2. KAPITEL

Miles Melhuish glaubte unbedingt an die Macht des Gebetes. Als Pfarrer von St. Stephen hatte er die beste Gelegenheit, seinen Glauben auf die Probe zu stellen, und der hatte ihn niemals enttäuscht. Gebete hatten Seelen gerettet, Krankheiten geheilt, Tragödien gemildert, er hatte Zuspruch gegeben, die Führung des Himmels bewahrt und seine Gemeinde von sorgenvollen Gedanken befreit. Wenn sein geistliches Amt ihm etwas bewiesen hatte, dann war es die Erkenntnis, daß zehn Minuten auf den Knien viel wirkungsvoller waren als eine Stunde stehend in der Kanzel. Das war der erste Satz in seinem persönlichen Glaubensbekenntnis. Indem er in aller Bescheidenheit mit Gott direkt sprach, erreichte er unendlich mehr, als wenn er die Bürger von Nottingham mit seinen Predigten gepeinigt hätte. Er war ein guter und nachdenklicher Hirte, und seine Schäfchen profitierten davon.

Seine zehn Jahre in der Pfarrei hatten ihn mit allen nur erdenklichen Problemen und Anblicken konfrontiert, doch nichts ließ sich mit dem vergleichen, was ihm jetzt bevorstand. Als er in einer Haltung glückseliger Unterwerfung vor seinem Altar kniete, sandte die sinkende Sonne verklärende Strahlen durch die bleiverglasten bunten Fenster, tauchte sein rundliches Gesicht in ein sanftes Glühen und umgab seinen kahlen Schädel mit einem goldenen Kranz. Als seine Gebete zu Ende waren, zog er sich am Altargitter hoch und beugte die Knie mit würdevoller Behäbigkeit.

Das Geräusch von Schritten ließ ihn sich umdrehen.

»Nun, Humphrey! Was soll diese Hast?«

»Ich muß Euch sprechen, Sir!«

»Das könnt Ihr auch, ohne wie ein ausgebrochener Stier hier hereinzustürmen. Dies ist das Haus Gottes, Humphrey, in dem wir uns mit entsprechendem Respekt zu bewegen haben. Bleibt dort, Mann.«

»Ich gehorchte Euch aufs Wort.«

»Und kommt wieder zu Atem, guter Mann.«

Humphrey Budden lehnte sich an eine Kirchenbank und atmete schwer. Er war ein großer, breitgebauter Mann mit blühender Gesichtsfarbe, der weiter gerannt war, als es seinen Beinen und Lungen guttat; er war schweißgebadet. Miles Melhuish ging durch den Mittelgang auf den schweißglänzenden Mann zu und überlegte, welche Art von Ereignis dieses untypische Verhalten hervorgerufen hatte. Budden war in der Stadt eine respektierte Person, ein gewissenhafter Hersteller von Spitzen, der dazu beigetragen hatte, daß Nottingham in diesem Gewerbe seinen hervorragenden Platz behielt. Seit seiner Heirat im letzten Jahr war er der glücklichste Mann weit und breit, ehrlich, umgänglich, aufrecht, ein regelmäßiger Kirchgänger, der häufig großzügig spendete. Doch es war genau dieser Humphrey Budden, der jetzt keuchend Luft holte und wie ein Schwein am Spieß schwitzte.

Der Pfarrer legte ihm tröstend einen Arm um die Schulter.

»Fürchte nichts, mein Sohn. Gott ist bei dir.«

»Ich brauche dringend seine Hilfe.«

»In welcher Sache, Humphrey?«

»Ich kann mich kaum dazu zwingen, Euch darüber zu berichten.«

»Beistand ist dir sicher.«

»Ich hab' das Geräusch noch in den Ohren.«

»Welches Geräusch?«

»Und der Anblick zermartert mir die Seele.«

»Du zitterst ja noch vor Schreck.«

»Ich kam auf schnellstem Weg hierher, Sir. Gott ist meine letzte Rettung.«

»Wie kann Er dir helfen?«

Humphrey Budden biß sich verlegen auf die Lippen und räusperte sich. Es war viel einfacher, seine Sache in die Kirche zu bringen, als sie dort auch vorzutragen. Die Worte sträubten sich.

Miles Melhuish versuchte, ihm vorsichtig auf die Sprünge zu helfen.

»Hast du Schwierigkeiten, mein Sohn?«

»Ich nicht, Sir.«

»Deine Frau?«

»Allerdings.«

»Was macht der guten Frau zu schaffen?«

»Oh, Sir…«

Humphrey Budden begann hilflos zu weinen. Das Unglück, das ihn so ungestüm in die Kirche geführt hatte, hatte ihn der Sprache beraubt. Der Pfarrer schob ihn sanft in die Bank, setzte sich neben ihn und sprach stumm ein Gebet. Nach und nach gewann Budden die Kontrolle über sich zurück.

»Erzähl mir von Eleanor«, sagte der Priester.

»Ich liebe sie so sehr!«

»Ist vielleicht ein Unglück passiert?«

»Schlimmer, Sir.«

»Guter Gott! Ist sie dahingeschieden?«

»Sogar noch schlimmer als das.«

Melhuish holte die Geschichte aus ihm heraus. Selbst in der verworrenen Fassung war sie so schrecklich, daß der geistliche Herr seinen Umfang und seinen Aufenthaltsort vergaß. Er hob seinen Bauch mit beiden Händen an und lief schnellen Schrittes auf die Kirchentür zu, Budden dicht auf den Fersen. Sie rannten auf den Kirchhof und verließen ihn durch eine Pforte, die sie zur Angel Row brachte. Das Haus war nur ein paar hundert Meter entfernt, und obwohl die Anstrengung beide an den Rand der Erschöpfung brachte, legten sie keine Pause ein. Trotz ihres keuchenden Atems hörten sie ein Geräusch, das ihnen das Blut beinahe gerinnen ließ, und verdoppelten ihre Schritte.

Es war der Schrei einer Frau. Nicht der plötzliche Aufschrei von jemand, der großen Schmerz erleidet, auch nicht der gequälte Schrei der Sorge. Es war das unheimliche, anhaltende, schrille Heulen eines wilden Tieres, so intensiv und unnatürlich, daß es kaum aus einer menschlichen Kehle kommen konnte. Budden öffnete die Haustür und führte den Priester in einen Raum, in dem sich bereits einige Personen aufhielten. Vier verschreckte Kinder versteckten sich hinter den Röcken einer alten Dienstmagd und starrten mit entsetzten Augen zur Zimmerdecke hinauf.

Humphrey Budden gab ihnen einen beruhigenden Klaps und ging mit seinem Besucher nach oben. Während dieser paar Sekunden betete Miles Melhuish so intensiv wie schon lange nicht mehr. Das Geräusch war herzzerreißend. Er mußte sich zwingen, dem geschlagenen Ehemann ins Schlafzimmer zu folgen. Welcher fürchterliche Anblick erwartete ihn dort?

Als seine Augen sahen, was vor ihnen lag, bekreuzigte er sich auf der Stelle.

»Gütiger Gott im Himmel!«

»Eleanor!« rief Budden. »Frieden, gute Frau!«

Doch sie hörte ihn nicht. Das Heulen ging mit unverminderter Intensität weiter, ihre Hände rissen an ihren Haaren. Melhuish war wie vom Blitz getroffen. Dort vor ihm kniete eine völlig nackte, dralle Frau in den Zwanzigern auf dem Boden, schwankte hin und her und starrte ein Kruzifix an der Wand an. Das lange blonde Haar fiel ihr über den Rücken, bis auf die runden, hübschen, zitternden Pobacken. Eine Szene, die gleichzeitig so furchterregend und erotisch war, daß Melhuish für ein paar Sekunden den Blick abwenden und seine Rechtschaffenheit zu Hilfe rufen mußte.

Eleanor Budden befand sich in den Klauen irgendeiner unentrinnbaren Leidenschaft. Als ihr Heulen noch schriller wurde, lagen Schmerz und Lust darin, erlittene Qualen und genossene Freuden, das Elend der Verdammnis und die Freude der Rettung. Der Mund, der das Geheul ausstieß, war grimassenhaft verzerrt, doch auf ihrem Gesicht war ein glückliches Leuchten.

»Eleanor«, sagte ihr Mann. »Sieh nur, wer gekommen ist.«

Er winkte den Priester näher, bis dieser zwischen der Frau und dem Kruzifix stand. Sofort zeigte sich eine Wirkung. Das Geheul brach ab, ihr Mund schloß sich, die Hände berührten ihre Seiten, und ihr Körper schwankte nicht mehr. Das ohrenzerreißende Geheul wurde durch eine unheimliche Stille ersetzt, die fast genauso schlimm war.

Eleanor Budden blickte mit ehrfürchtigen Augen und einem Lächeln zu dem Priester auf. Endlich war das Fieber von ihr gewichen. Beide Männer wagten es, sich ein wenig zu entspannen, doch das war entschieden zu voreilig. Ein neuer Anfall packte sie. Sie warf sich nach vorne, packte den Pfarrer um die Hüften und wühlte ihr Gesicht in sein massiges Fleisch. Dabei stieß sie Töne aus, die als leises Winseln der Erregung begannen und sich rasch steigerten bis zu einem Schrei reiner Lust. Ihre starken Hände packten seine Pobacken, weiche Brüste drängten sich gegen seine Schenkel, gierige Lippen wühlten in seinem Schoß. Das Geräusch steigerte sich bis zum Höhepunkt, endete in einem Seufzer der puren Fleischeslust und ließ ihren Körper voller Leidenschaft erzittern.

Dann brach sie bewußtlos auf dem Boden zusammen.

Miles Melhuish betete immer noch hektisch.

*

Der Tod holte sich täglich seine Beute in den Straßen der Stadt und riß geliebte Menschen ins frühe Grab, doch die Bürger Londons hatten immer noch nicht genug. Stündlich überwältigte Trauer die Familien, doch immer noch gab es genug makabres Interesse, um große Menschenmengen auf den Weg nach Tyburn zu bringen, wo die Exekution stattfand. Todtraurige Menschen, die schmerzgebeugt neben den Sterbebetten gesessen hatten, fanden Entspannung, als sie sich in der Nähe des Galgens zusammendrängten. Eine öffentliche Hinrichtung war etwas wie eine Feier. In der brutalen, aber legalisierten Tötung irgendeines armseligen Kriminellen fanden sie eine merkwürdige Befriedigung und schickten ihn mit sadistischem Geheul auf seine letzte Reise. Was ihnen als brutale, eindringliche Warnung dienen sollte, wurde zu einer Quelle der Belustigung.

Jeder bemühte sich, einen möglichst guten Platz zu erwischen.

»Tretet ein bißchen zur Seite, mein Herr, wenn ich bitten darf.«

»Aber selbstverständlich, Mistress.«

»Ich kann nichts außer Euren breiten Schultern sehen.«

»Kommt und stellt Euch vor mich.«

»Laßt mich hier durch.«

»Fester schieben, Mistress.«

Der großgewachsene junge Mann schob sich nach links, um für die alte Frau etwas Platz freizumachen. Aber obwohl sie durch dichtes Getümmel bis mitten ins Zentrum der Menschenansammlung vorgedrungen war, konnte sie immer noch nichts erkennen. Der junge Mann zuckte zurück, als er ihren ekelhaften Mundgeruch wahrnahm, doch ihre Ausdünstung vermischte sich rasch mit dem allgemeinen Gestank der Masse. Sie war eine Frau vom Land, trug einen Korb am Arm und zeigte durch ihre gebeugten Schultern, daß sie ein hartes Arbeitsleben hinter sich hatte. Ihre Lippen verzerrten sich zu einem zahnlosen, erwartungsvollen Grinsen.

»Seid Ihr weit hergekommen, Mistress?«

»Zehn Meilen oder noch mehr, Sir.«

»Den ganzen Weg für eine Hinrichtung?«

»Dafür würd' ich sogar zwanzig laufen.«

»Wißt Ihr, wer hier gehängt werden soll?«

»Ein Verräter, Sir.«

»Aber wie ist sein Name?«

»Der tut nichts zur Sache.«

»Für ihn bedeutet er aber viel.«

»Der bedeutet überhaupt nichts.«

»Ihr lauft zehn Meilen für jemand, der Euch vollkommen unbekannt ist?«

»Jawohl, Sir«, sagte sie mit bösartigem Vergnügen. »Den Tod für alle Verräter! Ich will sehen, wie sie ihm den Schwanz abschneiden!«

Rufe wurden laut, als sich der Henkerskarren dem Galgen näherte. Der Verurteilte hockte auf dem Boden, die Arme auf dem Rücken gefesselt, zwei Kerkermeister neben sich. Selbst in dieser erniedrigenden Haltung besaß er noch eine zerknitterte Würde. Zerlumpt, ungekämmt und von der Folter verstümmelt - dennoch machte er den Eindruck eines echten Edelmannes. Seine offensichtliche Gelassenheit im Angesicht des Todes reizte die Zuschauer zu wütendem Geschrei. All ihre Angst, ihr Haß, Zorn und Verzweiflung brachen in dem lauter werdenden Wutgeheul aus ihnen hervor.

Der junge Mann zeigte keine Regung, er betrachtete all das mit einer Art desinteressiertem Vergnügen. Der Gerechtigkeit wurde ohne Verzug zu ihrem Recht verholfen. Der Gefangene wurde auf die Plattform gehoben, wo ihm sein Urteil vorgelesen wurde. Dann bot man ihm den kurzen, tröstenden Besuch eines Priesters an, der seine Seele auf das vorbereiten sollte, was ihm bevorstand. Als er das ablehnte, wurde er dem Henker und seinem Gehilfen übergeben, vermummten Ungeheuern mit muskulösen Armen und der Fähigkeit, den Tod hinauszuzögern. Sie wußten, was sie zu tun hatten, und machten sich zügig an die Arbeit. Der Gefangene fing an, etwas in lateinischer Sprache zu rezitieren, doch seine Stimme ging im Gejohle des Mobs unter. Seine Lippen bewegten sich schwach, als man ihm die Schlinge um den Hals legte.

Der Strick wurde fest angezogen und überprüft, dann wurde der Hebel betätigt, der die Falltür öffnete und ihn einen ersten Blick in die Hölle werfen ließ. Sein Körper versteifte sich, als der Ruck ihn durchfuhr, dann zuckten seine Beine und Schultern, sein Mund öffnete sich, sein Gesicht wurde dunkelrot, und jede Ader und Sehne schien durch die Haut bersten zu wollen. Es war ein gräßlicher und widerlicher Anblick, doch den Zuschauern gefiel die Vorstellung, sie lachten, schrien und winkten dem Opfer mit sadistischer Fröhlichkeit und steigerten sich in eine bösartige Hysterie. Und in diesem Taumel vergaßen sie die Probleme ihres eigenen Lebens, während sie heiteren Sinnes der Hinrichtung zusahen.

Der Körper zuckte lange Zeit und schwang hin und her, bevor die Henker Zugriffen. Das Opfer schien sein Leben ausgehaucht zu haben, seine Augen waren geschlossen, sein Mund geöffnet, der Hals halb gebrochen. Zorniges Geschrei erhob sich aus der Meute, die sich um das Hauptvergnügen geprellt fühlte. Doch die Henker hatten keine Pfuscharbeit geleistet. Als das Opfer vom Strick abgeschnitten wurde, bewegte es sich kurz und stieß einen Seufzer aus. Der junge Mann war durchaus in der Lage, zu erkennen, was als nächstes geschah. Unter seinen geschwollenen Lidern warf er seinen Peinigern einen anklagenden Blick zu. Es war offensichtlich, daß er die Henkersknechte bestochen hatte, damit sie ihn am Galgen sterben ließen und ihm die weiteren Qualen ersparten, die zu seinem Urteil gehörten.

Die Henker hatten sein Geld mit ernstem Gesicht genommen und leichtfertig vergessen, was sie ihm versprochen hatten.

Der Verräter wurde das Opfer eines weiteren Verrats.

Man riß ihm die Kleider vom Leib und kastrierte ihn mit einem blitzenden Messer, was die Massen in noch größere Blutrünstigkeit versetzte. Jetzt folgte das rituelle Ausweiden. Die Henker schlitzten seinen Leib auf und rissen ihm die Eingeweide heraus, um sie vor seinen Augen zu verbrennen. Als sie mit der blutigen Leiche nichts mehr anfangen konnten, köpften sie den Kadaver und vierteilten ihn. Schließlich kam die systematische Schlächterei zu einem Ende. Die Zuschauer waren mit der Vorstellung zufrieden.

*

Christopher Millfield erlaubte sich ein schwaches Lächeln.

London war in Schweiß gebadet. Die faulige Verseuchung verbreitete sich im Gewirr seiner Straßen und Gassen. Den ganzen Tag läuteten die Glocken zu Totenmessen, Priester hetzten von einem Haus des Todes zum nächsten. Leichenbestatter verdienten ein Vermögen, und eine wurmzerfressene Generation von Kirchendienern scheffelte Geld, indem sie das Elend der Hinterbliebenen ausnutzte und die Beerdigungsgebühren erhöhte. Aasgeier mästeten sich an den verendeten Körpern ihrer Mitmenschen.

Die Flucht aus der Stadt nahm zu.

»Ich hasse es, die Stadt zu verlassen, Nick.«

»Hier können wir doch nicht bleiben.«

»Wo sie ist, da muß auch ich sein.«

»Das seid Ihr ja auch, Edmund«, sagte sein Freund. »Wenn sie Eure Verse hat, hält sie Euer innerstes Wesen in der Hand.«

»Daran hatte ich noch nicht gedacht.«

»Dann denkt jetzt dran. Eure Abwesenheit macht ihr Herz nur noch zärtlicher, und mit hübschen Briefen und zärtlichen Gedichten könnt Ihr diese Zärtlichkeit noch steigern. Eure Feder muß ihr das sagen, was Eure Lippen ihr nicht sagen können.«

»Das klingt wirklich tröstlich.«

»Umwerbt sie aus jedem Ort in ganz England.«

»Welch ein Willkommen werde ich erleben, wenn ich zu ihr zurückkehre!«

Edmund Hoode strahlte. Es war immer hilfreich, mit Nicholas Bracewell über persönliche Probleme zu sprechen. Der Regisseur war ein Mann von Welt und besaß großes Verständnis für die wunderlichen Launen der Liebe. Seine Ratschläge waren immer vernünftig, sein Mitgefühl grenzenlos. Hoode hatte schon häufig Grund zu Dankbarkeit gehabt, und auch jetzt überkam ihn dieses Gefühl. Nicholas hatte ihm bewiesen, daß ein beglückender Kompromiß möglich war. Es war keine Desertion, die Stadt zu verlassen. Er konnte auch aus der Ferne das Herz seiner Angebeteten umwerben. Das würde ihm exquisite Schmerzen der Einsamkeit bescheren und den Zauber der Erfüllung noch steigern. Wenn er nach London zurückkehrte.

»Ich werde ihr sofort ein Sonett schicken«, beschloß er.

»Ihr habt nur noch den heutigen Tag, um es zu schreiben.«

»Heute den Tag und die Nacht dazu, Nick. Ich opfere ihrem Dienst jeden Gedanken an Schlaf. Meine Muse hilft mir am besten im Dunkel der Nacht.«

»Erschöpft Euch nicht vollständig, Edmund. Morgen beginnt eine lange Reise.«

»Ich beginne sie in bester Verfassung.«

»Das höre ich gerne.«

»Könnte der liebe Gabriel doch nur mit uns ziehen!«

»Auch ich hatte diese Hoffnung gehabt.«

An einem schwülen Vormittag wanderten die beiden Männer durch Bankside. Sie hatten einen unerfreulichen Auftrag. Fliegenschwärme schwebten über Abfallhaufen, Ratten wühlten in verrottenden Essensresten. Als die beiden Freunde den schmutzigsten Teil des ganzen Bezirks betraten, sahen sie Zeichen des Todes und des Verfalls auf allen Seiten. Sie waren schockiert bei dem Gedanken, daß einer ihrer Kollegen gezwungen gewesen war, in einem solchen Gehege vermodernder Menschlichkeit zu leben. Gabriel Hawkes hatte auf der Bühne glanzvolle Prinzen dargestellt, doch sein Privatleben war das eines armseligen Schluckers gewesen.

Sie kamen gerade rechtzeitig. Als sie in die Smorrall Lane einbogen, sahen sie den Leichenkarren, der bereits randvoll mit gräßlicher Fracht beladen war. Der Karren hielt vor einer Tür, die mit einem blauen Kreuz gekennzeichnet war, und eine weitere Leiche wurde aufgeladen. Dann rumpelte der Karren zu dem Haus, in dem Gabriel Hawkes gewohnt hatte. Es war mit Brettern verrammelt, und die Schrift an der Tür zeigte, daß die Pest auch in diesem Haus gewohnt hatte. In ein schmutziges Leichentuch gehüllt, wurde der Körper unsanft aus dem Haus geschleppt und auf den Karren geworfen.

Nicholas trat vor, um zu protestieren.

»Ein bißchen sanfter, Sirs!« sagte er.

»Verschwindet!« schnarrte der Fuhrmann.

»Das ist unser Freund, den Ihr da so unsanft behandelt.«

»Das ist eben unser Geschäft.«

»Erledigt Eure Arbeit mit etwas mehr Achtung.«

Der Kutscher stieß ein krächzendes Spottgelächter aus und schlug mit den Zügeln auf die Rücken der beiden Pferde. Rumpelnd bewegte sich der Karren die Gasse hinunter. Er hatte seine Ladung jetzt beisammen und machte sich auf den traurigen Weg zu einem Stück Brachland, jenseits des Gassenlabyrinths. Nicholas und sein Freund folgten dem Wagen die ganze Strecke, denn sie wollten bei der Beerdigung ihres früheren Kollegen zugegen sein. Sie beide hatten Gabriel Hawkes so geschätzt, daß sie für seinen Verbleib in der Tournee-Gruppe plädiert hatten, und es tat ihnen weh, daß ihre glücklichen Erinnerungen durch das getrübt wurden, was sie jetzt mit eigenen Augen ansehen mußten. Ein Ausbund an Witz, Wärme und echtem Talent lag jetzt im Leichentuch vor ihnen.

Der Karren hielt ächzend neben einer breiten Grube, in der noch die Totengräber bei der Arbeit waren. Frisch aufgeworfene Erdhügel zeigten, daß andere Gruben bereits gefüllt worden waren. Die Opfer der Pest mußten tief in den Boden gebettet werden, damit die Seuche nicht durch das Erdreich nach oben dringen konnte. Der Fuhrmann und sein Helfer luden die Leichen mit dem gleichen Interesse ab, als wenn es sich um Kartoffelsäcke gehandelt hätte. Die Menschen wurden von dem Karren gezerrt und am Rand der Grube niedergeworfen, um auf ihren letzten Ruheplatz zu warten.

Nicholas Bracewell und Edmund Hoode waren weit genug entfernt, um dem schlimmsten Leichengeruch zu entgehen, doch nahe genug, um die Kreatur beobachten zu können, die aus ihrem Versteck unter einem Busch hervorkroch. Der Mann war klein, zerlumpt und struppig, nach seinem äußeren Eindruck alt, doch von der Behendigkeit eines Affen. Während der Fuhrmann und sein Helfer ihm den Rücken kehrten, fummelte die Gestalt zwischen den Leichentüchern herum, als wisse sie genau, was es dort zu holen gab. Mit einem Messer schlitzte der Kerl die Tücher auf, suchte hier, wühlte dort, bis er mit seiner unverschämten Plünderei eine umfangreiche Beute gemacht hatte. Als er sich gerade über die Leiche von Gabriel Hawkes beugen wollte, fuhr Nicholas Bracewell dazwischen.

Er sprang blitzschnell vor, jagte den Kerl zu dem Busch zurück, hinter dem er hervorgekrochen war, und sprang ihn an, um ihn zu Fall zu bringen. Sie rollten auf dem Boden herum. Ein Messer blitzte vor Nicholas' Gesicht, doch das konnte ihn nicht zurückhalten. Jahre zur See und unter rauflustigen Seeleuten hatten ihn gelehrt, wie man sich bei einem Kampf zu verhalten hatte; rasch war der Bursche entwaffnet. Gleichzeitig jagte er ihm mit einem Schlag in den Magen die Luft aus den Rippen. Hoode kam angerannt, um ihm zu helfen.

Der Mann zog sich mit entschuldigendem Wimmern zurück. »Laßt mich in Ruhe, Ihr guten Herren. Ich tue nichts Böses.«

»Leichenfledderei ist eine Sünde und ein Verbrechen«, sagte Nicholas. »Ihr habt die Leiche unseres Freundes ausgeplündert.«

»Ihn stört das nicht mehr.«

»Aber uns.«

»Behandelt mich gerecht«, sagte der Mann und hockte sich auf den Boden. »Ich nehme nur von denen, die nichts mehr brauchen. Alles würde nur in einer Grube voller Lehm landen, wozu sollte das gut sein. Es ist besser, wenn sich die Lebenden damit helfen, als wenn es mit den Leichen in der Grube liegt.«

»Ihr seid ein widerlicher Bursche«, sagte Hoode.

»Die Not zwingt mich dazu, Sir.« Er klang jetzt fast munter. »Die Pest bedeutet für mich Essen und Trinken. Das ist die einzige Möglichkeit, wie wir armen Leute mal für einen Tag reich sein können. Wir leben von den Verstorbenen. Das ist unser Gewinn. Wenn sie nackt sind, können wir uns bekleiden. Wenn sie hungrig sind, können wir essen. Ihre Krankheit sorgt für unsere Gesundheit.«

»Gebt mir zurück, was Ihr ihm weggenommen habt«, verlangte Nicholas.

»Das gehört mir.«

»Den größten Teil könnt ihr behalten. Ich will nur das, was Ihr von der letzten Leiche weggenommen habt. Das war ein guter Freund von uns.«

»Aber nicht von mir«, sagte der Mann schnippisch. »An ihm war überhaupt nichts, was ich hätte nehmen können. Wirklich eine armselige Leiche!«

Nicholas machte Schluß mit weiteren Diskussionen. Er packte den Mann an seinem Bart und riß ihn heftig daran hin und her, bis die Kreatur um Gnade bat.

»Los jetzt, Sir. Gebt mir, was Ihr weggenommen habt.«

Der Mann spuckte wütend aus und öffnete langsam seine geballte linke Hand. Da lag der winzige, juwelenbesetzte Ohrring, den Gabriel Hawkes zu tragen pflegte. Er blitzte in der schmutzigen Hand des Diebes. Nicholas nahm den Ohrring und stand auf, um ihn sich genauer anzusehen. Weder er noch Edmund Hoode rührten sich, als der Mann den Rest seiner Beute ergriff und sich davonmachte.

Die beiden Freunde wechselten einen Blick. Wenigstens diese letzte Entwürdigung hatten sie Gabriel ersparen können. Er hatte in seinem Leben schon wenig genug besessen, er verdiente es nicht, daß man ihm das im Tode auch noch abnahm. Sie gingen zu der Grube zurück und sahen, daß die Leichen darin aufgehäuft wurden, bevor man schaufelweise Kalk über sie warf. Der Gestank war überwältigend, doch sie wandten sich nicht ab. Als sie in die offene Grabstätte blickten, sahen sie Dutzende der gequälten Körper kreuz und quer übereinanderliegen. Es war unmöglich, sie jetzt noch zu unterscheiden.

Nicholas warf den Ohrring in die offene Grube und sandte ein stilles Gebet zum Himmel. Edmund Hoode war von der brutalen Anonymität dieser Massenbeerdigung entsetzt.

»Wer davon ist Gabriel?« fragte er.

»Das weiß nur Gott allein.«

Sie blieben noch, bis die Arbeiter den schlimmen Anblick durch eine Erdschicht verbargen. Alles war so zweckmäßig und unpersönlich, beide waren tief erschüttert. Als sie sich endlich umwandten und zurückgingen, sprach keiner von ihnen ein Wort. Hoode unterbrach schließlich das lastende Schweigen.

»Was ist das doch für eine elende Krankheit!«

»Eine teuflische Seuche«, stimmte Nicholas zu.

»Ich rede nicht von der Pest.«

»Wovon denn dann?«

»Von dieser anderen tödlichen Krankheit. Sie hat Gabriel Hawkes niedergestreckt und wird auch uns niederstrecken, wenn die Zeit gekommen ist.«

»Was sagt Ihr da?«

»Ich rede vom Theater, Nick. Das Fieber im Blut, das jeden von uns dem Wahnsinn und unserem Grab nähertreibt.« Hoode lachte bitter auf. »Wer außer einem kranken Mann würde sich diesen Beruf aussuchen? Wir beide sind über jede Heilung hinaus infiziert. Wir haben den Bazillus falscher Hoffnungen und leeren Ruhms gefangen. Das Theater bringt uns noch alle um.«

»Nein«, sagte Nicholas. »Es erhält uns am Leben.«

»Aber nur, damit wir noch viel größere Leiden erdulden.«

»Der Tod unseres Freundes hat Euch schwer mitgenommen.«

»Er ist von seinem Beruf umgebracht worden.«

»Oder von jemand, der seinen Beruf hat.« Nicholas blieb stehen. »Gabriel Hawkes starb nicht einfach nur an der Pest. Die Seuche hätte ihn niemals so schnell dahingerafft, wenn es keine Mithilfe von anderer Seite gegeben hätte.«

»Hilfe?«

»Er ist ermordet worden, Edmund.«

*

Wie ein echter Schauspieler konnte Lawrence Firethorn der Versuchung nicht widerstehen, vor einem gebannten Publikum eine Rede zu halten. Westfield's Men waren an diesem Morgen im Queen's Head versammelt. Da dieser Gasthof ihre Heimat in London gewesen war, war es auch der richtige Ort, ihre Tournee zu beginnen. Die Gruppe versammelte sich in dem Raum, der bei Aufführungen als Kostümzimmer genutzt wurde. Ein großes Abenteuer stand ihnen bevor.

Alle waren da, auch Barnaby Gill, Rowland Carr, Simon Dowsett, Walter Fenby, der grinsende George Dart und Richard Honeydew sowie die anderen Schauspielschüler. Edmund Hoode saß bleich und trübsinnig am Fenster. Christopher Millfield lehnte in lässiger Haltung an einem Balken. Nicholas Bracewell stand im Hintergrund, weit genug weg, um der vollen Wucht von Firethorns Rede zu entgehen, dennoch nahe genug, um die Wirkung der Lektion auf die Mitglieder der Gruppe beobachten zu können.

Noch jemand befand sich im Raum, wie ein Geist bei einem Fest - das war der hohlwangige Alexander Marwood, der glücklose Wirt des Queen's Head. Klein, mager und allwöchentlich kahler werdend, hatte Marwood eine ungute Beziehung zu Westfield's Men, deren Kontraktverlängerung er regelmäßig als eine Folter betrachtete. Er empfand nicht das Geringste für das Drama an sich, hielt sogar die immer wieder erfolgende Invasion von Schauspielern und Theaterstücken für etwas so Entsetzliches, daß sein nervöser Gesichtstick nicht mehr zur Ruhe kam. Westfield's Men waren eine Gefahr für Haus und Hof, für seinen guten Ruf, für seine weiblichen Dienstboten und für seinen Verstand. Ohne sie ging es ihm bestimmt besser. Doch jetzt, als sie gingen und seinen Gasthof gegen die Landstraße eintauschten, jetzt, als sie seine Kneipe nicht fast jeden Nachmittag mit durstigen Zuschauern füllten, jetzt, als er vor seinem inneren Auge leere Schankräume, unverkauftes Bier und schwindende Gewinne sah - jetzt wurde ihm klar, daß sie in Wirklichkeit die Grundlage eines Lebensunterhalts gewesen waren.

»Verlaßt mich nicht«, sagte er wehleidig.

»Wir kommen ja wieder zurück, Master Marwood«, versprach Nicholas.

»Man wird die Gruppe sehr vermissen.«

»Wir gehen ja nicht freiwillig fort.«

»Diese Seuche ist wie ein Fluch auf uns!«

»Vielleicht hat sie aber auch etwas Gutes.«

Ein Gutes war es, dem trübseligen Wirt zu entkommen und seine endlose Litanei von Beschwerden nicht mehr hören zu müssen. Nicholas hatte nicht lange gebraucht, um diesen guten Aspekt zu entdecken. Er war derjenige, der am meisten mit Alexander Marwood zu verhandeln hatte und folglich auch am meisten unter seiner ewigen Melancholie litt. Das war eben eine der Pflichten, die Firethorn ihm listig zugeschoben hatte.

Der Erste Schauspieler stand auf und hob die Hand. Es wurde still. Er wartete eine volle Minute.

»Meine Herren«, begann er, »dies ist ein besonders wichtiger Tag in der Geschichte unserer Theatergesellschaft. Nachdem wir London bezwungen haben und uns die Stadt zu Füßen liegt, begeben wir uns jetzt auf eine triumphale Reise durch das ganze Königreich, um unsere Kunst noch weiter zu verbreiten. Westfield's Men haben eine heilige Aufgabe.«

»Und was ist mit mir?« winselte Marwood.

»Ihr habt ja schon Eure eigene Aufgabe, guter Herr.«

»Nennt sie mir.«

»Schlechtes Bier für gutes Geld zu verkaufen.«

Allgemeines Gelächter erfüllte den Raum. Jetzt, da sie das Gasthaus verließen, konnten sie es sich leisten, den übellaunigen Wirt zu verspotten. Er war kein beliebter Mann. Neben der heftigen Abneigung gegen die Schauspieler hatte er noch einen weiteren unangenehmen Fehler. Er bewachte die Keuschheit seiner halbwüchsigen Tochter entschieden zu streng.

»Unsere Abreise von hier ist nicht ohne Trauer«, sagte Firethorn. »Wir sind im Queen's Head lange Zeit willkommene Gäste gewesen, Master Marwood gebührt unser Dank für seine unbegrenzte Gastfreundschaft.«

Unterdrücktes Gelächter. Eines Tages würden sie wieder zurückkommen.

»Nur, wenn wir etwas hinter uns lassen, erkennen wir seinen wahren Wert. Das gilt auch für unser schönes Theater hier.« Firethorn umfaßte das ganze Gasthaus mit seiner Geste. »Wir werden es wegen seiner Wärme, seiner Magie und seiner vielen Erinnerungen vermissen. Aber gleichzeitig, Master Marwood, denke ich, daß Ihr Westfield's Men vermissen werdet, und hoffe, daß Ihr ein geisterhaftes Echo unserer Arbeit vernehmt, die wir hier geleistet haben, jedesmal, wenn Ihr über Euren Hof geht.«

Lawrence Firethorn schaffte das Unmögliche. Er schaffte es tatsächlich, dem Auge des Gastwirtes eine Träne zu entlocken. Jetzt wurde es Zeit, seine Gruppe aufzumuntern.

»Gentlemen«, fuhr er fort, »wenn wir London verlassen, dann verlassen wir es als Botschafter. Wir nehmen unsere Kunst mit uns auf die Landstraßen und Nebenstraßen Englands, und zwar unter dem Banner Lord Westfields. Sein Name ist unsere Ehrenspange, wir dürfen nicht zulassen, daß sie beschmutzt wird.« Firethorn deutete auf eine imaginäre Landkarte vor sich. »Wir reiten nach Norden, Sirs. Wir werden unterwegs viele Orte besuchen, doch unser wirkliches Ziel ist York. Dort haben wir im Auftrage unseres Schirmherrn eine besondere Aufgabe. York ruft uns.«

»Dann sollten wir vorwärtsmachen«, sagte Gill ungeduldig.

»Nicht in einer Stimmung der Resignation, Barnaby.«

»Mein Lächeln ist heute nicht zu Hause.«

»Es ist der Geist, über den ich spreche, Mann. Wir dürfen hier nicht losgehen wie eine Horde von Verirrten, die kein festes Zielt hat. Unser Ziel ist da, wenn wir es wirklich sehen wollen. Diese Reise ist eine Pilgerfahrt. Wir sind Pilger, die ihre Geschenke ins Heilige Land bringen. Gebt York einen anderen Namen, dann wird es eure Sinne auf ein höheres Ziel lenken. Ich sprach vom Heiligen Land. York ist unser Jerusalem.«

George Dart war so begeistert von der Rede, daß er freudig applaudierte. Barnaby Gill gähnte, Edmund Höode sah aus dem Fenster, und Christopher Millfield strengte sich an, ein Grinsen zu unterdrücken, doch die Mehrheit der Gruppe war begeistert von dem, was sie soeben gehört hatte. Jeder einzelne von ihnen hatte beim Gedanken an diese Reise schlimme Vorahnungen. Es war eine Reise ins Unbekannte, voller Gefahren, doch Firethorns Worte hatten interessant geklungen. Jetzt, da seine Rede sie angeregt hatte und weil sie die besänftigende Wirkung einer Illusion brauchten, versuchten sie, ihre Reise nach York in einem neuen Licht zu betrachten.

Wie eine Reise nach Jerusalem.

Tränen des Schmerzes überfluteten den Innenhof des Queen's Head. Als die Gruppe ins Freie trat, um die erste Etappe ihrer Reise zu beginnen, erblickte sie feuchte Augen und hörte sehnsüchtige Seufzer. Einige der Schauspieler waren verheiratet, andere hatten Freundinnen, die meisten hatten sich bei den leicht zu beeindruckenden Mädchen von Cheapside beliebt gemacht. Herzallerliebste wurden umarmt, Gedenkstücke ausgetauscht, Versprechen gemacht, Küsse in verschwenderischer Fülle verteilt. Angewidert wandte Barnaby all dem den Rücken zu; George Dart beobachtete alles mit einer Mischung aus Neid und Bedauern. Zu ihm kam kein Liebchen, um ihm den Abschied zu versüßen, kein Schatz hängte sich ihm um den Hals. Das war so gemein. Christopher Millfield lachte und scherzte mit fünf jungen Frauen, jede einzelne eindeutig total in ihn vernarrt. Vielleicht besaß George Dart nicht die gleiche Größe, Eleganz oder das gute Aussehen Millfields, doch auf seine eigene Art war er durchaus eine selbständige Persönlichkeit.

Wieso waren die fünf Frauen von seiner großspurigen Selbstsicherheit so fasziniert?

Konnte nicht eine davon für ihn bestimmt sein?

Nicholas Bracewell stand mit Anne Hendrik etwas abseits vom allgemeinen Trubel. Ihr Abschied verlief etwas zurückhaltender und formeller, nachdem sie den wahren Abschied bereits in der vergangenen Nacht in der privaten Atmosphäre ihres Schlafzimmers zelebriert hatten. Sie war ganz einfach nur gekommen, um ihm zuzuwinken, bevor sie sich auf ihre eigene Reise begab. Nicholas war gerührt.

»Damit hatte ich nicht gerechnet, Anne.«

»Beschäme ich Euch vor Euren Kollegen?«

»Von denen beneidet mich jeder einzelne.«

»Ihr schmeichelt mir, Nicholas. Hier sind heute jüngere und hübschere Frauen.«

»Ich hab' noch keine gesehen.«

Sie berührte zärtlich seinen Arm. Die Geste war sehr innig. Nicholas war kein extrovertierter Mann und liebte es nicht, Gefühle öffentlich zur Schau zu stellen; das Ausmaß seiner Gefühle bewahrte er sich für privatere Augenblicke auf. Anne respektierte das. Sie hatte ihn ganz einfach noch einmal sehen wollen, bevor ihre Wege sich trennten.

»Wann reist Ihr ab?« fragte er.

»Gegen Mittag.«

»Seid besonders vorsichtig.«

»Macht Euch um mich keine Sorgen.«

»Wer kümmert sich hier in London um die Geschäfte?«

»Preben van Loew.«

»Ein sehr guter Mann.«

»Er war Jacobs rechte Hand. Unter ihm wird das Geschäft blühen, da habe ich keinen Zweifel. Das läßt mich mit einem beruhigten Gefühl abreisen.«

Lawrence Firethorn erinnerte alle an den Aufbruch.

»Wir haben einen Auftrag, meine Herren. Zur Tat!«

Noch ein letzter Wirbel aus Küssen und Umarmungen, dann befolgten die Schauspieler seinen Befehl. Nur drei Personen der Gruppe hatten ein Pferd zur Verfügung. Lawrence Firethorn saß auf einem kastanienbraunen Hengst, ausstaffiert mit einem wunderschönen roten, mit Figuren bestickten Wams aus Samt, dazu passenden Hosen und einem auffälligen, federgeschmückten Hut. Er wollte, daß die Leute ihn wahrnahmen, wenn sie ihn sahen. Barnaby Gill, ebenfalls auffällig herausgeputzt, ritt eine rotbraune Stute. Edmund Hoode auf einem Apfelschimmel trug etwas angemessenere Kleidung für jemand, der über staubige Straßen reisen mußte. Das Gepäck der Gruppe befand sich auf einem großen Karren, der von zwei gewaltigen Pferden gezogen wurde. Diesen Wagen fuhr Nicholas, auf ihm befanden sich die anderen Teilhaber und die Schauspielschüler. Der Rest der Gesellschaft bildete das Fußvolk.

Firethorn lüftete den Hut zum letzten Gruß.

»Adieu, liebliche Ladies! Wünscht uns alles Gute!«

Als sich Geschrei erhob, ritt er los und führte seine kleine Prozession durch das Haupttor hinaus. An einem Markttag wie heute war die Gracechurch Street eine wimmelnde Menschenmasse; vorsichtig mußten sie sich ihren Weg durch das Labyrinth der Marktstände und die wogende Menge suchen. Ein paar Rufe wurden laut, wenn jemand ihre Gesichter erkannte und ihre Kunst zu schätzen wußte, doch der Mehrzahl der kaufenden, verkaufenden und feilbietenden Menschen war es wichtiger, um den Preis frischer Eier zu feilschen.

Wo die Gracechurch Street in die Bishopsgate Street mündet, wurde das Gewimmel dünner, und sie konnten sich leichter bewegen. Vor ihnen lag eine der Hauptausfallstraßen der Stadt, der sie sich jetzt mit gemischten Gefühlen näherten. Firethorn hatte etwas von einer Pilgerreise gesagt, doch in Wirklichkeit konnte niemand auch nur ahnen, was jenseits dieser Mauern auf sie wartete. Der letzte Anblick der Stadt war alles andere als tröstlich.

Direkt über Bishopsgate ragte eine Reihe langer Stangen in die Luft. Auf ihren Spitzen steckten die verwesenden Köpfe von Verrätern, sonnenverbrannt und von Vögeln angepickt. Einer dieser Köpfe lenkte ihre Aufmerksamkeit ganz besonders auf sich. Es war der Kopf eines Edelmannes, durch Schläge zertrümmert und ein Auge bereits von einem räuberischen Schnabel herausgerissen. George Dart, der hinter dem Karren marschierte, sah entsetzt nach oben und stupste Christopher Millfield an.

»Seht Ihr das, Sir?«

»Ein Beispiel für jeden von uns, George.«

»Wer könnte das gewesen sein?«

»Das ist Anthony Rickwood aus Sussex.«

»Ihr kennt ihn also?«

»Er wurde erst vor zwei Tagen in Tyburn hingerichtet.«

Dart bemerkte etwas, das ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Das verbliebene Auge in dem deformierten, blutbesudelten Gesicht blickte ihn mit einer Wut an, die entsetzlich war. Es versuchte scheinbar, seinen Blick auf eine bestimmte Person zu richten.

»Master Millfield…«

»Ja, George?«

»Ich glaube, der starrt Euch an.«

*

Humphrey Budden verspürte fieberhafte Vorahnungen. Er wagte es kaum, seiner Frau von der Seite zu weichen, falls sie wieder einen Anfall bekäme. Die Nachbarn hatten sich über den Lärm aufgeregt, der aus seinem Schlafzimmer drang, und jetzt wirbelten alle Arten von Gerüchten durch die Gegend, wie Fledermäuse in einem Glockenturm. Das war schlimm für jemand in Buddens Position, deshalb hatte er sich erneut um Hilfe an Miles Melhuish gewandt. Gepeinigt von seiner eigenen zweideutigen Rolle in dieser Familientragödie, empfahl der Pfarrer tägliches Beten für Mann und Frau. Aber er hatte noch einen anderen Vorschlag für den leidenden Ehemann.

»Laßt uns am Fluß Spazierengehen, Eleanor.«

»Wenn Ihr es wünscht, Sir.«

»Das war noch vor kurzem unsere Lieblingsstelle«, erinnerte er sie. »Habt Ihr das so schnell schon vergessen?«

»Aber nein, gar nicht.«

»Begleitet Ihr mich dann also?«

»Ich gehorche meinem Mann.«

»Dann hier entlang…«

Eleanor war nicht mehr die Frau, die er geheiratet hatte. Die hübsche junge Witwe, die so lebenslustig gewesen war, hatte sich in einen nach innen gekehrten Menschen verwandelt, dessen Sinn nach Höherem ging. Dieser unerklärliche Horror im Schlafzimmer hatte ihn seines Hauptvergnügens beraubt. Eleanor war aus ihrem todesähnlichen Zustand erwacht ohne Erinnerung an das, was vorgefallen war. Sie wußte nichts von ihrer nackten Attacke auf den betenden Miles Melhuish. Alles war verloren. Dahin waren ihre Wärme, ihr Lachen, ihre Lebenslust. Jetzt war sie bedrückt und geistesabwesend. Seit vielen Nächten schlief Humphrey Budden in einem kalten Bett.

Er setzte sein Vertrauen auf Gottes strahlendhellen Tag.

»Setzt Euch hierhin, Eleanor.«

»Weshalb, Sir?«

»Weil ich mit Euch sprechen möchte.«

»Das Gras ist sicher weich, denke ich.«

Sie setzte sich auf den Rasen und breitete ihr Kleid um sich aus. Budden war gerührt. Eine Sekunde lang sah er wieder die Frau, die er geliebt, umworben und für sich gewonnen hatte. Das Glück strömte in ihn zurück. Sie waren zu der Stelle zurückgekehrt, an der alles begonnen hatte. Wenige Schritte vor ihnen rauschte das Wasser des Trent, der sich durch die grünen Wiesen schlängelte. Vielleicht kehrte der alte Zauber zurück, wenn er Geduld hatte. Er ließ sich neben ihr nieder und nahm ihre Hand.

»Eleanor…«

»Sir?«

»Seid meine Frau.«

»Das bin ich doch.«

»Seid es mehr als nur dem Namen nach.«

»Ihr sprecht in Rätseln.«

Unbeholfen legte er ihr den Arm um die Taille. Sein Mund wurde trocken. Er war sich seiner hölzernen Unbeholfenheit schmerzlich bewußt. Eleanor war zweimal verheiratet gewesen und zweimal Witwe geworden, bevor sie Humphrey kennengelernt hatte. Er war bereits weit über dreißig gewesen, bevor er jemals daran gedacht hatte, sich eine Frau zu suchen. Da war eine Kluft zwischen ihnen. In ihrer Hochzeitsnacht hatten sie diese Kluft überwunden, für viele lustvolle Monate, die folgten, aber jetzt war sie wieder da und hatte sich zu einer gewaltigen Schlucht verbreitert.

Er zwang sich, weiterzusprechen.

»Als wir uns zum erstenmal begegneten…«

»Ja, Humphrey?«

»Da sprachen wir von Kindern.«

»Ich hatte fünf und habe den armen Harry bei der Geburt verloren.«

»Ihr wolltet noch mehr. Meine Kinder, Eleanor.«

»Ich erinnere mich daran, Sir.«

»Unsere Kinder, liebe Frau, die Frucht unserer Liebe.« Er befeuchtete sich die Lippen. »Der Pfarrer ist der gleichen Ansicht in dieser Sache. Mit Gottes Hilfe wird ein neues Baby dich zu mir zurückbringen, so wie ich dich geliebt habe.« Seine Erregung steigerte sich. »Seid wieder meine Ehefrau, Eleanor. Erfüllt noch einmal Eure ehelichen Pflichten.«

Sie schaute am Flußufer entlang und beobachtete, wie ein Eisvogel heranschwebte und tauchte. Als sie sprach, war ihre Stimme gedämpft, doch ihre Worte hatten eine furchterregende Klarheit.

»Ich werde dein Bett nicht mehr mit dir teilen. Du bist mein Ehemann gewesen, so loyal, wie eine Frau ihn sich nur wünschen kann. Aber jetzt habe ich eine neue Aufgabe. Er hat mich gerufen, Sir. Er hat mir klare Anweisungen gegeben.«

»Wer hat das getan?«

»Auf wen außer Gott würde ich hören?«

»Klare Anweisungen, sagt Ihr?«

»Ich muß eine lange Reise antreten.«

»Aus welchem Grund?«

»Weil es von Gott verfügt ist.«

»Kann ich diese Reise mit Euch zusammen machen, Eleanor?«

»Nein, Sir. Ich gehe allein.«

»Wohin?«

»Ins Heilige Land.«

»Aber das geht nicht, Frau.«

»Er leitet meine Schritte. Es muß sein.«

»Das Heilige Land!« rief Budden aus.

»Wundert Euch nicht, Sir. Ich bin beauftragt worden.«

»Aus welchem Grund?«

»Den erfahre ich, wenn ich dort bin. In Jerusalem.«

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