1. KAPITEL

Sie waren auf allen Seiten von Feinden umgeben. Obwohl das Theater in London florierte wie nie zuvor, obwohl es der Hauptstadt des Landes lebhafte Unterhaltung bot und große Zuschauermengen tagtäglich applaudierten, lebten die Theaterleute unter einer ständigen Bedrohung. Schauspielerei war ein gefährliches Geschäft. Die Spieler mußte einen Seiltanz zwischen Ruhm und Vergessenheit aufführen - ohne ein Netz, das ihren Absturz gemildert hätte. Sie mußten mit dem offiziellen Mißfallen des Oberbürgermeisters und der Würdenträger der Stadt rechnen und litten unter der direkten Feindschaft der Kirchenführer, die alles auf der Bühne als Werk des Teufels ansahen und beklagten, daß sich Wüstlinge, Dirnen und Taschendiebe geradezu freizügig unter das Publikum mischten. Protest hagelte von allen Seiten auf sie herab.

Und auch der Applaus der Zuschauer war keine Selbstverständlichkeit. Das Publikum war ein launischer Herr. Wer ihm mit seiner Kunst diente, mußte Stücke aufführen, die gerade in Mode waren, und zwar so, daß sie dem Publikum gefielen. Gleichgültigkeit war eine ständige Bedrohung. Das galt auch für die anderen Theatergesellschaften. Harter Wettbewerb war an der Tagesordnung. Schauspieler konnten abgeworben, Stücke gestohlen werden. Zwischen den Gruppen gab es Kriege, deren Bandbreite von heimtückisch bis brutal alles umfaßte.

Wer diese Kämpfe überlebte, konnte immer noch durch Feuer oder bei Raufereien sein Ende finden. Oft genug hatten Pfeifenraucher die überhängenden Strohdächer in den Theatern in Brand gesetzt, und es konnte jederzeit passieren, daß betrunkene Zuschauer eine Rauferei anzettelten. Wenn menschlicher Einfluß ein Stück nicht be- oder verhinderte, dann gab es auch noch schlechtes Wetter. Die Bühnen lagen unter freiem Himmel, jedem Windstoß und Regen hilflos ausgesetzt. Gott in seiner Weisheit hatte schon so manches Streben nach Unsterblichkeit von der Bühne hinweggespült.

Doch der stumme Feind war der schlimmste.

Er kam von nirgendwoher und bewegte sich lässig unter seinen Opfern. Er hatte keinen Respekt vor Alter, Rang oder Geschlecht und traf seine Opfer mit stolzer Unparteilichkeit, wie eine infizierte Hure, die ihre Krankheit in heißen Umarmungen weitergibt. Nichts konnte seiner Macht widerstehen, und niemand konnte das Geheimnis dieser Macht erahnen. Er konnte Berge überwinden, Ozeane durchmessen, Mauern durchdringen und die stärksten Festungen zu Boden zwingen. Sein verderblicher Einfluß war universal. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind auf der ganzen Erde war seiner Laune ausgeliefert.

Das war der ultimative Feind. Der Untergang in Person.

Lawrence Firethorn sprach im Namen seines ganzen Berufsstandes.

»Die Pest über diese Pest!«

»Sie wird uns unseres Lebensunterhaltes berauben«, sagte Gill.

»Wenn nicht gar unseres Lebens«, fügte Hoode hinzu.

»Gottes Blut über uns!« sagte Firethorn und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Welch armseligem Beruf gehören wir doch an. An jeder Ecke warten Meuchelmörder auf uns, und wenn wir ihren Dolchen entweichen können, dann kommt hier die schärfste Axt der Christenheit, um uns den Kopf abzuhacken.«

»Es ist ein Gericht«, sagte Hoode niedergedrückt.

»Vielleicht geht das Unglück ja noch an uns vorüber.« Gill versuchte, halbherzigen Optimismus zu demonstrieren. »Die Fälle von Pesttod haben noch nicht die notwendige Höhe pro Woche erreicht.«

»Aber sie werden es, Barnaby«, sagte Firethorn grimmig. »Das heiße Wetter wird schon bald dazu beitragen, die Stadt zu entvölkern. Wir müssen dem Unglück ins Auge blicken, meine Herren, und alle falsche Hoffnung fahren lassen. Das ist der einzig vernünftige Weg. Diese letzte Besichtigung wird dazu führen, daß jedes Theater in London schließen muß und wir unsere Arbeit für den Sommer einpacken können. Es gibt nur ein einziges Gegenmittel.«

»Eine bittere Medizin, die wir da schlucken müssen«, sagte Hoode.

Barnaby Gill stieß einen Seufzer aus, so tief wie die Themse.

Die drei Männer saßen im Schankraum des Queen's Head in der Gracechurch Street vor ihren Bechern mit spanischem Wein. Das Gasthaus war regelmäßig Schauplatz der Aufführungen von Lord Westfield's Men, einer der führenden Theatergruppen der Stadt. Lawrence Firethorn, Barnaby Gill und Edmund Hoode waren allesamt Teilhaber der Gruppe, anerkannte Schauspieler, deren Namen in das königliche Patent der Gesellschaft eingetragen waren und die die wichtigsten Rollen ihres umfangreichen Repertoires übernahmen. Westfield's Men hatte noch weitere Teilhaber, doch dieses Trio kontrollierte erfolgreich die Geschäfte der Gruppe. So lautete zumindest die Theorie. In Wirklichkeit war es die energiegeladene und beherrschende Persönlichkeit des Lawrence Firethorn, die normalerweise das Sagen hatte und den beiden Kollegen ein Gefühl eigener Autorität vermittelte, während sie tatsächlich nur seine Entscheidungen bestätigten. Er überragte sie alle.

»Meine Herren«, verkündete er tapfer, »wir dürfen uns nicht vom Schicksal bezwingen oder von den Umständen beeinflussen lassen. Laßt uns die Not zur Tugend machen.«

»Tugend, in der Tat!« Gill wurde zynisch.

»Jawohl, Sir.«

»Zeigt es mir, Lawrence«, sagte der andere. »Wo ist die Tugend, wenn wir uns durchs ganze Land schleppen, um unsere Talente vor undankbaren Dummköpfen auszubreiten? Billige Stücke für arme Leute in miserablen Orten bringen uns keinen Heller ein.«

»Westfield's Men paktieren nicht mit der Armut«, sagte Firethorn und hob mahnend den Finger. »Wie einfach auch immer unsere Bühne sein mag, unsere Arbeit bleibt wertvoll und befriedigend. Und wenn das Publikum nur aus ungebildeten Narren besteht, so werden wir ihnen dennoch einen Festschmaus der Worte anbieten.« Seine Brust blähte sich voller Stolz. »Alles, was recht ist, Sir, ich habe mich noch niemals so herabwürdigen lassen, daß ich eine schlechte Schauspielerei geliefert hätte.«

»Darüber kann man geteilter Meinung sein.«

»Was sagt Ihr da, Barnaby?«

»Laßt es gut sein.«

»Wollt Ihr meine Arbeit anzweifeln, Sir?«

»Dazu fehlte mir die Stimme.«

»Das wäre nicht der einzige Mangel bei Euch.«

»Wie war das?«

»Eure Augen, Sir. Denkt an die heilige Bibel. Kehrt zuerst vor Eurer eigenen Tür, bevor Ihr mich angreift.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Seht zu, daß Eure eigene Leistung in Ordnung ist.«

»Das ist nicht nötig«, plusterte Gill sich auf. »Mein Publikum ist durchaus mit meinem Genie vertraut.«

»Warum versteckt es sich dann vor Euren Kollegen?«

»Viper!«

Der Streit war in vollem Gange, Edmund Hoode brauchte mehrere Minuten, bis er die Streithähne beruhigen konnte. Das war für ihn schon eine Routinesache geworden. An der Wurzel der Beziehung zwischen Lawrence Firethorn und Barnaby Gill lag professionelle Eifersucht. Jeder der beiden besaß bemerkenswerte individuelle Talente, deren Kombination großartige Ergebnisse hervorbrachte. Die meisten Erfolge der Gruppe beruhten auf dem Zusammenspiel dieses unvergleichlichen Paares, aber sie schafften es nicht, jenseits der Bühne Harmonie zu finden. Sie kämpften mit unterschiedlichen Waffen. Firethorn benutzte ein verbales Langschwert, das sausend durch die Luft fuhr, während Gill den Dolch bevorzugte, dessen schmale Klinge zwischen die Rippen fahren konnte. Wenn ein Streit sich dem Höhepunkt näherte, war der erste wie der rasende Zorn mit zuckenden Augenbrauen, während der andere zitternde Beleidigung darstellte und höhnisch aufgeworfene Lippen.

Edmund Hoode schlug einen versöhnlichen Ton an.

»Meine Herren, meine Herren, Ihr leistet Euch beide einen schlechten Dienst. Wir sind alle Partner in diesem Geschäft. Gott ist mein Zeuge, in diesen schwierigen Zeiten haben wir schon genug Feinde um uns. Laßt durch zornige Worte nicht noch mehr Unstimmigkeit entstehen. Nehmt Euch zusammen, Sirs. Seid wieder Freunde.«

Die Kämpfer suchten Zuflucht bei ihren Weinbechern. Hoode war erleichtert, daß es ihm gelungen war, den Streit beizulegen, bevor es so schlimm wurde, daß Gill Firethorn der ungezügelten Tyrannei bezichtigte und seinerseits schiere Verachtung zu spüren bekam, weil er eine Vorliebe für Knaben mit hübschem Gesicht und schlankem Körper hatte. Eine ungemütliche Stille hing über den drei Männern. Hoode unterbrach sie.

»Ich halt' das nicht durch, in der Provinz herumzuziehen.«

»Bettler können keine Ansprüche stellen«, warf Gill ein.

»In meinem Fall können sie es. Ich würde eher in London bleiben und die Pest riskieren, als hinter dem Theaterkarren durch halb England zu laufen. Darin sehe ich keinerlei Gewinn.«

»Noch viel weniger davon in der Stadt«, sagte Firethorn. »Wovon wollt Ihr leben, wenn Ihr Euren Beruf verliert? Ihr seid vielleicht ein Zauberer der Worte, Edmund, aber auch Ihr könnt kein Geld aus der Luft pflücken.«

»Ich kann meine Gedichte verkaufen.«

»Eure Armut ist todsicher«, sagte Gill maliziös.

»Es gibt genug, die sie kaufen werden.«

»Und noch mehr, die sich nicht darum scheren.«

Lawrence Firethorn gluckste verständnisvoll.

»Ich sehe die Wahrheit dahinter, Edmund. Es gibt nur einen Grund, der Euch dazu bringen könnte, hierzubleiben und das Elend des Hungers kennenzulernen. Mann, Ihr habt Euch verliebt!«

»Schluß mit diesen Sticheleien.«'

»Seht Ihr, wie er rot wird, Barnaby?«

»Ihr habt ins Schwarze getroffen, Lawrence.«

»Er verschmäht seine Kollegen, damit er sich ins gemachte Bett legen kann. Während wir auf der Suche nach Geld auf der Straße liegen, arbeitet er im Bett wie ein lüsterner Bräutigam.« Firethorn gab seinem Kollegen einen scherzhaften Stoß. »Wer ist das schöne Wesen, Edmund? Wenn sie Euch von Eurer Arbeit weglocken kann, muß sie ja unvergleichliche Vorzüge besitzen. Sagt es uns, lieber Freund. Wie ist ihr Name?«

Hoode zuckte wegwerfend mit den Schultern. Er hatte gelernt, bei Liebesdingen Lawrence Firethorn keinerlei Vertrauen zu schenken, und schon gar nicht Barnaby Gill. Der eine war ein notorischer Ehebrecher, der das unschuldigste Mädchen verführen konnte, und der andere hatte für das gesamte weibliche Geschlecht nichts als schiere Verachtung übrig. Edmund Hoode hielt sich an seine eigenen Vorstellungen. Er war groß und schlank, ein bleicher, glattrasierter Mann in den Dreißigern, Schauspieler und Stückeschreiber bei der Gesellschaft, dem es irgendwie gelungen war, die verrohenden Aspekte eines solchen Berufes nicht an sich heranzulassen. Er war ein unbeirrbarer Romantiker, für den die Herzensschmerzen des Liebhabers eine höhere Form des Vergnügens darstellten, und er ließ sich nicht davon beeindrucken, daß seine Beziehungen so gut wie niemals an ihr Ziel gelangten. Seine frische Verliebtheit war ganz klar auf seinem Gesicht zu sehen; vor den spöttisch forschenden Blicken seiner Kollegen senkte er den Kopf.

Lawrence Firethorn war da aus ganz anderem Holz, ein mittelgroßer Mann mit faßförmigem Brustkasten, ein Mensch, der Macht und Persönlichkeit ausstrahlte, und dessen gewelltes schwarzes Haar, sein Spitzbart und seine gefälligen Gesichtszüge eine direkte Herausforderung der Weiblichkeit darstellten. Gill war älter und kleiner, kräftig gebaut und ein verwöhnter Charakter. Außerhalb des Theaters war er ein mürrischer und ichbezogener Mann, auf der Bühne ein überragender Schauspieler, dessen verschmitztes Lächeln aus einem häßlichen Mann eine Figur mit starker Ausstrahlung machte.

Hoode war zwischen seiner Leidenschaft und seinen Stücken hin und her gerissen.

»Westfield's Men können gut ohne mich auskommen.«

»Aber gerne«, sagte Gill stichelnd.

»Ich könnte später auf der Reise zu Euch stoßen.«

»Nun kommt aber, Edmund«, sagte Firethorn und klopfte ihm auf die Schulter. »Kein Gerede mehr von Desertion. Ohne unseren Poeten, der uns die Worte in den Mund legt, sind wir wie dumme Idioten. Ihr reist mit uns, weil wir Euch lieben.«

»Mein Herz ist irgendwo anders.«

»Und weil wir Euch einfach brauchen, lieber Freund.«

»Geht doch einfach ohne mich.«

»Und weil Ihr einen Vertrag mit uns habt.«

Firethorns gezielte Erinnerung beendete das Gespräch. Als Teilhaber der Gesellschaft hatte Hoode gewisse rechtliche Pflichten. Seine Bewegungsfreiheit war eingeschränkt. Er zuckte zusammen, während eine weitere Liebesbeziehung bereits im Keim erstickte.

Lawrence versuchte, ihn zu trösten.

»Mut, Mann!« drängte er. »Sitzt hier nicht wie ein liebeskranker Schäfer. Denkt mal daran, was vor Euch liegt. Ihr gebt eine Eroberung auf, um andere zu machen. Diese Landmädchen sind fürs Kopulieren geschaffen. Laßt Euch gehen. Ihr könnt Euch quer durch sieben Grafschaften bumsen, bis Euer Schwanz blau wird und ›Schluß damit!‹ schreit. Nehmt Euch zusammen, Edmund.« Firethorn gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Westfield's Men werden nicht aus London weggejagt. Wir reisen ins Paradies!«

»Und wer soll die Schlange darstellen?« fragte Gill.

*

Nicholas Bracewell stand an seinem angestammten Platz hinter der Bühne und überwachte die Aufführung mit seiner typischen stillen Autorität. Als Regisseur der Gruppe spielte er eine besonders wichtige Rolle, soufflierte und inszenierte jedes Stück, das zur Aufführung kam, überwachte die Proben und half bei tausenderlei Dingen, die zu tun waren.

Er war ein großer, stattlicher, kräftig gebauter Mann mit einer Gesichtsfarbe wie wettergegerbte Eiche, mit langem blondem Haar und einem Wikingerbart. Trotz seiner eindrucksvollen Gestalt konnte er sich während einer Aufführung vollkommen unsichtbar machen, eine schattenhafte Präsenz von entscheidender Bedeutung, ein Drahtzieher wie ein meisterlicher Puppenspieler.

An diesem Nachmittag wurde dem Publikum im Innenhof des Queen's Head »Der beständige Liebhaber« geboten, eine liebenswerte Komödie über die Schwierigkeiten der Treue. Das Stück war sehr beliebt, Westfield's Men hatten es bereits mehrfach aufgeführt.

»Und jetzt, Master Bracewell?«

»Den silbernen Kelch, George.«

»Auf den Tisch?«

»Reicht ihn dem König.«

»Wann soll der Tisch gedeckt werden?«

»Für die nächste Szene.«

»Wieder der silberne Kelch?«

»Den goldenen Pokal.«

George Dart war normalerweise nicht so nervös. Er war Hilfsbühnenarbeiter und wurde gelegentlich in eine Rolle als stummer Komparse gepreßt. Seine Aufgaben im »Beständigen Liebhaber« waren einfach und anspruchslos, trotzdem war er bereits vor dem Ende des 1. Aktes mit den Nerven fertig. Dafür konnte man durchaus Verständnis haben. Alle in der Gruppe wußten, daß dies für lange Zeit ihre letzte Vorstellung in London sein konnte, für manche war es sogar der letzte Auftritt auf einer Bühne. Eine Tournee der Gruppe verlangte Sparsamkeit. Ihr Umfang mußte reduziert werden, ebenso die Wochenlöhne. Von den Teilhabern würden alle an der Gastspielreise teilnehmen, aber bei den angestellten Mitarbeitern mußte man eine sorgfältige Auswahl treffen.

George Dart gehörte dazu.

Wie seine Kollegen war er beinahe hysterisch vor Angst, entlassen zu werden, denn er wußte nur zu gut, daß die Entlassenen am Ende ihres Weges angekommen waren. Aus diesem Grund spielte er seine winzige Rolle im »Beständigen Liebhaber« mit verwirrter , Eindringlichkeit, voller Sorge über das, was ihm bevorstand, doch gleichzeitig bemüht, sein Bestes zu geben.

Nicholas Bracewell besänftigte mal wieder die allgemeine Panik und nahm Rücksicht auf sie. Einige der Schauspieler da draußen auf der Bühne kämpften im wahrsten Sinne des Wortes um ihr Leben. Im übergroßen Bemühen, ihre Sache gut zu machen, beeinträchtigten sie oft genug ihre Chancen. Nicholas hatte für jeden einzelnen von ihnen große Sympathie, doch in erster Linie fühlte er sich seinem Publikum verpflichtet und konzentrierte sich darauf, das Stück so gut und so glatt wie möglich über die Bühne zu bringen. Das bedeutete, daß er bei mehreren Auseinandersetzungen schlichten mußte.

»Habt Ihr jemals solch vorsätzliche Gemeinheit gesehen, Nick?«

»Haltet Euch für Euren nächsten Auftritt bereit.«

»Er hat meine beste Rede unterbrochen.«

»Und Ihr habt zwei von seinen ruiniert.«

»Gabriel versucht, meine Vorstellung kaputtzumachen.«

»Ich glaube, er zahlt nur in gleicher Münze heim.«

»Der Mann hat kein Ehrgefühl.«

»Bringt es ihm durch Euer Beispiel bei.«

»Ich glaube, Ihr steht auf seiner Seite.«

»Nein, Christopher. Meine Sorge gilt allein dem Stück.«

»Warum laßt Ihr es dann durch Gabriel kaputtmachen?«

»Ihr seid in der letzten halben Stunde sein Partner gewesen. Es gereicht Euch beiden nicht gerade zur Ehre.«

»Ich bin der bessere Schauspieler, Nick.«

»Euer Stichwort kommt.«

»Stellt ihn für mich zur Rede.«

»Geht raus und sprecht selber für Euch.«

Christopher Millfield rannte auf die Bühne, um seinen Kampf mit Gabriel Hawkes fortzusetzen. Beide waren gute Schauspieler, die ein breites Spektrum von Nebenrollen beherrschten, und zwar gut; jeder von ihnen war eine Bereicherung der Theatergruppe. Doch auf der Tournee war kein Platz für sie beide. Einer mußte dem anderen Platz machen. Sie hatten sich gegenseitig niemals ausstehen können, doch bei allen früheren Aufführungen hatten sie ihre Antipathie im Interesse der gemeinsamen Arbeit überwunden. Aber jetzt, da Arbeitslosigkeit sie beide bedrohte, verfielen sie in eine offene Feindschaft, die zwar durchaus im Einklang mit ihren jeweiligen Rollen war, doch zugleich dafür sorgte, daß sie sich auf beunruhigende Weise von ihrem Text entfernten.

Nicholas beobachtete das alles mit einer Mischung aus Erstaunen und Mißfallen. Solches Verhalten hatte er von Christopher Millfield erwartet, einem arroganten und aufbrausenden jungen Mann, der sich schnell beleidigt fühlte, auch wenn gar keine Kränkung beabsichtigt war. Gabriel Hawkes war ein völlig anderer Mensch, ein bescheidener, fast scheuer Typ, der sich bei den zotigen Neckereien der Schauspieler keineswegs wohl fühlte und der sich von der breiten Masse entfernt hielt. Nicholas bewunderte die Fähigkeiten beider Männer, doch Gabriel Hawkes war ihm viel sympathischer als der andere. Bei einer langen und schwierigen Tournee wäre seine sanftmütige Gegenwart wesentlich wertvoller gewesen als Millfields Ungestüm.

Doch jetzt zeigte er sich von der denkbar schlechtesten Seite. Indem er sich offen zum Kampf stellte, leistete er seiner Sache einen Bärendienst. Zur Begeisterung des Publikums - doch dem Schauspiel vollkommen entgegengesetzt - packten sich die beiden wie Ringkämpfer, warfen sich mit hölzernen Versen zu Boden, bevor sie mit sich reimenden Gedichten und Fäusten aufeinander losgingen.

Doch plötzlich kam alles zu einem Ende.

Gabriel Hawkes schien seine Niederlage einzusehen. Er sank erkennbar in sich zusammen, verlor jegliches Feuer. Er ließ sich von Christopher Millfield vollkommen fertigmachen und brachte nicht mal andeutungsweise eine Verteidigung zustande. Es tat weh, wenn man nur zusah.

Die meisten Zuschauer merkten nichts von dem heftigen persönlichen Kampf, der sich vor ihren Augen abspielte. Hawkes und Millfield hatten keine tragenden Rollen und verschmolzen mit der Kulisse, sobald Lawrence Firethorn auf die Bühne trat. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein König, und seine Brillanz übertraf alles andere, einschließlich der lächerlichen Bemühungen von Barnaby Gill in der Rolle des klapprigen Liebhabers. Firethorns Herrschaft war überragend.

An der Spitze seines Ensembles trat er vor den Vorhang, um im Applaus zu baden, der von den Innenhofwänden des Queen's Head widerhallte. Plangemäß sollten Westfield's Men in der kommenden Woche wieder eine Vorstellung im Queen's Head geben, doch niemand glaubte wirklich daran, daß es zu dieser Aufführung kommen würde. Die Pest drang immer weiter vor. Die Zuschauer, die eine lange Zeit ohne das Vergnügen des Theaters vor sich hatten, zeigten den Schauspielern, die aus der Stadt vertrieben werden würden, ihre Anteilnahme. Es war eine fröhliche, aber auch wehmütige Angelegenheit.

Lawrence Firethorn vergoß echte Tränen und hielt eine Abschiedsrede. Barnaby Gill schniefte, Edmund Hoode mußte hart schlucken, und der Rest der Gruppe war von Herzen gerührt. Nicholas Bracewell ließ sich von dieser Gefühlswoge nicht davontragen. Seine Aufmerksamkeit galt Gabriel Hawkes, der eigenartig distanziert wirkte. Ein Mann, der das Theater intensiv und ausdauernd liebte, sah jetzt drein, als befremde ihn das alles.

Als sie die Bühne verließen, nahm Nicholas ihn beiseite.

»Was bedrückt Euch, junger Mann?«

»Nichts, Master Bracewell.«

»Seid Ihr ganz in Ordnung?«

»Ich spüre, daß ich krank werde, aber es ist nichts Ernsthaftes.«

»Welche Art von Krankheit?«

»Macht Euch um mich keine Sorgen.«

»Sollen wir Euch zu einem Arzt tragen?«

»Es hat nichts zu bedeuten, sage ich Euch.«

»Paßt gut auf Euch auf, Gabriel.«

Der junge Schauspieler lächelte schwach und berührte seinen Arm.

»Vielen Dank, Master Bracewell.«

»Wofür?«

»Ihr seid mir immer ein guter Freund gewesen.«

Seine Stimme hatte solch einen endgültigen Unterton, daß Nicholas entsetzt war. Während Gabriel Hawkes auf unsicheren Beinen davonging, um sein Kostüm abzulegen und sich auf den Weg zu seiner Unterkunft in Bankside zu begeben, hatte der Regisseur das beunruhigende Gefühl, den Mann nie mehr lebend wiederzusehen.

*

Nachdem die Pest ein paar Wochen lang mit der Stadt gespielt hatte, holte sie jetzt zum tödlichen Schlag aus. London war hilflos. Die Stadt litt unter hämmernden Kopfschmerzen, kaltem Schauer, fürchterlichen Rückenschmerzen, rasendem Puls, Atemnot, hohem Fieber und vollständiger Rastlosigkeit. Widerliche Beulen bildeten sich in der Leistengegend und in den Achselhöhlen. Unkontrollierbares Erbrechen setzte ein. Wenn der Körper erlahmte, brach auch der Geist zusammen. Delirium setzte ein. Die Sterblichkeitsrate stieg unerbittlich an, die Leute lernten wieder einmal zu beten.

»Wann müßt Ihr abreisen, Sir?«

»Sobald es erforderlich wird.«

»Gibt es denn gar keine Hoffnung auf Rettung?«

»Leider nicht, meine Liebe. Allein sieben Todesfälle wurden in dieser Kirchengemeinde gemeldet, ein Dutzend oder mehr in Cripplegate. Wenn man alle Gemeinden zusammenzählt, steigt die Anzahl mit Leichtigkeit auf dreißig und vielleicht sogar auf das Dreifache davon.«

»Der Herr steh uns bei!«

»Für uns armselige Schauspieler gibt es keinen Trost, denn wir sind die ersten, die der Seuche geopfert werden. Der Staatsrat hat einen Erlaß herausgegeben: Alle Theater, Tierkampfstätten und Orte, an denen sich Menschenmassen versammeln, müssen sofort geschlossen werden. Es ist niederträchtig.«

»Es ist unüberlegt, Sir.«

*

Margery Firethorn zog ihren Gatten an sich und ließ ihn die Wärme ihrer Zuneigung spüren. Weiß der Himmel, es war keine gemütliche Ehe gewesen, doch er hatte es nie bereut, selbst wenn die Leidenschaften am stürmischsten waren. Margery war eine gute Frau und liebende Mutter, eine sparsame Hausfrau und überzeugte Christin. Das Leben mit einem so ausschweifenden Partner wie Lawrence Firethorn hätte gewiß jede andere Frau abgeschreckt, doch sie hatte sich der Herausforderung mit standhafter Tapferkeit gestellt. Sie waren beide füreinander bestimmt. Gleichgesinnte Geister, aus dem gleichen Holz geschnitzt.

»Wie lange wirst du fortbleiben?« fragte sie.

»Bis der Queen's Head uns wieder aufnehmen kann.«

»Der Tag kann noch Monate entfernt liegen.«

»Mindestens bis Michaeli.«

»Das wird mir wie eine Ewigkeit vorkommen.«

»Mein altes Herz versinkt in Trauer, wenn ich nur daran denke.«

»Ich werde dich schrecklich vermissen, Lawrence.«

Firethorn betrachtete seine Frau, die neben ihm im Bett lag, und er erblickte die wollüstige junge Frau, die er vor all diesen Jahren umworben hatte. Die Zeit hatte tiefe Linien in ihr Gesicht gegraben, die Geburten waren unsanft mit ihrem Körper umgegangen, doch auf ihre Art war sie eine erstaunliche Person mit runden Formen, die wie in alten Zeiten locken und erregen konnten. Firethorn hatte die Liebe von einfachen Dienstmädchen entflammt und die Lüsternheit höfischer Schönheiten erregt, wenn er sich kopfüber in seine ehebrecherischen Abenteuer stürzte, doch er war immer wieder zu den reiferen Reizen seiner Frau zurückgekehrt und fragte sich in diesem seltenen Moment der Gewissensbisse, wie er sie eigentlich jemals hatte verlassen können.

Margery gab ihm Freuden, die über bloße Befriedigung hinausgingen; das war etwas, das es zu bewahren galt. Als sie jetzt in einer Haltung vollständiger Offenheit neben ihm lag, war sie so unwiderstehlich wie in ihrer Hochzeitsnacht, in der sie die Bettfedern bis zur Morgendämmerung in Bewegung gebracht hatten. Die Strahlen des Mondes, die durch das Fenster fielen, malten jetzt ein noch schöneres Bild von ihr.

Lawrence Firethorn zog sie an sich.

»Komm näher, meine Liebe. Wir brauchen einander.«

»Einen Moment, Sir«, sagte Margery, die die praktischen Dinge vorher erledigt haben wollte. »Wovon soll ich leben, wenn mein Ehemann abwesend ist?«

»So tugendhaft, als ob er zu Hause wäre.«

»Ich sprach von Haushaltsgeld, Lawrence.«

»Ich werde für dich sorgen, mein Engel.«

»Wie denn?« drängte sie.

»Der Haushalt wird viel kleiner sein, wenn ich weg bin«, sagte er. »Ich nehme die Untermieter, Lehrlinge und so weiter mit mir. Dann bist du mit den Kindern und den Dienstboten allein.«

»Kinder und Dienstboten müssen essen, Sir.«

»Das werden sie auch. Jeden Tag, regelmäßig.«

»Also werde ich Geld bekommen?«

»Aber natürlich, Margery«, sagte er und streichelte ihre Schenkel im Vorgriff auf die gemeinsamen Freuden. »Ich gebe dir alles, was ich geben kann. Dessen kannst du sicher sein.«

»Und was ist, wenn das nicht reicht?«

»Sei sparsam, Frau, und alles wird gut sein.«

»Selbst Sparsamkeit hat ihren Preis.«

»Mach dir keine Sorgen, meine Süße.«

»Dann gib mir Sicherheit.«

»Das werde ich, das werde ich«, sagte er und ließ seine Hand zu ihrer vollen Brust wandern. »Während ich weg bin, werde ich dir Geld schicken. Und wenn das nicht reicht, nun, dann mußt du sonstwie Geld herbeischaffen.«

»Zeigt mir, wie ich das machen soll, Sir.«

»Verkauft meinen zweitbesten Mantel.«

Margery war gerührt. Sie wußte genau, wieviel ihm seine feinen Kleider bedeuteten, und daß er sich lieber einen Finger abhacken lassen würde, als sich davon zu trennen. Der Mantel, ein großartiges Kleidungsstück, war mit gelber, grüner, blauer und roter Seide verziert und mit Steifleinen gefüttert - ein Geschenk von Lord Westfield persönlich und dem Mantel irgendeines Adeligen durchaus ebenbürtig.

»Sprecht Ihr die Wahrheit, Lawrence? Darf ich den verkaufen?«

»Nur, wenn es aus Not geschieht.«

»Werdet Ihr mich deshalb auch nicht ausschimpfen?«

»Euer Wohlergehen muß wichtiger sein als meine Eitelkeit.«

»Das erfreut mich mehr, als ich Euch sagen kann.«

Das war der rechte Augenblick, sich den Preis zu sichern. Firethorn griff unter das Kissen, nahm den Ring, den er dort vorsorglich versteckt hatte, und schob ihn ihr symbolisch über den dritten Finger ihrer linken Hand. Der Rubin verzauberte sie.

»Ist der für mich?«

»Für wen wohl sonst? Trag ihn, bis ich zurückkehre.«

»Nichts kann mich dazu bringen, ihn abzulegen.«

»Er ist ein Unterpfand meiner Bewunderung«, sagte er und schob ihre Schenkel mit sanfter Gewalt auseinander. »Laß ihn ein immerwährendes Erinnerungsstück der Liebe sein, die ich für dich empfinde. Ein wertvolles Juwel, zum Zeichen, daß du der größte Schatz meines Lebens bist. Ein immerwährender Tribut der Schönsten ihres Geschlechts.« Sie gab ihm einen Kuß, der ihn auflodern und allen gesunden Menschenverstand vergessen ließ. Seine Stimme war von verheerender Lässigkeit. »Und wenn das Schlimmste passiert, dann verkaufst du den Ring eben auch noch.«

Unter ihm explodierte ein Vulkan.

Das Bett knarrte heftig, aber nicht aus Wollust.

*

Bankside verabschiedete die scheidenden Thespisjünger auf liebenswertere Weise. Nicholas Bracewell setzte nächtliche Freuden nicht so leichtfertig aufs Spiel. Weil solche Ereignisse selten in seinem Leben waren, hatte er sich dazu erzogen, sie einfach zu genießen und jeden Gedanken an die Welt um ihn herum zu verbannen. Erst danach - als sie beide in träger Haltung Seite bei Seite auf dem Bett lagen - wandte er seine Gedanken der rauhen Wirklichkeit zu.

»Werdet Ihr in London bleiben, Anne?«

»Wenn die Pest nicht schlimmer wird.«

»Darauf deutet aber alles hin.«

»In diesem Fall besuche ich Verwandte auf dem Lande.«

»Ihre Cousinen in Dunstable?«

»Oder meinen Onkel in Bedford. Vielleicht sogar meinen Onkel in Nottingham. Ich besuche einen, zwei oder sogar alle drei, bevor ich hierbleibe und mir die Pest hole.«

»Meint Ihr vielleicht mich damit?«

»Ich bekomme Fieber, wenn Ihr in meiner Nähe seid, Nick.«

Anne Hendrik war eine der ungewöhnlicheren Bewohnerinnen von Bankside. In einer Gegend, die für ihre Bordelle, Spielhöllen, Bierschwemmen und ihr billiges Nachtleben berühmt war, besaß sie ein achtbares Haus und ein erfolgreiches Geschäft. Sie war geborene Engländerin, Witwe von Jakob Hendrik, einem gewissenhaften Holländer, der als gelernter Hutmacher nach London gekommen war, nur, um schon bald zu entdecken, daß die städtischen Zünfte alles dransetzten, um ihn und seine Landsleute von ihrer eifersüchtigen Vereinigung fernzuhalten. So war er gezwungen, sich mit seinem Geschäft außerhalb der Stadtgrenzen niederzulassen, machte Southwark zu seinem Zuhause und Anne zu seiner Frau.

In ihrer fünzehnjährigen, glücklichen Ehe hatten sie keine Kinder bekommen. Anne erbte ein schönes Haus, ein florierendes Geschäft und die Überzeugung ihres Gatten, daß Arbeit an sich Wert und Würde verlieh. Außerdem erbte sie Nicholas Bracewell.

»Welche Ortschaften werdet Ihr besuchen?« fragte sie.

»Die Einzelheiten müssen noch entschieden werden.«

»In welche Richtung reist Ihr?«

»Nach Norden, Anne.«

»Vielleicht kommt Ihr dann ja auch einmal nach Dunstable?«

»Oder nach Bedford, oder nach Nottingham. Oder wo Ihr sonst eventuell sein könntet. Wenn ich im selben Bezirk bin wie Ihr, werde ich eine Möglichkeit finden, Euch zu treffen.«

Anne küßte ihn zärtlich auf die Wange und kuschelte sich an ihn. Während der Zeit, in der er in ihrem Haus gewohnt hatte, war Nicholas mehr als ein Freund geworden. Nur gelegentlich teilten sie das Bett miteinander, doch waren ihre Leben dennoch eng miteinander verknüpft. Er fühlte sich zu der großen, anmutigen, attraktiven Frau hingezogen, die einen so erfrischenden Eindruck von Unabhängigkeit machte, und sie ließ sich von seinem Humor, seiner Klugheit und ruhigen Kraft faszinieren. Noch nie hatte sie jemanden getroffen, der trotz seiner vielen guten Eigenschaften so bescheiden war. Obwohl er bei der Theatergesellschaft nur angestellt war, hatte Nicholas sich unersetzlich gemacht und Pflichten und Aufgaben übernommen, die normalerweise nicht zur Arbeit eines Regisseurs gehörten.

Anne, die sich für das Theater interessierte, nahm lebhaften Anteil an allen Vorgängen bei Westfield's Men und war über die wechselnde Mannschaft gut informiert. Sie hatte die letzte Vorstellung des »Beständigen Liebhabers« besucht und wollte jetzt wissen, wer aus dem Ensemble mitgehen würde.

»Wie groß wird Eure Gruppe sein, Nick?«

»Gerade mal fünfzehn Personen.«

»Das setzt aber einschneidende Maßnahmen voraus.«

»Master Firethorn hat einen schnellen Schnitt gemacht.«

»Und wer ist diesem Schnitt zum Opfer gefallen?«

»Viel zu viele, fürchte ich.«

»George Dart?«

»Nein, den habe ich gerettet.«

»Thomas Skillen?«

»Bei ihm war ich machtlos.«

Nicholas schüttelte traurig den Kopf. Bei der Auswahl der Leute, die in der Gruppe bleiben sollten, hielt Lawrence Firethorn engen Kontakt mit seinem Regisseur. Sie hatten stundenlang diskutiert, und Nicholas hatte heftig um bestimmte Leute gekämpft, wenn auch nicht in jedem Fall mit Erfolg. Die letzte Entscheidung oblag dem Ersten Schauspieler, und der traf sie mit brutaler Konsequenz, ohne sich von Sentimentalitäten oder Mitleid beeinflussen zu lassen. Es war allerdings Nicholas' Aufgabe, seinen guten Freunden die bittere Nachricht zu überbringen, daß man ihrer Dienste in Zukunft nicht mehr bedürfe — das war eine schwere Bürde gewesen.

Thomas Skillen war solch ein Fall. Der Bühnenarbeiter war beim Theater alt geworden, verläßlich wie ein Fels, doch sein hohes Alter und sein Rheumatismus sprachen gegen ihn. Jetzt brauchte man jüngere Burschen und geschicktere Hände. Peter Digby war ein weiteres Opfer. Als Leiter der Musikantengruppe war er bei jeder Vorstellung eine wichtige Persönlichkeit gewesen, doch seine Rolle war bei einer Tournee ein Luxus, den man sich nicht mehr leisten konnte. Schauspieler, die gleichzeitig Musikanten waren, wurden wegen ihres »Doppelnutzens« bevorzugt. Hugh Wegges, Kostümmeister der Gesellschaft, würde zusehen müssen, wie einige seiner besten Kostüme die Stadt verließen, während er zurückblieb. Seine überragenden Fähigkeiten mit Nadel und Faden reichten nicht aus, um seine Teilnahme zu rechtfertigen. Nathan Curtis, Zimmermann, fiel ebenfalls durchs Netz. Nur wenige Bühnenbildner und Requisiten sollten mit auf die Reise gehen, da war seine Könnerschaft nicht mehr vonnöten.

Und so war es auch bei vielen anderen. Nicholas hatte sich bemüht, ihnen die schlimme Nachricht so schonend wie möglich beizubringen, doch das verhinderte weder Tränenausbrüche, offene Verzweiflung noch bittere Vorwürfe. Über viele, die er im Laufe der Zeit schätzen gelernt und als Kollegen bewundert hatte, sprach er ein Todesurteil aus. Das machte ihm schwer zu schaffen.

»Was ist mit Christopher Millfield?« fragte Anne.

»Ah! Da hat es allerdings heftigen Streit gegeben.«

»Ich würde ihn Gabriel Hawkes vorziehen.«

»Aber nur, weil Ihr ihn nicht so gut kennt wie ich.«

»Im beständigen Liebhaben zeigte er das bessere Talent.«

»Das eindrucksvollere, das gebe ich zu«, sagte Nicholas. »Das trifft auf Christopher zu. Er weiß, wie er sich auf der Bühne die Aufmerksamkeit sichert und legt viel Leidenschaft in sein Spiel, aber dennoch glaube ich, daß Gabriel der bessere Mann ist. Er lernt seine Rolle schneller als jeder andere in der Gruppe und bringt einen kühlen Kopf mit zur Arbeit.«

»Habt Ihr das Master Firethorn gesagt?«

»Immer wieder.«

»Und mit welchem Ergebnis?«

»Er tendierte zu Christopher.«

»Dann war Ihr Spiel verloren.«

»Nicht ganz, Anne. Ich brachte ihm etwas in Erinnerung, das ihn veranlaßte, nochmals über die Sache nachzudenken.«

»Was denn?«

»Daß Christopher vielleicht den sprühenderen Charme hat, dafür aber auch die größere Eigensucht. Falls irgend jemand an Master Firethorns Glanz rühren könnte, dann würde es nicht Gabriel Hawkes sein. Der ist der sichere Mann.«

»Ein kluger Schachzug«, sagte Anne lächelnd. »Ich verstehe schon, wie das bei Master Firethorn wirkte. So steht die Sache also? Wird Christopher Millfield die Gruppe verlassen?«

»Nicht ohne Verbitterung«, sagte Nicholas. »Als ich ihm die Entscheidung mitteilte, war er absolut perplex und stieß finstere Drohungen aus. Er hat es als gewaltige Beleidigung aufgefaßt. Das könnte noch Probleme hervorrufen. Es macht keinen Spaß, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein.«

»Aber für einige hattet Ihr ja auch gute Nachrichten.«

»Allerdings. Ich habe Trauer und Freude gleichzeitig gebracht.«

»War Gabriel Hawkes überwältigt?«

»Ich habe ihn noch nicht persönlich gesehen, Anne. In den beiden letzten Tagen ist er krank gewesen. Aber ich habe ihm die Nachricht zukommen lassen. Er weiß von seinem Glück.«

»Das wird ihn aus dem Krankenbett herausholen.«

»Hoffentlich.«

»Das klingt aber nicht besonders sicher.«

»Doch, doch«, sagte Nicholas und schüttelte die Befürchtungen von sich. »Gabriel ist die vernünftigere Wahl, das wird er auf unserer Reise beweisen. Es gibt niemand in der ganzen Gruppe, den ich ihm vorziehen würde. Ich gehe ihn morgen besuchen und erkläre ihm das.«

»Wieso habt Ihr eine so gute Meinung von ihm?«

»Das ist ja gerade das Merkwürdige an der Geschichte. Ich weiß es nicht.«

*

Smorrall Lane war nur ein paar hundert Meter von Anne Hendriks Haus entfernt, dennoch lagen Welten dazwischen. Die enge, gewundene, schmutzige Gasse bestand aus einer Reihe verdreckter und heruntergekommener Gebäude, die sich altersschwach aneinanderlehnten wie erschöpfte Freunde. Bordelle, Kneipen und Bratküchen zogen eine untere Klasse von Kunden an, und die, die nächtens durch diese Gasse wankten, waren meistens stockbesoffen oder am Ende ihrer Kräfte. In finsteren Winkeln lauerten Diebe und warteten auf leichte Beute. Frauen boten sich in Toreinfahrten an. Blut mischte sich oft mit Urin und Exkrementen, die auf dem Pflaster Lachen bildeten. Smorrall Lane war leicht zu finden - durch seinen widerlichen Gestank.

Der große, elegant gekleidete junge Mann, der in dieser Nacht durch die Gasse schlich, war keiner der üblichen Besucher. Angewidert rümpfte er die Nase, schritt schnell aus und stieß zwei Betrunkene zur Seite, die gegen ihn taumelten. Als er das Haus erreichte, das er gesucht hatte, blickte er nach oben und entdeckte einen schwachen Lichtschein hinter dem Fenster des zur Straße gelegenen Schlafzimmers. Sein Opfer war zu Hause.

Er klopfte an die Tür, erhielt jedoch keine Antwort. Er sah sich auf der Gasse um, ob er beobachtet wurde, dann glitt er ins Haus und hustete, als er den Staub einatmete. Rasch fand er die Treppe und schlich verstohlen auf ihren knarrenden Stufen nach oben. Er klopfte an die Schlafzimmertür, doch auch diesmal kam keine Antwort. Alles, was er hörte, war ein röchelndes Schnarchen.

Das paßte in seinen Plan. Vorsichtig öffnete er die Tür, glitt ins Zimmer und trat zu der ausgestreckten Gestalt unter den zerlumpten Laken. Der Gestank nach Verwesung stach in seine Nase und drehte ihm den Magen um, brachte ihn jedoch nicht von seinem Ziel ab. Er hockte sich rittlings über den Schläfer, packte ihn mit festem Griff am Hals und drückte mit aller Kraft zu. Der Widerstand war nur schwach. Sein ohnehin geschwächtes Opfer hatte kaum die Kraft, um mit den Armen um sich zu schlagen, und schon bald hingen sie leblos herab.

Der Besucher verschwand aus dem Raum und tauchte wieder vor dem Haus auf. Mit einem Stück Holzkohle schrieb er etwas an die zerschrammte Haustür.

HERR, ERBARM DICH UNSER.

Dann sah er noch einmal zu dem schwach erleuchteten Fenster hinauf.

»Lebewohl, Gabriel. Ruhe sanft mit den anderen Engeln.«

Загрузка...