Vergiss nie, dass ich dich liebe

Charlie Lawton weinte nicht, als sie am offenen Grab ihres Mannes stand. Sie hatte vorher geweint - als das Schreckliche geschehen war und auch bei der Trauerfeier. Sie hatte Ströme von Tränen geweint. Nun war sie leer und ließ den Lauf der Dinge wie betäubt über sich ergehen.

Zuvor hatte man ihr sämtliche Optionen zur Gestaltung des Begräbnisses aufgezählt: Sie konnte den Geistlichen ein weiteres Gebet sprechen lassen - nur ein kurzes, diesmal - und sich dann unverzüglich zu einem, zweifellos niederdrückenden, Empfang begeben, wo die Trauergäste bei Speise und Trank eine letzte Gelegenheit erhielten, Eric Lawtons Witwe mit unzulänglichen Worten ihr Beileid auszudrücken. Oder sie konnte am Grab verweilen und zusehen, wie der hastig ausgesuchte Sarg in die Grube hinuntergelassen wurde. Danach konnte sie eine Blume aus dem Trauerkranz wählen, den sie selbst mit schmerzgetrübtem Blick, und wie hinter einer Nebelwand stehend, zwei Tage zuvor gekauft hatte. Diese Blume konnte sie, den Trauergästen damit Anstoß gebend, ein Gleiches zu tun, ins Grab werfen und dann zur wartenden Limousine gehen. Oder sie konnte dem ganzen Begräbnis beiwohnen, bis zu dem Moment, wenn der Laster mit der Kipppritsche - der schon in diskreter Entfernung bereitstand - über den Rasen angerumpelt kam und die Erde über den Walnussholzsarg schüttete. Sie konnte bleiben, bis das Grab geschlossen, das Erdreich festgetrampelt und die Grasquadrate wieder ausgelegt waren. Sie konnte auch noch zusehen, wie am Pfosten das Plastikschildchen befestigt wurde, das zur Kennzeichnung diente, bis der Grabstein gesetzt wurde. Sie konnte seinen Namen lesen - Eric Lawton -, als könnte ihr das helfen zu begreifen, dass er tot war; und den Rest konnte sie sich denken: Eric Lawton, geliebter Ehemann von Charlotte. Gestorben im zweiundvierzigsten Lebensjahr.

Sie entschied sich für die erste Möglichkeit. Es war leichter, sich abzuwenden, als den Sarg für immer verschwinden zu sehen. Und was die Frage anging, ob sie den Trauergästen Gelegenheit geben wollte, sich von Eric zu verabschieden, indem sie eine Blume ins Grab warfen - sie wollte möglichst durch nichts daran erinnert werden, wie klein die Trauergemeinde war.

Später, als sie zu Hause war, überfiel sie der Schmerz wie ein Virus. Sie stand am Fenster, ein beißendes Kratzen im Hals, und fühlte sich wie von einem heraufziehenden Fieber geschüttelt. Während sie in den Garten hinaus­blickte, den sie und ihr Mann mit so viel Sorgfalt und Liebe angelegt und gepflegt hatten, hörte sie hinter sich die taktvoll gedämpften Stimmen der Gäste.

»Wirklich tragisch«, flüsterte es.

»Ein wunderbarer Mensch«, murmelten einige, und ein Mann sagte: »Ein wunderbarer Mensch in jeder Hinsicht.«

Außer in einer, dachte Charlie.

Von hinten legte jemand den Arm um sie, und sie überließ sich der Wärme der langjährigen Freundschaft mit Bethany Franklin, die noch am Abend, als Charlie sie angerufen hatte, aus Hollywood in diesen seelenlosen Vorort der seelenlosen Stadt Los Angeles gekommen war. »Eric«, hatte Charlie nur weinend hervorgestoßen.

»Bethie! O Gott!«, und Bethany war gekommen. »Dieses gottverdammte Motorrad«, hatte sie in einem Ton gesagt, als knirschte sie innerlich mit den Zähnen, und dann: »Ich bin schon unterwegs. Hörst du mich, Charlie? Ich bin schon unterwegs.«

Jetzt sagte sie leise: »Hältst du durch, Liebes? Oder soll ich die ganze Bagage hier zur Tür hinausbefördern?«

Mit einiger Anstrengung hob Charlie ihre Hand zu der Bethanys, die auf ihrer Schulter lag. »Alles hat damit angefangen, dass ich ihn die Harley hab kaufen lassen, Beth.«

»Du hast ihn gar nichts tunlassen, Charles. So läuft das nicht.«

»Ein Tattoo hatte er sich auch machen lassen. Hab ich dir das erzählt? Zuerst das Tattoo. Nur auf dem Arm. Na und, hab ich mir gedacht. Den Tick haben die Kerle zur Zeit alle. Dann kam die Harley. Was habe ich falsch gemacht?«

»Gar nichts«, antwortete Bethany. »Es war nicht deine Schuld.«

»Wie kannst du das mit solcher Sicherheit sagen? Das alles ist nur passiert, weil -«

Bethany drehte die Freundin zu sich herum. »Hör auf damit, Charles«, sagte sie. »Was waren seine letzten Worte zu dir?« Sie wusste es natürlich. Es war eines der ersten Dinge, die Charlie ihr erzählt hatte, als die Hysterie nachgelassen und der darauf folgende Schock eingesetzt hatte. Sie stellte die Frage nur, damit Charlie die Worte noch einmal hören und aufnehmen musste.

>»Vergiss nie, dass ich dich immer lieben werde<«, zitierte sie.

»Und er hat das bestimmt nicht ohne Grund gesagt.«

»Aber warum hat er dann -«

»Es gibt Fragen im Leben, die einem niemals beantwortet werden.« Bethany drückte Charlie an sich, um sie wissen zu lassen, dass sie nicht allein war, auch wenn sie sich im Moment so fühlte und in den kommenden Monaten vielleicht fühlen würde, ohne ihren Mann in dem großen, teuren Haus außerhalb der Stadt, das sie vor drei Jahren gekauft hatten, weil er gemeint hatte:

»Es wird Zeit für eine Familie, Char, findest du nicht? Und niemand kann behaupten, dass die Stadt für Kinder gesund ist.« Mit einem ansteckenden Lächeln hatte er das gesagt, und einem Elan, hinter dem die für ihn typische rastlose Energie steckte, die ihn stets wach und lebendig gehalten hatte.

Zur Schar der Trauergäste blickend, sagte Charlie:

»Ich kann es immer noch nicht fassen, dass seine Eltern nicht gekommen sind. Ich habe eigens seine Exfrau angerufen und sie benachrichtigt. Ich habe sie gebeten, seiner Familie Bescheid zu geben - na ja, seinen Eltern, sonst gibt es ja, glaube ich, niemanden -, aber keiner von ihnen hat auch nur geschrieben oder angerufen, Beth. Weder sein Vater noch seine Mutter, nicht einmal seine eigene Tochter.«

»Vielleicht hat die Ex - wie heißt sie übrigens?«

»Paula.«

»Vielleicht hat Paula die Nachricht nicht weitergegeben. Wenn es eine bittere Scheidung war -?«

»Ziemlich, ja. Es ging um einen anderen Mann. Und Eric hat sich mit Paula um das Sorgerecht für Janie gestritten.«

»Na bitte, das könnte es gewesen sein.«

»Aber das ist doch Jahre her!«

»Hast du eine Ahnung, wie nachtragend die Leute sein können!«

»Du hältst es für möglich, dass sie seine Eltern gar nicht benachrichtigt hat?«

»Kann doch sein«, meinte Bethany.

Dieser Gedanke, dass Paula es in Ausübung postumer Rache an ihrem einstigen Ehemann unterlassen haben könnte, seine Eltern von seinem Tod zu benachrichtigen, veranlasste Charlie zu dem Entschluss, selbst mit dem Ehepaar Lawton Kontakt aufzunehmen. Das Problem dabei war allerdings, dass Eric, so traurig das war, schon lange keine Verbindung mehr zu seinen Eltern gehabt hatte. Er hatte es Charlie gebeichtet, als nach Thanks­giving das erste gemeinsame Weihnachten vor der Tür stand. Ihrer Familie eng verbunden, trotz der räumlichen Entfernung, die sie von ihr trennte, hatte sie Eric gefragt, wie sie es mit den kommenden Feiertagen »halten« wollten. »Möchtest du sie bei deiner Familie verbringen oder bei meiner? Oder sollen wir die Tage zwischen den Familien aufteilen? Oder vielleicht alle zusammen bei uns feiern? «

»Bei uns« war damals eine Drei-Zimmer-Wohnung in den Hügeln Hollywoods gewesen, von der Eric jeden Morgen zu seiner Arbeit in einem fernen Vorort aufbrach, während Charlie zu ihren Casting-Terminen eilte und hoffte, irgendwann in der Zukunft einmal eine anspruchs­vollere Rolle zu ergattern als die der treu sorgenden Hausfrau und Mutter in Werbespots für Seifenflocken. Eine Drei-Zimmer-Wohnung mit einer Miniküche war nicht gerade ideal für große Familienfeiern, darum hatte sie sich innerlich bereits auf die unvermeidliche Portionierung der Tage zwischen Ende November und Anfang Januar vorbereitet: Thanksgiving an einem Ort; der Heilige Abend an einem anderen; der erste Weihnachtsfeiertag an einem dritten; und Silvester schließlich mit einer Flasche Champagner allein zu Hause vor dem offenen Kamin mit dem künstlichen Feuer. Aber natürlich waren die Feiertage ganz anders verlaufen, nachdem Eric ihr die traurige Geschichte von der Entfremdung zwischen ihm und seinen Eltern erzählt hatte; von dem Jagdunfall, der die Ursache dieser Ent­fremdung war, und seinen Folgen.

»Ich bin gestolpert, und da ist das Gewehr losgegangen«, gestand er ihr eines Nachts in der Dunkelheit, den Mund in ihr Haar gedrückt. »Wenn ich gewusst hätte - ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte keine Ahnung von Erster Hilfe. Er ist einfach verblutet, Char, während ich ihn schüttelte wie ein Wahnsinniger und heulend seinen Namen rief und ihn anflehte, durchzuhalten, bitte nicht zu sterben.«

»Es tut mir so Leid«, sagte sie und zog seinen Kopf an ihre Brust, weil ihm die Stimme brach und er sich heftig zitternd an sie klammerte und weil sie es nicht kannte, dass ein Mann Emotionen zeigte. »Dein eigener Bruder! Eric, wie entsetzlich.«

»Er war achtzehn. Sie wollten mir verzeihen. Sie haben sich bemüht. Aber er war - Brent war so etwas wie ihr Kronprinz. Ich konnte ihn nicht ersetzen. Allmählich entfernte ich mich innerlich von ihnen, anfangs nur ein wenig, dann immer mehr. Und sie ließen es zu. Es war für uns alle das Beste. Wir konnten es nicht überwinden. Wir kamen nicht darüber hinweg.«

Charlie versuchte, sich vorzustellen, wie es für ihn gewesen sein musste: Erwachsen zu werden, sich zum reifen Mann zu entwickeln, und immer das Wissen mit sich herumzuschleppen, dass er seinen Bruder getötet hatte. Sie waren auf Vogeljagd gewesen, im Morgen­grauen draußen am Rand der Wüste, wo die Tauben überwinterten. Sie waren schon von Kindheit an regel­mäßig auf Vogeljagd gegangen, zuerst mit ihrem Vater und später - als Brent alt genug war, um selbst Auto zu fahren - allein. Und auf ihrem zweiten Ausflug war es zu dem Unfall gekommen.

»Sie haben dir wahrscheinlich schon vor Jahren verziehen«, sagte sie tröstend zu ihrem Mann. »Hast du mal versucht, mit ihnen Verbindung aufzunehmen?«

»Ich möchte es nicht in ihren Augen sehen. Wenn sie mir ins Gesicht schauen und versuchen so zu tun, als wäre nichts als Liebe in diesem Blick.«

»Aber es ist sicher kein Hass darin.«

»Nein, das nicht. Aber Schmerz, an dem ich schuld bin. Weil ich ungeschickt war. Leichtsinnig. Ich habe das Gewehr nicht richtig gehalten und nicht darauf geachtet, wie ich meine Füße setze.«

»Du warst erst fünfzehn«, wandte Charlie ein.

»Alt genug.«

Wofür?, fragte sie sich. Aber nach einer Weile fand sie die Antwort: Alt genug, um verschwinden zu können.

Aber sie hatten trotz allem ein Recht, zu erfahren, dass er tot war, und darum beschloss sie, Marilyn und Clark Lawton, deren Wohnort sie nicht kannte, ausfindig zu machen und vom Schicksal ihres Sohnes zu informieren. Sie wusste, dass Eric das gewollt hätte. Die Tatsache, dass er im Wohnzimmer eine wahre Galerie von Familien­bildern aufgebaut hatte, war Beweis genug, dass ihm der Verlust des elterlichen Zuhauses bis zuletzt schmerzlich bewusst gewesen war.

Am Tag nach seiner Beerdigung trat sie vor das Regal mit den Fotos. Benommenheit und Gliederschmerzen plagten sie nach dem Trauma der vergangenen Woche. Sie hatte immer noch ein Kratzen im Hals - schon seit dem Abend von Erics Tod - und kämpfte seit Tagen vergeblich gegen das Gefühl einer fiebrigen Schwäche. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es war, sich normal und gesund zu fühlen. Aber es gab so viel zu tun.

Die Bilder standen wie Eindringlinge zwischen den Büchern rechts und links vom offenen Kamin. Sie wusste, wer die Personen auf den Fotos waren, weil Eric es ihr mehrmals gesagt hatte. Aber er hatte sie alle nur beim Vornamen benannt, was ihr unter den gegebenen Umständen wenig Hilfe war. Tante Marianne bei der Abschlussfeier nach der High School; Großtante Shirley mit ihrem Mann Pat; Großmutter Louise (väterlicher oder mütterlicherseits, Eric?), Onkel ROSS, Brent, als er sieben war; Mutter mit zehn, Dad mit dreizehn; die Eltern an ihrem Hochzeitstag; Großvater und seine Brüder; Großmama Jessie-Lynn. Sie wusste nicht einen einzigen Nachnamen außer dem seiner Eltern. Und ein Blick ins Telefonbuch zeigte ihr, dass in der näheren Umgebung keine Lawtons mit den Vornamen Clark oder Marilyn lebten.

Das hatte sie allerdings auch nicht erwartet. Sie hatte es gehofft, aber ihr war natürlich klar gewesen, dass Jagd­ausflüge an den Rand der Wüste auf einen Ort hin­deuteten, der in noch trockeneren Regionen lag als der Vorort von Los Angeles, wo sie und Eric ihr Haus gekauft hatten.

Sie zog eine Karte von Kalifornien zu Rate und erwog, ihre Suche ganz im Süden zu beginnen, unten an der Staatsgrenze. Sie könnte über die Telefonauskunft sämtliche Orte entlang des Highways 805 abgrasen. Aber sie kam nicht weit über Paradise Hills hinaus, bevor sie sich dieses aufwändige Unternehmen aus dem Kopf schlug.

Sie kehrte zu den Bildern zurück und nahm sie alle vom Regal mit in die Küche, wo sie sie vorsichtig auf der Arbeitsplatte aus Granit niederlegte. Es waren alte Aufnahmen, die letzte war die von Brent im Alter von sieben Jahren, einige sogar sorgsam gehütete Ferrotypien. Aber manchmal vermerkten die Leute hinten auf ihren Fotos, wen sie zeigten, und wo und wann sie aufge­nommen waren, und wenn Erics Verwandte das auch so gehalten hatten, würde sie vielleicht hier einen Hinweis auf ihren Verbleib entdecken.

Sie entfernte vorsichtig den Rücken jedes Rahmens und inspizierte die Rückseiten der Fotografien. Nur auf zwei von ihnen fand sie einen Vermerk. Auf dem Bild von Erics Bruder stand, von zierlicher Hand geschrieben: Brent Lawton, sieben Jahre alt, Yosemite, und hinten auf dem Foto einer der Großmütter hieß es in krakeliger Schrift: Jessie-Lynn kurz vor Merles Hochzeit. Das war alles, was sie fand.

Seufzend begann sie, die Fotos wieder in ihre Rahmen zu schieben: Glas, Bild, Pappverstärkung, samtüberzo­gener Rücken.

Als sie sich das Hochzeitsfoto der Lawtons vornahm, sah sie, dass neben Glas, Foto, Verstärkung und Rücken noch etwas im Rahmen gesteckt hatte. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass das Fotopapier um so dünner wurde, je jünger die Aufnahme war. Wie dem auch sein mochte, hinter das Hochzeitsfoto hatte jemand eine zusätzliche Füllung eingeschoben, um dafür zu sorgen, dass das Bild stramm im Rahmen saß. Es handelte sich um einen zusam­mengefalteten Zettel, der sich, geglättet, als leeres Blatt von einem Rechnungsblock entpuppte, oben mit den WortenTime on My Side und einer Adresse in der Front Street in Temecula, Kalifornien, bedruckt.

Charlie holte wieder ihre Karte. Erregung und triumphierende Gewissheit durchzuckten sie, als sie Temecula am Rand der Wüste fand, direkt an einem anderen Wüsten-Freeway gelegen, als wartete es nur darauf, ihr seine Geheimnisse preiszugeben.

Sie fuhr nicht sofort los. Eigentlich hatte sie gleich am nächsten Tag aufbrechen wollen, aber als sie erwachte, war das Kratzen in ihrem Hals zu brennendem Schmerz geworden, und die Gliederschmerzen hatten sich in Schüttelfrost verwandelt. Das war mehr als nur Erschöpfung und Kummer, das war eine ausgewachsene Grippe.

Sie war niedergeschlagen, aber nicht sonderlich überrascht. Sie lebte ja seit Tagen einzig von ihrer Nervenkraft, praktisch ohne zu essen und zu schlafen. Kein Wunder, dass es sie erwischt hatte.

Widerwillig schleppte sie sich in den Drugstore und inspizierte mit tränenden Augen die Regale mit den Erkältungs- und Grippemitteln, die schnelle und wirkungsvolle Bekämpfung - oder wenigstens vorüber­gehende Lahmlegung - des bösartigen kleinen Bazillus versprachen, der sich in ihrem Körper eingenistet hatte. Sie kannte die allgemeine Empfehlung, reichlich Flüssigkeit und Bettruhe, und kaufte daher gleich einen großen Vorrat an Dosensuppen ein. Hauptsache, die Mikrowelle funktionierte, sagte sie sich, dann konnte ihr nichts passieren. Erics Familie musste eben die vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden warten, die sie brauchen würde, um wieder zu Kräften zu kommen.

So kam es, dass sie erst zwei Tage später die Fahrt nach Temecula antrat. Aber nicht allein, sondern in Begleitung von Bethany Franklin. Sie fühlte sich nach achtundvierzig Stunden Bettruhe, die nur von Exkursionen zum Kühl­schrank und zur Mikrowelle gestört worden war, zwar wieder einigermaßen frisch, aber nicht so frisch, dass sie sich zutraute, eine solche Strecke ganz allein zu fahren.

Bethany hielt nichts von der ganzen Idee. »Du schaust zum Erbarmen aus«, sagte sie unumwunden, als sie in einem schnittigen kleinen BMW, der ihr ganzer Stolz war, angebraust kam. »Du solltest dich lieber ins Bett legen, anstatt in der Gegend herumzugondeln und eine Großfahndung nach - wen suchen wir überhaupt?«

Sie hatte einen Beutel Cheetos mitgebracht - »das reine Manna«, behauptete sie, den Beutel schwenkend, als wollte sie ein Taxi anhalten - und kaute genüsslich, während sie Charlie in die Küche folgte.

Charlie nahm die Fotografie von Erics Eltern und das Rechnungsformular der FirmaTime on My Side.

»Ich möchte mit seinen Eltern sprechen«, erklärte sie.

»Ich weiß nicht, wo sie leben. Das hier sind die einzigen Hinweise, die ich habe.«

Bethany nahm das Bild und das Rechnungsformular an sich, während Charlie berichtete, wo sie Letzteres gefunden hatte. »Warum rufen wir nicht einfach dort an, Charles?«, schlug sie vor. »Die Nummer steht doch drauf.«

»Und wenn das Geschäft, oder was es ist, Erics Eltern gehört? Was sagen wir dann?«, fragte Charlie. »Wir können doch nicht eiskalt am Telefon ...« Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Schon wieder. Vergiss nie, dass ich dich liebe, Char. »Das ist unmöglich, Beth. Das können wir nicht machen.«

»Okay, da hast du Recht. Per Telefon geht das nicht. Aber du bist nicht fit genug für so eine Fahrt. Lass mich das erledigen, wenn es dir so wichtig ist.«

»Nein, mir geht's gut. Ich fühle mich wieder viel besser. Es war nur eine Grippe.«

Sie schlossen einen Kompromiss: Sie würden nicht mit offenem Verdeck fahren, und Charlie würde eine Thermosflasche mit Nudelsuppe und einen Karton Orangensaft mitnehmen, um sich auf der langen Fahrt nach Südosten immer wieder zu stärken. Nachdem das vereinbart war, fuhren sie los, den Highway 15 hinunter, der sich wie eine Betonschlucht durch die felsigen Berge zwängte, die die kalifornische Wüste vom Meer trennten. Geldgierige Baugesellschaften hatten das staubige Land hier ausgebeutet und zur Errichtung von Wohnsiedlungen missbraucht, die alle gleich aussahen - die Häuser eintönig mausgrau, von nicht einem Baum beschattet, mit Hohlpfannen nach italienischem Vorbild gedeckt, was den Schöpfer einer dieser Monstrositäten veranlasst hatte, seinem Werk völlig absurd den Namen »Toskana« zu geben.

Kurz nach ein Uhr mittags erreichten sie Temecula und fanden ohne Schwierigkeiten die Front Street. Sie umfasste jenen Teil des Orts, den die Stadtväter euphe­mistisch die »historische Altstadt« nannten, die schon lange vor der entsprechenden Ausfahrt mit großen Schildern auf dem Freeway angezeigt war.

Die »historische Altstadt« bestand aus mehreren Häuserzügen, die von der übrigen Stadt - dem neuen Teil - durch eine Eisenbahnlinie, den Freeway, ein kleines Gewerbegebiet und städtische Lagerhallen getrennt waren. Sie bildeten eine zweispurige Straße, in der es außer Souvenirläden, Antiquitätengeschäften und Restaurants nur noch ein paar Cafes und Eisdielen gab. Kurz, mit »historische Altstadt« war nichts anderes als das Touristenparadies gemeint. Vielleicht war hier früher einmal der Mittelpunkt des Orts gewesen, jetzt war das Viertel ein Anziehungspunkt für alle, die wenigstens einen Tag lang dem anonymen Meer endloser Vorstädte, das sich von Los Angeles nach allen Richtungen ausbreitete, zu entfliehen suchten. Es gab Holzbürgersteige und Adobehäuser, Backsteinbauten, getüncht oder ungetüncht, mit oder ohne Stuckverzierungen. Es gab farbenfrohe Wimpel, originelle Ladenschilder und einen großen Lage­plan mit einem roten Sie-befinden-sich-hier-Punkt am Rand des öffentlichen Parkplatzes. Man war mitten in der Hauptstraße von Disneyland gelandet, ohne den unver­schämten Eintrittspreis bezahlen zu müssen.

»Und du fragst mich, warum ich mich am liebsten überhaupt nicht aus LA fortbewege?«, sagte Bethany, als sie den Wagen in eine freie Lücke lenkte und sich schaudernd umsah. »Da hast du Südkalifornien in Hochform, meine Liebe. Kitsch und Nepp, so weit das Auge reicht. Mich erinnert das hier an Calico Ghost Town. Warst du da mal? Die einzige Geisterstadt auf der Welt, aus der jemand mit Erfolg ein Einkaufszentrum gemacht hat.«

Charlie lächelte und wies auf den Plan, der die so genannte historische Altstadt zeigte. »Komm, schauen wir uns den mal an.«

Sie stellten fest, dassTime on My Side zu den Geschäften gehörte, die sich im ersten Abschnitt der Touristenstraße befanden. Auf der Fahrt hatten sie gemeinsam überlegt, dass es wahrscheinlich ein Laden war, wo Uhren verkauft wurden, aber als sie hinkamen, sahen sie, dass es - wie so viele Geschäfte in der Straße - eine Antiquitätenhandlung war. Sie gingen hinein.

Leises Knurren empfing sie, gefolgt von einer mahnenden Männerstimme. »Hey, Maxie! Lass das!« Der Befehl war an einen Norwich Terrier gerichtet, der zusammengerollt auf einem alten Polstersessel lag. Daneben stand ein altmodischer Sekretär, an dem unter einer hellen Lampe ein Mann saß, der mit einer Klemmlupe eine Porzellanflasche prüfte. Er hob den Kopf und sah über den Ladentisch hinweg zu Bethany und Charlie hinüber.

»Entschuldigen Sie. Manche Leute verstehen das falsch. Es ist nur ihre Art, guten Tag zu sagen. Schlaf weiter, Maxie.« Der Hund schien zu verstehen. Er ließ den Kopf mit einem tiefen Seufzer wieder auf die Vorderpfoten sinken, und seine Augen begannen sich zu schließen.

Charlie betrachtete aufmerksam das Gesicht des Mannes, suchte eine Ähnlichkeit, hoffte, in diesen von den Jahren gezeichneten Zügen einen Eric zu entdecken, den sie so niemals erleben würde. Er hatte das richtige Alter, um Erics Vater sein zu können - etwa siebzig. Und er war schlank und drahtig wie Eric, hatte den gleichen offenen Blick und schien, so wie er unablässig mit einem Fuß gegen die Querleiste seines Stuhls klopfte, von der gleichen rastlosen Energie getrieben zu sein.

»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, sagte er. »Sehen Sie sich in Ruhe um. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Um ehrlich zu sein«, antwortete Charlie, während sie und Bethany näher traten, »suche ich eine Familie. Die Familie meines Mannes.«

Der alte Mann kratzte sich am Kopf. Er stellte die Porzellanflasche auf den Sekretär und legte die Lupe daneben. »Familien verkauf ich leider nicht«, sagte er mit einem Lächeln.

»Die, die wir suchen, heißt Lawton«, erklärte Bethany.

»Marilyn und Clark Lawton«, fügte Charlie hinzu.

»Wir - das heißtich hatte gehofft, Sie könnten uns vielleicht - Sie sind nicht zufällig Mr. Lawton?«

»Henry Leel«, sagte er.

»Oh.« Charlie war enttäuscht. Die Erkenntnis, dass der Mann nicht Erics Vater war, traf sie heftiger, als sie erwartet hatte. Sie sagte: »Nun ja, wir sind sowieso nur auf gut Glück hier herausgefahren. Aber ich hoffte trotzdem ... Sie kennen auch nicht zufällig hier im Ort eine Familie namens Lawton?«

Henry Leel schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid. Sind sie in der Antiquitätenbranche?« Er umfasste mit einer Handbewegung seinen Laden, der bis unter die Decke mit Möbeln und Trödel voll gestopft war.

»Ich weiß nicht ...« Charlie wurde plötzlich schwindlig, und sie hielt sich am Verkaufstisch fest.

Bethany nahm sie beim Arm. »Komm! Ich halt dich«, sagte sie und fügte, zu Henry Leel gewandt, hinzu: »Sie hat gerade erst eine Grippe überwunden. Und vor ungefähr einer Woche - ist ihr Mann gestorben. Seine Eltern wissen nichts davon, deswegen suchen wir sie.«

»Das sind die Lawtons?«, fragte Henry Leel, und als Bethany nickte, sah er Charlie mitleidig an. »So jung und schon Witwe! Das arme Ding.«

»Ja, sie ist wirklich noch viel zu jung, um schon Witwe zu sein. Und wie ich eben sagte, sie war krank.«

»Dann kommen Sie doch mit ihr hier rüber, da kann sie sich einen Moment setzen. - Maxie, runter vom Sessel! Los, mach schon. Du hast mich genau verstanden. - So. Warten Sie, ich nehme das Kissen runter, Miss - Mrs. - wie sagten Sie, ist Ihr Name?«

»Lawton«, antwortete Charlie. »Bitte entschuldigen Sie. Ich fühle mich schon eine ganze Weile nicht wohl. Sein Tod - er kam so plötzlich.«

»Das tut mir wirklich Leid. Kommen Sie. Ich mach Ihnen einen Tee mit einem Schuss Brandy. Das bringt Sie bestimmt wieder auf die Beine. Bleiben Sie ruhig so lange sitzen.«

Er schloss die Ladentür ab und verschwand in einem Hinterzimmer. Als er mit dem Tee kam, brachte er hilfsbereit das örtliche Telefonbuch mit. Aber sie fanden niemanden mit dem Namen Lawton darin.

Charlie schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Sie trank ihren Tee und fühlte sich danach so weit gestärkt, dass sie Henry Leel erklärte, wie sie und Bethany dazu gekommen waren, bei ihrer Suche nach Erics Familie seinen Laden als Ausgangspunkt zu nehmen. Als sie, mit ihrem Bericht zum Ende gekommen, das Hochzeitsbild von Erics Eltern hervorholte, sah Henry sich dieses lang und aufmerksam an, die Stirn dabei so angestrengt gekraust, als wollte er sich ein Wiedererkennen mit Gewalt abpressen. Aber dann schüttelte er doch langsam den Kopf. »Sie kommen mir irgendwie bekannt vor, das muss ich sagen. Aber ich kann nicht mit gutem Gewissen behaupten, sie zu kennen. Außerdem verkaufe ich alte Fotos, die nicht viel anders sind als das hier, da sieht nach eine Weilejeder auf einem Foto aus wie jemand, den ich irgendwo mal gesehen hab. Kommen Sie, ich zeig's Ihnen.«

Er ging in eine dunkle Ecke des Ladens und nahm vom Bord eines alten Küchenschranks einen kleinen Kasten, den er zu Charlie und Bethany zurückbrachte. »Ich verkauf nicht allzu viele. Die meisten an Cafes, Theater­gruppen und Rahmengeschäfte, die sie für Ausstellungs­zwecke brauchen. Hier, sehen Sie selbst.« Er ließ den Kasten mit einem Plumps auf den Sekretär fallen.

»Schauen Sie. Ihr Foto ... das passt haarscharf in die letzte Serie da im Kasten. Ein bisschen jünger, vielleicht, aber ich hab auch welche aus der gleichen Zeit. Schaut so aus - lassen Sie mich mal sehen. Genau. Schaut mir nach Fünfzigerjahre aus. Späte Fünfziger. Vielleicht auch frühe Sechziger.«

Gleich bei den ersten Bemerkungen über die Fotografien war Charlie unbehaglich geworden. Aus Furcht, was ihr Gesicht vielleicht verriet, wagte sie nicht, Bethany anzusehen. Gehorsam blätterte sie die alten Aufnahmen durch und konnte nicht umhin, zu bemerken, dass in der Sammlung alle Arten von Fotografien aus den verschiedensten Zeiten vertreten waren. Da gab es Ferrotypien, alte Schwarz-Weiß-Schnappschüsse, Atelier­aufnahmen, handkolorierte Porträts. Einige waren auf der Rückseite von Hand beschrieben, mit Hinweisen auf die abgebildeten Personen oder Orte. Charlie wollte nicht daran denken, was das bedeutete.Jessie-Lynn kurz vor Merles Hochzeit.

Henry Leel sagte: »Und wie kommen Sie darauf, dass Sie diese Lawtons hier auftreiben würden? In diesem Laden hier in Temecula?«

»Wir haben ein Rechnungsformular gefunden«, antwortete Bethany. »Charlie, zeig ihm, was in dem Rahmen steckte.«

Charlie reichte Henry Leel den Zettel, und während der alte Mann ihn mit zusammengekniffenen Augen betrachtete, sagte sie: »Es war wahrscheinlich ein Zufall. Das Bild - das von seinen Eltern - saß vermutlich ein bisschen locker im Rahmen, und er hat den Zettel benutzt, um den Zwischenraum auszustopfen. Ich entdeckte ihn und . Ich wollte so gern seine Eltern finden und habe deshalb voreilige Schlüsse gezogen. Das ist alles.«

Henry Leel rieb sich nachdenklich das Kinn. Er neigte den Kopf zur Seite und tippte mit dem Zeigefinger, der durch irgendeinen Pilzbefall einen schwarzen Nagel hatte, auf das Rechnungsformular. »Die Formulare sind nummeriert«, bemerkte er. »Sehen Sie? Eins-null-fünf- acht in der rechten oberen Ecke. Warten Sie einen Augenblick. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.« Er kramte in den Fächern seines Sekretärs und riss damit Maxie aus dem Schlummer. Sie hob den Kopf und sah ihn schläfrig zwinkernd an, ehe sie sich wieder einrollte. Henry Leel brachte einen abgegriffenen schwarzen Hefter mit weichem Umschlag zum Vorschein und warf ihn auf die Schreibtischplatte. »Dann wollen wir doch mal sehen, was wir hier haben.«

Der Hefter enthielt Kopien von Rechnungen über Artikel, die beiTime on My Side verkauft worden waren. Henry Leel blätterte zurück zu den Kopien vor und nach Nummer 1058. Die Rechnung 1059 war auf eine Barbara Fryer mit einer Adresse in Huntington Beach ausgestellt. »Tja, das ist leider keine Hilfe«, sagte Henry Leel bedauernd, setzte aber mit einem Blick auf die nachfolgende Kopie sogleich hinzu: »Aha! Da haben wir, was wir suchen. Sie sagten doch Lawton, nicht wahr? Hier haben wir einen Lawton, schauen Sie.«

Er drehte das Rechnungsbuch in Charlies Richtung, und diese sah, was sie zu sehen erwartet hatte, sobald sie begonnen hatte, in den alten Fotos zu blättern - ohne allerdings zu wissen oder zu verstehen,warum sie das sehen würde.Eric Lawton stand auf der Rechnungskopie Nummer eins-null-fünf-sieben. Statt einer Adresse war nur eine Telefonnummer angegeben: Erics Durchwahl bei dem Pharmaunternehmen, bei dem er in den sieben Jahren, die Charlie ihn gekannt hatte, Verkaufsdirektor gewesen war.

Unter Erics Namen war eine Liste von Artikeln aufgeführt.Goldenes Medaillon (14 Karat), las Charlie, Porzellandose, 19.Jahrh., Damenring mit Brillanten, japanischer Fächer. Und darunter wiederum stand10 Fotos.

Bethany tippte mit dem Finger darauf und sagte:

»Charles, ist das -«

Charlie ließ sie nicht aussprechen. Ihre Glieder fühlten sich bleischwer an, aber sie bewegte dennoch ihren Arm, drehte das Rechnungsbuch wieder herum und sagte: »Nein. Es ist - ich suche einen Clark oder eine Marilyn Lawton. Das ist jemand anders.«

»Oh!«, meinte Henry Leel. »Tja, dann wird der Mann es wohl nicht gewesen sein. Er war sowieso zu jung. Ich erinnere mich an ihn. Er war so - na, sagen wir, um die Vierzig. Vielleicht auch fünfundvierzig. Ich erinnere mich deshalb, weil er - schauen Sie! - fast siebenhundert Dollar ausgegeben hat. Der Ring und das Medaillon waren die großen Käufe, und man macht nicht jeden Tag so ein Geschäft. Ich weiß noch, dass ich zu ihm sagte: >Da kann sich eine gewisse junge Dame aber freuenc, und er mir zuzwinkerte und sagte: >Jede junge Dame, die's mit mir zu tun hat, kann sich freuen.< Daran erinnere ich mich genau. Ganz schön selbstbewusst, dachte ich. Aber selbstbewusst auf eine nette Art, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Charlie lächelte schwach. Sie stand auf. »Danke«, sagte sie. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Tut mir Leid, dass ich nicht mehr für Sie tun konnte«, erwiderte Henry Leel. »Wollen Sie wirklich jetzt fahren? Sie sind ganz blass um die Nase. Wenn Sie mich fragen, brauchen Sie erst mal einen Brandy.«

»Nein, nein, danke. Ich fühle mich ganz wohl«, beteuerte Charlie. Sie fasste Bethany am Arm und zog sie aus dem Laden hinaus.

Draußen, vor dem Laden, war noch eines der alten Geländer, an denen man früher die Pferde festgebunden hatte. Charlie hielt sich daran fest und sah zur Straße hinaus. Sie dachte an10 Fotos und was das bedeutete: eine falsche Familie, preiswert in Temecula, Kalifornien, gekauft. Aber wasbedeutete das? Und was sagte es ihr über ihren Mann?

Sie zwinkerte, um die Tränen zurückzudrängen. Bethany ##stand an ihrer Seite, und Charlie war der Freundin dankbar für ihr Schweigen. Sie standen stumm nebeneinander, während draußen auf der hellen Straße Autos vorüber­fuhren und auf dem Bürgersteig Fußgänger sich an ihnen vorbeidrängten, um in irgendeinen Laden zu eilen.

Als Charlie wieder sprechen konnte, sagte sie:

»Weißt du, was? Ich habe ihm vorgeworfen, er ginge fremd. Nicht an dem Abend. Ungefähr eine Woche vorher.«

Bethany sagte in bedrücktem Ton: »Das Medaillon hat er wohl nicht dir geschenkt? Und den Ring auch nicht?«

»Nein. Genauso wenig wie die Porzellandose.«

»Vielleicht hat er die Sachen Janie geschickt. In dem Bemühen, ein guter Vater zu sein.«

»Zu mir hat er nie was davon gesagt.« So sehr Charlie versuchte, sich zu beherrschen, jetzt begann sie doch zu weinen. »Er war seit ungefähr drei Monaten irgendwie verändert. Anfangs glaubte ich, es hätte mit der Arbeit zu tun - dass vielleicht die Umsätze zurückgegangen wären oder so was. Aber dann kam es ein paar Mal vor, dass er am Telefon war und auflegte, wenn ich ins Zimmer kam. Er kam häufig spät nach Hause. Er hat mich immer angerufen, um mir Bescheid zu geben, aber die Gründe waren - ach, Beth, es war alles so durchsichtig.«

Bethany seufzte. »Charles, ich weiß nicht. Es schaut ziemlich übel aus, das geb ich zu. Aber irgendwie krieg ich das nicht mit Eric zusammen.«

»Kriegst du eine Harley-Davidson mit ihm zusammen? Und ein Tattoo von einer Schlange, die sich seinen Arm hinaufringelt?« Charlie begann, heftiger zu weinen und schluchzend von ihren Ängsten und argwöhnischen Vermutungen zu sprechen sowie von ihren heimlichen Unternehmungen in der letzten Woche vor Erics Tod. Als sie ihn früher beschuldigt hatte, sie zu betrügen, habe er das bestritten, erzählte sie Bethany, und zwar mit so viel ungläubiger Entrüstung, dass Charlie beschlossen hatte, ihm zu glauben. Aber drei Wochen später hatte er ganz beiläufig gesagt, sie solle sich mit der Inneneinrichtung des Hauses Zeit lassen, insbesondere mit ihren Plänen für ein Kinderzimmer, denn »wir wissen ja gar nicht, wie lange wir noch in diesem Haus leben werden«, und das hatte ihren schrecklichen Verdacht wieder aufleben lassen.

Sie hatte sich selbst dafür gehasst, dass sie an Eric zweifelte, aber sie hatte es nicht geschafft, die Zweifel zu besiegen. Sie hatten sie beständig geplagt, so dass sie angefangen hatte, ihn auf entwürdigende Weise zu bespitzeln. Es war ihr peinlich, dies zuzugeben, aber sie war so weit gegangen, sein Badezimmer - man stelle sich das vor! - nach Spuren einer anderen Frau zu durch­suchen, die womöglich in ihrer - Charlies - Abwesenheit mit Eric im Haus gewesen war.

Während sie erzählte, wischte sie sich die Augen und lachte sogar zitternd über ihr Verhalten. Sie habe sich benommen wie die tragische Heldin einer Seifenoper, eine Frau, deren Leben rapide den Bach runtergeht, aber einzig durch eigenes Zutun. Sie hatte die Telefonrechnungen auf der Suche nach unbekannten Nummern überprüft; sie hatte in Erics Adressbuch herumgeschnüffelt, weil sie meinte, sie würde geheimnisvolle Initialen entdecken, die für den Namen einer Geliebten standen; sie hatte seine schmutzige Wäsche nach verräterischen Lippenstiftflecken durchge­sehen; sie hatte seine Kommodenschubladen durchwühlt und nach Erinnerungsstücken, Rechnungen, Briefen, abgerissenen Theater- oder Kinokarten gekramt; sie hatte das Schloss seines Aktenkoffers mit einer Haarnadel geöffnet und jedes einzelne Papier darin gelesen, als wären die Berichte der Firma Biosyn verschlüsselt geschriebene Liebesbriefe oder Tagebücher.

Das alles hatte sie ihm schließlich beichten müssen, als sie sich dazu hinreißen ließ, eine Flasche Hustensaft zu öffnen, die sie in seinem Badezimmer fand. Dabei wusste sie nicht einmal, warum sie sie öffnete - was sie darin zu entdecken erwartete! Einen Flaschengeist, vielleicht, der ihr die Wahrheit sagen würde? Kurz und gut, die Flasche war ihr aus der Hand gerutscht und auf den Steinboden geknallt, wo das ganz Zeug ausgelaufen war. Das hatte sie endlich zur Besinnung gebracht - nach diesem wachsen­den Gefühl der Frustration darüber, nichts beweisen zu können, diesem innerlichen Aha!, als sie die Flasche sah, packte und mit zitternden Händen aufschraubte, nach dem Schrecken, als sie ihren Fingern entglitt und zersprang und der Hustensaft sich in einer bernsteinbraunen Pfütze auf den Boden ergoss. Als das geschah, war ihr schlagartig klar geworden, wie sinnlos ihre Spitzelei war und was für eine hässliche Person sie aus ihr machte. Darum hatte sie schließlich ihrem Mann gebeichtet. Es schien ihr die einzige Möglichkeit, das, was sie quälte, hinter sich zu lassen.

»Er hat mich angehört und war völlig außer sich. Und nachdem wir miteinander geredet hatte, zog er sich in sich selbst zurück. Ich dachte, er wollte mich damit bestrafen, und fand, ich hätte es verdient. Was ich getan hatte, war gemein gewesen. Aber ich sagte mir, er würde mit der Zeit schon darüber hinwegkommen, wir würden es beide vergessen, und die Geschichte würde ein Ende haben. Aber eine Woche später war er tot. Und jetzt .« Charlie sah zur Ladentür hinüber.

»Jetzt wissen wir es, nicht wahr? Wir wissen, was. Wir wissen nur nicht, wer. Komm, Beth, fahren wir nach Hause.«

Bethany Franklin war nicht bereit, gleich das Schlimm- ste von Eric Lawton zu glauben. Sie machte Charlie darauf aufmerksam, dass alle ihre Nachforschungen nichts erbracht hatten. Es könne genauso gut sein, dass Eric einfach Weihnachtsgeschenke für sie gehortet hatte. Oder Geburtstagsgeschenke. Oder Valentinsgeschenke. Es gibt Menschen, die kaufen sofort, wenn sie etwas sehen, was ihnen gefällt, erklärte Bethany, und heben die Sachen dann für den geeigneten Anlass auf.

Aber für die Fotos sei das keine Erklärung, entgegnete Charlie. Er hatte sich seine Familie imTime on My Side gekauft. Und was hatte das zu bedeuten?

Dass er irgendwo eine andere Familie hatte. Neben Paula und deren Tochter, und neben ihr selbst.


In den folgenden zwei Tagen kämpfte Charlie gegen die wieder aufflammende Grippe und nutzte die Stunden im Bett, um sich zu überlegen, wer aus Erics kleinem Freundeskreis in der Lage und bereit wäre, ihr die Wahrheit über das geheime Leben ihres Mannes zu sagen. Sie entschied sich schließlich für Terry Stewart, Erics Anwalt, Tennispartner und alter Kindergartenfreund. Wenn Eric Lawton ein verborgenes Leben geführt hatte, dann musste Terry Stewart es wissen.

Aber noch ehe sie ihn anrufen konnte, um sich mit ihm zu verabreden, erhielt sie einen ersten Hinweis darauf, welcher Art das zweite Leben ihres Manns möglicher­weise gewesen sein könnte. Eine seiner Mitarbeiterinnen kam zu Besuch, eine Frau, die Charlie nie kennen gelernt, von der sie nie gehört hatte. Sie hieß Sharon Pasternak (»Nicht verwandt und nicht verschwägert«, erklärte sie lächelnd, nachdem sie sich an der Haustür vorgestellt hatte.) und entschuldigte sich dafür, dass sie unangemeldet vorbeigekommen war. Sie wolle fragen, sagte sie, ob sie kurz Erics Arbeitsunterlagen durchsehen dürfe. Sie hatte mit ihm zusammen an einem Bericht für den Aufsichtsrat gearbeitet, und Eric hatte den größten Teil des Materials mit nach Hause genommen, um es zu ordnen und zu einem logischen Ganzen zusammenzufügen.

»Mir ist klar, dass es sehr früh ist - äh -, Sie wissen, was ich meine. Und ich würde ja auch warten, wenn das möglich wäre«, sagte Sharon Pasternak, als Charlie sie ins Haus bat. »Aber die Aufsichtsratssitzung ist nächsten Monat, und da ich den Bericht jetzt allein zusammen­stellen muss ... Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie belästigen muss ... Aber ich kann die Sache nicht länger liegen lassen.«

Sie wirkte ernsthaft, schien es zu bedauern, auch nur Erics Namen aussprechen zu müssen, schien seiner Witwe unter keinen Umständen zusätzlichen Schmerz bereiten zu wollen. Alles, was sie tat und sagte, war völlig in Ordnung. Andererseits aber stellte sie sich als Molekular­biologin vor, was Charlie veranlasste, sich zu fragen, wieso eine Wissenschaftlerin des Unternehmens und der Verkaufsdirektor gemeinsam einen Bericht verfassen sollten.

Misstrauisch, alle Sinne hellwach, führte Charlie Sharon Pasternak in Erics Arbeitszimmer, wo auf dem Schreib­tisch sein Aktenkoffer lag. Sharon warf ihr einen lächelnden Blick zu. »Darf ich ... ist es Ihnen recht, wenn ich mich hier setze?« Sie legte eine Hand auf Erics Drehsessel. »Es dauert vielleicht ein Weilchen.« Sie machte eine ausholende Geste: »Er hat so viele Akten.«

»Aber natürlich«, antwortete Charlie, so freundlich sie konnte. »Lassen Sie sich Zeit. Irgendwann muss ich diese Sachen alle einmal durchsehen, aber nehmen Sie ruhig mit, was Ihre gemeinsame« - sie ließ absichtlich einen Moment verstreichen, ehe Sie fortfuhr - »Arbeit betrifft.«

Sharon Pasternak wurde rot und senkte den Blick. Sie sagte: »Vielen Dank«, und hob den Kopf, als sie hinzufügte: »Es tut mir so Leid, Mrs. Lawton. Er war ein feiner Mensch. Er war so ein feiner Mensch.« Sie fixierte Charlie mit viel sagendem Blick, hielt sie viel zu lange in diesem Blick fest.

So ist das also, dachte Charlie. So war das also, wenn man plötzlich dem Objekt der heimlichen Begierde seines Ehemanns gegenüberstand. Nur eines wunderte sie - Sharon Pasternak war überhaupt nicht Erics Typ: mollig, praktisch geschnittenes, dunkles Haar, kaum Make-up, zu dicke Fesseln. Nein, sie war nicht sein Typ. Dennoch musste die Frage gestellt werden: Waswar denn Eric Lawtons Typ gewesen? Wer war sein Typ gewesen? Wusste seine Frau das überhaupt?

Charlie ging in ihr Schlafzimmer und zog die Vorhänge zu. In der Dunkelheit liegend, lauschte sie auf die Geräusche aus dem Arbeitszimmer, wo Erics Mitarbeiterin kramte, wo sie kramen zu müssen glaubte. Charlie hatte bei ihrer rasenden Suche nach einem Beweis für die Untreue ihres Mannes selbst schon in diesem Zimmer das Unterste zuoberst gekehrt. Wenn Sharon tatsächlich die heimliche Geliebte war, hätte Charlie ihr gern gesagt, dass ihr Geheimnis sicher war oder zumindest sicher gewesen war, bis sie vor Eric Lawtons Haustür aufgekreuzt war. Dumme Idee, Miss Pasternak.

»Wie Boris?«, fragte später Bethany. »Ich meine, das ist ja nicht gerade ein Allerweltsname. Hast du dir einen Ausweis zeigen lassen? Vielleicht hat sie dich angelogen.«

»Warum? Wenn sie wirklich Erics Geliebte war, was spielt es dann für eine Rolle, ob ich ihren Namen weiß oder nicht?«

»Vielleicht ist sie gar nicht Erics Geliebte, Charles. Vielleicht ist sie jemand ganz anderes.«

Charlie ließ sich dies Argument mit allem, was es implizierte, durch den Kopf gehen. »Ich muss mit Terry Stewart sprechen«, entschied sie. »Terry weiß bestimmt, mit wem Eric zusammen war.«

»Wenn er mit jemandem zusammen war! Aber warum musstdu das überhaupt wissen?«

»Weil ich ...« Charlie holte tief Luft. »Ich brauche Absolution, und die bekomme ich durch die Wahrheit.«

»Absolution wovon?«

»Davon, dass ich nicht weiß, was ich glauben soll.«

»Das ist doch keine Sünde!«

»Für mich schon.«

Charlie wusste, dass sie Erics besten Freund, Terry Stewart, von dem ihr Mann so oft behauptet hatte: »Er ist mein bester Freund auf der ganzen Welt - er hat mich nie im Stich gelassen und würde es auch niemals tun«, über­raschen musste und ihm keine Zeit lassen durfte, sich eine Deckgeschichte für das auszudenken, was er möglicher­weise über Eric verheimlichen wollte. Da er Anwalt war - Erics Anwalt noch dazu -, war mit seiner Entschlossenheit zu rechnen, die Geheimnisse seiner Mandanten wenn nötig mit ins Grab zu nehmen. Sie wollte ihm daher auf keinen Fall einen offiziellen Besuch abstatten, und das hieß, dass sie versuchen musste, ihn an einem Ort, der nichts mit der Kanzlei zu tun hatte, abzupassen.

Der Fitnessclub erwies sich als der geeignete Ort. Auf dem Weg zu den Tennisplätzen, wo sie ihn vermutete, sah sie seinen Wagen mit der ihr bekannten Nummer auf dem Parkplatz stehen und hielt an. Nachdem sie ihn, durch die großen Glasfenster des Gebäudes, auf dem Laufband erkannt hatte, beschloss sie, zu warten, bis er herauskam. Gleich nebenan war ein Starbucks, und sie ging hinein.

Sie saß am Fenster und trank einen Milchkaffee, als die Tür des Fitnessclubs aufgestoßen wurde und Terry auf die Straße trat. Er lief auf seinen Wagen zu und zog im Gehen seinen Schlips gerade. Er sah aus wie frisch geschrubbt - nasses Haar und rot glänzendes Gesicht. Sie klopfte ans Fenster, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er wandte den Kopf in ihre Richtung, erkannte sie, blieb stehen, lächelte. Dann kam er näher und trat wenig später zu ihr an den Tisch.

»Wie geht es dir, Charlie?« Seine Miene war ernst und teilnahmsvoll.

Charlie zuckte die Schultern. »Ganz okay. Es ist mir schon besser gegangen, aber ich werde es überleben.«

»Es tut mir Leid, dass ich nicht angerufen habe. Ich bin wahrscheinlich ein elender Feigling. Wenn ich darüber spreche, fängt sie bestimmt an zu weinen, habe ich mir gesagt. Und ich kann nicht darum herum reden, das wäre Heuchelei. Aber ich möchte sie nicht zum Weinen bringen. Sie hat genug geweint. Vielleicht geht es ihr schon wieder besser, und dann würde ich alles nur von neuem aufwühlen.« Er zog einen Stuhl heraus und setzte sich. »Es tut mir wirklich Leid.«

»Er hatte eine Geliebte, richtig?«

Terry fuhr zurück, sichtlich erschrocken über diesen Frontalangriff. »Eric?«

»Zuerst dachte ich, ja. Dann dachte ich, nein. Das heißt, eigentlich hat er mich davon überzeugt. Aber jetzt . Er hatte eine Geliebte, nicht wahr?«

»Aber nein! Guter Gott, wie kommst du denn darauf?«

»Er hat sich so verändert, Terry. Die Harley, zum Beispiel, und das Tattoo.«

»Mensch, Charlie, in diesem Viertel hier wimmelt's von Typen um die Vierzig, deren Wochenendvergnügen darin besteht, auf ihren Harleys durch die Gegend zu donnern. Sie haben Frauen, Kinder, Katzen, Hunde, müssen ihr Auto und ihr Haus abbezahlen und fragen sich eines Morgens beim Aufwachen: Ist das wirklich alles? Es reicht ihnen nicht mehr. Midlife-Krise nennt man das. Sie wollen die Spannung wiederhaben. Und holen sie sich mit einem schnellen Motorrad. Das ist alles.«

»Aber er hat heimlich telefoniert, kam häufig spät nach Hause, angeblich, weil er länger gearbeitet hatte. Und dann war eine Frau bei mir und wollte seine Sachen durchsehen. Eine gewisse Sharon Pasternak, Molekular­biologin bei Biosyn. Sie sagte, sie hätten zusammen an einem Bericht gearbeitet - sie und Eric. Kannst du mir sagen, wieso Eric mit einer Biologin zusammen einen Bericht geschrieben haben soll, Terry? Und er hätte Unterlagen mit nach Hause genommen, die sie brauchte, um den Bericht jetzt allein zusammenzustellen. Aber als sie ging, nahm sie kein Stück mit. Was soll ich daraus schließen?«

»Keine Ahnung.«

»Ich denke, es liegt auf der Hand. Sie hat nach Spuren gesucht.«

»Spuren wovon?«

»Du weißt, was ich meine. Er hatte eine Geliebte. Vielleicht war sie es.«

»Das ist ausgeschlossen.«

»Warum? Warum ist das ausgeschlossen?«

»Weil - Herrgott noch mal, Charlie, er war verrückt nach dir. Schon vom ersten Tag an.«

»Dann hat sie etwas anderes gesucht. Aber was?«

»Charlie, Mensch! Jetzt beruhig dich mal, okay? Du schaust aus wie Braunbier mit Spucke, entschuldige den harten Ausdruck. Schläfst du genug? Isst du richtig? Hast du mal daran gedacht, für ein paar Tage wegzufahren?«

»Er hat mir über seine Familie nur Lügen aufgetischt. Er hatte Fotos und hat vorgetäuscht . Du hast sie doch auch gesehen, Terry. Du warst bei uns zu Hause. Du hast die Fotos gesehen, und du hast seine Familie gekannt. Du bist mit ihm zusammen aufgewachsen. Du musst also gewusst haben .« Charlotte umklammerte mit beiden Händen die Tischkante, als ihr Magen sich plötzlich schmerzhaft zusammenkrampfte. In ihren Därmen rumorte es. Ihre Hände waren feucht. Sie war drauf und dran, zusammen­zuklappen, und war wütend darüber, darum hob sie die Stimme und rief laut: »Ich will das wissen. Ich habe ein Recht darauf. Du musst mir sagen, was du weißt.«

Terry sah vor allem verwirrt aus. »Von was für Fotos sprichst du?«, fragte er.

Charlie erklärte es ihm. Er hörte ihr aufmerksam zu, aber dann schüttelte er den Kopf. »Ja, natürlich habe ich Erics Familie gekannt. Aber nur seine Mutter, seinen Vater und seinen Bruder. Brent. Und selbst wenn ich mir die Fotos genauer angesehen hätte - was ich nicht getan habe, ich meine, wer sieht sich schon die Familienfotos in anderer Leute Häuser näher an, man wirft doch höchstens im Vorbeigehen einen Blick auf sie und basta -, also, selbst wenn ich sie mir genauer angesehen hätte, hätte ich niemanden erkannt. Erics Mutter ist gestorben, als wir beide ungefähr acht waren, und vorher war sie fünf Jahre bettlägerig. Nach einem Schlaganfall. Ich habe sie in der Zeit vielleicht einmal gesehen! Wie hätte ich sie da auf einem Foto ... Nie im Leben. Ich kannte sie ja überhaupt nicht. Und Brent und Erics Vater habe ich seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr gesehen. Vielleicht ist es auch schon länger her. Die hätte ich auf einem Foto auch nicht erkannt.«

Charlie hatte auf einmal ein Dröhnen in den Ohren.

»Brent?«, sagte sie leise. »Der ist doch ums Leben gekommen. Bei dem Unglücksfall. Und danach haben Erics Eltern -«

»Bei was für einem Unglücksfall?«, fragte Terry.

»Mit dem Gewehr. Bei der Vogeljagd. In der Wüste. Eric ist gestolpert, und Brent ist -« Sie brach ab. Terrys Miene verriet ihr mehr, als sie wissen wollte. Sie war den Tränen nahe. »O Gott! O mein Gott!«

»Komm, komm, Charlie.« Terry tätschelte ihr unbe­holfen die Hand. »Du meine Güte. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Sag mir einfach alles, was zu weißt. Sag mir, warum er gelogen hat. Sag mir, wer sie ist. Sag mir, wer er war.«

»Ich schwöre -«

Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Er war dein bester Freund!«

Terry warf einen Blick über die Schulter zum Tresen, wo die Bedienung mehr Interesse an ihrem Gespräch zeigte als an den Milchkaffees, die sie gerade machte. Dann wandte er sich wieder Charlie zu. »Es hat in seiner Familie einen Riesenkrach gegeben. Vor Jahren war das. Aber das ist alles, was ich weiß. Er hat nicht darüber gesprochen, und ich habe nicht gefragt.«

»Und warum hat er mir nichts davon erzählt? Warum hat er mir vorgemacht -«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht klang es - na ja, interessanter oder so was.«

»Dass man den eigenen Bruder erschossen hat? Das kann nicht dein Ernst sein. So was würde ein Mann seiner Frau doch nur erzählen, wenn er vermeiden will, dass sie ihm Fragen nach seiner Familie stellt und sich wundert, weil er keinerlei Kontakt zu ihr hat. Aber warum sollte ein Mensch das vermeiden wollen, Terry? Da gibt's doch nur eine Antwort: Weil er noch ein zweites Leben führte, von dem sie wussten. Richtig?«

»Aber das stimmt nicht.«

»Woher weißt du das?«

»Hör zu, ist dir klar, was es an Planung bedarf, ein Doppelleben zu führen, wie es dir vorschwebt? Du lieber Gott! Weißt du, was das allein an Geld verschlingen würde? So viel Geld hatte er nicht, Charlie. Das Einzige, was er hatte, waren Rosinen im Kopf, wie wir alle.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, er hat Sprüche gemacht. Du weißt doch, wie er war.«

»Was für Sprüche?«

»Ich brauche jetzt erst mal eine Tasse Kaffee.« Terry stand auf und ging zum Tresen, wo er bestellte, seine Brieftasche herauszog und wartete.

Er will Zeit schinden, dachte Charlie, um sich sein Märchen zurechtzulegen. Zum ersten Mal seit Erics Tod fragte sie sich, ob es überhaupt einen Menschen gab, dem sie vertrauen konnte, und ließ sich bei diesem Gedanken deprimiert auf ihrem Stuhl zurücksinken.

»Er hat von Barbados geredet, von Grenada, den Bahamas«, sagte Terry, als er wieder zu ihr kam. Er stellte den Cappuccino auf den Tisch und riss ein Beutelchen Zucker auf. »Er hat davon geschwafelt, dass er sein Geld dorthin bringen und ein ganz neues Leben anfangen wollte, den ganzen Tag am Strand in der Hängematte liegen und Pina Coladas trinken.«

»Mein Gott, was war da eigentlich los?«, rief Charlie.

»Ja, verstehst du denn nicht? Gar nichts! Er war zweiundvierzig.Das war los. Er hat Sprüche gemacht, das war alles. Männer tun das. Sie reden von Geldanlage, von Börsengeschäften, von schnellen Autos und Frauen mit großem Busen, von Jachten und großen Regatten, möglichst gleich um den America's Cup. Sie reden davon, dass sie im Himalaya wandern und in Venedig einen Palazzo mieten wollen. Ehrlich, Charlie, es war nur Gerede. So was ist bei vielen zweiundvierzigjährigen Männern gang und gäbe.«

»Bei dir auch?«

Terry lief rot an. »Na ja, das ist so eine Männer­geschichte.«

»Bei dir auch?«

»Nicht alle Männer sind gleich.« Und als er die Verzweiflung in ihrem Gesicht sah, fügte er hastig hinzu:

»Charlie, es war nichts, gar nichts. Es wäre vorbeigegangen.«

»Er fühlte sich eingesperrt und hat etwas dagegen unternommen.«

»Bestimmt nicht.«

»Aber dann ist etwas passiert, was ihn daran hinderte, seine Pläne auszuführen, und da saß er dann richtig fest und -«

»Nein. So war es nicht.«

»Wie war es dann? Wie war es, Terry?«

Er ergriff seine Cappuccinotasse, aber er trank nicht.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er.

»Das glaube ich dir nicht.«

»Ich sage dir die Wahrheit.« Er sah sie lange und ernst an, als besäße sein Blick die Macht, sie zu überzeugen und zu beruhigen. »Du musst in die Kanzlei kommen«, sagte er. »Wir müssen sein Testament durchsprechen. Die gesetzlichen Formalitäten erledigen . Charlie, ich möchte dir helfen. Ich bin genauso niedergeschmettert.

Er war mein bester Freund. Können wir nicht füreinander dasein?«

»So wie Eric für uns beide da war? Was heißt das überhaupt, Terry?«


Er war tot, und es war schwer für Charlie, damit fertig zu werden. Die Art seines Sterbens - so unerwartet und so unsagbar schrecklich - machte es ihr noch schwerer, sich mit seinem Tod auseinander zu setzen. Jetzt aber erkennen zu müssen, dass der Mann, den sie geliebt und verloren hatte, gar nicht der gewesen war, für den sie ihn gehalten hatte - das war kaum zu ertragen. Auf der Heimfahrt fühlte sie sich, als hätte die Pest von ihr Besitz ergriffen, ein schleichendes Gift, das ihren Körper zu erleiden zwang, was ihr Geist nicht erfassen wollte.

Somatisieren nannte man das. Sie erinnerte sich aus ihrem College-Seminar der Psychologie an den Ausdruck. Sie war nicht fähig, der ganzen Wahrheit ins Auge zu sehen, aber ihr Körper wusste die Wahrheit und reagierte entsprechend. Sie hatte überhaupt keine Grippe. Sie somatisierte. Und jetzt versuchte ihr Körper, sie von Erics Lügen zu reinigen, denn im Auto überkam sie plötzlich eine so heftige Übelkeit, dass sie meinte, sie würde es nicht mehr bis nach Hause schaffen, ohne sich zu übergeben.

Und sie schaffte es auch nicht. Kaum hatte sie den Wagen in ihrer Einfahrt angehalten, riss sie die Tür auf und torkelte ins Freie. Auf dem gepflegten Rasen des Vorgartens fiel sie auf die Knie, während Krampf um Krampf anfallartig ihren Magen zusammenzog und den mageren Inhalt aufwärts und in einem dünnen, übel riechenden Schwall durch ihren Mund aus ihrem Körper hinauspresste. Sie würgte, angewidert von Geschmack und Geruch, und begann erneut, sich zu erbrechen, bis nichts blieb als das krampfhafte Zucken ihres Magens, das sie nicht beherrschen konnte. Schließlich fiel sie keuchend auf die Seite und blieb liegen, Hals und Augen von Schweiß verschmiert. Sie starrte das Haus an.Vergiss nicht, dass ich dich immer lieben werde.

Sie rappelte sich hoch und schleppte sich taumelnd zur Veranda, froh, dass die Nachbarschaft wie in so vielen besseren Vierteln in den Vororten Südkaliforniens um diese Tageszeit wie ausgestorben war. Die beiden Doppelverdienerpaare, die ihre Nachbarn waren, würden vor dem Abend nicht nach Hause kommen. Sie war also nicht beobachtet worden. Gott sei Dank.

Erst als sie vor der Haustür stand, fiel ihr auf, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hielt schon den Schlüssel in der Hand, als sie die tiefen Schrammen und Kerben rund um die Stelle bemerkte, wo einmal das Schloss gewesen war.

Mit schwacher Hand stieß sie die Tür auf, war aber klug genug, nicht einzutreten. Sie konnte von der Veranda aus alles sehen, was zu sehen nötig war.


»Heiliger Strohsack«, brummte der Polizist. »Ein schöner Saustall.« Er stellte sich Charlie als Officer Marco Doyle vor. Keine zehn Minuten nach ihrem Anruf war er mit blinkendem Blaulicht und heulender Sirene vorgefahren, als wollte er dafür sorgen, dass sie als Steuerzahlerin auf ihre Kosten kam. Sein Partner war ein Hund namens Simba, der aussah wie eine Kreuzung aus einem deutschen Schäferhund und dem Hund von Baskerville.

»Er ist im Dienst«, hatte Doyle beim Eintritt ins Haus gesagt. »Bitte nicht streicheln.«

Charlie hatte gar nicht daran gedacht, das zu tun.

Simba blieb wachsam auf der Veranda, während Doyle ins Haus ging und sich drinnen umsah. Im Wohnzimmer machte er dann die Bemerkung über den »Saustall«, die Charlie, die sich an ihrem Handy festhielt, als wäre es ihr einziger Rettungsanker, vorn im Vestibül hörte.

»Komm, Simba«, rief Doyle, und der Hund sprang ins Haus. Sein Herr befahl ihm, die Spur eventueller Eindring­linge aufzunehmen, und während das Tier, gefolgt von Doyle, suchend von Raum zu Raum trottete, nahm Charlie das Werk der Zerstörung in Augenschein.

Es war offenkundig, dass nicht einfach Raub die Absicht gewesen war, sondern dass jemand nach etwas Bestimm­tem gesucht hatte. An der Art und Weise, wie ihre Sache umhergeworfen waren, ließ sich ablesen, dass hier jemand schnell und gezielt gearbeitet und einzelne Gegenstände einfach zur Seite geworfen hatte, um sie aus dem Weg zu räumen, als er nicht fand, was er suchte. Die Vor­gehensweise schien in allen Räumen die gleiche: Alle Möbel waren von der Wand abgerückt; Kommoden und Schränke waren geleert und ihr Inhalt auf den Boden geworfen worden; Bilder waren abgenommen, Bücher durchgeblättert und zu Boden geschleudert worden.

»Niemand hier«, verkündete Doyle. »Der Kerl hat Gas gegeben. Leider hängen hier zu viele Gerüche herum, der Hund kann nichts Brauchbares aufnehmen. Haben Sie kürzlich eine Party gegeben?«

Eine Party. »Ich hatte Gäste, ja. Nach einer Beerdigung. Mein Mann . « Charlie wurden die Knie weich, und sie ließ sich in einen Sessel sinken.

»Mann, das tut mir echt Leid«, sagte Doyle. »Schlimm, so was. Können Sie mir sagen, ob irgendwas fehlt?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Es scheint so - ach, ich weiß nicht.« Charlie fühlte sich so erschöpft, dass sie nur noch ins Bett kriechen und ein ganzes Jahr lang schlafen wollte. Den Albtraum wegschlafen, dachte sie.

Doyle sagte, er werde jetzt die Kollegen von der Spurensicherung mobil machen. Die würden hier alles auf Fingerabdrücke prüfen und so weiter. Charlie solle inzwischen vielleicht ihre Versicherung anrufen. Und ob sie jemanden hätte, der ihr beim Aufräumen helfen könnte, wenn die Spurensicherung hier fertig war?

Ja, antwortete Charlie brav. Sie habe eine Freundin, die ihr helfen würde.

»Soll ich sie für Sie anrufen?«

Nein, nein, wehrte Charlie ab. Sie würde später selbst anrufen. Im Moment könne man ja sowieso noch nichts tun.

Doyle meinte, das sei vernünftig, und sagte, er würde mit dem Hund draußen warten, bis die Kollegen kämen. Sie trafen eine Stunde später ein, in einem weißen PKW, auf dessen Türen in dezentem GrauKriminalpolizei stand.

Während sie im Chaos, das der Eindringling angerichtet hatte, pflichtschuldig nach Spuren suchten, saß Charlie hinten im Garten und starrte den dekorativen kleinen Springbrunnen an, den sie und ihr Mann vor zwei Jahren zu entfernen beschlossen hatten, »sobald Kinder kom­men«. Das alles schien jetzt Teil eines anderen Lebens zu sein; eines Lebens, das mit ihrem gegenwärtigen keine Ähnlichkeit hatte und nichts als Lüge gewesen war.

»Wow, der Typ ist zu toll, um wahr zu sein«, hatte ihre Schwester Emily gesagt, als sie Eric kennen gelernt hatte.

Und sie hatte offenbar Recht gehabt.

Als die Beamten von der Spurensicherung mit ihrer Arbeit fertig waren, hinterließen sie Charlie Namen und Telefonnummer einer Frau, die darauf spezialisiert war, wie sie erklärten, »in solchen Fällen die Ordnung wieder herzustellen. Sie brauchen Sie nur anzurufen«, sagten sie. »Sie ist gut und preiswert.«

Charlie wusste nicht, ob sie die Frau oder ihre Arbeit meinten. Aber es spielte sowieso keine Rolle. Sie wollte keine Fremden in den Trümmern ihres Lebens herum­kramen lassen.

Sie machte sich allein an die Arbeit und begann dort, wo, wie sie wusste, ohne es sich eingestehen zu wollen, auch der Eindringling begonnen hatte: in Erics Arbeitszimmer.

Das habe ich Sharon Pasternak zu verdanken, dachte Charlie. Sie blieb an der offenen Tür stehen und ließ sich gegen den Rahmen sinken. Man müsste schon total vernagelt sein, um diesen Einbruch nicht mit Sharon Pasternaks Besuch und den Unterlagen, die sie gesucht hatte, in Verbindung zu bringen. Als sie nicht gefunden hatte, was sie suchte, hatte sie kurzerhand jemanden angeheuert, der fähig war, beim Suchen etwas mehr Fantasie zu entwickeln. Das Ergebnis hatte Charlie nun vor sich.

Sie stieg über einen Stapel Aktenordner und trat an Erics Schreibtisch. Mit dem Einfachsten fing sie an: Sie setzte die Schubladen wieder ein und ordnete ihren Inhalt. Und bei dieser Tätigkeit entdeckte sie einen Hinweis darauf, wo - wenn auch nicht welcher Art - die Unterlagen waren, die Sharon Pasternak und der Einbrecher so dringend haben wollten. Neben Erics Schreibtisch auf dem Boden lag, als hätte man es aus einer der unteren Schubladen gekippt, ein dünnes Bündel Papiere, das nicht hierher gehörte: der Kaufvertrag für das Haus, die KFZ- Briefe für die Autos, Versicherungsunterlagen, Geburts­urkunden, Reisepässe. Das alles lag normalerweise in ihrem Bankschließfach. Die Tatsache, dass es nun hier im Haus war, veranlasste Charlie zu der Frage, ob jetzt an Stelle dieser Dokumente etwas anderes im Tresor lag, und wenn ja, was.


Sie suchte die Bank erst am folgenden Tag auf. Nachdem sie den ganzen Morgen im Bett gelegen und gegen lähmende Lethargie gekämpft hatte, tappte sie kurz nach Mittag ins Badezimmer, schaufelte sich einen Weg durch das Chaos und ließ die Wanne einlaufen. Sie streckte sich im Wasser aus und blieb träge darin liegen, bis es kühl wurde. Erst dann ließ sie Wasser nachlaufen und begann müde, sich zu waschen. Sie versuchte, sich zu erinnern, ob sie schon einmal so eine Zeit erlebt hatte, wo alles - selbst die kleinste Bewegung - solche Anstrengung gekostet hatte. Es gelang ihr nicht. Es war zwei Uhr, als sie schließlich, den Schlüssel zu ihrem Schließfach in der Hand, in den Schalterraum der Bank trat. Sie tippte auf die Glocke, um den Service anzufordern, und sofort kam eine Angestellte, ein junges Mädchen, bestimmt nicht älter als Anfang Zwanzig, mit rabenschwarzem Haar und rabenschwarz umrandeten Augen. Dem Namensschild­chen an ihrer Bluse zufolge hieß sie Linda.

Charlie füllte die Karte aus. Linda las ihren Namen und die Nummer ihres Schließfachs und hob dann den Kopf, um Charlie anzusehen. »Oh!«, sagte sie. »Sie sind - ich meine, Sie waren noch nie -« Sie brach ab, als wäre ihr eben eingefallen, dass ihr Verhalten nicht angebracht war. »Bitte, kommen Sie mit, Mrs. Lawton«, sagte sie nur.

Das Schließfach war eines von den großen in der untersten Reihe. Charlie steckte ihren Schlüssel in das rechte Schloss, während Linda den ihren in das linke schob. Eine kurze Drehung der Hand, und der Kasten glitt aus seinem Fach. Linda hob ihn in die Höhe und stellte ihn auf den Tisch »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Mrs. Lawton?«, fragte sie und sah Charlie dabei so gespannt an, dass diese sich fragte, ob das Mädchen vielleicht Teil von Erics geheimem Leben war.

»Warum fragen Sie?«

»Bitte?«

»Warum fragen Sie, ob Sie sonst noch etwas für mich tun können?«

Linda wich zurück, als hielte sie Charlie für verrückt.

»Das fragen wir immer. Das müssen wir fragen. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee? Oder Tee?«

Charlies ängstliche Nervosität löste sich auf. »Nein, danke«, antwortete sie. »Verzeihen Sie, es tut mir Leid. Mir geht es in letzter Zeit nicht besonders gut. Ich wollte Sie nicht ...«

»Dann lasse ich Sie jetzt allein«, sagte Linda und schien froh, gehen zu können.

Allein im Tresorraum, holte Charlie erst einmal tief Luft. Der Raum war stickig und überheizt, und es war beklemmend still. Sie fühlte sich beobachtet und suchte nach Kameras. Aber es waren keine da. Sie war absolut ungestört.

Es war Zeit, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, was Sharon Pasternak in Erics Arbeitszimmer gesucht hatte. Es war Zeit, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, warum ein Fremder ins Haus eingebrochen war und alles auseinander genommen hatte, was nicht niet- und nagelfest war.

Vorsichtig öffnete sie den Deckel des Kastens. Ihr stockte der Atem, als sie den Inhalt sah: Säuberlich aufgereiht und um die Mitte mit Gummibändern zusammengehalten, sandten dicke Bündel von Hundert­Dollar-Scheinen einen Geruch von Alter, Abgenutztheit und Unredlichkeit in die Luft.

»Mein Gott«, flüsterte Charlie und stieß krachend den Deckel des Kastens zu. Keuchend wie eine Sprinterin, stützte sie sich vorgebeugt auf den Tisch und versuchte, sich zu erklären, was sie soeben gesehen hatte. Die Bündel sahen aus wie fünfzig Scheine dick. Und wie viele Bündel waren in dem Kasten gewesen? Fünfzig, siebzig, hundert? Das bedeutete ... Was? Es war mehr Geld, als sie außer im Kino je zu Gesicht bekommen hatte. Wer, um Gottes willen, war ihr Mann gewesen? Was hatte er getan?

Am Rand ihres Gesichtsfelds nahm Charlie eine schattenhafte Bewegung wahr und drehte den Kopf. In dem Spalt zwischen der Wand des Tresorraums und der Tür stand das Mädchen Linda und beobachtete sie. Als sie Charlies Blick auffing, trat sie hastig zurück - augenblicklich wieder die dienstliche Korrektheit in Person.

Charlie eilte aus dem Tresorraum und rief nach dem Mädchen. Linda drehte sich um, bemüht, distanzierte Gleichgültigkeit an den Tag zu legen. Aber das gelang ihr nicht, sie hatte einen Blick in den Augen wie ein Reh, das ins blendende Licht von Autoscheinwerfern geraten war.

»Ja, Mrs. Lawton?«, sagte sie leise. »Ist noch etwas?«

Mit einer Handbewegung bedeutete Charlie dem Mädchen, dass sie seine Begleitung in den Tresorraum wünschte. Linda sah sich Hilfe suchend um, aber es war niemand da, der sie hätte retten können. An einem Schreibtisch am anderen Ende des Raums saß ein Paar im Gespräch mit einem der Angestellten. Die Kassierer hatten an ihren Schaltern zu tun. Die Tür zum Büro des Filialleiters war geschlossen. Es herrschte die typische mittägliche Stille, die dem Ansturm kurz vor Geschäfts­schluss am Nachmittag voranzugehen pflegte.

»Ich muss . « Linda drehte einen Ring an ihrer Hand. Es war ein Brillantring. Verlobung oder etwas anderes?, fragte sich Charlie.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie den Auftrag haben, die Kunden im Tresorraum zu bespitzeln«, sagte Charlie. »Ich möchte mich nicht gern beim Filialleiter über sie beschweren müssen. Kommen Sie also mit mir rein, oder soll ich bei ihm anklopfen?«

Linda schluckte. Sie schob sich eine Strähne schwarzen Haars hinters Ohr. Dann folgte sie Charlie.

Der Kasten stand noch auf dem Tisch, wo Charlie ihn zurückgelassen hatte. Wie unter Zwang richtete Linda ihren Blick darauf. Sie schob ihre Hände zusammen und wartete darauf, was Charlie sagen würde.

»Sie haben meinen Mann gekannt. Sein Name war Ihnen bekannt. Sie haben praktisch gesagt, dass er häufig hier war.«

»Ich wollte bei Ihnen nicht den Eindruck erwecken -«

»Sagen Sie mir, was Sie hierüber wissen.« Charlie öffnete den Tresorkasten. »Denn Sie wussten, dass das Geld hier war. Sie haben mich beobachtet. Sie wollten sehen, wie ich reagieren würde.«

Linda sagte hastig: »Ich hätte Sie nicht beobachten sollen. Es tut mir Leid. Ich kann es mir nicht leisten, meine Arbeit zu verlieren. Ich muss für meine kleine Tochter sorgen.«

Erics Kind? Charlie machte sich auf das Schlimmste gefasst.

»Sie ist erst anderthalb Jahre alt«, fuhr Linda fort.

»Ihr Vater zahlt uns keinen Penny, undmein Vater weigert sich, uns bei sich aufzunehmen. Ich arbeite seit einem Jahr hier, und es läuft ziemlich gut. Aber wenn ich jetzt gefeuert werde .«

»Wie lange haben Sie und mein Mann ...? Wie haben Sie einander kennen gelernt?«

»Kennen gelernt?« Linda riss entsetzt die Augen auf, als sie begriff. »Er istnett, weiter nichts. Er - na ja, er flirtet ganz gern, aber das ist auch alles. Ich wusste nicht, dass er verheiratet ist, bis ich mal auf der Karte Ihren Namen gesehen habe. Und - ehrlich, da ist nichts. Er ist einfach ein guter Typ, er kommt ziemlich häufig, und er hat mich ein bisschen neugierig gemacht. Mehr ist nicht.«

»Sie haben ihn im Tresorraum beobachtet.«

»Nur ein Mal. Ich schwör's. Nur ein einziges Mal. Die anderen Male . Also, anfangs hat er, wenn er kam, um seine Einzahlungen zu machen - auf das Scheckkonto, meine ich -, immer auf mich gewartet. Er ließ andere vor und hat gewartet, bis ich frei war. Einmal ist ihm das Foto von Brittany aufgefallen - das ist meine kleine Tochter, es steht an meinem Schalterfenster, sehen Sie, gleich da drüben -, und er hat mich nach ihr gefragt. So sind wir ins Gespräch gekommen. Er sagte, er hätte auch eine kleine Tochter, aber sie wäre schon älter, und er hätte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Er sagte, dass sie ihm fehlt, und das war alles, worüber wir uns unterhalten haben. Ich weiß, dass er geschieden ist, weil er ein paar Mal von seiner >Exfrau< gesprochen hat, und ich dachte zuerst ... Na ja, er hat mir irgendwie das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein, und ich dachte mir, hey, wäre das nicht klasse, wenn ich hier in der Bank jemanden kennen lernen würde? Ich bediene ihn immer, wenn er kommt, und bin einfach nett und freundlich. Und ich habe nicht den Eindruck, dass er was dagegen hat.«

»Er ist tot.«

»Tot? Oh, mein Gott! Das tut mir Leid. Ich hatte ja keine Ahnung.« Sie wies mit einer Handbewegung zu dem Metallkasten. »Mich hat das hier interessiert, sonst nichts. Ehrlich. Mehr war's nicht.«

»Wie lang liegt es schon hier?«, fragte Charlie. »Das Geld, meine ich.«

»Ich weiß wirklich nicht - zwei Wochen vielleicht? Oder drei?«, sagte Linda. »Er kam irgendwann mal außer der Reihe, nicht an dem Tag, an dem er gewöhnlich seinen Gehaltsscheck einzahlte.«

»Und was war los? Warum haben Sie ihn beobachtet?«

»Weil er - er hat richtig gestrahlt an dem Tag. Er war high!«

»Auf Drogen?«

»Nein, nein. Er war einfach glücklich und vergnügt. Er hatte seinen Aktenkoffer mit und hat geklingelt, genau wie Sie vorhin, und ich bin hinübergegangen, und er hat die Karte unterzeichnet. Dann hat er gesagt: >Ich bin froh, dass Sie mich bedienen, Linda. Andiesem Tag würde ich niemand anderem vertrauen.««

>»An diesem Tag

»Ja, ich wusste auch nicht, was er meinte, deshalb habe ich ihn beobachtet. Er legte den Aktenkoffer auf den Tisch, machte das Schließfach auf und holte einen Packen Papiere raus. Die steckte er in seinen Aktenkoffer, und das, was im Koffer war, legte er in den Kasten. Es war das Geld. Ich hab's gesehen. Ich dachte, er wäre ... Na ja, es sah aus, als hätte er Drogen verkauft oder so was, ich meine, warum würde er sonst so viel Bares mit sich rumschleppen. Ich konnte es nicht fassen, er hatte immer so anständig gewirkt. Das ist alles, was ich gesehen habe. Ich habe nicht mit ihm gesprochen, als er ging, und ich habe ihn nie wieder gesehen.«

Eric als Drogenhändler. Charlie griff den Gedanken auf. Drogen! Genau, das war die Lösung. Aber nicht die Drogen, an die Linda dachte. Das Mädchen stellte sich vor, Eric hätte mit Kokain gedealt, wie man es im Fernsehen oder Kino sah, oder vor dem Spirituosen­geschäft um die Ecke Schulkindern Marihuana angedreht oder Yuppies mit Heroin, Ecstasy oder sonstigen Designerdrogen versorgt. Aber sie stellte sich bestimmt nicht vor, dass er bei Biosyn gestohlen hatte - ein wirksames Mittel zur Immunsuppression, eine schlag­kräftige Form der Chemotherapie ohne Nebenwirkungen, einen neuen Impfstoff gegen AIDS, Viagra für Frauen ... Was war es, Eric? - und die Ware auf dem internationalen Schwarzen Markt an den Meistbietenden verkauft hatte, der sich seinerseits mit der Vermarktung eine goldene Nase verdienen würde.

Terry Stewarts Worte fielen Charlie wieder ein, als sie in dem stickigen Tresorraum stand und auf den geschlos­senen Metallkasten hinunterblickte: »Rosinen im Kopf, Charlie, das war das Einzige, was er hatte.« Aber bei Eric war es nicht bei den Rosinen im Kopf geblieben. Er hatte Ernst gemacht. Er war zweiundvierzig Jahre alt gewesen und hatte den größten Teil seines Lebens hinter sich. Er hatte seine Chance gesehen und sie ergriffen. Nurein Geschäft und dann einen Riesenhaufen Geld. So vieles ergab plötzlich einen Sinn. Dinge, die er gesagt hatte. Dinge, die er getan hatte. Das, was aus ihm geworden war.

Charlie sperrte den Kasten ab und schob ihn in sein Fach im Tresor. Ihr war elend zumute, aber wenigstens war sie jetzt der Wahrheit über ihren Mann auf der Spur.

Für sie blieb nur noch eine Frage: Was hatte Eric bei Biosyn gestohlen? Und es schien nur eine Antwort drauf zu geben: Nichts.

Er hatte Geld - vielleicht eine Anzahlung - für etwas genommen, was er zu liefern versprochen hatte. Aber er hatte nicht geliefert, und deshalb war er gestorben. Nach seinem Tod hatte man in ihrem Haus eingebrochen, in der Hoffnung, das Präparat zu finden, und das bedeutete Gefahr für sie, solange die Leute, die bezahlt hatten, die versprochene Substanz nicht in Händen hielten. Charlie war sich im Klaren darüber, dass sie an das Mittel herankommen und es aushändigen musste, wenn sie ihre eigene Sicherheit gewährleisten wollte. Da das jedoch unmöglich war, konnte sie nur versuchen, die Leute ausfindig zu machen, die bezahlt hatten, um ihnen ihr Geld zurückzugeben.


Sharon Pasternak schien ihr als Informationsquelle am ehesten geeignet zu sein. Sie war die Erste gewesen, die sich für Erics Arbeitszimmer interessiert hatte. Und nach der unerwarteten Entdeckung des Geldes war Charlie klar, dass es naiv von ihr wäre, zu glauben, Sharon hätte nach irgendetwas gesucht, dasnicht mit dem Geld im Schließfach zu tun hatte.

Sie verließ die Bank und fuhr in Richtung Freeway.

Die Firma Biosyn hatte ihren Sitz an einem Stück des Highways, das »der Ortega« genannt wurde und, über das Küstengebirge führend, das spießige Städtchen Lake Elsinore mit dem schickeren San Juan Capistrano verband. Es war eine staubige Straße, die an Sonntagen die Radfahrer zu Tausenden anlockte. Während der Woche verkehrten auf der baumlosen Durchgangsstraße vor allem Pendler, die in den Restaurants und teuren Hotels an der Küste arbeiteten.

Das Pharmaunternehmen lag ungefähr zwanzig Kilo­meter weit in den Bergen, ein hässlicher niedriger Bau von schmutzigbrauner Farbe, der durch einen hohen, von Stacheldraht gekrönten Maschendrahtzaun von seiner Umwelt abgegrenzt war. Charlie war nie vorher bei Biosyn gewesen und hätte die Abzweigung übersehen, hätte sie nicht wegen eines FedEx-Lieferwagens abbremsen müssen, der, aus der versteckt liegenden Zufahrt zu Biosyn kommend, rasant auf den Highway hinausschoss.

Ein merkwürdiger Standort für ein Pharmaunternehmen, dachte Charlie, als sie in die schmale Einfahrt einbog. Für jede Firma ein merkwürdiger Standort. Die meisten Industriebetriebe waren kilometerweit entfernt in hässlichen Gewerbegebieten zusammengeballt, die sich wie faule Zähne an den vielen Freeways des Bezirks aneinander reihten.

Ungefähr fünfzig Meter die Einfahrt hinauf befanden sich ein Wachhäuschen und ein eisernes Tor, das allen unangemeldeten Besuchern die Zufahrt verwehrte. Charlie hielt an und nannte neben ihrem eigenen Namen den Namen Sharon Pasternak. Sie wartete nervös eine Minute, während der Wächter in dem weitläufigen Gebäude anrief, das auf dem Hügel vor ihr lag. Vielleicht war der Name Sharon Pasternak ja erfunden, gut vorstellbar, wenn die Frau an Erics heimlichem Geschäft beteiligt war.

Aber so war es offenbar nicht. Der Wachmann kam mit einem Passierschein zu Charlies Wagen und sagte:

»Sie erwartet Sie im Foyer. Parken Sie auf dem Besucherparkplatz und gehen Sie direkt rein, okay? Wandern Sie nicht hier herum.«

Was, um alles in der Welt, sollte sie locken, hier

herumzuwandern?, fragte sich Charlie, als sie den

Passierschein entgegennahm. Das ganze Gelände war nichts als eine Felsenwüste, in der nur Kakteen und dorniger kalifornischer Chaparral wuchsen.

Sie hielt vor dem Haupteingang des Gebäudes an und ging hinein. Es war unangenehm kühl, und sie fröstelte. Einen Moment lang sah sie gar nichts, geblendet vom Gegensatz zwischen dem grellen Licht draußen und den dunkel gestrichenen Wänden hier drinnen.

»Ja?«, sagte jemand aus einer düsteren Ecke. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Ehe Charlie sich an das dämmrige Licht gewöhnen konnte, hörte sie von der anderen Seite des Raums noch eine Stimme. »Sie möchte zu mir, Marion. Die Dame ist Eric Lawtons Frau.«

»Mr. Lawtons -? Oh! Tut mir schrecklich Leid. Wie geht es Ihnen. Mein Beileid, Mrs. Lawton. Er war - ein so netter Mann.«

»Danke, Marion. Mrs. Lawton?«

Jetzt endlich konnte Charlie ihre Umgebung deutlich erkennen: die weißhaarige Frau hinter einem mahagoni­braunen Empfangstresen und, vom Spiegel dahinter wiedergegeben, Sharon Pasternak, die gerade durch eine massive Stahltür in den Empfangsraum herausgekommen war. Sie trug einen weißen Laborkittel über schwarzen Leggings, Nike-Laufschuhe und Tennissöckchen.

Sie trat an Charlies Seite und legte ihr die Hand auf den Arm. »Haben Sie die Unterlagen, mit denen wir gearbeitet haben, tatsächlich gefunden?«, fragte sie, den Blick beinahe beschwörend auf Charlie gerichtet. »Sie retten mir das Leben, wenn Sie ja sagen.« Dabei drückte sie Charlies Arm. Es fühlte sich an wie eine Warnung, darum nickte Charlie und zwang sich zu einem Lächeln.

»Toll!«, sagte Sharon. »Das ist wirklich eine Erleich­terung. Kommen Sie mit nach hinten.«

»Sie ist nicht zugelassen, Dr. Pasternak«, protestierte Marion.

»Das geht schon in Ordnung, Mar. Machen Sie sich keine Sorgen. Wir setzen uns in die Kaffeebar.«

»Dr. Cabot wird -«

»Schon gut«, sagte Sharon. »Wir brauchen höchstens fünf Minuten. Sie können ja die Zeit stoppen.«

Sharon führte Charlie durch das Foyer, aber nicht zu der Stahltür, durch die sie herausgekommen war, sondern zu einer weniger gesicherten Tür, durch die sie in eine Art Kantine gelangten, die um diese Tageszeit völlig leer war. Sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, sagte sie ohne Umschweife: »Sie haben es rausbekommen. Es hat wohl jemand bei Ihnen angerufen? Hat der Betreffende einen Namen hinterlassen? Oder eine Nummer, wo ich anrufen kann?«

»Es hat jemand bei mireingebrochen«, korrigierte Charlie, »und mein Haus verwüstet, nachdem Sie da gewesen waren.«

»Was?!« Sharon sah sich hastig um. »Das ist ernst. Dann können wir uns hier nicht unterhalten. Hier haben die Wände Ohren. Wenn Sie mir den Namen nennen, nehme ich selbst Kontakt auf. Das hätte Eric so gewollt.«

»Ich habe keinen Namen.« Charlie war sehr heiß. Ihre Verwirrung wuchs mit jedem Wort. »Ich dachte,Sie hätten ihn. Sie waren im Haus und sind gegangen, ohne irgendetwas mitzunehmen; als danach das Haus erneut durchsucht wurde, nahm ich an . Was haben Sie eigentlich gesucht? Wessen Name ist das, der Sie interessiert? Das Einzige, was ich habe, ist das . « Sie brachte es nicht über sich, es auszusprechen, so entsetzlich und charakterlos erschien es ihr, dass ihr Mann - ein Mensch, den sie tief geliebt und zu kennen geglaubt hatte - seinen Arbeitgeber bestohlen hatte. »Ich möchte das Geld zurückgeben«, stieß sie schnell hervor, ehe ihr eine Entschuldigung dafür einfallen konnte, nichts zu sagen.

»Was für Geld?«, fragte Sharon.

»Ich muss es zurückgeben. Diese Leute werden nicht locker lassen, wenn ich es nicht tue. Wer auch immer es ist. Sie haben das Haus schon einmal auseinander genommen und werden wieder kommen. Ich weiß es. Niemand bezahlt so eine Riesenmenge Geld, ohne den Erhalt der - wie sollen wir es nennen? - derWare zu erwarten.«

»Aber so läuft das doch gar nicht«, entgegnete Sharon. »Sie bezahlennie. Wenn da also irgendwo Geld herum­liegt -«

»Wer sindsie?« Charlie hörte selbst, wie mit zunehmender Angst ihre Stimme lauter wurde. »Wie setze ich mich mit ihnen in Verbindung?«

»Schschsch!«, machte Sharon. »Bitte! Wir können hier nicht sprechen.«

»Aber Sie sind doch zu mir gekommen. Sie haben gesucht. Sie wollten -«

»Ihre Namen. Verstehen Sie denn nicht? Ich wusste nicht, mit wem Eric verhandelt hatte. Er sagte nur, es sei CBS. Aber CBS wo? In LA? New York? Und in welcher Sendung - nationale Nachrichten oder Lokalnachrichten?«

Charlie starrte sie verblüfft an. »Nachrichten?!«

»Reden Sie nicht so laut, um Gottes willen! Es geht hier um mich und meine Karriere! Ich kann jederzeit meinen Job verlieren oder in den Knast wandern oder weiß der Himmel, was, und wozu bin ich dann noch nütze?« Sie blickt zur Tür, als erwartete sie, dass gleich ein Kamerateam hereinstürmen würde. »Sie müssen jetzt gehen.«

»Ich gehe erst, wenn Sie mir gesagt haben -«

»Wir treffen uns in einer Stunde. Im Los-Rios-Bezirk, in San Juan. Kennen Sie die Gegend? Hinter dem Amtrak- Bahnhof. Da ist eine Teestube. Den Namen weiß ich nicht, aber man sieht sie gleich, wenn man über die Gleise kommt. Halten Sie sich rechts. Es ist auf der linken Seite. Okay? In einer Stunde. Hier kann ich nicht sprechen.«

Sie drängte Charlie zur Tür der Kantine und führte sie eilig zum Empfang zurück. »Sie haben mir ungefähr zehn Tage Arbeit gespart. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte sie laut und mit falscher Herzlichkeit und beförderte sie unnachgiebig ins Sonnenlicht hinaus. Dort murmelte sie leise: »In einer Stunde«, bevor sie wieder im Gebäude verschwand.

Charlie stand da und starrte auf das dunkel getönte Glas und empfand ihren Körper als eine schwere, sperrige Masse, die sie jetzt irgendwie zu ihrem Auto bugsieren musste. Sie versuchte, sich klar zu machen, was Sharon gesagt hatte - CBS, nationale Nachrichten oder Lokalnachrichten -, und eine Verbindung zu dem herzu­stellen, was geschehen war und was sie bereits wusste. Aber es ergab alles keinen Sinn. Sie kam sich vor wie im falschen Film.

Mit schleppenden Schritten ging sie zu ihrem Wagen. Dort überfiel sie ein so heftiger Schüttelfrost, dass sie einen Moment lang nicht im Stande war, den Schüssel ins Zündschloss zu schieben. Aber schließlich gelang es ihr, und sie ließ den Motor an.

Als sie die lange Einfahrt hinter sich gelassen hatte und wieder auf dem Highway war, nahm sie die Richtung zur Küste. Beim Fahren musste sie an die vielen Geschichten denken, die sie im Lauf der Jahre ihres Aufenthalts in Südkalifornien über dieses Stück Straße gehört hatte: Dass es der ideale Ort wäre, um Leichen loszuwerden, von berüchtigten Serienmördern, wie zum Beispiel Randy Kraf, frequentiert; dass in den Parkbuchten gedungene Mörder ihre Aufträge erledigten und in den Schluchten zu beiden Seiten Fahrzeuge in Brand gesetzt würden; dass häufig Betrunkene von der Straße abkämen und am Fuß der Felsen tödlich verunglückten; dass ihre Leichen meist monatelang nicht geborgen wurden; dass manchmal riesige Sattelschlepper die doppelte gelbe Linie überfuhren und Frontalzusammenstöße verursachten, bei denen sie alles niederwalzten, was ihnen im Weg war. Was hatte es zu bedeuten, dass die Firma Biosyn ausgerechnet hier ihren Sitz hatte? Und was hatte es zu bedeuten, dass Eric Lawton mit jemandem von CBS verhandelt hatte?

Charlie hatte keine Antworten auf diese Frage, nur weitere Fragen. Und ihre einzige Möglichkeit, mehr zu erfahren, bestand darin, die Teestube im Los-Rios-Bezirk von San Juan Capistrano zu finden und zu hoffen, dass man sich auf Sharon Pasternaks Wort verlassen konnte.


Man konnte. Genau einundsiebzig Minuten, nachdem Charlie bei Biosyn weggefahren war, betrat Erics Mitarbeiterin den Tea-Room in einem Gebäude aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, in dem einst einer der Stadtgründer mit seiner Familie gelebt hatte. Sie hatte das Lokal gut gewählt für ihr heimliches Rendez-vous, der unverdächtigste Ort, den man sich vorstellen konnte. Gefällig mit Spitzenvorhängen, alten Teekannen, Antiquitäten, Hutständern mit altmodischen Hüten zum Ergötzen der Gäste herausgeputzt, bot es, zu unver­schämten Preisen, eine amerikanische Version des englischen Nachmittagstees an.

Sharon Pasternak warf einen argwöhnischen Blick über ihre Schulter, als sie in den Raum kam, in dem Charlie an einem Zweiertisch neben der Tür saß. Sonst war nur noch ein Tisch besetzt, ein runder, an dem fünf Frauen mit Hüten auf den Köpfen, die sie sich vom Lokal ausgeliehen hatten, einen munteren Geburtstag feierten. Mit ihren anachronistischen Kopfbedeckungen sahen sie aus, als würden gleich Alice und der Märzhase zu ihnen stoßen.

»Wir brauchen einen anderen Tisch«, erklärte Sharon sofort. »Kommen Sie.« Sie ging Charlie voraus in einen zweiten und dann einen dritten Raum im hinteren Teil des Hauses. Hier standen fünf kleine Tische, aber sie waren alle frei, und Sharon hielt schnurstracks auf den zu, der von der Tür am weitesten entfernt war.

»Sie dürfen auf keinen Fall noch einmal zu Biosyn kommen«, sagte sie mit leiser Stimme zu Charlie. »Besonders wenn Sie etwas vonmir wollen. Das ist viel zu riskant und auffällig. Wenn Sie zu einem Gespräch mit den Leuten von der Personalabteilung gekommen wären - um über Erics Pension oder Versicherung zu sprechen -, hätte sich das vielleicht vertreten lassen. Wir hätten uns zufällig im Korridor treffen können oder so was. Aber so ein Besuch wie heute - nie wieder. Marion vergisst das bestimmt nicht und wird es brühwarm an Cabot weitergeben. Sie arbeitet seit fünfunddreißig Jahren mit ihm zusammen - seit seinem Studienabschluss, ob Sie's glauben oder nicht - und ist ihm treuer ergeben als ihrem eigenen Ehemann. Sie nennt ihn David und fängt immer an zu glühen, wenn sie ihn sieht. Er weiß inzwischen von Ihrem Besuch und hat nach mir gefragt.«

»Sie sagten CBS«, begann Charlie. »Sie sprachen von Nachrichtensendungen.«

»Er kam wegen Exantrum zu mir. Sein Labor arbeitete an etwas anderem, aber er wusste von Exantrum. Jeder in Abteilung zwei wusste davon. Jederweiß davon, auch wenn alle so tun, als hätten sie keine Ahnung.«

»Sein Labor? Wessen Labor?«

»Erics.«

»Was reden Sie da?«

»Wie meinen Sie das?«

»Wieso sprechen Sie von Erics Labor? Er war Verkaufsdirektor. Er musste im ganzen Land herumreisen, zu Besprechungen und Konferenzen. Was reden Sie da von einem Labor? Er ist nicht - er war nicht ...«

»Verkaufsdirektor?«, wiederholte Sharon. »Das hat er Ihnen erzählt? Sie wissen es gar nicht?«

»Was?«

»Er war Molekularbiologe.«

»Molekular- nein, das stimmt nicht. Er war Verkaufs­direktor. Das hat er mir doch selbst gesagt.« Aber was hatte er ihr denn tatsächlich gesagt? Und was hatte sie einzig aus seinem Verhalten und seinen Bemerkungen geschlossen?

»Er ist Biologe, Mrs. Lawton. Ich meine, erwar Biologe. Ich muss es wissen, ich habe schließlich mit ihm zusammengearbeitet. Und er - bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich muss das fragen. Es tut mir Leid, aber ich weiß nicht, wie ich mir sonst Gewissheit verschaffen soll . Ist er so gestorben, wie bekannt gegeben wurde? Er wurde nicht ...? Ich würde es Cabot durchaus zutrauen, dass er ihn beseitigen ließ. Er ist ein echter Freak, wenn es um die Geheimhaltung geht. Und selbst wenn es nicht darum ginge - dieses Zeug hat es wirklich in sich, und wenn Cabot gewusst hatte, dass Eric damit zu CBS wollte, hätte er garantiert etwas unternommen, um ihn daran zu hindern, das können Sie mir glauben.«

»Um ihn woran zu hindern?«

»An der Veröffentlichung. Eric wollte Biosyn an den Pranger stellen. Er hatte eine Scheißangst - wir hatten beide eine Scheißangst -, aber er war fest entschlossen.

Ich habe an einem Abend eine Probe Exantrum rausgeschmuggelt - und Sie haben keine Ahnung, was für einen Horror ich davor hatte, das Zeug zu transportieren, ohne einen Schutzanzug zu tragen - und sie Eric gebracht. Er wollte sich mit den Journalisten treffen und ihnen den Stoff übergeben, damit sie es selbst in Atlanta testen lassen könnten und dann ... Das war vor drei Wochen. Es ist möglich, dass er sich mit den Leuten getroffen hat, aber er hat nichts erzählt, und dann war er auf einmal tot. Bei Biosyn gibt es nicht das geringste Anzeichen dafür, dass irgendwas nicht in Ordnung ist, darum kam mir allmählich der Verdacht, dass Eric nie Kontakt aufgenommen hat, und ich wollte mir den Namen des Journalisten beschaffen, um nachzufragen. Deswegen war ich bei Ihnen im Haus. Ich hoffte, entweder den Namen des Journalisten zu finden oder das Exantrum. Denn wenn er nie mit den Leuten zusammengekommen ist, muss ich das Zeug ins Sicherheitslabor zurückbringen. Schnellstens.«

Charlie sah die Frau fassungslos an. Sie konnte das, was sie soeben gehört hatte, nicht schnell genug verarbeiten, um eine vernünftige Antwort zu geben.

»Ich sehe Ihnen an, dass er Ihnen nichts von alledem gesagt hat. Er wollte Sie sicher schützen. Ich bewundere das. Es war anständig von ihm und typisch für ihn. Er war ein großartiger Mensch. Aber ich wünschte doch, er hätte mit Ihnen über alles gesprochen, dann wüssten wir jetzt wenigstens, woran wir sind, und könnten eventuell etwas tun. So aber - entweder liegt das Zeug irgendwo lose herum, und wir können darauf warten, dass es den ganzen Staat Kalifornien in Angst und Schrecken versetzt, oder es liegt sicher im Zentrum für Seuchenkontrolle. Aber ganz gleich, wo es sich befindet, ich muss es wissen.«

Das Zentrum für Seuchenkontrolle. »Was ist das für ein Mittel?«, fragte Charlie, und die Worte klangen dumpf in ihren Ohren und brannten in ihrer Kehle. »Ich dachte, Biosyn stellt Pharmaka her - Krebsmittel, Medikamente gegen Asthma und Arthritis, vielleicht auch Schlaftabletten und Antidepressiva.«

»Sicher, ja, das ist ein Teil davon. Das ist Abteilung eins. Aber das große Geld steckt in Abteilung zwei, wo Eric gearbeitet hat, wo ich arbeite. Wo Exantrum hergestellt wird.«

»Was ist das für ein Mittel?«, wiederholte Charlie, der der Schrecken hochkam wie Galle.

Sharon schaute sich um. »Wir müssen etwas zu essen und zu trinken bestellen«, sagte sie. »Sonst fallen wir vielleicht auf. Wir müssen sehen, dass wir eine Kellnerin erwischen.«

Als ihnen das gelungen war, bestellten sie beide Tee und Scones und wussten, dass sie nichts davon anrühren würden. Sharon schenkte Tee ein, als die Bedienung das Bestellte gebracht hatte, und sagte: »Exantrum ist Cabots Schlüssel zur Unsterblichkeit. Es ist ein Virus, der in stehendem Wasser in einer Höhle entdeckt wurde - vor ungefähr zwei Jahren. Ein Wanderer wollte eine Höhle in den Blue Ridge Mountains erforschen. Es war ein heißer Tag. Er stieß auf eine Wasserpfütze und benetzte sich das Gesicht. Einundzwanzig Tage später war er tot: hämorrhagisches Fieber. Die Ärzte in Nord-Carolina wussten nicht, woher der Virus stammte, aber er hatte genug Ähnlichkeit mit dem Ebola-Erreger, um die Leute in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen. Atlanta schaltete sich ein, und alle versuchten verzweifelt, die letzten Tage dieses Mannes zu rekonstruieren. Wo er gewesen war, was er getan hatte, mit wem er zusammen gewesen war. Man nahm alle seine Bekannten genauestens unter die Lupe, prüfte seinen Pass, um festzustellen, ob er außer Landes gewesen war, und knöpfte sich seine Verwandtschaft vor, um zu sehen, ob nicht einer den anderen angesteckt hatte. Aber sie kamen zu keinem Ergebnis. Cabot verfolgte die Ereignisse und stellte gleichzeitig seine eigenen Nachforschungen an, weil er überzeugt war, dass es sichnicht um den Ebola-Erreger handelte, und weil er seit dem Tag seiner Abschluss­prüfung an der Uni nichts anderes wollte, als eine weltbewegende Entdeckung zu machen, um seinen Namen in einem Atemzug mit Jonas Salk, Louis Pasteur und Alexander Fleming genannt zu hören. Vermutlich dachte er anfangs an ein Heilmittel, aber als sich dann, nachdem es ihm gelungen war, das Zeug zu isolieren, die Regierung bei ihm meldete, wurde aus dem Heilmittel eine Seuche. Onkel Sam zahlt hervorragend für eine Waffe wie Exantrum. Man kann es ins Wasser kippen und trinken, man kann es sich ins Gesicht und in die Augen spritzen, man kann es in die Nase bekommen, in eine offene Wunde am Körper, es braucht nur ein kleiner Kratzer zu sein, man kann hineintreten, es einatmen - alles ist möglich. Wie man damit in Kontakt kommt, spielt keine Rolle, weil der Krankheitsverlauf immer derselbe ist und man letztendlich stirbt. Es ist gut zur biologischen Kriegsführung. Zum Einsatz gegen die Iraker, wenn sie nicht spuren, oder gegen die Chinesen, wenn sie mit dem Säbel rasseln, oder gegen die Nordkoreaner. Cabot kann mit dem Zeug ein Vermögen verdienen, und Eric wollte dies an die Öffentlichkeit bringen.«

Sharon starrte auf ihre Teetasse und drehte sie auf der Untertasse. »Er war wirklich ein guter Mensch, ein anständiger und guter Mensch. Ich wünschte, ich hätte seine Courage. Aber sie fehlt mir leider. Darum muss ich das Exantrum umgehend ins Labor zurückbringen, wenn Eric noch nicht mit dem Journalisten Verbindung aufgenommen hatte.«

»Er - aber er hatte das Gift doch bestimmt nicht zu Hause aufgehoben«, sagte Charlie, weil sie das unbedingt glauben wollte. »Ich meine, wenn es so gefährlich ist, wie Sie sagen, dann hätte er es doch nicht mit nach Hause genommen, oder?«

»Nein, nie im Leben. Darum habe ich, als ich bei Ihnen war, auch nur nach dem Namen des Journalisten gesucht und nicht nach der Probe. Die hätte er irgendwo in Sicherheit gebracht, bis ein Treffpunkt und ein Datum vereinbart gewesen wären. Undwenn er sie an irgendeinem sicheren Ort aufbewahrt hat, dann muss ich wissen, wo. Oder aber ich muss die Bestätigung haben, dass sie in Atlanta ist, und die kann ich mir nur holen, indem ich mit dem Journalisten spreche, mit dem Eric in Verhandlung stand.«

Charlie hörte die Worte, aber sie dachte an etwas anderes: an das, was Terry über die Midlife-Krise gesagt und Linda ihr über Erics letzten Besuch in der Bank berichtet hatte. Sie dachte an das viele Geld im Tresor, an den Einbruch in ihrem Haus und den Ausdruck im Gesicht ihres Mannes, als sie ihm zerknirscht ihren Verdacht bezüglich der Geliebten gestanden hatte, die er nie gehabt hatte. Vor allem Letzteres hielt Charlie sich vor Augen, und dazu die grauenvollen Möglichkeiten, die es beinhaltete.

»Wie haben Sie das Exantrum bei Biosyn hinausgeschmuggelt?«, fragte sie Sharon Pasternak, sich innerlich wappnend.

»Ich habe den Schutzanzug übergezogen und das Zeug in eine Hustensaftflasche gegossen«, antwortete Sharon. »Es war verdammt riskant, aber wenn man irgendwas anderes als diese harmlose Flasche bei mir entdeckt hätte, als ich abends ging, war's aus gewesen mit mir.«

»Ja«, sagte Charlie. »Das verstehe ich.« Und nicht nur das verstand sie. Sie verstand jetzt auch ganz klar, dass für Charlie Lawton das Ende bevorstand.


Charlie wollte in die alte Missionsstation gehen. Zu Sharon sagte sie: »Ich fahre zu unserer Bank und sehe im Schließfach nach. Vielleicht hat Eric die Flasche dort aufbewahrt.«

Sharon war dankbar. »Das wäre eine ungeheure Erleichterung«, sagte sie. »Aber wenn sie wirklich dort ist, dann öffnen Sie sie auf keinen Fall. Am besten versuchen Sie, die Flasche überhaupt nicht zu berühren. Rufen Sie mich einfach an. Hier, ich schreibe Ihnen meine Privat­nummer auf. Und hinterlassen Sie eine Nachricht, okay? Sagen Sie, Sie rufen vom Sav-on Drugstore an, nur für den Fall, dass Cabot mein Telefon angezapft hat. Sagen Sie: >Wir haben Ihr Medikament jetzt da<, dann weiß ich, was los ist, und komme zu Ihnen. Okay? Ist alles klar?«

»Ja«, antwortete Charlie schwach. »Sav-on. Alles klar.«

»Gut.«

Und damit trennten sie sich. Sharon brauste in Richtung Dana Point davon, und Charlie ging nicht zu ihrem Wagen im öffentlichen Parkhaus, sondern bog um die Ecke und folgte der Straße zur Missionsstation San Juan Capistrano.

Sie ging langsam den unebenen Fußweg hinter den Missionsmauern entlang, an dem ungestaltete Kakteen und durstiger Mohn standen. Sie schlenderte einfach so dahin, ohne Ziel, weil ihr Ziel keine Bedeutung mehr hatte. Schließlich gelangte sie in die schmale Kapelle, die drei Jahrhunderte zuvor von den kalifornischen Indianern unter Anleitung des gestrengen Zuchtmeisters Junipero Serra erbaut worden war.

Das Licht im Inneren war gedämpft - oder vielleicht, schoss es ihr durch den Kopf, lag es an ihren Augen, die ihr wie der Rest ihres Körpers bald den Dienst versagen würden. Vielleicht war auch dies eine Wirkung des Kontakts mit Exantrum - Verlust der Sehkraft -, oder vielleicht hatte sie an diesem Verlust von dem Moment an gelitten, als sie angefangen hatte zu glauben, ihr Mann hätte eine Geliebte.

Wie klar jetzt alles war. Wie nahtlos Terry Stewarts Beschreibung der männlichen Midlife-Krise sich mit dem zusammenfügte, was Eric Lawton getan hatte. Wie offenkundig jetzt Erics Gründe dafür waren, nicht nur seine Gegenwart zu fälschen, sondern auch seine Vergangenheit. Wie leicht es zu verstehen war, warum er sich seiner ersten Frau, seiner Tochter und dem Rest seiner Familie entfremdet hatte, die zweifellos genau gewusst hatte, womit er sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Es war besser, vorzugeben, man hätte keine Familie; besser, das arme Opfer zu spielen; besser,irgendwas zu tun, als sich dazu zu bekennen, dass man ein Wissenschaftler war, der sein Geld damit verdiente, dass er tödliche Waffen entwickelte. Und nicht etwa Kriegswaffen, die von Soldaten gegen Soldaten eingesetzt wurden, sondern Waffen zur Ermordung unschuldiger Zivilisten oder - in den Händen anderer, in den Händen von Terroristen, zum Beispiel - um ein ganzes Volk in die Knie zu zwingen.

Nach dem Gespräch mit Sharon Pasternak wusste Charlie zwei Dinge: Sie wusste, dass Eric - der davon gesprochen hatte, dass sie nicht mehr lang in dieser Gegend leben würden, der von schnellen Autos und Börsengeschäften und Segeljachten geredet hatte - nie mit einem Journalisten Kontakt aufgenommen und auch nie die Absicht gehabt hatte, es zu tun. Er hatte genau das getan, was sie von Anfang an geargwöhnt hatte: Er hatte eine von Biosyn entwickelte Substanz verkauft. Nur war es kein Heilmittel gegen AIDS oder Krebs oder sonst was gewesen, wie sie angesichts des Geldes vermutet hatte. Ob ihn das zu einem schlechten Menschen machte, zu einem fehlgeleiteten oder habgierigen Menschen oder gar zum Teufel selbst, war für Charlie ohne Bedeutung. Denn Eric Lawton war tot, und auch für seinen Tod wusste sie endlich den Grund.

Sie schob sich in einen der steiflehnigen Kirchenstühle und setzte sich. Sie hätte auch niederknien und beten können, aber den Himmel mit Bitten zu bestürmen, darüber war sie hinaus. Für das, woran sie litt, gab es keine Hilfe - weder göttliche noch andere. Und Eric hatte es in dem Moment gewusst, als sie ihm gestanden hatte, zu welchen Niedrigkeiten sie sich in ihrem Argwohn gegen ihn hatte hinreißen lassen. Sie hatte ihm beichten müssen - sie hatte das dringende Bedürfnis gehabt -, als er beim Nachhausekommen triumphierend vom »größten Ver­kaufserfolg in meiner ganzen Karriere« gesprochen hatte. »Warte nur, bis du hörst, wie hoch der Bonus ist, Char! Wie war's mit einer Luxuskreuzfahrt zur Feier des Ereignisses? Oder sollen wir einfach unser ganzes Leben umkrempeln? Das können wir uns jetzt leisten. Wir können uns alles leisten. Es tut mir wirklich Leid, dass ich in letzter Zeit immer so daneben war.«

Da hatte sie gewusst, dass ihre Befürchtungen unbe­gründet gewesen waren, dass es keine andere Frau in seinem Leben gab.

Und in der Hoffnung auf Absolution von der Sünde des Zweifels an ihm hatte sie ihm alles gestanden.

»Du lieber Gott, Char, da waren wir doch schon einmal. Ichhabe keine Geliebte«, hatte er mit einer Ernsthaftigkeit gesagt, die es in Verbindung mit der Freude, mit der er ihr von seinem Glück erzählt hatte, gar nicht zugelassen hatte, an seinen Worten zu zweifeln. »Du bist die Einzige ... du warst immer die Einzige. Wie konntest du etwas anderes glauben? Ich weiß, ich war zerstreut und unaufmerksam und bin oft erst spät nach Hause gekommen. Aber das war alles wegen dieses Geschäfts, und du darfst niemals etwas anderes glauben -niemals, Char! Für dich habe ich das alles getan. Damit wir uns ein besseres Leben leisten können. Für uns, für unsere Kinder. Etwas Besseres als die Vorstadt. Du verdienst es. Ich verdiene es. Und jetzt, wo diese Sache, auf die ich mich so sehr konzentriert habe, geklappt hat . Ich wollte aus Aberglauben nicht darüber sprechen, ich hatte Angst, dann würde die Sache platzen. Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, dass es dich so fertig machen würde. Komm zu mir, Char. Mensch, Baby, es tut mir Leid.«

Am Klang seiner Stimme hatte sie gehört, dass er die Wahrheit sagte. Der Klang seiner Stimme und der Ausdruck seiner Augen hatten ihr die tröstliche Gewiss­heit gegeben, dass ihre Ängste unbegründet waren. Und so hatte sie sich in dieser Nacht ganz seiner Liebe überlassen und später, bei Morgengrauen, ihre restlichen Sünden gebeichtet. Sie schuldete ihm diese Beichte, fand sie. Nur indem sie ihm offen sagte, wie tief sie gesunken war, würde sie sich selbst vergeben können.

»Aber als ich dann in deinem Badezimmer die Flasche mit Hustensaft zu Boden geworfen habe, war Schluss!« Sie lachte über sich selbst und ihre albernen Ängste. »Es war, als hätte ich plötzlich das Bewusstsein wiedererlangt, als ich da in dieser Robitussin-Pfütze stand.«

Er lächelte und küsste ihre Fingerspitzen. »Robitussin? Char! Was war denndas?«

»Der Wahnsinn«, antwortete sie. »Ich war so sicher. Ich dachte, irgendwo muss es einen Beweis geben. Für irgendwas. Also habe ich überall gesucht. Sogar in deinem Apothekerschränkchen. Und da ist mir die Flasche mit dem Hustensaft aus der Hand gefallen und kaputt­gegangen. Es tut mir Leid.«

Er lächelte immer noch, aber jetzt - in der Rückschau, in der Kapelle in San Juan Capistrano - konnte Charlie erkennen, wie starr dieses Lächeln geworden war. Und sie erkannte jetzt auch, wie er versuchte hatte, sich Klarheit zu verschaffen.

»In meinem Bad war doch gar kein Hustensaft, Char. Du musst in -«

»Doch. Du hast es wahrscheinlich nur vergessen. Das Etikett war uralt. Wahrscheinlich ist es gut, dass die Flasche zerbrochen ist. Es heißt doch immer, Medi­kamente, die älter als sechs Monate sind, soll man nicht mehr nehmen.«

Hatte sein Mund angespannt gewirkt? War das starre Lächeln geblieben? Er sagte: »Ja, ich glaube, da hast du Recht.«

»Tut mir trotzdem Leid, dass ich die Flasche zerbrochen habe.«

Hatte er da den Blick abgewendet? »Und wie hast du die Bescherung wieder sauber gemacht?«

»Auf Händen und Knien, um Buße zu tun.«

Hatte er gelacht? Künstlich oder natürlich? »Hoffentlich hattest du wenigstens Gummihandschuhe an.«

»Nein, ich wollte meine Sünden auf der Haut spüren. Warum? War es in Wirklichkeit gar kein Hustensaft? Hast du vielleicht Gift in der Hustensaftflasche versteckt, für den Fall, dass du mal Lust haben solltest, deine Frau um die Ecke zu bringen?« Sie hatte ihn gekitzelt, um eine Antwort aus ihm herauszulocken. Und sie hatten beide gelacht und begonnen, sich noch einmal zu lieben.

Er hatte nicht gekonnt.

»Ich werde eben alt«, sagte er. »Nach vierzig geht's bergab. Tut mir Leid.«

Und von da an war es immer schlimmer geworden. Er war häufiger weg als vorher; er war wieder geistes­abwesend und verschlossen - in stärkerem Maß als je zuvor; er sperrte sich ein und verbrachte Stunden am Telefon; er investierte Tage, wie es schien, um über das Internet zu »recherchieren«, wie er ihr erklärte, als sie fragte. Und schließlich, als eines Abends das Telefon klingelte, hörte sie ihn sagen: »Heute Abend kann ich nicht, okay? Meiner Frau geht es nicht gut«, und ihr Argwohn erwachte von neuem.

Zwei Tage später fand er sie bei der Heimkehr von der Arbeit unter einer Wolldecke auf dem Sofa liegend, erschöpft von Kopf- und Gliederschmerzen, die sie sich ihrer Meinung nach wegen einer übertrieben anstrengen­den Wanderung auf dem Saddleback Mountain zugezogen hatte. Sie schlief und erwachte nicht, als er kam. Erst als er neben dem Sofa niederkniete, fuhr sie in die Höhe.

»Was fehlt dir denn?«, fragte er. War das Furcht in seiner Stimme gewesen und nicht Besorgnis, wie sie damals geglaubt hatte. »Char, was ist los?«

»Ach, mir tut alles weh«, antwortete sie. »Ich bin gestern zu viel gelaufen. Und Kopfweh habe ich auch.«

»Ich mach dir einen Teller Suppe«, sagte er.

Sie hörte ihn in der Küche rumoren. Zehn Minuten später kam er mit einem Tablett wieder ins Wohnzimmer.

»Das ist lieb«, murmelte sie. »Aber ich kann aufstehen. Ich kann mit dir zusammen essen.«

»Ich esse nicht«, sagte er. »Jedenfalls jetzt nicht. Bleib liegen.« Behutsam und liebevoll fütterte er sie geduldig Löffel um Löffel mit der Suppe. Er tupfte ihr sogar den Mund mit einer Papierserviette ab. Und als sie lachte und sagte: »Also, wirklich, Eric, ich bin kerngesund«, antwortete er nicht.

Weil er es gewusst hat, dachte Charlie jetzt. Der Prozess hatte begonnen. Zuerst Kopf- und Muskel schmerzen, begleitet von erhöhter Temperatur. Danach Schüttelfrost und Appetitlosigkeit.

Und weiter? Das, was sie für körperliche Manifestierungen zuerst der Trauer und dann der Verleugnung gehalten hatte: Halsschmerzen, Schwindel­gefühl, Übelkeit, Erbrechen. Aber sie hatte nicht auf den Tod ihres Mannes reagiert. Sie hatte auf das reagiert, was er zu seinen Lebzeiten getan hatte. Oder was er hatte tun wollen und getan hätte, wenn sie nicht die Flasche mit dem Virus zerbrochen hätte, bevor er sie dem Käufer übergeben konnte.

Er musste aufs Schrecklichste hin und her gerissen gewesen sein. Es war alles schief gegangen, alle seine wohl überlegten Pläne waren zunichte gemacht worden. Er hatte nichts, was er als Gegenleistung für die Anzahlung bieten konnte, die er für das Exantrum erhalten hatte, und er hatte eine Frau, die sich mit einem tödlichen Virus infiziert hatte, den er selbst gestohlen hatte. Er hatte gewusst, dass seine Frau sterben würde, wie er zweifellos auch gewusst hatte, dass Tausende - Millionen - anderer gestorben wären, hätte nicht das Schicksal in Gestalt von Charlies Eifersucht eingegriffen, um das zu verhindern.

Er fütterte sie mit der Suppe und betrachtete so aufmerksam ihr Gesicht, als wollte er ihr Bild mit ins Grab nehmen. Als sie mit dem Essen fertig war, als sie nichts mehr hinunterbrachte, legte er den Löffel in die Schale und stellte die Schale auf das Tablett. Er beugte sich vor und küsste Charlie auf die Stirn und zog ihr die Decke bis zum Kinn hinauf.

»Vergiss nicht, dass ich dich immer lieben werde«, sagte er.

»Warum sagst du mir das? Aus heiterem Himmel?«

»Behalte es einfach im Gedächtnis.«

Er trug das Tablett hinaus. Sie hörte, wie er es in der Küche auf die Arbeitsplatte stellte. Dann kam er zurück und setzte sich ihr gegenüber in einen Sessel, mit einem Kissen hinter dem Kopf.

»Weißt du es noch?«, fragte er.

»Was?«

»Was ich gesagt habe. Vergiss nicht, dass ich dich immer lieben werde.«

Bevor sie antworten konnte, zog er den Revolver unter seinem Jackett hervor. Er steckte den Lauf in den Mund und zerfetzte sich mit einem Schuss den Hinterkopf.


So ist das also, dachte Charlie, wenn man weiß, dass man sterben muss. Dieses Gefühl, dahinzutreiben. Nicht Panik, wie sie sich das vorgestellt hatte bei dem Gedanken, man würde ihr eröffnen, sie hätte eine tödliche Krankheit, stattdessen Gefühllosigkeit, automatisches Funktionieren: im Kirchenstuhl der Missionskapelle aufstehen, sich dem Altar nähern, vor dem Standbild eines in Gelb und Grün gewandeten Heiligen Halt machen, um eine Kerze anzuzünden, dann still vor dem Heiligtum stehen und wissen, dass es nichts mehr gab, worum man Gott bitten konnte.

Was, fragte sie sich, hatte Eric sich gedacht? Er war zweiundvierzig Jahre alt gewesen. Hatte er gedacht: Das war's, mehr wird aus meinem Leben nie mehr werden, wenn ich nicht diese eine Gelegenheit ergreife, alles zu ändern, mehr zu haben und mehr zu sein, die Welle zu reiten, die sich vor mir erhebt, und zu entdecken, an welche Küsten sie mich tragen wird? Wenn ich nur ein gewisses Risiko auf mich nehme, ein einziges kleines Risiko, und im Grunde genommen nicht einmal ein Risiko, wenn ich es richtig einfädele und mich nach allen Seiten absichere: Ich lasse Sharon Pasternak die Substanz beschaffen, und wenn dann jemand beim Hinaus­schmuggeln aus der Firma geschnappt wird, ist es Sharon und nicht ich. Ich spiele den großen Enthüller, damit Sharon glaubt, ich hätte edle Ziele. Ich nehme Kontakt zu einem Interessenten auf, bestehe aber bei den Geschäfts­verhandlungen erstens auf einer Anzahlung, zweitens einer Lieferfrist, um alles für eine Flucht vorbereiten zu können, sollte mein Geschäftspartner versuchen, mich aus dem Weg zu räumen, und drittens bestehe ich auf einem zweiten Zusammentreffen zur Übergabe des Exantrum, dem dann ein schneller Abgang und die Flucht nach - ja, wohin? Tahiti, Belize, Südfrankreich, Griechenland - folgen werden. Es hatte bestimmt keine Rolle gespielt. Für Eric war die Hauptsache gewesen, dass der »Rest seines Lebens« einen neuen Sinn bekäme, der über eine Harley Davidson und ein Schlangentattoo auf dem Arm hinausging.

»Eric, Eric«, flüsterte Charlie. Wo, wann und warum hatte diese schreckliche Wandlung stattgefunden?

Sie wusste es nicht. Sie hatte ihn nicht gekannt. Sie war nicht einmal sicher, dass sie sich selbst kannte.

Sie verließ die Kapelle und kehrte schnellen Schritts zu ihrem Wagen zurück, der im Parkhaus neben dem Bahnhof stand. Sie stieg ein, müde und mit einem Gefühl, als wäre der Virus in ihrem Blut etwas, das sie spüren konnte. Und er war ja wirklich da. Um das zu wissen, brauchte sie nicht in ein Krankenhaus zu gehen oder zu Biosyn hinauszufahren, um sich Dr. Cabot als Beweis dafür anzubieten, dass seine Waffe so wirkungsvoll war, wie er gehofft hatte.

Eric hatte gewusst, dass sie sterben würden. Er hatte gewusst, wie der Virus angreifen würde. Er hatte gewusst, dass dieser Angriff nicht abgewehrt werden konnte, und hatte sich der Verantwortung für das schreckliche Unheil, das er über sie beide gebracht hatte, entzogen.

Was kann man da noch tun?, fragte sie sich. Aber sie wusste die Antwort. Sie musste alles klar und deutlich niederschreiben, damit niemand durch ihren Leichnam in Gefahr geriet. Und danach würde sie tun, was Eric getan hatte, aber aus völlig anderen Gründen. Es war keine noble Lösung, auch wenn sie vielleicht als solche erschien. Es war die einzige Lösung. Sie hatte den Revolver noch. Sie würde eine Schweinerei anrichten, und eine Schweinerei war gefährlich für andere, aber durch den Brief, den sie zu schreiben und an die Tür zu kleben gedachte, damit niemand ihn übersehen konnte, würde die Situation erklärt werden.

Merkwürdig, dachte sie, sie war nicht wütend, sie hatte keine Angst, sie empfand nichts. Vielleicht war das gut.

Auf dem Freeway fuhr sie vorsichtiger als sonst. Jedes Auto, das an ihr vorüberbrauste, war ein Hindernis, das sie um jeden Preis meiden musste. Es begann dunkel zu werden, und im grellen Licht der Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge sah sie nicht mehr gut, aber sie schaffte es ohne Zwischenfall nach Hause. Sie stellte den Wagen in der Einfahrt ab und spürte, wie eine Schwere sich über sie senkte, in dem Wissen dessen, was sie tun musste, wenn sie im Haus war.

Mehr als alles andere wünschte sie sich, sie könnte einfach schlafen. Aber dazu war keine Zeit mehr. Wenn sie acht Stunden vergeudete, blieb dem Virus diese Zeit, um in ihrem Körper zu wirken. Wer konnte sagen, in was für einem Zustand sie morgen sein würde, wenn sie heute der Erschöpfung nachgab.

Sie stieg aus dem Wagen, schleppte sich den Weg hinauf. Das Licht auf der Veranda brannte nicht, darum sah sie die Gestalt, die sich aus dem Schatten löste, erst, als sie direkt vor ihr stand. Und sie sah auch den schwachen Widerschein der Straßenbeleuchtung auf einem metallischen Gegenstand, den die Gestalt, ein Mann, in der Hand hielt. Eine Schusswaffe? Ein Messer? Sie konnte es nicht erkennen.

»Mrs. Lawton«, sagte der Fremde, »ich glaube, Sie haben etwas in Ihrem Besitz, das mir gehört.« Seine Stimme war so dunkel wie sein Teint, und sein Ton so schwarz wie seine verhüllten Augen.

Sie fürchtete ihn nicht. Was gab es denn noch zu fürchten? Er konnte ihr nicht mehr tun, als das Exantrum ihr bereits antat.

Sie sagte: »Ja, das ist richtig. Aber ich habe es nicht in der Form, wie Sie es sich erhoffen. Kommen Sie doch herein, Mr. -?«

»Namen tun nichts zu Sache. Ich möchte nur das, was mir vereinbarungsgemäß zusteht.«

»Ja, das weiß ich. Kommen Sie also herein, Mr. Namen­tun-nichts-zur-Sache. Ich gebe es Ihnen gern.«

Vorher, dachte sie, muss ich den Brief schreiben. Und ihr Instinkt sagte ihr, dass Mr. Namen-tun-nichts-zur- Sache so dringend haben wollte, weshalb er gekommen war, dass er bereit sein würde, ihr die Zeit zu geben, die erforderlich war, um den Brief zu schreiben.

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