben waren, waren durch ihn gestorben, und doch war ihm, als hätte er auch sie im Stich gelassen. Irgendwie hatte er auch Karen im Stich gelassen, obwohl ihm die Leute immer sagten, er wäre verrückt zu denken, er habe irgendeine Verantwortung für ihren Krebs; er mußte nur ständig denken, wenn er sie mehr geliebt hätte, fester geliebt hätte, hätte sie Kraft und Willensstärke gefunden, es zu überwinden. Und weiß Gott, seinen Sohn Scott hatte er ganz besonders im Stich gelassen.

Chrissie drückte seine Hand.

Er drückte auch.

Sie schien so klein zu sein.

Vorhin hatten sie in Harrys Küche eine Unterhaltung über Verantwortung geführt. Jetzt wurde ihm plötzlich klar, daß sein Verantwortungsgefühl so ausgeprägt war, es kam einer Besessenheit gleich, aber er stimmte dem, was Harry gesagt hatte, trotzdem zu: Die Verpflichtungen eines Mannes gegenüber anderen, besonders Freunden und Familie, konnten niemals groß genug sein. Er hätte sich nie träumen lassen, daß er eine der wichtigsten Einsichten seines Lebens haben würde, während er fast bis zur Hüfte in schmutzigem Wasser in einem Abwasserkanal stand und auf der Flucht vor menschlichen und nichtmenschlichen Feinden war, aber hier hatte er sie nun einmal. Ihm wurde klar, daß sein Problem nicht die Bereitwilligkeit war, mit der er Verantwortung übernahm, oder deren gewaltiges Ausmaß, das zu tragen er bereit war. Nein, verflucht, sein Problem war, er hatte zugelassen, daß sein Gefühl für Verantwortung seine Fähigkeit, mit dem Scheitern zurechtzukommen, verdeckte. Von Zeit zu Zeit hatten alle Menschen einmal versagt, und die Schuld an diesem Versagen lag häufig nicht einmal beim Menschen selbst, sondern im Wirken des Schicksals. Wenn er versagte, mußte er lernen, nicht nur weiterzumachen, sondern mit Freuden weiterzumachen. Er durfte nicht zulassen, daß das Scheitern ihm die ganze Lebensfreude nahm. Eine solche Abkehr vom Leben war blasphemisch, wenn man an Gott glaubte - und regelrecht dumm, wenn man es nicht tat. Es war, als würde man sagen: >Die Menschen versagen, aber ich sollte nicht versagen, denn ich bin mehr als ein Mensch, ich bin irgendwo da oben zwischen den Engeln und Gott.< Er sah ein, warum er Scott verloren hatte: weil er selbst die Liebe zum Leben verloren hatte, seinen Sinn für Humor, und er hatte nichts Bedeutsames mehr mit dem Jungen teilen können - oder Scotts Absinken in Nihilismus aufhalten, als es angefangen hatte.

Hätte er im Augenblick seine Gründe zu leben aufgezählt, hätte die Liste mehr als vier Punkte gehabt. Es wären Hunderte gewesen. Tausende.

Das alles begriff er innerhalb eines Augenblicks, während er Chrissies Hand hielt, als wäre das Verrinnen der Zeit durch eine Eigenheit der Relativität gedehnt worden. Ihm wurde klar, wenn er das Mädchen oder Tessa nicht retten könnte, aber selbst mit heiler Haut davonkäme, würde er trotzdem Freude über seine eigene Rettung empfinden und weiterleben müssen. Ihre Situation war dunkel und sie hatten wenig Hoffnung, aber er befand sich dennoch in einer solchen Hochstimmung, daß er beinahe laut gejauchzt hätte. Der lebende Alptraum, den sie in Moonlight Cove durchmachten, hatte ihn durch und durch erschüttert und ihm simple Wahrheiten eingebleut, Wahrheiten, die einfach waren und die er in den langen Jahren der Qual mühelos hätte sehen müssen, die er aber trotz ihrer Einfachheit und seiner eigenen bisherigen Dickköpfigkeit dankbar zur Kenntnis nahm. Vielleicht war die Wahrheit immer einfach, wenn man sie einmal gefunden hatte.

Ja, gut, vielleicht konnte er jetzt weiterleben, auch wenn er in seiner Verantwortung anderen gegenüber versagte, selbst wenn er Chrissie und Tessa verlöre - aber, verdammte Scheiße, er würde sie nicht verlieren. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er es tat.

Der Teufel sollte ihn holen.

Er hielt Chrissies Hand und tastete sich vorsichtig an dem gemauerten Kanal entlang, und er war dankbar für die vergleichsweise Unebenheit des Bodens und seine moosfreie Oberfläche. Das Wasser war gerade so hoch, ihm einen Eindruck des Schwebens zu verschaffen. Das machte ihm schwerer, einen gerade gehobenen Fuß nach unten zu bringen. Daher lief er nicht, sondern schleifte die Füße mehr über den Grund.

Nach wenigen Minuten erreichten sie Eisensprossen, die ins Mauerwerk der Kanalwand betoniert waren. Tessa gesellte sich zu ihnen, und sie hingen alle eine Weile nur da, hielten die Stäbe umklammert und waren dankbar für ihre Festigkeit und den Halt, den sie boten.

Ein paar Minuten später, als der Regen unvermittelt nachließ, war Sam bereit weiterzugehen. Er achtete sorgfältig darauf, daß er nicht auf Chrissies oder Tessas Hände trat, als er ein paar Stufen hinaufstieg und auf die Straße sah.

Außer dem Nebel bewegte sich nichts.

Dieser Abschnitt des offenen Wasserlaufs führte an der Central School von Moonlight Cove vorbei. Der Sportplatz war nur ein paar Schritte von ihm entfernt, und hinter die-sem offenen Gelände, in Dunkelheit und Nebel kaum sichtbar, befand sich das Schulgebäude selbst, das lediglich von ein paar trüben Sicherheitslampen erhellt wurde.

Das Gelände war von einem zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben. Aber davon ließ sich Sam nicht einschüchtern. Zäune hatten immer irgendwann einmal Türen.

7

Harry wartete auf dem Dachboden, hoffte auf das Beste und rechnete mit dem Schlimmsten.

Er lehnte an der Außenwand der langen, dunklen Kammer, in der Ecke, die am weitesten von der Falltür entfernt war, durch die er herauf gebracht worden war. Es gab nichts in dem Raum, hinter dem er sich hätte verstecken können.

Aber wenn jemand so weit ging, den Kleiderschrank neben dem Schlafzimmer auszuräumen, die Klappe hinunterzuziehen, die Treppe herunterzuklappen und den Kopf durch die Luke zu stecken, würde er vielleicht nicht so gewissenhaft sein und in jeder Ecke des Raumes nachsehen. Wenn er beim ersten Kreisen der Taschenlampe nur kahle Dielen und wuselnde Spinnen sah, würde er sie vielleicht abschalten und wieder hinuntergehen.

Das war selbstverständlich absurd. Wenn sich jemand die Mühe machte und auf den Dachboden käme, würde er ihn auch genauestens untersuchen und in jeder Ecke nachsehen. Aber ob diese Hoffnung absurd war oder nicht, Harry klammerte sich daran; er war gut darin, Hoffnung zu hegen, e konnte herzhafte Eintöpfe aus der dünnsten Brühe davon zubereiten, weil Hoffnung sein halbes Leben lang das einzige gewesen war, das ihm Halt gegeben hatte.

Ihm war nicht unbehaglich zumute. Als Vorbereitung auf den unbeheizten Dachboden hatte er - damit es schneller ging - mit Sams Hilfe Wollsocken, wärmere Hosen als die, die er angehabt hatte, und zwei Pullover angezogen.

Komisch, daß viele Menschen dachten, ein Gelähmter würde überhaupt nichts in seinen gebrauchsunfähigen Extremitäten spüren. In manchen Fällen stimmte das: alle Nerven waren abgetrennt, kein Gefühl mehr vorhanden. Aber es gab Myriaden verschiedene Wirbelsäulenverletzungen; abgesehen von einem völligen Bruch variierte der Rest Ge -fühl, der dem Opfer blieb, sehr stark.

In Harrys Fall war es so, daß er zwar einen Arm und ein Bein gar nicht mehr, das andere Bein kaum noch bewegen konnte, aber er konnte immer noch Hitze und Kälte spüren. Wenn ihn etwas zwickte, bemerkte er zwar keine Schmerzen, aber doch einen dumpfen Druck.

Körperlich spürte er wesentlich weniger als ein gesunder Mann, daran konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Aber nicht alle Empfindungen waren körperlicher Natur. Er war sicher, daß ihm die wenigsten Menschen glauben würden, aber seine Behinderung hatte sein seelisches Leben tatsächlich bereichert. Obwohl er notwendigerweise zu einer Art Einsiedler geworden war, hatte er gelernt, den Mangel an menschlichem Kontakt auszugleichen. Bücher hatten ihm geholfen. Bücher öffneten die Tür zu Welten. Und das Teleskop. Aber weitgehend sein unbändiger Wille, ein Leben zu führen, das so erfüllt wie möglich war, hatten ihn in Herz und Verstand gesund bleiben lassen.

Wenn dies seine letzten Stunden waren, würde er die Kerze ohne Verbitterung ausblasen, wenn die Zeit gekommen war, sie zu löschen. Er bedauerte, was er verloren hatte, aber wichtiger war, er schätzte, was ihm geblieben war. In letzter Analyse war er der Überzeugung, er hatte ein Leben gelebt, das im Großen und Ganzen gut, lohnend und kostbar gewesen war.

Er hatte zwei Waffen bei sich. Einen 45er Revolver. Eine 38er Pistole. Wenn sie zu ihm auf den Speicher kämen, würde er mit der Pistole auf sie schießen, bis sie leer wäre. Dann würde er ihnen alle Patronen des Revolvers zu kosten geben, bis auf eine. Die letzte Patrone würde er für sich selbst aufheben.

Er hatte keine zusätzlichen Patronen mitgebracht. In einer Krisensituation konnte ein Mann mit nur einer guten Hand nicht schnell genug laden, ohne daß die Anstrengung zu einem komischen Finale geriet.

Das Trommeln des Regens auf dem Dach hatte nachgelassen. Er fragte sich, ob das wieder nur eine Atempause in dem Sturm war, oder ob er zu Ende ging.

Es wäre schön, die Sonne noch einmal zu sehen.

Er machte sich mehr Sorgen um Moose als um sich selbst. Der arme Hund war ganz alleine da unten. Er hoffte, die Schreckgespenster würden dem guten alten Moose nichts tun, wenn sie schließlich kamen. Und wenn sie auf den Dachboden kämen und ihn zwängen, Selbstmord zu begehen, dann hoffte er, Moose würde nicht lange ohne ein gutes Zuhause sein.

8

Für den umherfahrenden Loman schien Moonlight Cove tot zu sein und zugleich von Leben zu wimmeln.

Richtete man sich nach den üblichen Anzeichen von Leben in einer Kleinstadt, war diese eine leere Hülle und ebenso verlassen und von der Sonne ausgetrocknet wie jede Geisterstadt in der Mohave. Die Geschäfte, Bars und Restaurants hatten geschlossen. Sogar das sonst überfüllte Perez Family-Restaurant war dunkel; niemand war gekommen, um es zu öffnen. Die einzigen Fußgänger, die nach dem Regen unterwegs waren, waren Patrouillen oder Verwandlungsteams. Und auch die Polizeipatrouillen und die Zwei-Mann-Teams, die in privaten Autos unterwegs waren, hatten die Straßen für sich allein.

Aber es wimmelte in der Stadt von perversem Leben. Er sah mehrmals seltsame, hastige Gestalten, die sich durch Nacht und Nebel bewegten, das immer noch verstohlen taten, aber schon ungleich kühner als in den vorangegangenen Nächten. Wenn er anhielt oder langsamer fuhr, um diese Marodeure zu studieren, hielten manche auch in den tiefen Schatten inne und sahen ihn mit haßerfüllten gelben oder grünen oder rotglühenden Augen an, als würden sie ihre Chancen abschätzen, den Streifenwagen anzugreifen und Loman herauszuzerren, bevor er den Fuß von der Bremse nehmen und davonfahren konnte. Wenn er sie beobachtete, erfüllte ihn das Verlangen, das Auto, seine Kleidung und die starre menschliche Gestalt aufzugeben und sich in ihrer einfacheren Welt des Jagens, Essens und Paarens zu ihnen zu gesellen. Er wandte sich jedesmal rasch von ihnen ab und fuhr weiter, bevor er solchen Impulsen folgen konnte. Hier und da kam er an Häusern vorbei, in deren Fenstern unheimliches Licht leuchtete, in dem sich so groteske und unirdische Schatten bewegten, daß sein Herz schneller schlug und seine Handflächen feucht wurden, obwohl er fern von ihnen und wahrscheinlich außerhalb ihres Zugriffs war. Er hielt nicht an um festzustellen, welche Geschöpfe in diesen Häusern wohnten oder welchen Tätigkeiten sie nachgingen, denn er spürte, daß sie mit dem verwandt waren, was aus Denny geworden war, und daß sie in vieler Hinsicht gefährlicher waren als die umherstreunenden Regressiven.

Er lebte jetzt in einer Lovecraftschen Welt urzeitlicher und kosmischer Kräfte, monströser Wesenheiten, die durch die Nacht schlichen, wo die Menschen zu wenig mehr als Vieh herabgewürdigt waren, wo das jüdisch-christliche Universum verdrängt worden war, die von dunklen Gelüsten, Spaß an Grausamkeit und einem unstillbaren Verlangen nach Macht motiviert wurden. In der Luft, in den Nebelschwaden, in den schattigen, tropfenden Bäumen, in den unbeleuchteten Straßen und sogar im natriumgelben Leuchten der Lampen an den Hauptstraßen herrschte die allumfassende Stimmung vor, daß in dieser Nacht nichts Gutes geschehen konnte... aber daß alles andere passieren konnte, wie phantastisch oder bizarr es auch sein mochte.

Er hatte im Lauf der Jahre unzählige Taschenbücher gelesen und kannte Lovecrafts Werk. Er hatte ihm nicht einen Bruchteil so gut gefallen wie Louis L'Amour, weil sich L'Amour mit der Realität beschäftigte, während H. P. Love-craft sich mit dem Unmöglichen befaßt hatte. So jedenfalls war es Loman damals vorgekommen. Jetzt wußte er, Menschen konnten in der wirklichen Welt Höllen erschaffen, die denen der fantasiebegabtesten Schriftsteller in nichts nachstanden.

Lovecraftsche Verzweiflung und Entsetzen strömten in größeren Mengen durch Moonlight Cove als zuvor der Regen gefallen war. Während er durch die verwandelten Straßen fuhr, ließ Loman seine Dienstwaffe in Reichweite neben sich auf dem Beifahrersitz liegen.

Shaddack.

Er mußte Shaddack finden.

Er fuhr auf der Juniper nach Süden und blieb an der Kreuzung Ocean Avenue stehen. Gleichzeitig bremste ein anderer Streifenwagen am Stop-Schild direkt gegenüber von Lo-man, Richtung Norden.

Auf der Ocean herrschte kein Verkehr. Loman kurbelte das Fenster herunter, fuhr langsam über die Kreuzung und bremste neben dem anderen Streifenwagen, so daß kaum dreißig Zentimeter Platz zwischen beiden blieb.

Anhand der Zahl auf der Tür, über dem Abzeichen der Polizei, wußte Loman, daß es Neu Penniworths Streifenwagen war. Aber als er durch das Seitenfenster sah, erblickte er nicht den jungen Beamten. Er sah etwas, das einmal Penni-worth gewesen sein konnte, immer noch vage menschlich und vom Schein der Armaturenbrettlichter beleuchtet, aber noch direkter vom Leuchten des mobilen VDT im Inneren. Zwei Kabel, gleich dem, das aus Dennys Stirn gewachsen war, um ihn direkter mit seinem PC zu verbinden, wuchsen aus Penniworths Schädel; das Licht war zwar schlecht, aber es sah aus, als würde sich eines dieser Kabel zwischen dem Lenkrad hindurch zum Armaturenbrett erstrecken, während das andere zu dem auf der Konsole montierten Computer verlief. Die Form von Penniworths Kopf hatte sich dramatisch verändert, er war in die Länge gezogen und hatte glänzende spitze Auswüchse, bei denen es sich um irgendwelche Sensoren handeln mußte, die im Licht des VDT sanft glommen wie poliertes Metall; seine Schultern waren breiter und seltsam zackenförmig und spitz; er schien allen Ernstes die Gestalt eines barocken Roboters gesucht zu haben. Er hatte die Hände nicht am Lenkrad, aber vielleicht besaß er gar keine Hände mehr; Loman vermutete, daß Penniworth nicht nur mit dem Computer selbst, sondern auch mit dem Streifenwagen verschmolzen war.

Penniworth wandte Loman langsam das Gesicht zu.

In den leeren Augenhöhlen krümmten sich und flackerten unablässig knisternde weiße Finger von Elektrizität.

Shaddack hatte gesagt, die Befreiung der Neuen Menschen von Emotionen hätte ihnen die Fähigkeit gegeben, die schlummernden Kräfte ihres Gehirns weitaus besser zu nutzen, sogar bis zu dem Ausmaß, geistige Kontrolle über Form und Funktion von Materie auszuüben. Jetzt bestimmt e ihr Bewußtsein ihre Gestalt; um einer Welt zu entfliehen, in der ihnen keine Gefühle gestattet wurden, konnten sie werden, was immer sie wollten - aber sie konnten nicht wieder zu den Alten Menschen werden, die sie gewesen waren. Offenbar war das Leben als Cyborg frei von Angst, denn Penni-worth hatte Freiheit von Angst und Verlangen - möglicherweise auch eine Art Auslöschung - in dieser monströsen Inkarnation gesucht.

Aber was empfand er jetzt? Welchen Zweck hatte er? Und blieb er in diesem veränderten Zustand, weil er es wirklich wollte? Oder war er wie Peyser - entweder aus physischen Gründen gefangen, oder weil ein abwegiger Aspekt seiner eigenen Psychologie nicht zuließ, daß er die menschliche Gestalt wieder annahm, in die er ansonsten zu gerne zurückgekehrt wäre?

Loman griff zum Revolver auf dem Sitz neben ihm.

Ein in Segmente unterteiltes Kabel platzte aus der Fahrertür von Penniworths Auto, ohne Metall zu zerstören, es kam hervor, als wäre ein Teil der Tür geschmolzen und hätte sich neu geformt, um es zu bilden - davon abgesehen, daß es zumindest halborganisch aussah. Die Sonde prallte mit einem Schmatzen auf Lomans Seitenfenster.

Der Revolver glitt aus Lomans schwitzender Hand, denn er konnte den Blick nicht von der Sonde abwenden, um nach der Waffe zu sehen.

Das Glas zerschellte nicht, aber ein Stück, so groß wie ein Vierteldollar, warf Blasen und schmolz innerhalb eines Augenblicks, und die Sonde schnellte ins Auto, direkt auf Lomans Gesicht zu. Sie hatte einen fleischigen Saugmund, wie ein Aal, aber die winzigen spitzen Zähne in seinem Inneren schienen aus Stahl zu sein.

Er duckte den Kopf, vergaß den Revolver und trat das Gaspedal bis zum Boden durch. Der Chevy schien sich einen Sekundenbruchteil fast aufzubäumen; dann schoß er mit einer Beschleunigung, die Loman in den Sitz drückte, auf der Juniper nach Süden.

Einen Augenblick dehnte sich die Sonde zwischen den Autos, um Kontakt zu halten, strich über Lomans Nasenrücken - und war unvermittelt verschwunden und wieder in das Auto gezogen, aus dem sie herausgewachsen war.

Er fuhr sehr schnell bis ganz zum Ende der Juniper Lane, bevor er bremste und abbog. Der Fahrtwind heulte durch das Loch, das die Sonde ins Fenster geschmolzen hatte.

Lomans schlimmste Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Die Neuen Menschen, die sich nicht für Regression entschieden, verwandelten sich selbst - oder wurden auf Verlangen Shaddacks zu teuflischen Hybriden zwischen Mensch und Maschine.

Shaddack finden. Den Schöpfer ermorden und die wütenden Monster befreien, die er gemacht hatte.

9

Sam voraus und gefolgt von Tessa, stapfte Chrissie quietschend über den feuchten Rasen des Sportplatzes. An manchen Stellen war statt Gras nasser Schlamm, der lautstark an ihren Schuhen zog, und sie dachte sich, daß sie sich wie eine Art alberner Außerirdischer anhörte, der mit großen Saugnapffüßen dahintappste. Dann wurde ihr deutlich, daß sie heute nacht in gewissem Sinne eine Außerirdische in Moonlight Cove war, ein anderes Wesen als die Mehrheit der Einwohner.

Sie hatten den Sportplatz zu zwei Dritteln überquert, als sie einen schrillen Schrei hörten, der die Nacht so sauber durchschnitt wie eine scharfe Axt ein Stück Holz durchschnitten hätte, und sie blieben stehen. Die nichtmenschliche Stimme schwoll an, wurde leiser und schwoll wieder an, sie war wild und nervtötend, aber vertraut, der Schrei einer der Bestien, die sie für Außerirdische gehalten hatte. Der Regen hatte zwar aufgehört, aber die Luft war feucht, und in dieser feuchten Atmosphäre wurde der unirdische Schrei weit getragen, wie die höllisch klaren Töne einer fernen Trompete.

Schlimmer war, der Ruf wurde sofort von den aufgeregten Anverwandten der Bestie beantwortet. Mindestens ein halbes Dutzend ähnliche grauenerregende Schreie wurden südlich, ungefähr an der Paddock Lane, und nördlich an der Holliwell Road laut, ebenso von den Hügeln am Ostrand der Stadt und der Klippe am Strand nur ein paar Blocks im Westen.

Plötzlich sehnte sich Chrissie nach dem kalten, dunklen Tunnel, in dem hüfthoch so schmutziges Wasser floß, daß es aus der Badewanne des Teufels persönlich stammen konnte. Im Vergleich dazu wirkte das offene Gelände hier diabolisch gefährlich.

Ein neuer Schrei ertönte, als die anderen verstummten, und der war näher als der vorhergehende. Zu nahe.

»Nichts wie rein«, sagte Sam drängend.

Chrissie war allmählich bereit, sich selbst emzugestehen, daß sie vielleicht doch keine so gute Andre-Norton-Heldin abgeben würde. Sie hatte Angst, fror, hatte vor Erschöpfung brennende Augen, tat sich allmählich selbst leid und hatte wieder Hunger. Sie hatte das Abenteuer über beide Ohren satt. Sie sehnte sich nach warmen Zimmern und faulen Tagen mit guten Büchern und großen Stücken Torte und Ausflügen ins Kino. Bis zu dieser Stelle hätte sich eine wahre Heldin einer Abenteuergeschichte eine Reihe brillanter Strategien ausgearbeitet, die die Bestien in Moonlight Cove vernichtet hätten, hätte einen Weg gefunden, aus den Robotermenschen harmlose Autowaschanlagen zu machen und wäre schon unterwegs, um laut Wunsch der respektvollen und dankbaren Bürger zur Prinzessin des Königreichs gekrönt zu werden.

Sie eilten zum Ende des Sportplatzes, liefen um die Tribüne herum und überquerten den verlassenen Parkplatz hinter dem Schulgebäude.

Niemand griff sie an.

Danke, Gott. Deine Freundin Chrissie.

Wieder heulte etwas.

Manchmal schien selbst Gott eine perverse Ader zu haben.

An der Rückwand des Schulgebäudes befanden sich an sechs verschiedenen Stellen Türen. Sie gingen von einer zur anderen, während Sam sie alle begutachtete und die Schlösser im Schein der Taschenlampe, die er mit der Hand abdeckte, untersuchte. Er konnte sie offenbar nicht alle aufbrechen, und das enttäuschte sie, weil sie gedacht hatte, FBI-Agenten wären so gut ausgebildet, daß sie in einem Notfall einen Banktresor mit Spucke und einer Haarklammer öffnen konnten.

Er versucht es auch an ein paar Fenstern und leuchtete scheinbar ziemlich lange mit der Taschenlampe durch die Scheiben. Er untersuchte nicht die Zimmer, sondern die inneren Simse und Fensterrahmen.

An der letzten Tür - die einzige, die Glasscheiben in der oberen Hälfte hatte, alle anderen waren kahle Rechtecke aus Metall gewesen - schaltete Sam die Taschenlampe aus, sah Tessa ernst an und unterhielt sich mit gedämpfter Stimme mit ihr. »Ich glaube nicht, daß es hier ein Alarmsystem gibt. Könnte mich aber irren. Aber es gibt kein Alarmband an den Fensterrahmen, und, soweit ich sehen kann, auch keine verkabelten Kontakte an den Rahmen oder Riegeln.«

»Sind das die einzigen möglichen Alarmsysteme, die sie haben könnten?« murmelte Tessa.

»Nun, es gibt Bewegungsdetektoren, die entweder Schallwellen aussenden oder elektronische Augen haben. Aber die wären für eine Schule zu kompliziert und für ein solches Gebäude wahrscheinlich auch zu empfindlich.«

»Also, was jetzt?«

»Jetzt breche ich ein Fenster auf.«

Chrissie rechnete damit, daß er eine Rolle Klebeband aus der Tasche holen und eine Scheibe damit abkleben würde, um den Lärm des zersplitternden Glases zu dämpfen und zu verhindern, daß lautstark Splitter zu Boden fielen. So machten sie es normalerweise in den Büchern. Aber er stellte sich nur seitlich zur Tür, zog den Arm vor und rammte den Ellbogen durch die zwanzig Zentimeter im Quadrat messende Scheibe in der unteren rechten Ecke des Fensterkreuzes. Das Glas barst und machte einen Höllenlärm, als es zu Boden fiel. Vielleicht hatte er vergessen, sein Klebeband mitzubringen.

Er griff durch die gesplitterte Scheibe, tastete nach dem Schloß, öffnete es und ging als erster hinein. Chrissie folgte ihm und versuchte, nicht auf die Glasscherben zu treten.

Sam schaltete die Taschenlampe ein. Er schirmt sie nicht ganz so sehr ab wie draußen, aber er versuchte eindeutig, den Widerschein von den Fenstern abzuhalten.

Sie waren in einem langen Flur. Es roch nach dem Zedern -Piniengeruch, der von dem körnigen grünen Desinfektionsmittel und Staubfänger herrührte, das die Hausmeister jahrelang auf den Boden gestreut und dann aufgewischt hatten, bis Fliesen und Wände den Geruch angenommen hatten. Sie kannte den Geruch von der Thomas-Jefferson-Grundschule und war enttäuscht, ihn auch hier zu finden. Sie hatte sich eine High-School immer als besonderen, geheimnisvollen Ort vorgestellt, aber wie besonders oder geheimnisvoll konnte er schon sein, wenn sie dieselben Desinfektionsmittel wie in der Grundschule verwendeten?

Tessa machte leise die Tür hinter ihnen zu.

Sie standen einen Moment da und lauschten.

Es war still in der Schule.

Sie gingen den Flur entlang, sahen in die Klassenzimmer und Waschräume und Spinde auf beiden Seiten und suchten nach dem Computerlabor. Nach etwa vierzig Metern kamen sie zur Kreuzung eines anderen Flurs. Sie blieben einen Augenblick auf der Kreuzung stehen und lauschten mit geneigten Köpfen.

In der Schule war es immer noch still. Und dunkel.

Das einzige Licht war die Taschenlampe, die Sam noch in der linken Hand hielt, aber nicht mehr mit der rechten abschirmte. Er hatte den Revolver aus dem Halfter gezogen und brauchte die rechte Hand, um ihn zu halten.

Nach einer langen Pause sagte Sam: »Niemand da.«

Was der Fall zu sein schien.

Chrissie fühlte sich vorübergehend besser, sicherer.

Andererseits, wenn er wirklich glaubte, daß sie die einzigen in dem Gebäude waren, warum steckte er den Revolver dann nicht wieder weg?

10

Während er durch sein Reich fuhr und ungeduldig auf Mitternacht wartete, die immer noch fünf Stunden entfernt war, war Thomas Shaddack weitgehend auf eine kindliche Bewußtseinsstufe zurückgefallen. Jetzt, wo sein Triumph kurz bevorstand, konnte er die Maske des erwachsenen Mannes abwerfen, die er so lange gehalten hatte, und er tat es mit Erleichterung. Er war eigentlich nie ein Erwachsener gewesen, sondern ein Junge, dessen emotionale Entwicklung im Alter von zwölf Jahren gestoppt worden war, als die Botschaft des Mondfalken nicht nur zu ihm gekommen, sondern in ihn eingepflanzt worden war; danach hatte er emotionales Erwachsenwerden entsprechend seines körperlichen Wachstums vorgetäuscht.

Aber dieses Vortäuschen war jetzt nicht mehr nötig.

Auf einer bestimmten Ebene hatte er das schon immer über sich gewußt und es als seine große Stärke betrachtet, als Vorteil gegenüber jenen, die die Kindheit hinter sich gelassen hatten. Ein zwölfjähriger Junge konnte einen Traum mit mehr Entschlossenheit als ein Erwachsener pflegen und nähren, weil Erwachsene ständig von widerstreitenden Bedürfnissen und Begierden abgelenkt wurden. Aber ein Junge an der Schwelle der Pubertät hatte die Entschlossenheit und Zielstrebigkeit, sich einzig und allein auf einen einzigen großen Traum zu konzentrieren. Hinreichend verdreht, war ein zwölfjähriger Junge der perfekte Monomane.

Das Projekt Moonhawk, sein großer Traum von gottgleicher Macht, hätte niemals Früchte getragen, wenn er auf die übliche Weise reif geworden wäre. Er verdankte seinen bevorstehenden Triumph seiner verhinderten Entwicklung.

Er war wieder ein Junge, nicht mehr heimlich, sondern offen, und er brannte darauf, jeder Laune genüge zu tun, zu nehmen, was immer er wollte, alles zu tun, was die Vorschriften verletzte. Zwölfjährigen Jungs machte es Spaß, Vorschriften zu übertreten und die Autoritäten herauszufordern. Zwölfjährige Jungs waren schlimmstenfalls gesetzlos, am Rande einer hormonbedingten Rebellion.

Aber er war mehr als gesetzlos. Er war ein Junge, der auf Kaktusplätzchen abhob, die er vor langer Zeit gegessen hatte, die aber einen psychischen, wenn nicht einen materiellen Rückstand hinterlassen hatten. Er war ein Junge, der wußte, daß er ein Gott war. Und das Potential eines jeden Jungen für Grausamkeit verblaßte im Vergleich mit der Grausamkeit von Göttern.

Um sich die Zeit bis Mitternacht zu vertreiben, stellte er sich vor, was er mit seiner Macht anfangen würde, wenn ganz Moonlight Cove unter seine Herrschaft gefallen war. Bei einigen seiner Vorstellungen zitterte er unter einer seltsamen Mischung aus Erregung und Ekel.

Er war auf dem Iceberry Way, als ihm bewußt wurde, daß der Indianer bei ihm war. Er war überrascht, als er den Kopf drehte und Runningdeer auf dem Beifahrersitz sitzen sah. Er brachte den Wagen tatsächlich mitten auf der Straße zum Stehen und sah schockiert und ungläubig und ängstlich hinüber.

Aber Runningdeer bedrohte ihn nicht. Der Indianer sprach nicht einmal mit ihm oder sah ihn an, sondern starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.

Allmählich begriff Shaddack. Der Geist des Indianers gehörte jetzt ihm, er war sein Besitz - so sicher wie der Lieferwagen. Die großen Geister hatten ihm den Indianer als Ratgeber gegeben, als Belohnung dafür, daß er Moonhawk zum Erfolg geführt hatte. Aber diesesmal hatte er das Sagen, nicht Runningdeer, und der Indianer würde nur dann etwas sagen, wenn er angesprochen würde.

»Hallo, Runningdeer«, sagte er.

Der Indianer sah ihn an. »Hallo, Kleiner Häuptling.«

»Du gehörst jetzt mir.«

»Ja, Kleiner Häuptling.«

Shaddack dachte einen ganz kurzen Augenblick daran, daß er verrückt war und Runningdeer eine Illusion war, die sein kranker Verstand erzeugt hatte. Aber monomanische Jungs haben nicht die Fähigkeit, ausgiebig über ihren Geisteszustand nachzudenken, daher verschwand der Gedanke so schnell wieder aus seinem Verstand, wie er gekommen war.

Er sagte zu Runningdeer: »Du wirst tun, was ich dir sage.«

»Immer.«

Shaddack nahm außerordentlich zufrieden den Fuß von der Bremse und fuhr weiter. Die Scheinwerfer beleuchteten ein Ding mit bernsteinfarbenen Augen und einer phantastischen Gestalt, das aus einer Pfütze aus dem Gehweg trank. Er weigerte sich, es als etwas Bedeutsames anzusehen, und als es davonhuschte, verdrängte er es so schnell aus seinen Gedanken wie es von der nächtlichen Straße verschwunden war.

Er warf dem Indianer einen verschlagenen Blick zu und sagte: »Weißt du, was ich eines Tages machen werde?«

»Was denn, Kleiner Häuptling?«

»Wenn ich alle verwandelt habe, nicht nur die Menschen in Moonlight Cove, sondern alle auf der Welt, wenn niemand mehr gegen mich steht, dann werde ich etwas Zeit darauf verwenden, deine Familie aufzuspüren, all deine noch lebenden Brüder und Schwestern, sogar deine Vettern und deren Kinder nebst Männern und Frauen... und dann werde ich dafür sorgen, daß sie für deine Verbrechen bezahlen, daß sie wirklich und wahrhaftig bezahlen.« Seine Stimme hatte einen wimmernden Tonfall angenommen. Er mißbilligte den nörgelnden Unterton, konnte ihn aber nicht abstellen. »Ich werde alle Männer töten, sie in blutige Stücke hacken, und zwar höchstpersönlich. Ich werde sie wissen lassen, daß sie leiden müssen, weil sie deine Verwandten sind, und sie werden dich verachten und deinen Namen verfluchen, es wird ihnen leid tun, daß du jemals existiert hast. Und ich werde alle Frauen vergewaltigen und ihnen weh tun, ihnen weh tun, wirklich schlimm, und dann werde ich sie auch umbringen. Was meinst du dazu? Hm?«

»Wenn du es möchtest, Kleiner Häuptling.«

»Verdammt richtig, ich möchte es.«

»Dann solltest du es tun.«

»Verdammt richtig, ich werde es tun.«

Shaddack war überrascht, daß ihm Tränen in die Augen traten. Er hielt an einer Kreuzung und fuhr nicht weiter. »Es war nicht richtig, was du mit mir gemacht hast.«

Der Indianer sagte nichts.

»Sag, daß es nicht richtig war.«

»Es war nicht richtig, Kleiner Häuptling.«

»Es war überhaupt nicht richtig.«

»Es war nicht richtig.«

Shaddack holte ein Taschentuch aus der Tasche und schneuzte sich die Nase. Er tupfte sich die Augen damit. Wenig später trockneten seine Tränen.

Er sah lächelnd in die nächtliche Landschaft jenseits des Fensters. Er seufzte. Er sah Runningdeer an.

Der Indianer sah stumm geradeaus.

Shaddack sagte: »Natürlich wäre ich ohne dich vielleicht nie das Kind des Mondfalken geworden.«

11

Das Computerlabor befand sich im Erdgeschoß im Zentrum des Gebäudes in der Nähe eines Korridorknotenpunkts. Fenster überblickten einen Hof, waren aber von der Straße nicht zu sehen, daher konnte Sam die Beleuchtung einschalten.

Es war ein großes Zimmer, das wie ein Sprachlabor angelegt war, jedes VDT befand sich in einer eigenen abgeschirmten Kammer. Dreißig Computer - neueste Modelle mit Festplatte - waren an drei Wänden und in einer Reihe Rücken an Rücken in der Mitte des Zimmers aufgestellt.

Tessa betrachtete sich den Reichtum an Hardware und sagte: »New Wave war reichlich großzügig, was?«

»Vielleicht wäre >gründlich< das passendere Wort«, sagte Sam.

Er schritt an den Bildschirmreihen entlang und suchte nach Telefonanschlüssen und Modems, fand aber keine.

Tessa und Chrissie blieben unter der offenen Tür stehen und sahen auf den dunklen Flur hinaus.

Sam nahm vor einer der Maschinen Platz und schaltete sie ein. Das Wahrzeichen von New Wave erschien auf dem Bildschirm.

Da keine Telefone oder Modems vorhanden waren, hatte die Schule die Computer möglicherweise wirklich nur für Ausbildungszwecke erhalten, ohne die Absicht, die Kinder während einer Phase des Projekts Moonhawk an New Wave zu binden.

Das Wahrzeichen erlosch, ein Menü erschien auf dem Bildschirm. Da es sich um Festspeichergeräte mit unglaublicher Kapazität handelte, waren die Programme bereits eingelesen und funktionstüchtig, wenn das System eingeschaltet wurde. Das Menü bot ihm fünf Möglichkeiten:

A. AUSBILDUNG l

B. AUSBILDUNG 2

C. TEXTSYSTEME

D. BUCHFÜHRUNG

E. SONSTIGES

Er zögerte, aber nicht, weil er sich nicht entscheiden konnte, welche Taste er drücken sollte, sondern weil er plötzlich Angst davor hatte, die Maschine zu benützen. Er erinnerte sich zu deutlich an die Coltranes. Er glaubte zwar, daß sie sich freiwillig entschieden hatten, mit ihren Computern zu verschmelzen, daß ihre Verwandlung in ihnen selbst begann, aber er konnte nicht mit Sicherheit wissen, ob es nicht anders herum gewesen war. Vielleicht hatten die Computer irgendwie sie gepackt. Das schien unmöglich. Außerdem wußten sie durch Harrys Beobachtungen, daß die Menschen in Moonlight Cove durch Injektionen verwandelt wurden, nicht durch eine schleichende Macht, die durch halb magische Weise durch Computertastaturen in ihre Fingerspitzen überging. Trotzdem zögerte er.

Schließlich drückte er E und bekam eine Liste mit Schul-themen:

A. ALLE SPRACHEN

B. MATHE

C. NATURWISSENSCHAFTEN

D. GESCHICHTE

E. ENGLISCH

F. SONSTIGES

Er drückte F. Ein drittes Menü erschien, dieser Vorgang wurde fortgesetzt, bis er schließlich ein Menü bekam, auf dem als letzte Wahlmöglichkeit NEW WA VE stand. Als er diese Möglichkeit getippt hatte, flimmerten Worte über den Bildschirm.

HALLO STUDENT.

DU HAST JETZT VERBINDUNG MIT DEM SUPERCOMPUTER VON NEW WA VE MIKROTECHNOLOGIE. MEIN NAME IST SONNE.

ICH STEHE DIR ZU DIENSTEN.

Die Schulcomputer waren direkt mit New Wave verbunden. Modems waren überflüssig.

MÖCHTEST DU GERNE MENUES SEHEN?

ODER MÖCHTEST DU DEIN SPEZIELLES INTERESSE NENNEN?

Da er an die Vielzahl von Menüs allein im System der Polizei dachte, das er gestern nacht im Streifenwagen gesehen hatte, stellte er sich vor, daß er die ganze Nacht hier sitzen und ein Menü nach dem anderen abrufen konnte, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er tippte: POLIZEIREVIER MOONLIGHT COVE.

DIESE DATEI IST VERTRAULICH.

BITTE VERSUCHE NICHT, SIE ANZUWÄHLEN, OHNE DEINEN LEHRER UM RAT ZU FRAGEN.

Er vermutete, daß die Lehrer bestimmte Kodenummern hatten, die ihnen, je nachdem, ob sie verwandelt waren oder nicht, Zugang zu ansonsten vertraulichen Daten verschaffen konnten. Er konnte nur einen solchen Kode herausfinden, wenn er wahllos Ziffernfolgen eingab, aber da er nicht einmal wußte, aus wievielen Zahlen ein Kode bestand, hatte er Millionen, wenn nicht Milliarden Möglichkeiten. Er konnte hier sitzen, bis sein Haar weiß wurde und ihm die Zähne ausfielen, ohne eine richtige Zahl zu finden.

Letzte Nacht hatte er den persönlichen Zugangskode von Reese Dorn benützt, und e fragte sich jetzt, ob der nur bei einer speziellen Polizeimaschine funktionierte oder ob jeder mit Sonne verbundene Computer sie akzeptieren würde. Ein Versuch konnte nicht schaden. Er tippte: 262699.

Der Bildschirm wurde leer. Dann: HALLO, OFFICER DORN.

Er bat wieder um das Datensystem des Polizeireviers. Diesesmal bekam er es.

BITTE WÄHLEN.

A. FUNKER

B. ZENTRALE DATENBANK

C. ANZEIGENTAFEL

D. AUSSENSYSTEM-MODEM

Er drückte D.

Er bekam die Liste der nationalen Computer, über die er sich mit dem Modem der Polizei in Verbindung setzen konnte.

Plötzlich waren seine Hände schweißfeucht. Er war sicher, daß etwas schiefgehen würde, und sei es nur, weil bisher nichts einfach gewesen war, seit der Minute nicht, als er in die Stadt gefahren war.

Er sah zu Tessa. »Alles in Ordnung?«

Sie blinzelte in den dunklen Flur und sagte: »Scheint so. Schon Erfolg gehabt?«

»Ja... vielleicht.« Er wandte sich wieder zum Computer und sagte leise: »Bitte...«

Er überflog die lange Liste möglicher Verbindungen nach draußen. Er fand FBI KEY, was die Bezeichnung für das jüngste und komplexeste Computernetz des FBI war - ein streng gesichertes internes Datenspeicher-, Abruf- und Übertragungssystem im Hauptquartier in Washington, das erst im Lauf des letzten Jahres installiert worden war. Angeblich konnten nur ausgewählte Mitarbeiter im Hauptquartier und in den Zweigstellen des Bureau mit eigenen Spezialkodes FBI KEY benützen.

Soviel zur strengen Geheimhaltung.

Sam rechnete immer noch mit Ärger, als er FBI KEY wählte. Das Menü verschwand. Der Bildschirm blieb einen Augenblick leer. Dann erschien auf dem Display, der sich als Farbmonitor erwies, das FBI-Abzeichen in blau und gold. Darunter stand das Wort KEY.

Als nächstes wurden eine Reihe Fragen über den Bildschirm gejagt: - WIE LAUTET IHRE BUREAU-KENNZAHL? NAME? GEBURTSDATUM? DATUM DES EINTRITTS INS FBI? MÄDCHENNAME

DER MUTTER? - als er die beantwortet hatte, bekam er Zugang.

»Bingo!« sagte er und wagte, optimistisch zu sein.

Tessa sagte: »Was ist passiert?«

»Ich bin im Hauptsystem des Bureau in D.C.«

»Sie sind ein Hacker«, sagte Tessa.

»Ich bin ein Tolpatsch. Aber ich bin drin.«

»Was jetzt?« fragte Tessa.

»Ich werde in einer Minute nach dem diensthabenden Funker fragen. Aber vorher möchte ich einen Gruß in jedes verdammte Büro der landes schicken, damit sie alle aufwachen und Notiz von uns nehmen.«

»Grüße?«

Sam rief von dem lagen FBI KEY Menü folgendes ab: G -SOFORTIGE ÜBERTRAGUNG AN ALLE DIENSTSTELLEN. Er wollte seine Nachricht zu jedem Büro des Landes schicken, nicht nur nach Sin Francisco, wo das nächste war, von dem er sich Hilfe versprach. Es bestand eine Chance von eins zu einer Million, daß der nächtliche Diensthabende in San Francisco die Nachricht trotz der EiNSATZ-ALARM-Warnung, die Sam voranstellen wollte, übersehen würde. Wenn das geschähe, wenn jemand in diesem wichtigsten aller Augenblicke schliefe, würde er nicht sehr lange schlafen, weil jede Dienststelle im Land das HQ nach weiteren Informationen über die Meldung aus Moonlight Cove bitten und um eine Erklärung nachsuchen würde, weshalb sie einen Alarm für eine Region außerhalb ihrer Zuständigkeit erhalten hatten.

Er verstand nicht die Hälfte von dem, was in dieser Stadt vor sich ging. Und mit den Kürzeln des FBI hätte er nicht einmal das erklären können, was er verstand. Aber er formu -lierte rasch eine Zusammenfassung, die seiner Meinung nach so genau wie möglich war - und die sie aus den Sitzen reißen und zum Handeln bringen würde.

EINSATZALARM

MOONLIGHT COVE, KALIFORNIEN

* HUNDERTE TOT. UMSTÄNDE VERSCHLIMMERN SICH ZUNEHMEND. HUNDERTE KÖNNTEN IN DEN NÄCHSTEN STUNDEN ZU SÄTZLICH STERBEN.

* NEW WAVE MIKROTECHNOLOGIE IN ILLEGALE EXPERIMENTE AN MENSCHEN VERSTRICKT - OHNE DEREN WISSEN. VERSCHWÖRUNG GRÖSSTEN AUSMASSES.

* TAUSENDE MENSCHEN KONTAMINIERT .

* WIEDERHOLE: GESAMTE STADTBEVÖLKERUNG

KONTAMINIERT .

* SITUATION EXTREM GEFÄHRLICH.

* KONTAMINIERTE EINWOHNER ZEIGEN VERLUST IHRER FÄHIGKEITEN. ZEIGEN NEIGUNG zu ANWENDUNG EXTREMER GEWALT.

* WIEDERHOLE: EXTREMER GEWALT.

* ERBITTE SOFORTIGE QUARANTÄNE DURCH SPEZIALEINHEITEN DER ARMEE. ERBITTE AUSSERDEM SOFORTIGE MASSIVE BEWAFFNETE UNTERSTÜTZUNG DURCH BUREAU-PERSONAL.

Er nannte seinen Aufenthaltsort in der High-School an der Roshmore, damit die eintreffende Unterstützung einen Anhaltspunkt hatte, wo sie nach ihm suchen konnten, obwohl er nicht sicher war, ob er, Tessa und Chrissie hier in Sicherheit Unterschlupf finden könnten, bis Verstärkung einträfe. Er unterschrieb mit seinem Namen und seiner Kennziffer.

Diese Nachricht würde sie nicht auf den Schock über das vorbereiten, was sie in Moonlight Cove finden würden, aber sie würden sich wenigstens in Bewegung setzen und auf alles vorbereitet hier eintreffen.

Er tippte SENDEN, aber dann überlegte er es sich anders und löschte das Wort vom Bildschirm. Er tippte: MEHRMALS SENDEN.

Der Computer fragte: WIE OFT?

Er tippte: 99

Der Computer bestätigte den Befehl.

Dann tippte er wieder SENDEN und drückte die Taste ENTER.

WELCHE BÜROS?

Er tippte: ALLE.

Der Bildschirm wurde blank. Dann: SENDUNG.

In diesem Äugenblick druckte jeder KEY-Laserdrucker in jeder FBI-Dienststelle im ganzen Land die erste von neunundneunzig Wiederholungen seiner Botschaft. Das Nachtpersonal in jedem Büro würde in Kürze die Wände hochklettern.

Er hätte fast vor Entzücken gejauchzt.

Aber es gab noch mehr zu tun. Sie waren noch nicht aus diesem Schlamassel heraus.

Sam kehrte rasch ins KEY-Menu zurück und drückte Taste A - NACHTDIENST. Fünf Sekunden später war er in Verbindung mit dem Agenten, der den Key-Posten des Bureau im zentralen Kommunikationsraum in Washington bemannte. Eine Nummer leuchtete auf dem Bildschirm auf - die Identifikation des Diensthabenden -, gefolgt vom Namen ANNE DENTON. Mit äußerster Befriedigung darüber, daß er High Technology dazu benützte, Thomas Shaddack, New Wave und dem Projekt Moonhawk den Todesstoß zu versetzen, begann Sam eine wortlose Unterhaltung mit Anne Denton, der er die Schrecken von Moonlight Cove detaillierter schildern wollte.

12

Loman interessierte sich zwar nicht mehr für die Aktivitäten der Polizei, dennoch schaltete er etwa alle zehn Minuten den VDT seines Wagens ein, um auf dem laufenden zu bleiben, was vor sich ging. Er rechnete damit, daß sich Shaddack von Zeit zu Zeit mit Angehörigen der Truppe in Verbindung setzen würde. Wenn er das Glück hatte, ein VDT-Gespräch zwischen Shaddack und einem Polizisten mitzubekommen, konnte er aus dem Gesagten vielleicht den Aufenthaltsort des Mistkerls in Erfahrung bringen.

Er ließ den Computer nicht die ganze Zeit eingeschaltet, weil er Angst davor hatte. Er glaubt nicht, daß er ihn anspringen und ihm das Gehirn aussaugen würde oder so etwas, aber ihm war klar, wenn er zu lange damit arbeitete, entwickelte er vielleicht den Wunsch, das zu werden, was Neu Penniworth und Denny geworden waren - so wie es den übermächtigen Wunsch zu degenerieren erweckte, wenn er sich in der Nähe der Regressiven aufhielt.

Er war gerade in der Holliwell Road, zu der ihn seine unablässige Suche geführt hatte, an den Straßenrand gefahren, hatte die Maschine eingeschaltet und wollte den Dialogkanal abrufen um zu sehen, ob jemand sprach, als das Wort ALARM in Großbuchstaben auf dem Bildschirm aufleuchtete. Er zog die Hand von der Tastatur zurück, als hätte etwas danach geschnappt.

Der Computer sagte: SONNE ERBITTET DIALOG.

Sonne? Der Supercomputer von New Wave? Warum sollte er sich ins Datensystem der Polizei einschalten?

Bevor ein anderer Beamter im Hauptquartier oder einem Streifenwagen die Maschine befragen konnte, übernahm Loman und tippte: DIALOG GENEHMIGT.

ERBITTE KLÄRUNG, sagte Sonne.

Loman tippte JA, was bedeuten konnte: NUR zu.

Sonne formte die Fragen nach dem eigenen Selbsteinschätzungsprogramm, das ihr ermöglichte, ihre eigenen Funktionen wie ein Beobachter von außerhalb mitzuverfolgen, und sagte: SIND TELEFONANRUFE AN UND VON NICHT

GENEHMIGTEN

NUMMERN IN MOONLIGHT COVE UND zu ALLEN NUMMERN AUSSERHALB IMMER NOCH VERBOTEN?

JA.

SIND DIE FÜR SONNE RESERVIERTE TELEFONLEITUNGEN IN

DAS OBEN ERWÄHNTE VERBOT MIT EINGESCHLOSSEN? fragte

der Computer von New Wave, der von sich selbst in der dritten Person sprach.

Loman tippte verwirrt: UNKLAR.

Sonne führte ihn geduldig Schritt für Schritt weiter und erklärte, daß sie über eigene Telefonleitungen verfügte, die nicht im Buch verzeichnet waren und über die User andere Computer im ganzen Land anrufen und sich Zugang verschaffen konnten.

Das wußte er bereits, daher tippte er: JA.

SIND DIE FÜR SONNE RESERVIERTE TELEFONLEITUNGEN IN DAS OBEN ERWÄHNTE VERBOT MIT EINGESCHLOSSEN? wiederholte er.

Hätte er Dennys Interesse für Computer geteilt, wäre er vielleicht sofort darauf gekommen, was vor sich ging, aber er war immer noch verwirrt. Daher tippte er WARUM? - was bedeuten sollte: WARUM FRAGST DU?

AUSSENSYSTEM-MODEM DERZEIT IN BENUTZUNG.

DURCH WEN?

SAMUEL BOOKER.

Loman hätte gelacht, hätte er noch Schadenfreude empfinden können. Der Agent hatte eine Methode gefunden, aus Moonlight Cove hinauszukommen, und jetzt würde die Kacke bald am Dampfen sein.

Bevor er Sonne nach Bookers Aktivitäten und seinem Aufenthaltsort fragen konnte, leuchtete ein weiterer Name in der linken oberen Ecke des Bildschirms auf - SHADDACK -, der darauf hindeutete, daß New Waves eigener Moreau den Dialog ebenfalls mit seinem VDT verfolgte und sich jetzt einschaltete. Loman begnügte sich damit, seinen Schöpfer und Sonne, ohne zu unterbrechen, sprechen zu lassen.

Shaddack bat um weitere Einzelheiten.

Sonne antwortete: ZUGANG ZUM SYSTEM FBI KEY.

Loman konnte sich Shaddacks Schock vorstellen. Die Forderung des Herrn der Bestien leuchtete auf dem Bildschirm auf: MÖGLICHKEITEN. Das bedeutete, er wollte von Sonne verzweifelt ein Menü mit Möglichkeiten, wie er mit der Situation fertig werden könnte.

Sonne präsentierte ihm fünf Möglichkeiten, von denen die fünfte UNTERBRECHEN lautete, und Shaddack entschied sich für diese.

Einen Augenblick später meldete Sonne: VERBINDUNG MIT FBI KEY SYSTEM UNTERBROCHEN.

Loman hoffte, daß Booker eine Nachricht hinausbekommen hatte, die Shaddack und Moonhawk den Boden unter den Füßen wegzog.

Auf dem Bildschirm, von Shaddack an Sonne: BOOKERS TERMINAL?

SIE ERBITTEN STANDORT?

JA.

MOONLIGHT COVE CENTRAL SCHOOL, COMPUTERLABOR.

Loman war drei Minuten von der Central entfernt.

Er fragte sich, wie nahe Shaddack an der Schule war. Es war einerlei. Nahe oder fern, Shaddack würde sich den Arsch aufreißen, um dorthin zu gelangen und zu verhindern, daß Booker das Projekt Moonhawk auffliegen ließ -oder um sich zu rächen, falls es bereits geschehen war.

Endlich wußte Loman, wo er seinen Schöpfer finden konnte.

13

Als Sam erst sechs Dialogeinheiten mit Anne Denton in Washington gewechselt hatte, wurde die Verbindung unterbrochen. Der Bildschirm wurde grau.

Er wollte glauben, daß er durch gewöhnliche Probleme in der Leitung unterbrochen war. Aber er wußte, daß das nicht der Fall war.

Er stand so schnell von dem Stuhl auf, daß er ihn umwarf.

Chrissie zuckte erschrocken zusammen, und Tessa sagte: »Was ist denn? Was ist denn los?«

»Sie wissen, daß wir hier sind«, sagte Sam. »Sie kommen.«

14

Harry hörte unten im Haus die Türglocke läuten.

Sein Magen verkrampfte sich. Ihm war zumute, als säße er in einer Achterbahn, die gerade anfuhr.

Es läutete wieder.

Danach folgte längere Stille. Sie wußten, daß er behindert war. Sie würden ihm Zeit lassen zur Tür zu kommen.

Schließlich läutete es wieder.

Er sah auf die Uhr. Erst 7.24 Uhr. Die Tatsache, daß sie ihn nicht ans Ende der Liste gesetzt hatten, tröstete ihn nicht.

Die Glocke läutete nochmals. Dann nochmals. Danach beharrlich.

In der Ferne, durch zwei zwischenliegende Stockwerke gedämpft, fing Moose an zu bellen.

15

Tessa packte Chrissies Hand. Sie hasteten zusammen mit Sam aus dem Computerlabor. Die Batterien der Taschenlampe schienen nicht frisch zu sein, denn der Lichtstrahl wurde immer dunkler. Sie hoffte, er würde lange genug reichen, daß sie den Weg hinaus finden könnten. Plötzlich schien die Architektur der Schule - die unkompliziert gewesen war, als sie es nicht eilig gehabt hatten und es nicht um Leben oder Tod ging - wie ein Labyrinth zu sein.

Sie kamen an eine Kreuzung von vier Fluren, liefen in einen anderen Korridor und waren zwanzig Meter weit gekommen, als Tessa klar wurde, daß sie in die falsche Richtung liefen. »So sind wir nicht hereingekommen.«

»Spielt keine Rolle«, sagte Sam. »Jede Tür ist recht.«

Sie mußten weitere zehn Meter laufen, bevor der trübe Lichtstrahl das Ende des Korridors ausleuchten konnte und zeigte, daß es eine Sackgasse war.

»Hier entlang«, sagte Chrissie, riß sich von Tessa los und lief in die Dunkelheit zurück, aus der sie gekommen waren, so daß sie ihr entweder folgen oder sie gehen lassen mußten.

16

Shaddack dachte sich, daß sie nicht an einer Seite in die Schule eingebrochen sein würden, die zur Straße lag, wo man sie sehen konnte - und der Indianer stimmte zu -, daher fuhr er zur Rückwand. Er fuhr an Metalltüren vorbei, die unüberwindliche Hindernisse gewesen sein dürften, und studierte die Fenster, um eine zerbrochene Scheibe zu entdecken.

Die letzte Tür, die einzige mit Glasscheiben in der oberen Hälfte, befand sich in einem angewinkelten Vorbau des Ge -bäudes. Er fuhr einen Augenblick lang direkt darauf zu, bevor der Weg eine Biegung nach links machte und um den Flügel herumführte, und aus einer Entfernung von nur wenigen Metern wurde seine Aufmerksamkeit auf das fehlende Glas unten rechts gelenkt, da alle anderen Scheiben das Licht der Scheinwerfer reflektierten.

»Da«, sagte er zu Runningdeer.

»Ja, Kleiner Häuptling.«

Er parkte neben der Tür und nahm die geladene halbauto-matische Remington-Schrotflinte Kaliber 12 mit Pistolengriff vom Boden des Lieferwagens hinter sich. Der Karton mit zusätzlicher Munition lag auf dem Beifahrersitz. Er riß ihn auf, schnappte sich vier oder fünf, stieg aus dem Auto aus und schritt zur Tür mit der eingeschlagenen Scheibe.

17

Vier gedämpfte Schläge drangen durch das ganze Haus, sogar auf den Dachboden, und Harry glaubte, weit entfernt Glas splittern zu hören.

Moose bellte wütend. Er hörte sich wie der bösartigste Wachhund an, der jemals gezüchtet worden war, nicht wie sein lieber, schwarzer Labrador. Vielleicht war er trotz seiner sonstigen Gutmütigkeit bereit, Herrn und Haus zu verteidigen.

Tu's nicht, Junge, dachte Harry. Versuch nicht, ein Held zu sein. Kriech einfach irgendwo in eine Ecke und laß sie vorbei, leck ihnen die Hände, wenn sie sie hinhalten, und...

Der Hund jaulte und verstummte.

Nein, dachte Harry, und Kummer erfüllte ihn. Er hatte nicht nur einen Hund verloren, sondern seinen besten Freund.

Auch Moose besaß Pflichtgefühl.

Schweigen senkte sich über das Haus. Wahrscheinlich durchsuchten sie jetzt das Erdgeschoß.

Harrys Kummer und Angst ließen nach, sein Zorn wuchs. Moose. Verdammt, der harmlose Moose. Er spürte, wie sein Gesicht heiß vor Zorn wurde. Er wollte sie alle umbringen.

Er hob mit seiner guten Hand die 38er Pistole auf und hielt sie im Schoß fest. Sie würden ihn noch eine ganze Weile nicht finden, aber er fühlte sich wohler mit der Waffe in der Hand.

In der Armee hatte er Wettbewerbe im Gewehrscharfschießen und im Schießen mit Faustfeuerwaffen gewonnen. Das war schon lange her. Er hatte seit zwanzig Jahren keine Waffe mehr abgefeuert, nicht einmal zur Übung, seit er aus jenem wunderschönen asiatischen Land zurückgekehrt war, wo er an einem Morgen mit außergewöhnlich schönem, blauen Himmel für den Rest seines Lebens zum Krüppel gemacht worden war. Er hielt den 45er und die 38er sauber und geölt, weil es eine Gewohnheit geworden war; die Lektionen und der Drill eines Soldaten wurden fürs Leben gelernt - und jetzt war er froh darum.

Ein Poltern.

Das Summen von Motoren.

Der Fahrstuhl.

18

Als er den halben Weg durch den Korridor zurückgelegt hatte, in der linken Hand die trübe Taschenlampe, in der rechten seinen Revolver, und Chrissie gerade einholte, hörte Sam draußen eine Sirene näher kommen. Sie war nicht lebensgefährlich, aber sie war nahe genug. Er konnte nicht sagen, ob der Streifenwagen sich der Rückseite des Schulgebäudes näherte, wohin sie flohen, oder ob er zum Eingang fuhr.

Chrissie war sich offenbar auch nicht sicher. Sie blieb stehen und sagte: »Wohin, Sam? Wohin?«

Tessa sagte hinter ihnen: »Sam, die Tür!«

Er verstand einen Augenblick nicht, was sie meinte. Dann sah er die Tür am anderen Ende des Flurs aufgehen, etwa dreißig Meter entfernt, dieselbe Tür, durch die sie hereingekommen waren. Ein Mann trat ein. Die Sirene heulte immer noch und kam näher, also war Verstärkung unterwegs, ein ganzes Bataillon. Der Mann, der durch die Tür gekommen war, war lediglich der erste - groß, ungefähr einen Meter neunzig, aber ansonsten nur ein Schatten, der von der Sicherheitsleuchte rechts außerhalb der Tür nur minimal beleuchtet wurde.

Sam feuerte einen Schuß mit seinem 38er ab, ohne festzu-stellen, ob der Mann ein Feind war, denn sie waren alle Feinde, jeder einzelne - ihr Name war Legion -, und er wußte, der Schuß ging fehl. Seine Treffsicherheit wurde von dem verletzten Handgelenk beeinträchtigt, das nach ihren Abenteuern im Tunnel teuflisch schmerzte. Mit dem Rückstoß schössen Schmerzen durch das Gelenk bis zur Schulter hinauf und wieder zurück, Herrgott, die Schmerzen strömten wie Säure durch ihn, von der Schulter bis zu den Fingerspit -zen. Er hätte beinahe die Waffe fallengelassen.

Während das Echo von Sams Schuß noch von den Wänden des Flurs hallte, eröffnete der Bursche am anderen Ende das Feuer mit seiner eigenen Waffe, aber er verfügte über schwere Artillerie. Eine Schrotflinte. Glücklicherweise konnte er nicht damit umgehen. Er zielte zu hoch, weil er offenbar nicht wußte, wie sehr der Rückstoß die Mündung hochreißen würde. Als Folge dessen ging der erste Schuß nur zehn Meter von ihm entfernt in die Decke und riß eine der ausgeschalteten Neonröhren und ein paar schalldämpfende Fliesen herunter. Seine Reaktion bestätigte mangelnde Erfahrung im Umgang mit der Waffe; er glich den Rückstoß zu sehr aus und hielt die Mündung zu weit nach unten, als er zum zweiten Mal abdrückte, daher traf die zweite Ladung den Boden weit vor dem Ziel.

Sam blieb kein müßiger Beobachter der Fehlschüsse. Er packte Chrissie und stieß sie nach links, quer über den Flur in ein dunkles Zimmer, während der zweite Schuß Fetzen aus dem P VC-Boden riß. Tessa war direkt hinter ihnen. Sie schlug die Tür zu und lehnte sich dagegen, als würde sie sich für Superwoman halten und denken, daß alle Kugeln, die durch das Holz drangen, harmlos von ihrem Rücken abprallen würden.

Sam hielt ihr die erbärmlich dunkle Taschenlampe hin. »Ich brauche mit der Handgelenksverletzung beide Hände, um mit der Waffe zu schießen.«

Tessa leuchtete mit dem schwachen gelben Schein in dem Zimmer herum. Sie waren im Raum des Orchesters. Rechts von der Tür stiegen breite Stufen mit Stühlen und Notenständern bis zur Rückwand empor. Links befand sich ein großer Freiraum und das Podium des Dirigenten, ein Pult aus hellem Holz und Metall. Und zwei Türen. Beide standen offen und führten in angrenzende Zimmer.

Chrissie mußte sich nicht bitten lassen, Tessa zur nächstgelegenen der beiden Türen zu folgen, und Sam machte den Schluß, ging rückwärts und behielt die Tür im Auge, durch die sie gekommen waren.

Die Sirene draußen war verstummt. Jetzt würden sie es mit mehr als einem Mann mit Schrotflinte zu tun bekommen.

19

Sie hatten die beiden unteren Stockwerke durchsucht. Jetzt waren sie im Schlafzimmer im dritten Stock.

Harry konnte sie reden hören. Ihre Stimmen drangen durch ihre Decke, seinen Fußboden. Aber er konnte nicht verstehen, was sie sagten.

Er hoffte fast, sie würden die Luke im Kleiderschrank sehen und beschließen, hier heraufzukommen. Er wollte eine Chance, ein paar von ihnen wegzupusten. Für Moose. Er war zwanzig Jahre lang Opfer gewesen, und jetzt hatte er es dicke satt; er wollte sie wissen lassen, daß Harry Talbot immer noch ein Mann war, mit dem man rechnen mußte - und daß Moose zwar nur ein Hund war, er aber dennoch ein Leben hatte, das man ihm nicht einfach ohne Folgen nehmen durfte.

20

Loman sah im wabernden Nebel den Streifenwagen, der neben Shaddacks Lieferwagen parkte. Er bremste daneben, als Paul Amberlay gerade ausstieg. Amberlay war hager und sehnig und sehr klug, einer von Lomans besten jungen Beamten, aber jetzt sah er wie ein Schuljunge aus, zu jung für einen Polizisten - und ängstlich.

Als Loman aus dem Auto ausstieg, kam der sichtlich zitternde Amberlay mit der Waffe in der Hand auf ihn zu. »Nur Sie und ich? Wo, zum Teufel, sind alle anderen? Dies ist ein Generalalarm.«

»Wo die anderen sind?« fragte Loman. »Hören Sie, Paul. Hören Sie doch.«

Überall in der Stadt wurden Dutzende wilder Stimmen laut, die ein unheimliches Lied sangen und entweder einander zuheulten oder den unsichtbaren Mond herausforderten, der über den ausgewrungenen Wolken schwebte.

Loman ging zum Heck des Streifenwagens und machte den Kofferraum auf. Sein Wagen war, wie alle anderen, mit einer Flinte Kaliber 20 ausgerüstet, für die er im friedlichen Moonlight Cove noch nie Verwendung gehabt hatte. Aber New Wave, das die Polizei großzügig ausgerüstet hatte, knauserte nicht mit Material, auch wenn es als unnötig erachtet wurde. Er zog die Schrotflinte aus der Halterung an der Rückwand des Kofferraums.

Amberlay kam zu ihm und sagte: »Wollen Sie mir sagen, sie seien regressiv geworden, die ganze Truppe, außer Ihnen und mir?«

»Hören Sie doch«, wiederholte Loman, während er die Schrotflinte an die Stoßstange lehnte.

»Aber das ist Wahnsinn!« beharrte Amberlay. »Mein Gott, Sie meinen doch nicht, daß die ganze Sache zusammenbricht, die ganze verdammte Sache?«

Loman ergriff einen Karton Patronen, der sich in der rechten Reifenwölbung des Kofferraums befand, und riß den Deckel auf. »Spüren Sie nicht auch das Verlangen, Paul?«

»Nein!« sagte Amberlay zu schnell. »Nein, ich spüre es nicht, ich spüre überhaupt nichts.«

»Ich spüre es«, sagte Loman und schob fünf Schuß in die Flinte - einen in die Kammer, vier ins Magazin. »Oh, Paul, ich spüre es eindeutig. Ich will mir die Kleidung vom Leib reißen und mich verwandeln, verwandeln, und einfach laufen, frei sein, mich ihnen anschließen, jagen und töten und mit ihnen laufen.«

»Ich nicht, nein, niemals«, sagte Amberlay.

»Lügner«, sagte Loman. Er riß die geladene Waffe hoch, drückte auf Amberlay ab und pustete ihm den Kopf weg.

Er hätte dem jungen Beamten nicht trauen können, hätte ihm nicht den Rücken zuwenden können, nicht während der Drang, regressiv zu werden, so stark in ihm war und die Stimmen der Nacht ihren Sirenengesang anstimmten.

Während er weitere Munition in die Taschen steckte, hörte er, wie im Schulgebäude eine Schrotflinte abgefeuert wurde.

Er fragte sich, ob das Gewehr sich in den Händen von Shaddack oder Booker befand. Er bemühte sich, sein rasendes Entsetzen zu kontrollieren und den teuflischen und übermächtigen Drang zu bekämpfen, seine menschliche Gestalt aufzugeben. Loman ging hinein, um es herauszufinden.

21

Tommy Shaddack hörte eine andere Schrotflinte, aber er dachte nicht weiter darüber nach, denn schließlich waren sie jetzt im Krieg. Man konnte hören, was für ein Krieg es war, wenn man einfach in die Nacht hinaustrat und den Schreien der Kämpfenden lauschte, die von den Bergen zum Meer herunterhallten. Er war versessen darauf, Booker, die Frau und das Mädchen zu erwischen, die er im Flur gesehen hatte, denn er wußte, die Frau mußte das Flittchen Lockland und das Mädchen mußte Chrissie Fester sein, obwohl er sich nicht erklären konnte, wie sie zusammengefunden hatten.

Krieg. Also machte er es so, wie er es die Soldaten in den guten Filmen tun gesehen hatte, er kickte Türen auf und feuerte eine Salve in das Zimmer, bevor er eintrat. Niemand schrie. Er dachte sich, daß er keinen getroffen hatte, also feuerte er noch einmal, und als immer noch niemand schrie, da dachte er sich, daß sie fort sein mußten. Er trat über die Schwelle, tastete nach dem Lichtschalter, fand ihn und stellte fest, daß er im leeren Übungsraum des Orchesters war.

Sie waren offenbar durch eine der beiden Türen gegenüber geflohen, und als er das sah, wurde er wütend, wirklich wütend. Er hatte nur einmal in seinem Leben eine Waffe abgefeuert, in Phoenix, als der den Indianer mit dem Revolver seines Vaters erschossen hatte, und das war aus nächster Nähe gewesen, so daß er überhaupt nicht verfehlen konnte. Trotzdem hatte er erwartet, er würde gut mit dem Gewehr sein. Herrgott, immerhin hatte er eine Menge Kriegsfilme, Western und Detektivserien im Fernsehen gesehen, und da sah es nicht schwierig aus, überhaupt nicht schwierig, man zielte einfach nur und drückte ab. Aber es war doch nicht so einfach gewesen, und Tommy war erbost, wütend, denn sie sollten im Kino oder in der Glotze nicht so tun, als wäre es ganz einfach, wenn einem die Waffe in den Händen zuckte, als wäre sie ein Lebewesen.

Jetzt wußte er es besser, und er würde gewappnet sein, wenn er schoß, würde die Beine spreizen und sich abstützen, damit seine Schüsse nicht mehr Löcher in die Decke ris -sen oder in den Fußboden gingen. Wenn er sie das nächste Mal sähe, würde er sie abknallen, und es würde ihnen leid tun, daß er sie hatte verfolgen müssen, daß sie sich nicht einfach hingelegt hatten und tot gewesen waren, als er gewollt hatte, daß sie tot waren.

22

Die Tür aus dem Übungsraum führte auf einen Flur mit zehn schalldichten Zimmern, wo Musikstudenten stundenlang üben konnten, ohne jemanden zu stören. Am Ende dieses schmalen Flurs drängte Tessa durch eine weitere Tür und sah mit der Taschenlampe gerade, daß sie sich in einem Raum befanden, der genau so groß wie der Übungsraum der Orchester war. Auch hier stiegen Stufen bis zur Rück-wand empor. Ein von einem Schüler gemaltes Schild an der Wand, auf dem geflügelte Engel sangen, verkündete, daß dies der Übungsraum des besten Chors der Welt war.

Als Chrissie und Sam ihr in das Zimmer folgten, knallte in der Ferne eine Schrotflinte. Es hörte sich an, als wäre es draußen. Doch noch während die Tür zum Flur zuschlug, ertönte ein zweiter Schuß, viel näher als der erste, wahrscheinlich an der Tür zum Übungsraum. Dann ein zweiter Schuß an derselben Stelle.

Aus dem Chorzimmer führten, wie aus dem Übungsraum ebenfalls zwei Türen hinaus, aber die erste, die sie aufrissen, erwies sich als Sackgasse; sie führte ins Büro des Chordirigenten.

Sie rannten zum anderen Ausgang, hinter dem sie einen Flur fanden, der nur von einem rund um die Uhr eingeschalteten roten Warnlicht erhellt wurde - TREPPE -, das sich unmittelbar rechts von ihnen befand. Nicht AUSGANG, nur TREPPE, was bedeutete, dies war eine interne Treppe ohne Zugang nach draußen. »Nehmen Sie sie mit hoch«, drängte Sam Tessa.

»Aber... «

»Hinauf! Sie werden wahrscheinlich sowieso durch jeden Eingang ins Erdgeschoß vordringen.«

»Was haben Sie...«

»Ich werde mich hier verbarrikadieren«, sagte er.

Eine Tür wurde auf getreten, ein Schuß ertönte im Chorzimmer.

»Gehen Sie!« flüsterte Sam.

23

Harry hörte, wie unten im Schlafzimmer die Schranktür aufgemacht wurde.

Auf dem Dachboden war es kalt, aber er schwitzte wie in der Sauna. Vielleicht hätte er den zweiten Pullover gar nicht gebraucht.

>Geht weg<, dachte er. >Geht weg.<

Dann dachte er: > Verdammt, nein, kommt schon, kommt schon und holt es euch. Glaubt ihr, ich will ewig leben?<

24

Sam ging im Flur, der ans Chorzimmer angrenzte, auf ein Knie hinunter, eine stabile Haltung, um sein verletztes rechtes Handgelenk auszugleichen. Er hielt die Schwingtür zehn Zentimeter auf und hatte beide Arme durch die Luke gesteckt, in der rechten Hand hielt er den 38er, mit der linken umklammerte er das rechte Handgelenk.

Er konnte den Mann auf der anderen Seite des Zimmers sehen, da sich seine Silhouette gegen das Licht aus dem Flur zum Übungsraum hinter ihm abzeichnete. Groß. Konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber etwas an ihm kam ihm bekannt vor.

Der Schütze sah Sam nicht. Er war nur vorsichtig und feuerte einen Schuß ab, bevor er eintrat. Er drückte ab. In dem stillen Zimmer klang das Klicken laut. Er pumpte die Schrotflinte. Klick-klack. Keine Munition mehr.

Das änderte Sams Pläne. Er sprang auf die Beine und durch die Schwingtür, zurück ins Chorzimmer, weil er nicht mehr warten konnte, bis der Mann das Licht einschaltete oder weiter über die Schwelle trat, denn jetzt war der Zeitpunkt gekommen, ihn aus dem Weg zu schaffen, bevor er neu laden konnte. Sam feuerte im Laufen und verschoß die vier verbleibenden Patronen in dem 38er, und er gab sich beste Mühe, aus jedem Schuß einen Treffer zu machen. Beim zweiten oder dritten Schuß schrie der Mann unter der Tür, Herrgott, er quietschte wie ein Junge, mit hoher und quengelnder Stimme, während er sich n den Flur des Übungsraums warf, wo er nicht mehr zu sehen war.

Sam blieb in Bewegung, kramte mit der linken Hand in der Tasche und ergriff Ersatzpatronen, während er mit der rechten Hand die Trommel des Revolvers aufklappte und die verbrauchten Messinghüllen herausschüttelte. Als er die geschlossene Tür zu dem schmalen Flur erreichte, der das Chorzimmer mit dem Übungsraum verband, die Tür, durch die der große Mann verschwunden war, preßte er den Rük-ken an die Wand, stopfte frische Patronen in die Smith & Wesson und klappte den Zylinder zu.

Er trat die Tür auf und sah in den Flur, wo die Deckenbeleuchtung eingeschaltet war.

Er war verlassen.

Kein Blut auf dem Boden.

Verdammt. Seine rechte Hand war fast gefühllos. Er konnte spüren, wie das Gelenk unter dem Verband anschwoll, der wieder mit frischem Blut vollgesogen war. Wenn seine Treffsicherheit sich weiter so drastisch verschlechterte, würde er vor den Dreckskerl hintreten und ihn bitten müssen, die Mündung in den Mund zu nehmen, damit er traf.

Die Türen zu den zehn Zimmern, fünf an jeder Seite, waren geschlossen. Die Tür am anderen Ende des Flurs, wo dieser in den Übungssaal des Orchesters mündete, stand offen, dort war auch das Licht eingeschaltet worden. Der große Bursche konnte dort oder in einem der zehn schalldichten Zimmer sein. Aber wo immer er war, er hatte inzwischen wahrscheinlich mindestens ein paar Schuß nachgeladen, daher war der Augenblick, ihn zu verfolgen, verstrichen.

Sam wich zurück und ließ die Tür zwischen Flur und Chorzimmer zufallen. Während er sie losließ und sie zurückschwang, konnte er den großen Mann sehen, der durch die Tür des Übungsraums trat, die etwa vierzig Schritt entfernt war.

Es war Shaddack selbst.

Die Schrotflinte dröhnte.

Die schalldichte Tür, die im entscheidenden Augenblick zufiel, reichte aus, die Schrotkugeln anzufangen.

Sam wirbelte herum und lief durch das Chorzimmer, in den Flur und die Treppe hinauf, wohin er Tessa und Chris -sie geschickt hatte.

Als er die oberste Stufe erreicht hatte, fand er sie dort, sie warteten auf ihn im oberen Flur, im sanften roten Leuchten eines weiteren Schildes TREPPE.

Unten betrat Shaddack das Treppenhaus.

Sam drehte sich herum, trat wieder auf den Treppenabsatz und ging die erste Stufe hinunter. Er beugte sich über das Geländer, sah nach unten, erblickte einen Teil seines Verfolgers und feuerte zwei Schuß ab.

Shaddack quengelte wieder wie ein Junge. Er preßte sich gegen die Wand, weg vom offenen Zentrum der Treppe, wo er nicht gesehen werden konnte.

Sam wußte nicht, ob er getroffen hatte oder nicht. Vielleicht. Er wußte aber, daß Shaddack nicht tödlich getroffen war, denn er kam immer noch herauf, Schritt für Schritt, dicht an der Außenwand. Und wenn der Dreckskerl den obersten Treppenabsatz erreicht haben würde, würde er sich blitzschnell herumwerfen und die Schrotflinte auf alle abfeuern, die sich oben versteckt hatten.

Sam wich lautlos vom Treppenansatz zurück und wieder auf den oberen Flur. Das scharlachrote Licht des Schildes TREPPE fiel auf die Gesichter von Chrissie und Tessa... eine Illusion von Blut.

25

Ein Klicken. Ein schabendes Geräusch.

Klick-schab. Klick-schab.

Harry wußte, was er hörte. Kleiderbügel, die auf einer Metallstange verschoben wurden.

Woher wußten sie es? Verdammt, vielleicht hatten sie ihn hier oben gerochen. Schließlich schwitzte er wie ein Pferd. Vielleicht hatte die Verwandlung ihre Sinneswahrnehmungen verbessert.

Das Klicken und Schaben hörte auf.

Einen Augenblick später hörte er, wie sie die Stange aus ihrer Halterung nahmen, damit sie die Klappe herunterzie -hen konnten.

26

Die trübe Taschenlampe ging ganz aus, und Tessa mußte sie schütteln, so daß die Batterien aneinanderstießen, um noch ein paar Sekunden schwaches und flackerndes Licht aus ihr herauszuholen.

Sie waren aus dem Flur in ein Chemielabor mit Labortischen mit schwarzen Marmorplatten und Metallspülbecken und hohen Holzstühlen getreten. Kein Versteck.

Sie sahen aus den Fenstern, ob vielleicht ein Dach direkt darunter verlief. Nein. Zwei Stockwerke hinunter bis zu einem Betonweg.

Am anderen Ende des Chemielabors befand sich eine Tür, durch die sie in ein drei mal drei Meter messendes Vorrats -kämmerchen kamen, in dem Chemikalien in Dosen und Flaschen standen, auf manchen Etiketten befanden sich ein Totenschädel und überkreuzte Knochen, auf anderen stand mit grellroten Buchstaben GEFÄHRLICH. Sie vermutete, es gab Mittel und Wege, aus diesen Chemikalien eine Waffe zu basteln, aber sie hatten keine Zeit, die Inhalte zu erforschen und nach interessanten Stoffen zu suchen, die man zu einer Waffe zusammenbasteln konnte. Außerdem war sie in Naturwissenschaften nie besonders gut gewesen, konnte sich kaum noch an den Chemieunterricht erinnern und hätte sich wahrscheinlich mit der ersten Flasche, die sie aufmachte, selbst in die Luft gesprengt. Sie konnte Sams Gesichtsausdruck entnehmen, daß er ebensowenig Hoffnung sah wie sie.

Eine zweite Tür in der Vorratskammer führte in ein zweites Labor, das für den Biologieunterricht eingerichtet zu sein schien. Anatomiekarten hingen an den Wänden. Der Raum bot ebenso wenig ein Versteck wie der andere.

Tessa hielt Chrissie dicht an ihre Seite gedrückt, sah Sam an und flüsterte: »Was jetzt? Hier warten und hoffen, daß er uns nicht findet... oder in Bewegung bleiben?«

»Ich glaube, er ist sicherer, wenn wir in Bewegung bleiben«, sagte Sam. »Wenn wir warten, können sie uns leichter umzingeln.«

Sie nickte zustimmend.

Er ging an ihr und Chrissie vorbei und zwischen den Laborbänken durch zum Flur.

Hinter ihnen, entweder im dunklen Lagerraum oder dem unbeleuchteten Chemielabor dahinter, ertönte ein leises, aber deutliches Klick.

Sam blieb stehen, winkte Tessa und Chrissie weiter und drehte sich dann zum Zugang der Vorratskammer um.

Tessa ging mit Chrissie zur Flurtür, drehte den Knopf leise und langsam herum und machte die Tür auf.

Shaddack trat aus der Dunkelheit des Flurs ins düstere und flackernde Licht ihrer Taschenlampe und drückte ihr den Lauf der Schrotflinte in den Magen. »Jetzt wird es euch leid tun«, sagte er aufgeregt.

27

Sie zogen die Falltür herunter. Licht fiel aus dem Kleiderschrank herauf und auf die Dachbalken, aber es erhellte nicht die Ecke, in der Harry mit seinen nutzlosen Beinen saß.

Er hatte die gelähmte Hand im Schoß liegen, während er mit der guten fest die Pistole umklammerte.

Sein Herz schlug schneller und heftiger als seit zwanzig Jahren, seit den Schlachtfeldern von Südostasien. Sein Magen kreiste. Sein Hals war so zugeschnürt, daß er kaum atmen konnte. Er war benommen vor Angst. Aber, Gott im Himmel, er fühlte sich eindeutig lebendig.

Sie zogen mit einem Quietschen und Poltern die Leiter herunter.

28

Tommy Shaddack schob ihr den Lauf in den Bauch und hätte ihr beinahe die Eingeweide herausgepustet, hätte sie beinahe vergeudet, bevor ihm klar wurde, wie schön sie war, und dann wollte er sie nicht mehr umbringen, jedenfalls nicht gleich, nicht bevor er sie gezwungen hatte, etwas mit ihm zu machen, etwas für ihn zu machen. Sie mußte tun, was immer er wollte, alles, was er ihr sagte, oder er konnte sie einfach an die Wand ballern, ja, sie gehörte ihm, und das sollte sie besser einsehen, sonst würde es ihr leid tun, er würde dafür sorgen, daß es ihr leid tun würde.

Dann sah er das Mädchen neben ihr, ein hübsches kleines Mädchen, erst zehn oder zwölf, und sie erregte ihn noch mehr. Er konnte sie zuerst haben, und dann die ältere, konnte mit ihnen machen, was er wollte, konnte sie zwingen, et' was zu machen, alles Mögliche, und dann konnte er ihnen wehtun, das war sein Recht, sie konnten es ihm nicht verweigern, nicht ihm, weil er jetzt alle Macht in Händen hielt, er hatte den Mondfalken dreimal gesehen.

Er trat durch die offene Tür ins Zimmer, ohne die Flinte vom Bauch der Frau zu nehmen, und sie wich zurück, um ihm Platz zu machen, und zog das Mädchen mit sich. Booker war hinter ihnen, er sah verblüfft drein. Tommy Shaddack sagte: »Lassen Sie die Waffe fallen und gehen Sie zurück, sonst mache ich Himbeermarmelade aus diesem Flittchen, das schwöre ich, Sie können nicht so schnell reagieren, mich aufzuhalten.«

Booker zögerte.

»Fallenlassen!« beharrte Tommy Shaddack.

Der Agent ließ den Revolver fallen und wich zurück.

Er drückte die Mündung der Remington fest in den Bauch der Frau und zwang sie, sich so weit umzudrehen, daß sie den Lichtschalter erreichen und die Neonbeleuchtung einschalten konnte. Die Schatten verschwanden aus dem Zimmer.

»Also gut, alle zusammen«, sagte Tommy Shaddack. »Setzt euch auf die drei Stühle bei der Laborbank, ja, genau da, und versucht keine Tricks.«

Er wich vor der Frau zurück und zielte mit der Schrotflinte auf sie alle. Sie sahen ängstlich aus, und deshalb mußte er lachen.

Tommy wurde allmählich erregt, richtig erregt, denn er hatte beschlossen, daß er Booker vor der Frau und dem Mädchen umbringen würde, aber nicht schnell und sauber, sondern langsam, der erste Schuß in die Beine, dann sollte er eine Weile auf dem Boden liegen und sich winden, der zweite Schuß in den Bauch, aber nicht aus so geringer Entfernung, daß er ihn sofort auspustete, sondern ihm nur Schmerzen bereitete, und die Frau und das Mädchen mußten es sehen, damit ihnen klar würde, was für einen Gegner sie in Tommy Shaddack hatten, was für einen verdammt harten Burschen, sie sollten dankbar dafür sein, daß sie verschont wurden, so dankbar, daß sie auf die Knie sanken und ihn etwas mit sich machen ließen, was er schon seit dreißig Jahren wollte, sich aber stets versagt hatte; er wollte den Dampf von dreißig Jahren ablassen, gleich hier und jetzt, heute nacht...

29

Draußen ertönte ein unheimliches Heulen, Punkt und Kontrapunkt, das durch Ritzen in den Ziegeln in den Dachboden drang, zuerst solo, dann ein ganzer Chor. Er hörte sich an, als wären die Pforten der Hölle aufgerissen worden, so daß deren Bewohner über Moonlight Cove herfallen konnten.

Harry machte sich Sorgen um Sam, Tessa und Chrissie.

Unten ließ das unsichtbare Verwandlungsteam die Leiter einrasten. Einer kletterte auf den Dachboden herauf.

Harry fragte sich, wie sie aussehen würden. Würden sie gewöhnliche Menschen sein - der alte Doc Fitz mit einer Spritze und ein paar Helfern, die ihn unterstützten? Oder würden sie Schreckgespenster sein? Oder die Maschinenmenschen, von denen Sam berichtet hatte?

Der erste kam durch die offene Luke herauf. Es war Dr. Worthy, der jüngste Arzt der Stadt.

Harry überlegte, ob er ihn noch auf der Leiter erschießen sollte. Aber er hatte seit zwanzig Jahren keine Waffe mehr abgefeuert und wollte seinen knappen Munitionsvorrat nicht vergeuden. Es war besser zu warten, bis er nähergekommen war.

Worthy hatte keine Taschenlampe. Schien auch keine zu brauchen. Er sah direkt in die dunkelste Ecke, wo Harry saß, und sagte: »Woher wußten Sie, daß wir kommen, Harry?«

»Intuition eines Krüppels«, sagte Harry sarkastisch.

In der Mitte des Dachbodens war soviel Platz, daß Worthy aufrecht gehen konnte. Er erhob sich aus seiner kauernden Haltung, als er die niederen Dachbalken bei der Klappe hinter sich gelassen hatte, und als er vier Schritte gemacht hatte, feuerte Harry zweimal auf ihn.

Der erste Schuß ging fehl, aber der zweite traf ihn in die Brust.

Worthy wurde nach hinten geworfen und prallte heftig auf die kahlen Bretter des Dachbodens. Er blieb einen Augenblick zuckend liegen, dann richtete er sich auf, hustete einmal und erhob sich.

Sein zerrissenes weißes Hemd war blutgetränkt. Er hatte einen Treffer abbekommen, und doch hatte er sich innerhalb von Sekunden erholt.

Harry erinnerte sich, wie Sam geschildert hatte, daß auch die Coltranes nicht gestorben waren. Ziel auf den Datenspeicher.

Er zielte auf Worthys Kopf und feuerte noch zweimal, aber auf diese Entfernung - etwas sieben Meter - und in dem Winkel, vom Boden aufwärts, konnte er nicht treffen. Er zögerte, da er nur noch vier Schuß im Magazin der Pistole hatte.

Ein zweiter Mann kam durch die Luke geklettert.

Harry schoß auf ihn und versuchte ihn zurückzudrängen.

Er kam ungerührt weiter herauf.

Drei Schuß in der Pistole.

Dr. Worthy blieb auf Distanz, während er sagte: »Harry, wir sind nicht hier, um Ihnen wehzutun. Ich weiß nicht, wie Sie von dem Projekt gehört haben oder was Sie gehört haben, aber es ist nicht schlecht...«

Er verstummte und neigte den Kopf, als wollte er den nichtmenschlichen Stimmen lauschen, die draußen in der Nacht ertönten. Worthys Gesicht nahm einen seltsam sehnsüchtigen Ausdruck an, den man selbst im schwachen Licht der offenen Luke erkennen konnte.

Er schüttelte sich, blinzelte und erinnerte sich, daß er versucht hatte, sein Elixier einem widerwilligen Kunden zu verkaufen. »Überhaupt nicht schlecht, Harry. Besonders für Sie. Sie werden wieder gehen können, Harry, wie alle anderen auch. Sie werden wieder gesund. Denn nach der Verwandlung werden Sie sich selbst heilen können. Sie werden nicht mehr gelähmt sein.«

»Nein, danke. Nicht um diesen Preis.«

»Welchen Preis, Harry?« fragte Worthy und breitete die Arme aus, Handflächen nach oben. »Sehen Sie mich an. Welchen Preis habe ich bezahlt?«

»Ihre Seele«, sagte Harry.

Ein dritter Mann kam die Leiter herauf.

Der zweite lauschte den hallenden Schreien, die durch die Dachfenster drangen. Er knirschte mit den Zähnen, malmte heftig damit und blinzelte rasch. Er hob die Hände und bedeckte das Gesicht damit, als wäre er plötzlich ängstlich geworden.

Worthy entging der Zustand seines Begleiters nicht. »Vanner, ist alles in Ordnung?«

Vanners Hände... veränderten sich. Die Handgelenke schwollen an und wurden knotig und knochig, die Finger wurden länger, und das alles innerhalb von Sekunden. Als er die Hände vom Gesicht nahm, wuchs sein Kiefer nach vorne wie der eines Werwolfs während der Verwandlung. Die Nähte seines Hemdes rissen auf, als sich der Körper neu formierte. Er fauchte, Zähne blitzten.

»...brauche«, sagte Vanner, »...brauche, brauche, will, brauche... «

»Nein!« brüllte Worthy.

Der dritte Mann, der gerade durch die Luke gekommen war, rollte auf den Dachboden und verwandelte sich dabei in eine vage insektenhafte, aber durch und durch abstoßende Gestalt.

Bevor er wußte, was er tat, feuerte Harry die Pistole auf das Insektending leer, warf sie weg, nahm den Revolver vom Dielenboden neben sich und feuerte auch damit dreimal, wobei er einmal offenbar das Gehirn des Dings traf. Er trat aus, zuckte, fiel die Luke hinunter und unternahm keinen Versuch mehr, nach oben zu kommen.

Vanner hatte eine vollständige wölfische Verwandlung hinter sich und schien sich nach etwas neu geschaffen zu haben, das er im Kino gesehen hatte, denn er kam Harry bekannt vor, als hätte dieser denselben Film gesehen, obwohl er sich nicht mehr genau daran erinnern konnte. Vanners Schrei antwortete den Kreaturen, deren Schrei draußen durch die Nacht hallten.

Worthy riß verzweifelt an seiner Kleidung, als würde ihr Druck auf der Haut ihn wahnsinnig machen, und verwandelte sich in eine Bestie, die sich deutlich von Vanner und dem dritten Mann unterschied. Eine groteske körperliche Inkarnation seiner eigenen wahnsinnigen Begierden.

Harry hatte nur noch drei Schuß, und er mußte den letzten für sich aufheben.

30

Als er die Prüfung im Tunnel überlebt hatte, hatte Sam sich geschworen, daß er lernen würde, das Scheitern zu akzeptieren, was bisher schön und gut gewesen war, aber jetzt war das Scheitern wieder zu einer denkbaren Möglichkeit geworden.

Er durfte nicht scheitern, weil Chrissie und Tessa auf ihn angewiesen waren. Wenn sich keine andere Möglichkeit ergäbe, würde er Shaddack in dem Augenblick anspringen, bevor dieser bereit war, den Abzug zu drücken.

Es konnte schwierig sein, diesen Augenblick abzuschätzen. Shaddack sah aus und hörte sich an, als wäre er wahnsinnig. So kurzgeschlossen wie sein Verstand schien, konnte er es fertigbringen, mitten während einer dieser schrillen, nervösen, knabenhaften Lachsalven abzudrücken, ohne erkennen zu lassen, daß der Augenblick gekommen war.

»Stehen Sie auf«, sagte er zu Sam.

»Was?«

»Sie haben doch gehört, verdammt, stehen Sie auf. Legen Sie sich da drüben auf den Boden, sonst wird es Ihnen leid tun, ich schwöre es, ich werde dafür sorgen, daß es Ihnen sehr, sehr leid tut.« Er gestikulierte mit der Mündung der Schrotflinte. »Stehen Sie auf und legen Sie sich auf den Boden, aber sofort.«

Das wollte Sam nicht tun, denn er wußte, Shaddack trennte ihn nur deshalb von Tessa und Chrissie, damit er ihn erschießen konnte.

Er zögerte, dann glitt er von dem Stuhl herunter, weil ihm nichts anderes übrigblieb. Er ging zwischen zwei Laborbänken durch auf die freie Stelle, auf die Shaddack gedeutet hatte.

»Runter«, sagte Shaddack. »Ich möchte Sie da unten auf dem Fußboden flehen sehen.«

Sam ließ sich auf ein Knie sinken, glitt mit der Hand ins Jackett, holte die Metallplatte heraus, mit der er das Schloß im Haus der Coltranes aufgemacht hatte und schleuderte es mit einer Drehung des Handgelenks weg, so wie er eine Spielkarte in einen Zylinder geworfen haben würde.

Das Plättchen flog tief durch das Labor in Richtung der Fenster, bis es gegen zwei Stuhlbeine prallte und klirrend an einem Labortisch abprallte.

Der Wahnsinnige ruß die Remington zu dem Geräusch herum.

Sam schnellte mit einem Schrei der Wut und Entschlossenheit hoch und warf sich auf Shaddack.

31

Tessa packte Chrissie und drängte sie von den kämpfenden Männern weg und zur Wand neben der Tür. Dort kauerten sie sich nieder, weil sie hoffte, sie würden außerhalb der Schußlinie sein.

Sam war unter der Schrotflinte, bevor Shaddack sie wieder herumreißen konnte. Er packte den Lauf mit der linken Hand und Shaddacks Handgelenk mit der geschwächten rechten, dann drückte er, brachte ihn aus dem Gleichgewicht und stieß ihn gegen einen anderen Labortisch.

Als Shaddack aufschrie, knurrte Sam zufrieden, als würde er sich in etwas verwandeln, das in der Nacht heulte.

Tessa sah, wie er ein Knie /wischen Shaddacks Beine rammte, fest in den Schritt. Der große Mann kreischte.

»Prima, Sam!« sagte Chrissie zustimmend.

Während Shaddack keuchte und wimmerte und als unwillkürliche Reaktion auf die Schmerzen in seinen Genitalien zusammenklappen wollte, riß ihm Sam die Schrotflinte aus der Hand und trat zurück...

...und ein Mann in Polizeiuniform trat durch die Tür der Chemikalienvorratskammer; auch er hatte eine Schrotflinte. »Nein! Lassen Sie die Waffe fallen! Shaddack gehört mir.«

32

Das Ding, das Vanner gewesen war, näherte sich Harry, knurrte tief im Hals und sabberte gelblichen Speichel. Harry feuerte zweimal und traf beide Male, konnte es aber nicht töten. Die klaffenden Wunden schlössen sich vor seinen Augen wieder.

Noch ein Schuß übrig.

»...brauche, brauche...«

Harry nahm den Lauf des 45er in den Mund, drückte die Mündung gegen den Gaumen und würgte an dem heißen Stahl.

Das teuflische Wolfsding ragte über ihm auf. Der aufgeblähte Kopf war dreimal so groß als er hätte sein sollen und stand in keinem Verhältnis zum Körper. Der größte Teil des Kopfes bestand aus Maul, und das Maul wiederum größtenteils aus Zähnen, aber nicht aus Wolfszähnen, sondern aus den nach innen gekrümmten Zähnen eines Hais. Es hatte Vanner nicht genügt, sich ganz nach nur einem Raubtier der Natur zu gestalten, er wollte sich zu etwas Mörderischerem und Zerstörerischerem machen als alles, was die Natur bis -lang hervorgebracht hatte.

Als Vanner nur noch drei Schritte von ihm entfernt war und sich anschickte zuzubeißen, nahm Harry den Revolver aus dem Mund und sagte: »Verdammt, nein«, und schoß dem verdammten Ding in den Kopf. Es taumelte zurück, kippte um und blieb liegen.

Ziele auf den Datenspeicher.

Ein Hochgefühl überkam Harry, aber es war nur von kurzer Dauer. Worthy hatte seine Verwandlung abgeschlossen und schien durch das Gemetzel in dem Raum und die eskalierenden Schreie, die aus der Außenwelt in den Dachboden drangen, in Raserei versetzt worden zu sein. Er richtete die leuchtenden Augen auf Harry, und in ihnen brannte ein unmenschlicher Hunger.

Keine Munition mehr.

33

Sam stand direkt vor der Waffe des Polizisten und hatte keinen Freiraum zum Manövrieren. Er mußte die Remington fallenlassen, die er Shaddack abgenommen hatte.

»Ich bin auf Ihrer Seite«, wiederholte der Polizist.

»Niemand ist auf unserer Seite«, sagte Sam.

Shaddack rang nach Luft und versuchte, aufrecht zu stehen. Er sah den Polizisten mit unverhohlenem Entsetzen an.

In der kaltblütigsten Weise, die Sam jemals gesehen hatte, ohne die Spur einer Gefühlsregung, nicht einmal Wut, richtete der Polizist seine Schrotflinte Kaliber 20 auf Shaddack, der für niemanden mehr eine Bedrohung war, und feuerte vier Schuß ab. Shaddack flog über zwei Stühle hinweg gegen die Wand, als wäre er von der Faust eines Riesen geschlagen worden.

Der Polizist warf das Gewehr weg und ging rasch zu dem Toten. Er riß den Jogginganzug auf, den Shaddack unter dem Mantel anhatte, und zerrte einen seltsamen Gegenstand von ihm, ein längliches rechteckiges Medaillon, das der Mann an einer Goldkette um den Hals gehabt hatte.

Diesen seltsamen Gegenstand hielt er hoch, während er sagte: »Shaddack ist tot. Sein Herzschlag wird nicht mehr übertragen, daher leitet Sonne jetzt im Augenblick das letzte Programm ein. In etwa einer halben Minute werden wir alle Frieden gefunden haben. Endlich Frieden.«

Zuerst dachte Sam, der Polizist sagte, daß sie alle sterben würden, daß das Ding in seiner Hand sie umbringen würde, daß es eine Bombe oder so etwas war. Er wich rasch zur Tür zurück und sah, daß Tessa offensichtlich dasselbe dachte. Sie hatte Chrissie aus ihrer kauernden Haltung hochgezogen und die Tür aufgemacht.

Aber wenn es eine Bombe gab, dann war es eine kleine, deren Wirkungsradius auf den Polizeibeamten beschränkt blieb. Sein Gesicht verzerrte sich plötzlich. Er sagte zwischen zusammengebissenen Zähnen: »Gott.« Es war kein Ausruf, sondern ein Flehen oder möglicherweise eine unzureichende Beschreibung von etwas, das er gerade gesehen hatte, denn in diesem Augenblick fiel er tot zu Boden, ohne daß Sam eine Ursache dafür hätte sehen können.

34

Als sie zu der Hintertür hinausgingen, durch die sie herein-gekommen waren, stellte Sam als erstes fest, daß die Nacht still geworden war. Die schrillen Schreie der Gestaltverände-rer hallten nicht mehr durch die neblige Stadt.

Der Schlüssel steckte im Zündschloß des Lieferwagens.,

»Sie fahren«, sagte er zu Tessa.

Sein Handgelenk war schlimmer denn je geschwollen. Es pochte so sehr, daß jeder schmerzhafte Pulsschlag durch jede Faser von ihm drang.

Er setzte sich auf den Beifahrersitz.

Chrissie schmiegte sich auf seinen Schoß, und er legte einen Arm um sie. Sie war ungewöhnlich still. Sie war erschöpft und am Rande des Zusammenbruchs, aber Sam wußte, die Ursachen für ihr Schweigen waren tiefgreifender als Müdigkeit.

Tessa schlug die Tür zu und ließ den Motor an. Er mußte ihr nicht sagen, wohin sie fahren sollte.

Auf dem Weg zu Harrys Haus stellten sie fest, daß es auf den Straßen von Leichen geradezu wimmelte, aber nicht von Leichen gewöhnlicher Männer und Frauen, sondern - wie ihre Scheinwerfer ohne jeden Zweifel bestätigten - von Kreaturen aus einem Gemälde von Hieronymus Bosch, verzerrte und phantastische Gestalten. Sie fuhr langsam und manövrierte um sie herum, und ein paarmal mußte sie auf den Gehweg fahren, um einem Rudel auszuweichen, das nebeneinander gestürzt war und offensichtlich von derselben unsichtbaren Kraft gefällt worden war, die auch den Polizisten in der Central getötet hatte.

Shaddack ist tot. Sein Herzschlag wird nicht mehr übertragen, daher leitet Sonne jetzt im Augenblick das letzte Programm ein...

Nach einer Weile vergrub Chrissie das Gesicht an Sams Brust und sah nicht mehr zur Windschutzscheibe hinaus.

Sam sagte sich immer wieder, daß die gestürzten Kreaturen Phantome waren, daß so etwas nicht existieren konnte, sei es durch Anwendung von Technologie oder Zauberei. Er rechnete jedesmal, wenn sie von einem Nebelschleier verdeckt wurden, felsenfest damit, daß sie verschwinden würden, aber wenn sich der Nebel verzog, lagen sie immer noch auf der Straße, dem Gehweg oder auf Rasenflächen.

Von diesen Schrecken und der Häßlichkeit umgeben, konnte er kaum glauben, daß er so närrisch gewesen war, Jahre seines kostbaren Lebens in Düsternis zu verbringen, ohne die Schönheit der Welt zu sehen. Er war ein einmaliger Narr gewesen. Wenn die Dämmerung kam, würde er nie wieder an einer Blume vorübergehen, ohne das Wunder zu bestaunen, das kein Mensch erschaffen konnte.

»Sagen Sie es mir jetzt?« fragte Tessa, als sie noch einen Block von Harrys Rotholzhaus entfernt waren.

»Was?«

»Was Sie gesehen haben. Ihr Sterbeerlebnis. Was haben Sie auf der anderen Seite gesehen, das Ihnen solche Angst gemacht hat?«

Er lachte unsicher. »Ich war ein Idiot.«

»Schon möglich«, sagte sie. »Erzählen Sie es mir und lassen Sie mich urteilen.«

»Nun, ich kann es Ihnen nicht genau beschreiben. Es war mehr begreifen als sehen, mehr eine seelische als eine visuelle Wahrnehmung.«

»Und was haben Sie begriffen.«

»Daß wir von dieser Welt in eine nächste wandern«, sagte er. »Daß wir entweder auf einer anderen Ebene weiterleben, ein Leben nach dem anderen auf einer endlosen Abfolge von Ebenen... oder daß wir reinkarniert wieder auf dieser Ebene landen. Ich bin nicht sicher, was es ist, aber ich spürte es durch und durch, wußte es, als ich das Ende des Tunnels erreicht hatte und das Licht sah, das strahlende Licht.«

Sie sah ihn an. »Und das hat Sie so entsetzt?«

»Ja.«

»Daß wir wieder leben?«

»Ja. Weil ich das Leben so trostlos fand, verstehen Sie, als eine Folge von Tragödien, von Leid. Ich hatte die Fähigkeit verloren, die Schönheit des Lebens zu sehen, die Freude, daher wollte ich nicht sterben und wieder ganz von vorne anfangen müssen, nicht früher als unumgänglich notwendig war. In diesem Leben war ich zumindest hart geworden, abgestumpft gegen das Leid, was mir einen Vorteil gegenüber einem Kind verschaffte, als das ich in einer neuen Inkarnation wieder von vorne hätte anfangen müssen.«

»Also war Ihr vierter Grund weiterzuleben strenggenommen gar nicht die Angst vor dem Sterben«, sagte sie.

»Wohl nicht.«

»Es war die Angst davor, nochmals leben zu müssen.«

»Ja.«

»Und jetzt?«

Er dachte einen Augenblick nach. Chrissie regte sich auf seinem Schoß. Er streichelte ihr feuchtes Haar. Schließlich sagte er: »Jetzt brenne ich förmlich darauf, wieder zu leben.«

35

Harry hörte Geräusche unten - den Fahrstuhl, dann jemanden im Schlafzimmer im dritten Stock. Er verkrampfte sich, weil er dachte, zwei Wunder waren eines mehr als er hoffen durfte, aber dann hörte er, wie Sam vom Fuß der Leiter herauf rief.

»Hier, Sam! In Sicherheit! Alles in Ordnung!«

Einen Augenblick später kam Sam auf den Dachboden.

»Tessa? Chrissie?« fragte Harry ängstlich.

»Sie sind unten. Ihnen geht es gut.«

»Gott sei Dank.« Harry stieß einen Stoßseufzer aus, als hätte er stundenlang den Atem angehalten. »Sehen Sie sich diese Monster an, Sam.«

»Lieber nicht.«

»Vielleicht hatte Chrissie doch Echt mit ihren außerirdischen Invasoren.«

»Etwas viel Seltsameres«, sagte Sam.

»Was?« sagte Harry, während Sam neben ihm niederkniete und vorsichtig Worthys Leichnam von seinen Beinen stieß.

»Wenn ich es nur wüßte«, sagte Sam. »Aber ich bin nicht sicher, ob ich es überhaupt wissen möchte.«

»Wir kommen in ein Zeitalter, in dem wir unsere eigene Realität erschaffen können, nicht? Die Wissenschaft verleiht uns diese Fähigkeit Stück für Stück. Früher konnten das nur Wahnsinnige.«

Sam sagte nichts.

Harry sagte: »Vielleicht ist es nicht klug, wenn wir unsere eigene Wirklichkeit erschaffen. Vielleicht ist die natürliche Ordnung die beste.«

»Vielleicht. Andererseits, der natürlichen Ordnung könnte hier und da etwas Vervollkommnung nicht schaden. Ich schätze, wir müssen es versuchen. Wir können nur zu Gott beten, daß die Menschen, die das machen, nicht wie Shad-dack sind. Alles in Ordnung, Harry?«

»Ziemlich, danke.« Er lächelte. »Davon abgesehen natürlich, daß ich immer noch ein Krüppel bin. Sehen Sie dieses Monstrum, das Worthy war? Er hatte sich über mich gebeugt, um mir den Hals durchzubeißen, ich hatte keine Kugeln mehr, er hatte die Klauen an meinem Hals, und dann fiel er einfach tot um. Peng. Ist das ein Wunder, oder was?«

»Das Wunder fand überall in dsr Stadt statt«, sagte Sam. »Sie scheinen alle gestorben zu sein, als Shaddack gestorben ist... irgendwie verbunden. Kommen Sie, schaffen wir Sie fort von diesem Schlamassel.«

»Sie haben Moose getötet, Sam.«

»Den Teufel haben sie. Was meinen Sie, mit wem Tessa und Chrissie da unten herumalbern?«

Harry war verblüfft. »Aber ich habe doch gehört...«

»Sieht so aus, als hätte ihm jemand gegen den Kopf getreten. Er hatte eine blutige Aufschürfung seitlich am Kopf. Vielleicht war er sogar bewußtlos, aber er scheint keine Gehirnerschütterung zu haben.«

36

Chrissie fuhr hinten auf dem Lieferwagen mit Harry und Moose, Harry hatte den guten Arm um sie gelegt und Moose den Kopf in ihrem Schoß. Sie fühlte sich ganz allmählich besser. Sie war nicht sie selbst, nein, und sie würde sich vielleicht nie wieder so wie früher fühlen, aber es ging ihr besser.

Sie gingen zum Park am Kopf der Ocean Avenue, am Ostende der Stadt. Tessa fuhr auf den Bordstein, wodurch sie durcheinander geschüttelt wurden, und parkte auf dem Rasen.

Sam machte die Hecktüren des Lieferwagens auf, damit Chrissie und Harry unter ihren Decken sitzen und ihm und Tessa bei der Arbeit zusehen konnten.

Sam war tapferer als es Chrissie gewesen wäre, er ging zu den umliegenden Wohngebieten, stieg über die toten Wesen oder ging um sie herum, und schloß Autos kurz, die an der Straße parkten. Tessa und er fuhren sie eines nach dem anderen in den Park und fuhren sie zu einem großen Kreis, ließen die Motoren laufen und stellten sie so, daß die Scheinwerfer in die Mitte des Kreises schienen.

Sam hatte gesagt, die Verstärkung würde trotz des Nebels mit Hubschraubern kommen, und der erleuchtete Kreis würde einen geeigneten Landeplatz für sie kennzeichnen. Nachdem zwanzig Autos mit eingeschalteten Scheinwerfern dastanden, war es im Inneren des Kreises so hell wie am Nachmittag.

Chrissie gefiel das Licht.

Noch bevor der Landeplatz fertiggestellt war, tauchten ein paar Menschen auf den Straßen auf, lebende Menschen, die überhaupt nicht unheimlich aussahen, ohne Fangzähne und Stacheln und Krallen, die ganz aufrecht standen - allem Anschein nach vollkommen normal. Natürlich hatte Chrissie gelernt, daß man niemandem dem äußeren Anschein nach trauen durfte, denn im Inneren konnten sie alles Mögliche sein; im hneren konnten sie etwas sein, das sogar die Redakteure des National Enquirer verblüfft haben würde. Nicht einmal bei seinen eigenen Eltern konnte man sicher sein.

Aber daran durfte sie nicht denken.

Sie wagte nicht, daran zu denken, was aus ihren Eltern geworden war. Sie wußte, die geringe Hoffnung auf eine Rettung, die sie noch hatte, war wahrscheinlich eine falsche Hoffnung, aber sie wollte sich trotzdem wenigstens noch eine Weile daran klammern.

Die wenigen Menschen, die auf den Straßen erschienen, näherten sich dem Park, während Tessa und Sam die letzten Autos in den Kreis fuhren. Sie sahen alle benommen aus. Je näher sie kamen, desto unheimlicher wurde Chrissie zumute.

»Die sind in Ordnung«, versicherte Harry ihr und streichelte sie mit seinem guten Arm.

»Wie können Sie da so sicher sein?«

»Man sieht, daß sie eine Scheißangst haben. Huch. Vielleicht sollte ich nicht >Scheißangst< sagen und dir schlimme Worte beibringen.«

»Scheißangst ist in Ordnung«, sagte sie.

Moose winselte und regte sich auf ihrem Schoß. Wahrscheinlich hatte er solche Kopfschmerzen, wie sie nur Karateprofis bekamen, wenn sie Ziegel mit dem Kopf durchgeschlagen hatten.

»Nun«, sagte Harry, »sieh sie dir an - sie haben ziemliche Angst, weshalb sie wahrscheinlich zu uns gehören. Man hat nie gesehen, daß sich die anderen ängstlich gezeigt haben, nicht?«

Sie dachte einen Augenblick darüber nach. »Doch, ich schon. Der Polizist, der Mr. Shaddack in der Schule erschossen hat. Der hatte Angst. In seinen Augen war mehr Angst, viel mehr, als ich jemals bei jemand anderem gesehen habe.«

»Wie dem auch sei, diese Leute sind in Ordnung«, sagte Harry, während die benommenen Passanten auf den Lieferwagen zukamen. »Sie gehören zu denen, deren Verwandlung vor Mitternacht geplant war, zu denen aber niemand mehr gekommen ist. Es müssen noch mehr sein, wahrscheinlich haben sie sich in ihren Häusern verbarrikadiert und trauen sich nicht heraus, denken wahrscheinlich, daß die ganze Welt verrückt geworden ist, oder daß Außerirdische gelandet sind, wie du gedacht hast. Außerdem, wenn diese Menschen zu den Gestaltveränderern gehörten, würden sie nicht so zögernd zu uns kommen. Sie hätten den Hügel gestürmt, wären hier hereingesprungen und hätten unsere Nasen gefressen, und alle anderen Teile, die sie als Delikatessen betrachten mögen.«

Diese Erklärung gefiel ihr, sie mußte sogar ein wenig lächeln und entspannte sich sichtlich.

Aber einen Augenblick später hob Moose den klobigen Kopf von ihrem Schoß, winselte und sprang auf.

Die Leute, die zum Lieferwagen kamen, schrien überrascht und ängstlich auf, und Chrissie hörte Sam sagen: »Was, bei der lodernden Hölle, ist nun los?«

Sie warf die Decken beiseite und kam aus dem hinteren Teil des Lieferwagens nach vorne, um nachzusehen, was vor sich ging.

Harry hinter ihr schien trotz der Versicherungen, die er ihr gerade gemacht hatte, beunruhigt zu sein, denn er sagte: »Was ist das? Was geht da vor?«

Sie war einen Augenblick nicht sicher, was alle aufgeschreckt hatte, aber dann sah sie die Tiere. Sie schwärmten durch den Park - Hunderte Mäuse, ein paar fette Ratten, Katzen jeglicher Rassen, ein halbes Dutzend Hunde und vielleicht ein paar Dutzend Eichhörnchen, die von den Bäumen heruntergeklettert waren. Aus den Straßen, die die Oce-an Avenue kreuzten, kamen weitere Mäuse und Ratten und Katzen gelaufen, die sich zum Hauptstrom gesellten und hastig und wild durcheinander liefen, durch den Park abkürzten und hinüber zur Landstraße eilten. Sie erinnerten sie an etwas, das sie einmal gelesen hatte, und sie mußte nur ein paar Sekunden dastehen und die Flut an sich vorbeiziehen sehen, da fiel es ihr wieder ein: Lemminge. Wenn die Zahl der Lemminge in einem bestimmten Gebiet zu groß wurde, liefen die kleinen Geschöpfe bis zum Meer, in die Wellen und ertränkten sich. Diese Tiere benahmen sich alle wie Lemminge, rasten in dieselbe Richtung, ließen sich von nichts behindern, wurden von nichts Sichtbarem angezogen und folgten demzufolge wohl einem inneren Zwang.

Moose sprang aus dem Auto und gesellte sich zu dem rasenden Heer.

»Moose, nein!« rief sie.

Er stolperte, als wäre er über den Schrei gestolpert, den sie ihm nachgerufen hatte. Er drehte sich um, dann wandte er den Kopf wieder zur Landstraße, als wäre er von einer unsichtbaren Kette gezogen worden. Er lief mit Höchstgeschwindigkeit weiter.

»Moose!«

Er stolperte wieder, und diesesmal fiel er sogar, rollte ab und kam zuckend auf die Beine.

Chrissie wußte irgendwie, daß der Vergleich mit Lemmingen zutreffend war, daß diese Tiere in ihr Grab liefen, wenn auch nicht zum Meer, sondern einem anderen und teuflischeren Tod entgegen, der mit allem anderen zu tun hatte, was in Moonlight Cove vorgefallen war. Wenn sie Moose nicht aufhielte, würde sie ihn nie wiedersehen.

Der Hund lief weiter.

Sie rannte ihm nach.

Sie war müde bis auf die Knochen, ausgebrannt, hatte Schmerzen in jedem Muskel und jedem Gelenk, aber sie fand Kraft und Willensstärke, dem Labrador zu folgen, weil sonst niemand zu begreifen schien, daß er und die anderen Tiere in den sicheren Tod liefen. Tessa und Sam, so schlau sie waren, verstanden es nicht. Sie standen einfach da und bestaunten das Spektakel mit offenen Mündern. Daher stemmte Chrissie die Arme in die Seiten, nahm die Beine unter die Arme und lief, was sie hergab, wobei sie sich selbst als Chrissie Foster sah, die jüngste Marathonchampionesse, die den Parcours ablief, während ihr Tausende von den Seiten zujubelten.

(»Chrissie, Chrissie, Chrissie, Chrissie...«) Und während sie lief, rief sie Moose zu, er solle stehenbleiben, weil er jedesmal zögerte, wenn er seinen Namen hörte, und sie ein wenig aufholen konnte. Dann hatten sie den Park hinter sich gelassen, und sie fiel beinahe in den tiefen Graben neben der Landstraße, und sie sprang gerade noch rechtzeitig darüber, aber nicht, weil sie ihn gesehen hätte, sondern weil sie Moose nicht aus den Augen ließ und sah, wie er über etwas sprang. Sie landete perfekt und kam nicht einmal aus dem Tritt. Als Moose das nächstemal innehielt, als er seinen Namen hörte, holte sie ihn ein, packte ihn und hielt ihn am Halsband fest. Er knurrte und schnappte nach ihr, und sie sagte auf eine Weise »Moose!«, daß er sich schämen mußte. Er versuchte nicht mehr zu beißen, aber, bei Gott, er zerrte heftig am Halsband, um sich zu befreien. Es kostete sie alle Anstrengung, ihn zu halten und er zog sie sogar, so groß sie war, etwa fünfzehn bis zwanzig Meter an der Straße entlang. Seine großen Pfoten kratzten über den Asphalt, während er versuchte, dem Strom kleiner Tiere zu folgen, die in Nacht und Nebel verschwanden.

Als sich der Hund so weit beruhigt hatte, daß er mit ihr zum Park zurückging, kamen Tessa und Sam zu Chrissie. »Was ist los?« fragte Sam.

»Sie laufen alle in den Tod«, sagte Chrissie. »Ich konnte einfach nicht zulassen, daß Moose mit ihnen geht.«

»In den Tod? Woher weißt du das?«

»Ich weiß nicht. Aber... was sonst?«

Sie standen einen Augenblick auf der dunklen Straße und sahen den Tieren nach, die in der Schwärze verschwunden waren.

Tessa sagte: »Ja, wirklich, was sonst?«

37

Der Nebel wurde dünner, aber die Sicht betrug immer noch nur etwa eine Viertelmeile.

Sam, der mit Tessa in der Mitte des erleuchteten Kreises stand, hörte die Hubschrauber kurz nach zehn Uhr, bevor er ihre Lichter sah. Da der Nebel die Akustik störte, konnte er nicht sagen, aus welcher Richtung sie kamen, aber er dachte sich, daß sie von Süden kommen würden, der Küste entlang, wo sie ein paar hundert Meter draußen über dem Meer flogen, da sie sich dort keine Gedanken um Hügel machen mußten. Sie waren mit den hochentwickeltsten Geräten ausgerüstet und konnten buchstäblich blind fliegen. Die Piloten würden Nachtsichtgeräte tragen und mit Rücksicht auf das schlechte Wetter unter hundertfünfzig Metern hereinkommen.

Da das FBI enge Kontakte zu den Streitkräften unterhielt, besonders zur Marine, wußte Sam ziemlich genau, was er zu erwarten hatte. Es würde sich um eine Marine-Reconnaisan-ce-Streitmacht handeln, die sich aus den Standardeinheiten zusammensetzte, welche eine solche Situation erforderte: ein CH-46-Helikopter, der den Einsatztrupp selbst transportierte - wahrscheinlich zwölf Mann von einer Angriffseinheit der Marines -, begleitet von zwei Cobra-Schlachtschiffen.

Tessa drehte sich herum, sah in jede Richtung und sagte: »Ich sehe sie nicht.«

»Werden Sie auch nicht«, sagte Sam. »Erst wenn sie fast über uns sind.«

»Sie fliegen ohne Scheinwerfer?«

»Nein. Sie sind mit blauen Scheinwerfern ausgerüstet, die man vom Boden aus nicht gut sehen kann, mit denen sie aber durch ihre Nachtsichtgeräte verdammt gute Sicht haben.«

Als Antwort auf eine terroristische Bedrohung wäre der CH-46, der offiziell »Sea Knight« ->Ritter des Meeres< - genannt wurde, bei den Mannschaftsdienstgraden aber nur >Frosch< hieß, zusammen mit seiner Cobra-Eskorte zum nördlichen Stadtrand geflogen. Dort wären drei aus jeweils vier Mann eines Einsatzteams von Bord gegangen, hätten Moonlight Cove von Norden nach Süden durchkämmt, die Lage gepeilt und sich am gegenüberliegenden Stadtrand wieder vereint, um geeignete Maßnahmen einzuleiten.

Aber aufgrund der Nachricht, die Sam geschickt hatte, bevor Sonnes Verbindung zur Außenwelt unterbrochen worden war, und weil die Situation nichts mit Terroristen zu tun hatte und sogar einmalig seltsam war, wurde die übliche Routine zugunsten einer kühneren Vorgehensweise aufgegeben. Die Hubschrauber flogen mehrmals über die Stadt und kamen bis auf eine Entfernung von sechs bis zehn Meter über die Baumkronen herunter. Manchmal konnte man ihre seltsamen blaugrünen Scheinwerfer sehen, aber ihre Form oder Größe konnte man unmöglich erkennen; und aufgrund der Fiberglasrotoren, die viel leiser waren als die früheren aus Metall, schienen die Hubschrauber manchmal stumm in der Ferne zu gleiten und hätten außerirdische Flugzeuge aus einer fernen und seltsameren Welt als dieser sein können.

Schließlich schwebten sie über dem erleuchteten Kreis im Park.

Sie landeten nicht sofort. Während die mächtigen Rotoren den Nebel davonwehten, ließen sie einen Scheinwerfer über die Menschen im Park gleiten, die außerhalb des erleuchteten Landeplatzes standen, und sie verbrachten Minuten damit, die grotesken Leichen auf den Straßen zu betrachten.

Schließlich senkte sich die CH-64 beinahe widerwillig in den erleuchteten Kreis, während die Cobras in der Luft blieben. Die Männer, die aus den Helikoptern sprangen, trugen automatische Waffen, aber ansonsten sahen sie nicht wie Soldaten aus, weil sie, dank Sams Nachricht, in biologisch sichere weiße Anzüge gekleidet waren, die ihren eigenen Sauerstoffvorrat auf dem Rücken hatten. Sie hätten Astronauten sein könnten, keine Marines.

Lieutenant ROSS Dalgood, dessen Gesicht hinter dem Helmvisier wie das eines Babies wirkte, kam direkt auf Sam und Tessa zu, nannte ihnen Namen und Dienstgrad und begrüßte Sam mit Namen; offenbar hatte man ihm ein Foto gezeigt, bevor er auf seine Mission geschickt worden war. »Biologischer Angriff, Agent Booker?«

»Ich glaube nicht«, sagte Sam, während die Rotoren von einem harten, rhythmischen Pochen zu einem leiseren Schnurren überwechselten.

»Aber Sie wissen es nicht?«

»Ich weiß es nicht«, gab er zu.

»Wir sind die Vorhut«, sagte Dalgood. »Es sind noch eine Menge Leute unterwegs - reguläre Truppen und FBI-Leute kommen über den Highway. Dürften bald hier sein.«

Die drei - Dalgood, Sam und Tessa - schritten zwischen zwei der Autos im Kreis hindurch zu einem der toten Wesen, das auf dem Gehweg beim Park lag.

»Ich konnte aus der Luft nicht glauben, was ich sah«, sagte Dalgood.

»Glauben Sie es«, sagte Tessa.

»Was, zum Teufel, ist das?« sagte Dalgood.

Sam sagte: »Schreckgespenster.«

38

Tessa machte sich Sorgen wegen Sam. Sie und Chrissie und Harry kehrten um ein Uhr morgens in Harrys Haus zurück, nachdem sie von Männern in Dekontaminationsanzügen dreimal verhört worden waren. Sie hatten zwar schreckliche Alpträume, konnten aber ein paar Stunden schlafen. Aber Sam blieb die ganze Nacht weg. Mittwochmorgen um elf Uhr, als sie mit dem Frühstück fertig waren, war er noch nicht wieder zurückgekehrt.

»Er hält sich vielleicht für unzerstörbar, aber das ist er nicht.«

»Ihnen liegt etwas an ihm«, sagte Harry.

»Selbstverständlich liegt mir etwas an ihm.«

»Ich meine, Sie mögen ihn.«

»Nun... ich weiß nicht.«

»Aber ich weiß es.«

»Ich weiß es auch«, sagte Chrissie.

Sam kam um ein Uhr schmutzig und mit grauem Gesicht zurück. Sie hatte das Gästebett frisch bezogen, und er taumelte hinein, ohne sich richtig auszuziehen.

Sie saß in einem Sessel neben dem Bett und beobachtete ihn im Schlaf. Ab und zu stöhnte er und schlug um sich. Er rief ihren Namen und den von Chrissie - und manchmal den von Scott -, als hätte er sie verloren und wanderte auf der Suche nach ihnen durch eine einsame und gefährliche Gegend.

Um sechs Uhr Mittwoch abends kamen FBI-Leute in Dekontaminationsanzügen und holten ihn nach weniger als fünf Stunden Schlaf. Er blieb die ganze Nacht weg.

Mittlerweile waren alle Leichen in ihrer grotesken biologischen Vielfalt von dort eingesammelt worden, wo sie gestürzt waren, mit Schildern versehen, in Plastiksäcke eingeschweißt und für die Pathologen in Kühlhallen gebracht worden.

In dieser Nacht schliefen Tessa und Chrissie in einem Bett. Sie lagen in dem halbdunklen Raum, über dessen Lampe sie ein Handtuch gehängt hatten, um eine Nachtbeleuchtung zu schaffen, und das Mädchen sagte: »Sie sind fort.«

»Wer?«

»Meine Mom und mein Dad.«

»Ich glaube schon.«

»Tot.«

»Es tut mir leid, Chrissie.«

»Oh, das weiß ich. Ich weiß, daß es Ihnen leid tut. Sie sind sehr nett.« Dann weinte sie eine Weile in Tessas Armen.

Als sie schon fast eingeschlafen war, sagte sie: »Sie haben doch mit Sam gesprochen. Hat er gesagt... ob sie etwas über die Tiere gestern abend herausgefunden haben... wohin sie alle gelaufen sind?«

»Nein«, sagte Tessa. »Sie haben noch keine Ahnung.«

»Das macht mir Angst.«

»Mir auch.«

»Ich meine, daß sie keine Ahnung haben.«

»Ich weiß«, sagte Tessa. »Das habe ich auch gemeint.«

39

Donnerstag vormittag hatten die Teams der FBI-Techniker und hinzugezogene Spezialisten von außerhalb die Moon-hawk-Daten von Sonne soweit gesichtet, daß sie sagen konnten, bei dem Projekt hatte es sich um Implantierung eines nichtbiologischen Kontrollmechanismusses gehandelt, der durchgreifende physiologische Veränderungen in den Opfern bewirkt hatte. Bisher hatte noch niemand einen Schimmer, wie er funktionierte, wie die Mikrokugeln zu so radikalen Veränderungen geführt haben konnten, aber sie waren sicher, daß keine Bakterien, Viren oder andere gezüchtete Organismen im Spiel waren. Es war alles eine Sache von Maschinen.

Die Armeeinheiten, die die Stadt gegen Reporter der Nachrichtenmedien und Neugierige abriegelten, hatten immer noch genügend zu tun, aber sie waren froh, daß sie die unbequemen Dekon-Anzüge ablegen konnten. Ebenso die Hunderte von Wissenschaftlern und FBI-Agenten, die überall in der Stadt ihre Zelte aufgeschlagen hatten.

Obwohl Sam in den vor ihnen liegenden Tagen sicher noch zurückkehren mußte, bekamen er und Tessa und Chrissie am Freitag morgen die Erlaubnis, die Stadt zu ver-lassen. Ein verständnisvoller Richter hatte Tessa bereits vorübergehend das Sorgerecht für das Mädchen zugesprochen. Die drei sagten >auf bald< zu Harry, und nicht -auf Wieder-sehenA und wurden mit einem Bell JetRanger-Hubschrauber des Bureau abtransportiert.

Um die stattfindenden Untersuchungen nicht durch sensationslüsterne und falsche Medienberichte zu beeinträchtigen, war über Moonlight Cove eine Nachrichtensperre verhängt worden, und Sam wurde erst klar, welch ungeheueren Wirbel die Moonhawk-Geschichte gemacht haben mußte, als sie über die Straßensperre der Armee nahe der Inter-state flogen. Hunderte von Pressefahrzeugen standen am Straßenrand oder parkten auf den Feldern. Der Pilot flog so tief, daß Sam alle Kameras sehen konnte, die sie aufzeichneten, während sie über die Menge hinwegflogen.

»Auf der Landstraße nördlich der Holliwell Road ist es fast genauso schlimm«, sagte der Helikopterpilot. »Dort haben sie die andere Straßensperre errichtet. Reporter aus allen Teilen der Welt schlafen auf dem Boden, weil sie nicht in ein Motel gehen und schlafen wollen, um festzustellen, daß Moonlight Cove für die Öffentlichkeit freigegeben wurde während sie ihr Nickerchen gemacht haben.«

»Da müssen sie sich keine Sorgen machen«, sagte Sam. »Es wird noch wochenlang nicht für die Presse geöffnet werden - oder jemand anderen, abgesehen von den Wissenschaftlern.«

Der JetRanger brachte sie nach San Francisco zum International Airport, wo sie drei Reservierungen für einen PSA-Flug nach Los Angeles hatten. Als er die Kioske im Terminal besuchte, überflog Sam ein paar Schlagzeilen:

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ HINTER TRAGÖDIE IN COVE SUPERCOMPUTER LÄUFT AMOK

Das war natürlich Unsinn. Der Supercomputer von New Wave, Sonne, war keine künstliche Intelligenz. So etwas war noch nirgendwo auf der Welt gebaut worden, obwohl sich Legionen von Wissenschaftlern darum bemühten, die ersten zu sein, die Väter eines wirklich denkenden elektronischen Verstandes wurden. Sonne war nicht Amok gelaufen; sie hatte nur gehorcht, wie es alle Computer taten.

Sam wandelte Shakespeare ab, als er dachte: >Die Schuld liegt nicht bei unserer Technologie, sondern bei uns selbst. < Heutzutage gaben die Menschen jedoch den Computern die Schuld an Versagern im System - so wie vor Jahrhunderten Angehörige weniger weit entwickelter Kulturen ihr Versagen auf die Sterne geschoben hatten.

Tessa deutete stumm auf eine andere Schlagzeile:

GEHEIME EXPERIMENTE DES PENTAGON URSACHE GEHEIMNISVOLLER KATASTROPHE

Das Pentagon war in gewissen Kreisen der bevorzugte Schwarze Mann, es wurde ob seines wahren und erdichteten Bösen beinahe geliebt, weil das Leben leichter zu verstehen war, wenn man glaubte, daß es die Wurzel allen Übels war. Für jene, die so dachten, war das Pentagon beinahe das stapfende alte Ungeheuer Frankensteins mit seinen klobigen Schuhen und dem zu kleinen Anzug, furchteinflößend, aber begreifbar, pervers und verabscheuungswürdig, aber dennoch tröstlich vorhersehbar und den Gedanken an schlimmere und komplexere Feinde durchaus vorzuziehen.

Chrissie zog eine seltene Sondernummer eines der führenden nationalen Regenbogenblätter aus dem Regal, das nur Artikel über Moonlight Cove enthielt. Sie zeigte ihnen die größte Schlagzeile:

AUSSERIRDISCHE LANDEN AN DER KÜSTE KALIFORNIENS WILDE FLEISCHFRESSER ÜBERFALLEN GANZE STADT

Sie sahen einander einen Moment ernst an, dann lächelten sie. Chrissie lachte zum ersten Mal seit ein paar Tagen wieder. Es war kein herzliches Lachen, nur ein Kichern, und es hätte eine Spur Ironie darin sein können, die zu scharf für ein elfjähriges Mädchen war, ganz zu schweigen von einer Spur Melancholie, aber es war ein Lachen. Als er sie lachen hörte, fühlte Sam sich besser.

40

Joel Ganowicz von United Press International war seit Mittwoch vormittag am Stadtrand von Moonlight Cove an der einen oder anderen Straßensperre. Er hauste in einem Schlafsack auf dem Boden, benützte den Wald als Toilette und bezahlte einen arbeitslosen Zimmermann aus Aberdeen Wells dafür, daß er ihm Mahlzeiten brachte. Er war noch nie in seinem Leben so heiß auf eine Story gewesen und hatte soviel dafür geopfert. Und er war nicht sicher, warum. Ja, zugegeben, es war die größte Story des Jahrzehnts, vielleicht sogar noch größer. Aber warum verspürte er dieses Bedürfnis, hier herumzuhängen und jeden winzigen Teil der Wahrheit zu erfahren? Warum war er so besessen? Sein Verhalten war ihm ein Rätsel.

Er war nicht der einzige Besessene.

Die Story von Moonlight Cove war im Verlauf von drei Tagen stückweise an die Medien weitergegeben und am Donnerstag abend während einer vierstündigen Pressekonferenz in allen Einzelheiten dargelegt worden, und die Reporter hatten viele der zweihundert Überlebenden ausgiebig interviewt, aber dennoch hatte keiner genug. Der einzigartige Schrecken des Todes der Opfer - und die Anzahl, fast dreitausend, ein Vielfaches der Opfer von Jonestown - verblüffte Zeitungsleser und Fernsehzuschauer immer wieder, so oft sie die Einzelheiten auch hörten. Freitag morgen war die Story heißer denn je.

Aber Joel spürte, daß es nicht einmal die grimmigen Einzelheiten oder die spektakulären Statistiken waren, die das öffentliche Interesse wachhielten. Es war mehr als das.

Freitag morgen um zehn Uhr saß Joel auf dem zusammengerollten Schlafsack auf einem Acker an der Landstraße, zehn Meter vom Polizei-Checkpoint nördlich der Holliwell entfernt, genoß den überraschend warmen Oktobermorgen und dachte eben über das alles nach. Er kam allmählich zu der Überzeugung, daß diese Nachrichten vielleicht so begierig aufgenommen wurden, weil sie nicht nur vom vergleichsweise modernen Konflikt zwischen Mensch und Maschine handelten, sondern vom seit urdenklichen Zeiten bestehenden, ewigen menschlichen Konflikt zwischen Verantwortung und Verantwortungslosigkeit, zwischen Zivilisation und Wildheit, zwischen menschlichen Neigungen zu Glauben und Nihilismus.

Joel dachte immer noch darüber nach, als er aufstand und zu laufen anfing. Irgendwo unterwegs hörte er auf zu denken, schritt aber schneller aus.

Er war nicht allein. Andere von der Straßensperre, gut die Hälfte der zweihundert, die hier warteten, drehten sich fast gleichzeitig um und schritten zielstrebig über die Felder, sie zögerten nicht und machten keine Umwege, sondern schritten direkt über eine Wiese, über mit Sträuchern bewachsene Hügel und durch eine Baumgruppe hindurch.

Die Spaziergänger erschreckten diejenigen, die nicht den unvermittelten Ruf vernommen hatten, einen Spaziergang zu machen, ein paar Reporter liefen eine Zeitlang mit und stellten Fragen, schließlich brüllten sie Fragen. Keiner der Gehenden antwortete.

Joel war von dem Gefühl erfüllt, daß es einen Ort gab, wohin er gehen müßte, einen ganz besonderen Ort, wo er sich nie wieder um etwas Sorgen machen müßte, einen Ort, wo alles zur Verfügung gestellt würde, wo er sich keinen Ge -danken um die Zukunft machen müßte. Er wußte nicht, wie dieser wunderbare Ort aussah, aber er wußte, er würde ihn erkennen, wenn er ihn sah. Er eilte aufgeregt weiter, fasziniert, angezogen.

Gier.

Das gallertige Ding im Keller der Ikarus-Kolonie war im Griff der Gier. Es war nicht gestorben, als die anderen Kinder von Moonhawk verendet waren, denn der Mikrokugelcomputer in seinem Inneren hatte sich aufgelöst, als es erst-mals die Freiheit völliger Gestaltlosigkeit gesucht hatte; es hatte den über Mikrowelle ausgestrahlten Todesbefehl von Sonne nicht empfangen können. Und selbst wenn es den Befehl erhalten hätte, hätte es ihn nicht ausgeführt, denn die Kreatur im Keller hatte kein Herz, das stehenbleiben konnte.

Gier.

Seine Gier war so gewaltig, daß es pulsierte und sich wand. Diese Gier war umfassender als bloßes Verlangen und schrecklicher als alle Schmerzen.

Gier.

Überall auf seiner Oberfläche hatten sich Münder aufgetan. Das Ding rief mit einer Stimme in die Welt hinaus, die stumm wirkte, es aber nicht war, einer Stimme, die nicht zu den Ohren seiner Beute sprach, sondern in deren Köpfe hinein.

Und sie kamen.

Bald würde seine Gier gestillt werden.

Oberst Lewis Tarker, befehlshabender Offizier des Feldhauptquartiers der Armee im Park am Ostende der Ocean Avenue, erhielt einen dringenden Anruf von Sergeant Sperl-mont, der an der Straßensperre der Landstraße Wachdienst hatte. Sperlmont berichtete, er habe sechs seiner zwölf Männer verloren, die wie Zombies davongelaufen waren, zusammen mit Hunderten Reportern, die im selben seltsamen Zustand waren.

»Hier geht etwas vor«, sagte er zu Tarker. »Es ist noch nicht vorbei, Sir.«

Tarker rief augenblicklich Oren Westrom an, den FBI-Mann, der die Untersuchungen von Moonhawk leitete und mit dem sämtliche militärische Aspekte der Operation abgesprochen werden mußten.

»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Tarker zu Westrom. »Ich glaube, diese Spaziergänger sind noch unheimlicher, als Sperlmont sie beschrieben hat, auf eine Weise unheimlich, die er nicht vermitteln kann. Ich kenne ihn, und er hat mehr Angst als er selbst weiß.«

Westrom seinerseits befahl die JetRanger des Bureau in die Luft... Er erklärte dem Piloten Jim Lobbow die Situation und sagte: »Sperlmont wird ihnen ein paar seiner Leute am Boden nachschicken, um herauszufinden, wohin zum Teufel sie gehen - und warum. Aber ich möchte, daß Sie Luftüberwachung vornehmen, falls es Schwierigkeiten geben sollte.«

»Schon unterwegs«, sagte Lobbow.

»Haben Sie in letzter Zeit getankt?«

»Die Tanks sind randvoll.«

»Gut.«

Jim Lobbow gelang nichts, außer Helikopterfliegen.

Er war dreimal verheiratet gewesen, und jede Ehe war geschieden worden. Er hatte mit mehr Frauen zusammengelebt, als er zählen konnte; auch wenn ihn der Druck einer Ehe nicht belastete, gelang es ihm nicht, eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Er hatte ein Kind, einen Sohn, aus zweiter Ehe, aber er sah den Jungen nur dreimal im Jahr und nie länger als einen Tag. Er war zwar katholisch erzogen worden, und seine Geschwister besuchten regelmäßig die Messe, aber das klappte bei ihm auch nicht. Sonntag schien immer der einzige Tag zu sein, an dem er ausschlafen konnte, und wenn er überlegte, ob er unter der Woche den Gottesdienst besuchen sollte, schien ihm das immer zuviel Mühe zu sein. Er träumte davon, Unternehmer zu sein, aber jede kleine Firma, die er gründete, schien zum Scheitern verurteilt zu sein; er ließ sich immer wieder verblüffen, wieviel Arbeit ein Ge -schäft machte, sogar eines, das wie geschaffen schien, ohne den Chef zurechtzukommen, und früher oder später wurde es ihm immer zuviel Arbeit.

Aber es gab keinen besseren Helikopterpiloten als Jim Lobbow. Er konnte bei einem Wetter fliegen, bei dem alle anderen kapitulierten, und er konnte in jedem Gelände und unter jeglichen Umständen landen.

Er startete laut Westroms Befehl mit dem JetRanger und flog zur Sperre der Landstraße hinüber, die er in null Komma nichts erreichte, weil der Tag blau und klar und die Sperre nur eineinviertel Meilen von dem Park entfernt war, wo der Helikopter stand. Auf dem Boden winkten ihn die verbliebenen Soldaten an der Barrikade nach Osten, in die Hügel.

Lobbow folgte ihren Anweisungen und hatte die Spaziergänger nach weniger als einer Minute gefunden; sie kletterten emsig die mit Sträuchern bewachsenen Hügel empor, verdarben ihre Schuhe, zerrissen ihre Kleidung, strebten aber nichtsdestotrotz wie besessen weiter.

Es war eindeutig unheimlich.

Ein seltsames Summen erfüllte seinen Kopf. Er dachte, daß etwas mit den Kopfhörern des Funkgerätes nicht stimmte, daher zog er sie einen Augenblick ab, aber daran lag es nicht. Das Summen hörte nicht auf. Eigentlich war es auch gar kein Summen, kein Geräusch, sondern ein Gefühl.

Und was meine ich damit? fragte er sich.

Er versuchte, es achselzuckend abzutun.

Die Spaziergänger hielten sich Richtung Ost-Südost, und er flog ihnen voraus und suchte nach einem landschaftlichen Kennzeichen, etwas Ungewöhnlichem, das ihr Ziel sein könnte. Er kam fast sofort zu dem verfallenden viktorianischen Haus, dem eingestürzten Stall und den verfallenen Nebengebäuden.

Etwas an diesem Ort zog ihn an.

Er umkreiste ihn einmal, zweimal.

Obwohl es die totale Klitsche war, hatte er plötzlich das Gefühl, daß er dort sehr glücklich sein würde, frei, keine Sorgen mehr, keine Ex-Frauen, die ihn ankeiften, keine Unterhaltszahlungen für das Kind mehr.

Die Spaziergänger kamen über den Hügel im Nordwesten, alle hundert oder mehr, und sie gingen nicht mehr, sondern rannten. Sie stolperten und fielen, standen auf und rannten weiter.

Und Jim wußte, warum sie kamen: Er kreiste noch einmal über dem Haus, und es war der anheimelndste Ort, den er je gesehen hatte, ein Quell der Erlösung. Er wollte diese Erlösung, diese Freiheit mehr, als er jemals etwas in seinem Leben gewollt hatte. Er zog den JetRanger steil hoch, brachte ihn ins Gleichgewicht, flog nach Süden, nach Westen, nach Norden, nach Osten, kam den ganzen Weg wieder zurück, zurück zu dem Haus, dem wunderbaren Haus, er mußte dort sein, mußte dorthin gehen, mußte gehen, und er steuerte den Helikopter durch die vordere Veranda hinein, direkt durch die Tür, die offenstand und halb aus den Angeln gekippt war, bohrte sich direkt ins Herz des Hauses, begrub den Helikopter in seinem Herzen.

Gier.

Die zahlreichen Münder der Kreatur sangen von ihrem Verlangen, und sie wußte, gleich würde ihre Gier gestillt werden. Es pulsierte vor Erregung.

Dann Vibrationen. Heftige Vibrationen. Dann Hitze.

Es wich nicht vor der Hitze zurück, denn es hatte alle Nerven und komplexen biologischen Strukturen aufgegeben, die erforderlich waren, um Schmerzen zu empfinden.

Die Hitze hatte keine Bedeutung für das Ding - davon abgesehen, daß die Hitze keine Nahrung war und daher seine Gier nicht stillte.

Brennend und schwindend versuchte es, das Lied zu singen, das herbeilocken würde, was es brauchte, aber die lodernden Flammen füllten seine Münder und brachten sie bald zum Schweigen.

Joel Ganowicz stand fünfzig Meter von einem verfallenen Haus entfernt, das in Flammen aufgegangen war. Es war eine gewaltige Explosion, Feuer schoß dreißig Meter hoch in den klaren Himmel, schwarzer Rauch quoll empor, die alten Mauern des Hauses stürzten zusammen, als würden sie mit Freuden den Anschein der Nützlichkeit aufgeben. Die Hitze strich über ihn hinweg, er blinzelte und mußte zurückweichen, obwohl er nicht besonders nahe dort war. Er verstand nicht, wie trockenes Holz so lodernd brennen konnte.

Er merkte, daß er sich nicht erinnern konnte, wie das Feuer angefangen hatte. Er war plötzlich da, direkt davor.

Er betrachtete seine Hände. Sie waren aufgeschürft und schmutzig.

Das rechte Knie seiner Cordhose war zerrissen, seine Rockports völlig schmutzig.

Er sah sich um und bemerkte zu seiner Verblüffung Dutzende Menschen im selben Zustand, zerrissen und schmutzig und benommen. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierher gekommen war, und er konnte sich schon gar nicht erinnern, daß er mit einer Gruppe aufgebrochen war.

Aber das Haus brannte eindeutig. Es würde nicht ein Stein davon übrigbleiben, nur ein Keller voll Asche und heißen Kohlen.

Er runzelte die Stirn und strich sich darüber.

Etwas war mit ihm geschehen. Etwas... Er war Reporter, und allmählich bekam seine Neugier wieder die Oberhand. Etwas war geschehen und er wollte herausfinden, was das war. Etwas Beunruhigendes. Sehr beunruhigendes. Aber jetzt war es vorbei.

Er zitterte.

41

Als sie das Haus in Sherman Oaks betraten, hatte Scott die Stereoanlage so sehr aufgedreht, daß die Fenster vibrierten.

Sam ging die Treppe zum zweiten Stock hinauf und bedeutete Tessa und Chrissie, ihm zu folgen. Sie zögerten und waren wahrscheinlich verlegen und kamen sich fehl am Platze vor, aber er war nicht sicher, ob er tun konnte, was getan werden mußte, wenn er alleine dort hinaufging.

Die Tür zu Scotts Zimmer war offen.

Der Junge lag auf dem Bett, er hatte schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd an. Er hatte die Füße auf dem Kopfkissen und den Kopf am Fußende, auf Kissen gestützt, so daß er die Poster an der Wand hinter dem Bett betrachten konnte: Black Metal Rocker, die Leder und Ketten trugen, einige mit blutigen Händen, andere mit blutigen Lippen, als wären sie Vampire, die gerade getrunken hatten, andere hielten Schädel, einer gab einem Totenschädel einen Zungenkuß, ein anderer hielt die hohlen Hände voll glänzender Maden.

Scott hörte Sam nicht eintreten. Da die Musik so laut war, hätte er wahrscheinlich eine Atombombenexplosion im Bad nebenan nicht gehört.

Vor der Stereoanlage zögerte Sam und fragte sich, ob er das Richtige tat. Dann lauschte er den keuchenden Worten des Stücks, die von abgehackten Gitarrenakkorden begleitet wurden. Es war ein Stück, das davon handelte, die eigenen Eltern umzubringen, ihr Blut zu trinken, und dann >the gaspipe escape< zu nehmen. Hübsch. Oh, sehr hübscher Text. Das gab den Ausschlag. Er drückte auf den Knopf und schaltete den CD-Player aus.

Scott richtete sich verblüfft im Bett auf. »He!«

Sam nahm die CD aus dem Player, ließ sie auf den Boden fallen und zertrat sie mit dem Absatz.

»He, großer Gott, was machst du da?«

Vierzig oder fünfzig CDs, meist Black Metal Alben, standen in offenen Regalen über der Stereoanlage. Sam warf sie auf den Boden.

»He, komm schon«, sagte Scott. »Bist du übergeschnappt?«

»Das hätte ich längst tun sollen.«

Als er Tessa und Chrissie bemerkte, die vor der offenen Tür standen, sagte Scott: »Wer, zum Teufel, sind die denn?«

Sam sagte: »Die, zum Teufel, sind meine Freunde.«

Der Junge geriet wirklich in Wut und fauchte: »Was haben die, verdammt noch mal, hier zu suchen, Mann?«

Sam lachte. Er war beinahe in Hochstimmung. Er war nicht sicher, warum. Vielleicht, weil er endlich etwas unternahm, um seine Situation zu ändern, um Verantwortung dafür zu übernehmen. Er sagte: »Die besuchen mich, verdammt noch mal.« Und er lachte wieder.

Es tat ihm leid, daß Chrissie das miterleben mußte, aber dann sah er, daß sie nicht nur nicht betroffen war, sondern sogar kicherte. Ihm wurde klar, daß alle wütenden und schlimmen Wörter der Welt ihr nichts anhaben konnten, nicht nach allem, was sie durchgemacht hatte. Nach allem, was sie in Moonlight Cove gesehen hatte, war Scotts Teenager-Nihilismus tatsächlich komisch und sogar irgendwie unschuldig, auf jeden Fall durch und durch lächerlich.

Sam stand neben dem Bett und fing an, die Poster von den Wänden zu reißen, und Scott schrie ihn an, jetzt mit voller Lautstärke, ein echter Anfall. Sam riß die Poster ab, die er nur vom Bett aus erreichen konnte, stieg herunter und wandte sich denen an der nächsten Wand zu.

Scott packte ihn.

Sam stieß den Jungen sanft weg und riß weitere Poster herunter.

Scott schlug ihn.

Sam steckte den Schlag weg und sah ihn an.

Scotts Gesicht war leuchtend rot, die Nasenlöcher gebläht, die Augen vor Haß aufgequollen.

Sam umarmte ihn lächelnd wie ein Bär.

Zuerst verstand Scott eindeutig nicht, was vor sich ging. Er dachte, sein Vater wollte ihn nur packen und bestrafen, daher wollte er zurückweichen. Aber plötzlich dämmerte es ihm - Sam konnte sehen, wie es ihm dämmerte -, daß er nur umarmt wurde, um Gottes willen, sein alter Herr umarmte ihn, und das vor Leuten, vor Fremden. Als ihm diese Erkenntnis kam, fing der Junge wirklich an, sich zu wehren, wand sich und schlug um sich, stieß heftiger gegen Sam, wollte verzweifelt entkommen, weil das nicht in seine Vorstellung von einer Welt ohne Liebe paßte, besonders wenn er anfing, darauf einzugehen.

Das war es, ja, verdammt, jetzt verstand Sam. Das war der Grund für Scotts Entfremdung. Die Angst, daß er auf Liebe reagieren und zurückgewiesen werden würde... oder die Verantwortung einer hingebungsvollen Liebe zu groß für ihn war.

Tatsächlich begegnete der Junge der Liebe seines Vaters einen Augenblick mit seiner eigenen Liebe und umarmte ihn fest. Es war, als hätte der wahre Scott, der Junge, der unter den Schichten von Altklugheit und Zynismus verborgen war, hindurchgesehen und gelächelt. Es war noch etwas Gutes in ihm, etwas Gutes und Reines, das gerettet werden konnte.

Aber dann fing der Junge an, Sam mit deutlicheren und kräftigeren Ausdrücken als bisher zu verfluchen. Sam um-armte ihn nur noch fester, fester, und dann fing Sam an, ihm zu sagen, daß er ihn liebte, verzweifelt liebte, nicht auf die Weise, wie er es ihm am Telefon gesagt hatte, als er am Montagabend aus Moonlight Cove angerufen hatte, nicht mit der aus seiner eigenen Hoffnungslosigkeit geborenen Reserviertheit, weil er keine Hoffnungslosigkeit mehr emp -fand. Als er Scott diesesmal sagte, daß er ihn liebte, sprach er mit einer Stimme, die vor Emotionen brach, sagte es ihm wieder und immer wieder und verlangte, daß seine Liebe Gehör bekam.

Jetzt weinte Scott und Sam stellte wenig überrascht fest, daß er auch weinte, aber er glaubte nicht, daß sie aus denselben Gründen weinten, denn der Junge versuchte immer noch zu entkommen, seine Energie hatte nachgelassen, aber er kämpfte immer noch. Daher hielt Sam ihn fest und redete mit ihm: »Hör zu, mein Junge, früher oder später wird dir auf die eine oder andere Weise etwas an mir liegen. O ja. Du wirst wissen, daß ich dich liebe, und dann wirst du mich auch lieben, und damit wird es noch lange nicht aufhören, weil du herausfinden wirst, daß du eine Menge Leute lieben kannst, daß es schön ist zu lieben. Du wirst die Frau lieben, die dort vor der Tür steht, und du wirst das kleine Mädchen lieben, du wirst sie lieben, wie du eine Schwester lieben würdest, du wirst es lernen, du wirst die verdammte Maschine aus dir herausholen und lernen, geliebt zu werden und zu lieben. Ein Mann wird uns besuchen kommen, ein Mann, der nur eine gute Hand und keine Beine mehr hat, die er gebrauchen kann, und der glaubt, daß das Leben lebenswert ist. Vielleicht wird er eine Weile bleiben, herausfinden, wie es ihm gefällt, wie er darüber denkt, und vielleicht kann er dir zeigen, was ich dir nicht rechtzeitig zeigen konnte - daß es schön ist, das Leben ist schön. Und dieser Mann hat einen Hund, was für einen Hund, du wirst den Hund lieben, den Hund wahrscheinlich als ersten!« Sam lachte und hielt Scott fest. »Zu einem Hund kannst du nicht sagen >Geh mir aus den Augen< und damit rechnen, daß er dir zuhört und gehorcht, er wird dir nicht aus den Augen gehen, daher wirst du ihn als ersten lieben müssen. Und dann wirst du mich lieben müssen, denn ich werde genau das sein - ein Hund, ein lächelnder alter Hund, der hier herumtrottet, herumhängt, sich nicht beleidigen läßt, ein alter Hund.«

Scott hatte aufgehört sich zu wehren. Wahrscheinlich war er nur erschöpft. Sam war sicher, daß es ihm nicht gelungen war, durch die Wut des Jungen hindurchzudringen. Er hatte bestenfalls an der Oberfläche gekratzt. Sam hatte das Böse in ihr Leben gelassen, das Böse eigendünklerischer Verzweiflung, das er auf den Jungen übertragen hatte, und jetzt würde es schwer sein, das wieder auszumerzen. Sie hatten noch viel vor sich, monatelanges Bemühen, vielleicht jahrelanges, viel Umarmen, viel Festhalten und nicht mehr loslassen.

Als er über Scotts Schulter blickte sah er, daß Tessa und Chrissie ins Zimmer gekommen waren. Sie weinten auch. Er sah in ihren Augen eine Erkenntnis, die seiner gleichkam, die Erkenntnis, daß der Kampf um Scott gerade erst angefangen hatte.

Aber er hatte angefangen. Das war das Wunderbare. Er hatte angefangen.

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