Es gelang mir nicht, etwas Falsches und Schreckliches zu verhindern. Ich empfand ein gräßliches Gefühl der Ohnmacht.
ANDREJ SACHAROW
Macht beschränkt noch mehr als sie korrumpiert, sie senkt die Gabe, in die Zukunft zu schauen und steigert die Hast des Handelns.
WILL UND ARIEL DURANT
1
Vor der Dämmerung und nach weniger als einer Stunde Schlaf wurde Tessa Lockland durch Kälte in ihrer rechten Hand und das schnelle, heiße Lecken einer Zunge geweckt. Ihr Arm war über den Rand der Matratze gefallen, die Hand baumelte dicht über dem Teppich, und etwas da unten probierte aus, wie sie schmeckte.
Sie richtete sich kerzengerade im Bett auf und wagte nicht zu atmen.
Sie hatte vom Gemetzel im Cove Lodge geträumt, von kaum erblickten, schlurfenden und schnellen Bestien mit gefährlichen Zähnen und Krallen gleich scharf geschliffenen, gekrümmten Klingen. Jetzt dachte sie, daß der Alptraum Wirklichkeit geworden wäre, daß Harrys Haus von diesen Kreaturen erstürmt worden und die suchende Zunge Vorbotin eines plötzlichen, wilden Bisses war.
Aber er war nur Moose. Sie konnte ihn im schwachen Schein der Nachtbeleuchtung, die vom Flur durch die Tür hereinschien, gerade noch erkennen, und dann konnte sie endlich auch wieder atmen. Er legte die Vorderpfoten auf die Matratze, da er zu wohlerzogen war, ganz aufs Bett zu springen. Er winselte leise und schien nur ein wenig Zuwendung zu wollen.
Sie war sicher, daß sie die Tür vor dem Zubettgehen zugemacht hatte. Aber sie hatte hinreichend Beispiele für Mooses Klugheit gesehen und sie konnte davon ausgehen, daß er eine Tür aufmachen könnte, wenn er es wollte. Plötzlich wurde ihr auch deutlich, daß das Innere von Talbots Haus mit Einrichtungen versehen war, die es Moose leichter machten: keine Knöpfe, sondern Klinken, die das Schloß öffneten, wenn sie von einer Hand oder Pfote niedergedrückt wurden.
»Einsam?« fragte sie und kraulte den Labrador sanft hinter den Ohren.
Der Hund winselte erneut und ließ sich ihre Zärtlichkeiten gefallen.
Dicke Regentropfen klatschten ans Fenster. Sie fielen mit solcher Wucht herunter, daß sie sie draußen durch die Bäume platschen hören konnte. Wind wehte beharrlich gegen das Haus.
»Nun, Kumpel, wie einsam du auch immer sein magst, ich bin bestimmt tausendmal müder, daher wirst du dich wohl zurückhalten müssen.«
Als sie aufhörte, ihn zu streicheln, begriff er. Er ließ sich widerstrebend auf den Boden nieder, trottete zur Tür, sah sich noch einen Augenblick zu ihr um, ging auf den Flur hinaus, sah in beide Richtungen und wandte sich nach links.
Das Licht vom Flur war minimal, aber es störte sie. Sie stand auf und machte die Tür zu, und als sie sich im Dunkeln zum Bett zurückgetastet hatte, wußte sie, daß sie nicht gleich wieder einschlafen würde.
Zunächst einmal hatte sie sämtliche Kleidungsstücke an -Jeans und T-Shirt und Pullover - und nur die Schuhe ausgezogen, und so fühlte sie sich nicht besonders wohl. Aber sie hatte nicht die Nerven, sich auszuziehen, denn dann würde sie sich so verwundbar fühlen, daß sie bestimmt gar nicht mehr schlafen könnte. Nach den Geschehnissen im Cove Lodge wollte Tessa darauf vorbereitet sein, schnell zu handeln.
Außerdem war sie im einzigen Gästeschlafzimmer - es gab noch eines, aber das war nicht möbliert -, und Matratze und Steppdecke rochen leicht muffig, da sie jahrelang nicht benutzt worden waren. Es war einmal das Zimmer von Harrys Vater gewesen, dem auch das Haus gehört hatte, der aber vor siebzehn Jahren gestorben war, drei Jahre, nachdem sie Harry aus dem Krieg zurückgebracht hatten. Tessa hatte darauf bestanden, daß sie ohne Laken auskam, einfach auf der Decke schlafen oder, falls sie fror, unter die Decke schlüpfen und auf der bloßen Matratze liegen konnte. Nachdem sie Moose hinausgeschickt und die Tür zugemacht hatte, war ihr kalt, und als sie unter die Decke schlüpfte, schien in dem muffigen Geruch ein Hauch Mehltau mitzuschwingen, schwach, aber unangenehm.
Sie hörte über das Prasseln des Regens hinweg den aufwärts fahrenden Fahrstuhl summen. Wahrscheinlich hatte Moose ihn gerufen. War er nachts immer so rege?
Sie war zum Umfallen erschöpft, aber jetzt doch zu wach, ihre Gedanken einfach abzuschalten. Diese Gedanken waren zutiefst besorgniserregend.
Nicht das Massaker im Cove Lodge. Nicht die grausigen Geschichten von Leichen, die wie Abfall ins Krematorium geschaufelt wurden. Nicht die Frau Parkins, die von unbekannten Tieren in Stücke gerissen worden war. Nicht die monströsen nächtlichen Jäger. Diese makabren Bilder trugen zweifellos dazu bei, den Kanal zu festigen, in den ihre Ge -danken flössen, aber sie waren größtenteils nur ein ernster Hintergrund für persönlichere Überlegungen zu ihrem Leben und der Richtung, die es nahm.
Da sie vor kurzer Zeit dem Tod begegnet war, war sie sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewußter denn je. Das Leben war endlich. In der Regsamkeit und Hektik des täglichen Lebens wurde dieser Gedanke allzu oft vergessen.
Jetzt konnte sie nicht anders, sie mußte darüber nachdenken, und sie fragte sich, ob sie zu sorglos mit ihrem Leben umging, zu viele Jahre verschwendete. Ihre Arbeit war befriedigend. Sie war eine glückliche Frau; für eine Lockland war es fast unmöglich, nicht glücklich zu sein, da sie alle auf Humor eingeschworen waren. Aber sie mußte sich in aller Ehrlichkeit eingestehen, daß sie nicht das bekam, was sie wirklich wollte. Wenn sie auf ihrem derzeitigen Kurs bliebe, würde sie es nie bekommen.
Sie wollte eine Familie und einen Ort, wohin sie gehörte. Das lag natürlich an ihrer Kindheit und Jugend in San Diego, wo sie ihre große Schwester Janice vergöttert und sich in der Liebe ihrer Eltern wohlgefühlt hatte. Das große Ausmaß an Glück und Sicherheit in ihrer Jugend ermöglichte ihr, mit Elend, Verzweiflung und Terror zurechtzukommen, die sie manchmal erlebte, wenn sie an einem ambitionierten Dokumentarfilm arbeitete. Die beiden ersten Jahrzehnte ihres Lebens waren so voller Glück gewesen, daß sie alles Nachfolgende ausglichen.
Der Fahrstuhl war im zweiten Stock angekommen, dann fuhr er mit einem leisen Poltern und neuerlichem Summen weiter nach unten. Sie fand es faszinierend, daß Moose, der daran gewöhnt war, den Fahrstuhl für und mit seinem Herrn zu benützen, ihn nachts selbst benützte, obwohl es über die Treppe schneller gegangen wäre. Auch Hunde konnten Gewohnheitstiere sein.
Sie hatten zu Hause auch Hunde gehabt, als sie noch ein Kind gewesen war, zuerst einen Apportierhund namens Barney, danach einen irischen Setter namens Mickey Finn...
Janice hatte vor sechzehn Jahren geheiratet und war von zu Hause fortgegangen, als Tessa achtzehn gewesen war, und danach hatte die Entropie, die blinde Kraft der Auflösung, das behagliche Leben in San Diego zunichte gemacht. Tessas Dad war drei Jahre später gestorben, kurz nach seiner Beerdigung hatte sich Tessa auf den Weg gemacht, um ihre Werbespots, Dokumentationen und Reisefilme zu machen, und sie hatte zwar regelmäßigen Kontakt mit ihrer Mutter und Schwester gehalten, aber die goldene Zeit war vorbei gewesen.
Jetzt lebte Janice nicht mehr. Und Marion würde nicht ewig leben, auch dann nicht, wenn sie das Fallschirmspringen wirklich sein ließe.
Tessa wünschte sich vor allen Dingen, diese häusliche Idylle mit einem Mann und eigenen Kindern neu erschaffen zu können. Sie hatte mit dreiundzwanzig einen Mann geheiratet, der Kinder mehr wollte, als er sie gewollt hatte, und als sie herausfanden, daß sie keine Kinder bekommen konnte, hatte er sie verlassen. Adoption genügte ihm nicht. Er wollte Kinder, die biologisch seine eigenen waren. Vierzehn Monate vom Tag der Eheschließung bis zur Scheidung. Sie hatte sehr gelitten.
Danach hatte sie sich mit einem Eifer auf ihre Arbeit gestürzt, wie sie ihn vorher nicht gekannt hatte. Sie war einsichtig genug zu erkennen, daß sie durch ihre Kunst versuchte, die ganze Welt zu erreichen, als wäre sie eine einzige große Familie. Indem sie komplizierte Geschichten und Themen in dreißig, sechzig oder neunzig Minuten Film zwängte, versuchte sie, die Welt zu verkleinern, sie auf das Wesentliche zu reduzieren, auf die Größe einer Familie.
Aber als sie nun in Harry Talbots Gästezimmer wach lag, wußte sie, daß sie niemals völlige Befriedigung finden würde, wenn sie ihr Leben nicht radikal veränderte und das, was sie sich so sehr wünschte, direkter suchte. Es war unmöglich, eine Person mit Tiefe zu sein, wenn einem die Liebe zur Menschheit fehlte, aber diese verallgemeinerte Liebe konnte sehr schnell dünn und bedeutungslos werden, wenn man keine Familie hatte, die einem nahestand; denn in der Familie sah man tagtäglich die speziellen Dinge in speziellen Menschen, die in der Verlängerung eine umfassendere Liebe zu anderen Mitmenschen rechtfertigte. In ihrer Kunst suchte sie nach dem Spezifischen, aber ihr fehlte ein Gefühlsleben.
Während sie Staub und den schwachen Mehltaugeruch einatmete, war ihr, als hätte ihr Potential als Persönlichkeit so lange brachgelegen wie dieses Gästezimmer. Aber nachdem sie jahrelang keine Verabredung mehr gehabt hatte, nachdem sie sich vor ihrem gebrochenen Herzen in harte Arbeit geflüchtet hatte, wie sollte sich eine vierunddreißig-jährige Frau jetzt dem Teil ihres Lebens öffnen, dem sie sich absichtlich verschlossen hatte? In diesem Augenblick fühlte sie sich unfruchtbarer als jemals seit sie erfahren hatte, daß sie nie eigene Kinder haben könnte. Und die Frage, wie sie ihr Leben neu gestalten könnte, schien derzeit wichtiger zu sein als herauszufinden, woher die Schreckgespenster kamen und was sie waren.
Kontakt mit dem Tod konnte seltsame Gedanken wecken.
Nach einer Weile überwand Müdigkeit ihre innere Aufruhr, und sie schlief wieder ein. Kurz bevor sie endgültig einschlummerte, wurde ihr klar, daß Moose vielleicht in ihr Zimmer gekommen wir, weil er gespürt hatte, daß etwas im Haus nicht stimmte. Vielleicht hatte er versucht, sie zu warnen. Aber er wäre sicher aufgeregter gewesen und hätte gebellt, wenn wirklich Gefahr bestanden hätte.
Dann schlief sie ein.
2
Shaddack kehrte von Peyser zu seinem uraltmodernen Haus an der Nordspitze der Bucht zurück, blieb aber nicht lange. Er machte drei Schinkensandwiches, packte sie ein und legte sie mit mehreren Dosen Coke in eine Kühltasche. Die Tasche brachte er nebst ein paar Decken und einem Kis sen in den Lastwagen. Er holte aus dem Waffenschrank in seinem Arbeitszimmer eine Smith-Wesson 357 Magnum, eine halbautomatische Remington-Schrotflinte Kaliber 12 mit Pistolengriff und jede Menge Munition für beide. Solchermaßen ausgerüstet, machte er sich im Sturm auf, durch Moonlight Cove und die Umgebung zu kreuzen; er hatte die Absicht, in Bewegung zu bleiben und die Situation per Computer zu verfolgen, bis die erste Phase von Projekt Moonhawk um Mitternacht, weniger als neunzehn Stunden von jetzt an, beendet sein würde.
Watkins' Drohung machte ihn nervös. Wenn er in Bewegung bliebe, würde er nicht so leicht zu finden sein, wenn Watkins regressiv würde, sein Versprechen hielte und ihn verfolgte. Um Mitternacht, wenn die letzten Verwandlungen vollbracht wären, würde Shaddack seine Macht konsol-diert haben. Dann könnte er sich um den Polizisten kümmern.
Watkins würde geschnappt und eingesperrt werden, bevor er sich verwandelte. Dann könnte Shaddack ihn auf dem Labortisch festschnallen, seine Psychologie und Physiologie studieren und eine Erklärung für diese Seuche der Regression finden.
Er akzeptierte Watkins' Erklärungen nicht. Sie wurden nicht regressiv, um dem Leben als Neue Menschen zu entkommen. Hätte er diese Theorie akzeptiert, hätte er sich eingestehen müssen, daß das Projekt Moonhawk eine fatale Katastrophe war, daß die Verwandlung kein Segen für die Menschheit war, sondern ein Fluch, und daß seine ganze Arbeit in ihrer Wirkung nicht nur irregeleitet, sondern sogar gemeingefährlich war. Das konnte er niemals zugeben.
Als Schöpfer und Herr der Neuen Menschen, hatte er gottgleiche Macht kennengelernt. Diese wollte er nicht mehr hergeben.
Die regennassen Straßen waren kurz vor der Dämmerung verlassen, abgesehen von den Autos - manche waren Streifenwagen, manche nicht -, in denen jeweils zwei Männer fuhren, um entweder Booker, Tessa Lockland, die Tochter der Fosters oder Regressive auf Streifzügen zu finden. Sie konnten zwar nicht durch die stark getönten Scheiben des Lieferwagens sehen, wußten aber ganz bestimmt, wem das Fahrzeug gehörte.
Shaddack kannte viele, denn sie arbeiteten bei New Wave und gehörten zum Kontingent der einhundert, die er erst vor ein paar Stunden der Polizei zur Verfügung gestellt hatte. Ihre Gesichter hinter den vom Regen überspülten Windschutzscheiben schwebten wie blasse Scheiben im dunklen Inneren ihrer Autos und waren so ausdruckslos, daß sie Schaufensterpuppen oder Roboter hätten gehören können.
Andere gingen zu Fuß durch die Stadt, waren aber verstohlener und hielten sich in den dunklen Schatten und Nebenstraßen. Von ihnen sah er keinen.
Shaddack fuhr auch an zwei Verwandlungsteams vorbei, die leise, und zielstrebig von einem Haus zum anderen schlichen. Jedesmal, wenn sie eine Verwandlung abgeschlossen hatten, gab das Team die Daten in ein VDT im Auto ein, damit das zentrale System bei New Wave über ihren Fortschritt informiert blieb.
Als er an einer Kreuzung hielt und die Tabelle auf seinem eigenen VDT abrief, stellte er fest, daß in der Verwandlungsphase von Mitternacht bis sechs Uhr morgens nur noch fünf Personen übrigblieben. Sie waren dem Zeitplan ein wenig voraus.
Heftiger Regen fiel von Westen und schimmerte im Licht der Scheinwerfer so silbern wie Eis. Bäume schüttelten sich, als hätten sie Angst. Und Shaddack blieb in Bewegung und zog durch die Nacht, als wäre er ein seltsamer Raubvogel, der es vorzog, im Sturmwind zu jagen.
3
Tucker führte, und so hatten sie gejagt, getötet, gebissen und gerissen, gekrallt und gebissen, gejagt und getötet und die Beute gefressen, Blut getrunken, Blut, warm und süß, dickflüssig und warm, süß und dickflüssig, Blut, hatten das Feuer in ihrem Fleisch gelöscht, das Feuer mit Nahrung gekühlt. Blut.
Tucker hatte allmählich festgestellt, daß das Feuer um so weniger intensiv brannte, je länger sie in ihrem verwandelten Dasein blieben, und es um so leichter war, in der submenschlichen Gestalt zu bleiben. Etwas sagte ihm, er sollte sich Sorgen darüber machen, daß es ihm immer leichter fiel, sich an de Gestalt der Bestie zu klammern, aber er konnte nicht viel Sorgen dafür entwickeln, was teilweise daran lag, daß sich sein Verstand nicht mehr länger als ein paar Sekunden auf komplexe Gedanken konzentrieren konnte.
Sie waren im Mondenschein über die Felder und Hügel gelaufen, frei gelaufen und gerannt, frei, so frei im Monden-schein und Nebel, im Nebel und Wind, und Tucker hatte sie geführt, hatte nur angehalten, um zu töten und zu fressen, oder um sich mit dem Weibchen zu paaren, das ihre eigene Lust mit einer Aggressivität nahm, die aufregend, wild und erregend war.
Dann kam der Regen.
Kalt.
Prasselnd.
Auch Donner, und grelles Licht am Himmel.
Ein Teil von Tucker schien zu wissen, was diese langen, zackenförmigen Lichter waren, die den Himmel zerrissen. Aber er konnte sich nicht richtig erinnern, und er hatte Angst, raste in den Schutz von Bäumen, wenn das Licht ihn auf offenem Gelände überraschte, kauerte sich mit dem Weibchen und dem anderen Männchen nieder, bis der Himmel wieder dunkel geworden und eine Weile so geblieben war.
Tucker suchte nach einem Ort, wo sie Zuflucht vor dem Sturm finden könnten. Er wußte, sie sollten dorthin zurückkehren, wo sie aufgebrochen waren, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wo genau das gewesen war. Zudem hätte die Rückkehr dorthin bedeutet, daß sie ihre Freiheit aufgeben und ihre angeborenen Identitäten wieder hätten annehmen müssen. Sie wollten laufen und streifen und töten und sich paaren und frei sein, frei. Wenn sie zurückkehrten, könnten sie nicht mehr frei sein, daher liefen sie weiter, überquerten eine Straße mit harter Oberfläche, liefen in die höheren Hügel, hielten sich von den wenigen Häusern der Gegend fern.
Die Dämmerung rückte näher, sie zeichnete sich noch nicht am östlichen Horizont ab, aber se rückte näher, und Tucker wußte, sie mußten einen Unterschlupf finden, bevor es hell würde, einen Ort, wo sie sich nebeneinander zusammenrollen könnten, drunten in der Dunkelheit, um Wärme zu teilen, Dunkelheit und Wärme, sicher zusammengerollt mit Erinnerungen an Blut und Paarung, Dunkelheit und Wärme und Blut und Paarung. Dort würden sie nicht in Gefahr sein, sicher vor einer Welt, in der sie fremd waren, und ebenfalls sicher davor, wieder in die menschliche Gestalt zurückkehren zu müssen. Wenn es wieder Nacht würde, könnten sie herauskommen und umherstreifen und töten, töten, beißen und töten, und vielleicht würde der Tag kommen, da es so viele ihrer Art in der Welt gäbe, daß sie nicht mehr in der Minderzahl wären und auch bei Tage umherstreifen könnten, aber nicht jetzt, noch nicht.
Sie kamen an einen Feldweg, und Tucker hatte eine vage Erinnerung, wo er sich befand, das Wissen, daß dieser Weg sie rasch zu einem Ort führen könnte, der den Schutz böte, den er und seine Meute brauchten. Er folgte ihm weiter in die Hügel und ermutigte seine Gefährten mit leisem, zuversichtlichem Knurren. Nach wenigen Minuten kamen sie zu einem Gebäude, einem großen, verfallenen alten Haus, dessen Fenster eingeschlagen waren und dessen Tür schief in halb zerfallenen Scharnieren hing. Andere graue Bauwerke ragten aus dem Regen auf: eine Scheune, die in einem noch schlimmeren Zustand als das Haus war, mehrere Nebengebäude, die größtenteils verfallen waren.
Große, handgemalte Schilder waren zwischen zwei Fenster im ersten Stock an die Hauswand genagelt worden, ein Schild über dem anderen, mit verschiedenen Handschriften, als wäre das zweite erst viel später als das erste aufgehängt worden. Er wußte, sie bedeuteten etwas, aber er konnte sie nicht lesen, obwohl er sich anstrengte, sich an die vergessene Sprache der Rasse zu erinnern, der auch er einst angehört hatte.
Die beiden Mitglieder seiner Meute standen neben ihm. Auch sie sahen zu den dunklen Buchstaben auf weißem Grund empor. Verschwommene Symbole in Regen und Halbdunkel. Seltsame und geheimnisvolle Runen.
IKARUS KOLONIE
Und darunter:
DAS IKARUS KOLONIE-RESTAURANT NATURKOST
An der verfallenen Scheune befand sich ein anderes Schild -Flohmarkt -, aber das sagte Tucker ebensowenig wie die Schilder am Haus selbst, und nach einer Weile kam er zu dem Ergebnis, daß es einerlei war, ob er sie verstand. Wichtig war, es waren keine Menschen in der Nähe, kein frischer Geruch oder Vibrationen von menschlichen Wesen, daher war dies vielleicht das Versteck, das er suchte, ein Bau, eine Hütte, ein warmer und dunkler Unterschlupf, warm und dunkel, sicher und dunkel.
4
Sam hatte sich mit einer Decke und einem Kissen ein Bett auf dem langen Sofa im Wohnzimmer gemacht, welches direkt an die Diele im Erdgeschoß angrenzte. Er wollte im Erdgeschoß schlafen, damit er wach würde, falls jemand eindringen wollte. Dem Plan zufolge, den Sam auf dem VDT im Streifenwagen gesehen hatte, sollte Harry Talbot erst am kommenden Abend verwandelt werden. Er bezweifelte, daß sie ihren Plan beschleunigen würden, weil sie wußten, daß sich ein FBI-Agent in Moonlight Cove aufhielt. Aber er konnte keine unnötigen Risiken eingehen.
Sam litt häufig an Schlaflosigkeit, aber das machte ihm in dieser Nacht nicht zu schaffen. Nachdem er die Schuhe ausgezogen und sich auf dem Sofa ausgestreckt hatte, lauschte er ein paar Minuten dem Regen und versuchte, an nichts zu denken. Wenig später schlief er ein.
Er träumte von Karen, seiner verstorbenen Frau, die, wie immer in seinen Alpträumen, im Endstadium ihrer Krebskrankheit war, ausgezehrt aussah und Blut spuckte, nachdem die Chemotherapie versagt hatte. Er wußte, er mußte sie retten. Er konnte es nicht. Er kam sich winzig, ohnmächtig und schrecklich ängstlich vor.
Aber der Alptraum weckte ihn nicht.
Schließlich verlagerte sich der Traum vom Krankenhaus in ein dunkles und verfallenes Gebäude. Es sah aus wie ein von Salvador Dali entworfenes Hotel: Die Flure zweigten wahllos ab; manche waren kurz, andere so lang, daß man ihr Ende nicht sehen konnte; Wände und Böden befanden sich in surrealistischen Winkeln zueinander, die Türen zu den Zimmern waren von unterschiedlicher Größe, manche so klein, daß nur eine Maus durchgekonnt hätte, andere groß genug für einen Menschen, wieder andere in einem Maßstab, der einem sechs Meter großen Riesen genügt hätte.
Er fühlte sich zu bestimmten Zimmern hingezogen. Wenn er sie betrat, fand er in jedem eine Person aus seinem vergangenen oder gegenwärtigem Leben.
Er begegnete Scott in mehreren Zimmern und führte unbefriedigende, zusammenhanglose Unterhaltungen mit ihm, die alle mit einer unvernünftigen Feindseligkeit von Seiten Scotts endeten. Unterschiede in Scotts Alter machten den Alptraum noch schlimmer: manchmal war er ein mürrischer Sechzehnjähriger und manchmal zehn oder erst vier oder fünf. Aber er war in jeder Inkarnation entfremdet, kalt, reizbar und voll verzehrendem Haß. »Das ist nicht richtig, das stimmt nicht, so bist du nicht gewesen, als du jünger warst«, sagte Sam einem siebenjährigen Scott, und der Junge gab eine obszöne Antwort.
Scott war in jedem Zimmer, ohne Rücksicht auf sein Alter, von riesigen Postern von Black Metal-Rockern mit schwarzer Lederkleidung und Ketten umgeben, die satanische Symbole auf Stirn oder Handflächen zur Schau stellten. Das Licht war flackernd und seltsam. Sam sah in einer dunklen Ecke etwas lauern, eine Kreatur, von der Scott wußte, die der Junge nicht fürchtete, die Sam aber eine Heidenangst machte.
Aber auch dieser Alptraum weckte ihn nicht.
In anderen Zimmern dieses surrealistischen Hotels fand er sterbende Menschen, jedesmal dieselben - Arnie Taft und Carl Sorbino. Sie waren zwei Agenten, mit denen er gearbeitet hatte und die vor seinen Augen erschossen worden waren.
Der Eingang zu einem Zimmer war eine Autotür - die funkelnde Tür eines blauen 54er Buick, um genau zu sein. Dahinter fand er eine enorme Kammer mit grauen Wänden, in dem sich Fahrersitz, Lenkrad und Armaturenbrett des Autos befanden, und sonst nichts, gleich Teilen eines prähistorischen Skeletts, die auf einer weiten Fläche öden Sandes lagen. Eine grüngekleidete Frau saß am Steuer, sie hatte den Kopf von ihm abgewandt. Er wußte natürlich, wer sie war, und er wollte das Zimmer auf der Stelle verlassen, aber er konnte es nicht. Er wurde sogar zu ihr hingezogen. Er setzte sich neben sie, und plötzlich war er sieben Jahre alt, wie am Tag des Unfalls, aber er sprach mit der Stimme des Erwachsenen. »Hallo, Mom.« Sie drehte sich zu ihm um und zeigte, daß die rechte Seite ihres Gesichts eingedrückt war, ein Auge aus der Höhle gequetscht und Knochen durch die aufgeplatzte Haut ragten. In der Wange konnte man abgebrochene Zähne sehen, daher schenkte sie ihm nur ein halbes teuflisches Grinsen.
Und plötzlich waren sie, in der Zeit zurückgeschlendert, in ihrem wirklichen Auto. Vor ihnen auf der Autobahn ra-ste der Betrunkene in seinem weißen Lieferwagen auf sie zu, raste über die durchgezogene, doppelte gelbe Linie und mit überhöhter Geschwindigkeit in ihre Richtung. Sam schrie auf - »Mom!« -, aber sie konnte dem Lieferwagen diesesmal ebensowenig ausweichen wie vor fünfunddreißig Jahren. Er raste auf sie zu, als wären sie ein Magnet, und prallte frontal in sie hinein. Er dachte, daß es so im Zentrum einer Atombombenexplosion sein mußte: ein gewaltiges Dröhnen, gefolgt vom Kreischen reißenden Metalls. Alles wurde schwarz. Als er dann wieder aus der Dunkelheit emporschwamm, war er im Wrack eingeklemmt. Er befand sich seiner toten Mutter von Angesicht zu Angesicht gegenüber und sah in ihre leere Augenhöhle. Er fing an zu schreien.
Auch dieser Alptraum weckte ihn nicht.
Danach war er in einem Krankenhaus, wie nach dem Unfall, denn das war das erste Mal von insgesamt sechs gewesen, als er fast gestorben wäre. Aber er war kein Junge mehr, sondern ein erwachsener Mann, und er lag auf dem Operationstisch und wurde operiert, ein Notfall, weil ihm während derselben Schießerei, bei der Carl Sorbino gestorben war, in die Brust geschossen worden war. Während sich das Ärzteteam an seinem Körper zu schaffen machte, schwebte er aus seinem Körper heraus und beobachtete sie, wie sie an seinem Leichnam arbeiteten. Er war erstaunt, aber nicht ängstlich, genau wie er sich gefühlt hatte, als es kein Traum gewesen war.
Als nächstes war er in einem Tunnel und rast grellem Licht entgegen, auf die andere Seite zu. Diesesmal wußte er, was er am anderen Ende finden würde, denn er war schon einmal dort gewesen, im wirklichen Leben, nicht im Traum. Er hatte entsetzliche Angst davor, wollte es nicht noch einmal durchmachen, wollte nicht hinsehen, nicht ins Jenseits. Aber er bewegte sich schneller, schneller, schneller durch den Tunnel, schoß durch ihn hindurch, und sein Entsetzen wuchs parallel zur Geschwindigkeit. Daß er sich noch einmal ansehen mußte, was auf der anderen Seite lag, war schlimmer als seine Traumkonfrontationen mit Scott, schlimmer als das eingedrückte einäugige Gesicht seiner Mutter, unendlich viel schlimmer (schneller, schneller), unerträglich, und daher begann er zu schreien (schneller) und schreien (schneller) und schreien...
Dieser Traum weckte ihn.
Er fuhr kerzengerade auf dem Sofa hoch und unterdrückte den Schrei gerade noch, ehe er ihm über die Lippen kommen konnte.
Einen Augenblick später merkte er, daß er nicht allein in dem dunklen Wohnzimmer war. Er hörte, wie sich vor ihm etwas bewegte, und er bewegte sich gleichzeitig, riß den 38er Revolver aus dem Halfter, das er abgenommen und neben das Sofa gelegt hatte.
Es war Moose.
»He, Junge.«
Der Hund wuffte leise.
Sam streckte die Hand aus, um den dunklen Kopf zu tätscheln, aber der Hund ging schon wieder weg. Die Nacht war nur unwesentlich weniger schwarz als das Innere des Hauses, daher waren die Fenster nur als verschwommene, graue Rechtecke zu sehen. Moose ging zu einem an der Seite das Hauses, legte die Pfoten auf den Sims und drückte die Schnauze an die Scheibe.
»Mußt du hinaus?« fragte Sam, obwohl sie ihn kurz vor dem Zubettgehen zehn Minuten hinausgelassen hatten.
Der Hund reagierte nicht, sondern blieb seltsam steif am Fenster stehen.
»Ist etwas da draußen?« fragte Sam und wußte die Antwort noch bevor er die Frage zu Ende gesprochen hatte.
Er durchquerte das dunkle Zimmer rasch und vorsichtig. Er stieß gegen Möbel, warf aber nichts um, und gesellte sich zu dem Hund am Fenster.
In dieser Stunde vor der Dämmerung schien die regengepeitschte Nacht am dunkelsten zu sein, aber Sams Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt. Er konnte die Seitenwand des Nachbarhauses sehen, die nur sechs Meter entfernt war. Der steil ansteigende Boden zwischen den beiden Häusern war nicht mit Gras bepflanzt, sondern mit einer Vielzahl von Büschen und einigen Pinien, die alle im böigen Wind schwankten und bebten.
Er sah die beiden Schreckgespenster schnell, weil sie sich gegen die Windrichtung bewegten und daher einen deutlichen Kontrast gegen den Sturmtanz der Vegetation bildeten. Sie waren beide etwa drei Meter vom Fenster entfernt und hasteten den Hang abwärts zur Conquistador. Sam konnte zwar keine Einzelheiten von ihnen erkennen, aber er sah an ihren gebückten Bewegungen und dem schlurfenden und doch seltsamen Gang, daß sie keine gewöhnlichen Menschen waren.
Als sie neben einer der größeren Pinien stehenblieben, sah einer zu Talbots Haus, und Sam erblickte die sanft leuchtenden, vollkommen fremden Bernsteinaugen. Er war einen Augenblick gebannt, aber nicht so sehr starr vor Angst, sondern vor Staunen. Dann wurde ihm klar, daß das Geschöpf direkt ins Fenster zu starren schien, als könnte es ihn sehen, und plötzlich sprang es direkt auf ihn zu.
Sam duckte sich unter den Sims, drückte sich an die Wand unter dem Fenster und zog Moose mit sich herunter. Der Hund schien die Gefahr zu spüren, denn er bellte oder winselte nicht und leistete keinen Widerstand, sondern lag mit dem Bauch auf den Boden gepreßt da und ließ sich still dort festhalten.
Einen Sekundenbruchteil später hörte Sam über Wind und Regen hinweg die Geräusche verstohlener Bewegungen auf der anderen Seite der Mauer, an der er kauerte. Ein leises Wuseln. Kratzen.
Er hielt den 38er in der rechten Hand und machte sich bereit, falls das Ding kühn genug sein sollte, durch das Fenster einzudringen.
Ein paar Sekunden verstrichen still. Dann weitere.
Sam ließ die linke Hand auf Mooses Rücken. Er konnte den Hund zittern spüren.
Tick-tick-tick.
Nach den langen Sekunden der Stille erschreckte das plötzliche Ticken Sam, denn er war gerade zu dem Ergebnis gekommen, daß die Kreaturen weitergezogen sein mußten.
Tick-tick-tick-tick.
Es klopfte gegen das Glas, als wollte es dessen Festigkeit erproben oder den Mann rufen, den es dort stehen gesehen hatte.
Tick-tick. Pause. Tick-tick-tick.
5
Tucker führte seine Meute aus Schlamm und Regen auf die windschiefe Veranda des Hauses. Die Dielen ächzten unter ihrem Gewicht. Ein loser Laden klapperte im Wind; alle anderen waren schon längst verfault und heruntergefallen.
Er bemühte sich, ihnen seine Absichten mitzuteilen, mußte aber feststellen, daß es ihm sehr schwerfiel, sich an die notwendigen Worte zu erinnern oder sie hervorzubringen. Zwischen Knurren und Fauchen und leisem Paarungsmurmeln gelang es ihm nur hervorzustoßen: »...hier ...verstecken ...hier ...sicher...«
Das andere Männchen schien die Fähigkeit zu sprechen vollkommen verloren zu haben, denn es brachte überhaupt keine Worte mehr zustande.
Das Weibchen sagte mit sichtlichen Schwierigkeiten: »...sicher ...hier ...zuHause ...«
Tucker studierte seine beiden Gefährten einen Augenblick und stellte fest, daß sie sich während ihres nächtlichen Abenteuers verändert hatten. Bisher hatte das Weibchen etwas Katzenhaftes gehabt - schlank, geschmeidig, mit Katzenohren und spitzen Zähnen, die sie entblößte, wenn sie vor Angst, Wut oder sexuellem Verlangen fauchte. Zwar hatte sie immer noch etwas von einer Katze an sich, aber sie war mehr wie Tucker geworden, wölfisch, mit einem großen Kopf und einer Schnauze, die mehr hundeartig als katzenhaft war. Sie hatte auch wolfsgleiche Beine und Füße, die von einer Kreuzung zwischen Mensch und Wolf zu stammen schienen, keine Pfoten, aber auch keine Hände, mit Klauen versehen, die länger und mörderischer als die eines Wolfs waren. Das andere Männchen, einst eine einmalige Erscheinung, die ein paar insektenhafte Züge mit dem allgemeinen Erscheinungsbild einer Hyäne vereint hatte, hatte sich inzwischen ebenfalls weitgehend Tuckers Äußerem angeglichen.
Tucker war durch eine stumme Übereinkunft zum Anführer der Meute geworden. Nachdem sie sich seiner Herrschaft unterworfen hatten, hatten seine Anhänger offensichtlich seine Gestalt als Modell für ihre eigene benützt. Ihm wurde klar, daß dies eine wichtige Wendung der Ereignisse war, vielleicht sogar eine ominöse.
Er wußte nicht, warum ihn das beunruhigen sollte, und er besaß nicht mehr die geistige Klarheit, sich so lange zu konzentrieren, bis er es begriff. Das drängendere Problem einer Zuflucht beanspruchte seine Aufmerksamkeit.
...hier... sicher... hier...«
Er führte sie durch die aufgebrochene, halb offene Tür in die Diele des verfallenen Hauses. Der Verputz war rissig und abgebröckelt, an manchen Stellen fehlte er völlig, dort waren Gitter zu sehen, die an die Gebeine eines halb verwesten Leichnams erinnerten. In dem leeren Wohnzimmer hingen lange Streifen Tapete herunter, als würde das Haus im Prozeß einer Verwandlung seine Haut abstreifen, die so dramatisch war wie die, die Tucker und seine Meute durchgemacht hatten.
Er folgte Gerüchen durch das Haus, und das war interessant, nicht erregend, aber eindeutig interessant. Seine Gefährten folgten ihm, während er Flecken von Schimmel untersuchte, Pilze, die in einer dunklen Ecke des Eßzimmers wuchsen, Kolonien schwach leuchtender Pilze im Zimmer auf der anderen Seite des Flurs, mehrere Häufchen Rattenkot, die mumifizierten Überreste eines Vogels, der durch eine der zerbrochenen Scheiben hereingeflogen war und sich an der Wand einen Flügel gebrochen hatte, und den noch erhaltenen Kadaver eines kranken Koyoten, der in die Küche gekrochen war, um zu sterben.
Im Verlauf dieser Untersuchung stellte Tucker fest, daß das Haus keinen idealen Unterschlupf bot. Die Zimmer wa-ren zu groß und zugig, besonders dort, wo die Fenster herausgebrochen waren. Es hing zwar kein Geruch von Menschen in der Luft, aber er spürte, daß immer noch welche hierher kamen, nicht regelmäßig, aber dennoch häufig genug, daß sie ein Ärgernis werden konnten.
Aber in der Küche fand er den Eingang zum Keller, und diese unterirdische Zuflucht nahm er aufgeregt zur Kenntnis. Er führte die anderen die quietschende Treppe hinunter in diese finstere Dunkelheit, wo keine kalten Winde sie erreichen konnten, wo Boden und Wände trocken waren, und wo die Luft einen sauberen, zitronenähnlichen Geruch hatte, der aus den Wänden kam.
Er ging davon aus, daß Eindringlinge selten in den Keller gingen. Und wenn doch... würden sie in ein Gehege kommen, aus dem sie nicht mehr entkommen könnten.
Es war eine vollkommene, fensterlose Heimstatt. Tucker ging die Wände des Raumes ab, seine Krallen klickten und schabten über den Boden. Er schnupperte in Ecken und untersuchte den verrosteten Ofen. Er war überzeugt, daß sie in Sicherheit waren. Sie konnten sich in der sicheren Gewißheit zusammenrollen, daß man sie nicht finden würde, und falls man sie durch Zufall doch fände, könnten sie den einzigen Fluchtweg abschneiden und den Eindringling rasch aus dem Weg schaffen.
An diesem tiefen, dunklen und geheimen Ort konnten sie werden, was sie wollten, und niemand würde sie sehen.
Dieser letzte Gedanke verblüffte Tucker. Alles werden, was sie wollten?
Er war nicht sicher, woher dieser Gedanke kam oder was er bedeutete. Plötzlich wurde ihm klar, daß er mit seiner Regression einen Prozeß eingeleitet hatte, der sich inzwischen seiner bewußten Kontrolle entzog, daß ein primitiver Teil seines Verstandes jetzt auf Dauer die Oberhoheit hatte. Panik ergriff ihn. Er war füher häufig in diesen veränderten Zustand übergewechselt und hatte immer wieder zurück gekonnt. Aber jetzt... Seine Angst war nur einen Augenblick klar, weil er sich nicht auf das Problem konzentrieren konnte, sich nicht einmal erinnerte, was er mit >Regression< mein-te, und weil er wenig später von dem Weibchen abgelenkt wurde, das sich mit ihm paaren wollte.
Bald darauf waren die drei ineinander verschlungen, krallten nacheinander, stießen und schlugen um sich. Ihre schrillen, erregten Schreie schallten durch das Haus, gleich Geisterstimmen in einem Spukhaus.
6
Tick-tick-tick.
Sam war versucht, sich zu erheben, durch das Fenster zu sehen und die Kreaturen von Angesicht zu Angesicht zu konfrontieren, denn er brannte darauf herauszufinden, wie sie aus der Nähe aussahen.
Aber da diese Kreaturen eindeutig gewalttätig waren, hätte ein solche Konfrontation sicher zu einem Angriff und einer Schießerei geführt, was die Aufmerksamkeit der Nachbarn und damit der Polizei erregt haben würde. Er durfte sein derzeitiges Versteck nicht aufs Spiel setzen, denn er konnte nirgendwo anders hingehen.
Er umklammerte den Revolver mit einer Hand, ließ die andere auf Moose und blieb unter dem Fenstersims und lauschte. Er hörte Stimmen, aber entweder sprachen sie keine Worte oder waren so gedämpft, daß die Worte nicht durch das Glas über seinem Kopf drangen. Das zweite Geschöpf hatte sich zu dem ersten an der Seitenmauer des Hauses gesellt. Sein Knurren hörte sich wie ein unterdrückter Streit an.
Danach Schweigen.
Sam kauerte noch eine Weile an derselben Stelle und wartete ab, ob die Stimme wieder zu sprechen anfangen oder eines der Wesen mit den Bernsteinaugen wieder ans Fenster klopfen würde - tick-tick -, aber nichts geschah. Als schließlich seine Arm- und Beinmuskeln sich verkrampften, nahm er die Hand von Moose und richtete sich zum Fenster hin auf. Er rechnete halb damit, daß das Schreckgespenst da sein würde, aber es war fort.
Der Hund begleitete ihn, als er im Erdgeschoß von Zimmer zu Zimmer ging und zu sämtlichen Fenstern an den vier Seiten des Hauses hinaussah. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn die Kreaturen versucht hätten, sich irgendwo gewaltsam Zutritt zu verschaffen.
Aber das Haus war völlig still, abgesehen vom Regen, der auf das Dach trommelte und in den Regenrinnen blubberte.
Er kam zur Überzeugung, daß sie fort und ihr Interesse an dem Haus reiner Zufall gewesen war. Sie hatten nicht speziell nach ihm gesucht, nur nach Beute. Sie hatten ihn zweifellos am Fenster erblickt und wollten ihn nicht gehen lassen, falls er sie gesehen hatte. Aber falls sie gekommen waren, um mit ihm persönlich abzurechnen, hatten sie sich offenbar entschieden, daß sie sich einen Einbruch und eine lautstarke Konfrontation ebenso wenig leisten konnten wie er, nicht im Herzen der Stadt. Sie waren verstohlene Geschöpfe. Hin und wieder stießen sie einen unheimlichen Schrei aus, der über Moonlight Cove hallte, aber nur dann, wenn sie sich im Griff einer seltsamen Leidenschaft befanden. Und bisher hatten sie ihre Angriffe auf Menschen beschränkt, die relativ isoliert lebten.
Als er wieder im Wohnzimmer war, schob er den Revolver ins Halfter und streckte sich auf dem Sofa aus.
Moose setzte sich und sah ihn noch eine Weile an, als könnte er nicht glauben, daß er sich wieder ruhig hinlegen und schlafen konnte, nachdem er gesehen hatte, was da durch Nacht und Regen schlich.
»Einige meiner Träume waren schlimmer als das, was heute nacht da draußen ist«, sagte er zu dem Hund. »Wenn ich leicht zu verängstigen wäre, würde ich wahrscheinlich nie wieder schlafen können.«
Der Hund gähnte, stand auf und ging in den dunklen Flur hinaus, wo er in den Fahrstuhl sprang. Der Motor summte, als der Lift den Labrador nach oben brachte.
Während er darauf wartete, daß er wieder einschliefe, versuchte Sam, seine Träume in eine angenehmere Form zu bringen, indem er sich auf Dinge konzentrierte, von denen er gerne träumen würde: gutes mexikanisches Essen, kaum gekühltes Guinness Stout und Goldie Hawn, die noch strahlender als gewöhnlich aussehen würde, in einem mexikanischen Restaurant sitzen, und sie würden essen und Guinness trinken und lachen.
Aber als er wieder eingeschlafen war, träumte er von seinem Vater, einem übellaunigen Alkoholiker, dem er mit sieben Jahren in die Hände fiel, nachdem seine Mutter bei dem Autounfall ums Leben gekommen war.
7
Chrissie, die sich in den Stapel nach Gras duftender Jutesäcke auf dem Lieferwagen des Gärtners gekuschelt hatte, wachte auf, als das automatische Garagentor mit einem Ächzen md Rasseln aufging. Sie hätte sich beinahe überrascht aufgerichtet und dadurch verraten. Aber sie erinnerte sich rechtzeitig, wo sie war, und behielt den Kopf unter dem obersten halben Dutzend der Säcke, die sie als Decke verwendete. Sie versuchte, sich im Stapel der Säcke zu verkriechen.
Sie hörte Regen aufs Dach prasseln. Er fiel auf den Schotterweg vor der Tür und erzeugte ein zischelndes Geräusch, so wie tausend Speckstreifen in einer riesigen Bratpfanne. Chrissie hatte Hunger. Bei diesem Geräusch wurde sie noch hungriger.
»Hast du meinen Vesperkoffer, Sarah?«
Chrissie kannte Mr. Eulane nicht so gut, daß sie seine Stimme erkannt hätte, aber sie vermutete, daß er es war, denn Sarah Eulane, deren Stimme Chrissie kannte, antwortete sofort:
»Es, es wäre mir wirklich lieber, wenn du gleich wieder heimfahren würdest, nachdem du mich in der Schule abgesetzt hast. Nimm einen Tag frei. Du solltest bei dem schlechten Wetter nicht arbeiten.«
»Nun, bei diesem Guß kann ich kein Gras mähen«, sagte er. »Aber ich kann ein paar Sachen erledigen. Ich werde eben den Gummianorak anziehen. Der hält mich knochentrocken. Mit diesem Anorak hätte Moses durch das Rote Meer gehen können und wäre nicht auf Gottes Wunder angewiesen gewesen.«
Als sie die Luft atmete, die gefiltert durch den rauhen Stoff der Säcke kam, verspürte Chrissie ein Kitzeln in der Nase bis zu den Stirnhöhlen. Sie hatte Angst, daß sie niesen müßte.
DUMMES JUNGES MÄDCHEN NIEST, FÄLLT DADURCH IN DIE HÄNDE GIERIGER AUSSERIRDISCHER; LEBENDIG AUFGEGESSEN; »EIN LECKERER KLEINER HAPPEN«, SAGTE AUSSERIRDISCHE KÖNIGIN,» BRINGT UNS NOCH MEHR EURER ELFJÄHRIGEN BLONDEN WEIBCHEN.«
Sarah öffnete die Beifahrertür dicht neben Chrissies Versteck und sagte: »Du wirst dir den Tod holen, Ed.«
»Glaubst du wirklich, daß ich so eine zarte Primel bin?« fragte er neckend, während er die Fahrertür aufmachte und einstieg.
»Ich glaube, du bist ein welker, alter Löwenzahn.«
Er lachte. »Das hast du gestern nacht nicht gedacht.«
»Doch das habe ich. Aber du bist mein welker, alte Löwenzahn, und ich möchte nicht, daß du einfach so vom Winde verweht wirst.«
Eine Tür wurde zugeschlagen, dann die andere.
Als sie sicher war, daß sie sie nicht sehen konnten, zog Chrissie die Jutesäcke weg und streckte den Kopf heraus. Sie hielt sich die Nase zu und atmete durch den Mund, bis das Kitzeln in den Stirnhöhlen nachließ.
Während Ed Eulane den Motor anließ, ihn etwas im Leerlauf heulen ließ und dann rückwärts aus der Garage fuhr, konnte Chrissie hören, wie sie sich im Fahrerhaus unterhielten. Sie konnte nicht alles verstehen, was sie sagten, aber sie schienen einander immer noch zu necken.
Kalter Regen schlug ihr ins Gesicht, und sie zog den Kopf sofort wieder unter den Sack und ließ nur einen winzigen Spalt offen, durch den frische Luft herein konnte. Wenn sie während der Fahrt nieste, würde das durch Regen und Motorenlärm nicht zu hören sein.
Als sie an die Unterhaltung dachte, die sie in der Garage mitangehört hatte, und als sie jetzt hörte, wie Mr. Eulane im Führerhaus lachte, dachte Chrissie, daß sie ihnen vertrauen könnte. Wenn sie Außerirdische wären, würden sie keine albernen Scherze und verliebtes Geplänkel machen. Sie würden es vielleicht tun, wenn sie vor Nichtaußerirdischen eine Schau abzögen und versuchten, so zu tun, als wären sie immer noch Ed und Sarah Eulane, aber nicht, wenn sie unter sich waren. Wenn Außerirdische allein waren, ohne nicht verwandelte Menschen in der Nähe, unterhielten sie sich wahrscheinlich über... nun, Planeten, die sie eingesackt hatten, das Wetter auf dem Mars, den Preis von Treibstoff für fliegende Untertassen und Rezepte, wie man Menschen köstlich zubereitete. Wer konnte das schon sagen? Aber sie unterhielten sich sicher nicht so, wie sich die Eulanes unterhielten.
Andererseits...
Vielleicht hatten diese Außerirdischen Ed und Sarah Eula-ne nur in der Nacht übernommen, vielleicht fühlten sie sich noch nicht wohl in ihren Menschenrollen. Vielleicht übten sie das Menschsein in der Abgeschiedenheit, damit sie in der Öffentlichkeit als Menschen durchgehen konnten. Wenn Chrissie sich ihnen zeigte, würden sie wahrscheinlich verdammt sicher Tentakel bekommen oder sich Hummerscheren aus der Brust wachsen lassen, und sie würden sie lebend verspeisen, ohne Beilagen, oder sie würden sie ausstopfen, auf eine Holzscheibe montieren und auf ihrem Heimatplaneten ins Wohnzimmer hängen, oder sie würden ihr das Gehirn aus dem Kopf klopfen, es in ihr Raumschiff montieren und als billigen Kontrollmechanismus für ihre Kaffeemaschine verwenden.
Mitten in einer außerirdischen Invasion konnte man sein Vertrauen nur widerstrebend und nach einigem Nachdenken verschenken. Sie beschloß, sich an ihren ursprünglichen Plan zu halten.
Die Fünfzig-Pfund-Plastiksäcke Kunstdünger und Torf und Schneckenkorn, die rings um ihre Jutenische gestapelt waren, beschützten sie vor einem Teil des Regens, aber es kam immer noch genügend durch, daß die oberen Schichten der Jutesäcke durchnäßt waren. Als sie aufbrachen, war sie trocken und mollig warm, aber als sie sich mit nach Cras riechendem Regenwasser vollgesogen hatte, fror sie bis auf die Knochen.
Sie spähte ein paarmal hinaus, um festzustellen, wo sie sich befanden. Als sie sah, daß sie von der Landstraße in die Ocean Avenue einbogen, streifte sie die durchnäßten Jutesäcke ab und kroch aus ihrem Versteck.
In der Rückwand des Fahrerhauses befand sich ein Fenster, das bedeutete, die Eulanes konnten sie sehen, wenn sie sich umdrehten. Mr. Eulane konnte sie vielleicht sogar im Rückspiegel sehen, wenn sie nicht ganz unten bliebe. Aber sie mußte zur Ladeklappe des Lieferwagens und sich zum Absprang bereit machen, bis sie Our Lady of Mercy passierten.
Sie ging auf Händen und Knien zwischen den Gartengeräten durch - und über sie hinüber. Als sie die Heckklappe erreichte, kauerte sie sich dort nieder, senkte den Kopf und zitterte kläglich im Regen.
Sie überquerten den Shasta Way, die erste Kreuzung am Stadtrand, und fuhren durchs Geschäftsviertel der Ocean Avenue. Sie waren nur vier Blocks von der Kirche entfernt.
Chrissie war überrascht, daß keine Menschenseele auf den Gehwegen zu sehen war und keine Autos auf den Straßen fuhren. Es war früh - sie sah auf die Uhr, 7:03 -, aber nicht so früh, daß alle noch zu Hause in den Betten sein konnten. Sie vermutete, daß das Wetter auch etwas mit dem verlassenen Eindruck zu tun hatte, den die Stadt machte; bei diesem miesen Wetter ging niemand aus, wenn er nicht unbedingt mußte.
Aber es gab noch eine andere Möglichkeit: Vielleicht hatten die Außerirdischen einen so großen Teil von Moonlight Cove übernommen, daß sie es nicht mehr für nötig hielten, die Charade des alltäglichen Lebens aufrechtzuerhalten; da die endgültige Eroberung nur noch Stunden entfernt war, konzentrierten sie ihre sämtlichen Bemühungen darauf, die letzten zu suchen, die nicht besessen waren. Das war so beunruhigend, daß sie gar nicht darüber nachdenken wollte.
Als sie noch einen Block von Our Lady of Mercy entfernt waren, kletterte Chrissie auf das weiße Brett der Heckklappe. Sie schwang ein Bein darüber, dann das andere, und hielt sich mit beiden Händen am Brett fest, die Füße auf der Heckstoßstange. Sie konnte die Hinterköpfe der Eulanes durch das Fenster sehen, und wenn sie sich umdrehten -oder wenn Mr. Eulane in den Rückspiegel sähe - würden sie sie entdecken.
Sie rechnete damit, von einem Passanten gesehen zu werden, der schreien würde: »He, du da, hast du den Verstand verloren, die Füße so aus dem Lastwagen hängen zu lassen?« Aber es waren keine Fußgänger unterwegs, und sie kamen ohne weitere Zwischenfälle zur nächsten Kreuzung.
Die Bremsen quietschten, als Mr. Eulane vor einem Stop-schild bremste.
Als der Lieferwagen hielt, sprang Chrissie von der Heckklappe herunter.
Mr. Eulane bog an der Kreuzung links ab. Er fuhr in Richtung Thomas Jefferson Grundschule in der Palomino, ein paar Blocks südlich, wo Mrs. Eulane arbeitete und wo Chris -sie an einem gewöhnlichen Dienstagmorgen im Schulzim-mer der sechsten Klasse sitzen würde.
Sie lief über die Kreuzung, platschte durch das schmutzige Wasser im Rinnstein und rannte die Stufen zum Eingang von Our Lady of Mercy hinauf. Triumph wärmte sie, denn ihr war zumute, als hätte sie gegen alle Chancen eine sichere Zuflucht erreicht.
Sie hatte eine Hand auf dem Verzierten Messinggriff der geschnitzten Eichentür, und so wartete sie und sah noch einmal nach rechts und links. Die Fenster von Geschäften, Büros und Wohnungen waren so frostblank wie Augen mit grauem Star. Kleinere Bäume beugten sich mit dem heftigen Wind, die größeren Bäume wogten, und das waren die einzigen Bewegungen, abgesehen vom Regen, der verweht wurde. Der Wind war ungleichmäßig, böig; manchmal hörte er damit auf, den Regen unablässig nach Osten zu peitschen, und sammelte ihn zu Schleiern, die er dann die Ocean Avenue entlang wehte; wenn sie die Augen zukniff und nicht auf die Kälte achtete, hätte sie fast glauben können, daß sie in einer verlassenen Geisterstadt war und zusah, wie Sandteufel durch die einsamen Straßen rollten.
An der Kreuzung bei der Kirche hielt ein Polizeiauto an dem Stopschild. Zwei Männer saßen darin. Keiner sah in ihre Richtung.
Sie vermutete bereits, daß man der Polizei nicht trauen konnte. Sie zog die Kirchentür auf und schlüpfte rasch hinein, bevor sie in ihre Richtung sahen.
In dem Augenblick, als sie den eichenfurnierten Vorbau betreten hatte und die nach Weihrauch und Myrrhe duftende Luft einatmete, fühlte Chrissie sich sicher. Sie trat durch den Bogen ins Kirchenschiff, tauchte die Finger ins Weihwasserbecken zur Rechten, bekreuzigte sich und ging den Mittelgang bis zur vierten Bankreihe von hinten entlang. Sie machte einen Knicks, bekreuzigte sich noch einmal und setzte sich.
Die Messe war im Gange. Außer ihr waren nur noch zwei Gläubige anwesend, und das schien eine skandalös armselige Anzahl zi sein. Es war natürlich so, daß ihre Eltern, soweit sie sich erinnern konnte, sie zwar immer zur Sonntagsmesse mitgenommen hatten, sie aber nur einmal im Leben werktags zur Messe brachten, was schon vier Jahre her war, daher wußte sie nicht, ob für gewöhnlich mehr Leute zur Messe an Werktagen kamen. Sie vermutete jedoch, daß die Anwesenheit der Außerirdischen - oder Dämonen, was auch immer - in Moonligt Cove für die geringe Besucherzahl verantwortlich war. Zweifellos waren Außerirdische aus dem Weltall gottlos oder, noch schlimmer, beteten ein dunkle Gestalt an, die Yahgag oder Scogblatt oder so ähnlich hieß.
Sie stellte überrascht fest, daß der Priester, der die Messe -mit Unterstützung eines Meßknaben - las, nicht Pater Castelli war. Es war der junge Priester - der Dekan, wie sie ihn nannten -, den die Erzdiezöse Pater Castelli im August zugeteilt hatte. Sein Name war Pater O'Brien. Sein Vorname war Tom, und er folgte dem Beispiel seines Vorgesetzten und bestand manchmal darauf, daß die Gläubigen ihn Pater Tom nannten. Er war nett - wenn auch nicht so nett oder klug oder amüsant wie Pater Castelli -, aber sie konnte ihn ebensowenig Pater Tom nennen wie den älteren Priester Pater Jim. Ebensogut hätte sie den Papst Johnny nennen können. Ihre Eltern unterhielten sich manchmal darüber, wie sehr sich die Kirche verändert hatte, wie sie im Laufe der Jahre immer weniger formell geworden war, und sie sprachen zustimmend von diesen Veränderungen. Chrissie wünschte sich in ihrem konservativen Herzen, sie wäre zu der Zeit geboren und erzogen worden, als die Messe in Latein gelesen wurde, elegant und geheimnisvoll, als das regelrecht alberne Ritual, den Gläubigen rings um einen herum >Frieden zu geben< noch nicht zum Gottesdienst gehört hatte. Sie war einmal in einer Kathedrale in San Francisco zur Messe gegangen, als sie im Urlaub waren, und dieser Gottesdienst war speziell gewesen, in Latein, gemäß der alten Liturgie, und das hatte ihr gefallen. Immer schnellere Flugzeuge zu bauen, Fernseher v>n Schwarzweiß zu Farbe zu verbessern, Leben mit besserer medizinischer Versorgung zu retten, die alten, sperrigen Platten durch Compact-dics zu ersetzen - diese Veränderungen waren alle wünschenswert und gut. Aber es gab Dinge im Leben, die man nicht verändern sollte, weil man an ihnen gerade ihre Unveränderlichkeit schätzte. Wenn man in einer Welt unablässiger, rapider Veränderungen in allen Bereichen lebte, wohin sollte man sich dann wenden, wenn man Stabilität suchte, einen Ort der Ruhe und des Friedens inmitten von Lärm und Hektik? Diese Wahrheit war Chrissie so einsichtig, daß sie sich manchmal fragte, warum die Erwachsenen nicht darauf kämen. Manchmal waren die Erwachsenen Holzköpfe. Sie blieb nur ein paar Minuten in der Messe sitzen, gerade lange genug, daß sie ein Gebet sprechen und die Heilige Jungfrau bitten konnte, ihr beizustehen, und bis sie sich vergewissert hatte, daß Pater Castelli nicht irgendwo im Kirchenschiff war - wie ein gewöhnlicher Gläubiger auf einer Bank saß, was er mnchmal tat - oder hinten in einem der Beichtstühle wartete. Dann stand sie auf, machte einen Knicks, bekreuzigte sich und ging in den Vorbau, wo kerzenförmige elektrische Glühbirnen schwach hinter den bernsteinfarbenen Glasscheiben von zwei an der Wand befestig -ten Lampen leuchteten. Sie machte die Tür einen Spalt auf und sah auf die verregnete Straße hinaus.
In diesem Augenblick kam ein Polizeiauto die Ocean Avenue herunter. Es war nicht dasselbe, das sie beim Betreten der Kirche gesehen hatte. Es war neuer, und es saß nur ein Beamter darin. Dieser fuhr langsam und suchte die Straße genau ab, als suchte er nach jemandem.
Als der Streifenwagen die Kreuzung erreichte, wo Our Lady of Mercy war, fuhr ein anderes Auto an ihm vorbei, das vom Meer kam. Das war kein Streifenwagen, sondern ein blauer Chevy. Zwei Männer saßen darin, die sich alles eingehend ansahen und nach links und rechts in den Regen spähten, wie es der Polizist machte. Obwohl die Männer im Chevy und der Polizist einander nicht winkten oder sonstwie Zeichen gaben, spürte Chrissie, daß sie alle nach demselben Ausschau hielten. Die Polizei hatte sich mit einem Zivilistenteam zusammengetan, um nach jemandem oder etwas zu suchen.
Mir, dachte sie.
Sie suchten nach ihr, weil sie zuviel waßte. Weil sie gestern morgen im oberen Flur die Außerirdischen in ihren Eltern gesehen hatte. Weil sie als einzige der Eroberung der menschlichen Rasse im Wege stand. Und vielleicht, weil sie ausgezeichnet schmecken würde, wenn sie sie mit ein paar marsianischen Kartoffeln kochten.
Sie hatte zwar mittlerweile herausgefunden, daß die Außerirdischen ein paar Menschen übernommen hatten, aber sie hatte keine Beweise dafür, daß sie wirklich andere verspeisten; dennoch war sie fest davon überzeugt, daß sie sich gerade in diesem Augenblick einen Imbiß aus Leichenteilen bereitet hatten. Das schien einfach zutreffend zu sein.
Als der Streifenwagen und der blaue Chevy vorbei waren, stieß sie die schwere Tür ein paar Zentimeter weiter auf und steckte den Kopf in den Regen hinaus. Sie sah noch einmal nach rechts und links, um sich wirklich zu vergewissern, daß niemand zu Fuß oder im Auto unterwegs war. Nach-dem sie sich überzeugt hatte, ging sie hinaus und lief nach Osten zur Ecke der Kirche. Als sie an der Straßenkreuzung in beide Richtungen gesehen hatte, eilte sie an der Kirchenmauer entlang zur hinten gelegenen Pforte.
Das zweistöckige Haus war ganz aus Backsteinen erbaut, mit Schwellen aus gemeißelten Granit und einer weißgestrichenen Veranda mit vorstehenden Erkern, und es sah respektabel genug für die Behausung eines Priesters aus. Die alten Bäume am Weg schützten sie vor dem Regen, aber sie war schon durchnäßt. Als sie die Veranda erreicht hatte und zur Eingangstür ging, erzeugten ihre Tennisschuhe schmatzende Geräusche.
Als sie gerade auf den Klingelknopf drücken wollte, zögerte sie. Sie hatte Angst, daß sie in einen Unterschlupf der Außerirdischen spazieren könnte - eine unwahrscheinliche Vorstellung, die man aber nicht leichtfertig von der Hand weisen sollte. Außerdem überlegte sie, daß Pater O'Brien möglicherweise die Messe las, damit sich Pater Castelli, der immer hart arbeitete, ein seltenes Schläfchen gönnen konnte, und sie wollte ihn auf gar keinen Fall stören, wenn das der Fall war.
Die junge Chrissie, dachte sie, war unbestreitbar mutig und schlau, aber trotzdem so höflich, daß es ihr schlecht bekam. Während sie auf der Veranda des Priesters stand und über die Anstandsregeln für einen Besuch am frühen Morgen nachdachte, wurde sie plötzlich von sabbernden Außerirdischen mit neun Augen gepackt und auf der Stelle verspeist. Glücklicherweise war sie so tot, daß sie nicht mehr hören konnte, wie sie rülpsten und furzten, nachdem sie sie gegessen hatten, denn ihr Gefühl für Anstand wäre davon sicherlich aufs Gröbste verletzt worden.
Sie klingelte. Zweimal.
Einen Augenblick später tauche eine schemenhafte und seltsam unförmige Gestalt hinter den diamantförmigen, gesprungenen Scheiben der oberen Türhälfte auf. Sie hätte sich beinahe herumgedreht und wäre weggelaufen, sagte sich aber, daß das Glas das Bild verzerrte und die Gestalt dahin -ter gar nicht mißgebildet war.
Pater Castelli machte die Tür auf und blinzelte überrascht, als er sie sah. Er trug schwarze Hosen, ein schwarzes Hemd, den Priesterkragen und eine fadenscheinige graue Jacke, also hatte er Gott sei Dank, nicht fest geschlafen. Er war klein, etwa einen Meter siebzig groß, und rundlich, aber nicht richtig dick, mit schwarzem Haar, das an den Schläfen grau wurde. Nicht einmal seine kühne Hakennase konnte die Wirkung seiner ansonsten weichen Züge beeinflussen, die ihm ein sanftes und gütiges Aussehen verliehen.
Er blinzelte noch einmal - Chrissie sah ihn das erste Mal ohne seine Brille - und sagte: »Chrissie?« Er lächelte, und sie wußte, sie hatte richtig gehandelt, als sie zu ihm gekommen war, denn sein Lächeln war gütig und offen und herzlich. »Was führt dich denn so früh und bei diesem Wetter hierher?« Er sah an ihr vorbei auf die Veranda und den Fußweg dahinter. »Wo sind deine Eltern?«
»Pater«, sagte sie und war nicht überrascht, ihre Stimme brechen zu hören, »ich muß mit Ihnen reden.«
Sein Lächeln erlosch. »Ist etwas geschehen?«
»Ja, Pater. Etwas Schreckliches. Etwas furchtbar Schreckliches.«
»Dann komm herein, komm herein. Du bist ja tropfnaß!« Er führte sie in die Diele und machte die Tür zu. »Mein liebes Kind, was soll das alles bedeuten?«
»Außerirdische, P-p-pater«, sagte sie, und die Kälte ließ sie stottern.
»Komm mit in die Küche«, sagte er. »Das ist der wärmste Raum im Haus. Ich habe gerade das Frühstück gemacht.«
»Ich ruiniere den Teppich«, sagte sie und deutete auf den Läufer, der durch den ganzen Flur lag, und Eichendielen rechts und links davon.
»Oh, mach dir deshalb keine Sorgen. Er ist alt, hält aber jede Mißhandlung aus. So wie ich! Möchtest du heiße Schokolade? Ich mache gerade Frühstück, und auch einen Topf dampfend heißen Kakao.«
Sie folgte ihm dankbar durch den spärlich erleuchteten Flur, der nach Zitronenpolitur und Holzdesinfektionsmittel und ganz schwach nach Weihrauch roch.
Die Küche war anheimelnd. Ein ausgetretener gelber Lino-leumboden. Hellgelbe Wände. Dunkle Holzschränke mit Porzellangriffen. Graue und gelbe Arbeitsplatten aus Kunststoff. Es gab Geräte - Kühlschrank, Herd, Mikrowelle, Toaster, elektrischer Dosenöffner - wie in jeder anderen Küche auch, was sie überraschte, aber als sie eingehender darüber nachdachte, wußte sie nicht zu sagen, warum sie gedacht hatte, es wäre anders. Auch Priester brauchten Küchengeräte. Sie könnten nicht einfach Engel herbeirufen, damit diese ihnen Toast rösteten oder ein Wunder vollbrächten und einen Topf heiße Schokolade machten.
Es roch herrlich in der Küche. Die Schokolade kochte. Toast röstete. Würste zischten auf kleiner Flamme auf dem Gasherd.
Pater Castelli führte sie zu einem der vier gepolsterten Vinylsitze am Frühstückstisch aus Chrom und Kunststoff, dann wuselte er herum und kümmerte sich um sie, als wäre sie ein Kücken und er die Glucke. Er eilte nach oben, kam mit zwei frischen, sauberen Badehandtüchern zurück und sagte: »Trockne dir mit einem die Haare und tupf deine nassen Kleider ab, und dann wickle das andere wie einen Schal um dich. Das wird dich wärmen.« Während sie seinen Anweisungen folgte, ging er ins Badezimmer am unteren Flur und holte zwei Aspirin. Diese legte er vor ihr auf den Tisch und sagte: »Ich bringe die etwas Orangensaft, damit du sie nehmen kannst. Orangensaft enthält viel Vitamin C. Aspirin und Vitamin C sind wie ein steifer Grog; sie klopfen die Erkältung aus dir raus, noch bevor sie sich niederlassen kann.« Als er mit dem Saft zurückkam, stand er einen Augenblick da, sah auf sie herunter und schüttelte den Kopf, und sie dachte sich, daß sie mitgenommen und erbarmenswert aussehen mußte. »Gutes Mädchen, was hast du dr um Himmels willen nur gedacht?« Er schien nicht gehört zu haben, daß sie etwas von Außerirdischen sagte, als sie bei ihm eingetreten war. »Nein, warte. Das kannst du mir beim Frühstück erzählen. Möchtest du Frühstück?«
»Ja, bitte, Pater. Ich bin am Verhungern. Ich habe seit gestern nachmittag nur zwei Schokoriegel gegessen.«
»Nur Schokoriegel?« Er seufzte. »Schokolade ist eine Gnade Gottes, aber sie ist auch ein Werkzeug, das der Teufel benützt, um uns in Versuchung zu führen - die Versuchung der Völlerei.« Er strich sich über den runden Bauch. »Ich selbst habe diese spezielle Gnade oft genossen, aber ich wäre niemals« - er betonte das Wort >niemals< übertrieben und blinzelte ihr zu - »niemals, nicht einmal dem Ruf des Teufels nach Völlerei gefolgt! Aber sieh her, wenn du nur Schokolade ißt, werden dir die Zähne ausfallen. Daher... ich habe eine Menge Würste, die ich mit dir teilen kann. Ich wollte mir auch ein paar Eier machen. Möchtest du auch ein paar Eier?«
»Ja, bitte.«
»Und Toast?«
»Ja.«
»Wir haben ein paar herrliche Zimtbrötchen hier auf dem Tisch. Und natürlich die heiße Schokolade.«
Chrissie schluckte die beiden Aspirin mit Orangensaft.
Während er sorgfältig Eier in die heiße Bratpfanne schlug, sah Pater Castelli sie wieder an. »Geht es dir gut?«
»Ja, Pater.«
»Bist du sicher?«
»Ja. Jetzt. Jetzt geht es mir gut.«
»Es ist schön, Gesellschaft beim Frühstück zu haben«, sagte er.
Chrissie trank den restlichen Saft.
Er sagte: »Wenn Pater O'Brien mit der Messe fertig ist, möchte er nie etwas essen. Nervöser Magen.« Er kicherte. »Sie haben alle Probleme mit dem Magen, wenn sie neu sind. In den ersten Monaten haben sie da oben auf dem Altar eine Heidenangst. Weißt du, es ist so eine heilige Pflicht, die Messe zu lesen, und die jungen Priester haben immer Angst, sie könnten sie auf eine Weise vermasseln, die... oh, ich weiß nicht... die eine Beleidigung Gottes wäre, schätze ich. Aber Gott läßt sich nicht so leicht beleidigen. Wenn er das täte, hätte er sich die menschliche Rasse schon längst vom Hals geschafft! Alle jungen Priester kommen irgendwann einmal zu dieser Erkenntnis, dann geht es ihnen gut. Dann kommen sie von der Messe zurück und sind bereit, das Lebensmittelkontingent der ganzen Woche bei einem einzigen Frühstück zu verschlingen.«
Sie wußte, daß er nur redete, um sie zu beruhigen. Er hatte bemerkt, wie durcheinander sie war. Er wollte sie beruhigen, damit sie sich auf gelassene, vernünftige Weise miteinander unterhalten konnten. Das störte sie nicht. Sie brauchte es, beruhigt zu werden.
Nachdem er alle vier Eier aufgeschlagen hatte, wendete er die Würstchen mit einer Gabel, dann machte er eine Schublade auf und holte eine Kelle heraus, die er zur Eierpfanne legte. Während er Teller, Messer und Gabeln auf den Tisch legte, sagte er: »Du siehst mehr als nur ein wenig ängstlich aus, Chrissie, als hättest du gerade ein Gespenst gesehen. Du kannst dich jetzt beruhigen. Wenn ein junger Priester nach so vielen Jahren des Trainings und der Ausbildung Angst haben kann, bei der Messe einen Fehler zu machen, dann kann jeder vor allem Möglichen Angst haben. Die meisten Ängste denken wir uns selber aus, und wir können sie mühelos loswerden, wenn wir sie uns vergegenwärtigen.«
»Diese vielleicht nicht«, sagte sie.
»Wir werden sehen.«
Er lud Eier und Würste von den Pfannen auf die Teller.
Die Welt schien zum erstenmal seit vierundzwanzig Stunden wieder in Ordnung zu sein. Während Pater Castelli das Essen auf die Teller schaufelte und sie aufforderte zuzugreifen, seufzte Chrissie vor Erleichterung und Hunger.
8
Shaddack ging für gewöhnlich erst nach der Dämmerung zu Bett, daher gähnte er dienstagmorgen um sieben Uhr und rieb sich die Augen, während er durch Moonlight Cove fuhr und nach einer Stelle suchte, wo er den Lieferwagen verstecken und ein paar Stunden wohlbehalten und sicher vor Loman Watkins schlafen könnte. Der Tag war bewölkt, grau und trüb, trotzdem tat das Sonnenlicht seinen Augen weh.
Er erinnerte sich an Paula Parkins, die im September von Regressiven in Stücke gerissen wjrden war. Ihr sechzig Ar großes Grundstück lag abgeschieden am ländlichsten Ende der Stadt. Die Familie der Toten - in Colorado - hatte es über den hiesigen Makler zum Verkauf angeboten, aber es war nicht verkauft worden. Dorthin fuhr er, parkte in der leeren Garage, machte den Motor aus und zog das große Tor hinter sich zu.
Er aß ein Schinkensandwich und trank eine Cola. Er wischte sich Krümel von den Fingern, rollte sich auf den Decken hinten im Wagen zusammen und wollte schlafen.
Er litt nie an Schlaflosigkeit, was vielleicht daran lag, daß er sich seiner Rolle im Leben so sicher war, seines Schicksals, und er sich nicht um das Morgen zu sorgen brauchte. Er war durch und durch davon überzeugt, daß er die Zukunft nach seinen Wünschen gestalten konnte.
Shaddack hatte sein ganzes Leben lang Zeichen gesehen, wie einmalig er war, Omen, die seinen letztendlichen Triumph bei jedem seiner Unterfangen prophezeiten.
Anfangs waren ihm diese Zeichen nur aufgefallen, weil Don Runningdeer sie ihm gezeigt hatte. Runningdeer war Indianer gewesen - von welchem Stamm, konnte Shaddack nie herausfinden -, der daheim in Phoenix als Gärtner und Faktotum für den Richter, Shaddacks Vater, gearbeitet hatte. Runningdeer war schlank und schnell gewesen, mit ledri-gem Gesicht, Muskelsträngen und schwieligen Händen; seine Augen waren stechend und schwarz wie Öl gewesen, unglaublich fesselnde Augen, vor denen man sich manchmal abwenden mußte... und vor denen man sich manchmal nicht abwenden konnte, wie sehr man es auch wünschen mochte. Der Indianer interessierte sich für den jungen Tommy Shaddack und ließ ihn manchmal im Garten oder bei Reparaturen im Haushalt helfen, wenn weder der Richter noch Tommys Mutter anwesend waren und mißbilligen konnten, daß ihr Junge gewöhnliche Arbeiten erledigte oder sich mit gesellschaftlich Niedergestellten< einließ. Was bedeutete, daß er im Alter von fünf bis zwölf Jahren fast ständig mit Runningdeer zusammen war (das war die Zeit, die der Indianer für den Richter gearbeitet hatte), weil seine Eltern fast nie da waren und es nicht sehen und Einwände erheben konnten.
Eine seiner frühesten deutlichen Erinnerungen war die an Runningdeer und das Zeichen der Schlange, die sich selbst verzehrte.
Er war fünf Jahre alt und saß mit einer Sammlung Tonka-Spielsachen auf der hinteren Veranda des großen Hauses in Phoenix, aber er interessierte sich mehr für Runningdeer als für die Miniaturlastwagen und Autos. Der Indianer hatte Jeans und Halbstiefel an, aber in der grellen Mittagssonne kein Hemd, und er schnitt die Hecken mit einer riesigen Schere mit Holzgriffen. Die Muskeln in Runningdeers Rücken, Schultern und Armen arbeiteten geschmeidig, streckten und spannten sich, und Tommy war fasziniert von der Körperkraft des Mannes. Tommys Vater, der Richter, war mager, knochig und blaß. Tommy selbst war mit seinen fünf Jahren schon deutlich seines Vaters Sohn, hell und groß für sein Alter und erschreckend dünn. An dem Tag, als er Tommy die Schlange zeigte, sie sich selbst verzehrte, arbeitete Runningdeer gerade zwei Wochen für die Shaddacks, und Tommy fühlte sich zunehmend zu ihm hingezogen, ohne den Grund dafür zu verstehen. Runningdeer lächelte ihm oft zu und erzählte ihm komische Geschichten von sprechenden Koyoten und Klapperschlangen und anderen Tieren der Wüste. Manchmal nannte er Tommy >Kleiner Häuptlinge das war der erste Spitzname, den ihm jemand gegeben hatte. Sein Mutter nannte ihn immer Tommy oder Tom; der Richter nannte ihn Thomas. Und so saß er zwischen seinen Tonka-Spielzeugen, mit denen er immer seltener spielte, bis er schließlich ganz damit aufhörte und Runningdeer wie hypnotisiert beobachtete.
Er war nicht sicher, wie lange er an jenem heißen Wüstentag gebannt im Schatten der Veranda lag, aber nach einer Weile stellte er überrascht fest, daß Runningdeer ihn rief.
»Kleiner Häuptling, komm her und sieh dir das an.«
Er war so benommen, daß er zuerst gar nicht reagieren konnte. Seine Arme und Beine funktionierten nicht. Er schien zu Stein geworden zu sein.
»Komm schon, komm schon, Kleiner Häuptling. Das mußt du dir ansehen.«
Schließlich sprang Tommy auf und lief zum Rasen, zu den Hecken um den Swimming-pool, wo Runningdeer geschnitten hatte.
»Dies ist etwas sehr Seltenes«, sagte Runningdeer mit feierlicher Stimme und deutete auf eine grüne Schlange, die auf den von der Sonne gewärmten Fliesen um den Pool herum zu seinen Füßen lag.
Tommy wich ängstlich zurück.
Aber der Indianer packte ihn am Arm, hielt ihn fest und sagte: »Hab keine Angst. Es ist nur eine harmlose Gartenschlange. Sie wird dir nichts tun. Sie ist sogar als Zeichen für dich hergeschickt worden.«
Tommy sah das vierzig Zentimeter lange Reptil mit aufgerissenen Augen an; es hatte sich zu einem O zusammengerollt und den Schwanz im Mund, als würde es sich selbst verzehren. Die Schlange war reglos, ihre glasigen Augen blinzelten nicht. Tommy dachte, sie wäre tot, aber der Indianer versicherte ihm, daß sie lebte.
»Dies ist ein großes und mächtiges Zeichen, das alle Indianer kennen«, sagte Runningdeer. Er kauerte sich vor der Schlange nieder und zog den Jungen mit herunter. »Es ist ein Zeichen«, flüsterte er, »ein übernatürliches Zeichen, das von den großen Geistern geschickt worden ist, und es gilt immer einem kleinen Jungen, daher muß es für dich sein. Ein mächtiges Zeichen.«
Tommy betrachtete die Schlange staunend und sagte: »Zeichen? Was meinst du damit? Das ist kein Zeichen. Es ist eine Schlange.«
»Ein Omen. Eine Offenbarung. Ein heiliges Zeichen«, sagte Runningdeer.
Während sie vor der Schlange kauerten, erklärte er Tommy die Sache mit einer durchdringenden Flüsterstimme, ohne dabei seinen Arm loszulassen. Die Sonne schien grell auf die betonierte Fläche. Hitzeflimmern stieg davon auf. Die Schlange lag so reglos, daß sie ein ungemein detailliertes Juwelenhalsband hätte sein können, und gar keine richtige Schlange - jede Schuppe ein Smaragd, zwei Rubine als Augen. Nach einer Weile verfiel Tommy wieder in die seltsame Trance, die er schon auf der Veranda erlebt hatte, und Run-ningdeers Stimme stahl sich schlangengleich in seinen Kopf, tief in den Schädel hinein, wo sie sich durch sein Gehirn wand und schnitt.
Noch seltsamer, es schien fast, als wäre die Stimme gar nicht mehr die von Runningdeer, sondern die der Schlange. Er betrachtete die Viper unablässig und vergaß beinahe, daß Runningdeer da war, denn was die Schlange ihm zu sagen hatte, war so faszinierend und aufregend, daß es Tommys Sinne herausforderte und seine volle Aufmerksamkeit verlangte, obwohl er nicht ganz begriff, was er hörte. Dies ist ein Zeichen des Schicksals, sagte die Schlange, ein Zeichen der Macht und des Schicksals, und du wirst ein sehr mächtiger Mann werden, weit mächtiger als dein Vater, ein Mann, vor dem sich andere verbeugen werden, ein Mann, dem man gehorchen wird, ein Mann, der die Zukunft niemals fürchten wird, denn er wird die Zukunft machen, und du wirst alles haben, alles auf der Welt. Aber das, sagte die Schlange, muß vorläufig unser Geheimnis bleiben. Niemand darf erfahren, daß ich dir diese Botschaft überbracht habe, daß dieses Zeichen gegeben wurde, denn wenn sie wissen, daß es dein Schicksal ist, Macht über sie zu haben, werden sie dich töten, dir in der Nacht die Kehle durchschneiden, das Herz herausreißen und dich in einem tiefen Graben zur Ruhe legen. Sie dürfen nicht wissen, daß du der kommende König bist, der Gott auf Erden, sonst werden sie dich zerschmettern bevor deine Kräfte ganz erblüht sind. Geheimnis. Dies ist unser Geheimnis. Ich bin die Schlange, die sich selbst verzehrt, und jetzt, da ich diese Botschaft überbracht habe, werde ich mich selbst auffressen und verschwinden, und niemand wird erfahren, daß ich hier gewesen bin. Vertraue dem Indianer, aber sonst niemandem.
Niemandem. Niemals.
Tommy verlor neben dem Pool das Bewußtsein und war zwei Tage krank. Der Arzt verblüfft. Der Junge hatte kein Fieber, keine erkennbare Schwellung der Lymphdrüsen, keine Übelkeit, keine Gelenk- oder Muskelschmerzen, überhaupt keine Schmerzen. Er litt lediglich an einem umfassenden Unwohlsein und war so lethargisch, daß er nicht einmal einen Comic halten wollte; selbst das Fernsehen war zuviel Anstrengung. Er hatte keinen Appetit. Er schlief vierzehn Stunden täglich und war die restliche Zeit wie benommen. »Vielleicht ein schwacher Hitzschlag«, sagte der Arzt, »wenn er in ein paar Tagen nicht darüber hinweg ist, bringen wir ihn zur Untersuchung ins Krankenhaus.«
Tagsüber, wenn der Richter im Gerichtssaal war oder sich mit seinen Anlagenberatern traf, und wenn Tommys Mutter im Country Club oder bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung weilte, schlich Runningdeer ab und zu ins Haus und setzte sich zehn Minuten zu dem Jungen ans Bett. Er erzählte Tommy Geschichten mit seiner leisen und seltsam rhythmischen Stimme.
Miß Karval, die Haushälterin und zeitweise Amme, wußte genau, daß weder der Richter noch Mrs. Shaddack die Krankenbesuch des Indianers oder seine sonstigen Aktivitäten mit Tommy gutheißen würden. Aber Miß Karval hatte ein gütiges Herz und mißbilligte die mangelnde Aufmerksamkeit, die die Shaddacks ihrem Sprößling schenkten. Und sie mochte den Indianer. Sie sah nicht hin, weil sie nichts Schlechtes darin sah - wenn Tommy versprach, seinen Eltern nicht zu verraten, wieviel Zeit er mit Runningdeer verbrachte.
Als sie gerade beschlossen hatten, den Jungen zur Untersuchung ins Krankenhaus zu bringen, erholte er sich wieder, und die Diagnose des Arztes - Hitzschlag - wurde akzeptiert. Von diesem Tage an verbrachte Tommy seine Zeit fast täglich mit Runningdeer, wenn seine Eltern aus dem Haus gegangen waren, bis einer von ihnen zurückkehrte. Als er zur Schule ging, kam er nach dem Unterricht sofort nach Hause; er war nie interessiert, wenn andere Kinder ihn zum Spielen zu sich einluden, denn er brannte darauf, ein paar Stunden mit Runningdeer zu verbringen, bevor sein Vater oder seine Mutter am Spätnachmittag wiederkamen.
Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr machte der Indianer Tommy deutlich auf Zeichen aufmerksam, die sein großes - wenn auch bislang noch unbekanntes - Schicksal andeuteten. Ein Büschel vierblättriger Kleeblätter unter dem Schlafzimmerfenster des Jungen. Eine tote Rate, die im Swimming-pool trieb. Ein paar zirpende Grillen in der Schreibtischschublade des Jungen, als er eines Nachmittags von der Schule nach Hause kam. Gelegentlich tauchten Münzen auf, wo er keine hingelegt hatte - ein Penny in jedem seiner Schuhe im Schrank; einen Monat später ein glänzender Silberdollar in einem Apfel, den Runningdeer für ihn schälte - und der Indianer betrachtete alle Münzen voller Ehrfurcht und erklärte, daß sie die mächtigsten Zeichen von allen waren.
»Geheimnis«, flüsterte Runningdeer geheimnisvoll am Tag nach Tommys neuntem Geburtstag, als der Junge berichtete, daß er um Mitternacht leise Glocken unter seinem Fenster läuten gehört hatte.
Als er aufstand, hatte er nur eine Kerze auf dem Rasen brennen gesehen. Er achtete sorgfältig darauf, seine Eltern nicht zu wecken, und schlich hinaus, um die Kerze genauer zu betrachten, aber sie war nicht mehr da.
»Behalte diese Zeichen immer für dich, sonst werden sie bemerken, daß du ein Kind des Schicksals bist und eines Tages unermeßliche Macht über sie haben wirst, dann werden sie dich jetzt töten, solange du noch ein Junge bist, und schwach.«
»Wer sind >sie« fragte Tommy.
»Sie, eben sie, alle«, antwortete der Indianer geheimnisvoll.
»Aber wer?«
»Zum Beispiel dein Vater.«
»Der nicht.«
»Der ganz besonders«, flüsterte Runningdeer. »Er ist ein mächtiger Mann. Es gefällt ihm, Macht über andere zu haben, einzuschüchtern, zu drohen, um seinen Willen durchzusetzen. Du hast gesehen, wie sich die Menschen vor ihm verbeugen und kriechen.«
Tommy hatte tatsächlich bemerkt, wie respektvoll alle mit seinem Vater sprachen - besonders seine zahlreichen Freunde in der Politik -, und ein paarmal hatte er auch die beunruhigenden und wahrscheinlich aufrichtigeren Blicke gesehen, die sie hinter dem Rücken des Richters miteinander wechselten. Von Angesicht zu Angesicht schienen sie ihn zu bewundern, sogar zu verehren, aber wenn er nicht hinsah, schienen sie ihn nicht nur zu fürchten, sondern sogar zu verabscheuen.
»Er ist nur zufrieden, wenn er alle Macht besitzt, und die wird er nicht so ohne weiteres aus der Hand geben, für keinen, nicht einmal für seinen Sohn. Wenn er herausfindet, daß es dein Schicksal ist, größer und mächtiger zu werden, als er es ist... dann kann dir niemand mehr helfen. Nicht einmal ich.«
Wäre ihr Familienleben mehr von Liebe beherrscht gewesen, hätte Tommy die Warnung des Indianers vielleicht kaum akzeptieren können. Aber sein Vater unterhielt sich selten mehr als beiläufig mit ihm, berührte ihn noch seltener
- und niemals gab es eine Umarmung oder einen Kuß.
Manchmal brachte Runningdeer dem Jungen selbstgemachte Plätzchen mit. »Kaktusplätzchen«, nannte er sie, und es gab immer nur eines für jeden, die sie gemeinsam aßen, wenn sie entweder auf der Veranda saßen und der Indianer seine Vesperpause machte, oder wenn Tommy seinem Mentor bei verschiedenen Aufgaben über das achtzig Ar große Grundstück folgte. Kurz nachdem er das Kaktusplätzchen gegessen hatte, war der Junge in einer seltsamen Stimmung. Er fühlte sich euphorisch. Wenn er sich bewegte, schien er zu schweben. Die Farben waren leuchtender, schöner. Das eindrucksvollste aber war Runningdeer: sein Haar war unglaublich schwarz, die Haut wunderschön bronzefarben, die Zähne strahlten weiß, die Augen so dunkel wie das Ende des Universums. Jedes Geräusch - sogar das metallische schnip-schnip-schnip der Heckenschere, das Dröhnen eines Flugzeugs, das auf dem Weg zum Flughafen von Phoenix über ihnen hinwegzog, das insektenhafte Summen der PoolPumpe - wurde Musik; die Welt war voller Musik, aber das musikalischste von allem war Runningdeers Stimme. Auch Gerüche wurden deutlicher: Blumen, gemähtes Gras, das Öl, mit dem der Indianer die Werkzeuge einölte. Sogar der Schweißgeruch wurde angenehm. Runningdeer roch wie frischgebackenes Brot und Heu und Kupferpennys.
Tommy konnte sich selten daran erinnern, was Running-deer gesagt hatte, nachdem sie ihre Kaktusplätzchen gegessen hatten, aber er erinnerte sich, daß der Indianer mit besonderer Eindringlichkeit zu ihm sprach. Vieles hatte mit dem Zeichen des Mondfalken zu tun. »Wenn die großen Geister das Zeichen des Mondfalken schicken, dann weiß man, man wird unermeßliche Macht bekommen und unverwundbar sein. Unverwundbar! Aber wenn du den Mondfalken siehst, dann bedeutet das, daß die großen Geister eine Gegenleistung von dir erwarten, eine Tat, die wirklich beweist, daß du würdig bist.« Daran erinnerte sich Tommy, aber sonst an fast nichts. Normalerweise wurde er nach einer Stunde müde und ging auf sein Zimmer, um zu schlafen; dann waren seine Träume besonders lebhaft und wirkten echter als das wirkliche Leben, und immer kam der Indianer darin vor. Es waren furchteinflößende und zugleich tröstliche Träume.
An einem regnerischen Samstag im November, als Tommy zehn Jahre alt war, saß er auf einem Hocker neben der Werkbank am Ende der Garage, die vier Autos Platz bot und sah zu, wie Runningdeer ein elektrisches Messer reparierte, das der Richter immer dazu benützte, am Erntedankfest und an Weihnachten den Truthahn zu schneiden. Die Luft war angenehm kühl und für Phoenix ungewöhnlich feucht. Runningdeer und Tommy sprachen vom Regen, den bevorstehenden Ferien und jüngsten Ereignissen in der Schule. Sie unterhielten sich nicht immer über Zeichen oder das Schicksal, sonst hätte Tommy den Indianer wohl kaum so gut leiden mögen; Runningdeer war ein großartiger Zuhörer.
Als der Indianer das elektrische Messer repariert hatte, schaltete er es ein. Die Klingen sausten so schnell hin und her, daß die Schnittkante verschwamm.
Tommy applaudierte.
»Siehst du das?« fragte Runningdeer, hielt das Messer hoch und blinzelte ins Licht der Glühbirnen an der Decke.
Grelle Funken stoben von den rasenden Klingen, als wären sie emsig damit beschäftigt, das Licht selbst zu schneiden.
»Was?« fragte Tommy.
»Dieses Messer, kleiner Häuptling. Es ist eine Maschine. Eine unnütze Maschine, keine wirklich wichtige Maschine wie ein Auto, ein Flugzeug oder ein elektrischer Rollstuhl. Mein Bruder ist... verkrüppelt... und muß mit einem elektrischen Rollstuhl fahren. Hast du das gewußt, Kleiner Häuptling?«
»Nein.«
»Einer meiner Brüder ist tot, der andere verkrüppelt.«
»Das tut mir leid.«
»Eigentlich sind es nur meine Halbbrüder, aber andere habe ich nicht.«
»Wie ist das passiert? Warum?«
Runningdeer ging nicht auf die Frage ein. »Auch wenn der Zweck dieses Messers nur darin besteht, einen Truthahn zu zerlegen, den man ebenso gut mit der Hand zerlegen könnte, ist es trotzdem effizient und klug. Die meisten Maschinen sind viel effizienter und klüger als Menschen.«
Der Indianer senkte das Schneidegerät etwas und sah Tommy direkt an. Er hielt das summende Messer zwischen sie und sah über die rasende Klinge hinweg in Tommys Augen.
Der Junge geriet in einen ähnlichen Bann wie nach dem Verzehr der Kaktusplätzchen, obwohl sie keine gegessen hatten.
»Der weiße Mann setzt viel Vertrauen in Maschinen«, sagte Runningdeer. »Er denkt, Maschinen seien immer viel zuverlässiger und klüger als Menschen. Wenn du in der Welt des weißen Mannes wahrhaft groß werden willst, Kleiner Häuptling, mußt du versuchen, so gut du kannst, zur Maschine zu werden. Du mußt effizient sein. Du mußt unablässig arbeiten, wie eine Maschine. Du mußt entschlossen dein Ziel verfolgen und darfst dich nicht von Begierden oder Emotionen ablenken lassen.«
Er bewegte die summende Klinge langsam auf Tommys Gesicht zu, bis der Junge bei dem Versuch, sie weiter anzusehen, zu schielen anfing.
»Damit könnte ich dir die Nase abschneiden, die Lippen wegreißen, die Wangen aushöhlen und Ohren abtrennen... «
Tommy wollte vom Hocker herunter und weglaufen.
Aber er konnte sich nicht bewegen.
Er merkte, daß der Indianer ihn an einem Handgelenk festhielt.
Aber selbst wenn er ihn nicht festgehalten hätte, hätte er nicht weglaufen können. Er war wie gelähmt. Aber nicht nur vor Angst. Der Augenblick hatte etwas Verführerisches an sich; das Potential der Gewalt war auf eine seltsame Weise... aufregend.
»...könnte die Rundung deines Kinns abschneiden, dich skalpieren, die Knochen freilegen, und du würdest verbluten oder an einer anderen Ursache sterben, aber... «
Die Klinge war nur noch fünf Zentimeter von seinem Ge -sicht entfernt.
»...aber die Maschine würde weitermachen...«
Zwei Zentimeter.
»...das Messer würde immer noch summen und schneiden, summen und schneiden... «
Ein Zentimeter.
»...weil Maschinen nicht sterben...«
Tommy konnte den sanften Hauch spüren, den die beiden unablässig summenden Klingen erzeugten.
»...Maschinen sind effizient und zuverlässig. Wenn du es in der Welt des Weißen Mannes zu etwas bringen willst, Kleiner Häuptling, mußt du wie eine Maschine werden.«
Runningdeer schaltete das Messer ab. Er legte es weg.
Er ließ Tommy nicht los.
Er beugte sich dicht zu ihm und sagte: »Wenn du groß werden möchtest, wenn du die großen Geister zufriedenstellen möchtest, wenn sie dir das Zeichen des Mondfalken schicken, dann mußt du entschlossen sein, tüchtig, kalt, verbissen und darfst nicht an die Konsequenzen denken, genau wie eine Maschine.«
Danach unterhielten sie sich oft darüber, so sehr auf eine Aufgabe fixiert und so zuverlässig wie eine Maschine zu sein, besonders wenn sie Kaktusplätzchen aßen. Als er in die Pubertät kam, träumte Tommy immer seltener von sexuellen Dingen, sondern zunehmend von Bildern des Mondfalken und von Menschen, die äußerlich normal aussahen, im Inneren aber nur aus Kabeln und Transistoren und klickenden Metallschaltern bestanden.
Im Sommer seines zwölften Jahres, nachdem er sieben Jahre in der Gesellschaft des Indianers verbracht hatte, erfuhr der Junge, was mit Runningdeers Halbbrüdern passiert war. Wenigstens einen Teil davon. Den Rest reimte er sich zusammen.
Er und der Indianer saßen auf der Veranda, aßen zu Mittag und beobachteten die Regenbogen, die im Nebel der Rasensprenger auftauchten und wieder verschwanden. Er hatte seit jenem Tag an der Werkbank vor mittlerweile mehr als eineinhalb Jahren mehrmals nach Runningdeers Brüdern gefragt, aber der Indianer hatte nie darauf geantwortet. Dieses-mal jedoch sah Runningdeer zu den fernen, dunstigen Bergen und sagte: »Ich erzähle dir ein Geheimnis.«
»Gut.«
»So geheim, wie die Zeichen, die du bekommen hast.«
»Klar.«
»Ein paar weiße Männer, Collegejungs, betranken sich und fuhren in der Gegend herum, sie suchten vielleicht nach Frauen, aber ganz bestimmt nach Ärger. Sie trafen meine Brüder zufällig auf dem Parkplatz eines Restaurants. Einer meiner Brüder war verheiratet, und seine Frau war bei ihm, und die Collegejungs fingen an, Verspottet-die-Indianer zu spielen, aber die Frau meines Bruders gefiel ihnen auch sehr gut. Sie wollten sie und waren so betrunken, daß sie dachten, sie könnten sie einfach nehmen. Es kam zum Kampf. Sie waren fünf gegen meine zwei Brüder, und sie haben einen mit einer Eisenstange totgeschlagen. Der andere wird nie wieder gehen können. Sie haben die Frau meines Bruders mitgenommen und sie mißbraucht.«
Diese Enthüllung schockierte Tommy.
Schließlich sagte der Junge: »Ich hasse weiße Männer.«
Runningdeer lachte.
»Wirklich«, sagte Tommy. »Was wurde aus den Jungs, die es getan haben? Sind sie jetzt im Gefängnis?«
»Kein Gefängnis.« Runningdeer lächelte den Jungen an. Ein grimmiges, humorloses Lächeln. »Ihre Väter waren mächtige Männer. Geld. Einfluß. Daher sprach der Richter sie wegen >Mangel an Beweisen< frei.«
»Mein Vater hätte Richter sein sollen. Er hätte sie nicht da-vonkommenlassen. «
»Nicht?« sagte der Indianer.
»Niemals.«
»Bist du ganz sicher?«
Tommy sagte unbehaglich: »Nun... klar bin ich sicher.«
Der Indianer schwieg.
»Ich hasse weiße Männer«, sagte Tommy, aber diesesmal mehr, um die Gunst des Indianers zu erringen, als aus innerster Überzeugung.
Runningdeer lachte wieder und tätschelte Tommys Hand.
In eben diesem Sommer, gegen Ende August, kam Run-ningdeer an einem sengend heißen Tag zu Tommy und sagte mit geheimnisvoller, vielsagender Stimme: »Heute nacht ist Vollmond, Kleiner Häuptling. Geh in den Garten und betrachte ihn eine Weile. Ich glaube, heute wird das Zeichen schließlich kommen, das bedeutendste Zeichen von allen.«
Als der Mond aufgegangen war, kurz nach Mitternacht, ging Tommy hinaus und stand am Rand des Pools, wo Run-ningdeer ihm vor sieben Jahren die Schlange gezeigt hatte, die sich selbst verzehrte. Er sah lange Zeit zur Mondscheibe hinauf, deren langgezogene Reflektion auf dem Wasser im Swimming-pool schimmerte. Es war ein aufgedunsener gelber Mond, der tief am Himmel hing und riesig groß war.
Wenig später kam der Richter auf die Veranda und rief ihn, und Tommy sagte: »Hier.«
Der Richter kam zu ihm an den Pool. »Was machst du hier, Thomas?«
»Ich beobachte... «
»Was?«
In diesem Augenblick sah Tommy den Umriß des Falken vor dem Mond. Er hatte jahrelang gesagt bekommen, daß er ihn eines Tages sehen würde, war auf ihn und alles, was er bedeutete, vorbereitet worden, und plötzlich war er da, im Flug einen Augenblick vor der runden Mondlampe erstarrt.
»Da!« sagte er und vergaß einen Moment, daß er nur dem Indianer vertrauen konnte.
»Was da?« fragte der Richter.
»Hast du es nicht gesehen?«
»Nur den Mond.«
»Du hast nicht hingeschaut, sonst hättest du ihn gesehen.«
»Was gesehen?«
Daß sein Vater das Zeichen nicht gesehen hatte, war für Tommy ein weiterer Beweis, daß er etwas Besonderes war und das Zeichen nur ihm gegolten hatte - was ihn daran erinnerte, er konnte seinem eigenen Vater nicht trauen. Er sagte: »Äh... eine Sternschnuppe.«
»Du stehst hier draußen und hältst nach Sternschnuppen Ausschau?«
»Eigentlich sind sie Meteore«, sagte Tommy, der zu schnell plapperte. »Weißt du, heute nacht soll die Erde durch einen Meteorgürtel ziehen, daher kann man viele sehen.«
»Seit wann interessierst du dich für Astronomie?«
»Interessiert mich nicht.« Tommy zuckte die Achseln. »Ich wollte nur wissen, wie so etwas aussieht. Ziemlich langweilig.« Er wandte sich vom Pool ab und ging zum Haus zurück, und der Richter folgte ihm nach einem Augenblick.
Am nächsten Tag, Mittwoch, erzählte der Junge Running-deer vom Mondfalken. »Aber er hat mir keine Botschaft gebracht. Ich weiß nicht, was die großen Geister von mir verlangen, damit ich mich als würdig erweise.«
Der Indianer lächelte und sah ihn eine unbehaglich lange Zeit schweigend an. Dann sagte er: »Kleiner Häuptling, darüber werden wir uns beim Essen unterhalten.«
Miß Karval hatte mittwochs frei, Runningdeer und Tommy waren ganz allein im Haus. Sie saßen beim Mittagessen nebeneinander auf der Veranda. Der Indianer schien nur Kaktusplätzchen mitgebracht zu haben, und Tommy hatte auch keinen Appetit auf etwas anderes.
Der Junge aß die Plätzchen schon lange nicht mehr wegen ihres Geschmacks, sondern wegen der Wirkung. Und die war im Laufe der Jahre immer stärker geworden.
Bald befand sich der Junge in dem erstrebenswerten traumähnlichen Zustand, in dem die Farben leuchtend und die Geräusche laut und die Gerüche durchdringend und alle Dinge tröstlich und ansprechend waren. Er und der Indianer unterhielten sich fast eine Stunde, und am Ende dieses Ge -sprächs begriff Tommy, daß die großen Geister von ihm erwarteten, er solle in vier Tagen seinen Vater umbringen, am Sonntagmorgen. »Das ist mein freier Tag«, sagte Runningdeer, »das heißt, ich bin nicht da und kann dich nicht unterstützen. Aber das ist wahrscheinlich die Absicht der großen Geister - daß du dich ganz allein als würdig erweisen mußt. Aber wir haben wenigstens die nächsten Tage, es zu planen, damit du am Sonntag vorbereitet bist.«
»Ja«, sagte der Junge verträumt. »Ja. Wir planen es gemeinsam.«
Am Spätnachmittag kam der Richter von einer geschäftlichen Sitzung im Anschluß an eine Gerichtsverhandlung nach Hause. Er beschwerte sich über die Hitze und ging sofort nach oben, um zu duschen. Tommys Mutter war eine halbe Stunde vorher heimgekommen. Sie saß in einem Sessel im Wohnzimmer, hatte die Füße auf einen Polsterschemel gelegt und las die neueste Ausgabe von Town & Coun-try; dazu trank sie einen, wie sie es nannte »Cocktail vor der Cocktailstunde<. Sie sah kaum auf, als der Richter herein-kam und verkündete, daß er duschen würde.
Kaum war sein Vater nach oben gegangen, ging Tommy in die Küche und holte ein Fleischmesser vom Regal beim Herd.
Runningdeer war draußen und mähte den Rasen.
Tommy ging ins Wohnzimmer, lief zu seiner Mutter und küßte sie auf die Wange. Der Kuß überraschte sie, aber noch mehr das Messer, das er ihr dreimal in die Brust stieß. Er ging mit demselben Messer nach oben und rammte es dem Richter in den Magen, als dieser aus der Duschkabine herauskam.
Er ging in sein Zimmer und zog sich aus. Er hatte kein Blut auf den Schuhen, nur wenig auf den Jeans, aber eine Menge auf dem Hemd. Nachdem er sich rasch im Waschbecken gewaschen und alle Spuren des Blutes hinuntergespült hatte, zog er sich frische Jeans und ein sauberes Hemd an. Er wickelte die blutigen Kleidungsstücke sorgfältig in ein Handtuch und trug sie auf den Dachboden, wo er sie in einer Ecke hinter einer Seemannskiste verstaute. Er könnte sie später wegschaffen.
Unten ging er am Wohnzimmer vorbei, ohne seine tote Mutter anzusehen. Er ging schnurstracks ins Arbeitszimmer des Richters und machte die untere rechte Schreibtischschublade auf. Er zog den Revolver des Richters hinter einem Aktenstapel hervor.
In der Küche schaltete er die Deckenbeleuchtung aus, so daß das einzige Licht durchs Fenster kam, ein paar Teile des Raums lagen in düsteren Schatten. Er legte das Messer auf die Arbeitsplatte neben dem Kühlschrank, in den Schatten. Er legte den Revolver auf einen der Stühle am Tisch und zog den Stuhl nur ein Stück hervor, wodurch der Revolver leicht zu ergreifen, aber nicht leicht zu sehen war.
Er ging durch die Verandatür der Küche auf die Veranda hinaus und rief Runningdeer. Der Indianer hörte den Jungen über das Dröhnen des Rasenmähers nicht, sah aber auf und sah ihn winken. Er schaltete den Rasenmäher stirnrunzelnd ab und kam über den halb gemähten Rasen zur Veranda. »Ja, Thomas?« sagte er, weil er wußte, daß der Richter und Mrs. Shaddack zu Hause waren.
»Meine Mutter braucht deine Hilfe für irgend etwas«, sagte Tommy. »Sie hat mich gebeten, dich zu holen.«
»Meine Hilfe?«
»Ja. Im Wohnzimmer.«
»Was will sie denn?«
»Sie braucht Hilfe beim... nun, es ist einfacher, dir das zu zeigen, anstatt es lange zu erklären.«
Der Junge folgte ihm durch die Verandatür in die große Küche, am Kühlschrank vorbei zur Tür der Diele.
Tommy blieb unvermittelt stehen, drehte sich herum und sagte: »Ach ja, Mutter hat gesagt, du wirst das Messer brauchen, das hinter dir auf der Platte, neben dem Kühlschrank.«
Runningdeer drehte sich um, sah das Messer im Schatten auf der Arbeitsplatte liegen und hob es auf. Er riß die Augen auf. »Kleiner Häuptling, an dem Messer ist Blut. An dem Messer ist...«
Tommy hatte schon den Revolver vom Küchenstuhl genommen. Als der Indianer sich überrascht zu ihm umdrehte, hielt Tommy die Waffe mit beiden Händen fest und feuerte, bis die Trommel leer war, obwohl ihm der Rückstoß schrecklich in Armen und Schultern weh tat und ihn beinahe umgeworfen hätte. Der Indianer wurde von mindestens zwei Kugeln getroffen, eine zerfetzte Runningdeer den Hals.
Der Indianer fiel heftig zu Boden. Das Messer fiel ihm aus der Hand und rutschte polternd über den Boden.
Tommy kickte das Messer mit einem Schuh näher an den Leichnam heran, damit es tatsächlich so aussah, als hätte der sterbende Mann es in der Hand gehabt.
Der Junge hatte die Botschaft der großen Geister besser verstanden als sein Mentor. Sie wollten, daß er sich sofort von allen freimachte, die Macht über ihn hatten: der Richter, seine Frau und Runningdeer. Nur dann könnte er sein eigenes, hochgestecktes Ziel der Macht erreichen.
Er hatte die drei Morde mit der Kaltblütigkeit eines Computers geplant und mit maschinenhafter Effizienz ausgeführt. Er empfand nichts. Keine Emotionen hatten sein Handeln beeinträchtigt. Nun, um die Wahrheit zu sagen, er hatte ein wenig Angst und war aufgeregt - sogar ausgelassen -, aber diese Empfindungen hatten ihn nicht abgelenkt.
Nachdem er Runningdeers Leichnam einen Augenblick angesehen hatte, ging Tommy zum Telefon in die Küche, wählte die Nummer der Polizei und meldete hysterisch, daß der Indianer, der Rache brüllte, seine Eltern ermordet und er, Tommy, den Indianer mit dem Revolver seines Vaters erschossen hätte. Aber er gab es nicht so zusammenhängend preis. Er war so hysterisch, daß sie es ihm aus der Nase ziehen mußten. Er war durch die Geschehnisse sogar so am Boden zerstört und durcheinander, daß sie drei oder vier Mi-nuten geduldig auf ihn einreden mußten, damit er aufhörte zu stammeln und ihnen seinen Namen und die Adresse nennen konnte. Er hatte die Hysterie den ganzen Nachmittag über in Gedanken geübt, seit dem Mittagessen mit dem Indianer. Jetzt war er zufrieden, daß er sich so überzeugend anhörte.
Er ging vor das Haus, setzte sich in die Einfahrt und weinte bis die Polizei eintraf. Seine Tränen waren aufrichtiger als seine Hysterie. Er weinte vor Erleichterung.
In seinem späteren Leben hatte er den Mondfalken noch zweimal gesehen. Er sah ihn, wenn er ihn sehen mußte, wenn er die Rückversicherung brauchte, daß ein Weg, den er eingeschlagen hatte, richtig war.
Aber er brachte nie wieder jemanden um - weil es nicht mehr nötig war.
Seine Großeltern mütterlicherseits nahmen ihn bei sich auf und zogen ihn in einem anderen Teil von Phoenix auf. Weil er diese schreckliche Tragödie mitgemacht hatte, gaben sie ihm mehr oder weniger alles, was er wollte, als wäre es unbeschreiblich grausam gewesen, ihm etwas zu verweigern, als könnte das den letzten Tropfen hinzufügen, der das Faß zum Überlaufen brächte und ihn zerbrechen ließe. Er war Alleinerbe des Anwesens seines Vaters, zu dem noch fette Lebensversicherungspolicen kamen; daher war eine erstklassige Ausbildung gewährleistet, und er besaß genügend Kapital, mit dem er nach seinem Abschluß an der Universität den Start ins Leben bewerkstelligen konnte. Die Welt lag vor ihm und war voller Möglichkeiten. Und dank Runningdeer hatte er den zusätzlichen Vorteil, daß er ohne jeden Zweifel wußte, er hatte ein großes Schicksal vor sich und die Mächte des Schicksals und des Himmels wollten, daß er unvergleichliche Macht über andere Menschen erlangte.
Nur ein Verrückter tötete ohne zwingenden Grund.
Von wenigen seltenen Ausnahmen abgesehen, war Mord einfach keine effiziente Methode, Probleme zu lösen.
Während er jetzt zusammengerollt im Lieferwagen in Paula Parkins' dunkler Garage lag, vergegenwärtigte sich Shad-dack wieder einmal, daß er ein vom Schicksal Auserwählter war, daß er den Mondfalken dreimal gesehen hatte. Er verdrängte sämtliche Ängste vor Loman Watkins und dem Scheitern seiner Pläne aus seinem Denken. Er seufzte und schlief ein.
Er träumte seinen altbekannten Traum. Die riesige Maschine. Halb Metall und halb Fleisch. Pochende Stahlkolben. Menschliche Herzen, die zuverlässig alle Arten von Flüssigkeiten pumpten. Blut und Öl, Eisen und Knochen, Plastik und Sehnen, Kabel und Nerven.
9
Chrissie war erstaunt, wieviel Priester aßen. Der Tisch in der Pfarreiküche bog sich fast unter der Last der Speisen: ein gewaltiger Teller voll Würstchen, Eier, ein Körbchen Toast, ein Päckchen Plundergebäck, ein weiteres mit Blaubeerbröt-chen, eine Schüssel Bratkartoffeln, die im Ofen gewärmt worden waren, frisches Obst und ein Beutel Marshmallows für die heiße Schokolade. Sicher, Pater Castelli war mollig, aber Chrissie hatte immer gedacht, daß Priester in allem entsagend waren, daß sie sich wenigstens einige Freuden des Essens und Trinkens verweigerten, so wie sie der Ehe entsagten. Wenn Pater Castelli bei jeder Mahlzeit so viel aß, müßte er eigentlich doppelt so viel wiegen. Nein, dreimal so viel!
Beim Essen erzählte sie ihm von den Außerirdischen, die ihre Eltern übernommen hatten. Um Pater Castellis Neigung zu religiösen Antworten zu genügen, und um ihn bei der Stange zu halten, ließ sie die Hintertür möglicher dämonischer Besessenheit offen, obwohl sie selbst der Erklärung, es handle sich um außerirdische Invasoren, den Vorzug gab. Sie sagte ihm, was sie gestern nachmittag im oberen Flur gesehen hatte, wie sie in die Speisekammer gesperrt worden und später von Tucker und ihren Eltern in ihren seltsamen neuen Gestalten gejagt worden war.
Der Priester drückte Erstaunen und Sorge aus, er wollte mehrmals genauere Einzelheiten wissen, aber er hörte nicht merklich auf zu essen. Er aß sogar mit solcher Gier, daß seine Tischsitten darunter litten. Seine Nachlässigkeit überraschte Chrissie ebensosehr wie sein unermeßlicher Appetit. Er hatte ein paarmal Eidotter auf dem Kinn, als sie den Mut aufbrachte, es ihm zu sagen, machte er einen Witz darüber und wischte ihn weg. Aber einen Augenblick später sah sie hoch, und wieder war Eidotter dort. Er ließ ein paar Minia-turmarschmallows fallen, was ihn nicht weiter zu stören schien. Sein schwarzes Hemd war völlig voller Brosamen, winziger Wurststückchen, Kartoffeln, Gebäckkrümel, Brötchenkrümel. ..
Sie fing an zu denken, daß sich Piter Castelli der Sünde der Vollere! so schuldig machte, wie man es nur konnte.
Aber sie liebte ihn trotz seiner Eßgewohnheiten, denn er zweifelte nicht einmal an ihrem Verstand oder an ihrer wilden Geschichte. Er hörte interessiert und ernsthaft zu, schien aufrichtig besorgt und sogar verängstigt von dem zu sein, was sie ihm erzählte. »Nun, Chrissie, es gibt schätzungsweise tausend Filme über außerirdische Invasionen, feindliche Geschöpfe von anderen Welten, und es gibt schätzungsweise zehntausend Bücher darüber, und ich habe immer gesagt, daß sich der menschliche Verstand nichts ausdenken kann, was in Gottes Welt nicht möglich wäre. Also, wer weiß, hmmmm? Wer kann sagen, daß sie nicht hier in Moonlight Cove gelandet sind? Ich bin Filmfan, und unheimliche Filme haben mir immer am besten gefallen, aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß ich mich selbst einmal mitten in einem echten unheimlichen Film befinden würde.« Er war aufrichtig. Er hatte sie nie herablassend behandelt.
Obwohl Pater Castelli mit ungedämpftem Appetit weiteraß, beendete Chrissie das Frühstück und ihre Geschichte zur gleichen Zeit. Es war warm in der Küche, daher trocknete sie allmählich, und nur ihr Hosenboden und die Tennis -schuhe waren noch naß. Sie fühlte sich hinreichend wiederhergestellt, daß sie, nachdem sie jetzt in Sicherheit war, darüber nachdenken konnte, was vor ihr lag. »Was jetzt?« Wir müssen die Armee benachrichtigen, Pater, finden Sie nicht auch?«
»Vielleicht die Armee und die Marines«, sagte er nach einem Augenblick des Überlegens. »Die Marines werden mit dieser Situation vielleicht besser fertig.«
»Glauben Sie...«
»Was denn, mein Kind?«
»Glauben Sie, es besteht eine Möglichkeit... nun, eine Möglichkeit, daß ich meine Eltern wiederbekomme? Ich meine, so, wie sie waren?«
Er legte das Brötchen weg, das er zum Mund geführt hatte, und griff über den Tisch, zwischen Tellern und Schüsseln hindurch, um ihre Hand zu nehmen. Seine Finger waren etwas fettig von Butter, aber das störte sie nicht, weil er so beruhigend und tröstend war; und augenblicklich brauchte sie eine Menge Trost und Beruhigung.
»Du wirst mit deinen Eltern vereint werden«, sagte Pater Castelli mit großem Mitgefühl. »Das kann ich dir felsenfest versprechen.«
Sie biß sich auf die Unterlippe und versuchte, Tränen zurückzuhalten.
»Ich verspreche es dir«, wiederholte er.
Und plötzlich blähte sich sein Gesicht auf. Nicht wie ein Ballon, der aufgeblasen wurde. Es blähte sich nur an manchen Stellen auf, an anderen nicht, wogte und pulsierte, als wäre sein Schädel zu Gallerte geworden und würden sich Würmer unter der Haut bewegen.
»Ich verspreche es dirl«
Chrissie war so entsetzt, daß sie nicht einmal schreien konnte. Sie konnte sich einen Augenblick nicht bewegen. Sie war vor Angst gelähmt und wie am Stuhl festgewachsen, und sie besaß nicht einmal genügend motorische Kontrolle, zu blinzeln oder Atem zu holen.
Sie konnte seine Knochen laut brechen-krachen-platzen hören, als sie sich auflösten und mit unfaßbarer Geschwindigkeit neu formten. Sein Fleisch gab ein abstoßendes, blubberndes Geräusch von sich, als es sich so mühelos wie heißes Wachs zu neuen Gestalten formte.
Der Schädel des Priesters dehnte sich aufwärts und schwoll zu einem Knochenkamm an, das Gesicht war jetzt überhaupt nicht mehr menschlich, sondern teils fischähnlich, teils insektenhaft, vage wespenähnlich und mit einer Spur Schakal darin; und mit stechenden, haßerfüllten Augen.
Schließlich schrie Chrissie unbeherrscht: »Nein!« Ihr Herz schlug so heftig, daß jeder Schlag schmerzhaft war. »Nein, geh weg, laß mich in Ruhe, laß mich gehen!«
Sein Kiefer wurde länger, dann platzte er bis fast zu den Ohren auf, ein bedrohliches Grinsen, das Doppelreihen unglaublich spitzer Zähne entblößte.
»Nein, nein!«
Sie versuchte aufzustehen.
Sie merkte, daß er immer noch ihre linke Hand hielt.
Er sprach mit einer unheimlichen Stimme, die sie an die ihrer Mutter und Tuckers erinnerte, als sie sie gestern nacht bis zum Eingang des Abflußrohrs verfolgt hatten:
»...brauche, brauche... will... gib mir... gib mir... brauche...«
Er sah nicht wie ihre Eltern aus, als diese sich verwandelt hatten. Warum sahen nicht alle Außerirdischen gleich aus?
Er riß den Mund weit auf und fauchte sie an, dickflüssiger, gelber Speichel zog sich in Fäden von den oberen zu den unteren Zahnreihen. Etwas bewegte sich in seinem Mund, eine seltsam aussehende Zunge; diese schnellte ihr entgegen wie ein Jack-in-the-Box und entpuppte sich als Mund im Mund, noch mehr kleinere und sogar noch spitzere Zähne an einem Stiel, die dazu entworfen worden waren, in enge Höhlen vorzudringen und Beute zu fressen, die sich dort verkrochen hatte.
Pater Castelli wurde zu etwas seltsam Vertrautem: dem Wesen aus dem Film Allen. Nicht gerade dieses Monster in allen Einzelheiten, aber ziemlich ähnlich.
Sie war in einem Film gefangen, wie der Priester gesagt hatte, einem wahrhaften Horror-Streifen: zweifellos einem seiner Favoriten. Konnte Pater Castelli jede Gestalt annehmen, die er wollte, und wurde er nur deshalb zu diesem Ge -schöpf, weil es ihm gefiel und weil es Chrissies Erwartungshaltung gegenüber außerirdischen Invasoren erfüllte?
Das war verrückt.
Auch der Körper des Priesters veränderte sich unter der Kleidung. An manchen Stellen hing das Hemd herunter, als wäre der Körper darunter weggeschmolzen, aber an anderen Stellen spannten die Nähte, wenn sich neue Knochenwüchse und nichtmenschliche Wülste bildeten. Hemdenknöpfe sprangen weg. Stoff riß. Der Priesterkragen platzte und hing schief an dem gräßlich neu geformten Hals.
Sie keuchte und gab ein eigentümliches uh-uh-uh-uh-uh-Geräusch im Hals von sich, mit dem sie nicht aufhören konnte, während sie versuchte, sich von ihm loszureißen. Sie stand auf, stieß den Stuhl um, aber er hielt sie immer noch fest. Er war sehr stark. Sie konnte sich nicht losreißen.
Auch seine Hände hatten angefangen, sich zu verwandeln. Die Finger wurden länger. Sie waren von einer hornähnlichen Substanz überzogen - glatt, hart und schwarzglänzend - und glichen eher Scheren als menschlichen Händen.
»...brauche... will, will... brauche...«
Sie ergriff das Frühstücksmesser, schwang es hoch über den Kopf und stieß mit aller Kraft zu, hieb es ihm direkt über dem Handgelenk in den Unterarm, wo das Fleisch immer noch ansatzweise menschlich aussah. Sie hatte gehofft, das Messer würde ihn am Tisch festnageln, aber sie spürte, daß es nicht ganz durch ihn hindurch und bis ins Holz ging.
Sein Schrei war so schrill und durchdringend, daß er Chrissie durch Mark und Bein zu gehen schien.
Er öffnete die schuppige Dämonenhand. Sie riß sich von ihm los. Glücklicherweise war sie schnell, denn er krampfte die Hand einen Sekundenbruchteil später wieder zusammen und kniff ihr in die Fingerspitzen, konnte sie aber nicht festhalten.
Die Küchentür befand sich auf der Seite des Priesters. Dorthin konnte sie nicht gelangen, ohne ihm den Rücken zuzukehren.
Mit einem Schrei, der halb Kreischen und halb Brüllen war, riß er das Messer aus seinem Arm und warf es beiseite. Er fegte mit einem einzigen Hieb seines bizarr mutierten Ar-mes, der jetzt zwanzig oder dreißig Zentimeter länger war als vorher, Schüsseln und Teller vom Tisch. Der Arm ragte als Ansammlung alptraumhafter Knoten und Flächen und Schuppen der dunklen, chitinartigen Substanz, die seine Haut ersetzt hatte, aus dem Hemdsärmel hervor.
Maria, Mutter Gottes, bete für mich; reinste Mutter, bete für mich; keuscheste Mutter, bete für mich. Bitte, dachte Chrissie.
Der Priester packte den Tisch und warf ihn ebenfalls beiseite, als würde er nur ein paar Gramm wiegen. Er krachte gegen den Kühlschrank.
Jetzt trennte sie nichts mehr von ihm.
Dem Ungeheuer.
Sie machte einen Ausfall in Richtung Küchentür, aber nur ein paar Schritte.
Der Priester - der gar kein Priester mehr war; ein Ding, das sich manchmal als Priester verkleidete - wandte sich nach rechts, um ihr den Weg abzuschneiden und sie zu packen.
Sie warf sich sofort herum, wie es immer ihre Absicht gewesen war, und lief in die entgegengesetzte Richtung, zu der Tür, die in den Flur führte; sie sprang über verstreuten Toast und Würstchenketten. Der Trick funktionierte. Ihre nassen Schuhe putschten und quietschten auf dem Linoleum, und sie war an ihm vorbei, bevor ihm klargeworden war, daß sie nach links wollte.
Sie vermutete, daß er nicht nur stark, sondern auch schnell sein würde. Zweifellos schneller als sie. Sie konnte hören, wie er ihr folgte.
Wenn es ihr nur gelänge, zur Eingangstür zu kommen, zur Veranda und hinaus in den Vorgarten, dann wäre sie wahrscheinlich in Sicherheit. Sie ging davon aus, daß er ihr nicht aus dem Haus und hinaus auf die Straße folgen würde, wo ihn andere sehen könnten. Es waren sicher noch nicht alle in Moonlight Cove von diesen Außerirdischen übernommen worden, und bevor nicht der letzte Mensch in der Stadt übernommen worden war, könnten sie nicht in ihrem verwandelten Stadium herumspazieren und auf ungebührliche Weise kleine Mädchen verspeisen.
Nicht weit. Nur zur Eingangstür und ein paar Stufen hinunter.
Sie hatte zwei Drittel der Entfernung zurückgelegt und rechnete jeden Augenblick damit, daß eine Kralle ihr Hemd hinten zerreißen würde, als vor ihr die Tür aufging. Der andere Priester, Pater O'Brien, trat ein und blinzelte überrascht.
Sie wußte sofort, daß sie ihm auch nicht trauen durfte. Er konnte nicht zusammen mit Pater Castelli im selben Haus gelebt haben, ohne daß der Same der Außerirdischen auch in ihn gelegt worden wäre, Samen, Sporen, schleimige Parasiten, Geister - womit die Übernahme auch immer bewerkstelligt wurde. Es war zweifellos auch in Pater O'Brien gerammt oder injiziert worden.
Da sie nicht vor und zurück und auch nicht durch die Tür rechts ins Wohnzimmer konnte, weil das eine Sackgasse war, packte sie den Treppenpfosten, an dem sie gerade vorbeikam, und schwang sich auf die Treppe. Sie hastete in den ersten Stock hinauf.
Unter ihr schlug die Eingangstür zu.
Als sie auf dem Absatz war und die zweite Treppe hinaufwollte, hörte sie, wie beide ihr folgten.
Der obere Flur war weiß verputzt und hatte einen dunklen Holzboden und eine Holzdecke. Auf beiden Seiten waren Zimmer.
Sie lief zum Ende des Flurs in ein Schlafzimmer, in dem nur eine schlichte Kommode, ein Nachttischchen, ein Doppelbett mit weißer Überwurfdecke, ein Bücherregal voller Taschenbücher und ein Kruzifix an der Wand waren. Sie warf die Tür hinter sich zu, machte sich aber nicht die Mühe, sie abzuschließen oder zu verriegeln. Dazu hatte sie keine Zeit. Sie würden sie ohnehin innerhalb von Sekunden zertrümmern. Sie wiederholte ständig »Mariamuttergottes, Mariamuttergottes«, ein atemloses und verzweifeltes Flüstern, und raste durch das Zimmer zum Fenster, das von smaragdgrünen Vorhängen eingerahmt wurde. Regen trommelte gegen das Glas.
Ihre Verfolger waren im oberen Flur. Ihre Schritte dröhnten durch das Haus.
Sie packte die Griffe am Rahmen und versuchte, das Fenster hochzuziehen. Es bewegte sich nicht. Sie griff nach dem Riegel, aber der war schon zurückgeschoben.
Sie rissen die Türen weiter hinten am Flur auf, direkt nach der Treppe, und suchten nach ihr.
Das Fenster war entweder von Farbe verklebt oder von Feuchtigkeit aufgequollen. Sie trat zurück.
Die Tür hinter ihr barst auf, und etwas fauchte.
Sie senkte ohne sich umzudrehen den Kopf, verschränkte die Arme vor dem Gesicht und warf sich durch das Fenster, wobei sie sich fragte, ob sie sich umbringen würde, indem sie aus dem ersten Stock sprang, dachte aber, daß es darauf ankam, wo sie landete. Gras wäre gut. Der Gehweg wäre schlecht. Die Spitzen des schmiedeeisernen Zauns wären ganz schlecht.
Das Geräusch berstenden Glases hallte noch in der Luft, als sie auf einem Verandavordach sechzig Zentimeter unter dem Fenster landete, was wirklich einem Wunder gleichkam
- sie war auch unverletzt -, daher sagte sie immer weiter Mariamuttergottes, während sie durch den prasselnden Regen zum Rand des Daches rollte. Als sie ihn erreichte, hielt sie sich dort einen Augenblick fest, die linke Seite auf dem Dach, die rechte wurde von der ächzenden und zunehmend kippenden Regenrinne gehalten, und sah zum Fenster zurück.
Etwas Wölfisches und Groteskes folgte ihr.
Sie ließ sich fallen. Sie landete auf der linken Seite auf dem Gehweg, stieß sich sämtliche Knochen, klappte die Zähne so heftig aufeinander, daß sie glaubte, sie würden einzeln ausfallen, und schürfte sich eine Hand böse am Beton auf.
Aber sie blieb nicht liegen und bedauerte sich selbst. Sie rappelte sich auf und wandte sich, vor Schmerzen gekrümmt, vom Haus ab und lief zur Straße.
Sie war unglücklicherweise nicht vor dem Pfarrhaus, sondern im Garten dahinter. Die Rückwand von Our Lady of Mercy begrenzte den Rasen rechts, eine zwei Meter hohe Backsteinmauer umgab den Rest des Grundstücks.
Wegen der Mauer und der Bäume auf beiden Seiten konn-te sie die angrenzenden Häuser im Süden und Westen auf der anderen Seite des Weges, der neben dem Grundstück verlief, nicht sehen. Und wenn sie die Nachbarn der Pfarrei nicht sehen konnte, konnten diese sie auch nicht sehen, selbst wenn sie zufällig aus dem Fenster geschaut hätten.
Diese Abgeschiedenheit erklärte, warum das Wolf-Ding es wagte, auf das Dach herauszukommen und sie im offenen -wenn auch grau und mißfälligen - Tageslicht zu verfolgen.
Sie überlegte kurz, ob sie ins Haus gehen sollte, durch die Küche, den Flur, zur Eingangstür hinaus und auf die Straße, denn damit würden sie als allerletztes rechnen. Aber dann dachte sie: Bist du verrückt?
Sie machte sich nicht die Mühe, um Hilfe zu rufen. Ihr klopfendes Herz schien so sehr angeschwollen zu sein, daß die Lungen keinen Platz zum Ausdehnen mehr hatten, und sie bekam kaum genügend Luft, um bei Bewußtsein, auf den Beinen und in Bewegung zu bleiben. Sie hatte keine Luft zum Schreien. Außerdem, selbst wenn jemand sie rufen hörte, würde er nicht unbedingt erkennen können, woher die Rufe kamen; bis man sie gefunden hätte, würde sie entweder in Stücke gerissen oder besessen sein, da das Rufen sie entscheidende Sekunden kosten würde.
Statt dessen eilte sie über den ausgedehnten Rasen und hinkte dabei ein wenig, um einen gedehnten Muskel zu entlasten, wurde aber nicht langsamer. Sie wußte, sie konnte die zwei Meter hohe Mauer nicht schnell genug überklettern, sich in Sicherheit bringen, schon gar nicht mit einer auf ge schürften Hand, daher betrachtete sie im Laufen die Bäume. Sie brauchte einen dicht bei der Mauer; vielleicht konnte sie dort hinaufklettern, an einem Ast entlangkriechen und auf den Weg oder in den Nachbargarten springen.
Sie hörte über das Plätschern und Gurgeln des Regens ein leises Knurren hinter sich und riskierte einen Blick über die Schulter. Das Pater O'Brien-Wolfding, das nur noch Fetzen eines Hemdes trug und Schuhe und Hosen ganz abgestreift hatte, sprang vom Verandadach, um sie zu verfolgen.
Schließlich sah sie einen geeigneten Baum - bemerkte aber im nächsten Augenblick ein Tor an der Südwestecke der Mauer. Sie hatte es bisher nicht gesehen, weil es von ein paar Büschen, an denen sie gerade vorbeigelaufen war, vor ihren Blicken verborgen worden war.
Sie rang keuchend nach Luft, senkte den Kopf, preßte die Arme an die Seiten und lief zu dem Tor. Sie schlug mit der Hand auf den Riegel und hieb ihn aus dem Schlitz, in dem er steckte; dann platzte sie auf die Straße hinaus. Sie bog nach links ab, weg von der Ocean Avenue in Richtung Jaco-bi Street, und lief durch tiefe Pfützen fast bis zum Ende des Blocks, bevor sie einen Blick zurück riskierte.
Nichts war ihr durch das Tor der Pfarrei gefolgt.
Sie war zweimal in den Händen der Außerirdischen gewesen, und sie war ihnen zweimal entkommen. Sie wußte, wenn sie ein drittes Mal gefangen würde, würde sie nicht mehr so viel Glück haben.
10
Kurz nach neun Uhr, nach alles in allem weniger als vier Stunden Schlaf, erwachte Sam Booker durch das leise Klirren und Scheppern von jemandem, der in der Küche arbeitete. Er setzte sich auf dem Sofa im Wohnzimmer auf, rieb sich die müden Augen, zog Schuhe und Schulterhalfter an und ging den Flur entlang.
Tessa Lockland summte leise, während sie Pfannen, Schüsseln und Lebensmittel auf der rollstuhlgerechten Arbeitsplatte beim Herd aufreihte und das Frühstück vorbereitete.
»Guten Morgen«, sagte sie strahlend, als Sam die Küche betrat.
»Was soll daran gut sein?« fragte er.
»Hören Sie doch nur, der Regen«, sagte sie. »Bei Regen fühle ich mich immer sauber und frisch.«
»Mich deprimiert er immer.«
»Und es ist schön, in einer warmen, trockenen Küche zu sein, wo man dem Sturm gemütlich zuhören kann.«
Er kratzte über die Bartstoppeln seiner unrasierten Wangen. »Mir kommt es hier drinnen etwas überladen vor.«
»Wie dem auch sei, wir sind noch am Leben, und das ist gut.«
»Schätze schon.«
»Gott im Himmel!« Sie hämmerte eine leere Bratpfanne auf den Herd und sah ihn böse an. »Sind alle FBI-Agenten wie Sie?«
»In welcher Hinsicht?«
»Sind alle Sauertöpfe?«
»Ich bin kein Sauertopf.«
»Sie sind der klassische Trübsalbläser.«
»Nun, das Leben ist kein Jahrmarkt.«
»Nicht?«
»Das Leben ist hart und bitter.«
»Vielleicht. Aber ist es nicht auch ein Jahrmarkt?«
»Sind alle Domkumentarfilmerinnen wie Sie?«
»In welcher Hinsicht?«
»Blauäugig.«
»Das ist lächerlich. Ich bin nicht blauäugig.«
»Ach nein?«
»Nein.«
»Wir sind hier in einer Stadt gefangen, in der die Wirklichkeit vorübergehend aufgehoben zu sein scheint, in der Menschen von unbekannten Lebewesen zerrissen werden, in der nachts Schreckgespenster durch die Straßen ziehen, ein verrücktes Computergenie die menschliche Biologie auf den Kopf gestellt zu haben schein, wir alle höchstwahrscheinlich heute vor Mitternacht getötet oder >verwandelt< werden, und als ich hier hereinkomme, grinsen Sie und sind ausgelassen und summen ein Stück der Beatles.«
»Nicht der Beatles.«
»Hm?«
»Rolling Stones.«
»Und das ist ein Unterschied?«
Sie seufzte. »Hören Sie, wenn Sie mithelfen wollen, dieses Frühstück zu essen, dann werden Sie auch mithelfen, es zuzubereiten, also stehen Sie nicht nur hier herum und quengeln.«
»Schon gut, schon gut, was soll ich machen?«
»Gehen Sie zuerst dort zur Sprechanlage und rufen Sie Harry, ob er schon wach ist. Sagen Sie ihm, Frühstück in... hmmmmmm... vierzig Minuten. Pfannkuchen und Eier und gebratener Speck.«
Sam drückte auf den Knopf der Sprechanlage und sagte: »Hallo, Harry«, und Harry, der bereits wach war, antwortete auf der Stelle. Er sagte, er würde in einer halben Stunde unten sein.
»Was jetzt?« wandte sich Sam an Tessa.
»Holen Sie Eier und Milch aus dem Kühlschrank - aber sehen Sie um Gottes willen nicht in die Kartons.«
»Warum nicht?«
Sie grinste. »Weil sonst die Eier schlecht und die Milch sauer werden.«
»Sehr witzig.«
»Dachte ich mir.«
Während sie den Pfannkuchenteig zubereitete und sechs Eier in eine Glasschüssel schlug und würzte, damit sie sie rasch in die Pfanne kippen konnte, wenn sie sie brauchte, Sam Anweisungen gab, den Tisch zu decken und ihr bei anderen Kleinigkeiten zu helfen, Zwiebeln zu hacken und Speck in Streifen zu schneiden, summte oder sang Tessa abwechselnd Songs von Patti La Belle und den Pointer Sisters. Sam wußte, wessen Musik es war, weil sie es ihm sagte, sie sagte jeden Song an, als wäre sie ein Diskjockey oder als würde sie hoffen, sie könnte ihn bilden oder aufmuntern. Während sie arbeitete und sang, tanzte sie auf der Stelle, wackelte mit dem Hinterteil, rollte mit den Hüften, drehte die Schultern, schnippte manchmal mit den Fingern und ging richtig mit.
Es machte ihr wirklich Spaß, aber er wußte, sie zog ihn auch etwas auf, was ihr ebenfalls Freude bereitete. Er bemühte sich, seine mürrische Stimmung zu erhalten, und wenn sie ihn anlächelte, lächelte er nicht zurück, aber verdammt, sie war so niedlich. Ihr Haar war zerzaust, und sie trug überhaupt kein Make-up, und ihre Kleidung war zerknittert, weil sie darin geschlafen hatte, aber das etwas zerknautschte Aussehen machte sie nur um so liebenswerter.
Manchmal ließ sie ihr leises Singen und Summen sein, um ihm eine Frage zu stellen, aber sie sang und tanzte weiter auf der Stelle, während er antwortete. »Haben Sie sich schon überlegt, was wir tun können, um aus der Klemme zu kommen, in der wir uns befinden?«
»Ich habe eine Idee.«
»Patti La Belle, >New Attitüde««, sagte sie und meinte den Song, den sie sang. »Ist diese Idee ein finsteres, tiefes Geheimnis?«
»Nein. Aber ich brauche ein paar Informationen und muß mit Harry reden, daher werde ich es beim Frühstück erzählen.«
Er beugte sich, ihren Anweisungen folgend, über die niedrige Arbeitsplatte und schnitt dünne Scheiben von einem Stück Cheddar ab, als sie lange genug zu singen aufhörte, um ihn zu fragen: »Warum haben Sie gesagt, das Leben sei hart und bitter?«
»Weil es so ist.«
»Aber es ist auch voller Spaß...«
»Nein.«
»... und Schönheit...«
»Nein.«
»... und Hoffnung...«
»Unsinn.«
»Ist es.«
»Ist es nicht.«
»Doch, ist es.«
»Ist es nicht.«
»Warum sind Sie so negativ?«
»Weil ich es sein will.«
»Aber warum wollen Sie es sein?«
»Herrgott, Sie geben wohl nie Ruhe.«
»Pointer Sisters, >Neutron Dance<.« Sie sang ein Stück und tanzte auf der Stelle, während sie Eierschalen und andere Abfälle in den Mülleimer warf. Dann unterbrach sie die Melodie und sagte: »Was ist Ihnen zugestoßen, daß Sie sagen, das Leben sei nur hart und bitter?«
»Das interessiert Sie doch gar nicht.«
»Doch, sicher.«
Er war fertig mit dem Käse und legte das Messer weg. »Wollen Sie es wirklich wissen?«
»Wirklich.«
»Meine Mutter wurde bei einem Verkehrsunfall getötet, als ich sieben war. Ich war bei ihr im Auto, wäre beinahe selbst gestorben, war länger als eine Stunde mit ihr in dem Wrack eingeschlossen, von Angesicht zu Angesicht, und sah in ihre leere Augenhöhle und ihr eingedrücktes Ge -sicht. Danach mußte ich bei meinem Vater leben, von dem sie geschieden war, und er war ein böser Hurensohn, Alkoholiker, und ich kann Ihnen nicht sagen, wie oft er mich verprügelt hat, oder gedroht, mich zu verprügeln, oder mich auf einen Stuhl in der Küche gefesselt, wo er mich dann stundenlang alleine ließ, bis ich nicht mehr konnte und mir in die Hosen machte, und wenn er kam und mich losband und sah, was ich getan hatte, verprügelte er mich deswegen.«
Es überraschte ihn, wie ihm das alles über die Lippen kam, als wären die Schleusen seines Unterbewußtseins geöffnet worden, so daß sich der ganz Schlamm daraus ergoß, der sich in langen Jahren stoischer Selbstbeherrschung angesammelt hatte.
»Kaum hatte ich die High School abgeschlossen, zog ich aus und absolvierte das Junior College, hauste in billigen Bruchbuden, teilte das Bett jede Nacht mit Armeen von Küchenschaben, meldete mich sobald ich konnte beim Bureau, weil ich Gerechtigkeit in der Welt sehen wollte, weil ich daran mitarbeiten wollte, der Welt Gerechtigkeit zu bringen, weil es so wenig Gerechtigkeit und Fairness in meinem Leben gegeben hatte. Aber ich mußte erfahren, daß die Gerechtigkeit in mehr als der Hälfte aller Fälle nicht triumphiert. Die Bösen kommen davon, so sehr man sich auch anstrengt, sie zu Fall zu bringen, weil die Bösen ziemlich oft verdammt gerissen sind, und die Guten werden nie so böse, wie sie sein müßten, um ihre Arbeit richtig zu machen. Als Agent sieht man häufig die kranke Kehrseite der Gesellschaft, man hat es mit dem Abschaum zu tun, mit dem einen oder anderen Abschaum, und man wird mit jedem Tag zynischer, ekelt sich mehr vor den Menschen und hat sie satt.«
Er sprach so schnell, daß er fast atemlos war.
Sie hatte aufgehört zu singen.
Er fuhr mit einem außergewöhnlichen Mangel emotionaler Selbstbeherrschung fort und sprach so schnell, daß seine Worte manchmal zusammenhingen: »Und meine Frau ist gestorben, Karen, sie war wunderbar, Sie hätten sie gemocht, alle haben sie gemocht, aber sie bekam Krebs und starb, unter Schmerzen, schrecklich, nicht so leicht wie Ali McGraw im Film, nicht mit einem Seufzer und einem Lächeln und einem leisen Lebewohl, sondern unter Qualen. Und später habe ich auch meinen Sohn verloren. Oh, er lebt noch, sechzehn, er war neun, als seine Mutter starb, jetzt ist er sechzehn, er ist körperlich und geistig am Leben, aber emotional ist er tot, im Herzen ausgebrannt, kalt im Inneren, so verdammt kalt. Er mag Computer und Computerspiele und das Fernsehen, und er hört Black Heavy Metal. Wissen Sie, was Black Heavy Metal-Musik ist? Das ist Heavy Metal Rock mit einem Schuß Satanismus, das mag er, weil es ihm sagt, daß es keine moralischen Werte gibt, daß alles relativ ist, daß seine Entfremdung richtig ist, daß die Kälte in seinem Inneren richtig ist, es sagt ihm, daß alles gut ist, was gut scheint. Wissen Sie, was er einmal zu mir gesagt hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Er sagte zu mir: >Menschen sind nicht wichtig. Menschen zählen nicht. Nur Sachen sind wichtig. Geld ist wichtig, Alkohol ist wichtig, meine Stereoanlage ist wichtig, alles, was dafür sorgt, daß es mir gutgeht, aber ich bin nicht wichtig< Er sagt zu mir, daß Atombomben bedeutsam seien, weil sie eines Tages all die schönen Sachen in die Luft jagen würden, und nicht, weil sie die Menschen in die Luft jagten - schließlich seien die Menschen nichts, nur umweltverschmutzende Tiere, die die Welt verseuchen. Das sagte er. Er sagt mir, daß das seine Überzeugungen seien. Er sagt mir, er könne mir das alles beweisen. Er sagt, wenn ich das nächste Mal Leute um einen Porsche herumstehen sähe, die das Auto bewunderten, soll ich mir ihre Gesichter genau ansehen und würde feststellen, daß ihnen mehr an dem Auto als an sich selbst läge. Und sie bewunderten die Baukunst, nicht in dem Sinne, daß sie an die Menschen dächten, die das Auto gebaut hätten. Es sei, als wäre der Porsche organisch, als würde er wachsen oder sich irgendwie selbst schaffen. Sie bewunderten ihn um seiner selbst willen, und nicht die menschliche Erfindungsgabe und Kunstfertigkeit, die er repräsentiere. Das Auto lebe mehr als sie selbst. Sie zögen Energie aus dem Auto, aus den geschmeidigen Kurven, aus dem Kitzel, wenn sie sich seine Kraft in ihren Händen vorstellen, daher werde das Auto realer und viel wichtiger als die Menschen, die es bewundern.«
»Das ist dummes Zeug«, sagte Tessa überzeugt.
»Aber das sagte er mir, und ich weiß, daß es Mist ist, und ich versuche, vernünftig mit ihm zu reden, aber er weiß auf alles eine Antwort - denkt er jedenfalls. Und ich frage mich manchmal... wenn ich nicht selbst so verdrossen wäre, so lebensüberdrüssig, so angeekelt von den Menschen, könnte ich denn überzeugender argumentieren? Wenn ich nicht so wäre, wie ich bin, könnte ich meinen Sohn dann retten?«
Er verstummte.
Er bemerkte, daß er zitterte.
Sie schwiegen beide einen Augenblick.
Dann sagte er: »Darum sage ich, daß das Leben hart und bitter ist.«
»Tut mir leid, Sam.«
»Ist nicht Ihre Schuld.«
»Ihre auch nicht.«
Er verpackte den Cheddar in Zellophan und legte ihn wieder in den Kühlschrank, während sie sich wieder ihrem Pfannkuchenteig zuwandte.
»Aber Sie hatten Karen«, sagte sie. »Es gab Liebe und Schönheit in Ihrem Leben.«
»Gewiß.«
»Nun, dann...«
»Aber es war nicht von Dauer.«
»Nichts währt ewig.«
»Genau das meine ich«, sagte er.
»Aber das bedeutet nicht, daß wir das Schöne nicht genießen können, solange wir es haben. Wenn Sie immer in die Zukunft sehen und sich fragen, wann dieser Augenblick der Freude aufhören wird, dann werden Sie im Leben nie wahre Freude kennenlernen.«
»Genau das meine ich«, wiederholte er.
Sie ließ den Holzlöffel in der Edelstahlrührschüssel und drehte sich zu ihm um. »Aber das ist falsch. Ich meine, es gibt im Leben Augenblicke der Freude, des Staunens, der Lust... und wenn wir die Gelegenheit nicht beim Schöpf ergreifen, wenn wir Gedanken an die Zukunft nicht manchmal abstellen und den Augenblick genießen, dann haben wir keine Erinnerungen an Freude, die uns durch schlechte Zeiten bringen - und keine Hoffnung.«
Er sah sie an und bewunderte ihre Schönheit und Vitalität. Aber dann dachte er daran, wie sie altern würde, wie sie gebrechlich werden und sterben würde, wie alles sterben mußte, und er ertrug es nicht mehr, sie anzusehen. Er sah statt dessen zum regennassen Fenster über der Spüle hinaus. »Nun, es tut mir leid, wenn ich Ihnen die Stimmung verdorben habe, aber Sie müssen zugeben, daß Sie darum gebeten haben. Sie wollten unbedingt wissen, wie ich so ein Trübsalbläser sein kann.«
»Oh, Sie sind kein Trübsalbläser«, sagte sie. »Sie gehen weit darüber hinaus. Sie sind ein regelrechter Dr. Doom.«
Er zuckte die Achseln.
Sie wandten sich wieder ihrer Küchenarbeit zu.
11
Nachdem sie durch die Tür in der Mauer der Pfarrei geflohen war, blieb Chrissie länger als eine Stunde in Bewegung, während sie überlegte, was sie jetzt machen sollte. Sie hatte vorgehabt, in die Schule zu gehen und Mrs. Tokawa ihre Geschichte zu erzählen, wenn Pater Castelli ihr nicht helfen könnte. Aber jetzt war sie nicht mehr bereit, Mrs. Tokawa zu vertrauen. Nach ihrer Begegnung mit den Priestern war ihr klargeworden, daß die Außerirdischen wahrscheinlich sämtliche mächtigen Leute in Moonlight Cove als ersten Schritt ihrer Eroberung übernommen hatten. Sie wußte bereits, daß die Priester besessen waren. Sie war sicher, daß auch die Polizei übernommen worden war, daher mußte sie logischerweise annehmen, daß auch die Lehrer unter den ersten Opfern gewesen waren.
Während sie von Viertel zu Viertel schlich, verfluchte sie den Regen abwechselnd und war dankbar darum. Ihre Schuhe, die Jeans und das Flanellhemd waren wieder durchnäßt, und sie fror durch und durch. Aber das trübe, graue Licht und der Regen hielten die Leute in den Häusern und boten ihr wenigstens etwas Schutz. Zusätzlich wurde ein dünner kalter Nebel vom Meer hereingeweht, als der Wind etwas nachließ, der zwar nicht annähernd so dicht wie gestern nacht war, nur ein schwacher Dunst, der sich an die Bäume klammerte, aber ausreichend, einem kleinen Mädchen, das durch diese unfreundlichen Straßen schlich, etwas zusätzlichen Schutz zu bieten.
Auch das Gewitter der vergangenen Nacht hatte sich verzogen. Sie lief nicht mehr Gefahr, von einem plötzlichen Blitzstrahl gegrillt zu werden, was wenigstens ein gewisser Trost war
JUNGES MÄDCHEN VON BLITZ GERÖSTET UND ANSCHLIESSEND VON AUSSERIRDISCHEN VERSPEIST ; DIE INVASOREN AUS DEM ALL MÖGEN MENSCHLICHE KARTOFFELCHIPS: »WENN WIR SIE GRILLEN KÖNNEN«, SAGTE DIE AUSSERIRDISCHE KÖNIGIN, »PASSEN SIE PERFEKT ZU EINEM ZWIEBELDIP.«
Sie schlich, wenn sie ging, durch Nebenstraßen und Gärten, überquerte Straßen nur, wenn es unbedingt nötig war, und dann immer schneller, denn dort sah sie zu viele Männer in Zweiergruppen mit ernsten Gesichtern und stechenden Augen in langsam fahrenden Autos sitzen, bei denen es sich eindeutig um Patrouillen handelte. Zweimal wäre sie ihnen sogar auf Nebenstraßen beinahe in die Hände gelaufen und mußte sich hastig in Deckung werfen, damit sie sie nicht entdeckten. Etwa eine Viertelstunde, nachdem sie durch die Pfarreitür geflohen war, bemerkte sie mehr Patrouillen in dieser Gegend, eine plötzliche Zunahme der Anzahl von Autos und Männern zu Fuß. Die Patrouillen zu Fuß machten ihr am meisten Angst. Zwei Männer in Regenkleidung waren besser für eine Suche gerüstet als Männer in Autos, und ihnen konnte man auch schwerer entkommen. Sie hatte entsetzliche Angst, sie könnte ihnen unerwartet über den Weg laufen.
Tatsächlich verbrachte sie mehr Zeit in Verstecken als unterwegs, einmal kauerte sie eine Weile hinter Mülltonnen in einer Seitenstraße. Sie suchte Zuflucht unter einer Trauerweide, deren Äste den Boden beinahe wie einen Rock streiften und ein dunkles und weitgehend trockenes Versteck boten. Zweimal kroch sie unter parkende Autos und blieb eine Weile liegen.
Sie blieb nie länger als fünf oder zehn Minuten an einer Stelle. Sie hatte Angst, ein von den Außerirdischen besessener Übereifriger könnte sie sehen, wie sie in ein Versteck kroch, und die Polizei anrufen und sie melden. Dann säße sie in der Falle.
Als sie das unbebaute Grundstück an der Jupiter Lane erreichte, das neben Callans Bestattungsinstitut lag, und sich tief im tiefsten Unterholz verkrochen hatte - trockenes Gras und knisterndes Chapparal -, fragte sie sich allmählich, ob ihr jemals einfallen würde, wen sie um Hilfe bitten könnte. Sie verlor zum ersten Mal, seit ihre Prüfung begonnen hatte, die Hoffnung.
Eine riesige Fichte breitete ihre Äste über einen Teil des Grundstücks, und ihr Gebüsch befand sich darunter, daher war sie größtenteils vor dem Regen geschützt. Noch wichtiger war, sie war, auf der Seite liegend und im hohen Gras, weder von der Straße noch den Fenstern der umliegenden Häuser zu sehen.
Dennoch hob sie immer wieder argwöhnisch den Kopf, um sich rasch umzusehen und sich zu vergewissern, daß sich niemand an sie heranschlich. Dabei sah sie einmal über den Weg am hinteren Rand des Grundstücks hinweg nach Osten, zur Conquistador, und sah das große Rotholz- und Glas-Gebäude an der Ostseite dieser Straße. Talbots Haus. Sie erinnerte sich sofort an den Mann im Rollstuhl.
Er war letztes Jahr in der Thomas-Jefferson-Schule gewesen, um während der Awareness Days - der Gedenkwoche
- zu den Schülern der fünften und sechsten Klasse zu sprechen. Er war in dem einwöchigen Programm, das weitgehend Zeitverschwendung gewesen war, der einzig interessante Redner gewesen. Er hatte ihnen von den Schwierigkeiten und erstaunlichen Fähigkeiten behinderter Menschen erzählt.
Zuerst hatte er Chrissie leid getan, sie hatte ihn halb zu Tode bemitleidet, weil er in seinem Rollstuhl so hilflos ausgesehen hatte, mit seinem halb verstümmelten Körper, nur einer beweglichen Hand und einem ständig schief sitzenden Kopf. Aber während sie ihm zuhörte, war ihr klargeworden, daß er einen wunderbaren Sinn für Humor besaß und sich selbst nicht leid tat, daher kam es ihr immer absurder vor, daß sie ihn bedauern sollte. Sie hatten Gelegenheit, ihm Fragen zu stellen, und er hatte intime Einzelheiten seines Lebens erzählt, seinen Kummer und seine Freuden, und schließlich hatte sie ihn gehörig bewundert.
Und sein Hund Moose war die Wucht gewesen.
Als sie das Rothol/- und Glas-Haus von Harry Talbot jetzt über die Spitzen des regennassen hohen Grases hinweg betrachtete und an ihn und Moose dachte, fragte sich Chrissie, ob sie vielleicht dorthin gehen könnte.
Sie verzog sich wieder ins Gestrüpp und dachte ein paar Minuten darüber nach.
Ein an den Rollstuhl gefesselter Krüppel gehörte sicher zu den allerletzten, die die Außerirdischen übernehmen würden - wenn sie ihn überhaupt haben wollten.
Sie schämte sich sofort, weil sie so etwas dachte. Ein an den Rollstuhl gefesselter Krüppel war kein Mensch zweiter Klasse. Er hatte den Außerirdischen ebensoviel zu bieten wie jeder andere.
Andererseits... würde eine Bande Außerirdischer Behinderte im selben Licht sehen? Erwartete sie da nicht zuviel? Immerhin waren sie ja Außerirdische. Ihre Wertvorstellungen konnten nicht dieselben sein wie von Menschen. Wenn sie herumzogen und ihren Samen - oder Sporen oder schleimigen Babylarven oder was auch immer - in Menschen einpflanzten, und wenn sie Menschen verspeisten, dann durfte man wohl nicht erwarten, daß sie behinderte Menschen mit dem nötigen Respekt behandelten, ebensowenig wie sie wahrscheinlich alten Damen über die Straße helfen würden.
Harry Talbot.
Je mehr sie über ihn nachdachte, desto überzeugter wurde Chrissie, daß er bis jetzt der schrecklichen Aufmerksamkeit der Außerirdischen entgangen sein müßte.
12
Nachdem sie ihn Dr. Doom genannte hatte, spritzte sie Bratfett in die Pfanne, damit die Pfannkuchen nicht kleben bleiben würden.
Sie schaltete den Ofen ein und stellte einen Teller hinein, auf den sie die Pfannkuchen schichten konnte, damit sie warm blieben, während sie weitere machte.
Dann sagte sie in einem Tonfall, der ihm sofort ihre Absicht klarmachte, ihn davon zu überzeugen, sein trostloses Bild vom Leben aufzugeben: »Sagen Sie mir...«
»Können Sie denn noch keine Ruhe geben?«
»Nein.«
Er seufzte.
Sie sagte: »Wenn Sie so verdammt düster sind, warum bringen Sie sich dann...«
»Nicht selbst um?«
»Warum nicht?«
Er lachte verbittert. »Ich habe während der Fahrt von San Francisco hierher ein kleines Spiel mit mir gespielt - ich habe die Gründe gezählt, warum es sich lohnt, weiterzuleben. Mir sind nur vier eingefallen, aber ich schätze, das genügt, schließlich hänge ich ja immer noch hier herum.«
»Und die wären?« »Erstens - gutes mexikanisches Essen.«
»Da kann ich zustimmen.«
»Zweitens - Guinness Stout.«
»Ich selbst ziehe Heineken Dark vor.«
»Das schmeckt gut, ist aber kein Grund weiterzuleben. Guinness ist ein Grund weiterzuleben.«
»Was ist Nummer drei?«
»Goldie Hawn.«
»Sie kennen Goldie Hawn?«
»Nee. Vielleicht will ich das gar nicht, weil ich möglicherweise enttäuscht wäre. Ich spreche von ihrer Leinwandpersönlichkeit, der idealisierten Goldie Hawn.«
»Sie ist Ihr Traum-Mädchen, was?«
»Mehr als das. Sie... verdammt, ich weiß nicht... sie wirkt überhaupt nicht vom Leben gezeichnet, unbeschädigt, vital und glücklich und unschuldig und... lustig.«
»Glauben Sie, Sie werden sie je kennenlernen?«
»Das soll wohl ein Witz sein.«
Sie sagte: »Wissen Sie was?«
»Was?«
»Ich glaube, wenn Sie Goldie Hawn sehen würden, wenn sie während einer Party zu Ihnen käme und etwas Komisches sagen würde, etwas Niedliches, und wenn sie auf ihre Weise kichern würde, würden Sie sie nicht einmal erkennen.«
»Oh, ich würde sie erkennen, keine Bange.«
»Nein, das würden Sie nicht. Sie wären zu sehr damit beschäftigt, darüber zu brüten, wie unfair, ungerecht, hart, grausam, öde, gräßlich und dumm das Leben ist, daß Sie die Gelegenheit nicht ergreifen würden. Sie würden die Gelegenheit nicht einmal bemerken. Sie wären so sehr in Ihrem Dunstkreis der Niedergeschlagenheit gefangen, daß Sie nicht sehen würden, wer sie ist. Aber welches ist Ihr vierter Grund weiterzuleben?«
Er zögerte: »Angst vor dem Sterben.«
Sie blinzelte ihn an. »Das verstehe ich nicht. Wenn das Leben so schrecklich ist, warum sollte man dann Angst vor dem Tod haben?« »Ich bin einmal beinahe gestorben. Ich war auf dem Operationstisch und bekam eine Kugel aus der Brust operiert, und ich wäre fast über den Jordan gegangen. Ich schwebte aus meinem Körper heraus und sah den Ärzten eine Weile zu, und dann raste ich immer schneller einen dunklen Tunnel entlang auf grelles Licht zu - das ganze verdammte. Szenario.«
Sie war beeindruckt und fasziniert. Ihre klaren blauen Augen waren groß und interessiert. »Und?«
»Ich habe gesehen, was auf der anderen Seite liegt.«
»Es ist Ihnen ernst, nicht?«
»Verdammt ernst.«
»Sie wollen mir erzählen, Sie wissen, daß es ein Leben nach dem Tod gibt?«
»Ja.«
»Einen Gott?«
»Ja.«
Sie sagte verblüfft: »Aber wenn Sie wissen, daß es einen Gott gibt und wir von dieser Welt in eine andere ziehen, dann muß Ihnen doch klar sein, daß das Leben eine Bedeutung, einen Sinn, hat.«
»Und?«
»Nun, Zweifel am Sinn des Lebens sind bei den meisten Menschen die Ursache für Depressionen und Niedergeschlagenheit. Die meisten von uns... wenn wir erlebt hätten, was Sie erlebt haben, würden wir uns nie wieder Gedanken oder Sorgen machen. Wir hätten Kraft, mit jedem Widersacher fertig zu werden, weil wir wüßten, daß es einen Sinn hat und es ein Leben im Jenseits gibt. Also, was ist mit Ihnen los, Mister? Warum wurden Sie danach nicht erleuchtet? Sind Sie einfach ein dickköpfiger Trottel oder was?«
»Trottel?«
»Beantworten Sie meine Frage.«
Der Fahrstuhl klackte und fuhr vom ersten Stock hinauf.
»Harry kommt«, sagte Sam.
»Beantworten Sie meine Frage.«
»Sagen wir einfach, was ich gesehen habe, hat mir keine Hoffnung gemacht. Es hat mich durch und durch verängstigt.« »Nun? Lassen Sie mich nicht hängen? Was haben Sie auf der anderen Seite gesehen?«
»Wenn ich Ihnen das sage, werden Sie mich für verrückt halten.«
»Sie haben nichts zu verlieren. Ich glaube schon, daß Sie verrückt sind.«
Er seufzte und schüttelte den Kopf und wünschte sich, er hätte es nie zur Sprache gebracht. Wie hatte sie ihn dazu gebracht, so rückhaltlos offen zu sein?
Der Fahrstuhl war im dritten Stock und hielt an.
Tessa stieß sich von der Arbeitsplatte ab, kam auf ihn zu und sagte: »Verraten Sie mir, was Sie gesehen haben, gottverdammt.«
»Sie werden es nicht verstehen.«
»Was bin ich - eine Schwachsinnige?«
»Oh, Sie werden verstehen, was ich gesehen habe, aber nicht, was es für mich bedeutet.«
»Verstehen Sie denn, was es für Sie bedeutet?«
»O ja«, sagte er ernst.
»Werden Sie es mir freiwillig sagen, oder muß ich eine Vorlegegabel aus dem Regal holen und es aus Ihnen herausfoltern?«
Der Fahrstuhl fuhr vom dritten Stock herunter.
Er sah zum Flur. »Ich möchte wirklich nicht darüber sprechen.«
»Nicht, hm?«
»Nein.«
»Sie haben Gott gesehen, wollen aber nicht darüber sprechen.«
»Ganz recht.«
»Bei den meisten ist es so - wenn sie Gott gesehen haben, wollen sie über nichts anderes mehr sprechen. Wenn jemand Gott gesehen hat, gründet er eine Religion auf diesem Erlebnis und erzählt Millionen davon.«
»Aber ich...«
»Tatsache ist, soweit ich weiß, verändert es die Menschen für alle Zeiten, wenn sie dem Tod so nahe kommen. Und immer zum Besseren. Wenn sie pessimistisch waren, werden sie Optimisten. Wenn sie Atheisten waren werden sie Gläubige. Ihre Wertvorstellungen verändern sich, sie lernen, das Leben zu lieben, sie strahlen gottverdammt! Aber Sie nicht. O nein, Sie werden noch mürrischer, noch grimmiger, noch verdrossener.«
Der Fahrstuhl kam im Erdgeschoß zum Stillstand und verstummte.
»Harry kommt«, sagte Sam.
»Erzählen Sie mir, was Sie gesehen haben.«
»Vielleicht kann ich es Ihnen erzählen«, sagte er und war überrascht, daß er tatsächlich mit ihr darüber sprechen wollte, wenn Zeit und Ort richtig waren. »Vielleicht Ihnen. Aber später.«
Moose kam in die Küche, er hechelte und grinste sie an, und Harry folgte einen Augenblick später.
»Guten Morgen«, sagte Harry fröhlich.
»Haben Sie gut geschlafen?« fragte Tessa ihn und schenkte ihm ein aufrichtig liebevolles Lächeln, um das Sam ihn beneidete.
Harry sagte: »Tief und fest - aber nicht wie ein Toter, Gott sei Dank.«
»Pfannkuchen?« fragte Tessa ihn.
»Stapelweise, bitte.«
»Eier?«
»Dutzende?«
»Toast?«
»Laibe.«
»Ich mag Männer mit Appetit.«
Harry sagte: »Ich bin die ganze Nacht gelaufen, darum habe ich Hunger.«
»Gelaufen?«
»Im Traum. Ich wurde von Schreckgespenstern verfolgt.«
Während Harry eine Packung Hundefutter unter einem Schränkchen hervorholte und Mooses Schüssel in der Ecke füllte, ging Tessa zur Pfanne, fettete sie wieder ein, sagte Sam, daß er für die Eier verantwortlich sei, und verteilte den ersten Pfannkuchenteig aus der Schüssel in der Pfanne. Nach einem Augenblick sagte sie: »Patti La Belle, >Stir It Up<«, und fing wieder an zu singen und auf der Stelle zu tanzen.
»He, ich kann Ihnen Musik geben, wenn Sie Musik wollen.«
Er rollte zu einem unter dem Tresen angebrachten Radio, das weder Tessa noch Sam bemerkt hatten, schaltete es ein und drehte den Sendersuchlauf bis er einen gefunden hatte, der »I Heard It Through the Grapevine« von Gladys Knight und den Pips spielte.
»Hervorragend«, sagte Tessa und hüpfte, wiegte und wippte so enthusiastisch, daß sich Sam nicht erklären konnte, wie sie den Pfannkuchenteig so ordentlich in die Pfanne kippen konnte.
Harry lachte und drehte den motorisierten Rollstuhl im Kreis, als würde er mit ihr tanzen.
Sam sagte: »Ist Ihnen denn nicht klar, daß die Welt um uns herum zusammenbricht?«
Sie achteten gar nicht auf ihn, und er vermutete, daß er es nicht anders verdiente.
13
Chrissie erreichte auf Umwegen, indem sie sich in Regen und Nebel und allen Schatten hielt, die sie finden konnte, den Weg östlich der Conquistador. Sie betrat den Garten von Talbots Haus durch eine Tür im Rotholzzaun und sprang von einem Busch zum nächsten, wobei sie zweimal beinahe in Hundehäufchen trat - Moose war ein erstaunlicher Hund, aber nicht ohne Fehler -, bis sie die Stufen der Veranda erreicht hatte.
Sie hörte drinnen Musik spielen. Es war ein Oldie aus der Zeit, als ihre Eltern Teenager gewesen waren. Es war sogar eines ihrer Lieblingsstücke gewesen. Chrissie konnte sich zwar nicht mehr an den Titel erinnern, aber den Namen der Gruppe kannte sie noch - Junior Walker and the All-Stars.
Sie dachte sich, daß die Musik und der Regen ihre Anna-herung übertönen würden, und schlich die Stufen zur Rotholzveranda hinauf und gebückt bis zum nächsten Fenster. Sie kauerte eine Weile unter dem Sims und belauschte die drinnen. Sie unterhielten sich, lachten oft und sangen manchmal die Songs im Radio mit.
Sie hörten sich nicht wie Außerirdische an. Sie hörten sich ganz wie normale Menschen an.
Würde Außerirdischen die Misik von Stevie Wonder und den Four Tops und den Pointer Sisters gefallen? Kaum. Für menschliche Ohren hörte sich außerirdische Musik wahrscheinlich an, als würden Ritter in Rüstungen Dudelsack spielen, während sie gleichzeitig inmitten einer Meute kläffender Hunde eine Steintreppe hinunterfielen. Mehr wie Twisted Sisters als die Pointer Sisters.
Schließlich erhob sie sich so weit, daß sie über den Sims und durch einen Spalt im Vorhang sehen konnte. Sie sah Mr. Talbot in seinem Rollstuhl, Moose und einen fremden Mann und eine Frau. Mr. Talbot klopfte mit der guten Hand den Takt auf der Armlehne des Rollstuhls, und Moose wedelte heftig und unrhythmisch mit dem Schwanz dazu. Der andere Mann schaufelte mit einem Heber Eier aus Bratpfannen auf Teller, wobei er die Frau ab und zu böse ansah, weil ihm vielleicht die Art mißfiel, wie sie mit der Musik mitging, obwohl er selbst mit dem rechten Fuß den Rhythmus tapp-ste. Die Frau machte Pfannkuchen und stapelte sie auf einen Teller im Ofen, sie hüpfte und wippte und tanzte beim Arbeiten; sie bewegte sich anmutig.
Chrissie kauerte sich wieder hinunter und dachte darüber nach, was sie gesehen hatte. Wenn sie Menschen waren, war an ihrem Verhalten nichts Außergewöhnliches, aber wenn sie Außerirdische waren, würden sie sicher nicht zu Radio -musik hüpfen, während sie das Frühstück machten. Chrissie konnte sich kaum vorstellen, daß Außerirdische - wie das Ding, das sich als Pater Castelli verkleidet hatte - einen Sinn für Humor oder ein Gespür für Rhythmus haben würden. Außerirdische kümmerten sich sicherlich nur darum, wie sie neue Wirtskörper übernehmen und neue Rezepte finden könnten, wie man zarte Kinder kochte.
Dennoch beschloß sie zu warten, bis sie die Möglichkeit haben würde, ihnen beim Essen zuzusehen. Nach allem, was Tucker und ihre Mutter gestern nacht auf der Wiese gesagt hatten und was sie beim Frühstück mit Pater Castelli gesehen hatte, war sie der Überzeugung, daß Außerirdische heißhungrig waren und jeder den Appetit von einem halben Dutzend Menschen hatte. Wenn sich Harry Talbot und seine Freunde beim Essen nicht als völlige Schweine entpuppten, könnte sie ihnen wahrscheinlich vertrauen.
14
Loman war in Peysers Haus geblieben und hatte das Aufräumen und den Abtransport der Leichen der Regressiven mit Callans Leichenwagen überwacht. Er hatte Angst, es seine Leute alleine machen zu lassen, weil er fürchtete, der Anblick der mutierten Leichen oder der Geruch des Blutes würde sie anregen, selbst andere Daseinsformen anzunehmen. Er wußte, daß alle - nicht zuletzt er selbst - auf einem Drahtseil über dem Abgrund balancierten. Aus demselben Grund folgte er dem Leichenwagen zum Bestattungsinstitut und blieb bei Callan und seinem Assistenten, bis die Leichen von Peyser und Sholnick den Rammen des Krematoriums übergeben worden waren.
Dann informierte er sich über den Stand der Suche nach Booker, Lockland und Chrissie Foster und nahm einige Änderungen in den Fahrplänen der Streifen vor. Er war im Büro, als der Bericht von Castelli hereinkam, und er fuhr direkt zur Pfarrei von Our Lady of Mercy, um aus erster Hand zu erfahren, wie ihnen das Mädchen hatte entkommen können. Sie waren voll der Entschuldigungen, aber die meisten klangen lahm. Er vermutete, daß sie regressiv geworden waren, um mit dem Mädchen zu spielen, weil es ihnen Nervenkitzel verschaffte, und während sie mit ihr spielten, hatten sie ihr versehentlich eine Möglichkeit gegeben zu entweichen. Selbstverständlich gestanden sie die Regression nicht ein.
Loman verstärkte die Patrouillen in der unmittelbaren Umgebung, aber von dem Mädchen war keine Spur zu sehen. Sie war untergetaucht. Dennoch, da sie in die Stadt gekommen war, anstatt Richtung Autobahn zu fliehen, würden sie sie wahrscheinlich noch vor Ende des Tages finden und verwandeln können.
Um neun Uhr kehrte er in sein Haus am Iceberry Way zurück, um zu frühstücken. Seit er in Peysers blutüberströmtem Bad beinahe regressiv geworden war, schlotterten seine Kleidungsstücke an ihm. Er hatte ein paar Pfund verloren, als der katabolische Prozeß sein eigenes Fleisch verbrannt hatte, um die gewaltige Energie aufzubringen, die zur Regression notwendig war - und um der Regression Widerstand zu leisten.
Das Haus war dunkel und still. Denny war zweifellos oben vor dem Computer, wo er gestern abend auch gewesen war. Grace war zur Thomas Jefferson zur Arbeit gegangen, wo sie unterrichtete; sie mußten die Fassade des alltäglichen Lebens aufrechterhalten, bis alle in Moonlight Cove verwandelt worden waren.
Zur Stunde waren noch keine Kinder unter zwölf Jahren verwandelt worden, was teilweise darauf zurückzuführen war, daß sich die Techniker bei New Wave nicht sicher waren, welche Dosis für Kinder die richtige war. Dieses Problem war gelöst worden, und heute nacht würden auch die Kinder aufgenommen werden.
In der Küche blieb Loman einen Augenblick stehen, lauschte dem Regen an den Fenstern und dem Ticken der Uhr.
Er schenkte sich am Waschbecken ein Glas Wasser ein. Er trank es, dann noch eines und noch einmal zwei. Nach der Prüfung bei Peyser war er ausgetrocknet.
Der Kühlschrank war voll mit fünfpfündigen Schinken, Roastbeef, einem halb verspeisten Truthahn, einer Platte Schweinegeschnetzeltem, Hühnerbrüsten, Würsten und Packungen voll Spaghetti Bolognese und Dörrfleisch. Der beschleunigte Stoffwechsel der Neuen Menschen erforderte eine proteinreiche Ernährung. Außerdem hatten sie Heißhunger nach Fleisch.
Er nahm eine Packung Pumpernickel aus dem Brotkasten und setzte sich damit hin - und dem Roastbeef, Schinken und einem Glas Senf. Er blieb eine Weile am Tisch sitzen, schnitt oder riß dicke Scheiben Fleisch ab, legte sie auf senfbeschmiertes Brot und biß gewaltige Bissen mit den Zähnen ab. Essen bereitete ihm nicht mehr soviel Vergnügen wie damals, als er noch ein Alter Mensch gewesen war; jetzt weckten Geschmack und Geruch eine animalische Erregung in ihm, den Kitzel von Gier und Völlerei. Er war in einem gewissen Maß abgestoßen davon, wie er an dem Essen riß und es schluckte, bevor er es richtig gekaut hatte, aber jeder Versuch, sich zurückzuhalten, den er unternahm, wich bald noch fieberhafterem Schlingen. Er verfiel in eine Art Trance und war vom Rhythmus des Kauens und Schluckens wie hypnotisiert. Einmal wurde er klar genug im Kopf, um zu sehen, daß er die Hühnchenbrüste aus dem Kühlschrank geholt hatte und sie heißhungrig verzehrte, obwohl sie roh waren. Er ließ sich rasch wieder in die barmherzige Trance versinken.
Als er mit dem Essen fertig war, ging er nach oben, um nach Denny zu sehen.
Als er die Tür zum Zmmer des Jungen aufmachte, schien zuerst alles so zu sein, wie es gewesen war, als er es das letzte Mal gesehen hatte, gestern abend. Die Jalousien waren heruntergelassen, die Vorhänge zugezogen, das Zimmer dunkel, abgesehen vom grünlichen Leuchten des VDT. Den-ny saß vor dem Computer und studierte die Daten, die über den Bildschirm flackerten.
Dann sah Loman etwas, das ihm eine Gänsehaut verschaffte.
Er machte die Augen zu.
Wartete.
Machte sie wieder auf.
Es war keine Illusion.
Ihm war übel. Er wollte auf den Flur zurückgehen, die Tür zumachen und vergessen, was er gesehen hatte und weggehen. Aber er konnte sich nicht bewegen, konnte den Blick nicht abwenden.
Denny hatte die Tastatur des Computers entfernt und auf den Boden neben den Stuhl gestellt. Er hatte die Verkleidung der Datenverarbeitungseinheit abgeschraubt. Seine Hände lagen im Schoß, aber sie waren keine richtigen Hände mehr. Die Finger waren grotesk langgezogen und endeten nicht mehr in Kuppen und Fingernägeln, sondern gingen in metallisch aussehende Kabel über, die so dick wie Lampenkordeln waren, sich ins Innere des Computers schlängelten und dort verschwanden.
Denny brauchte die Tastatur nicht mehr.
Er war zum Bestandteil des Systems geworden. Durch seinen Computer und die Modem-Verbindung zu New Wave war Denny eins mit der Sonne geworden.
»Denny?«
Er hatte eine veränderte Daseinsform angenommen, aber keine, wie sie von den Regressiven gesucht wurde.
»Denny?«
Der Junge antwortete nicht.
»Denny!«
Ein seltsames leises Klicken und pulsierende elektronische Laute kamen vom Computer.
Loman betrat widerstrebend das Zimmer und ging zum Schreibtisch. Er sah auf seinen Sohn und erschauerte.
Dennys Mund stand offen. Speichel troff ihm am Kinn herunter. Er war durch seinen Kontakt mit dem Computer so gefesselt, daß er sich nicht die Mühe gemacht hatte, zum Essen oder Austreten aufzustehen; er hatte sich in die Hosen uriniert.
Seine Augen waren nicht mehr da. An ihrer Stelle saßen zwei glänzende Kugeln, die wie geschmolzenes Silber aussahen und wie Spiegel funkelten. Sie spiegelten die Daten, die vor ihnen über den Bildschirm wanderten.
Die pulsierenden Laute, leise elektronische Oszillationen, kamen nicht vom Computer, sondern von Denny selbst.
15
Die Eier waren gut, die Pfannkuchen noch besser, der Kaffee so stark, daß er fast die Bemalung der Porzellantassen ablöste, aber nicht so stark, daß man ihn kauen mußte. Beim Essen schilderte Sam ihnen den Plan, den er gemacht hatte, um eine Nachricht aus der Stadt hinaus und zum Bureau zu bringen.
»Ihr Telefon ist immer noch tot, Harry. Ich habe es heute morgen versucht. Und ich glaube nicht, daß wir es riskieren können, zu Fuß oder mit dem Auto die Autobahn zu-errei-chen, da sie überall Straßensperren haben und Patrouillen unterwegs sind; das muß unser allerletzter Ausweg bleiben. Schließlich sind wir, soweit wir wissen, die einzigen Menschen, die sich darüber im klaren sind, daß hier etwas wirklich... Unglaubliches vor sich geht, das man unbedingt aufhalten muß. Wir und vielleicht diese kleine Foster, von der die Polizisten gestern abend über VDT gesprochen haben.«
»Wenn sie wirklich ein kleines Mädchen ist«, sagte Tessa, »ein Kind, selbst ein Teenager, dürfte sie kaum Chancen gegen sie haben. Wir müssen davon ausgehen, daß sie sie erwischen, wenn sie sie nicht schon haben.«
Sam nickte. »Und wenn sie uns auch festnageln, wenn wir versuchen, die Stadt zu verlassen, ist niemand mehr übrig. Daher sollten wir zuerst eine Vorgehensweise mit geringem Risiko versuchen.«
»Gibt es denn eine Vorgehensweise mit geringen Risiken?« fragte sich Harry, während er Eidotter mit einem Stück Toast aufwischte, das er langsam und mit einer rührenden Präzision verzehrte, die daher kam, daß er nur einen Arm gebrauchen konnte.
Sam goß ein wenig Ahornsirup über seine Pfannkuchen und nahm überrascht zur Kenntnis, wieviel er aß, schrieb seinen Appetit aber der Tatsache zu, daß es möglicherweise seine Henkersmahlzeit war; er sagte: »Sehen Sie... dies ist eine verkabelte Stadt.«
»Verkabelt?«
»Computerverbindungen. New Wave gab der Polizei
Computer, daher werden sie ans Netz angeschlossen sein... «
»Und die Schulen«, sagte Harry. »Ich erinnere mich, ich habe letzten Frühling oder Frühsommer in der Zeitung darüber gelesen. Sie haben der Grund- und der High School eine Menge Computer und Software gegeben. Eine Geste öffentlichen Interesses, wie sie es nannten.«
»Sieht ganz so aus, als wäre das nicht der einzige Grund, was?« sagte Tessa.
»Verdammt richtig.«
Tessa sagte: »Sieht ganz so aus, als hätten sie ihre Computer aus denselben Gründen in den Schulen haben wollen, weshalb sie die Polizei computerisieren wollten - um alle eng mit New Wave zu verknüpfen, damit sie sie überwachen und kontrollieren konnten.«
Sam legte die Gabel weg. »New Wave beschäftigt, wieviel, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Stadt, nicht?«
»Wahrscheinlich«, sagte Harry. »Moonlight Cove ist erst gewachsen, nachdem sich New Wave vor zehn Jahren hier niedergelassen hat. Es ist in gewisser Weise eine altmodische Industriestadt - das Leben hängt nicht nur vom Hauptarbeitgeber ab, sondern gruppiert sich auch gesellschaftlich um seine Person.«
Nachdem er etwas Kaffee getrunken hatte, der so stark war, daß er beinahe wie Schnaps brannte, sagte Sam: »Ein Drittel der Bevölkerung... das läuft auf ungefähr vierzig Prozent der Erwachsenen hinaus.«
Harry sagte: »Schon möglich.«
»Und man muß davon ausgehen, daß alle Mitarbeiter von New Wave an der Verschwörung beteiligt sind und zu den ersten gehörten, die... verwandelt wurden.«
Tessa nickte. »Davon gehe ich aus.«
»Und sie müssen sich natürlich besonders für Computer interessieren, denn sie arbeiten ja in der Branche, daher kann man als sicher annehmen, daß alle einen Computer zu Hause haben.«
Harry stimmte zu.
»Und zweifellos kann man viele, wenn nicht alle Heim-Computer per Modem direkt mit New Wave verbinden, daher können sie abends oder an Wochenenden zu Hause arbeiten, falls erforderlich. Und da der Plan der Verwandlungen sich dem Ende nähert, möchte ich wetten, daß alle rund um die Uhr arbeiten; es müssen die halbe Nacht hindurch Daten über ihre Telefonleitungen hin und her fliegen. Wenn Harry mir jemanden in diesem Block hier nennen kann, der für New Wave arbeitet... «
»Mehrere«, sagte Harry.
»...dann könnte ich mich im R;gen hinausschleichen, zu ihrem Haus gehen und herausfinden, ob jemand zu Hause ist. Um diese Zeit arbeiten sie wahrscheinlich. Wenn niemand da ist, kann ich möglicherweise mit deren Telefon einen Anruf hinaus bewerkstelligen.«
»Moment, Moment«, sagte Tessa. »Was soll das mit den Telefonen. Die Telefone funktionieren nicht.«
Sam schüttelte den Kopf. »Wir wissen nur, daß die öffentlichen Fernsprecher nicht funktionieren und der von Harry nicht. Aber bedenken Sie: New Wave kontrolliert den Computer der Telefongesellschaft, daher können sie sich wahrscheinlich aussuchen, welche Leitungen sie lahmlegen wollen. Ich wette, sie haben die derjenigen, die diese... Verwandlung bereits hinter sich haben, nicht unterbrochen. Sie können sich ja nicht selbst isolieren. Besonders jetzt nicht, in einer Krisensituation und da ihr Plan so gut wie abgeschlossen ist. Die Chancen sind größer als fünfzig Prozent, daß sie nur die Leitungen lahmgelegt haben, die wir ihrer Meinung nach erreichen können - Telefonzellen, öffentliche Fernsprecher - wie im Motel - und die Telefone in den Häusern der Leute, die noch nicht verwandelt worden sind.«
16
Angst erfüllte Loman Watkins, sättigte ihn so sehr, daß man sie aus ihm hätte auswringen können, wenn sie Substanz gehabt hätte, und zwar in rauhen Mengen, die es durchaus mit denen aufnehmen könnten, welche momentan gerade vom Himmel strömten. Er hatte Angst vor sich selbst, vor dem, was er werden könnte. Er hatte auch Angst um seinen Sohn, der in völlig fremder Gestalt am Computer saß. Und er hatte Angst vor seinem Sohn, das konnte er nicht leugnen, er ängstigte sich fast zu Tode vor ihm und konnte es nicht über sich bringen, ihn zu berühren.
Eine Datenflut flackerte als grüner Strom über den Bildschirm. Dennys funkelnde, flüssige Silberaugen - die wie Quecksilberpfützen in den Höhlen aussahen - reflektierten den leuchtenden Strom der Buchstaben, Zahlen, Grafiken und Karten. Ohne zu blinzeln.
Loman erinnerte sich, was Shaddack in Peysers Haus gesagt hatte, als er gesehen hatte, daß der Mann in eine wölfische Gestalt degeneriert war, die unmöglich Teil der menschlichen genetischen Geschichte gewesen sein konnte. Regression sei nicht nur - oder gar hauptsächlich - ein physischer Prozeß. Sie sei ein Beispiel, wie der Verstand über die Materie triumphierte, wie das Bewußtsein die Ge -stalt bestimmte. Weil sie keine gewöhnlichen Menschen mehr sein konnten und weil sie -das Leben als Neue Menschen ohne Gefühle einfach nicht mehr ertragen konnten, suchten sie veränderte Daseinsformen, in denen das Leben erträglicher war. Und der Junge hatte dieses Dasein gewählt, war Kraft seines Willens zu diesem grotesken Ding geworden.
»Denny?«
Keine Antwort.
Der Junge war vollkommen stumm geworden. Er gab nicht einmal mehr elektronische Geräusche von sich.
Die Metallkabel, in die die Finger des Jungen übergingen, vibrierten unablässig und pulsierten manchmal, als würde dickflüssiges, unmenschliches Blut durch sie fließen und zwischen den organischen und anorganischen Komponenten des Mechanismus wechseln.
Lomans Herz schlug so schnell, wie er gelaufen wäre, hätte er fliehen können. Aber das Gewicht seiner Angst hielt ihn fest. Schweiß war ihm ausgebrochen. Er bemühte sich, die gewaltige Mahlzeit nicht zu erbrechen, die er gerade zu sich genommen hatte.
Er überlegte sich verzweifelt, was er tun sollte, und sein erster Gedanke war, Shaddack anzurufen und um Hilfe zu bitten. Shaddack würde sicher verstehen, was sich hier abspielte, er würde wissen, wie man diese teuflische Metamorphose umkehren und Denny seine menschliche Gestalt wiedergeben könnte.
Aber das war Wunschdenken. Das Projekt Moonhawk war außer Kontrolle und folgte dunklen Wegen zu mitternächtlichen Schrecken, die Tom Shaddack nicht vorhergesehen hatte und nicht abwenden konnte.
Außerdem würde es Shaddack keine Angst machen, was Denny zustieß. Er würde entzückt sein, überschwenglich. Shaddack würde den Zustand des Jungen als höhere veränderte Daseinsform betrachten, ebenso erstrebenswert, wie die niedere Stufe der Regressiven verabscheuungswürdig und widerlich war. Hier war das, was Shaddack wirklich suchte, die erzwungene Verwandlung von Mensch in Maschine.
In der Erinnerung konnte Loman Shaddack noch jetzt in Peysers blutbespritztem Badezimmer sagen hören:»...ich kann nur nicht verstehen, warum die Regressiven sich allesamt für einen submenschlichen Zustand entschieden haben. Sie haben doch sicher die Kraft in sich, eine Evolution durchzumachen, keine Devolution, sich über das menschliche Dasein hinaus zu etwas Höherem, Sauberem, Reinerem zu erheben...«
Loman war sicher, daß Dennys sabbernde, silberäugige Inkarnation keine höhere Form der gewöhnlichen menschlichen Existenz war, weder sauberer noch reiner. Sie war auf ihre Weise ebenso eine Regression wie Mike Peysers Degeneration in seine wolfsähnliche Gestalt oder Coombs' Abstieg in affenartige Primitivität. Denny hatte, genau wie Pey-ser, seine intellektuelle Individualität aufgegeben, um dem Wissen um das emotionslose Leben eines Neuen Menschen zu entfliehen; anstatt zum Mitglied einer Meute submenschlicher Bestien zu werden, war er zu einer von vielen Datenverarbeitungseinheiten in einem komplexen Computernetz geworden. Er hatte den letzten Rest des Menschlichen in sich - seinen Verstand - abgestreift und war zu etwas Einfacherem als einem überlegenen und komplexen Menschen geworden.
Ein Speichelfaden troff von Dennys Kinn und erzeugte einen nassen Fleck auf dem Jeansstoff seiner Hose.
Empfindest du noch Angst? überlegte Loman. Du kannst nicht lieben. Nicht mehr als ich. Aber hast du jetzt noch Angst vor etwas?
Sicher nicht. Maschinen kannten keine Angst.
Loman konnte nach seiner Verwandlung kein anderes Gefühl als Angst mehr empfinden, und seine Tage und Nächte waren zu einer einzigen langen Prüfung der Angst unterschiedlicher Heftigkeit geworden; aber er hatte auf eine perverse Weise gelernt, die Angst zu lieben, sie zu verehren, weil sie die einzige Empfindung war, die ihn in Kontakt mit dem Mann hielt, der er vor seiner Verwandlung gewesen war. Wenn man ihm auch seine Angst nähme, würde er zu einer Maschine aus Fleisch verkommen. Dann würde sein Leben überhaupt keine menschliche Dimension mehr haben.
Denny hatte sein letztes kostbares Gefühl aufgegeben. Er hatte nur noch wenig, mit dem er seine endlosen grauen Tage aufhellen konnte, nämlich Logik, Vernunft, endlose Ketten von Berechnungen, die niemals endende Absorption und Interpolation von Fakten. Und wenn Shaddack recht hatte, was das verlängerte Leben der Neuen Menschen anbetraf, würden diese Tage sich zu Jahren ausdehnen.
Plötzlich gab der Junge wieder die unheimlichen elektronischen Geräusche von sich. Sie hallten von den Wänden.
Diese Laute waren so seltsam wie die kalten, klagenden Lieder von Lebewesen, die in den tiefsten Tiefen des Meeres hausten.
Wenn er Shaddack anrief und ihm Denny in diesem Zustand zeigte, würde er den Wahnsinnigen in seinem irren und unheiligen Vorhaben bestärken. Wenn er erst einmal verstanden hätte, was Denny geworden war, fände Shad-dack vielleicht einen Weg, alle Neuen Menschen dazu anzuregen oder zu zwingen, sich in ähnlich identische, durch und durch kybernetische Organismen zu verwandeln. Diese Vorstellung peitschte Lomans Angst zu neuen Höhen.
Das Kind-Ding verstummte wieder.
Loman zog den Revolver aas dem Halfter. Seine Hand zitterte heftig.
Daten huschten immer wahnwitziger über den Schirm und schwammen gleichzeitig über die Oberfläche von Den-nys geschmolzenen Augen.
Während er das Geschöpf betrachtete, das einmal sein Sohn gewesen war, kramte Loman Erinnerungen aus der Truhe seines Lebens vor der Verwandlung und versuchte verzweifelt, etwas von dem zu beschwören, was er einst für Denny empfunden hatte - die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn, den süßen Schmerz des Stolzes, die Hoffnungen für die Zukunft des Jungen. Er erinnerte sich an Angelausflüge, die sie zusammen unternommen hatten, an Abende vor dem Fernseher, Lieblingsbücher, die sie beide gelesen und über die sie sich unterhalten hatten, viele Stunden, die sie glücklich gemeinsam an wissenschaftlichen Projekten für die Schule gearbeitet hatten, das Weihnachtsfest, zu dem Denny sein erstes Fahrrad bekommen hatte, die erste Verabredung des Jungen, als er nervös die Tochter der Talmadges nach Hause gebracht hatte, damit sie seine Eltern kennenlernte... Loman konnte Erinnerungen an all das heraufbeschwören, deutliche Bilder der Erinnerung, aber sie konnten ihn nicht glücklich machen. Er wußte, er sollte etwas empfinden, wenn er sein einziges Kind umbringen wollte, mehr als Angst, aber dazu war er nicht mehr imstande. Um das zu erhalten, was noch von einem Menschen in ihm war, sollte er sich mindestens eine Träne herauspressen können, mindestens eine, wenn er den Abzug der Smith & Wessen betätigte, aber seine Augen blieben trocken.
Dann platzte etwas ohne Vorwarnung aus Dennys Stirn.
Loman schrie auf und taumelte überrascht zwei Schritte zurück.
Zuerst hielt er das Ding für einen Wurm, denn es glänzte ölig und war in Segmente unterteilt und so dick wie ein Bleistift. Aber je weiter es herauskam, desto deutlicher sah er, daß es mehr metallisch als organisch war und in einem Stecker endete, der etwa dreimal so dick war wie der >Wurm< selbst. Es schwankte vor Dennys Gesicht hin und her wie der Fühler eines unvergleichlich widerwärtigen Insekts und wurde länger und länger, bis es den Computer berührte.
Er will, daß das passiert, sagte sich Loman.
Das war die Macht von Verstand über Materie, keine kurzgeschlossene Genetik. Greifbar gemachte Geisteskraft, nicht amoklaufende Biologie. Dies war es, was der Junge werden wollte, und wenn dies das einzige Leben war, das er jetzt noch ertragen konnte, die einzige Existenz, die er begehrte, warum sollte er sie dann nicht bekommen dürfen?
Der gräßliche wurmartige Fortsatz sondierte den freigelegten Mechanismus, wo einmal die Abdeckplatte gewesen war. Er verschwand im Inneren und stellte eine Verbindung her, die dem Jungen ein intimeres Band mit Sonne verschaffte, als es nur mit seinen mutierten Händen und Quecksilberaugen möglich gewesen wäre.
Ein hohles, elektronisches Heulen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, drang aus dem Mund des Jungen, obwohl er weder Lippen noch die Zunge bewegte.
Lomans Angst zu handeln war größer geworden als seine Angst davor, nicht zu handeln. Er kam näher, hielt dem Jungen die Mündung des Revolvers an die rechte Schläfe und feuerte zwei Schuß ab.
17
Chrissie, die auf der Veranda kauerte, sich an die Hauswand lehnte und ab und zu vorsichtig hochkam und die drei Menschen beobachtete, die um den Frühstückstisch saßen, kam allmählich zu der Überzeugung, daß sie ihnen trauen konnte. Sie konnte im dumpfen Prasseln und Rauschen des Regens und bei geschlossenem Fenster nur Bruchstücke ihrer Unterhaltung verstehen. Aber nach einer Weile war ihr klar, daß sie wußten, daß etwas in Moonlight Cove ganz und gar nicht stimmte. Die beiden Fremden schienen sich in Mr. Talbots Haus zu verstecken und waren ebenso auf der Flucht wie sie. Sie arbeiteten offenbar an einem Plan, Hilfe von den Behörden außerhalb von Moonlight Cove zu holen.
Sie entschied sich dagegen, an die Tür zu klopfen. Sie bestand aus solidem Holz, ohne Scheiben in der oberen Hälfte, daher würden sie nicht sehen können, wer klopfte. Sie hatte genug gehört, um zu wissen, daß sie nervös waren, vielleicht nicht so gründlich mit den Nerven am Ende wie sie selbst, aber eindeutig zappelig. Ein unerwartetes Klopfen an der Tür würde ihnen allen einen Herzanfall verschaffen -oder vielleicht würden sie zu den Waffen greifen und die Tür in Stücke pusten - und sie mit ihr.
Statt dessen stand sie auf, so daß sie deutlich zu sehen war, und klopfte an die Fensterscheibe.
Mr. Talbot riß verblüfft den Kopf hoch und deutete mit dem Finger auf sie, aber noch während er das tat, schnellten der andere Mann und die Frau auf die Füße wie Marionetten, an deren Fäden plötzlich gezogen worden war. Moose bellte einmal, zweimal. Die drei Menschen - und der Hund
- starrten Chrissie überrascht an. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, hätte sie ein kettensägenschwingender Wahnsinniger sein können, der eine Ledermaske vor dem verunstalteten Gesicht trug, und nicht ein in Not geratenes elfjähriges Mädchen.
Sie vermutete aber, daß im von Außerirdischen infiltrierten Moonlight Cove im Augenblick sogar ein mitleiderregendes, vom Regen durchnäßtes, erschöpftes kleines Mädchen ein Objekt des Entsetzens für all diejenigen sein konnte, die nicht wußten, daß sie immer noch ein Mensch war. In der Hoffnung, damit ihre Ängste zerstreuen zu können, rief sie laut durch die geschlossene Fensterscheibe:
»Helfen Sie mir, bitte, helfen Sie mir.«
18
Die Maschine schrie. Ihr Schädel platzte unter der Wucht der beiden Schüsse, und sie wurde aus dem Sitz geschleudert, fiel auf den Boden des Zimmers und riß den Stuhl mit sich. Die langgezogenen Finger wurden vom Computer gerissen. Die segmentierte wurmartige Sonde riß in der Mitte zwischen dem Computer und der Stirn, aus der sie gewachsen war, in zwei Hälften. Das Ding lag zappelnd und zuckend auf dem Boden.
Loman mußte denken, daß es eine Maschine war. Er durfte nicht daran denken, daß es sein Sohn war. Das war zu schrecklich.
Das Gesicht war entstellt, die Wucht der Kugeln, die den Schädelknochen durchdrangen, hatten eine verformte, asymetrische, surrealistische Maske daraus gemacht.
Die silbernen Augen waren schwarz geworden. Jetzt sah es so aus, als wären Ölpfützen, nicht Quecksilber, in den Augenhöhlen des Dings.
Zwischen den zerschmetterten Knochenstücken sah Loman nicht nur die graue Gehirnmasse, die er erwartet hatte, sondern etwas, das wie Drahtspulen aussah, glitzernde Scherben, die fast wie Keramik wirkten, seltsame geometrische Formen. Neben Blut strömte blauer Rauch aus den Wunden.
Die Maschine schrie immer noch.
Die elektronischen Schreie kamen nicht mehr von dem Kind-Ding, sondern aus dem Computer auf dem Schreibtisch. Diese Laute waren so bizarr, daß sie in der Maschinenhälfte des Organismus ebenso fehl am Platze wirkten wie in der Menschenhälfte.
Loman wurde klar, daß es keine eindeutig elektronischen Schreie waren. Sie hatten auch einen Unterton und eine Eigenheit, die auf entnervende Weise menschlich waren.
Die Datenströme auf dem Bildschirm hörten auf zu wandern. Ein Wort wurde hundertfach wiederholt und füllte Zeile für Zeile den gesamten Bildschirm aus:
NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN...
Er wußte plötzlich, daß Denny nur halb tot war. Der Teil des Jungen, der im Körper gewohnt hatte, war ausgelöscht, aber ein Bruchstück seines Bewußtseins lebte irgendwie noch in diesem Computer und wurde von Silikon statt von Gehirngewebe am Leben erhalten. Dieser Teil von ihm schrie mit der maschinenkalten Stimme.
Auf dem Bildschirm:
Wo IST DER REST VON MIR wo IST DER REST VON MIR wo IST
DER REST VON MIR NEIN NEIN NEIN NEIN NEIN
NEIN NEIN...
Loman war zumute, als wäre sein Blut Eis, das von einem Herz gepumpt wurde, welches ebenso gefroren war wie das Fleisch unten in der Tiefkühltruhe. Er hatte noch nie eine Kälte gespürt, die so tief wie diese reichte.
Er wich von dem gestürzten Leichnam zurück, der endlich aufgehört hatte zu zucken, und richtete die Waffe auf den Computer. Er feuerte die Waffe in den Computer leer, zuerst in den Bildschirm. Da Jalousien und Vorhänge zugezogen waren, war es in dem Zimmer fast dunkel. Er schoß die Elektronik in Fetzen. Tausende Funken glommen in der Schwärze und sprühten aus der Datenverarbeitungsanlage. Dann starb die Maschine mit einem letzten Aufbäumen und Knirschen, und es herrschte wieder Dunkelheit.
Die Luft stank nach verschmorter Isolierung. Und Schlimmerem.
Loman ging aus dsm Zimmer und zur Treppe. Dort blieb er einen Moment stehen und lehnte sich ans Geländer. Dann ging er in die Diele hinunter.
Er lud den Revolver nach und steckte ihn ins Halfter.
Er ging in den Regen hinaus.
Er stieg ins Auto ein und ließ den Motor an.
»Shaddack«, sagte er laut.
19
Tessa nahm das Mädchen sofort in ihre Obhut. Sie rührte sie nach oben, ließ Harry und Sam und Moose in der Küche, und zog ihr die nassen Sachen aus.
»Deine Zähne klappern, Liebes.«
»Ich kann froh sein, daß ich noch Zähne zum Klappern habe.«
»Deine Haut ist eindeutig blau.«
»Ich kann froh sein, daß ich noch eine Haut habe«, sagte das Mädchen.
»Mir ist auch aufgefallen, daß du hinkst.«
»Ja. Verstauchter Knöchel.«
»Sicher, daß er nur verstaucht ist?«
»Ja. Nichts Ernstes. Außerdem... «
»Ich weiß«, sagte Tessa. »Du kannst froh sein, daß du noch Knöchel hast.«
»Richtig. Ich könnte mir vorstellen, daß Außerirdische Knöchel besonders schmackhaft finden, so wie manche Leute Eisbein. Huch.«
Sie saß im Gästezimmer auf der Bettkante und hatte eine Wolldecke um den nackten Körper geschlungen, und sie wartete, währen Tessa ein Laken aus dem Schrank holte sowie mehrere Sicherheitsnadeln, die sie in einem Nähkästchen im selben Schrank gesehen hatte.
Tessa sagte: »Harrys Kleidungsstücke sind dir viel zu groß, daher wickeln wir dich vorerst in ein Laken. Bis deine Kleider trocken sind, kannst du nach unten kommen und Harrys und Sam und mir alles erzählen.«
»War ein ziemliches Abenteuer«, sagte das Mädchen.
»Ja, du siehst aus, als hättest du eine Menge durchgemacht.«
»Würde ein tolles Buch werden.«
»Magst du Bücher?«
»O ja, ich liebe Bücher.«
Sie wurde rot, war aber offensichtlich entschlossen, sich weltmännisch zu geben, als sie aufstand, die Decke abstreifte und sich von Tessa in das Laken hüllen ließ. Tessa steckte es als eine Art Toga zusammen.
Während Tessa arbeitete, sagte Chrissie: »Ich glaube, ich werde eines Tages einmal ein Buch über das alles schreiben. Ich werde es Die Geißel der Außerirdischen oder vielleicht Die außerirdische Königin nennen, aber selbstverständlich nur dann, wenn sich herausstellt, daß es tatsächlich irgendwo eine Königin gibt. Vielleicht vermehren sie sich gar nicht wie Insekten oder Tiere. Vielleicht sind sie im Grunde genommen eine Art pflanzlicher Lebensform, dann müßte ich das Buch irgendwie Weltraumsamen oder Pflanzen aus der Unendlichkeit nennen oder vielleicht Mörderische Marspilze. Manchmal ist es gut, wenn man eine Alliteration im Titel verwendet. Alliterationen. Finden Sie dieses Wort nicht auch toll? Es klingt so hübsch. Ich mag Worte. Natürlich könnte man auch immer einen poetischeren Titel wählen, einen packenderen, so wie Außerirdische Wurzeln, Außerirdische Blätter. He, wenn sie Pflanzen sind, haben wir vielleicht Glück, vielleicht werden sie dann einmal von Blattläusen oder Würmern getötet, da sie keine Abwehrstoffe gegen irdische Krankheiten entwickelt haben können, so wie die Marsianer in Krieg der Welten von ein paar irdischen Viren getötet werden.«
Tessa wollte ihr nicht sagen, daß ihre Gegner nicht von den Sternen stammten, denn ihr machte das unermüdliche Plappern des Mädchens Spaß. Dann merkte sie, daß Chris-sies linke Hand verletzt war. Die Handfläche war böse aufgeschürft, in der Mitte war das rohe Fleisch zu sehen.«
»Das ist passiert, als ich vom Dach der Pfarrei gestürzt bin«, sagte das Mädchen.
»Du bist vom Dach gefallen?«
»Ja. Mann, das war aufregend. Sehen Sie, das Wolf-Ding kam durchs Fenster und hat mich verfolgt, und ich hatte keine andere Wahl. Bei dem Sturz habe ich mir auch den Knöchel verstaucht, und dann mußte ich durch den Garten zur Hintertür laufen, ehe sie mich erwischen konnten. Wissen Sie, Miß Lockland... «
»Bitte nenn mich Tessa.«
Chrissie war offenbar nicht daran gewöhnt, Erwachsene mit ihren Vornamen anzusprechen. Sie runzelte die Stirn und war einen Augenblick stumm, während sie über die Aufforderung, leger zu sein, nachdachte. Schließlich kam sie zum Ergebnis, daß es unhöflich wäre, nicht den Vornamen zu gebrauchen, wenn sie darum gebeten wurde.
»Okay... Tessa. Nun, wie auch immer, ich kann nicht sagen, was die Außerirdischen als wahrscheinlichstes tun werden, wenn sie uns erwischen. Vielleicht unsere Nieren essen? Oder uns ganz verspeisen? Vielleicht schieben sie uns auch einfach nur außerirdische Mistkäfer in die Ohren, und die Käfer kriechen in unser Gehirn und übernehmen uns. Wie dem auch sei, ich finde, es lohnt sich, von einem Dach zu stürzen, um ihnen zu entkommen.«
Als sie die Toga zusammengesteckt hatte, führte Tessa Chrissie über den Flur ins Bad und suchte im Medizin -schränkchen nach etwas, womit sie die Schürfwunde behandeln konnte. Sie fand eine Flasche Jod mit verblaßtem Etikett, eine halb leere Rolle Pflaster und eine Packung Mullstücke, die so alt waren, daß die einzelnen Papierhüllen schon vergilbt waren. Der Mull selbst sah frisch und weiß aus, das Jod war auch von der Zeit nicht verdorben worden und noch kräftig genug.
Chrissie saß barfuß, in ihrer Toga und mit zerzaustem, trocknendem Haar auf dem heruntergeklappten Deckel der Toilette und ließ die Behandlung ihrer Verletzung stoisch über sich ergehen. Sie protestierte nicht und schrie nicht vor Schmerzen auf - verzog nicht einmal eine Miene.
Aber sie redete. »Das war das zweite Mal, daß ich von einem Dach gestürzt bin, daher nehme ich an, ich habe einen Schutzengel, der über mich wacht. Vor etwa eineinhalb Jahren, im Frühling, bauten diese Vögel - ich glaube, sie werden Stare genannt - ein Nest auf dem Dach eines unserer Ställe daheim, und ich mußte einfach sehen, wie die Babyvögel in dem Nest aussahen, daher nahm ich eine Leiter, als meine Eltern nicht in der Nähe waren, und wartete darauf, bis die Vogelmama davonflog, um Essen zu holen, und dann kletterte ich ganz schnell hinauf, um sie mir anzusehen. Ich kann Ihnen sagen, bevor sie ihre Federn bekommen, sind Babyvögel so ziemlich das Häßlichste, das man sich vorstellen kann - ausgenommen natürlich Außerirdische. Sie waren runzlige, faltige kleine Dinger, nur Schnäbel und Augen und kleine Stummelflügel, wie mißgebildete Arme. Wenn menschliche Babys nach der Geburt so schlimm aussehen würden, hätten die ersten Menschen vor ein paar Millionen Jahren ihre Neugeborenen das Klo runtergespült -wenn sie ein Klo gehabt hätten -, und hätten nicht gewagt, weitere zu bekommen, und damit wäre die ganze menschliche Rasse ausgestorben, bevor sie richtig angefangen hätte.«
Tessa betupfte die Verletzung immer noch mit Jod und bemühte sich erfolglos, nicht zu grinsen, und sie sah auf und stellte fest, daß Chrissie die Augen fest zudrückte, die Nase rümpfte und sich größte Mühe gab, tapfer zu sein.
»Dann kamen Mama- und Papavogel zurück«, sagte Chrissie, »sahen mich an dem Nest und flogen mir kreischend ins Gesicht. Ich bin so erschrocken, daß ich ausrutschte und vom Dach fiel. Damals habe ich mir überhaupt nicht weh getan - aber ich bin in Pferdemist gelandet. Das ist überhaupt nicht witzig, ich kann Ihnen sagen. Ich liebe Pferde, aber sie wären noch liebenswerter, wenn man ihnen beibringen könnte, eine Kiste zu benützen, so wie Katzen.»
Tessa war vernarrt in das Kind.
20
Sam stützte die Ellbogen auf den Küchentisch, beugte sich vor und hörte Chrissie Fester aufmerksam zu. Tessa hatte die Schreckgespenster zwar im Cove Lodge beim Töten gehört und einen unter der Tür ihres Zimmers hindurch gesehen, und Harry hatte sie bei Nacht und Nebel aus der Ferne beobachtet, und Sam hatte gestern nacht zwei vor dem Fenster von Harrys Wohnzimmer gesehen, aber das Mädchen war die einzige unter ihnen, die sie mehrmals aus nächster Nähe gesehen hatte.
Doch Sam schenkte ihr nicht nur wegen ihres einmaligen Erlebnisses seine Aufmerksamkeit. Er war fasziniert von ihrer unbeschwerten Art, ihrem Humor und ihrer Redegewandtheit. Sie besaß offensichtlich bemerkenswerte innere Kraftreserven und echte Zähigkeit, sonst hätte sie die vergangene Nacht und die Ereignisse dieses Vormittags nicht überlebt. Und doch blieb sie bezaubernd unschuldig, zäh, aber nicht hart. Sie gehörte zu den Kindern, die einem Hoffnung für die ganze verdammte Menschheit geben.
Ein Kind wie Scott eins gewesen war.
Daher war Sam so fasziniert von Chrissie Foster. Er sah das Kind in ihr, das Scott gewesen war. Bevor er... sich verändert hatte. Er betrachtete das Mädchen mit einem Bedauern, das so stark war, daß es sich als dumpfe Schmerzen in der Brust und einen Kloß im Hals manifestierte, und hörte ihr zu, aber nicht nur, um die Informationen zu bekommen, die sie preiszugeben hatte, sondern mit der unrealistischen Erwartung, daß er begreifen könnte, weshalb sein Sohn Unschuld und Hoffnung verloren hatte, wenn er sie studierte.
21
Tucker und seine Meute schliefen in der Dunkelheit im Keller der Ikarus-Kolonie nicht, denn das brauchten sie nicht. Sie lagen zusammengerollt in der undurchdringlichen Schwärze. Von Zeit zu Zeit paarten er und das andere Männchen sich mit dem Weibchen, sie zerrten mit wilder Wut aneinander, rissen Reisch auf, das sofort wieder zu heilen anfing und ließen Blut fließen, weil es ihnen eben Lust bereitete - unmoralische Freaks beim Spielen.
Dunkelheit und die kahle Enge ihres Betonbaus trugen zu Tuckers wachsender Desorientierung bei. Er erinnerte sich stündlich weniger an seine Existenz vor der gestrigen aufregenden Jagd. Er hatte kein Selbstwertgefühl mehr. Individualität durfte während der Jagd nicht bei der Meute ermu -tigt werden, und hier im Bau war sie eine noch weniger erstrebenswerte Eigenschaft; in diesem fensterlosen, klau-strophobisch engen Raum war es erforderlich, das Selbst der Gruppe unterzuordnen.
Seine Tagträume waren erfüllt von Bildern dunkler, wilder Schatten, die durch nächtliche Wälder und über Wiesen im Mondschein schlichen. Wenn ihm gelegentlich eine Erin-nerung an menschliche Gestalten durch den Kopf schoß, war ihm ihr Ursprung ein Geheimnis; mehr noch, er hatte Angst davor und konzentrierte seine Fantasie alsbald wieder auf Laufen-Jagen-Paaren-Szenen, in denen er nur Teil der Meute war, ein Aspekt eines einzigen Schattens, ein Glied eines größeren Organismus und von der Notwendigkeit zu denken befreit, nur vom Verlangen erfüllt, zu sein.
Einmal merkte er, daß er seine wolfsähnliche Gestalt aufgegeben hatte, weil sie zu einengend geworden war. Er wollte nicht mehr der Anführer der Meute sein, denn diese Position brachte zuviel Verantwortung mit sich. Er wollte überhaupt nicht denken. Nur sein. Sein. Die Einengungen aller körperlichen Formen schienen unerträglich zu sein.
Er spürte, daß das andere Männchen und das Weibchen seine Degeneration spürten und seinem Beispiel folgten.
Er spürte, wie sein Fleisch zerfloß, wie sich Knochen auflösten und Organe und Gefäße Form und Funktion aufgaben. Er entwickelte sich über den urzeitlichen Affen hinaus zurück, weiter zurück als das vierbeinige Ding, das vor Jahrmillionen mühsam aus dem Urmeer gekrochen war, weiter zurück, weiter zurück, bis er nur noch eine Masse pulsierenden Gewebes war, protoplasmatische Ursuppe, die in der Dunkelheit im Keller der Ikarus-Kolonie waberte.
22
Loman läutete an der Tür von Shaddacks Haus an der Nordspitze, und Evan, sein Diener, antwortete.
»Tut mir leid, Chief Watkins, aber Mr. Shaddack ist nicht hier.«
»Wo ist er hin?«
»Das weiß ich nicht.«
Evan gehörte zu den Neuen Menschen. Um ganz sicherzugehen, daß er ihn beseitigt hatte, schoß er ihm zweimal in den Kopf und dann zweimal in die Brust, als er auf dem Boden der Diele lag, um Hirn und Herz zu zerstören. Oder Datenprozessor und Pumpe. Was war jetzt erforderlich - biologische oder mechanische Terminologie? Wie weit waren sie schon zu Maschinen geworden?
Loman machte die Tür hinter sich zu und stieg über Evans' Leichnam. Nachdem er die verschossenen Patronen des Revolvers nachgefüllt hatte, durchsuchte er das riesige Haus Zimmer für Zimmer, Stockwerk für Stockwerk nach Shaddack.
Er wünschte sich, er könnte von Rachedurst getrieben werden, könnte vor Wut verzehrt werden und Befriedigung dabei empfinden, wenn er Shaddack zu Tode prügelte, aber diese Empfindungen wurden ihm nicht gegönnt. Der Tod seines Sohnes hatte das Eis in seinem Herzen nicht schmelzen können. Er konnte weder Trauer noch Wut verspüren.
Indem er Shaddack tötete - der ständig mittels einer einfachen Herztelemetrieeinrichtung mit dem Supercomputer bei New Wave verbunden war -, würde er ein Programm in Sonne aktivieren, das einen Todesbefehl per Mikrowelle aussenden würde. Diese Übertragung würde von sämtlichen Mikrokugelcomputern im Gewebe der Neuen Menschen empfangen werden. Wenn er den Todesbefehl erhielt, würde jeder biologisch interaktive Computer in jedem Neuen Menschen auf der Stelle das Herz seines Wirtskörpers töten. Alle Verwandelten in Moonlight Cove würden sterben. Auch er würde sterben.
Aber das machte ihm nichts mehr aus. Seine Angst vor dem Tod war längst nicht mehr so stark wie die Angst vor dem Weiterleben, besonders da er entweder als Regressiver oder als das unvergleichlich schimmere Ding, zu dem Den-ny geworden war, weiterleben mußte.
Er sah sich im Geiste selbst in diesem erbärmlichen Zustand - glänzende Quecksilberaugen, eine wurmgleiche Sonde, die, ohne zu bluten, aus seiner Stirn hervorbrach und eine obszöne Verbindung mit dem Computer suchte. Wenn ängstliches Zittern tödlich gewesen wäre, hätte er hier auf der Stelle sein Leben ausgeschlottert.
Da er Shaddack nicht im Haus fand, fuhr er in Richtung New Wave, wo der Schöpfer der Neuen Welt sich zweifellos in seinem Büro befinden und emsig damit beschäftigt sein würde, Nachbarschaften für diese Hölle zu entwerfen, die er Paradies nannte.
23
Kurz nach elf Uhr, als Sam aufbrach, ging Tessa mit ihm auf die hintere Veranda hinaus, machte die Tür zu und ließ Chrissie bei Harry in der Küche. Die Bäume am hinteren Rand des Grundstücks waren so hoch, daß keine Nachbarn, auch die am Hügel hoch droben nicht, in den Garten sehen konnten. Sie war sicher, daß sie im Schatten der Veranda sowieso nicht zu sehen gewesen wären.
»Hören Sie«, sagte sie, »es ist vollkommen unsinnig, daß Sie alleine gehen.«
»Das ist überhaupt nicht unsinnig.«
Die Luft war feucht und kalt. Sie schlang die Arme um sich und sagte: »Ich könnte vorne an der Tür läuten und ablenken, während Sie nach hinten gehen.«
»Ich möchte mir keine Sorgen um Sie machen müssen.«
»Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.«
»Ja, das glaube ich Ihnen«, sagte er.
»Und?«
»Aber ich arbeite allein.«
»Sie scheinen alles alleine zu machen.«
Er lächelte dünn. »Wollen wir uns wieder darüber streiten, ob das Leben eine Teeparty oder die Hölle auf Erden ist?«
»Wir hatten keinen Streit. Das war eine Diskussion.«
»Wie dem auch sei, ich habe mich für Inkognito-Einsätze gemeldet, damit ich alleine arbeiten kann. Ich will keinen Partner mehr, Tessa, weil ich keinen mehr sterben sehen möchte.«
Sie wußte, er meinte nicht nur die anderen Agenten, die bei Einsätzen mit ihm ums Leben gekommen waren, sondern auch seine verstorbene Frau.
»Bleiben Sie bei dem Mädchen«, sagte er. »Kümmern Sie sich um sie, falls mir etwas passiert. Sie ist Ihnen schließlich sehr ähnlich.«
»Was?«
»Sie gehört zu denen, die wissen, wie man das Leben liebt. Wie man es wirklich und von Herzen liebt, was auch geschehen mag. Das ist eine seltene und kostbare Gabe.«
»Das wissen Sie auch«, sagte sie.
»Nein. Ich habe es nie gewußt.«
»Verdammt, jeder wird mit der Liebe zum Leben geboren. Sie haben Sie auch noch, Sam. Sie haben nur den Kontakt damit verloren, aber Sie können sie wiederfinden.«
»Kümmern Sie sich um das Mädchen«, sagte er, wandte sich ab und ging die Verandastufen hinunter in den Regen.
»Sie sollten besser zurückkommen, verdammt. Sie haben versprochen, mir zu erzählen, was Sie am Ende des Tunnels gesehen haben, auf der anderen Seite. Also kommen Sie besser zurück.«
Sam verschwand im silbernen Regen und dünnen Schwa -den grauen Nebels.
Während sie ihm nachsah, wurde Tessa klar, daß sie ihn wiederhaben wollte, auch wenn er ihr nie von der anderen Seite erzählen würde, und zwar aus vielen anderen komplexen und überraschenden Gründen.
24
Das Haus der Coltranes lag zwei Häuser von Harry Talbots entfernt an der Conquistador. Zwei Stockwerke. Verwitterte Zedernmauern. Ein überdachter Balkon anstelle einer Ve -randa.
Sam hastete rasch an der Rückseite des Hauses entlang, wo der Regen mit einem Geräusch vom Dach des Balkons troff, das an das Prasseln von Feuer erinnerte, und sah durch verglaste Schiebetüren in ein dunkles Wohnzimmer und dann durch ein Fenster in eine unbeleuchtete Küche.
Als er die Küchentür zum Balkon erreicht hatte, zückte er den Revolver aus dem Halfter unter der Lederjacke und hielt ihn an der Seite gegen den Oberschenkel gepreßt.
Er hätte nach vorne gehen und läuten können, das wäre den Leuten drinnen wahrscheinlich nicht so verdächtig vorgekommen. Aber das hätte bedeutet, er hätte auf die Straße gehen müssen, wo er möglicherweise nicht nur von den Nachbarn gesehen worden wäre, sondern auch von den Patrouillen, die nach Chrissies Angaben durch die Straßen zogen.
Er klopfte in rascher Folge viermal nacheinander an die Tür. Als niemand antwortete, klopfte er noch einmal, lauter, und dann ein drittes Mal, noch lauter. Wenn jemand zu Hause gewesen wäre, hätten sie auf das Klopfen reagiert.
Harley und Sue Coltrane mußten bei New Wave sein, wo sie arbeiteten.
Die Tür war abgeschlossen. Er hoffte, daß sie nicht auch verriegelt sein würde.
Er hatte seine Werkzeuge bei Harry gelassen, hatte aber eine dünne, flexible Metallplatte mitgebracht. Fernsehserien hatten die Vorstellung populär gemacht, daß jede Kreditkarte ein ausreichendes und unverdächtiges Hilfsmittel war, aber diese Plastikrechtecke verbogen sich zu häufig in der Ritze oder brachen ab, bevor die Zunge des Schlosses zurückgeschoben werden konnte. Er zog Hilfsmittel vor, deren Nützlichkeit erprobt worden war. Er schob die Platte zwischen Tür und Rahmen direkt unterhalb des Schlosses und führte sie aufwärts, wobei er Druck anwendete, als er auf Widerstand stieß. Das Schloß ging auf. Er drückte gegen die Tür, und sie war nicht verriegelt; sie ging mit einem leisen Quietschen auf.
Er trat ein und machte die Tür leise zu, achtete aber darauf, daß das Schloß nicht wieder einrastete. Wenn er schnell hinaus mußte, wollte er sich nicht erst mit Aufschließen aufhalten müssen.
Die Küche wurde nur vom trüben Licht des regnerischen Tages erhellt, das kaum durchs Fenster drang. Der Vinylboden, die Tapete und die Kacheln schienen die hellsten Farbtöne zu haben, denn im Halbdunkel sah alles mehr oder weniger grau aus.
Er blieb fast eine Minute lang stehen und lauschte angestrengt.
Die Küchenuhr tickte.
Regen trommelte auf das Balkondach.
Sein nasses Haar klebte ihm an der Stirn. Er strich es beiseite, aus den Augen.
Als er sich bewegte, quietschen seine nassen Schuhe.
Er ging direkt zum Telefon, das über einem Sekretär in der Ecke an der Wand befestigt war. Als er den Hörer abnahm, bekam er kein Freizeichen, aber die Leitung war auch nicht tot. Seltsame Laute ertönten: Klicken, leises Piepsen, schwache Oszillationen - alles verschmolz zu einer traurigen, fremdartigen Musik, einem elektronischen Klagelied.
Sanas Nacken wurde kalt.
Er legte den Hörer stumm und vorsichtig wieder auf die Gabel.
Er fragte sich, was für Geräusche man in einem Telefon hören konnte, das als Modem zwischen zwei Computern benützt wurde. Arbeitete einer der Coltranes anderswo im Haus und war per Heimcomputer mit New Wave verbunden?
Aber irgendwie spürte er, daß man das, was er im Telefon gehört hatte, nicht einfach damit erklären konnte. Es war verdammt unheimlich gewesen.
Das Eßzimmer grenzte an die Küche. Gazevorhänge hingen vor den beiden großen Fenstern, sie filterten das asche-farbene Tageslicht noch mehr. Eine Kiste, Büffet, Tisch und Stühle waren als schwarze Blocks und schieferfarbene Schatten zu erkennen.
Er blieb wieder stehen, um zu lauschen. Und hörte wieder nichts Ungewöhnliches.
Das Haus war im klassisch kalifornischen Design gehalten, ohne Erdgeschoßflur. Jedes Zimmer führte direkt ins nächste, eine offene, freizügige Architektur. Er betrat das große Wohnzimmer durch einen Bogen und war froh, daß das Haus mit Teppichboden ausgelegt war, auf dem man seine Schuhe nicht hören konnte.
Das Wohnzimmer war nicht so dunkel wie der Rest des Hauses, soweit er ihn bisher gesehen hatte, trotzdem war der hellste Farbton perlmuttgrau. Die westlichen Fenster wurden von der Vorderveranda überschattet, über die nördlichen strömte der Regen. Bleiernes Tageslicht, das durch die Scheiben drang, überzog den Raum mit einem Fleckenmuster grauer Schatten von Hunderten von Tropfen, die am Glas perlten, und Sam war so nervös, daß er beinahe spüren konnte, wie diese winzigen amöbenhaften Gespenster über ihn hinweg krochen.
Mit der Beleuchtung und seiner Stimmung kam er sich vor wie in einem alten Schwarzweißfilm. Einem der trostlosesten Beispiele des film noir.
Das Wohnzimmer war verlassen, aber dann ertönte unvermittelt ein Geräusch aus dem letzten Zimmer unten. Aus der südwestlichen Ecke. Hinter dem Foyer. Höchstwahrscheinlich das Aufenthaltszimmer. Ein gellendes Kreischen, bei dem er Zahnschmerzen bekam, gefolgt von einem hilflosen Schrei, der weder von einem Menschen noch von einer Maschine stammte, sondern irgendwo dazwischen lag, eine halbmetallische Stimme, die von Angst entstellt und von Verzweiflung verzerrt wurde. Dem folgte ein tiefes elektronisches Pulsieren, gleich einem lauten Herzschlag.
Dann Stille.
Er hatte den Revolver gezückt, hielt ihn starr vor sich und war bereit, auf alles zu schießen, was sich bewegte. Aber alles war still und ruhig.
Das Kreischen, der unheimliche Schrei und das tiefe Pulsieren konnten unmöglich etwas mit den Schreckgespenstern zu tun haben, die er gestern nacht vor Harrys Haus gesehen hatte, oder mit den anderen Gestaltveränderern, die Chrissie beschrieben hatte. Bisher hatte er sich am meisten vor einer direkten Konfrontation mit ihnen gefürchtet. Aber plötzlich war das unbekannte Ding im Nebenzimmer furchterregender.
Sam wartete.
Nichts mehr.
Er hatte das unheimliche Gbfühl, daß etwas so angestrengt nach Bewegungen von ihm lauschte wie er nach seinen.
Er überlegte, ob er zu Harry zurückkehren und sich eine andere Möglichkeit ausdenken sollte, eine Nachricht ans FBI zu schicken, denn mexikanisches Essen und Guinness Stout und Filme mit Goldie Hawn - sogar Swing Shift - schienen plötzlich unschätzbar wertvoll zu sein, keine erbarmenswerten Gründe weiterzuleben, sondern so erlesene Freuden, daß man sie mit Worten gar nicht hinreichend beschreiben konnte.
Nur Chrissie Fester verhinderte, daß er, so schnell er konnte, von hier verschwand. Die Erinnerung an ihre strahlenden Augen. Ihr unschuldiges Gesicht. Der Enthusiasmus und die Lebhaftigkeit, mit denen sie ihre Abenteuer geschildert hatte. Vielleicht hatte er bei Scott versagt, und vielleicht war es zu spät, den Jungen vom Abgrund zurückzuziehen. Aber Chrissie lebte noch in jedem vitalen Sinn des Wortes -körperlich, intellektuell, emotional -, und sie war auf ihn angewiesen. Niemand sonst konnte sie vor der Verwandlung retten.
Mitternacht war nur noch wenig mehr als zwölf Stunden entfernt.
Er schlich durch das Wohnzimmer zurück und durchquerte leise das Foyer. Er stand mit dem Rücken zur Wand neben der halb offenen Tür des Zimmers, aus dem die unheimlichen Laute gekommen waren.
Etwas klickte da drinnen. Er erstarrte.
Ein leises, sanftes Klicken. Nicht das Tick-tick-tick von Krallen wie die, die er gestern nacht ans Fenster klopfen gehört hatte. Mehr als wäre eine lange Reihe Relais eingerastet, als wären Dutzende Schalter umgelegt worden, als wären Dominos nacheinander umgefallen: Klick-klick-klick-klicker-klicker-klick-klick -klicker...
Wieder Stille.
Sam hielt den Revolver mit beiden Händen, trat vor die Tür und stieß sie mit einem Fuß auf. Er sprang über die Schwelle und ging unmittelbar hinter der Tür in Schußhaltung.
Die Fenster waren zugezogen, die einzige Lichtquelle bildeten zwei Computerbildschirme. Beide waren mit Filtern versehen, die für schwarzen Text auf bernsteinfarbenem Hintergrund sorgten. Alles in dem Zimmer, was nicht im Schatten lag, war von dieser goldenen Strahlung erleuchtet.
Zwei Menschen saßen vor den Terminals, einer an der rechten Zimmerwand, der andere an der linken, die Rücken zueinander gekehrt.
»Keine Bewegung«, sagte Sam schneidend.
Sie bewegten sich nicht und sagten nichts. Sie waren so still, daß er zuerst dachte, sie wären tot.
Das seltsame Licht war heller als das halb ausgebrannte Tageslicht, das die anderen Zimmer vage erhellt hatte, enthüllte aber dennoch seltsam wenig. Als sich seine Augen umgestellt hatten, konnte Sam sehen, daß die beiden Menschen an den Computern nicht nur unnatürlich still waren, sondern gar keine richtigen Menschen mehr waren. Er wurde vom eisigen Griff des Entsetzens nach vorne gezogen.
Ein nackter Mann, wahrscheinlich Harley Coltrane, saß, ohne von Sam Notiz zu nehmen, auf einem drehbaren Hok-ker rechts von der Tür, an der Westwand. Er war mit zwei dicken Kabeln, die mehr organisch als metallisch aussahen und im bernsteinfarbenen Leuchten naß glänzten, direkt mit dem VDT verbunden. Sie kamen aus dem Inneren des Datenspeichers heraus - dessen Deckplatte abgeschraubt worden war - und verliefen unterhalb der Rippen in den bloßen Oberkörper des Mannes, wo sie, ohne zu bluten, mit dem Fleisch verschmolzen. Sie pulsierten.
»Großer Gott«, flüsterte Sam.
Coltranes Unterarme waren völlig ohne Fleisch, nur goldene Knochen. Das Heisch der Oberarme endete glatt vier Zentimeter über den Ellbogen; aus diesen Stümpfen ragten die Knochen so sauber wie Roboterarme aus einem Metallgehäuse heraus. Die Skeletthände waren fest um die Kabel geklammert, als wären sie lediglich ein Paar Klammern.
Als Sam näher an Coltrane heranging und genauer hinsah, stellte er fest, daß die Knochen nicht so differenziert waren, wie sie sein sollten, sondern zusammengeschweißt waren. Darüber hinaus fanden sich Metallspuren darin. Während er hinsah, fingen die Kabel so heftig an zu pulsieren, daß sie re-gelrecht vibrierten. Hätten die Klammernhände sie nicht festgehalten, wären sie wahrscheinlich entweder von dem Mann oder der Maschine abgerissen.
Verschwinde.
Eine Stimme sprach in ihm und riet ihm zu fliehen, und es war seine eigene Stimme, wenn auch nicht die des erwachsenen Sam Booker. Es war die Stimme des Kindes, das er gewesen war, und in das seine Angst ihn wieder verwandelte. Extremes Entsetzen ist eine tausendmal wirksamere Zeitmaschine als Nostalgie, die uns über Jahre zurückwirft in diesen vergessenen und unerträglichen Zustand der Hilflosigkeit, in dem so ein großer Teil der Kindheit verbracht wird.
Verschwinde, lauf weg, lauf weg, verschwinde!
Sam trotzte dem Drang zu fliehen.
Er wollte verstehen. Was ging hier vor? Zu was waren diese Menschen geworden? Warum? Was hatte das mit den Schreckgespenstern zu tun, die durch die Nacht schlichen? Thomas Shaddack hatte offenbar durch Mikrotechnologie eine Methode gefunden, die menschliche Biologie radikal und für immer zu verändern. Soviel war Sam klar, aber nur das zu wissen und nichts anderes, war so, als würde er spüren, daß etwas im Meer lebte, ohne daß er jemals einen Fisch gesehen hätte. Noch soviel Geheimnisvolles lag unter der Oberfläche.
Verschwinde.
Weder der Mann vor ihm noch die Frau auf der anderen Seite des Zimmers schienen sich auch nur entfernt seiner Anwesenheit bewußt zu sein. Er war offenbar nicht in unmittelbarer Gefahr.
Lauf weg, sagte der ängstliche Junge in ihm.
Datenströme - Worte, Zahlen, Diagramme und Kurven in Myriaden Variationen - huschten wie wilde Sturzbäche über den bernsteinfarbenen Monitor, während Harley Coltrane den dunkel flackernden Bildschirm, ohne zu blinzeln, anstarrte. Er konnte ihn aber unmöglich so sehen, wie ihn ein gewöhnlicher Mensch sehen würde, denn er hatte keine Augen mehr. Sie waren aus den Höhlen gerissen und durch eine Gruppe anderer Sensoren ersetzt worden: winzige Perlen rubinroten Glases, kleine Drahtspulen, Chips mit gerillter Oberfläche aus einem keramikähnlichen Material, das alles funkelte leicht zurückversetzt in den tiefen schwarzen Löchern seines Schädels.
Sam hielt den Revolver jetzt nur noch mit einer Hand. Er hielt den Finger nicht mehr direkt auf dem Abzug, sondern auf der Abzugsschlinge, weil er so stark zitterte, daß er versehentlich einen Schuß abgeben könnte.
Die Brust der Menschmaschine hob und senkte sich. Der Mund stand offen; bitterer, übelriechender Atem kam in Wogen daraus hervor.
An den Schläfen und den widerlich aufgequollenen Arterien im Hals war ein schneller Puls zu erkennen. Aber auch dort, wo keiner sein sollte, war ein Puls schlag: in der Mitte der Stirn; an jedem Kiefer entlang; an vier Stellen von Brust und Bauch; in den Oberarmen, wo dunkle, seilförmige Blutgefäße unter subkutanem Fett angeschwollen waren und jetzt direkt unter der Haut lagen. Der Kreislauf schien neu gestaltet und eingerichtet worden zu sein, neuen Körperfunktionen zu dienen, die erforderlich geworden waren. Schlimmer noch, die Pulsfrequenzen stimmten nicht überall überein, als schlügen mindestens zwei Herzen in ihm.
Ein schriller Schrei drang aus dem klaffenden Mund des Dings, und Sam zuckte zusammen und schrie auch überrascht auf. Das kam den unirdischen Lauten, die er im Wohnzimmer gehört hatte und die ihn hierher gelockt hatten, ziemlich nahe, aber er hatte geglaubt, sie wären vom Computer ausgegangen.
Sam verzog das Gesicht, während das elektronische Heulen anschwoll und schmerzhaft schrill wurde, und sah vom offenen Mund der Menschmaschine zu ihren >Augen<. Die Sensoren glommen immer noch in den Höhlen. Ein inneres Licht schien in den rubinroten Perlen, und Sam fragte sich, ob sie ihn im Infrarotspektrum oder auf eine andere Weise wahrnahmen. Konnte Coltrane ihn überhaupt sehen? Vielleicht hatte die Menschmaschine die Menschenwelt zugunsten einer anderen Wirklichkeit aufgegeben, vielleicht war Sam eine Nebensächlichkeit für ihn, die gar nicht wahrgenommen wurde.
Das Kreischen wurde leiser und brach unvermittelt ab.
Ohne zu bemerken, was er tat, hatte Sam den Revolver gehoben und aus einer Entfernung von etwa vierzig Zentimetern auf Harley Coltranes Gesicht gerichtet. Er stellte zu seiner Verblüffung fest, daß er auch den Finger wieder um den Abzug gekrümmt hatte und vorhatte, dieses Ding zu vernichten.
Er zögerte. Immerhin war Coltrane noch ein Mensch - wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Wer konnte sagen, ob er seinen momentanen Zustand nicht seinem Leben als gewöhnlicher Mensch vorzog? Wer konnte sagen, ob er so nicht glücklicher war? Sam fühlte sich nicht wohl in der Rolle des Richters, aber noch unwohler in der des Henkers. Als Mann, der das Leben als Hölle auf Erden betrachtete, mußte er die Möglichkeit bedenken, daß Coltranes Zustand eine Verbesserung war, ein Entkommen.
Die glänzenden, halborganischen Kabel zwischen Mensch und Computer summten. Sie klapperten gegen die Skeletthände, von denen sie festgeklammert wurden.
Coltranes Atem stank nach verwesendem Fleisch und überhitzten elektronischen Komponenten.
Sensoren leuchteten und bewegten sich in den lidlosen Augenhöhlen.
Coltranes Gesicht, das im Schein der Monitore golden wirkte, schien zu einem endlosen Schrei erstarrt zu sein. Die Adern, die an den Kiefern und Schläfen pulsierten, schienen nicht seinen Herzschlag wiederzugeben, sondern Parasiten zu sein, die sich unter der Haut wanden.
Sam betätigte den Abzug mit einem Erschauern des Abscheus. In dem engen Raum hallte der Schuß wie Donner.
Coltranes Kopf wurde von der Wucht des Schusses zurückgeschleudert, dann sackte er nach vorne und kam rauchend und blutend mit dem Kinn auf der Brust zu liegen.
Die ekelhaften Kabel schwollen an und schrumpften und schwollen wieder an, wie im Rhythmus innerer Flüssigkeiten.
Sam spürte, daß der Mann nicht völlig tot war. Er richtete den Revolver auf den Computerschirm.
Eine von Coltranes Skeletthänden ließ das Kabel los, das sie festgehalten hatte. Sie packte mit einem Klick-schnipp-schnapp blanker Knochen Sams Handgelenk.
Sam schrie auf.
Elektronische Klicks und Klacks und Piepser und Summ-töne dröhnten durch das Zimmer.
Die höllische Hand hielt ihn mit so unglaublicher Kraft fest, daß die Knochenfinger das Fleisch zusammendrückten und dann durch die Haut schnitten. Er spürte, wie unter dem Hemdsärmel warmes Blut am Arm hinabrann. Ihm wurde mit einem Anflug von Panik klar, daß die unmenschliche Kraft der Menschmaschine ausreichend war, ihm das Handgelenk zu brechen und ihn zu verkrüppeln. Im günstigsten Fall würde seine Hand mangels Blutzirkulation taub werden und der Revolver herunterfallen.
Coltrane bemühte sich, den halb zerschmetterten Kopf zu heben.
Sam dachte an seine Mutter im Autowrack, an das aufgerissene Gesicht, das ihn angrinste, grinste, stumm und reglos war, aber grinste...
Er kickte panisch gegen Coltranes Stuhl und hoffte, dieser würde wegrollen und davonwirbeln. Die Bremsen der Rollen waren festgezogen.
Die Knochenhand drückte fester, und Sam schrie. Sein Blick verschwamm.
Trotzdem konnte er sehen, daß Coltrane langsam, langsam den Kopf hob.
Mein Gott, ich will dieses zerschmetterte Gesicht nicht sehen!
Sam kickte mit dem rechten Fuß, in den er sein ganzes Gewicht verlagerte, einmal, zweimal, dreimal gegen die Kabel zwischen Coltrane und dem Computer. Sie rissen bei Coltrane ab, platzten mit einem gräßlichen Geräusch aus dem Fleisch, und der Mann sackte auf dem Stuhl zusammen. Gleichzeitig öffnete sich die Knochenhand und fiel von Sams Handgelenk ab. Sie fiel mit einem kalten Klappern auf die harte Plastikmatte unter dem Stuhl.
Elektronische Baßtöne pulsierten wie leise Trommelschläge und hallten von den Wänden wider, während darunter ein dünnes Wimmern unablässig über drei Töne hinweg an-und abschwoll.
Keuchend und halb im Schock preßte Sam die linke Hand um das blutende Gelenk, als könnte das die stechenden Schmerzen stillen.
Etwas strich an seinem Bein entlang.
Er sah nach unten und erblickte die halborganischen Kabel, blassen Schlangen ohne Köpfe gleich, die immer noch mit dem Computer verbunden und von bösem Leben erfüllt waren. Sie schienen auch gewachsen zu sein und wirkten doppelt so lang wie vorher, als sie Coltrane noch mit der Maschine verbunden hatten. Eines packte seinen linken Knöchel, während sich das andere geschmeidig um die rechte Wade schlängelte.
Er versuchte sich loszureißen.
Sie hielten ihn fest.
Sie krochen an seinen Beinen hinauf.
Er wußte instinktiv, sie suchten nacktes Fleisch an seinem Oberkörper, bei Kontakt würden sie sich in ihn graben und ihn zu einem Bestandteil des Systems machen.
Er hielt immer noch den Revolver in der blutigen rechten Hand. Er zielte auf den Bildschirm.
Es strömten keine Daten mehr über das bernsteinfarbene Feld. Statt dessen sah Coltranes Gesicht vom Bildschirm heraus. Seine Augen waren wieder hergestellt, und es schien, als könnte er Sam sehen, denn er sah ihn direkt an und sprach zu ihm:
»...brauche... brauche... will... brauche...«
Ohne auch nur einen Bruchteil zu begreifen, wußte Sam, daß Coltrane noch am Leben war. Er war nicht mit seinem Körper gestorben - zumindest war er nicht völlig dahin. Er war da, irgendwie in der Maschine.
Wie um diese Erkenntnis zu bestätigen, beeinflußte Coltrane das Glas des Bildschirms so, daß es die konvexe Ebene seiner Oberfläche aufgab und sich den Konturen seines Ge -sichts anpaßte. Das Glas wurde so flexibel wie Gelantine, wölbte sich nach außen, als würde Coltrane tatsächlich leibhaftig in der Maschine existieren und jetzt sein Gesicht herausdrücken.
Dies war unmöglich. Und trotzdem passierte es. Harley Coltrane schien Kraft seines Geistes die Materie zu beherrschen - eines Geistes, der nicht einmal mehr mit dem Körper verbunden war.
Sam war wie hypnotisiert vor Angst, erstarrt, gelähmt. Sein Finger lag reglos am Abzug.
Die Wirklichkeit war eingerissen und durch diesen Riß drang eine Alptraumwelt von unendlicher Bösartigkeit in diese Welt herüber, die Sam kannte und - plötzlich - liebte.
Eines der schlangengleichen Kabel hatte sich bis zu seiner Brust vorgearbeitet und drang unter den Pullover auf nackte Haut. Ihm war, als wäre er von einem weißglühenden Brandeisen gestreift worden, und dieser Schmerz brach den Bann.
Er feuerte zwei Schuß in den Computer und zerschmetterte zuerst den Bildschirm, das zweite Gesicht von Harley Coltrane, in das er eine 38er-Kugel pumpte. Sam rechnete halb damit, daß es die Kugel ohne Wirkung absorbieren würde, aber die Kathodenröhre explodierte, als wäre sie immer noch aus Glas. Der zweite Schuß zerschmetterte die Innereien des Datenspeichers und machte dem Ding, das Coltrane geworden war, endgültig den Garaus.
Die blassen, öligen Tentakel fielen von ihm ab. Sie warfen Blasen, fingen an zu blubbern und schienen vor seinen Augen zu verwesen.
Unheimliche elektronische Piepstöne, Knistern und Oszillationen, nicht ohrenbetäubend laut, aber unangenehm stechend, tosten durch das Zimmer.
Als Sam zu der Frau sah, die am anderen Computer saß, an der Ostwand, stellte er fest, daß die schleimglatten Kabel zwischen ihr und der Maschine ebenfalls länger geworden waren und es ihr ermöglichten, sich mit dem Stuhl umzudrehen und ihn anzusehen. Abgesehen von diesen halborganischen Verbindungen und ihrer Nacktheit befand sie sich in einem völlig anderen, aber deshalb nicht weniger teuflischen Zustand als ihr Mann. Auch ihre Augen waren verschwunden, aber in den Höhlen leuchteten keine unterschiedlichen Sensoren. Zwei rötliche Kugeln, dreimal so groß wie gewöhnliche Augen, erfüllten grotesk vergrößerte Augenhöhlen in einem Gesicht, das ihretwegen neu gestaltet worden war; es waren weniger Augen als vielmehr augenförmige Rezeptoren, die zweifellos imstande waren, verschiedene Lichtspektren zu sehen, und tatsächlich konnte Sam ein auf dem Kopf stehendes Bild von sich selbst in jeder Linse erkennen. Ihre Beine, Bauch, Brüste, Arme, Hals und Gesicht waren dicht von aufgequollenen Blutgefäßen überzogen, die direkt unter der Haut lagen und bis zum Bersten prall gefüllt zu sein schienen, daher sah sie aus, als wäre sie ein elektronischer Schaltplan. In einigen dieser Gefäße mochte tatsächlich Blut fließen, aber in anderen pulsierten Wogen radiumähnlicher Beleuchtung, manche grün und andere schwefelgelb.
Eine in Segmente unterteile wurmähnliche Sonde, die etwa so dick wie ein Bleistift war, brach aus ihrer Stirn hervor, als wäre sie mit der Pistole geschossen worden, und streckte sich Sam entgegen, überwand die drei Meter zwischen ihnen binnen eines Sekundenbruchteils und traf ihn über dem rechten Auge, bevor er sich ducken konnte. Die Spitze fraß sich beim Kontakt in seine Haut. Er hörte ein surrendes Geräusch, als würden sich winzige Fräsen mit eine Geschwindigkeit von tausend Umdrehungen pro Minute drehen. Blut rann an seiner Stirn und der Nase hinab. Aber er feuerte, noch während die Sonde auf ihn zuschnellte, die beiden letzten Schüsse im Revolver ab. Beide Schüsse trafen ihr Ziel. Einer drang in den Oberkörper der Frau, der zweite ging in den Computer hinter ihr und löste einen Funkenschauer und knisterte elektrische Blitze aus, die zur Decke stoben und kurz über den Verputz krochen, ehe sie erloschen. Die Sonde erschlaffte und fiel von ihm ab, bevor sie sein Gehirn mit ihrem verbinden konnte, was offenbar ihre Absicht gewesen war.
Abgesehen vom grauen Tageslicht, das durch papierdünne Schlitze zwischen den Streifen der Jalousien hereinfiel, war es dunkel in dem Zimmer.
Sam erinnerte sich irrwitzigerweise an etwas, das einmal ein Computerspezailist während eines Seminars für Agenten gesagt hatte, als er erklärte, wie das neue System des Bureaus funktionierte: »Computer funktionieren noch effektiver, wenn sie miteinander verbunden sind, was eine parallele Datenverarbeitung ermöglicht.«
Er blutete aus Stirn und Handgelenk, während er rückwärts taumelte, auf den Lichtschalter drückte und eine Stehlampe einschaltete. Er stand da - so weit als möglich von den beiden grotesken Leichen entfernt, daß er sie noch sehen konnte -, während er den Revolver mit Patronen nachlud, die er aus der Tasche seiner Jacke holte.
Es war unnatürlich still in dem Zimmer.
Nichts bewegte sich.
Sams Herz schlug so schnell, daß seine Brust mit jedem Schlag weh tat.
Er ließ zweimal Patronen fallen, weil seine Hände so stark zitterten. Er bückte sich nicht, um sie aufzuheben. Er war halb davon überzeugt, daß in dem Augenblick, in dem er nicht in einer Position war, zielgenau zu feuern oder zu fliehen, sich herausstellen würde, daß eine der toten Kreaturen überhaupt nicht tot war und sich wie ein Blitz auf ihn stürzen würde, funkensprühend, um ihn zu packten, bevor er sich aufrichten und ihr ausweichen konnte.
Allmählich hörte er das Prasseln des Regens wieder. Nachdem er am Morgen etwas nachgelassen hatte, fiel er jetzt wieder heftiger denn je seit Ausbruch des Sturms vergangene Nacht. Kein Donner ließ den Tag erbeben, aber das furiose Trommeln des Regens selbst - und die isolierten Hauswände - hatten das Feuer wahrscheinlich so weit gedämpft, daß die Schüsse nicht von Nachbarn gehört worden waren. Er hoffte bei Gott, daß es so war. Ansonsten würden sie wahrscheinlich schon jetzt unterwegs sein, um nach dem Rechten zu sehen und seine Flucht zu vereiteln.
Immer noch floß Blut von den Verletzungen an der Stirn, etwas geriet ihm ins rechte Auge. Es brannte. Er wischte das Auge mit dem Armel ab und blinzelte, so gut er konnte, die Tränen fort.
Sein Handgelenk tat höllisch weh. Aber wenn es notwendig war, könnte er den Revolver auch links halten und auf kurze Entfernung hinreichend genau treffen.
Als der 38er geladen war, schlich Sam wieder in das Zimmer, zum rauchenden Computer an der Westwand, wo Har-ley Coltranes mutierter Leichnam auf dem Stuhl hing und die Skelettarme herunterbaumeln ließ. Er ließ die tote Menschmaschine nicht aus den Augen, während er das Telefon vom Modem nahm und auflegte. Dann nahm er den Hörer wieder ab und vernahm zu seiner Erleichterung das Freizeichen.
Sein Mund war so trocken, daß er nicht sicher war, ob er deutlich sprechen könnte, wenn sein Anruf durchgestellt würde.
Er wählte die Nummer des FBI-Büros in Los Angeles.
Ein Klicken in der Leitung.
Eine Pause.
Eine Tonbandstimme sagte: »Wir bedauern, daß wir Ihren Anruf momentan nicht durchstellen können.«
Er legte auf und versuchte es noch einmal.
»Wir bedauern, daß wir Ihren Anruf momentan nicht...«
Er knallte den Hörer auf die Gabel.
Man konnte nicht mit allen Telefonen in Moonlight Cove direkt durchwählen. Und bei denen, die funktionierten, konnte man offenbar auch nur bestimmte Nummern wählen. Genehmigte Nummern. Das hiesige Telefonnetz war zu einer ausgedehnten Sprechanlage für die Verwandelten geworden.
Als er sich vom Telefon abwandte, hörte er, wie sich hinter ihm etwas bewegte. Verstohlen und schnell.
Er wirbelte herum, und die Frau war drei Schritte entfernt. Sie war nicht mehr mit dem vernichteten Computer verbunden, aber eines der organisch aussehenden Kabel verlief vom Ansatz ihrer Wirbelsäule bis zu einer Steckdose an der Wand.
Sam, der in seinem Entsetzen frei assoziierte, dachte: Soviel zu Ihrem unbeholfenen Ungeheuer, Dr. Frankenstein, soviel zu Stürmen und Gewittern, heutzutage stecken wir einfach die Monster in die Steckdose und verpassen ihnen ihre Ladung direkt, dank Pacific Power & Light.
Sie gab ein schlangengleiches Zischen von sich und griff nach ihm. Anstelle von Fingern hatte ihre Hand drei Vielzweckstecker wie die Interfaces, mit denen die Elemente von Heimcomputern verbunden waren, aber diese Stecker waren so spitz wie Nägel.
Sam duckte sich zur Seite, stieß mit dem Stuhl zusammen, auf dem Harley Coltrane noch hing, und wäre um ein Haar gestürzt, aber er feuerte aus der Bewegung auf das Ding. Er schoß die Kammern mit fünf 38er Patronen leer.
Die ersten drei Schüsse warfen sie nach hinten und zu Boden. Die anderen beiden gingen fehl und rissen Verputz von den Wänden, weil er in seiner Panik nicht aufhören konnte abzudrücken, als sie aus der Schußlinie fiel.
Sie versuchte aufzustehen.
Wie ein gottverdammter Vampir, dachte er.
Er brauchte das High-Tech-Aquivalent eines Holzpfahls, eines Kreuzes oder einer Silberkugel.
In den Arterien, die ihren nackten Körper überzogen, pulsierte immer noch Licht, aber an manchen Stellen sprühte sie Funken, so wie die Computer, als er seine Schüsse auf sie abgefeuert hatte.
Er hatte keine Patronen mehr im Revolver.
Er suchte in den Taschen nach Munition.
Er hatte keine.
Verschwinde.
Ein elektronisches Heulen, nicht ohrenbetäubend, aber nervenzerfetzender als tausend gefeilte Fingernägel, die gleichzeitig über eine Tafel kratzten, ging von ihr aus.
Zwei in Segmente unterteilte, wurmähnliche Sonden platzten aus ihrem Gesicht und schössen auf ihn zu. Beide fielen wenige Zentimeter vor ihm herunter - vielleicht ein Zeichen nachlassender Energie - und kehrten zu ihr zurück wie Quecksilberspritzer, die wieder von der Hauptmasse aufgesogen wurden.
Aber sie stand auf.
Sam stolperte zur Tür, bückte sich und hob die zwei Kugeln auf, die er beim Laden der Waffe fallengelassen hatte. Er klappte die Trommel auf, schüttelte die leeren Messinghülsen heraus, steckte die beiden letzten Schüsse hinein.
»...brauuuuuuuuuche... brauuuuuuuuuuuche...«
Sie war auf den Beinen und kam auf ihn zu.
Diesesmal hielt er die Smith & Wessen mit beiden Händen, zielte sorgfältig und schoß ihr in den Kopf.
Den Datenspeicher wegpusten, dachte er in einem Anflug von schwarzem Humor. Der einzige Weg, eine entschlossene Maschine aufzuhalten. Nimm den Datenspeicher raus, und sie ist nichts weiter als ein Schrotthaufen.
Sie brach auf dem Boden zusammen. Das rote Licht in ihren nichtmenschlichen Augen erlosch; jetzt waren sie schwarz. Sie lag vollkommen still.
Plötzlich loderten Flammen aus ihrem von der Kugel durchbohrten Kopf, sie schlugen aus der Wunde, den Augen, der Nase und dem offenen Mund.
Er ging rasch zu der Steckdose, mit der sie noch verbunden war, kickte gegen den halborganischen Stecker, der aus ihrem Körper gewachsen war, und brach ihn ab.
Die Flammen loderten immer noch aus ihr.
Er konnte sich keinen Hausbrand leisten. Man würde die Leichen finden und die Gegend, einschließlich Harrys Haus, gründlich durchsuchen. Er sah sich um und suchte nach etwas, das er auf sie werfen konnte, um das Feuer zu erstik-ken, aber das Feuer in ihrem Schädel wurde bereits schwächer. Sekunden später war es ausgebrannt.
Die unterschiedlichsten Gerüche hingen in der Luft, über einige davon wollte er lieber nicht nachdenken.
Ihm war ein wenig schwindlig. Übelkeit überkam ihn. Er würgte, biß die Zähne zusammen und schluckte das Erbrochene wieder hinunter.
Er wollte zwar nichts lieber als hier heraus, dennoch nahm er sich die Zeit, beide Computer aus dem Netz zu ziehen. Sie waren funktionsuntüchtig und unrettbar beschädigt, aber er war von der irrationalen Angst erfüllt, daß sie wie Dr. Frankensteins selbstgebauter Mensch in einer Fortsetzung nach der anderen irgendwie wieder zum Leben er-wachen würden, wenn sie mit Elektrizität in Berührung kämen.
Unter der Tür zögerte er, lehnte sich an den Türrahmen, um seine zitternden Beine etwas zu entlasten, und betrachtete die seltsamen Leichen. Er hatte damit gerechnet, daß sie tot ihre ursprünglichen Gestalten wieder annehmen würden, so wie Werwölfe im Kino, wenn sie eine Silberkugel ins Herz bekommen hatten oder mit einem Stock mit silbernem Knauf geschlagen worden waren, sich immer ein letztes Mal verwandelten und zu ihrem gequälten, allzu menschlichen Wesen wurden, das endlich von dem Fluch befreit war. Unglücklicherweise handelte es sich hier nicht um Lykanthro-pie. Dies war keine übernatürliche Heimsuchung, sondern etwas Schlimmeres, das Menschen ohne Hilfe von Dämonen oder Gespenstern oder anderen Wesen, die in der Nacht spukten, über sich gebracht hatten. Die Coltranes blieben so, wie sie gewesen waren, monströse Halbblüter aus Fleisch und Metall, Blut und Silikon - Mensch und Maschine.
Er konnte nicht verstehen, wie sie zu dem geworden waren, was sie waren, aber er erinnerte sich dunkel daran, daß es ein Wort dafür gab, und das fiel ihm einen Augenblick später auch ein. Cyborg: eine Person, deren physiologische Funktion von einer mechanischen oder elektronischen Einrichtung unterstützt wurde oder davon abhängig war. Menschen, die Schrittmacher trugen, um Herzrhythmusstörungen auszugleichen, waren Cyborgs, und das war gut. Leute mit Nierenversagen - die regelmäßig Dialyse erhielten - waren Cyborgs, und auch das war gut. Aber bei den Coltranes war das Konzept ins Extrem übersteigert worden. Sie präsentierten die Alptraumseiten der fortgeschrittenen Kybernetik, indem nicht nur körperliche, sondern auch geistige Funktionen von Maschinen unterstützt und wahrscheinlich sogar größtenteils von ihnen abhängig geworden waren.
Sam begann wieder zu würgen. Er wandte sich rasch von dem verrauchten Zimmer ab und ging durch das Haus zurück zur Küchentür, durch die er eingedrungen war.
Er war bei jedem Schritt sicher, daß er, wenn er sich umdrehte, eine Stimme hinter sich hören würde, halb menschlieh und halb elektronisch - »brauuuuuuuuche...« - und einen Coltranes auf sich zustolpern sehen würde, vom letzten kleinen Rest Strom wiederbelebt, der in Batterien gespeichert war.
25
Am Haupttor von New Wave Mikrotechnologie, im Hochland an der nördlichen Grenze von Moonlight Cove, blinzelte der Wachmann, der einen schwarzen Gummiregenmantel mit dem Wahrzeichen der Firma auf der Brust trug, in die Scheinwerfer des heranfahrenden Polizeiautos. Als er Loman erkannte, winkte er ihn durch, ohne ihn anzuhalten. Loman war hier schon, bevor er und sie Neue Menschen geworden waren, bestens bekannt gewesen.
Macht, Prestige und Rentabilität von New Wave wurden nicht in einem bescheidenen Firmensitz verborgen. Die Anlage war von einem führenden Architekten entworfen worden, der abgerundete Ecken, stumpfe Winkel und die interessanten Gegensätze von gekrümmten Wänden - manche konkav, manche konvex - bevorzugte. Die beiden großen, dreistöckigen Bauwerke - das zweite war vier Jahre nach dem ersten erbaut worden - waren mit lederfarbenen Steinen verklinkert, hatten große getönte Scheiben und fügten sich gut in die Landschaft ein.
Von den vierzehnhundert Menschen, die hier arbeiteten, lebten fast tausend in Moonlight Cove selbst. Der Rest wohnte in den umliegenden Gemeinden des County. Aber selbstverständlich wohnten alle innerhalb der Reichweite des Mikrowellensenders auf dem Dach des Hauptgebäudes.
Während er der Straße um die großen Gebäude herum zum Parkplatz folgte, dachte Loman: Shaddack ist auf jeden Fall unser ureigenster Reverend Jim Jones. Muß sicher sein, daß er jeden einzelnen seiner treuen Anhänger jederzeit mit sich nehmen könnte, wenn er es will. Ein moderner Pharao. Wenn er stirbt, müssen alle, die ihm dienen, auch sterben, als erwarte er, daß sie ihm in der nächsten Welt weiter dienen. Scheiße. Glauben wir überhaupt noch an eine nächste Welt?
Nein. Religiöser Glaube kam Hoffnung gleich, und dazu war emotionale Anteilnahme nötig.
Die Neuen Menschen glaubten ebensowenig an Gott wie an den Nikolaus. Sie glaubten nur noch an die Allmacht der Maschine und das kybernetische Schicksal der Menschheit.
Vielleicht glaubten manche von ihnen nicht einmal daran.
Loman nicht. Er glaubte an überhaupt nichts mehr - was ihm Angst machte, denn er hatte früher an so vieles geglaubt.
Das Verhältnis von Umsatz und Profit von New Wave zur Anzahl der Angestellten war selbst für den Industriezweig der Mikrotechnologie hoch; die Finanzkraft, die besten Köpfe der Branche bezahlen zu können, spiegelte sich im Prozentsatz der teuren Autos wieder, die auf den zwei großen Parkplätzen standen. Mercedes. BMW. Porsche. Corvette. Cadillac Seville. Jaguar. Hochkarätige japanische Importwagen mit allem Drum und Dran.
Nur die Hälfte der üblichen Anzahl von Autos stand auf dem Platz. Es sah so aus, als würde ein großer Prozentsatz der Angestellten zu Hause per Modem arbeiten. Wie viele waren schon wie Denny?
Die ordentlich Reihe für Reihe auf dem Asphalt geparkten Autos erinnerten Loman an die ordentlichen Grabsteinreihen auf einem Friedhof. Die stummen Motoren, das kalte Metall, Hunderte von nassen Windschutzscheiben, die den kahlen, grauen Herbsthimmel spiegelten, schienen plötzlich Vorboten des Todes zu sein. Für Loman repräsentierte dieser Parkplatz die Zukunft der ganzen Stadt: Stille, Schweigen, der schreckliche ewige Frieden des Friedhofs.
Wenn die Behörden außerhalb von Moonlight Cove auf das aufmerksam wurden, was sich hier abspielte, oder wenn sich herausstellte, daß tatsächlich jeder einzelne der Neuen Menschen ein Regressiver - oder etwas Schlimmeres - und das Projekt Moonhawk eine Katastrophe war, würde das Ende nicht aus vergiftetem Pruchtsaft bestehen - wie bei Re-verend Jim Jones in Jonestown, sondern aus einer tödlichen Sendung von Mikrowellen, die in die Sprache des Programms übersetzt und entsprechend handeln würden. Tausende von Herzen würden gleichzeitig stehenbleiben. Die Neuen Menschen würden wie eine einzige Person zu Boden fallen, und Moonlight Cove würde im selben Augenblick zu einem Friedhof der Unbegrabenen werden.
Loman fuhr durch den ersten Parkplatz auf den zweiten und dort zu der Reihe, die den Top-Angestellten vorbehalten war.
Wenn ich darauf warte, bis Shaddack einsieht, daß Moonhawk schiefgegangen ist, dachte Loman, wird er es nicht tun, weil er das Schlamassel gerne bereinigen möchte, das er angerichtet hat - nicht diese verdammte Albino-Spinne von einem Mann. Er wird uns nur des Knalleffekts wegen mitnehmen, damit er mit einem gewaltigen Paukenschlag abtreten kann und die Welt voll Ehrfurcht seiner Macht gedenkt, ein Mann mit so gewaltiger Macht, daß er Tausenden befehlen konnte, gleichzeitig mit ihm zu sterben.
Mehr als nur ein paar Kranke würden ihn als Helden betrachten und zum Götzen machen. Ein aufstrebendes junges Genie würde ihm nacheifern wollen. Das schwebte Shad-dack zweifellos vor. Wenn Moonhawk Erfolg hätte und einmal die gesamte Menschheit verwandelt würde, wäre Shad-dack buchstäblich Herr der Welt. Und schlimmstenfalls, wenn alles schiefginge und er Selbstmord begehen müßte, um nicht den Behörden in die Hände zu fallen, würde er zu einer beinahe mythischen Gestalt dunkler Inspiration werden, dessen böse Legende Legionen der Wahnsinnigen und Machtgierigen inspirieren würde - ein Hitler für das Silikonzeitalter.
Loman bremste am Ende der Autoreihe.
Er wischte sich über das fettige Gesicht. Seine Hand zitterte.
Er war von der Sehnsucht erfüllt, seine Verantwortung aufzugeben und die Existenz des Regressiven zu suchen, die frei von allen Zwängen war.
Aber er widerstand.
Wenn es Loman gelänge, Shaddack zuerst zu töten, bevor er Selbstmord begehen könnte, würde die Legende verblassen. Loman würde ein paar Sekunden nach Shaddack sterben, wie alle Neuen Menschen, aber immerhin würde in der Legende fortleben, daß dieser High-Tech-Jim Jones durch die Hände eines seiner eigenen Geschöpfe gestorben war. Das würde zeigen, daß seine Macht begrenzt war; man würde ihn als klugen Mann betrachten, aber nicht klug genug, ein Gott mit Makeln, der Aufstieg und Fall mit Wells' Moreau eigen hatte, und man würde sein Schaffen alles in allem als irriges Streben erkennen.
Loman bog rechts ab, fuhr die Parkplätze des leitenden Stabes entlang und mußte enttäuscht feststellen, daß weder Shaddacks Mercedes noch sein anthrazitfarbener Lieferwagen auf den reservierten Parkplätzen standen. Aber er konnte trotzdem dasein. Möglicherweise hatte ihn jemand anders ins Büro gefahren, oder er konnte anderswo geparkt haben.
Loman fuhr den Streifenwagen auf den für Shaddack reservierten Parkplatz. Er machte den Motor aus.
Er hatte den Revolver im Hüftgürtel. Er hatte sich schon zweimal vergewissert, daß e voll geladen war. Er vergewisserte sich noch einmal.
Loman hatte zwischen Shaddacks Haus und New Wave einmal angehalten und eine Nachricht geschrieben, die er auf Shaddacks Leichnam zurücklassen wollte und auf der ausdrücklich stand, daß er seinen Schöpfer getötet hatte. Wenn die Behörden der nicht verwandelten Welt in Moon-light Cove einträfen, würden sie den Zettel finden und Bescheid wissen.
Er wollte Shaddack aber nicht nur hinrichten, weil er von edlen Absichten getrieben wurde. Ein so hehres Selbstopfer erforderte Gefühle, die er nicht mehr erzeugen konnte. Er wollte Shaddack ermorden, weil er entsetzliche Angst hatte, Shaddack könnte etwas über Denny erfahren oder könnte herausfinden, daß andere auch das geworden waren, was Denny geworden war, und würde einen Weg finden, daß sie alle die unheilige Verbindung mit Maschinen eingingen.
Augen aus geschmolzenem Silber...
Speichel, der aus dem offenen Mund sabberte...
Die segmentierte Sonde, die aus der Stirn des Jungen brach und die vaginale Hitze des Computers suchte...
Diese Bilder, die ihm das Blut gefrieren ließen, und andere zogen in einer Endlosschleife der Erinnerungen durch Lo-mans Kopf.
Er würde Shaddack umbringen, um zu verhindern, daß er selbst gezwungen würde, das zu werden, was Denny geworden war, die Vernichtung von Shaddacks Legende würde lediglich eine angenehme Nebenwirkung sein.
Er steckte die Waffe in den Gurt und stieg aus dem Auto aus. Er eilte durch den Regen zum Haupteingang, betrat den Marmorboden der Lobby durch die Glastür, wandte sich nach rechts, entgegengesetzt von den Fahrstühlen, und näherte sich dem Empfang. Was den Luxus anbetraf, konnte die Firma es mit den teuersten Büros der High-Tech-Firmen im berühmteren, weiter südlich gelegenen Silicon Valley aufnehmen. Fein gemaserte Marmorverkleidungen, Messingverzierungen, erlesene Kristall-Leuchter und moderne Kristall-Lüster legten Zeugnis vom Erfolg von New Wave ab.
Die Frau am Empfang war Dora Hankins. Er kannte sie schon sein ganzes Leben lang. Sie war ein Jahr älter als er. Er war an der High School ein paarmal mit ihrer Schwester ausgegangen.
Sie sah auf, als er näher kam, sagte aber nichts.
»Shaddack?« fragte er.
»Nicht da.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Wann kommt er wieder?«
»Das kann dir seine Sekretärin sagen.«
»Ich gehe rauf.«
»Gut.«
Während er in den Fahrstuhl trat und auf den Knopf mit der 3 drückte, dachte Loman an die kurze Unterhaltung, die er und Dora Hankins geführt haben würden, bevor sie verwandelt worden waren. Sie hätten miteinander geplänkelt, sich das Neueste von ihren Familien erzählt und Bemerkungen über das Wetter gemacht. Jetzt nicht mehr. Unterhaltungen gehörten zu den Freuden einer vergangenen Welt. Als Verwandelte konnten sie nichts mehr damit anfangen. Loman konnte sich zwar noch daran erinnern, daß solche Unterhaltungen einmal Bestandteil des zivilisierten Lebens gewesen waren, aber er wußte nicht mehr, warum er sie einmal als wichtig angesehen hatte oder welche Art Freude sie ihm geschenkt hatten.
Shaddacks Bürosuite lag an der nordwestlichen Ecke des dritten Stocks. Der erste Raum nach dem Flur war die Empfangshalle, in der üppige beigefarbene Edward-Fields-Tep-piche lagen und die mit plumpen Roche-Bobois-Sofas und Messingtischen mit zollstarken Glasplatten möbliert war. Einziger Kunstgegenstand war ein Gemälde von Jasper Johns - ein Original, kein Druck.
>Was wird in der kommenden schönen neuen Welt aus den Künstlern?< überlegte Loman.
Aber er kannte die Antwort. Es würde keine mehr geben. Kunst waren Emotionen, die mit Farbe auf Leinwand ausgedrückt wurden, als Worte auf Papier oder Musik in einer Oper. In der neuen Welt würde es keine Kunst geben. Und falls doch, würde es eine Kunst der Angst sein. Die von Schriftstellern am häufigsten benützten Worte würden Synonyme für die Dunkelheit sein. Die Musiker würden in der einen oder anderen Form Totenklagen komponieren. Die von Malern am häufigsten verwendete Farbe würde Schwarz sein.
Vicky Lanardo, Shaddacks Privatsekretärin, saß an ihrem Schreibtisch. Sie sagte: »Er ist nicht da.«
Die Tür zu Shaddacks geräumigem Büro hinter ihr stand offen. Kein Licht war eingeschaltet. Er wurde lediglich vom Licht des verregneten Tages erhellt, das als aschefarbene Streifen durch die Jalousien drang.
»Wann kommt er?«
»Ich weiß nicht.«
»Keine Verabredungen?«
»Keine.«
»Wissen Sie, wo er ist?«
»Nein.«
Loman ging hinaus. Er schlenderte eine Weile durch die verlassenen Flure, Büros, Laboratorien und Testsäle und hoffte, er würde Shaddack entdecken.
Aber er kam nach einer gewissen Zeit zu der Überzeugung, daß sich Shaddack nicht in der Firma aufhielt. Offenbar wollte der große Mann am letzten Tag von Moonlight Coves Verwandlung mobil bleiben.
Wegen mir, dachte Loman. Wegen dem, was ich gestern nacht in Peysers Haus zu ihm gesagt habe. Er hat Angst vor mir, und er bleibt entweder in Bewegung oder hat sich irgendwo versteckt, wo ich ihn nur schwer finden kann.
Loman verließ das Gebäude, ging zum Streifenwagen und machte sich auf die Suche nach seinem Schöpfer.
26
Sam saß im unteren Badezimmer neben der Küche von der Taille aufwärst nackt auf der Kommode, während Tessa dieselben Maßnahmen an ihm durchführte, die sie zuvor bei Chrissie vorgenommen hatte. Aber Sams Verletzungen waren ernster als die des Mädchens.
Die Haut war an einer centgroßen äelle auf der Stirn, direkt über dem rechten Auge, abgeschabt worden, das Fleisch in der Mitte des Kreises war völlig weggefressen, blanker Knochen war in einem Durchmesser von etwa vier Millimetern zu sehen. Es erforderte ein paar Minuten konstanten Drucks, die Blutung dieser Verletzung zu stillen, gefolgt von Jod-Desinfektion, einem Sprühverband und einer fest aufgelegten Mullbinde. Doch ungeachtet dieser Bemühungen wurde der Mull allmählich rot.
Während sich Tessa an ihm zu schaffen machte, erzählte Sam ihr, was geschehen war.
»...und wenn ich ihr nicht genau in den Kopf geschossen hätte, wenn ich eine Sekunde langsamer gewesen wäre, dann hätte sich, glaube ich, diese verdammte Sonde, oder was es auch immer gewesen ist, direkt in meinen Schädel gebohrt und das Gehirn so wie ihres mit diesem Computer verbunden.«
Chrissie, die die Toga wieder gegen Jeans und Bluse ausgetauscht hatte, stand im Badezimmer und war totenblaß, wollte aber alles hören.
Harry hatte den Rollstuhl vor die Tür gefahren.
Moose lag vor Sam, nicht vor Harry. Der Hund schien zu merken, daß der Besucher momentan mehr Trost brauchte als Harry.
Sam war kälter als sein Aufenthalt im kalten Regen erklären konnte. Er zitterte, ab und zu wurde das Zittern so heftig, daß seine Zähne klapperten. •
Je länger Sam redete, desto kälter wurde es auch Tessa zumute, und wenig später hatte sich sein Zittern auf sie übertragen.
Sein Handgelenk war auf beiden Seiten zerschnitten, wo Harley Coltrane ihn mit seiner kräftigen Knochenhand umklammert hatte. Aber es waren keine wichtigen Blutgefäße verletzt; keiner der Schnitte mußte genäht werden, und Tes-sa konnte die Blutungen rasch stillen. Die Blutergüsse, die sich gerade erst abzeichneten und frühestens in ein paar Stunden voll erblüht sein würden, würden schlimmer werden als die Schnittwunden. Er beschwerte sich über Schmerzen im Handgelenk, und seine Hand war schwach, aber sie glaubte nicht, daß Knochen gebrochen oder zerquetscht worden waren.
»...als wäre ihnen irgendwie die Fähigkeit verliehen worden, ihre Körpergestalt zu verändern«, sagte Sam zitternd, »so daß sie sich in alles verwandeln können. Verstand über Materie, genau wie Chrissie gesagt hat, als sie uns von dem Priester erzählte, der sich in die Kreatur aus diesem Film verwandelt hat...«
Das Mädchen nickte.
»Ich meine, sie veränderten sich vor meinen Augen, ließen sich diese Sonden wachsen und versuchten, mich damit zu harpunieren. Und dennoch schienen sie sich bei aller un-glaublichen Kontrolle über ihre Körper, über ihre stoffliche Substanz, offenbar nur in etwas... aus einem Alptraum verwandeln zu wollen.«
Die Verletzung am Unterleib war die geringfügigste der drei. Die Haut war, wie an der Stirn, in einem pfenniggroßen Kreis abgeschürft, aber die Sonde, die ihn dort getroffen hatte, schien mehr dazu gedacht gewesen zu sein, sich in ihn zu brennen anstatt zu fräsen. Das Fleisch war versengt, die Wunde selbst ziemlich verbrannt.
Harry sagte im Rollstuhl: »Sam, glauben Sie, daß es wirklich Menschen sind, die sich selbst kontrollieren, die sich entschieden haben, maschinenähnlich zu werden, oder sind es Menschen, die irgendwie gegen ihren Willen von Maschinen übernommen worden sind?«
»Ich weiß nicht«, sagte Sam. »Ich schätze, es könnte beides möglich sein.«
»Aber wie können sie übernommen worden sein, wie konnte es geschehen, wie lassen sich solche Veränderungen im menschlichen Körper bewerkstelligen? Und wie paßt das, was mit dem Computer passiert ist, zu den Schreckgespenstern?«
»Wenn ich das nur wüßte«, sagte Sam. »Irgendwie hängt das alles mit New Wave zusammen. Muß so sein. Und keiner von uns hier weiß besonders viel über die Beschaffenheit dieser Technologie, daher haben wir nicht einmal das Grundwissen, mit dem wir intelligente Spekulationen anstellen könnten. Für uns könnte es Magie sein, das Übernatürliche. Wir können nur dann wirklich verstehen, was hier vor sich geht, wenn wir Hilfe von außerhalb bekommen, wenn wir Moonlight Cove abriegeln, die Unterlagen und Forschungsstätten von New Wave beschlagnahmen und alles so rekonstruieren, wie Feuerwehrleute eine Brandursache anhand der Überreste in der Asche rekonstruieren können.«
»Asche?« fragte Tessa, während Sam aufstand und sie ihm half, das Hemd anzuziehen. »Diese Worte von Feuer und Asche - und andere Dinge, die Sie gesagt haben -, hören sich ganz so an, als wären Sie der Meinung, daß die Ereignisse in Moonlight Cove immer schneller auf eine Explosion zustreben.«
»So ist es«, sagte er.
Er versuchte zuerst, das Hemd mit einer Hand zuzuknöpfen, aber dann ließ er es Tessa machen. Sie bemerkte, daß seine Haut immer noch kalt war und das Zittern nicht mit der Zeit nachließ.
Er sagte: »Die vielen Morde, die sie vertuscht haben, die Wesen, die durch die Nacht streichen... man gewinnt den Eindruck, daß ein Zusammenbruch angefangen hat, daß das, was sie vorhatten, nicht wie geplant verlief und der Zusammenbruch sich immer mehr beschleunigt.« Er atmete zu flach, zu schnell. Er machte eine Pause und atmete tief durch. »Was ich im Haus der Coltranes gesehen habe... das sah nicht wie etwas aus, das jemand geplant hat, das man Menschen antun möchte oder das sie sich selbst antun wollten. Es sah wie ein außer Kontrolle geratenes Experiment aus, wie eine amoklaufende Biologie, wie eine Wirklichkeit, deren Innerstes nach außen gekehrt wurde, und ich schwöre bei Gott, wenn solche Geheimnisse in den Häusern dieser Stadt versteckt werden, dann muß das gesamte Projekt über New Wave zusammenbrechen, und zwar heftig und schnell, ob sie es zugeben wollen oder nicht. Alles geht hoch, jetzt im Augenblick, eine gigantische Explosion, und wir sind mittendrin.«
Von dem Augenblick, als er von Regen und Blut tropfend durch die Küchentür gestolpert war, und während der ganzen Zeit, als Tessa seine Wunden gesäubert und verbunden hatte, war ihr etwas aufgefallen, das ihr mehr Angst machte als seine Blässe und das Zittern. Er berührte sie ständig. Er hatte Tessa in der Küche umarmt, als sie erschrocken stöhnend das blutende Loch in seiner Stirn bemerkt hatte, hatte sie gehalten und sich an sie gelehnt und ihr versichert, daß alles mit ihm in Ordnung war. Aber er schien sich in erster Linie selbst zu versichern, daß mit Harry und Chrissie und ihr selbst alles in Ordnung war, als hätte er damit gerechnet, daß er zurückkäme und sie wären... verwandelt. Er umarmte Chrissie, als wäre sie seine eigene Tochter, und er sagte: » Alles wird gut, alles wird gut werden«, als er sah, wie ängstlich sie war. Harry streckte ihm tröstend die Hand entgegen, und Sam nahm sie und wollte sie nicht mehr loslas -sen. Während Tessa im Bad seine Verletzungen behandelt hatte, hatte er mehrmals ihre Hände und Arme berührt und einmal ihre Wange gestreichelt, als hätte er nicht fassen können, wie weich und warm ihre Haut war. Er hatte auch Chrissie berührt, als sie im Badezimmer gestanden hatte, tätschelte ihre Schulter, hielt ihre Hand einen Augenblick und drückte sie zuversichtlich. Bisher hatte er solche Kontakte immer gemieden. Er war reserviert gewesen, verschlossen, kühl, sogar distanziert. Aber im Verlauf der halben Stunde, die er im Haus der Coltranes verbracht hatte, hatte ihn das, was er dort erlebt hatte, so durch und durch erschüttert, daß seine selbstgewählte Isolation einen breiten Sprung bekommen hatte; er wollte und brauchte auf einmal menschliche Nähe, die er noch vor kurzer Zeit nicht so erstrebenswert wie gutes mexikanisches Essen, Guinness Stout und Goldie-Hawn-Filme gefunden hatte.
Wenn sie über das Ausmaß des Grauens nachdachte, das erforderlich war, ihn so unvermittelt und grundlegend zu verändern, hatte Tessa mehr Angst denn je, weil Sam Bookers Bekehrung der eines Sünders gleichkam, der auf dem Totenbett in die Hölle blickt und sich verzweifelt an den Gott wendet, den er einst verabscheute, und Trost und Beruhigung sucht. War er jetzt nicht mehr so sicher, daß sie davonkommen würden? Vielleicht suchte er Kontakt zu seinen Mitmenschen, den er sich so viele Jahre vorenthalten hatte, weil er der Überzeugung war, daß ihnen nur noch Stunden blieben, in denen er die Ge meinschaft mit seinen Mitmenschen erleben konnte, bevor die große, tiefe und endlose Dunkelheit über sie kam.
27
Shaddack erwachte aus seinem vertrauten und tröstlichen Traum von Menschen und Maschinenteilen, die zu einem weltweiten Mechanismus unschätzbarer Macht und geheimnisvoller Ziele verbunden waren. Wie immer hatte ihn der Traum ebenso erfrischt wie der Schlaf selbst.
Er stieg aus dem Lieferwagen aus und streckte sich. Er verschaffte sich mit Werkzeugen, die er in der Garage fand, Zutritt zum Haus der verstorbenen Paula Parkins. Er benützte ihre Toilette, dann wusch er sich Hände und Gesicht.
Nachdem er in die Garage zurückgekehrt war, zog er das große Tor in die Höhe. Er fuhr den Wagen in die Einfahrt, wo er Daten per Mikrowelle besser empfangen und senden konnte.
Es regnete immer noch, Vertiefungen im Rasen waren mit Wasser vollgelaufen. Erste Nebelschwaden kräuselten sich bereits in der windstillen Luft, was bedeutete, daß die Nebelbänke, die später vom Meer hereinzogen, dichter als die vergangene Nacht sein würden.
Er nahm noch ein Schinkensandwich und eine Cola aus der Kühltasche und aß, während er den Stand von Projekt Moonhawk über das VDT des Lieferwagens abrief. Die zwischen sechs und achtzehn Uhr geplanten vierhundertfünfzig Verwandlungen wurden derzeit vollzogen. Um zwölf Uhr fünfzig, nach etwas weniger als sieben Stunden des zwölf-stündigen Programms, hatten bereits dreihundertundneun die letzte Dosis Mikrokugeln erhalten. Die Verwandlungsteams waren dem Zeitplan weit voraus.
Er überprüfte den Stand der Suche nach Samuel Booker und Tessa Lockland. Keiner war gefaßt worden.
Shaddack hätte ihr Verschwinden Kopfzerbrechen bereiten müssen. Aber er war unbesorgt. Schließlich hatte er den Mondfalken gesehen, nicht einmal, sondern dreimal, und er zweifelte nicht daran, daß er letztendlich alle seine Ziele erreichen würde.
Auch die Tochter der Fosters war noch nicht wiederaufgetaucht. Auch ihretwegen machte er sich keine Gedanken. Wahrscheinlich war sie in der Nacht etwas Mörderischem über den Weg gelaufen. Manchmal konnten die Regressiven nützlich sein.
Vielleicht waren Booker und die Lockland denselben Kreaturen zum OpfeiA gefallen. Es wäre ironisch, wenn die Regressiven - der einzige Makel des Projekts, möglicherweise sogar ein ernster - die Sicherheit des Projekts Moonhawk gewährleistet haben würden.
Er versuchte über VDT, Tucker bei sich zu Hause und bei New Wave zu erreichen, aber der Mann war nirgendwo. Konnte Watkins recht haben? War Tucker ein Regressiver, der, wie Peyser, nicht mehr in seine menschliche Gestalt zurückkehren konnte? War er momentan dort draußen im Wald und saß in seinem veränderten Dasein fest?
Shaddack schaltete seufzend den Computer aus. Wenn um Mitternacht alle verwandelt worden waren, würde die erste Phase von Moonhawk nicht beendet sein. Noch nicht ganz. Sie mußten offenbar einige Schlamassel beseitigen.
28
Im Keller der Ikarus-Kolonie waren drei Körper zu einem geworden. Die entstandene Wesenheit war ohne feste Gestalt, ohne Skelett, ohne hervorstechende Merkmale, eine Masse pulsierenden Gewebes, das lebte, obwohl es kein Gehirn, kein Herz und keine Blutgefäße hatte, und keine irgendwie gearteten Organe. Es war urzeitlich, eine dicke Proteinsuppe, ohne Gehirn, aber bei Bewußtsein, ohne Augen, aber sehend, ohne Ohren, aber hörend, ohne Eingeweide, aber hungrig.
Die Ballungen der Mikrokugeln im Inneren hatten sich aufgelöst. Der innere Computer konnte in der radikal veränderten Substanz des Wesens nicht mehr funktionieren, umgekehrt hatte das Wesen keinerlei Verwendung mehr für die biologische Unterstützung, für die die Mikrokugeln entworfen worden waren. Es war nicht mehr mit Sonne, dem Computer bei New Wave, verbunden. Wenn die Mikrowellensender den Todesbefehl sendeten, würde es den Befehl nicht empfangen - und leben.
Es war zum Meister seiner Physiologie geworden, indem es sich zur unkomplizierten Essenz stofflicher Existenz reduziert hatte.
Auch die Bewußtseinsinhalte waren zu einem verschmolzen. Dem Bewußtsein, das jetzt in der Dunkelheit hauste, fehlte ebenso eine komplexe Form wie dem amorphen, gallertartigen Körper, den es bewohnte.
Es hatte seine Erinnerung aufgegeben, weil Erinnerungen zwangsläufig Ereignissen und Beziehungen mit Konsequenzen galten, und Konsequenzen - gut oder schlecht - bedeuteten, daß man für seine Taten verantwortlich war. Aber die Flucht vor der Verantwortung hatte das Wesen ja überhaupt erst zur Regression getrieben. Schmerzen waren auch ein Grund, die Erinnerungen abzustreifen - die Schmerzen, sich an alles zu erinnern, was man verloren hatte.
Und es hatte ebenso die Fähigkeit aufgegeben, an die Zukunft zu denken, zu planen und zu träumen.
Jetzt hatte es keine Vergangenheit mehr, an die es sich erinnerte, und die Vorstellung einer Zukunft lag außerhalb seiner Reichweite. Es lebte nur für den Augenblick, dachte nicht, fühlte nichts, kümmerte sich um nichts.
Es hatte nur ein Bedürfnis. Zu überleben.
Und zum Überleben brauchte es nur eines. Nahrung.
29
Die Frühstücksteller waren vom Tisch abgeräumt worden, während sich Sam im Haus der Coltranes aufgehalten und Monster bekämpft hatte, die offenbar teils Mensch, teils Computer und teils Zombies waren - und möglicherweise, wer konnte das sagen, teils Toasterheizung. Nachdem Sam verbunden war, versammelte sich Chrissie wieder mit ihm und Tessa und Harry um den Küchentisch, um sich anzuhören, wie sie ihr weiteres Vorgehen planten.
»Das größte Problem unserer Zeit«, sagte Sam, »ist, wie kann man den technischen Fortschritt beschleunigen, wie kann man ihn dazu benutzen, die Lebensqualität zu verbessern, ohne sich davon überwältigen zu lassen. Können wir den Computer dazu benutzen, unsere Welt neu zu planen, unser Leben neu zu gestalten, ohne ihn eines Tages blind anzubeten?« Er zwinkerte Tessa zu und sagte: »Das ist keine dumme Frage.«
Tessa runzelte die Stirn. »Das habe ich auch nicht gesagt. Manchmal vertrauen wir den Maschinen blind, wir neigen dazu, alles, was uns der Computer sagt, als Evangelismus zu betrachten... «
»Den alten Leitspruch zu vergessen«, warf Harry ein, »der da lautet >Müll rein, Müll raus<.«
»Genau«, stimmte Tessa zu. »Wenn wir Daten und Analysen von Computern bekommen, tun wir manchmal so, als wären die Maschinen unfehlbar. Und das ist gefährlich, denn Computer können von einem Wahnsinnigen erdacht, entwickelt und angewendet werden, vielleicht nicht so leicht wie von einem gütigen Genie, aber ebenso wirksam.«
Sam sagte: »Aber die Menschen haben die Neigung - nein, sogar den Wunsch, den tiefempfundenen Willen -, von Maschinen abhängig zu sein.«
»Ja«, sagte Harry, »das liegt an unserer verdammten Veranlagung, Verantwortung, soweit es geht, von uns zu weisen. Der feige Wunsch, sich der Verantwortung zu entziehen, ist in unseren Genen gespeichert, das schwöre ich, und wir bringen es in dieser Welt nur zu etwas, wenn wir unsere natürliche Neigung, vollkommen verantwortungslos zu sein, ständig bekämpfen. Manchmal frage ich mich, ob wir das vom Teufel bekommen haben, als Eva auf die Schlange hörte und den Apfel aß - diese Abneigung gegenüber Verantwortung. Das ist die Ursache der meisten Übel.«
Chrissie stellte fest, daß dieses Thema Harry aufbrachte. Er richtete sich mit seinem guten Arm und etwas Unterstützung durch das halb gesunde Bein höher in seinem Rollstuhl auf. Sein bisher blasses Gesicht bekam Farbe. Er ballte eine Hand zur Faust und sah sie durchdringend an, als hielte er etwas Kostbares in diesem festen Griff, als hielte er seinen Gedanken dort fest und wollte ihn nicht loslassen, bevor er ihn in allen Einzelheiten durchdacht hatte.
Er sagte: »Die Menschen stehlen und töten und lügen und betrügen, weil sie keine Verantwortung füreinander empfinden. Politiker wollen Macht, und sie wollen Ruhm, wenn ihre Politik erfolgreich war, aber sie übernehmen selten die Verantwortung, wenn etwas schiefgeht. Die Welt ist voller Menschen, die einem sagen wollen, wie man sein Leben zu leben hat, wie man sich den Himmel auf Erden schafft, aber wenn sich ihre Vorstellungen als schlecht erweisen, wenn es mit einem Dachau oder einem Gulag oder Massakern wie nach unserem Rückzug aus Südostasien endet, drehen sie sich um, sehen weg und tun so, als wären sie nicht für die Gemetzel verantwortlich.«
Er zitterte, und Chrissie zitterte auch, obwohl sie nicht sicher war, daß sie alles verstanden hatte, was er gesagt hatte.
»Mein Gott«, fuhr er fort, »wenn ich einmal darüber nachgedacht habe, dann habe ich tausendmal darüber nachgedacht, vielleicht zehntausendmal, und das wahrscheinlich nur wegen des Krieges.«
»Sie meinen Vietnam?« sagte Tessa.
Harry nickte. Er sah immer noch seine Faust an. »Wenn man im Krieg überleben wollte, mußte man jede Minute des Tages Verantwortung für sein eigenes Handeln übernehmen, ohne zu zögern. Und man mußte auch für seine Kameraden verantwortlich sein, denn man konnte nicht alleine, auf sich gestellt, überleben. Das ist vielleicht das einzige Positive daran, im Krieg zu kämpfen - er klärt das Denken und macht einem bewußt, daß Verantwortungsgefühl die guten Menschen, von den verdammten unterscheidet. Ich bedaure den Krieg nicht, nicht einmal angesichts dessen, was mir dort zugestoßen ist. Ich habe diese große Lektion gelernt, habe gelernt, in allen Belangen verantwortungsbewußt zu sein, und ich empfinde immer noch Verantwortung den Menschen gegenüber, für die wir gekämpft haben, das werde ich immer, und wenn ich manchmal daran denke, wie wir sie im Stich gelassen haben, an die Schlachtfelder, die Massengräber, dann liege ich nachts wach und weine, weil sie von mir abhängig waren; und in dem Maß, wie ich an dem Geschehen beteiligt war, habe ich sie im Stich gelassen und bin dafür verantwortlich.«
Sie schwiegen alle.
Chrissie verspürte einen eigentümlichen Druck in der Brust, dasselbe Gefühl, das sie immer in der Schule gehabt hatte, wenn ein Lehrer - irgendein Lehrer, irgendein Thema
- über etwas redete, das ihr bislang unbekannt gewesen war und das sie so sehr beeindruckte, daß es ihren Eindruck von der Welt veränderte. Es kam nicht oft vor, aber es war stets ein furchteinflößendes und wunderbares Gefühl. Sie verspürte es jetzt auch, nach Harrys Worten, aber das Gefühl war zehnmal oder hundertmal stärker, als es jemals gewesen war, wenn ihr neues Wissen in Geographie oder Mathematik oder Naturwissenschaften vermittelt worden war.
Tessa sagte: »Harry, ich finde in diesem Fall ist Ihr Verantwortungsgefühl übertrieben.«
Er sah endlich von seiner Faust auf. »Nein. Niemals. Das Gefühl der Verantwortung für andere kann niemals übertrieben sein.« Er lächelte sie an. »Aber ich kenne Sie gerade gut genug, um zu vermuten, daß Ihnen das längst klar ist, Tessa, ob es Ihnen bewußt ist oder nicht.« Er sah Sam an und sagte: »Manche, die aus dem Krieg heimgekehrt sind, haben überhaupt nichts Gutes darin gesehen. Wenn ich sie treffe, vermute ich immer, daß sie die Lektion nie gelernt haben und gehe ihnen aus dem Weg - obwohl das wahrscheinlich unfair ist. Aber ich kann nichts dafür. Wenn ich dagegen einen Mann treffe, der seine Lektion im Krieg gelernt hat, vertraue ich ihm von ganzen Herzen. Ich würde ihm von ganzer Seele vertrauen, und das scheint in unserem Fall ja zu sein, was sie uns nehmen wollen. Sie werden uns hier herausbringen, Sam.« Er machte die Faust auf. »Daran zweifle ich nicht im geringsten.«
Tessa schien überrascht. Sie sagte zu Sam: »Sie waren in Vietnam?«
Sam nickte. »Zwischen dem Junior College und dem FBI.«
»Aber das haben Sie nie erwähnt. Als wir heute morgen das Frühstück machten und Sie mir die Gründe aufgezählt haben, weshalb Sie die Welt so anders sehen als ich, haben Sie den Tod Ihrer Frau erwähnt, die Ermordung Ihrer Partner, die Situation mit Ihrem Sohn, aber nicht das.«
Sam betrachtete sein bandagiertes Handgelenk eine Weile und sagte schließlich: »Der Krieg ist das persönlichste Erlebnis meines Lebens.«
»Was für seltsame Worte.«
»Überhaupt nicht seltsam«, sagte Harry. »Das intensivste und persönlichste.«
Sam sagte: »Wenn ich nicht damit fertig geworden wäre, würde ich vielleicht immer noch darüber reden, wahrscheinlich ständig. Aber ich bin damit fertig geworden. Ich habe es verstanden. Und wenn ich mich jetzt beiläufig mit jemandem darüber unterhalten würde, den ich gerade erst kennengelernt habe, würde ich es wohl... abwerten, schätze ich.«
Tessa sah Harry an und sagte: »Aber Sie wußten, daß er in Vietnam war?«
»Ja.«
»Wußten es einfach irgendwie.«
»Ja.«
Sam hatte sich über den Tisch gebeugt. Jetzt ließ er sich auf den Stuhl zurücksinken. »Harry, ich schwöre, daß ich alles versuchen werde, uns hier herauszubringen. Ich wünschte nur, ich würde besser verstehen, womit wir es zu tun haben. Es geht alles von New Wave aus. Aber was genau haben sie getan, und wie kann man es aufhalten? Und wie soll ich damit fertig werden, wenn ich es nicht einmal verstehe'?«
Bis zu diesem Punkt hatte Chrissie den Eindruck gehabt, daß die Unterhaltung schlichtweg über ihren Horizont ging, obwohl alles faszinierend gewesen war und einiges das Ge -fühl zu lernen in ihr ausgelöst hatte. Jetzt spürte sie, daß sie etwas beisteuern mußte: »Sind Sie wirklich sicher, daß es keine Außerirdischen gibt?«
»Wir sind sicher«, sagte Tessa und lächelte ihr zu, und Sam zerzauste ihr das Haar.
»Nun«, sagte Chrissie, »ich meine, vielleicht sind Außerirdische bei New Wave gelandet und haben es als Stützpunkt benützt, und vielleicht wollen sie uns alle in Maschinen verwandeln, so wie die Coltranes, damit wir ihnen als Sklaven dienen können - was vernünftiger scheint als uns zu essen, wenn man genauer darüber nachdenkt. Schließlich sind sie Außerirdische, und das bedeutet, sie haben außerirdische Mägen und außerirdische Verdauungssäfte, und wir würden ihnen Sodbrennen oder sogar Durchfall verschaffen.«
Sam, der auf dem Stuhl neben Chrissie saß, nahm ihre beiden Hände behutsam in seine, weil er sich ihrer Aufschürfung ebenso bewußt war wie seines zerschnittenen Handgelenks. »Chrissie, ich weiß nicht, ob du aufmerksam zugehört hast, was Harry gesagt hat...«
»O ja«, sagte sie sofort, »ganz genau.«
»Nun, dann wirst du begreifen, daß auch das, die Schrek-ken Außerirdischen in die Schuhe zu schieben, nur ein Weg ist, die Verantwortung von da abzuwälzen, wo sie wirklich hingehört - zu uns, den Menschen, und unserer sehr realen und sehr großen Fähigkeit, einander Böses anzutun. Es ist schwer vorstellbar, daß jemand, auch ein Verrückter, das aus den Coltranes machen wollte, was sie geworden sind, aber offenbar wollte jemand genau das. Wenn wir versuchen, die Schuld auf Außerirdische abzuwälzen - oder den Teufel oder Gott oder Trolle, was auch immer -, werden wir die Situation wahrscheinlich nicht klar genug einschätzen können, um einen Weg zu finden, uns zu retten. Verstehst du das?«
»Irgendwie schon.«
Er lächelte sie an. Er hatte ein sehr hübsches Lächeln, obwohl er nicht oft Gebrauch davon machte. »Ich glaube, du verstehst es besser als nur >irgendwie schon<.«
»Mehr als nur irgendwie schon<«, stimmte Chrissie zu. »Es wäre sicher schön, wenn es Außerirdische wären, denn dann müßten wir nur ihr Nest oder ihren Stock oder was auch immer finden, müßten sie ausbrennen, vielleicht ihr Raumschiff in die Luft sprengen, und das wäre ihr Ende. Aber wenn es keine Außerirdischen sind, wenn wir es sind
- Menschen wie wir -, die das alles getan haben, dann wird es vielleicht nie ein Ende geben.«
30
Loman Watkins fuhr mit wachsender Frustration von einem Ende von Moonlight Cove zum anderen, hin und her, kreuz und quer durch den Regen, und suchte Shaddack. Er hatte das Haus an der Nordspitze noch einmal besucht, um sicherzustellen, daß Shaddack nicht dorthin zurückgekehrt war, und auch, um in der Garage nachzusehen, welches Fahrzeug fehlte. Jetzt suchte er nach Shaddacks schieferfar-benem Lieferwagen mit den getönten Scheiben, konnte ihn aber nicht finden.
Wo immer er hinfuhr, waren die Verwandlungsteams und Suchtrupps unterwegs. Die Nichtverwandelten würden wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches an den Leuten bemerken, die durch die Stadt schlenderten, aber Loman entgingen sie nicht.
An den nördlichen und südlichen Straßensperren der Landstraße und an der Hauptsperre am Ostende der Ocean Avenue waren Lomans Beamte damit beschäftigt, sich um die Auswärtigen zu kümmern, die nach Moonlight Cove wollten. Auspuffgase stiegen von den parkenden Streifenwagen auf und vermischten sich mit den Nebelschwaden, die sich allmählich durch den Regen schlängelten. Die rotblauen Warnlichter spiegelten sich im nassen Asphalt, so daß es aussah, als würden Ströme sauerstoffreichen und sauerstoffarmen Blutes am Gehweg entlangfließen.
Es gab nicht viele potentielle Besucher, weil die Stadt weder der Sitz des County noch ein hauptsächliches Einkaufsziel der Anwohner aus den umliegenden Gemeinden war. Darüber hinaus befand sie sich fast am Ende der Landstraße, und es gab keine Ziele mehr dahinter, daher gab es auch keinen Durchgangsverkehr. Diejenigen, die die Stadt besuchen wollten, wurden, wenn möglich, mit einer Geschichte über einen Giftgasunfall bei New Wave abgespeist. Diejenigen, die skeptisch waren, wurden festgenommen, ins Gefängnis gebracht und in Zellen gesperrt, bis eine Entscheidung getroffen werden konnte, ob man sie töten oder verwandeln sollte. Seit Errichtung der Quarantäne in den frühen Morgenstunden hatten nur wenige an den Straßensperren gehalten, und nur sechs waren eingesperrt worden.
Shaddack hatte sein Experimentiergelände gut gewählt. Moonlight Cove war vergleichsweise isoliert und daher leicht zu kontrollieren.
Loman dachte daran, die Straßensperre beseitigen zu lassen und nach Aberdeen Wells zu fahren, wo er dem CountySheriff die ganze Geschichte erzählen könnte. Er wollte alles über das Projekt Moonhawk preisgeben.
Er hatte keine Angst mehr vor Shaddacks Wut oder dem Sterben. Nun... das stimmte nicht ganz. Er hatte Angst vor Shaddack und dem Sterben, aber sie waren weniger schlimm als die Aussicht, etwas zu werden wie Denny. Er hätte sich lieber dem Sheriff in Aberdeen und den Bundes -behörden gestellt - sogar Wissenschaftlern, die ihn aufschneiden und untersuchen wollten, wenn das Schlamassel in Moonlight Cove aufgeräumt würde -, als in der Stadt zu bleiben und die letzten Reste seiner Menschlichkeit entweder an die Regression oder eine alptraumhafte Vernetzung von Verstand und Körper mit einem Computer zu verlieren.
Aber wenn er seinen Beamten den Befehl gäbe, die Sperre zu öffnen, würden sie argwöhnisch werden, und ihre Loyalität Shaddack gegenüber war größer als ihm gegenüber, denn sie wurden durch Angst an Shaddack gefesselt. Sie empfanden angesichts ihres Herrn und Meisters von New Wave immer noch mehr Entsetzen als vor allem anderen, denn sie hatten nicht gesehen, was aus Denny geworden war, und ihnen war nicht klar, daß die Zukunft etwas Schlimmeres für sie bereithalten könnte als Regression auf eine Stufe der Wildheit. Sie hielten sich - wie Moreaus Tiermenschen -, so gut es ging, an das Gesetz und wagten nicht, jedenfalls vorläufig noch nicht, ihren Herrn zu verraten. Sie würden Loman wahrscheinlich daran zu hindern versuchen, das Projekt Moonhawk zu sabotieren, und er würde vielleicht getötet oder, schlimmer, in eine Gefängniszelle gesteckt.
Er durfte seine konterrevolutionären Absichten nicht preis -geben, denn dann bekäme er vielleicht nie die Möglichkeit, mit Shaddack abzurechnen. Er sah sich im Geiste in einer Zelle im Gefängnis eingesperrt, wo Shaddack ihn durch die Gitterstäbe kalt anlächelte, während sie einen Computer herein -rollten, mit dem sie ihn irgendwie verschmelzen wollten.
Augen aus geschmolzenen Silber...
Er blieb an diesem verregneten Tag in Bewegung und blinzelte durch die nasse Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer summten unablässig, als würden sie die Zeit wegticken. Er was sich deutlich bewußt, daß Mitternacht unaufhaltsam näherrückte.
Er war der Puma-Mann, der auf Streifzug war, und Moreau war irgendwo da draußen im Inseldschungel von Moonlight Cove.
31
Anfangs war das gallertartige Geschöpf damit zufrieden, sich von den Lebewesen zu ernähren, die es fand, wenn es seine Fühler in den Abfluß im Kellerboden streckte, oder durch feine Risse in den Mauern ins umliegende feuchte Erdreich. Käfer. Maden. Würmer. Es kannte die Namen dieser Wesen nicht mehr, aber es verzehrte sie heißhungrig.
Bald hatte es den Vorrat an Insekten und Würmern im Umkreis von zehn Metern um das Haus herum aufgegessen. Es brauchte substantiellere Mahlzeiten.
Es wogte und schäumte und versuchte möglicherweise, seine amorphe Gestalt in eine Form zu bringen, in der es den Keller verlassen und auf Beutesuche gehen könnte. Aber es hatte keine Erinnerungen mehr an frühere Gestalten und auch keinerlei Verlangen, sich selbst eine strukturierte Ordnung aufzuerlegen.
Das Bewußtsein, das die Ga llertmasse bewohnte, verfügte nur noch über vagestes Wissen um seiner selbst, aber es war noch in der Lage, sich in dem Ausmaß selbst zu formen, daß es seinen Bedürfnissen genügte. Plötzlich öffneten sich eine Anzahl lippenloser, zahnloser Mäuler in der flüssigen Form.
Schallwellen, die für das menschliche Ohr größtenteils nicht zu hören waren, entwichen ihnen.
In dem verfallenden Gebäude über dem formlosen Ge -schöpf wuselten Dutzende von Mäusen, fraßen, bauten Nester und paarten sich miteinander. Als der Ruf aus dem Keller ertönte, blieben sie mit einem Schlag stehen.
Das Geschöpf konnte sie in den verfallenen Wänden über sich spüren, aber es betrachtete sie nicht als Mäuse, sondern als kleine, warme Massen lebenden Fleisches. Nahrung. Treibstoff. Es wollte sie. Es brauchte sie.
Es versuchte, diesem Verlangen durch einen wortlosen, aber anziehenden Lockruf Ausdruck zu verleihen.
In allen Ecken des Hauses zuckten die Mäuse zusammen. Sie strichen mit den Vorderpfoten über ihre Gesichter, als wären sie durch Spinnweben gelaufen und versuchten, die klebrigen Fäden aus ihrem Pelz zu streichen.
Auf dem Dachboden lebte eine kleine Kolonie von acht Fledermäusen, und auch sie reagierten auf den drängenden Lockruf. Sie ließen sich von den Balken herunterfallen, ai denen sie hingen, und flogen in einem hektischen, ziellosen Muster durch den langen oberen Raum, wobei sie wiederholt bis auf Bruchstücke eines Zentimeters an die Wände oder gegeneinander flogen.
Aber nichts kam zu dem Wesen im Keller. Der Ruf hatte die kleinen Tiere, für die er gedacht gewesen war, zwar erreicht, zeigte aber nicht die gewünschte Wirkung.
Das formlose Ding verstummte.
Die vielen Münder schlössen sich wieder.
Die Fledermäuse kehrten eine nach der anderen zu ihren Dachbalken zurück.
Die Mäuse saßen noch einen Augenblick wie unter Schock da, dann gingen sie ihren üblichen Aktivitäten nach.
Ein paar Minuten später versuchte es das urzeitliche Geschöpf noch einmal mit einem anderen Ruf, der immer noch außerhalb menschlicher Hörfähigkeit al g, aber noch verlok-kender als vorher war.
Die Fledermäuse fielen von den Balken und flatterten in einem solchen Wirrwarr durch den Dachboden, daß ein flüchtiger Beobachter den Eindruck hätte haben können, es handelte sich um Hunderte, nicht nur um acht. Ihre Flügelschläge waren lauter als das Regenprasseln auf dem Dach.
Die Mäuse liefen überall auf den Hinterbeinen, hatten sich aufgerichtet und die Ohren gespitzt. Die im unteren Bereich des Hauses, die näher an der Geräuschquelle waren, zitterten heftig, als sähen sie eine geduckte und grinsende Katze vor sich.
Die Fledermäuse flogen kreischend durch ein Loch im Speicherboden und ins Zimmer darunter, wo sie unablässig flatterten und kreisten.
Zwei Mäuse im Erdgeschoß schlichen in Richtung Küche, wo die Kellertür offenstand. Aber beide hielten verwirrt und ängstlich auf der Stufe dieses Zimmers inne.
Unten verdreifachte das formlose Geschöpf seinen Ruf.
Plötzlich blutete eine der Mäuse in der Küche aus den Ohren und fiel tot um.
Im Zimmer oben prallten die Fledermäuse gegen die Wände, da ihr Radar beschädigt war.
Das Kellergeschöpf reduzierte die Lautstärke seines Rufs ein wenig.
Sofort schwebten die Fledermäuse aus dem oberen Zimmer in die Diele, die Treppe herunter und durch den Erdgeschoßflur. Sie flogen über eine wirre Anzahl eilender Mäuse hinweg.
Die vielen Münder des Geschöpfs unten hatten sich vereint und eine einzige große Öffnung in der Mitte der pulsierenden Masse gebildet.
Die Fledermäuse flogen in rascher Folge direkt in das klaffende Maul, gleich schwarzen Spielkarten, die eine nach der anderen in eine Mülltonne geworden wurden. Sie stürzten sich in das viskose Protoplasma und wurden rasch von starken Verdauungssäuren aufgelöst.
Eine Armee von Mäusen und vier Ratten - sogar zwei Erdhörnchen, die ihr Nest in der Eßzimmerwand geflissentlich verlassen hatten - hüpften die steile Kellertreppe hinunter, stürzten übereinander und quietschten aufgeregt. Sie warfen sich in das wartende Wesen.
Nach diesem Strom von Bewegung wurde es still im Haus.
Das Geschöpf stellte seinen Sirenengesang ein. Vorläufig.
32
Officer Neu Penniworth hatte den Auftrag, im nordwestlichen Quadranten von Moonlight Cove zu patrouillieren. Er war allein im Auto, denn sie waren trotz der hundert Leute von New Wave, die die Nacht über der Polizei von Moon-light Cove zugeteilt waren, zu wenig Personal.
Augenblicklich zog er es ohnehin vor, ohne Partner zu arbeiten. Seit dem Zwischenfall in Peysers Haus, als der Geruch von Blut und der Anblick von Peysers veränderter Ge -stalt Penniworth zur Regression getrieben hatte, fürchtete er sich davor, in Gesellschaft anderer Menschen zu sein. Ge -stern nacht hatte er die totale Degeneration vermeiden können... aber nur um eine Winzigkeit. Wenn er jemand anderen während der Regression sah, könnte sich der Drang auch in ihm regen, und er war nicht sicher, ob er der dunklen Verlockung noch einmal widerstehen könnte.
Er hatte ebenso Angst vor dem Alleinsein. Das Bemühen, sich an seine letzten Reste des Menschlichen zu klammern, dem Chaos Widerstand zu leisten, Verantwortung zu zeigen, wurde immer schwächer, und er sehnte sich danach, diesem neuen, harten Leben zu entkommen. Allein, ohne einen Zeugen, wenn er anfing, seine Gestalt und Substanz aufzugeben, ohne jemand, der es ihm ausredete oder gegen seinen Niedergang protestierte, wäre er verloren.
Das Gesicht dieser Angst war so echt wie eine Eisenplatte, die das Leben aus ihm herauspreßte. Manchmal fiel es ihm schwer zu atmen, als hätte er ein Stahlband um die Lungen, so daß diese sich nicht voll ausdehnen konnten.
Die Abmessungen des Streifenwagens schienen zu schrumpfen, bis er sich fast so eingeengt wie in einer Zwangsjacke fühlte. Das metronomhafte Pumpen der Scheibenwischer wurde lauter, jedenfalls kam es ihm so vor, bis es das Ausmaß von Kanonensalven angenommen hatte. Im Verlauf des Vormittags fuhr er wiederholt an den Straßenrand, riß die Tür auf, sprang in den Regen hinaus und atmete die kühle Luft in tiefen Zügen ein.
Doch im Laufe des Tages sih allmählich sogar die Welt außerhalb des Autos kleiner als früher aus. Er parkte in der Holliwell Road, eine halbe Meile westlich vom Hauptsitz von New Wave, und stieg aus dem Streifenwagen aus, aber es wurde nicht besser. Er konnte den grenzenlosen Himmel nicht hinter der tiefhängenden Wolkendecke erkennen. Regen und Nebel hingen gleich halbdurchlässigen Vorhängen aus Flitter oder dünnster Seide zwischen ihm und dem Rest der Welt. Die Feuchtigkeit war zäh und hinderlich. Regen überflutete die Rinnsteine, wirbelte als schlammige Strömungen durch Straßengräben, tropfte von jedem Zweig und jedem Blatt sämtlicher Bäume, prasselte auf den Asphalt, pochte hohl auf den Streifenwagen, zischte, gurgelte, kicherte, wehte ihm ins Gesicht und schlug mit solcher Wucht auf ihn ein, daß es schien, als würde er von Tausenden winziger Hämmer in die Knie gezwungen werden, die alle für sich allein zu winzig waren, deren Wirkung sich aber in ihrer Ge -samtheit addierte.
Neil stieg ebenso eifrig wieder in das Auto ein, wie er vorher herausgeklettert war.
Ihm war klar, daß er weder dem klaustrophobischen Inneren des Streifenwagens oder dem nervtötenden Prasseln des Regens so verzweifelt entkommen wollte. Was ihn tatsächlich bedrückte, war sein Leben als Neuer Mensch. Da er nur Angst empfinden konnte, war er in einem emotionalen Schrank mit so engen Abmessungen eingeschlossen, daß er sich praktisch überhaupt nicht bewegen konnte. Er erstickte nicht an äußerlichen Verstrickungen und Beklemmungen; er war vielmehr durch das, was Shaddack ihm angetan hatte, von innen gefesselt.
Was bedeutete, es gab kein Entkommen.
Es sei denn, möglicherweise durch Regression.
Neil konnte das Leben, wie er es jetzt leben mußte, nicht ertragen. Andererseits entsetzte ihn der Gedanke daran, in eine nicht menschliche Gestalt zu verfallen, und stieß ihn ab.
Sein Dilemma schien unlösbar zu sein.
Sein Unvermögen, nicht mehr an diese Zwickmühle zu denken, beunruhigte ihn fast ebensosehr wie die Zwickmühle selbst. Es ging ihm dauernd durch den Kopf. Er fand keine Ruhe.
Es gelang ihm nur dann einigermaßen, seine Sorgen - und einen Teil der Angst - aus seinem Denken zu verdrängen, wenn er mit dem mobilen VDT im Streifenwagen arbeitete. Wenn er die Anzeigentafel des Computers abrief, ob Nachrichten auf ihn warteten, wenn er sich im Moonhawk-Plan vergewisserte, wie die restlichen Verwandlungen verliefen, oder wenn er andere Aufgaben am Computer erfüllte, konzentrierte sich seine Aufmerksamkeit so sehr auf die Wechselwirkung mit der Maschine, daß er vorübergehend seine Angst vergaß und die beklemmende Klaustrophobie nachließ.
Neu hatte sich schon als Jugendlicher für Computer interessiert, aber er war nie ein Hacker geworden. So obsessiv war sein Interesse nicht. Er hatte natürlich mit Computerspielen angefangen, aber später einen billigen PC bekommen. Noch später hatte er sich mit dem Geld, das er mit einem Ferienjob verdient hatte, ein Modem gekauft. Er konnte sich nicht viele Ferngespräche leisten und verbrauchte seine Freizeit selten damit, aus dem Hinterland von Moonlight Cove in die faszinierenden Datennetze der Außenwelt einzusteigen, aber für ihn waren auch die Ausflüge ins One-li-ne-Datensystem faszinierend und amüsant.
Als er jetzt im geparkten Auto in der Holliwell Road saß und das VDT benützte, dachte er, daß die Innenwelt des Computers bewundernswert sauber und vergleichsweise einfach, vorhersehbar und normal war. So ganz anders als die menschliche Existenz - ob Neue oder Alte Menschen. Dort drinnen herrschten Logik und Vernunft. Ursache und Wirkung und Nebenwirkung wurden immer analysiert und vollkommen deutlich gemacht. Dort drinnen war alles schwarz und weiß - und falls es grau gab, war das Grau sorgfältig abgewogen, festgelegt und bestimmt. Mit kalten Fakten konnte man besser zurechtkommen als mit Gefühlen. Ein ausschließlich aus Daten geformtes Universum, von Materie und Ereignissen abstrahiert, schien ungleich erstrebenswerter als das wirkliche Universum von Kälte und Hitze, scharf und stumpf, glatt und rauh, Blut und Tod, Schmerz und Angst.
Neil rief ein Menü nach dem anderen ab und drang immer tiefer in die Datenspeicher von Moonhawk in Sonne vor. Er brauchte keine der Daten, die er abrief, aber die Aufgabe, sie zu erlangen, tröstete ihn.
Er fing an, den Bildschirm des Terminals nicht mehr nur als Kathodenröhre zu sehen, auf der Informationen abgebildet wurden, sondern als Fenster in eine andere Welt. Eine Welt der Fakten. Eine Welt, in der es keine beunruhigenden Widersprüche gab... und keine Verantwortung. Da dinnen konnte man nichts fühlen; es gab nur das Bekannte und das Unbekannte, entweder einen Überfluß an Fakten zu einem bestimmten Thema, oder ein völliges Fehlen davon, aber kein Fühlen; niemals fühlen; zu fühlen war der Fluch derer, deren Existenz von Heisch und Knochen abhing.
Ein Fenster in eine andere Welt.
Neil berührte den Bildschirm.
Er wünschte sich, er könnte das Fenster aufmachen und in jene Welt von Vernunft, Ordnung und Frieden hineinklettern.
Er strich mit den Fingerspitzen der rechten Hand unabläs -sig über den warmen Glasbildschirm.
Es war seltsam, aber er dachte an Dorothy, die mit ihrem Hund Toto von einem Tornado von den Feldern von Kansas emporgewirbelt und aus der grauen Zeit der Depression in eine ungleich faszinierendere Welt getragen worden war. Wenn nur ein elektronischer Tornado vom Bildschirm losbrechen und ihn in eine bessere Welt transportieren könnte...
Seine Finger drangen in den Bildschirm ein.
Er zog verblüfft die Hand zurück.
Das Glas hatte keinen Sprung. Worte und Zahlen glommen auf der Röhre wie vorher.
Zuerst versuchte er sich einzureden, daß er eine Halluzination gehabt hatte. Aber das glaubte er nicht.
Er spannte die Finger. Die schienen unverletzt zu sein.
Er sah hinaus in den sturmgepeitschten Tag. Die Scheibenwischer waren nicht eingeschaltet. Regen strömte an der Scheibe herunter und verzerrte die Welt dahinter; alles da draußen sah verdreht, mutiert, seltsam aus. In so einer Welt konnte es niemals Ordnung, Vernunft und Frieden geben.
Er berührte den Computerbildschirm zögernd noch einmal. Er fühlte sich fest an.
Er dachte wieder daran, wie wünschenswert die saubere, vorhersehbare Welt des Computers sein würde - und wieder glitt seine Hand durch das Glas, diesesmal bis zum Ge -lenk. Der Bildschirm hatte sich um ihn geöffnet und fest geschlossen, als wäre er eine organische Membran. Die Daten leuchteten weiter auf, die Worte und Zahlen bildeten Linien um seine eingedrungene Hand herum.
Sein Herz schlug schnell. Er hatte Angst und war gleichzeitig aufgeregt.
Er versuchte, die Finger in dieser geheimnisvollen inneren Wärme zu bewegen. Er konnte sie nicht spüren. Er dachte schon, sie hätten sich aufgelöst oder wären abgeschnitten worden, und wenn er die Hand aus der Maschine zöge, würde Blut aus dem Stumpf am Handgelenk spritzen.
Er zog sie trotzdem heraus.
Die Hand war unversehrt.
Aber es war keine Hand mehr. Die Haut der Oberseite schien von den Fingerspitzen bis zum Gelenk von Kupfer und Glasfasern durchzogen zu sein. In den Glasfasern pulsierte ein konstantes Leuchten.
Er drehte die Hand herum. Die Unterseiten der Finger und der Handfläche glichen der Oberfläche einer Kathodenröhre. Daten leuchteten darauf, grüne Buchstaben auf einem dunklen, glasartigen Hintergrund. Als er die Worte und Zahlen auf seiner Hand mit denen auf dem VDT des Autos verglich, sah er, daß sie identisch waren. Die Informationen auf dem VDT wechselten, gleichzeitig mit denen auf der Hand.
Plötzlich wurde ihm klar, daß Regression zur Bestie nicht sein einziger Ausweg war und er in die Welt elektronischer Gedanken und magnetischer Erinnerungen eindringen konnte, in eine Welt des Wissens ohne fleischliche Begierden, des Denkens, ohne zu fühlen. Dies war keine Einsicht rein - oder nur vordringlich - intellektueller Natur. Es war auch kein rein instinktives Verhalten. Er wußte auf einer profunderen Ebene als Intellekt oder Instinkt, daß er sich selbst auf eine Weise neu erschaffen konnte, die noch grundlegender war als das, was Shaddack mit ihm gemacht hatte.
Er senkte die Hand vom geneigten Bildschirm zur Datenverarbeitungseinheit in der Konsole zwischen den Sitzen. Er ließ seine Hand so mühelos wie durch das Glas durch die Deckplatte und Tastatur ins Innere der Maschine eindringen.
Er war ektoplasmatisch und konnte wie ein Geist durch Wände gehen.
Kälte schlich seinen Arm entlang.
Die Daten auf dem Bildschirm wurden von einem rästel-haften Lichtmuster abgelöst.
Er lehnte sich im Sitz zurück.
Die Kälte hatte seine Schulter erreicht. Sie strömte in seinen Hals.
Er seufzte.
Er spürte, wie etwas mit seinen Augen geschah. Er war nicht sicher, was es war. Er hätte in den Rückspiegel sehen können. Aber so wichtig war es ihm nicht. Er beschloß, die Augen zuzumachen und sie zu dem werden zu lassen, was als Teil seiner zweiten und vollständigeren Verwandlung nötig war.
Jetzt war die Kälte in seinem Gesicht. Sein Mund war taub.
Noch etwas ging in seinem Kopf vor sich. Er wurde sich der inneren Geographie seiner Gehirnwindungen und Synapsen bewußt, so wie der Außenwelt.
Sein Körper war nicht mehr so sehr Teil von ihm wie früher; er spürte weniger mit ihm, als wären seine Nerven weitgehend durchgetrennt worden; er konnte nicht einmal sagen, ob es warm oder kalt in dem Auto war, wenn er sich nicht darauf konzentrierte, die Daten anzuhäufen. Schließlich war sein Körper nur ein Maschinengehäuse und ein Platz für Sensoren, ausschließlich dazu entworfen, seinem inneren Selbst zu dienen und es zu schützen, seinem rechnenden Verstand.
Die Kälte war in seinem Kopf.
Ihm war, als würden Dutzende, dann Hunderte, schließlich Zehntausende eiskalter Spinnen über sein Gehirn krabbeln und sich hineinfressen.
Plötzlich fiel ihm wieder ein, daß Oz für Dorothy ein lebender Alptraum gewesen war und sie mit aller Verzweiflung nach Kansas zurückwollte.
Auch Alice hatte nur Wahnsinn und Entsetzen im Kaninchenloch oder hinter dem Spiegel gefunden...
Eine Million kalte Spinnen.
In seinem Kopf.
Eine Milliarde.
Kalt, kalt.
Wuselnd.
33
Loman, der immer noch durch Moonlight Cove fuhr und nach Shaddack suchte, sah zwei Regressive über die Straße hasten.
Er war in der Paddock Lane, am südlichen Stadtrand, wo die Grundstücke so groß waren, daß sich die Leute Pferde halten konnten. Ranchhäuser lagen auf beiden Seiten, daneben oder dahinter kleine private Stallungen. Die Häuser standen etwas abseits der Straße hinter schmiedeeisernen Gittern oder weißen Holzzäunen, hinter grünen und üppigen Rasenflächen.
Die beiden Regressiven brachen aus einer dichten Reihe ausgewachsener, einen Meter hoher Azaleen hervor, die um diese Zeit zwar noch buschig waren, aber keine Blüten mehr trugen. Sie sprangen auf allen vieren über die Straße, hüpften in den Graben, brachen durch eine Hecke und verschwanden dahinter.
Obwohl auf beiden Seiten der Paddock Lane gewaltige Pinien standen, deren Schatten den ohnedies düsteren Tag noch dunkler machten, war Loman sicher, was er gesehen hatte. Sie waren Traumgeschöpfen nachempfunden gewesen, nicht Tieren der wirklichen Welt: teils Wolf, vielleicht, teils Katze, teils Reptil. Sie waren schnell und machten einen kräftigen Eindruck. Einer hatte den Kopf zu ihm gedreht, seine Augen glühten im Schatten rosarot wie die einer Ratte.
Er bremste, hielt aber nicht an. Es lag ihm nichts mehr daran, Regressive zu identifizieren und auszuschalten. Zunächst einmal hatte er sie bereits zu seiner Zufriedenheit identifiziert: alle Verwandelten. Er wußte, er konnte sie nur aufhalten, indem er Shaddack aufhielte. Er war auf eine weitaus größere Beute aus.
Aber es bestürzte ihn, sie dreist im hellen Tageslicht auf der Pirsch zu sehen, um halb drei Uhr nachmittags. Bislang waren sie heimlichtuerische Geschöpfe der Nacht gewesen, die die Schande ihrer Regression verbargen, indem sie nur nach Sonnenuntergang in ihr verändertes Dasein überwechselten. Da sie nun bereit waren, vor Einbruch der Nacht hinauszuziehen, zerfiel das Projekt Moonhawk schneller ins Chaos, als er erwartet hatte. Moonlight Cove taumelte nicht mehr nur am Rand der Hölle dahin, es war bereits über die Grenze gekippt und raste in den Abgrund hinunter.
34
Sie waren wieder in Harrys Schlafzimmer im dritten Stock, wo sie die vergangenen eineinhalb Stunden verbracht, sich die Köpfe zerbrochen und hektisch ihre Möglichkeiten dis -kutiert hatten. Keine Lampen waren eingeschaltet. Wäßriges Nachmittagslicht überflutete das Zimmer und trug seinen Teil zur ernsten Stimmung bei.
»Wir waren uns also einig, daß es zwei Möglichkeiten gibt, eine Nachricht aus der Stadt hinauszuschicken«, sagte Sam.
»Aber in jedem Fall«, sagte Tessa unbehaglich, »müssen Sie hinaus und eine immense Strecke zurücklegen, um dorthin zu gelangen, wo Sie hin wollen.«
Sam zuckte die Achseln.
Tessa und Chrissie hatten die Schuhe ausgezogen und saßen auf dem Bett, sie lehnten mit den Rücken am Kopfteil. Das Mädchen hatte offenbar die Absicht, in Tessas Nähe zu bleiben; sie schien sich so auf sie eingestellt zu haben, wie sich ein frisch aus dem Ei geschlüpftes Küken auf die nächstbeste erwachsene Henne einstimmt, ob sie nun wirklich seine Mutter ist oder nicht.
Tessa sagte: »Das wird nicht so einfach sein wie zwei Türen weiter zum Haus der Coltranes zu schleichen. Nicht bei Tage.«
»Glauben Sie, ich sollte warten, bis es dunkel wird?« fragte Sam.
»Ja. Gegen Spätnachmittag wird auch der Nebel dichter werden.«
Es war ihr ernst damit, obwohl sie sich wegen der Verzögerung Sorgen machte. In der Zeit, während sie warteten, würden noch mehr Menschen verwandelt werden. Moon-light Cove würde zu einer zunehmend fremden, gefährlichen Umgebung voller Überraschungen werden.
Sam wandte sich an Harry und sagte: »Wann wird es dunkel?«
Harry saß im Rollstuhl. Moose war zu seinem Herrchen zurückgekehrt und hatte den Kopf unter der Stuhllehne durchgeschoben und auf Harrys Schoß gelegt; er war damit zufrieden, lange Zeit in dieser unbequemen Haltung zu verweilen, wenn er nur ab und zu einmal gekrault oder gestreichelt wurde oder ein liebes Wort zu hören bekam.
Harry sagte: »Um diese Zeit beginnt die Dämmerung vor achtzehn Uhr.«
Sam saß am Teleskop, aber momentan benützte er es nicht. Vor einigen Augenblicken hatte er die Straßen abgesucht und berichtet, daß er mehr Aktivitäten denn je sah -jede Menge Patrouillen in Autos oder zu Fuß. Da immer weniger Menschen in Moonlight Cove unverwandelt blieben, wurden die Verschwörer, die hinter Moonhawk steckten, immer dreister mit ihren Polizeiaktionen und waren nicht mehr so besorgt wie früher, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Sam sah auf die Uhr und sagte: »Ich kann nicht sagen, daß mir die Vorstellung gefällt, drei Stunden oder mehr zu vergeuden. Je früher wir unsere Nachricht hinausbringen, desto mehr Menschen retten wir vor... was immer ihnen angetan wird.«
»Aber wenn Sie erwischt werden, weil Sie nicht bis Einbruch der Dunkelheit gewartet haben«, sagte Tessa, »sind die Chancen, überhaupt jemanden zu retten, deutlich geringer.«
»Die Dame hat recht«, sagte Harry.
»Sehr sogar«, sagte Chrissie. »Daß sie keine Außerirdischen sind, bedeutet noch lange nicht, daß man leichter mit ihnen fertig werden kann.«
Da man selbst mit den funktionierenden Telefonen nur genehmigte Nummern innerhalb der Stadt anwählen konnte, hatten sie diese Hoffnung aufgegeben. Aber Sam war klargeworden, daß jeder PC, der per Modem mit dem Supercomputer bei New Wave verbunden war - Harry hatte gs-sagt, sie nannten ihn Sonne -, ein Kommunikationsmittel aus der Stadt hinaus bilden konnte, einen elektronischen Highway, auf dem sie die derzeitigen Einschränkungen des Telefonnetzes und die Straßensperren umgehen konnten.
Sam hatte gestern nacht, als er das VDT im Streifenwagen benutzte, feststellen können, daß Sonne in direktem Kontakt mit einer Vielzahl von anderen Computern stand - einschließlich mehrerer Datenspeicher des FBI, sowohl welche mit allgemeinem Zugang wie auch solche, die eigentlich nur FBI-Agenten vorbehalten sein sollten. Wenn er sich an ein VDT setzen, mit Sonne Verbindung aufnehmen und durch Sonne in den FBI-Computer gelangen könnte, könnte er einen Hilferuf absetzen, der auf dem Bildschirm des Bureau erscheinen und schwarz auf wsiß aus dem Laserdrucker in dem Büro kommen würde.
Sie gingen selbstverständlich davon aus, daß die Einschränkungen der Kontakte nach draußen, die auf alle Telefonleitungen in der Stadt zutrafen, nicht auch für die Verbindungen galten, die Sonne mit der Außenwelt hielt. Wenn Sonnes Kontakte aus Moonlight Cove hinaus ebenfalls unterbrochen wären, dann hätten sie überhaupt keine Hoffnung mehr.
Sam scheute sich verständlicherweise davor, in Häuser zu gehen, die von Mitarbeitern von New Wave bewohnt wurden, weil er Angst hatte, er könnte noch mehr Menschen wie den Coltranes begegnen. Damit blieben nur zwei Möglichkeiten, an einen PC heranzukommen, der mit Sonne verbunden werden konnte.
Als erstes konnte er natürlich versuchen, in einen Streifenwagen zu gelangen und eines ihrer mobilen Terminals zu benützen, so wie gestern abend. Aber sie waren jetzt über seine Anwesenheit im klaren, und er würde sich nicht mehr so leicht an einen unbemannten Streifenwagen heranschleichen können. Zudem war es whrscheinlich, daß sämtliche Streifenwagen in Benutzung sein würden, da die Polizei immer dringender nach ihm und zweifellos auch nach Tessa suchte. Und selbst wenn ein Streifenwagen hinter dem Rathaus parkte, würde dort momentan wahrscheinlich wesentlich mehr Aktivität herrschen als bei seinem letzten Besuch.
Zweitens, sie könnten die Computer der High School am Roshmore Way benützen. New Wave hatte sie nicht aus edler Sorge um die Ausbildungsqualität der hiesigen Schüler gespendet, sondern als weiteres Mittel, die Gemeinde an sich zu binden. Sam war der Meinung, der Tessa zustimmte, daß die Terminals der Schule wahrscheinlich mit Sonne verbunden werden konnten.
Aber Moonlight Cove Central, wie die Kombination von Junior und Senior High School genannt wurde, befand sich an der Westseite des Roshmore Way, zwei Blocks westlich und einen ganzen Block südlich von Harrys Haus. Unter normalen Umständen wäre das ein angenehmer Spazier-gang von fünf Minuten gewesen. Aber da die Straßen unter Beobachtung standen und jedes Haus ein potentieller, von Feinden bemannter Wachturm war, würde es ebenso schwierig sein, die Schule unbemerkt zu erreichen, wie ein Minenfeld zu überqueren.
»Außerdem unterrichten sie noch an der Schule. Sie können nicht einfach hinein gehen und einen Computer benützen.«
»Besonders«, sagte Tessa, »da man sich ausmalen kann, daß die Lehrer zu den zuerst Verwandelten gehören.«
»Wann ist der Unterricht zu Ende?« fragte Sam.
»Nun, an der Thomas Jefferson dürfen wir um drei gehen, aber an der Central unterrichten sie noch eine halbe Stunde länger.«
»Halb vier«, sagte Sam.
Harry sah auf die Uhr und sagte: »Noch siebenundvierzig Minuten. Aber selbst dann wird es noch Aktivitäten nach Schulschluß dort geben, oder nicht?«
»Klar«, sagte Chrissie. »Orchester, möglicherweise Footballtraining, ein paar Arbeitsgemeinschaften, die sich während der regulären Unterrichtszeit nicht treffen können.«
»Um wieviel Uhr dürfte alles vorbei sein?«
»Ich weiß, daß das Orchester von Viertel vor vier bis Viertel vor fünf übt«, sagte Chrissie, »weil ich mit einem Mädchen befreundet bin, das ein Jahr älter ist als ich und im Orchester spielt. Ich spiele Klarinette. Ich möchte nächstes Jahr auch im Orchester spielen. Wenn es eine Kapelle gibt. Wenn es ein nächstes Jahr gibt.«
»Also sagen wir... um fünf Uhr ist die Schule verlassen.«
»Das Footballtraining dauert länger.«
»Trainieren sie heute, im strömenden Regen?«
»Ich denke nicht.«
»Wenn Sie bis fünf oder halb sechs warten«, sagte Tessa, »dann können Sie auch noch ein klein wenig länger warten und nach Einbruch der Dunkelheit hingehen.«
Sam nickte. »Stimmt.«
»Sam, Sie vergessen etwas«, sagte Harry.
»Was?«
»Kurz nachdem Sie weg sind, vielleicht schon Punkt sechs, werden sie hierherkommen, um mich zu verwandeln.«
»Mein Gott, das stimmt!« sagte Sam.
Moose hob den Kopf vom Schoß seines Herrn und zog ihn unter der Armlehne hervor. Er saß aufrecht da und hatte die schwarzen Ohren gespitzt, als hätte er genau verstanden und wartete bereits auf das Läuten der Klingel oder ein Klopfen unten an der Tür.
»Ich bin auch der Meinung, daß Sie bis Einbruch der Dunkelheit warten sollten, bevor Sie gehen, um eine bessere Chance zu haben«, sagte Harry, »aber dann müssen Sie Tes-sa und Chrissie mitnehmen. Es wäre nicht sicher, sie hier zu lassen.«
»Wir müssen Sie auch mitnehmen«, sagte Chrissie sofort. »Sie und Moose. Wir wissen nicht, ob sie auch Hunde verwandeln, aber wir müssen Moose trotzdem zur Sicherheit mitnehmen. Wir wollen uns doch keine Sorgen machen müssen, daß er in eine Maschine oder sonstwas verwandelt wird.«
Moose wuffte.
»Können wir davon ausgehen, daß er nicht bellt?« fragte Chrissie. »Wir wollen schließlich nicht, daß er im entscheidenden Augenblick etwas anbellt. Ich denke, wir sollten ihm einen Streifen Mullbinde um die Schnauze wickeln, in knebeln, was ziemlich böse ist und wahrscheinlich seine Gefühle verletzt, weil es bedeutet, daß wir ihm nicht vollkommen vertrauen, aber es würde ihm natürlich nicht körperlich wehtun, und ich bin sicher, wir könnten es später wiedergutmachen, vielleicht mit einem saftigen Steak oder...«
Sie stellte plötzlich fest, daß das Schweigen ihrer Gefährten ungewöhnlich ernst war, und verstummte ebenfalls. Sie sah Harry und Sam blinzelnd an, und dann stirnrunzelnd Tessa, die immer noch neben ihr auf dem Bett saß.
Seit sie nach oben gekommen waren, hatten sich dunkle Wolken am Himmel zusammengezogen, das Zimmer versank immer mehr in Schatten. Aber in diesem Augenblick konnte Tessa Harry Talbots Gesicht fast zu deutlich in der grauen Düsternis sehen. Sie merkte, wie sehr er sich bemühte, seine Angst zu verbergen, was ihm weitgehend gelang, er brachte sogar ein Lächeln und einen unbekümmerten Tonfall zustande, der lediglich von seinen ausdrucksvollen Augen Lügen gestraft wurde.
Harry sagte zu Chrissie: »Ich kann nicht mit euch kommen, Liebes.«
»Oh«, sagte das Mädchen. Sie sah ihn wieder an, und ihr Blick glitt von ihm zum Rollstuhl, in dem er saß. »Aber Sie waren einmal bei uns in der Schule und haben eine Rede gehalten. Sie verlassen manchmal das Haus. Sie müssen einen Weg haben, wie Sie hinaus können.«
Harry lächelte. »Der Fahrstuhl geht hinunter in die Garage im Keller. Ich fahre nicht mehr, also ist kein Auto unten, und ich kann mühelos durch die Einfahrt zum Gehweg rollen.«
»Na also!« sagte Chrissie.
Harry sah Sana an und sagte: »Aber ich kann nicht durch die Straßen fahren, die manchmal sehr steil sind, ohne einen Begleiter. Der Rollstuhl hat Bremsen, und der Motor ist ziemlich stark, aber er reicht nicht annähernd für die Steigungen aus.«
»Wir sind bei Ihnen«, sagte Chrissie ernst. »Wir können Ihnen helfen.«
»Liebes Mädchen, ihr könnt nicht schnell genug durch drei Blocks besetztes Gelände schleichen, wenn ihr mich dabei mitschleppen müßt«, sagte Harry fest. »Zunächst einmal müßt ihr euch weitgehend von den Straßen fernhalten, wogegen ich nur auf Asphalt rollen kann, besonders bei diesem Wetter, wo der Boden so naß ist.«
»Wir können Sie tragen.«
»Nein«, sagte Sam. »Das können wir nicht. Nicht, wenn wir zur Schule gelangen und eine Botschaft ans Bureau absetzen wollen. Es ist eine kurze Strecke, aber voller Gefahren, und wir müssen ohne Belastungen gehen. Tut mir leid, Harry.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte Harry. »Ich würde es nicht anders dulden. Glauben Sie, ich möchte wie ein Zementsack durch die halbe Stadt geschleppt oder getragen werden?«
Die offensichtlich beunruhigte Chrissie stand vom Bett auf und ballte die Fäuste an den Seiten. Sie sah von Tessa zu Sam und wieder zu Tessa und flehte sie stumm an, sich eine Möglichkeit auszudenken, Harry zu retten.
Draußen war der graue Himmel jetzt von häßlichen Wolken befleckt, die beinahe schwarz waren.
Der Regen ließ nach, aber Tessa spürte, daß es nur eine kurze Ruhepause war, nach der es noch heftiger als vorher schütten würde.
Die seelische und weltliche Düsternis nahmen zu.
Moose winselte leise.
Tränen glitzerten in Chrissies Augen, sie schien Harry nicht in die Augen sehen zu können. Sie ging zum Nordfenster und sah zum Nachbarhaus hinüber und zur Straße hinunter - gerade so weit vom Glas weg, daß sie von draußen nicht gesehen werden konnte.
Tessa wollte sie trösten.
Sie wollte auch Harry trösten.
Mehr als das... sie wollte, daß alles richtig würde.
Als Autorin/Regisseurin/Produzentin war sie ein Macher und gut darin, das Kommando zu übernehmen und dafür zu sorgen, daß etwas geschah. Sie wußte immer, wie ein Problem zu lösen war, was man in einer Krise tat, wie man die Kameras am Rollen hielt, nachdem ein Projekt angefangen hatte. Aber jetzt war sie hilflos. Sie konnte die Wirklichkeit nicht immer mit der Treffsicherheit skripten, wie sie ihre Filme schrieb; manchmal weigerte sich die wirkliche Welt, sich ihrem Willen zu beugen. Vielleicht hatte sie deshalb ihren Beruf einer Familie vorgezogen, obwohl sie als Kind so eine wunderbare Familienatmosphäre erlebt hatte. Sie wirkliche Welt des täglichen Lebens und Strebens war schlampig, unvorhersehbar, voll loser Enden; sie konnte sich nicht darauf verlassen, daß sie alles so verknüpfen konnte, als würde sie sich einzelne Aspekte herausgreifen und zu einem ordentlichen Film zusammenfügen. Das Leben war das Leben, breit und prall... aber Film bestand nur aus dem Es -sentiellen. Vielleicht kam sie mit dem Essentiellen besser zurecht als mit dem Leben in all seinen fröhlichen Einzelheiten.
Ihr genetisch bedingter Lockland-Optimismus, der bislang so grell wie ein Scheinwerfer gewesen war, hatte sie nich't verlassen, aber er war momentan eindeutig etwas getrübt.
Harry sagte: »Es wird alles gut werden.«
»Wie?« fragte Sam.
»Ich bin wahrscheinlich der letzte auf ihrer Liste«, sagte Harry. »Sie werden sich nicht speziell um Krüppel und Blinde kümmern. Selbst wenn wir etwas erfahren, können wir die Stadt nicht verlassen und Hilfe holen. Mrs. Sagerian - sie wohnt drüben am Pinecrest - ist blind, und ich wette, wir beiden sind die letzten im Plan. Sie werden mit uns bis kurz vor Mitternacht warten. Wir werden schon sehen. Ganz bestimmt. Sie müssen also nur zur High School und das FBI benachrichtigen, damit Hilfe kommt, und zwar pronto, bevor es Mitternacht ist, und alles wird gut werden.«
Chrissie wandte sich vom Fenster ab, ihre Wangen waren tränenfeucht. »Glauben Sie das wirklich, Mr. Talbot? Glauben Sie wirklich allen Ernstes, daß sie nicht vor Mitternacht hierherkommen werden?«
Mit dem ständig etwas zur Seite geneigten Kopf, der je nachdem, wie man ihn sah, entweder fröhlich oder herzzerreißend war, blinzelte Harry dem Mädchen zu, obwohl sie weiter von ihm weg war als Tessa und das Zwinkern vielleicht gar nicht sah. »Wenn ich dich anlüge, Liebes, soll Gott mich in diesem Augenblick mit einem Blitzstrahl erschlagen.«
Es regnete, aber kein Blitz war zu sehen.
»Siehst du?« sagte Harry grinsend.
Obwohl das Mädchen eindeutig das Szenario glauben wollte, das sich Harry für sie ausgedacht hatte, wußte Tessa, sie konnten sich nicht darauf verlassen, daß er wirklich der letzte oder vorletzte auf der Liste der letzten Etappe der Verwandlung war. Was er gesagt hatte, schien einigermaßen zutreffend zu sein, aber es war einfach zu schön. Wie die Entwicklung einer Erzählstruktur beim Drehbuch. Das wirkliche Leben war, wie sie sich gerade vergegenwärtigt hatte, schlampig und unvorhersehbar. Sie wollte verzweifelt glauben, daß Harry bis wenige Minuten vor Mitternacht sicher sein würde, aber in Wirklichkeit würde er in allergrößter Gefahr sein, sobald die Uhr sechs geschlagen hatte und die letzte Etappe der Verwandlungen angefangen hatte.
35
Shaddack blieb fast den ganzen Nachmittag über in der Garage von Paula Parkins.
Er machte zweimal das große Tor auf, ließ den Motor des Lieferwagens an und fuhr in die Einfahrt, wo er das Fortschreiten von Moonhawk besser über VDT verfolgen konnte. Er war beide Male zufrieden mit den Daten, fuhr n die Garage zurück und ließ das Tor wieder herunter.
Der Mechanismus tickte planmäßig. Er hatte ihn entworfen, gebaut, aufgezogen und den Starthebel gedrückt. Jetzt konnte er ohne ihn ablaufen.
Er verbrachte die Stunden hinter dem Lenkrad sitzend und hing Tagträumen über die Zeit nach, wenn das Projekt Moonhawk vollendet und die ganze Welt einbezogen sein würde. Wenn keine Alten Menschen mehr existierten, würde er das Wort >Macht< neu definiert haben, denn kein anderer Mensch im Verlauf der Geschichte vor ihm hatte dieses Ausmaß an Kontrolle gehabt. Wenn er die Rasse neu geschaffen hatte, konnte er ihr Schicksal nach seinem eigenen Gutdünken programmieren. Die ganze Menschheit würde ein einziger großer Stock sein, der regsam summte und seiner Vision diente. Bei seinen Tagträumen wurde seine Erektion so hart, daß sie schmerzhaft zu pochen anfing.
Shaddack kannte viele Wissenschaftler, die aufrichtig zu glauben schienen, daß es der Zweck technologischen Fortschritts war, die Lage der Menschheit zu verbessern, die Rasse aus dem Schlamm herauszuholen und schließlich einmal zu den Sternen zu transportieren. Er sah das anders. Für ihn bestand der einzige Zweck der Technologie darin, Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Die bisherigen potentiellen Neugestalter der Welt hatten sich auf politische Macht verlassen, was in letzter Konsequenz immer die Macht des Gesetzes bedeutete. Hitler, Stalin, Mao, Pol Pöt und viele andere hatten Macht durch Einschüchterung und Massenmord gesucht, sie waren durch Blutlachen zum Thron geschritten, und keinem war am Ende das zuteil geworden, was Silikonchips nun Shaddack geben würden. Die Feder war nicht mächtiger als das Schwert, aber der Mikro -prozessor war mächtiger als gewaltige Armeen.
Wenn sie wüßten, was er angefangen und welche Eroberungsfantasien er noch in sich hatte, würden wahrscheinlich alle anderen Männer der Wissenschaft sagen, daß er pervers, krank, nicht normal war. Das war ihm einerlei. Sie hatten selbstverständlich unrecht. Weil ihnen nicht klar war, wer er war. Das Kind des Mondfalken. Er hatte diejenigen vernichtet, die sich als seine Eltern ausgegeben hatten, und er war nicht entlarvt und bestraft worden, was Beweis dafür war, daß die Gesetze und Vorschriften, nach denen andere Menschen leben mußten, auf ihn nicht zutrafen. Seine wahren Eltern waren körperlose und mächtige Geistwesen. Sie hatten ihn vor einer Bestrafung beschützt, weil die Morde, die er vor so langer Zeit in Phoenix begangen hatte, ein heiliges Opfer für seine wahren Vo rfahren gewesen waren, eine Bekundung, wie sehr er an sie glaubte und ihnen vertraute. Andere Wissenschaftler würden ihn mißverstehen, weil sie nicht wissen konnten, daß sich die gesamte Existenz um ihn herum konzentrierte, daß das Universum selbst nur existierte, weil er existierte, und wenn er jemals starb - was unwahrscheinlich war -, würde das gesamte Universum gleichzeitig zu existieren aufhören. Er war der Mittelpunkt der Schöpfung. Er war der einzige Mensch, auf den es ankam. Das hatten ihm die großen Geister gesagt. Die großen Geister hatten ihm diese Wahrheit mehr als dreißig Jahre lang im wachen und im schlafenden Zustand ins Ohr geflüstert.
Kind des Mondfalken...
Während der Nachmittag verstrich, wurde er noch aufgeregter, wenn er an die abschließende Phase des ersten Teils des Projekts dachte, und er hielt das vorübergehende Exil in Parkins' Garage nicht mehr aus. Es schien zwar klug gewesen zu sein, sich von Orten fernzuhalten, an denen Loman Watkins ihn finden könnte, aber es fiel .ihm zunehmend schwerer, Gründe dafür zu finden, sich weiter zu verstek-ken. Die gestrigen Vorkommnisse in Mike Peysers Haus kamen ihm gar nicht mehr so katastrophal vor, lediglich ein unbedeutender Rückschlag; er war sicher, daß sich das Problem der Regressiven letztendlich lösen lassen würde. Sein Genie war die Folge direkter Kontakte zwischen ihm und höheren Geistern, und wenn diese großen Geister seinen Erfolg wollten, war keine Schwierigkeit unüberwindbar. Die Bedrohung, die von Watkins ausging, wurde in seiner Erinnerung immer nebensächlicher, bis das Versprechen des Polizeichefs, ihn zu finden, hohl und sogar bemitleidenswert wirkte.
Er war das Kind des Mondfalken.
Um halb fünf machte er das Garagentor auf.
Er ließ den Lieferwagen an und fuhr die Einfahrt hinab.
Er war das Kind des Mondfalken.
Er bog auf die Landstraße ein und fuhr Richtung Stadt.
Er war das Kind des Mondfalken, Erbe der Krone des Lichts, und um Mitternacht würde er seinen Thron besteigen.
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Pack Martin - sein Name lautete eigentlich Packard, weil seine Mutter ihn nach einem Auto getauft hatte, das der ganze Stolz seines Vaters gewesen war - lebte in einem Hauswohnwagen am südöstlichen Stadtrand. Es war ein alter Wohnwagen, dessen emaillierte Teile verblaßt und rissig waren wie die Glasur einer uralten Vase. Er war an manchen Stellen rostig, verbeult und stand auf einem Betonfundament auf einem Grundstück, das fast vollständig von Unkraut überwuchert war. Pack wußte, viele Menschen in Mo-onlight Cove hielten dieses Grundstück für eine Schande, aber ihm war das ziemlich scheißegal.
Der Wohnwagen hatte elektrischen Strom, einen Ölofen und fließend Wasser, was seinen Ansprüchen vollauf genügte. Er war warm und trocken und hatte einen Ort, an dem er sein Bier aufbewahren konnte. Es war ein ansehnlicher Palast.
Und am besten war, der Wohnwagen war schon vor fünfundzwanzig Jahren mit Geld bezahlt worden, das er von seiner Mutter geerbt hatte, so daß keine Hypothek über seinem Kopf hing. Er hatte noch etwas von der Erbschaft übrig, aber er rührte die Summe so gut wie nie an. Die'Zinsen beliefen sich auf fast dreihundert Dollar monatlich, und zudem hatte er seine Behindertenrente, die er sich durch einen Sturz, drei Wochen nachdem er zur Armee eingezogen worden war, verdient hatte. Die einzige echte Arbeit, der Pack je nachgegangen war, war das Studium der subtilsten und komplexe -sten Symptome ernster Rückenverletzungen, die er genau auswendig gelernt hatte, bevor er seinem Musterungsbescheid Folge leistete.
Er war zu einem Mann des Müßiggangs geboren. Das hatte er schon im zartesten Alter gewußt. Die Arbeit und er waren nichts füreinander. Er dachte sich, das er auserkoren gewesen wäre, als Sohn einer reichen Familie geboren zu werden, aber irgend jemand hatte gepennt und es vermasselt, und so war er zum Sohn einer Kellnerin geworden, die gerade hinreichend arbeitsam gewesen war, ihm ein minimales Erbe zu hinterlassen.
Aber er beneidete niemanden. Er kaufte jeden Monat zwölf oder vierzehn Kästen billiges Bier im Supermarkt am Highway, und er hatte den Fernseher, und er war mit einem Schinken- und Senf-Sandwich und ein paar Fritos ab und zu ganz zufrieden.
An diesem Dienstag nachmittag um vier Uhr hatte Pack die zweite Sechserpackung des Tages schon fast hinter sich, fläzte in seinem Ohrensessel und sah sich eine Quizsendung an, bei der die prallen Möpse der Assistentinnen, die immer von weit ausgeschnittenen Kleidern betont wurden, wesentlich interessanter waren als der Showmaster, die Teilnehmer oder die Fragen.
Der Showmaster sagte: »Was wählen Sie? Möchten Sie das, was hinter Wand eins, Wand zwei oder Wand drei ist?«
Pack sagte zum Fernseher: »Ich nehme das, was die Süßen im Ausschnitt haben, herzlichen Dank«, und trank noch mehr Bier.
Da klopfte jemand an die Tür.
Pack stand nicht auf, er nahm das Klopfen nicht einmal zur Kenntnis. Er hatte keine Freunde, daher interessierten ihn Besucher nicht. Es waren immer Wohltäter der Gemein -de, die ihm einen Karton Lebensmittel brachten, die er nicht wollte, oder ihm anboten, sie würden sein Unkraut mähen und das Grundstück aufräumen, was er auch nicht wollte, weil er sein Unkraut mochte.
Sie klopften noch einmal.
Pack antwortete darauf, indem er den Fernseher lauter stellte.
Sie klopften fester.
»Geh weg«, sagte Pack.
Sie hämmerten an die Tür, so daß der ganze Wohnwagen bebte.
»Was soll das?« sagte Pack. Er schaltete den Fernseher aus und stand auf.
Das Hämmern wiederholte sich nicht, aber Pack hörte seltsam kratzende Laute an der Seite des Wagens.
Und es knirschte auf dem Fundament, was manchmal vorkam, wenn der Wind besonders stark wehte. Aber heute war es windstill.
»Kinder«, entschied Pack.
Die Familie Aikhorn, die zweihundert Meter südlich auf der anderen Seite der Landstraße wohnte, hatte so brutale Kinder, daß man sie allesamt hätte einschläfern, in Formaldehyd einlegen und in einem Museum für kriminelles Verhalten hätte ausstellen sollen. Diese Bälger schoben ihm zum Spaß Kracher durch Ritzen in den Fundamenten herein und weckten ihn mitten in der Nacht mit einem lauten Knall.
Das Kratzen an der Wohnwagenseite hörte auf, aber jetzt liefen ein paar Kinder auf dem Dach herum.
Das war zuviel. Das Metalldach war zwar nicht undicht, hatte aber schon bessere Zeiten gesehen, und unter dem Ge -wicht mehrerer Kinder würde es sich wahrscheinlich verbiegen, wenn nicht gar an den Nähten aufplatzen.
Pack machte die Tür auf, trat in den Regen hinaus und
überschüttete sie mit Obszönitäten. Aber als er nach oben sah, sah er keine Kinder auf dem Dach. Statt dessen sah er etwas aus einem Monsterfilm der fünfziger Jahre, so groß wie ein Mensch, mit klickenden Kiefern und Facettenaugen und einem von winzigen Scheren gesäumten Mund. Das Unheimliche war, er sah auch ein paar Züge eines menschlichen Gesichts in der monströsen Fratze, gerade soviel, daß er Daryl Aikhorn, den Vater der Bälger, er erkennen glaubte. »Brauuuuuuuuche«, sagte es mit einer Stimme, die halb die von Aikhorn und halb insektenhaftes Surren war. Es sprang ihn an, und dabei fuhr es einen teuflisch spitzen Stachel aus dem ekelhaften Körper aus. Noch bevor ihn der ein Meter lange, unterteilte Speer am Magen durchbohrte und durch ihn hindurchging, wußte Packer, daß die Tage von Bier und Schinkensandwiches und Fritos und Invalidenrente und Quizmädchen mit perfekten Möpsen vorbei waren.
Randy Hapgood, vierzehn, schlurfte durch das schmutzige, knöcheltiefe Wasser eines überfließenden Rinnsteins und schnaubte verächtlich, als wollte er sagen, daß die Natur mit einem tausendmal größeren Hindernis daherkommen mußte, wenn sie ihn einschüchtern wollte. Er weigerte sich, Regenmantel und Gummistiefel zu tragen, weil diese Klei
dungsstücke nicht modisch und cool waren. Und man sah auch keine üppigen Blondinen an den Armen von Tölpeln, die Regenschirme trugen. Auch an Rmdy hingen keine üppigen Mädchen, aber er dachte sich, das sie einfach noch nicht bemerkt hatten, wie cool er war, wie gleichgültig ge-genüber dem Wetter und allem anderen, das den anderen Typen zu schaffen machte.
Er war tropfnaß und elend - pfiff aber fröhlich, um es sich nicht anmerken zu lassen -, als er zwanzig vor fünf von der Central nach Hause kam, weil die Übungsstunde des Orchesters wegen schlechten Wetters abgesagt worden war. Er zog die nasse Jeansjacke aus und hängte sie an die Rückseite der Waschküche. Er zog auch die nassen Turnschuhe aus.
»Ich bin hiiiiiiiiier«, rief er und parodierte damit das kleine Mädchen in Poltergeist.
Niemand antwortete ihm.
Er wußte, seine Eltern waren zu Hause, weil die Lichter an waren; außerdem war die Haustür nicht abgeschlossen. Sie arbeiteten in letzter Zeit immer häufiger zu Hause. Sie hatten etwas mit Produktentwicklung bei New Wave zu tun, und sie konnten einen ganzen Tag an ihren zwei Terminals oben arbeiten, im Hinterzimmer, ohne tatsächlich ins Büro zu gehen.
Randy holte sich eine Cola aus dem Kühlschrank, riß sie auf, trank einen Schluck und ging nach oben, um sich zu trocknen, während er Pete und Marsha von seinem Tag erzählte. Er nannte sie nicht Mom und Dad, aber das störte sie nicht; sie waren cool. Manchmal dachte er, daß sie vielleicht sogar zu cool waren. Sie fuhren einen Porsche, und ihre Kleidung war der aller anderen immer ein halbes Jahr voraus, und sie unterhielten sich über alles mit ihm, alles, einschließlich Sex, und zwar so offen, als wären sie seine Kumpels. Sollte er jemals eine üppige Blondine finden, die sich an ihn hängen wollte, würde er sie vielleicht gar nicht nach Hause bringen, aus Angst, sie könnte seinen Dad für viel cooler halten als ihn selbst. Manchmal wünschte er sich, Pete und Marsha wären dick, schlampig, altmodisch angezogen und würden etepetete darauf bestehen, Mom und Dad genannt zu werden. Der Wettbewerb um gute Noten und Ansehen in der Schule war schlimm genug, und er hatte zu alledem noch den Eindruck, als stünde er zu Hause im Wettbewerb mit seinen Eltern.
Oben auf der Treppe rief er noch einmal: »Mit den un-sterblichen Worten des modernen amerikanischen Intellektuellen John Ramon: >Yo!<«
Sie antworteten immer noch nicht.
Als Randy die angelehnte Tür des Arbeitszimmers am Ende des Flurs erreichte, bekam er das Grausen. Er zitterte und runzelte die Stirn, blieb aber nicht stehen, weil es nicht zu seinem Bild des ungeheuer coolen Typen paßte, sich von etwas einschüchtern zu lassen.
Er trat über die Schwelle und hatte schon einen vorlauten Kommentar parat, weil sie ihm nicht geantwortete hatten. Er blieb, zu spät, starr vor Schrecken mitten im Zimmer stehen.
Pete und Marsha saßen einander an dem großen Schreib -tisch, wo ihre Computer Rücken an Rücken standen, gegenüber. Nein, sie saßen nicht unbedingt da; sie waren mit Dutzenden von in Segmente unterteilten Kabeln, die aus ihnen wuchsen - oder aus den Maschinen, das war schwer zu sagen - mit den Stühlen und Computern verbunden, aber sie verankerten sie nicht nur mit Computern und Stühlen, sondern auch mit dem Boden, in dem die Kabel schließlich verschwanden. Ihre Gesichter waren immer noch zu erkennen, aber gräßlich verwandelt, halb blasse Haut und halb Metall, das einen leicht geschmolzenen Eindruck machte.
Randy konnte nicht atmen.
Aber er konnte sich plötzlich wieder bewegen und taumelte rückwärts.
Hinter ihm schlug die Tür zu.
Er wirbelte herum.
Tentakel - halb organisch, halb menschlich - brachen aus der Wand hervor. Das ganze Zimmer schien auf unheimliche, gräßliche Weise zu leben, oder vielleicht waren außerirdische Maschinen in den Wänden verborgen. Die Tentakel waren schnell. Sie wirbelten um ihn, umklammerten seine Arme, wickelten ihn völlig ein und drehten ihn zu seinen Eltern um.
Sie saßen immer noch auf den Stühlen, aber nicht mehr über die Computer gebeugt. Sie sahen ihn mit leuchtendgrünen Augen an, die in den Höhlen zu kochen schienen; sie blubberten und wirbelten.
Randy schrie. Er schlug um sich, aber die Tentakel hielten ihn fest.
Pete machte den Mund auf, und ein halbes Dutzend silberne Kugeln, wie große Kugellager, schössen daraus hervor und trafen Randy an der Brust.
Schmerzen explodierten in dem Jungen. Aber das dauerte nur ein paar Sekunden lang. Dann wurden die heißen Schmerzen zu einem eiskalten Kribbeln, das sich durch seinen ganzen Körper zum Gesicht hinauf bewegte.
Er versuchte noch einmal zu schreien. Und brachte keinen Laut heraus.
Die Tentakel wichen in die Wand zurück und zogen ihn mit sich, bis sein Rücken fest gegen den Verputz gedrückt war.
Die Kälte war jetzt in seinem Kopf. Kribbelte. Kribbelte.
Er versuchte wieder zu schreien. Diesesmal brachte er einen Laut zustande. Eine dünne elektronische Oszillation.
Am Dienstagnachmittag saß Meg Henderson mit warmen Wollhosen und einem Sweatshirt und einem Pullover über dem Sweatshirt, weil sie neuerdings einfach nicht mehr warm blieb, am Küchentisch beim Fenster und hatte ein Glas Weißwein, einen Teller Zwiebelcracker, einen Keil Gouda und einen Nero-Wolfe-Roman von Rex Stout vor sich. Sie hatte schon vor Jahren sämtliche Wölfe-Romane gelesen, jetzt las sie sie wieder. Es war tröstlich, alte Romane neu zu lesen, weil sich die Menschen darin nie veränderten. Wolfe war immer noch ein Genie und Feinschmecker. Ar-chie war immer noch ein Mann der Tat. Fritz hatte immer noch die beste private Küche der Welt. Keiner war älter geworden, seit sie sie zuletzt gesehen hatte, und das war ein Trick, den sie selbst auch gerne gelernt hätte.
Meg war achtzig, und diese achtzig sah man ihr an, jede einzelne Minute, da machte sie sich nichts vor. Gelegentlich, wenn sie sich im Spiegel sah, blickte sie erstaunt drein, als hätte sie nicht den größten Teil eines Jahrhunderts lang mit diesem Gesicht gelebt und sähe eine Fremde an. Irgendwie erwartete sie, ein Spiegelbild ihrer Jugend zu sehen, weil sie in ihrem Inneren immer noch das Mädchen war. Glücklicherweise fühlte sie sich nicht wie achtzig. Ihre Knochen ächzten, und ihre Muskeln hatten etwa so viel Kraft wie die von Jabba dem Hut, im dritten Krieg der Sterne-Film, den sie sich letzte Woche auf Video angesehen hatte, aber Gott Sei Dank hatte sie weder Arthritis noch andere Leiden. Sie wohnte immer noch in ihrem Bungalow am Concord Circle, einer seltsamen kleinen, halbmondförmigen Straße, deren Anfang und Ende an der Serra Avenue im Ostteil der Stadt lagen. Sie und Frank hatten das Haus vor vierzig Jahren gekauft, als sie noch an der Thomas Jefferson School unterrichtet hatten und das eine kombinierte Schule für alle Klassen gewesen war. Moonlight Cove war damals noch kleiner gewesen. Seit vierzehn Jahren, seit Frank gestorben war, lebte sie alleine in dem Bungalow. Sie konnte aufstehen, saubermachen und für sich selbst kochen, und dafür war sie dankbar.
Noch dankbarer war sie für ihre geistige Frische. Mehr als vor körperlichem Unvermögen graute ihr vor Senilität oder einem Schlag, der ihren Körper zwar funktionstüchtig lassen, ihr aber die Erinnerungen nehmen und ihre Persönlichkeit verändern würde. Sie versuchte, geistig rege zu bleiben, indem sie alle Arten der unterschiedlichsten Bücher las, indem sie zahlreiche Videos für ihren Rekorder auslieh und um jeden Preis den verdammten Quatsch mied, der im Fernsehen als Unterhaltung galt.
Dienstag nachmittag um halb fünf hatte sie den Roman halb durch, obwohl sie am Ende jedes Kapitels aufhörte und in den Regen hinaussah. Sie mochte Regen. Sie mochte jedes Wetter, das Gott der Welt schenkte - Sturm, Hagel, Wind, Kälte, Hitze -, weil die Vielfalt und die Extreme der Schöpfung sie so wunderschön machten.
Während sie in den Regen sah, der vorhin von einem heftigen Guß zu einem Nieseln geworden war, inzwischen aber wieder heftiger denn je herunterprasselte, sah sie drei große, dunkle und völlig fantastische Geschöpfe unter den Bäumen am hinteren Rain des Grundstücks hervorkommen, etwa fünfzig Meter von dem Fenster entfernt, an dem sie saß. Sie blieben einen Moment stehen, während dünne Nebelstreifen um ihre Beine wehten, als wären sie Alptraummonster, die aus diesen Nebelschleiern entstanden waren und ebenso schnell wieder verschwinden konnten, wie sie gekommen waren. Aber dann liefen sie auf ihre Veranda zu.
Während sie rasch näher kamen, bestätigte sich Megs erster Eindruck von ihnen. Sie waren nicht von dieser Welt... es sei denn, Steinmonster hätten zum Leben erwachen und von den Mauern von Kathedralen herunterklettern können.
Sie wußte sofort, daß sie sich in den Anfängen eines wirklich schlimmen Schlages befinden mußte, denn sie hatte immer gefürchtet, daß ein solcher sie einmal dahinraffen würde. Aber sie war überrascht, daß es so anfing, mit diesen unheimlichen Halluzinationen.
Selbstverständlich konnte es nichts anderes sein - eine Halluzination, die dem Platzen einer zerebralen Ader vorausging, die bereits anschwellen und auf ihr Gehirn drücken mußte. Sie wartete auf ein schmerzhaftes explodierendes Gefühl im Kopf, wartete darauf, daß Gesicht und Körper nach links oder rechts zucken würden, je nachdem, welche Seite gelähmt sein würde.
Noch als das erste Ungeheuer durchs Fenster sprang, den Tisch mit Glasscherben überschüttete, den Weißwein umwarf, Meg vom Stuhl riß und mit Zähnen und Krallen auf sie stürzte, wunderte sie sich, wie ein Schlag so lebhafte, echt wirkende Halluzinationen erzeugen konnte, aber das Ausmaß der Schmerzen überraschte sie nicht. Sie hatte immer gewußt, daß der Tod schmerzhaft sein würde.
Dora Hankins, die Empfangsdame in der Hauptlobby von New Wave, war daran gewöhnt, daß Leute schon ab sechzehn Uhr dreißig nach Hause gingen. Offiziell endete die Arbeitszeit erst um fünf Uhr, aber viele arbeiteten noch zu Hause an ihrem eigenen PC weiter, daher drängte niemand auf strenge Einhaltung der achtstündigen Arbeitsperiode. Seit sie verwandelt worden waren, bestand ohnedies keine Veranlassung mehr für Vorschriften, da sie alle auf dasselbe Ziel hinarbeiteten, auf die Neue Welt, die kommen würde, und sie brauchten dazu nicht mehr Disziplin als ihre Angst vor Shaddack, und die hatten sie überreichlich.
Als um 16 Uhr 55 noch niemand durch die Lobby gekommen war, wurde Dora besorgt. Es war seltsam still in dem Gebäude, obwohl Hunderte Menschen in den Büros und Labors weiter hinten im Erdgeschoß und den beiden darüberliegenden Stockwerken arbeiteten. Tatsächlich schien die ganze Firma verlassen zu sein.
Um fünf Uhr hatte immer noch niemand Feierabend gemacht, und Dora beschloß, nach dem Grund dafür zu sehen. Sie verließ ihren Posten am Empfangstisch, ging zum Ende der großen Marmorlobby, durch eine Messingtür und in einen weniger prunkvollen Flur mit P VC-Boden. Auf beiden Seiten lagen Büros. Sie ging ins erste Zimmer links, wo acht Frauen als Sekretärinnen für die weniger wichtigen Abteilungsleiter arbeiteten, die keine Privatsekretärin hatten.
Die acht saßen an ihren VDTs. Im grellen Neonlicht hatte Dora keine Mühe zu sehen, wie einheitlich Fleisch und Maschine miteinander verschmolzen waren.
Angst war die einzige Empfindung, die Dora seit Wochen hatte. Sie hatte geglaubt, sie in allen Farben und Tönen zu kennen. Aber jetzt kam sie mit noch größerer Vehemenz, dunkler und allumfassender als alles, was sie bisher erlebt hatte, über sie.
Eine glitzernde Sonde schnellte aus der Wand rechts von Dora. Sie war eindeutig metallisch, dennoch schien so etwas wie gelblicher Schleim von ihr zu tropfen. Das Ding schoß direkt auf eine der Sekretärinnen zu und bohrte sich ohne Blutvergießen in ihren Hinterkopf. Eine weitere Sonde brach aus der Schädeldecke einer anderen Frau hervor, stieg wie eine Schlange zur Musik eines Schlangenbeschwörers in die Höhe, zögerte und schnellte dann mit unglaublicher Ge -schwindigkeit zur Decke, durchbohrte die Schalldämpfung, ohne sie zu beschädigen und verschwand in die oberen Räume.
Dora spürte, daß sich alle Computer und Mitarbeiter von New Wave irgendwie zu einer einzigen Einheit verbunden hatten, in die auch das Gebäude selbst zunehmend schneller einbezogen wurde. Sie wollte weglaufen, konnte sich aber nicht bewegen - vielleicht weil sie wußte, daß jeder Fluchtversuch vergeblich sein würde.
Einen Augenblick später wurde sie an das Netz angeschlossen.
Betsy Soldonna klebte sorgfältig ein Plakat an der Wand hinter dem Tresen der Stadtbibliothek von Moonlight Cove fest. Es war Teil der Faszinierende-Literatur-Woche, einer Kampagne, die Kinder dazu bringen sollte, mehr Literatur zu lesen.
Sie war Bibliotheksassistentin, aber dienstags, wenn Cora Danker, ihre Chefin, ihren freien Tag hatte, arbeitete Betsy allein. Sie mochte Cora, aber Betsy arbeitete auch gerne allem. Cora war redselig und füllte jede Minute mit Klatsch ihrer langweiligen Beobachtungen der Figuren und Handlungen ihrer Lieblingsfernsehsendungen. Betsy, die ein Leben lang bibliophil und von Büchern besessen gewesen war, hätte mit Freuden endlose Gespräche über das geführt, was sie las, aber Cora las, obwohl sie Bibliothekarin war, so gut wie nie.
Betsy riß den vierten Streifen Klebeband vom Spender und klebte die letzte Ecke des Plakats an die Wand. Sie trat einen Schritt zurück und bewunderte ihre Arbeit.
Sie hatte das Plakat selbst gemacht. Sie war stolz auf ihre bescheidene künstlerische Begabung. Die Zeichnung zeigte einen Jungen und ein Mädchen, die Bücher hielten und mit weit aufgerissenen Augen auf die Seiten vor ihnen sahen. Ihre Haare standen zu Berge. Die Brauen des Mädchens schienen über die Stirn hinausgehüpft zu sein, genau wie die Ohren des Jungen. Über ihnen befand sich der Schriftzug: BÜCHER SIND TRAGBARE JAHRMARKTSBUDEN VOLL NERVENKITZEL UND ÜBERRASCHUNGEN.
Sie hörte einen seltsamen Laut von den Bücherstapeln am anderen Ende der Bibliothek - ein Grunzen, ein ersticktes Husten, dann so etwas wie ein Fauchen. Als nächstes das unmißverständliche Geräusch einer Reihe von Büchern, die in der Ecke zu Boden fielen.
Außer Betsy befand sich nur noch Dale Foy in der Bibliothek, ein Rentner, der bis vor drei Jahren, als er fünfundsechzig geworden war, Kassierer in Lucky's Supermarkt gewesen war. Er war ständig auf der Suche nach Thriller-Autoren, von denen er noch nichts gelesen hatte, und beschwerte sich immerzu, daß keiner so gut war wie die alten Geschichtenerzähler, womit er eher John Buchan als Robert Louis Stevenson meinte.
Betsy hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, daß Mr. Foy einen Herzanfall in einem der Gänge gehabt hatte, daß sie ihn um Hilfe rufen gehört und mitbekommen hatte, wie er die Bücher zu Boden warf, als er sich an eines der Regale klammerte. Sie sah in Gedanken, wie er sich unter Schmerzen wand, keine Luft mehr bekam, sein Gesicht blau wurde und die Augen hervorquollen, blutiger Schaum über seine Lippen kam...
Jahrelanges Lesen hatte Betsys Fantasie bearbeitet, bis sie so scharf wie eine aus feinstem deutschem Stahl gemachte Rasierklinge geworden war.
Sie eilte um den Tresen und die Gänge entlang, wo sie in jeden der schmalen Flure sah, die von zweieinhalb Meter hohen Regalen gebildet wurden. »Mr. Foy? Mr. Foy, ist alles in Ordnung?«
Sie fand die heruntergefallenen Bücher im letzten Regal, aber keine Spur von Dale Foy. Sie wandte sich verwirrt wieder in die Richtung, aus der sie gekommen war, und da stand Foy hinter ihr. Aber verändert. Und nicht einmal Bet-sys messerscharfe Fantasie hätte sich das Ding ausdenken können, zu dem Foy geworden war - oder das, was er im Begriff war ihr anzutun. Die nächsten paar Minuten waren so voller Überraschungen wie sämtliche Bücher, die sie jemals gelesen hatte, aber es gab kein Happy End.
Wegen der dunkeln Sturm wölken, die den Himmel bedeckten, senkte sich eine frühe Dämmerung über Moonlight Co-ve, und die ganze Gemeinde schien die Faszinierende-Lite-ratur-Woche in der Bibliothek zu feiern. Für viele war der Tag, der zu Ende ging, voller Aufregung und Überraschungen, so wie die Geisterbahn des makabersten Jahrmarkts, der jemals seine Zelte aufgeschlagen hatte.
37
Sam leuchtete mit der Taschenlampe durch den Dachboden. Er hatte einen Dielenboden, aber kein Licht. Nichts wurde hier aufbewahrt, abgesehen von Staub, Spinnweben und einer Vielzahl toter, vertrockneter Bienen, die während des Sommers ihr Nest in den Balken gebaut hatten und entweder durch einen Kammerjäger gestorben waren, oder weil sie das Ende ihrer Lebensspanne erreicht hatten.
Er kehrte zufrieden zur Falltür zurück und ging rückwärts die Holzleiter hinunter in den begehbaren Kleiderschrank von Harrys Schlafzimmer im dritten Stock. Sie hatten einen Großteil der Kleidungsstücke entfernt, damit sie die Klappe aufmachen und die Leiter herunterziehen konnten.
Tessa, Chrissie, Harry und Moose warteten direkt vor der Schranktür in dem Schlafzimmer, in dem es immer dunkler wurde, auf ihn.
Sam sagte: »Ja, das wird gehen.«
»Ich war zum letzten Mal vor dem Krieg da oben«, sagte Harry.
»Etwas schmutzig und ein paar Spinnen, aber Sie werden in Sicherheit sein. Wenn Sie nicht der letzte auf der Liste sind und sie doch früher zu Ihnen kommen, werden sie das Haus verlassen vorfinden, und sie werden nie an den Speicher denken. Denn wie sollte ein Mann mit zwei gelähmten Beinen und einem gelähmten Arm dort hinaufziehen können?«
Sam war nicht sicher, ob er glaubte, was er da sagte. Aber zu seiner eigenen und Harrys Beruhigung wollte er es glauben.
»Kann ich Moose mit hinauf nehmen?«
»Nehmen Sie die Pistole, von der Sie gesprochen haben«, sagte Tessa, »aber nicht Moose. Er ist zwar wohlerzogen, aber er könnte trotzdem im falschen Augenblick bellen.« »Wird Moose hier unten sicher sein... wenn sie kommen?« fragte Chrissie.
»Ich bin ganz sicher«, sagte Sam. »Sie wollen keine Hunde. Nur Menschen.«
»Wir sollten zusehen, daß wir hinaufkommen, Harry«, sagte Tessa. »Es ist zwanzig nach fünf. Wir müssen bald von hier verschwinden.«
Das Schlafzimmer füllte sich fast ebenso schnell mit Schatten, wie sich ein Glas mit blutrotem Wein füllt.