Kapitel 2

Prof. Dr. Kiyoto Hakanaki beugte sich über den großen Tisch und las noch einmal die Zeilen durch, die ihm sein Assistent Dr. Tojo Yamamaschi vor einer Stunde überreicht hatte.

Vor ihm, in einem tiefen Sessel, saß der greise General Tayo Simanuschi und starrte mit unbewegtem Gesicht die beiden Männer vor sich an.

«Es läßt sich nicht leugnen, Exzellenz«, sagte Dr. Hakanaki leise und blickte auf, direkt in die kühlen Augen des Greises.»Der Amerikaner scheint uns einige Schritte voraus zu sein. Die Radiomeldung über den Unglücksfall des Dr. Paerson wirft neue Probleme auf. Wenn Paerson wirklich eine neue Spaltung entdeckte, so bedeutet das, daß Amerika in der Lage ist, das nationale Unglück Japans

— Hiroshima und Nagasaki — in den Schatten zu stellen.«

«Es scheint nicht nur so — es ist so, Dr. Hakanaki. «Der General Simanuschi blickte auf seine runzeligen Greisenhände. Sein kahler, weißgelber Schädel war gesenkt. Die Adern unter der Kopfhaut waren deutlich wie blaue Striche sichtbar.»In Los Alamos ist man weiter als hier. Das ist traurig, Dr. Hakanaki. Das ist eine Tatsache, unter der unser armes Volk leidet.«

«Wir tun alles, was in unseren Kräften steht, Exzellenz. «Dr. Yamamaschi hob beide Hände.»Wir haben in der Kürze der Zeit, die uns zur Verfügung steht, mehr geleistet, als Amerika in all den Jahren. Wir wissen, wie man Plutonium spaltet, wir haben das Geheimnis des Atombombenmantels erkannt, wir können sogar hinter die Forschungen blicken, mit denen Amerika das Helium angeht.«

«Und trotzdem, Dr. Yamamaschi…«Simanuschi zuckte die schmächtigen Schultern.»Vergessen Sie nicht, was Japan erlitt. «Seine Augen sanken nach innen. Es war, als spräche einer der Toten, der aufersteht, um den Überlebenden sein Leid zur Aufgabe zu machen.»Wir haben als erste die Kamikaze eingesetzt… sie halfen nichts. Wir haben den lebenden Torpedo gebaut… er versagte. Wir haben die ersten Fischmenschen auf das Meer geschickt… sie versanken. Und als wir 10.000 Todesflieger sammelten, als unser Volk bereit war, sich zu opfern, da fielen in Hiroshima und Nagasaki zwei Blitze vom Himmel und töteten in einer Sekunde über 100.000 Menschen! Verbrannten die Erde, machten sie unfruchtbar für immer, ließen eine Wüste zurück. «Er blickte auf und sagte leise:»Wir waren zu langsam.«

Das Gespräch fand in einem unterirdischen Zimmer statt, inmitten eines Werkes, das man in die Felsen von Hondo gesprengt hatte. Was asiatischer Fleiß und japanische Zähigkeit schaffen konnten, war innerhalb weniger Monate heimlich, unter den Augen der amerikanischen Besatzungstruppen, in die Felsen getragen worden. Nachts, unter Einsatz aller Mittel, hatten Ingenieure Stollen in die Berge getrieben, und hier, im Innern der Insel Hondo, entstand die japanische Atomstadt Nagoi, entstand im kleinen das asiatische Los Alamos. Hier gab es keine Riesencyclotrone und keine Hanford-Brenner, verbissen, mit dem Willen, das eigene Leben nicht zu achten, versuchten die Physiker Japans mit primitiven Mitteln die Kernspaltungen zu erforschen, rasten die Neutronen zwischen den zu einer Kuppel gestapelten, mit Uran gefüllten Graphitblöcken hin und her und spalteten aus dem Element 235 das neue Element Plutonium. Hier saßen die Wissenschaftler nicht hinter meterdicken Blei- und Betonmauern, sondern in einfachen

Bleischürzen standen sie an den Brennern, ungeachtet der Strahlen, die unsichtbar auf sie einwirkten. Die Liste der Toten schwoll an… sie wurden aus den Felsen getragen, heimlich verbrannt und ihre Asche in die Tempel getragen, wo sie neben den alten, berühmten Samurais standen und wo das Volk in langen Reihen kniete und betete.

Nagoi… niemand kannte diese Stadt unter der Erde. Dunkel und still lagen die Felsen von Hondo. Ab und zu sonnte sich ein amerikanischer GI auf den Felsen am Meer, schwamm hinaus in die Brandung oder lag mit seiner Liebsten in den Gräsern und träumte von San Francisco oder New Orleans.

Er ahnte nicht, daß er auf einem riesigen Vulkan lag, daß unter ihm, an unbekannten Maschinen, vor großen Thermometern an Tischen mit noch nie gesehenen Apparaten kleine, gelbe Männer in dicken Bleischürzen arbeiteten, im Schein einiger trüber Lampen das Uran und das Plutonium stapelten und aus winzigen Mengen des wertvollen Metalls die Hoffnung bauten, Rache zu nehmen für die 100.000 Toten im purpurnen Blitzstrahl einer von Menschen erfundenen Sonne.

Dr. Hakanaki, der Leiter der Atomstadt Nagoi, beugte sich über den Tisch. Draußen war Nacht. Schwach hörte man das Stampfen der Maschinen. Durch die Glaswand, die das Zimmer von dem Produktionssaal trennte, sah man die Physiker vor großen Uhren sitzen, deren Zeiger hin und her pendelten.

«Japan ist besetzt, General«, sagte Dr. Hakanaki.»Unsere Arbeit ist eine Arbeit in der Stille, in der Begrenzung.«

«Für einen Japaner gibt es keine Grenzen!«Simanuschi fuhr mit der Hand durch die stickige Luft. Sein Kopf schoß vor.»Wir müssen wissen, was Prof. Paerson gefunden hat! Wir müssen Formeln haben! Wir müssen Licht bringen in dieses Geheimnis von Los Alamos! Die Nation schaut auf Sie, meine Herren! Sie sind heute die große Hoffnung Japans! Der Kaiser ist ein Privatmann geworden, seine Göttlichkeit ist vorbei! Aber Sie, meine Herren — Sie sind die neuen Götter Japans, wenn es Ihnen gelingt, Amerika mit dem Atom zu schlagen!«

«Wir Menschen haben Grenzen«, sagte Yamamaschi leise.

«Aber Sie dürfen nicht kleiner sein als die der Amerikaner.«

Dr. Hakanaki schob die Papiere zur Seite und stützte den Kopf in beide Hände. Seine dunkel umrandete Brille blinkt im Schein der Tischlampe. Über seine hohe Stirn lief ein nervöses Zucken.

«Wir können nur forschen, Exzellenz. Sie, als Soldat, haben die Möglichkeit, mit Spionen das Geheimnis an uns heranzutragen.«

Tayo Simanuschi blickt an die Decke. Dort war der rohe Felsen, kantig, herausgehauen, schwarz. Feuchtigkeit hing in den Ritzen und Winkeln.

«Kennen Sie Percy Kenneth?«fragte er.

«Den amerikanischen Militärattache? Nein. Nur vom Sehen.«

«Ich habe gehört, daß er neue Informationen von Washington bekommen haben soll. Er fuhr gestern von Tokio nach Kyoto und nahm einen Kurier in Empfang. «Der Greis strich sich mit spitzen Fingern über die Stirn.»Man müßte ihn fragen.«

Die beiden Physiker wechselten schnelle Blicke. Ihre Mienen waren undurchdringlich. Eine Maske, hinter der es kein Gefühl gab.

«Wenn Sie das könnten, Exzellenz…«Dr. Hakanaki nickte.»Wir haben ein schönes Zimmer für dieses Gespräch.«

«Das ist gut, das ist sehr gut. «Der General erhob sich. Er mußte sich auf einen Ebenholzstock stützen, sein Rücken war gekrümmt von Rheuma. In seine Augen trat ein flimmernder Glanz.»Sie werden von mir rechtzeitig hören, meine Herren. Vergessen Sie aber unterdessen nicht eins: Japan hat keine Zeit mehr! Einmal standen wir an der Spitze der Welt… sie brach ab. Aber es gibt keinen Griffel, den man nicht wieder anspitzen könnte, es sei denn, er habe sich abgeschrieben.«

Ein jüngerer Forscher brachte den Alten aus der Zentrale.

Dr. Hakanaki und Dr. Yamamaschi sahen ihm nach, wie er krumm und schleppend durch die Halle schlich, den Blick nicht wendend, als wolle er nicht sehen, was um ihn herum geschieht. Als sich die Bleitür hinter ihm schloß, ließ sich Hakanaki in seinen Sessel fallen.

«Holen Sie mir den Deutschen«, sagte er tief aufatmend.»Er muß jetzt in Abteilung III sein.«

Yamamaschi nickte und eilte aus dem Zimmer. Er sah noch, wie sein Chef nach einer großen Karteikarte griff, die jeder Angestellte von Nagoi besaß und ein Röntgenbild seines Lebens enthielt.

Ein Bild war auf der Karte, die Hakanaki hervorzog.

Ein junger, intelligenter, braunlockiger Kopf mit hellen, tatenlustigen Augen.

Ein Name stand darunter. Heinz Behrenz. Deutschland.

Kein Ort. Keine Straße. Kein Datum.

Dr. Hakanaki sah auf das Bild mit dem frischen

Jungengesicht.

Er könnte es tun, dachte er zufrieden. Er ist der richtige Mann. Als Angehöriger der deutschen Militärmission in Japan von den Amerikanern bei der Eroberung Okinawas gefangengenommen. In den Lagern auf hundert Inseln herumgeschleppt, verprügelt, verhört, verspottet. Mit Gewehrkolben geschlagen, drei Zähne verloren, in Dunkelhaft gehalten, um Aussagen zu erpressen. Als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt, beim Transport zu den Todeszellen geflohen und sich versteckt bei den Nationalisten Japans. Von ihnen der Atomstadt Nagoi als Verbindungsmann übergeben. Ein Amerikahasser, wie es keinen zweiten gibt. Beseelt von Rache und Vergeltung.

Dr. Hakanaki blickte auf. Auch er ist einer der Jungen, die man aus der Bahn warf, dachte er. Man hat ihn entwurzelt, schon, als man ihn nach Japan schickte. Ihn, den Jungen von der Mosel.

Es klopfte. Dr. Yamamaschi trat ein. Ihm folgte eine hohe, schlanke Gestalt. Ein weißer Kittel flatterte.

«Nehmen Sie Platz, Herr Behrenz«, sagte Dr. Hakanaki freundlich und wies auf den Sessel, in dem vor wenigen Minuten noch General Simanuschi hockte.

Behrenz setzte sich. Vorsichtig, als wittere er etwas. Stumm blickte er von einem der Gelehrten zum anderen. An den blinkenden Gläsern von Hakanakis Brille blieb sein Blick hängen. Er ahnte das Ungewöhnliche, das ihn hier in die Zentrale führte.

«Sie werden eine Reise machen«, sagte Dr. Hakanaki ohne lange Umschweife. Heinz Behrenz zog die Augenbrauen hoch. Aber er schwieg.»Sie werden eine schöne Reise machen«, fuhr Hakanaki fort.»Wir möchten Sie an einem Ort wissen, der uns sehr am Herzen liegt. Was halten Sie von Los Alamos?«»Los Alamos?«Behrenz sah die Männer groß an. Seine Stimme war voll Erstaunen.»Ich habe diesen Ort noch nie gehört. Liegt er in Spanien?«

«Nicht ganz. «Hakanaki lächelte.»In den Vereinigten Staaten. Los Alamos ist die amerikanische Atomstadt. Die Konkurrenz. Wir haben Meldungen, daß sich dort Dinge vorbereiten, die unsere ganze bisherige Arbeit umsonst werden lassen! Was dies für Dinge sind, das möchten wir von Ihnen wissen.«

«Mit anderen Worten: Spionage!«

«Nicht ganz. Nennen wir es eleganter: Information!«

Dr. Hakanaki lächelte. Er bot Behrenz eine Zigarette an und goß ihm einen starken Reisschnaps ein.

«Es handelt sich um das Amerika, das Ihnen drei Zähne ausschlug«, sagte er mit seiner leidenschaftslosen Stimme.

Heinz Behrenz biß sich auf die Lippen. Er war blaß geworden. Seine Finger verkrampften sich ineinander.

Mit einem Ruck blickte er auf.»Verfügen Sie über mich!«sagte er laut.

Dr. Hakanaki lächelte leicht.»Ich danke Ihnen. Ich habe es nicht anders erwartet. Kommen Sie her, ich will Ihnen unsere Pläne zeigen… «

Wer eine Karte Rußlands vornimmt, selbst eine Spezialkarte Zentralrußlands, der wird vergeblich nach einem Ort Nowo Krasnienka suchen. Auch die Meßtischblätter der Generalstäbe aller Staaten, Blatt Jsh Njemdjesh, Gebiet zwischen Tolman und Njemda, zwei Flüssen jenseits der Wolga nach Sibirien hin, zeigen dort, wo Nowo Krasnienka liegen soll, Wald, Steppe und Sumpf.

Als vom Zentralbüro der technischen Kriegsführung in Moskau der Befehl erteilt wurde, in kürzester Zeit im

Gebiet von Njemda südlich der kleinen Stadt Ljebjashie ein Atomwerk zu errichten, das die Erprobungen der unterirdischen Anlagen im Ural und in Südsibirien industriell auswerten soll, zweifelten auch die Experten des mit Millionen Arbeitern in Tag- und Nachtschicht fertiggestellten Eismeerkanals daran, ob dieser Befehl überhaupt ausführbar sei.

In wochenlangen Transporten wurden alle verfügbaren Kräfte der Armee, der Zwangsarbeitslager, der deutschen Kriegsgefangenen und freiwilliger chinesischer Arbeiter in das Gebiet der Njemda geworfen. Ein MillionenAmeisenheer krabbelte über die Steppe und durch die Wälder, hoben die Fundamente aus, in die Spezialbetongießmaschinen die meterdicken Grundplatten füllten, richteten die Hochöfen, bauten die weiten Hallen, hoben aus der schwarzen Erde zwanzig Kilometer von Kokscha die Bunker aus, in denen hinter Bleiwänden unvorstellbarer Dicke die Riesenmagneten, die Brenner der Uranatome, getreu den amerikanischen Hanford-Anlagen nachgebildet, versenkt wurden. Dann zogen die Millionen wieder ab — man sprach von 2,5 Millionen Arbeitern, die auf einem Gebiet von 2500 Quadratkilometern zusammengedrängt waren —, und eine geheimnisvolle Stille senkte sich über die leeren Riesenanlagen des neuen Ortes Nowo Krasnienka. Heimlich, mit Spezialzügen, die auf gesperrten Strecken fuhren, sickerten die Wissenschaftler ein — aus dem Ural, aus Moskau, aus Gorkij, aus Iwanowo, aus Stalinsk, aus Stalingrad, aus Tiflis, aus Saratow, Odessa, Krasnodar, Shdanow und Makejewka. Aus allen Teilen des unermeßlichen Rußlands kamen sie zusammen und versammelten sich unter dem Stalinpreisträger Prof. Dr. Gregorij Kyrill in Nowo Krasnienka.

Und wieder war es still, bis eines Tages die hohen

Schornsteine, die die radioaktiven Gase in alle Winde streuten, zu qualmen begannen. An diesem Tage war aus Thüringen der deutsche Atomphysiker Dr. Ewald v. Kubnitz in Nowo Krasnienka eingetroffen, ein etwa fünfzigjähriger, schlanker kleiner Mann mit hoher Stirn und den durchgeistigten Zügen eines Menschen, der sein Leben ganz in den Dienst einer Idee zu stellen vermag. Er wußte selbst nicht, wo die Reise hinging, als man ihn in Erfurt morgens aus dem Bett holte und mitsamt seiner Familie drei Wochen durch Rußland fuhr, bis er die Riesenhallen von Nowo Krasnienka auftauchen sah. Dort empfing ihn Prof. Dr. Kyrill wie einen guten Freund, umarmte den blassen, zitternden Mann und nannte ihn seinen Bruder.

«Wir werden die Welt umgestalten!«sagte er und küßte Frau v. Kubnitz, an die sich die beiden Kinder ängstlich festklammerten, die Hand.»Ihr Mann und ich werden eine neue Zeit gebären. Man hat Sie, Gnädigste, wohl ein wenig unsanft zu Mütterchen Rußland gebracht, aber Sie werden es nie zu bereuen haben.«

Dr. v. Kubnitz durfte eine wunderschöne, geräumige Villa am Njemda beziehen. Ein Park lag um sie herum, sogar ein Tennisplatz, auf dem Dr. v. Kubnitz oder seine Frau mit Dr. Peter Baumann spielten, einem kriegsgefangenen Stabsarzt, der die Betreuung der im Atomwerk beschäftigten Plennys übertragen bekommen hatte. Es mangelte ihnen an nichts… ihre Wünsche wurden ihnen alle erfüllt, bis auf einen, den größten — die Rückkehr nach Deutschland.

An diesem Tag hatte Nowo Krasnienka hohen Besuch aus Moskau. Der Volkskommissar für die technische Kriegsführung in Moskau war selbst hinausgekommen, und es mußte in der Tat etwas Wichtiges sein, denn seine Mienen waren ernst und verschlossen, als er Prof. Kyrill und Dr. v. Kubnitz gegenübersaß. Dr. Iwanow Tenuschkow, der Werksassistent, servierte Wodka in Wassergläsern und brannte die Papyrossi an, die der Volkskommissar mitgebracht hatte.

«Haben Sie gestern abend den Rundfunk gehört?«fragte er. Und als er sah, daß die Herren sich erstaunt ansahen, nickte er.»Ganz recht, ich sagte Rundfunk. Amerika brachte eine Durchsage, die in Moskau einen Alarm auslöste. Prof. Dr. Paerson ist verletzt worden.«

«Na, und?«meinte Dr. Kyrill und zuckte mit den Schultern.

«Bei der Entdeckung einer neuen Kettenreaktion, meine Herren.«

«Was?!«Dr. Kyrill sprang auf.»Man will in Los Alamos weiter sein als wir?! Das ist unmöglich, Genosse Kommissar!«

«Sagen Sie das nicht, Dr. Kyrill. Während Sie noch mit Uran 238 und Uran 235 experimentierten, erfanden die Amerikaner schon das Plutonium! Jetzt haben Sie das Plutonium und entwickeln aus dem Helium eine Superbombe, aber schon ist der Amerikaner wieder weiter als Sie und arbeitet an neuen Kettenreaktionen. Man ist in Moskau sehr unzufrieden mit Ihnen, Genosse.«

Prof. Dr. Kyrill sog erregt an seiner Zigarette. Dr. v. Kubnitz trank ruhig seinen Wodka, während Dr. Tenuschkow blaß geworden war.

«Wenn es sich um eine neue Kettenreaktion handelt, kann sie nur vom Plutonium ausgehen«, meinte Dr. v. Kubnitz langsam. Dr. Kyrill sah ihn erstaunt an.

«Wieso denn?«

«Sie wissen, daß es bisher dem Menschen gelungen ist, nur 0,1 Prozent der Energie einer Materie durch Spaltung mit Neutronen freizubekommen. Es gibt da einen Weg, nur kennen wir nicht den äußeren Mantel, das Bremsmaterial, das verhindert, daß die Atome unter sich bleiben und nicht in Form einer Explosion sich unserer Kontrolle entziehen. Das ist das Geheimnis von Los Alamos, glaube ich.«

«Dann suchen Sie diesen Mantel!«rief der Volkskommissar erregt.

«Wie Sie wünschen. «Dr. v. Kubnitz lächelte.»Ich verstecke in der Taiga einen Rubel. Irgendwo. Bitte, Genosse Kommissar… suchen Sie ihn…«Er wies nach draußen, wo die endlose Steppe am Horizont als brauner Streifen an den Himmel stieß.

Der Volkskommissar biß sich auf die Lippen. Er schaute auf sein Wodkaglas und brannte sich noch eine Papyrossi an. Mit bebenden Fingern rauchte er sie in kurzen, hastigen Zügen.

«Wir müssen in Los Alamos unsere Agenten einsetzen«, sagte er nachdenklich.»Gregoronow und Zanewskij könnten es tun. Wir dürfen keine Mittel scheuen, dieses Geheimnis Prof. Paersons in die Hand zu bekommen… und wenn es der Amerikaner selbst ist!«

Dr. Kyrill und Dr. Tenuschkow beugten sich über die Karte, die auf einem der langen Tische lag. Die neuen Flutlichtlampen, die den unterirdischen Raum erhellten, machten die Gesichter leichenfahl.

«Es ist das beste, wenn Gregoronow und Zanewskij über Alaska nach Kalifornien einsickern und dann quer durch die Rockies nach New Mexico fahren. Es liegt dann an Ihnen, Genosse Kommissar, dafür zu sorgen, daß an der Grenze Kanadas, bei Cordova, ein Flugzeug steht, das die beiden nach Salt Lake City in Nevada bringt, wo ein Wagen wartet, der sie weiterträgt nach Santa Fe. Über einen Kurzwellensender könnten wir dann direkt von hier aus die nötigen Anweisungen geben.«

«Wir werden für alles Sorge tragen. «Der Volkskommissar nickte.

Nach einem Rundgang durch die Werke verabschiedete er sich und fuhr nach Moskau zurück.

In dieser Nacht geschah etwas, was weder Dr. Kyrill noch jemand in Nowo Krasnienka ahnte.

Durch die Parktür seiner Villa schlich Dr. v. Kubnitz hinaus in den nahen Wald, wo versteckt unter Blättern in einer kleinen Erdhöhle, ein altes Fahrrad lag. Er schwang sich auf den Sattel, fuhr langsam den holprigen Waldweg herunter, bog auf eine schmale Landstraße ab und fuhr sie in gerader Richtung entlang. Er trat heftig auf die Pedalen, Schweiß rann ihm über die Stirn, seine Brust keuchte.

Die geheimen Wachen, die das Haus des deutschen Physikers zu beobachten hatten, sahen zufrieden zu den Fenstern empor. Sie waren erleuchtet. Radiomusik tönte in den Park. Wie immer seit anderthalb Jahren gab Dr. v. Kubnitz nicht Anlaß, eine Meldung zu machen.

Die drei Mongolen, die im Schatten der Parkbäume standen, brannten sich eine Zigarette an. In ihren geschlitzten Augen lag Müdigkeit.

Immer dieses Wachen. Der Deutsche… wohin sollte er schon flüchten? Aus Nowo Krasnienka? Er würde nicht weit kommen.

Die Nacht war dunkel und warm.

Noch immer fuhr Dr. v. Kubnitz. Die Steppe lag weit vor ihm. Endlich, nach einer Stunde Fahrt, hob sich aus dem Dunkel ein dunkler Fleck ab. Eine der Kolchosen lag inmitten der Steppe und beherbergte die großen Herden, mit denen die Arbeiter von Nowo Krasnienka gespeist wurden.

An dem äußeren Zaun hielt v. Kubnitz an und sprang vom Rad. Er schob es leise den Zaun entlang bis zu einem Lattentor, drückte es auf und schlich um die Ställe herum zum Haupthaus. Hier lehnte er das Rad an einen Balken, klopfte an eine kleine Tür, die seitlich in die Küche führte und wartete.

Der große Komplex der Kolchose lag dunkel und schlafend. Nur aus den Ställen klang ein verschlafenes Brummen und kauendes Mahlen der Rinder.

Wieder klopfte Dr. v. Kubnitz.

Leise, rhythmisch. Klackklack… klackklackklack… Klack…

Die kleine Tür schwang gut geölt zurück. Ein struppiger Kopf erschien in der Spalte. Als er sah, wer draußen stand, ließ er den späten Besucher ins Haus schlüpfen und schloß sofort wieder die Tür.

Ein schwarzer Gang nahm v. Kubnitz auf. Er tappte ihn entlang und trat in ein Zimmer, das von einer kleinen Petroleumlampe notdürftig erhellt war.

Vor einer aufgeklappten Falltür am Boden saßen vier Männer vor einem Kurzwellensender und tasteten den Äther ab. Ein fünfter, der struppige Kopf, der v. Kubnitz eingelassen hatte, schien seinen Platz neben den Empfangsgeräten zu haben, denn ein halb voll geschriebener Block Papier lag auf einem leeren Stuhl. Am Tage, wenn durch die Falltür, die mit Sand überstreut wurde, die Apparate in den Keller verschwanden, diente der Raum als Futterküche. Zwei große Herdöfen standen unter dem verhängten Fenster, Futtertröge und Kornschaufeln standen an den Wänden oder dienten jetzt den Männern am Kurzwellengerät als Sitz.

Die vier blickten kurz auf, als v. Kubnitz den Raum betrat. Auf den ersten Blick erkannte man, daß es Deutsche waren, geflohene Kriegsgefangene, die hier, auf einer sowjetstaatlichen Domäne, eine kleine Gruppe bildeten, die wichtige Informationen ins Ausland funkte. Der Kolchose, ein alter russischer Bauer, der noch den Zar kannte und im Herzen der russischen Krone Treue hielt, deckte die fünf Männer und gab sie als Arbeiter aus. Bei Kontrollen vom Distriktsowjet verschwanden sie in den nahen Wäldern und kamen in der folgenden Nacht wieder zurück.

«Was Neues?«fragte der eine, der gerade eine Meldung empfing und niederschrieb.»Wir hörten, daß der Volkskommissar aus Moskau bei euch war.«

«Darum komme ich. «v. Kubnitz ließ sich schwer atmend auf einen Futtertrog nieder.»Man will Gregoronow und Zanewskij nach Amerika schicken. Atomspionage. Vielleicht sogar Menschenraub, wenn es nicht möglich ist, auf dem Wege der Infiltration in Los Alamos weiterzukommen. Prof. Paerson hat eine neue Kernspaltung entdeckt. «Er atmete schwer.»Wenn Kyrill diese Spaltung in die Hand bekommt, ist es aus mit allen Hoffnungen!«

«Und wie denkst du dir das weitere?«fragte der struppige Kopf.

«Ihr müßt versuchen, Anschluß an einen amerikanischen Kurzwellensender zu bekommen. Fritz spricht englisch, es ist also ein leichtes, die Amerikaner zu warnen.«

«Wenn wir eine Welle der Amis erwischen.«

«Ihr müßt es schaffen! Tastet den ganzen Weltraum ab, Jungs! Und wenn ihr umfallt vor Müdigkeit… ihr müßt eine Welle finden!«Dr. v. Kubnitz wischte sich den Schweiß aus den Augen.»Ihr wißt ja gar nicht, was das bedeutet: Atomenergie!«

Und als die fünf ihn groß ansahen, winkte er ab, so, als habe es keinen Zweck, es ihnen zu erzählen.»Sucht, Kerls«, sagte er und erhob sich wieder.»Ich komme morgen nacht wieder. Solltet ihr mit Amerika in eine Verbindung kommen, so sagt ihnen, daß sie Prof. Paerson wie ein rohes Ei behandeln sollen. «Er schaute an die Decke, die von Ruß geschwärzt war.»Fällt er in die Hände von Gregoronow, so gibt er sein Geheimnis preis. Ich weiß es von mir, wie er zu fragen versteht. Und der Mensch, es ist traurig, der Mensch ist schwach, wenn er Schmerzen erleidet.«

Er wandte sich ab und verließ den Raum. Zurück blieb eine dumpfe Spannung.

«Ich möchte nicht in seiner Haut stecken«, sagte der eine leise.»Wenn er einmal auffällt, gibt es für ihn keine Gnade mehr.«

Die anderen schwiegen. Sie drehten an den Knöpfen. Sie tasteten den Äther ab.

Es gibt einen Ort auf dieser Welt, der Tanarenia heißt. Er liegt in Spanien, in der Sierra de Gredos, nahe dem Orte La Adrada und dem 1859 Meter hohen Berg Escusa, östlich der Landschaft Estremadura. Nicht weit von Madrid entfernt, in die rauhen Berge der Sierra de Gredos verschlagen, umgeben von hohen, elektrischen Stachelzäunen und tiefen Gräben, fast an den Quellen des Rio Tietar liegen hier einige weiße, langgestreckte Häuser, die wie Villen verschrobener Millionäre aussehen. Weite Parkanlagen, künstlich in diesen Felsen angelegt, umgeben diese weißen Riesenvillen, und nur die langen, merkwürdig sich nach oben verjüngenden Schornsteine, die mitten aus den Felsen ragen, machen den Blick kritisch für Dinge, die nicht weit von diesen Villen sich innerhalb der Berge abspielen müssen.

Wer in Spanien einen Menschen nach Tanarenia fragt, der wird die Schulter zucken und nicht wissen, wovon man spricht. In Madrid jedoch, im Escorial, dem alten, spanischen Königsschloß, das General Franco als Residenz erkor, ist dieser Name gleichbedeutend mit den kühnsten Träumen, die man hinter verschlossenen und versiegelten Türen träumt.

Als am 6. August 1945, 09.15 Uhr amerikanischer Marinezeit, die erste Atombombe über Hiroshima fiel und 78.150 Tote, 13.983 Vermißte, 9.482 Schwerverletzte (die später ebenfalls starben) und 27.997 Leichtverwundete hinterließ, eine einzige Bombe von 2 Pfund Gewicht, da hielt die Welt den Atem an und verhüllte sich Gott das Haupt vor den Menschen. Die neue Sonne, die über dieser Stadt explodierte, die alles im Umkreis von 1000 Metern schwarz verbrannte und die Steine schmolz, ließ auch Spanien aufhorchen. Ende 1945 trafen plötzlich, durch Grenzführer über die Pyrenäen geleitet, deutsche Atomphysiker in Madrid ein, bekannte Größen des nationalsozialistischen Deutschlands, die auf der Flucht vor der Entnazifizierung und ihrer Einweisung in Internierungslager quer durch Frankreich bis nach Spanien flüchteten.

Prof. Dr. Hans Ebberling und Dr. Paul Mehrang waren unter ihnen, zwei Wissenschaftler, die im Werk für Schweres Wasser und in Peenemünde an der deutschen Atomversuchsanstalt eine leitende Rolle spielten. Nach langen Unterredungen zogen sie in Begleitung von Dr. Juan de Sebaio und Dr. Jose Cabanera in die Berge der Sierra de Gredos und entschwanden endgültig den Augen der übrigen Menschheit.

So entstand Tanarenia. Die spanische Atomstadt.

Prof. Dr. Ebberling, der das Abbremsen der schnellen Neutronen mit Schwerem Wasser schon in Norwegen probierte und mit den langsam gewordenen Neutronen die Kerne von Uran 238 und Uran 235 beschoß, war auf dem Weg, in selbstkonstruierten Konzentrationsstrahlern und gesichert durch neutronenabsorbierende Cadmiumsstreifen innerhalb des Brenners die Freiwerdung der Energien so zu steigern, daß sie über 1/10 Prozent hinausgingen, als die Radiomeldung aus Washington den spanischen General Monzalez von Madrid nach Tanarenia hetzte.

Als er in einer der weißen Villen, die innen als großzügige Laboratorien ausgestattet waren, keuchend und erregt erschien, fand er bereits eine Konferenz der an dem Atomprojekt beteiligten Wissenschaftler vor.

«Senores«, sagte er schweratmend.»Wir sind wie vor den Kopf geschlagen! Sollte es möglich sein, Senor Ebberling, daß Ihre neue Methode schon von Paerson vollendet wurde?! Das wäre grauenhaft! Das wäre für Spanien ein Rückfall ohnegleichen! Was wollen Sie jetzt tun?«Er sah Dr. Ebberling an wie ein Mensch, über den man gerade das Todesurteil gefällt hatte.

Dr. Juan de Sebaio winkte ab. Sein schwarzes, fettiges Haar glänzte in der Sonne, die durch die breiten und hohen Fenster in den großen Raum flutete.

«Als man in Columbia am 25. Januar 1939 im Labor die ersten Atomzertrümmerungen vornahm und im Oszilloskop, dem sogenannten Atomthermometer, die Energie ablas, die die beiden Bruchstücke der Spaltung entwickelten, indem sie auseinanderflogen, da sah man die unvorstellbare Zahl von 200.000.000 Volt Spannung innerhalb des Spaltungsvorgangs von Uran. Das ist dreimillionenmal so groß wie die Energie, die beim Verbrennen von Kohle möglich ist. Sie war zwanzigmillionenmal so groß wie die des Dynamits. Wir sind in der Lage, hier in Tanarenia, allerdings nur in winzigen, kaum mikroskopischen Mengen Voltstärke von

600.000.000 zu erzeugen, dank der

Konzentrationsspaltung Dr. Ebberlings. Und mehr noch, Herr General: Die erste Bombe über Hiroshima und alle anderen auf Nagasaki und den Bikini-Atollen enthielten eine Sprengwirkung von mehr als 20.000 Tonnen

Trinitrotoluol, dem rasantesten, bisher bekannten

Sprengmittel. Dr. Ebberlings Spaltung setzt eine Sprengwirkung von 50000 Tonnen frei, allerdings bei einer Atombombe von 2 1/2 Kilogramm Gesamtgewicht an spaltbarer Masse Plutonium.«

General Monzalez kaute auf seinen Lippen. Seine

Augenwinkel zuckten vor Erregung. Jetzt, als Dr. Sebaio schwieg, schnellte er von seinem Stuhl auf und drückte Dr. Ebberling beide Hände.

«Wundervoll!«schrie er.»Einzigartig! Sie sind ein Genie, Senor! Aber — «, er ließ die Hände los und sah sich im Kreis um,»- was bedeutet diese Meldung aus Los Alamos? Ist man in Amerika so weit wie bei uns? Ist man weiter? Unsere Regierung ist sehr beunruhigt.«

Dr. Jose Cabanera brannte sich eine Zigarette an, aber Dr. Sebaio riß sie aus dem Mund.

«Sollen wir alle in die Luft fliegen?«schrie er. Die Nerven gingen mit ihm durch. Die Anspannung der letzten Tage, das Sitzen an den Meßapparaten, das Aufschichten der großen Graphitwürfel, in denen das spaltbare Uran eingelassen war, der Blick in ein Reich von Energie und Kraft, die noch nie ein Mensch wie ein Sklave in der Hand hielt, zerstörten seine Selbstbeherrschung.»Wir können nur warten«, schrie er den General an.»Sagen Sie denen am grünen Tisch von Madrid, sie sollen einmal hierherkommen, sie sollen sehen, was hier geschaffen wird, und dann sollen sie uns fragen: warum, weshalb, warum nicht… «

«Ich denke da an einen Marokkaner, der für uns in Washington Spitzendienste leistet. Er ist als Portier in einer Bar beschäftigt und verfügt über gute Verbindungen. Kezah ibn Menra heißt der Bursche. «General Monzalez sah die Herren der Reihe nach an.»Wenn Sie dem Kriegsministerium genaue Angaben geben könnten, wäre es möglich, ibn Menra so einzusetzen, daß wir Genaueres über die Forschungen Dr. Paersons erfahren.«

«Das ließe sich machen. «Prof. Dr. Ebberling schlug eine rote Aktenmappe auf und überflog die Papiere, die sie enthielt.»Ich könnte Ihnen die Dinge aufschreiben, die wir gerne wissen möchten«, sagte er langsam.»Nur bitte ich, Ihrem Agenten einzuschärfen, im Falle eines Mißlingens nie zu sagen, für welche Macht er arbeitet.«

«Das ist selbstverständlich. «General Monzalez beugte sich über die Papiere, die ihm Dr. Ebberling zuschob. Auch Dr. Sebaio und Dr. Cabanera traten näher.

«Was wir brauchen, ist vor allem die genaue Angabe, ob Prof. Paerson Plutonium spaltet oder Helium. Ferner brauchen wir Pläne der Cyclotronen von Hanford, der Betatrone, der Cockcroft-Walton-Protonbeschleuniger, der…«

Zwei Wochen später.

In diesen zweimal sieben Tagen geschah vieles. In New York sagte Malik sein berühmtes Veto, in Italien trat der Po über die Ufer und vernichtete das Leben von Tausenden von Menschen, in Deutschland wurde ein Massenmörder verurteilt, in Frankreich streikten die U-Bahn-Schaffner. Wohin man blickte, häuften sich die Meldungen der Katastrophen. Die Welt hatte Stoff für Wochen, die Zeitungen druckten höhere Auflagen, in den Illustrierten saßen die Redakteure und rieben sich die

Hände.

Es passierte wieder etwas in der Welt. Und dann im Sommer, der schlechten Zeit aller Zeitschriften.

Die Rotationsmaschinen sausten. Ihr Donnern klang über die Straßen.

In diesen zwei Wochen aber sprang in der Nähe von Lubbock am Rande des Llanos Estacados, wenige Meter vor den Ufern des Flusses Double Mountain Fork, in einer regnerischen, gewitterdurchschauerten Nacht, der deutsche Spion Heinz Behrenz aus einer japanischen Langstreckenmaschine ab, die am nächsten Morgen, mit einem roten Kreuz unter den Tragflächen, kurz hinter Cap Colnett auf Nieder-Kalifornien in Mexiko gesichtet und wieder in Richtung auf den Stillen Ozean aus den Augen verloren wurde.

Den einsamen Mann, der sich am Rande des Flusses aus seinen Fallschirmgurten löste und den Schirm in einer Benzinflamme verbrannte, sah niemand. Auch als er nach Lubbock kam und sich an dem berühmten Punkt der Vier-Bundesstraßen-Kreuzung stellte, den Lastwagen zuwinkte und aussah wie ein armer, verluderter Tramp, beachtete ihn niemand, sondern man ging an ihm vorbei wie an all den Landstreichern, die durch die Vereinigten Staaten ziehen. Ein Lastwagen nahm ihn mit, nachdem er zwei Stunden gewinkt hatte. Er fuhr nach Amarillo, südöstlich von Santa Fe, dem Ziel der Reise.

In diesen vierzehn Tagen keuchte auch ein großer, schwerer Cadillac durch die Rocky Mountains, von Los Angeles kommend und durch das herrliche Plateau des Colorado fahrend, auf der vielleicht schönsten Straße der Welt, die von Kalifornien quer durch die Rockies, vorbei am kleinen Colorado bis nach Albuquerque am Rio Grande führt.

Wassilij Gregoronow und Piotre Zanewskij saßen in diesem Wagen und starrten hinaus auf die Canons und die wilden Wasser des Colorados, auf die Schluchten, in denen noch heute der Grislybär haust und die Pelzjäger wie vor hundert Jahren auf das Wild lauern.

Auch sie beachtete niemand. Es waren Überlandfahrer, vielleicht Kaufleute, die einen Job im Süden oder im Goldenen Westen getätigt hatten. An den Tankstellen fragte man nicht viel. Mein Gott, das Englisch, das sie sprachen, klang hart und holprig. Aber wer achtete in Amerika darauf, wo es mehr Fremde gibt als in jedem anderen Land der Erde?

Der schwere Cadillac fuhr schnell und ungehindert bis nach Santa Fe, wo er vor dem besten Hotel hielt.

In diesen vierzehn Tagen raste, von Osten kommend, ein anderer Wagen über die breite Regierungsstraße fast quer durch den Kontinent. Ein schmaler, brauner Mann saß hinter dem Steuer, mit scharfen Augen und schmalen Lippen. Sein heller Sommeranzug verstärkte die leicht negerhaften Züge, die vom Kinn aus bis zur Stirn zogen.

Der Marokkaner Kezah ibn Menra fuhr von Washington nach Santa Fe, in seiner Tasche auf dünnstem Seidenpapier, das man im Falle der Gefahr verschlucken konnte und sich von der Magensäure noch vor dem Auspumpen des Magens auflösen ließ, die genauen Pläne und Angaben von Prof. Ebberling aus Tanarenia.

Auch ibn Menra stieg in Santa Fe ab — nicht wie die Russen im besten Hotel, sondern in einer Herberge am Stadtrand, wo die Arbeiter aus den Canons und aus Alamos während der Ferien vorbeikamen und in Andeutungen die Spannung der Bevölkerung auf dem laufenden hielten.

Neben ihm, in einer Herberge für Tramps, saß Heinz

Behrenz auf seinem Feldbett und stopfte sich die Strümpfe. Um ihn herum saßen oder lagen andere Tramps, Arbeiter, die zu Fuß oder von den nahen Orten nach Santa Fe gekommen waren, um sich hier anwerben zu lassen für die geheimnisvollen Arbeiten in den Canons, von denen sie nur wußten, daß man jeden Tag Güterzüge voll Gestein in die Werke fuhr, aber nichts anderes herauskommen sah als Schlacken, schwarz, verbrannt, unter den Fingern wie Lehm zerbröckelnd.

Ein Ring schloß sich um Los Alamos.

Um Prof. Dr. Paerson und Dr. Ralf Bouth.

Ein Ring, geboren aus der Sucht, das Geheimnis des Untergangs zu ergründen.

Ein stiller, nächtlicher Kampf um das Monopol des Atoms.

Ein Streit um die Angst der Menschheit —.

In Los Alamos ging unterdessen alles seinen geregelten, seit Jahren eingespielten Gang.

Prof. Dr. Paerson war wieder aus dem Krankenhaus entlassen. Der radioaktive Strahl hatte nur seinen Arm gestreift und hinterließ nichts als einen dünnen Streifen zerstörten Hautgewebes, das in einigen Wochen durch eine Hautverpflanzung ersetzt werden sollte.

Auch Mabel war noch in Los Alamos — sie wollte den Ort der Einsamkeit nicht mehr verlassen. Sie begleitete deshalb in dem weißen Kittel einer Laborantin ihren Vater oder Dr. Ralf Bouth in die Labors und die riesigen Anlagen der Atombrenner. Sie war überall, wo man sie brauchte. Sie fragte nicht mehr, warum. Sie kehrte nicht mehr ihr Inneres nach oben, um diesen Männern zuzuschreien, welch eine Angst sie über die Menschen bringen. Nein, auch sie fühlte Angst, aber nicht Angst mehr vor den Atomen, sondern Angst um die zwei

Menschen, denen ihr Herz gehörte… um ihren Vater und Dr. Bouth.

In einer der folgenden Nächte zog Heinz Behrenz mit einem Trupp Arbeiter von Santa Fe die berühmte Straße nordwestlich in die Berge, um dann am Straßenkreuz von einer Militärstreife kontrolliert zu werden.

«James Nichols«, sagte er zu einem Offizier, der über dicken Listen saß. Blätter raschelten, im Schein der starken Lampe wirkte das Gesicht Behrenz wächsern und leblos.

«James Nichols«, wiederholte der Offizier langsam. Er kreuzte einen Namen auf der Liste an.»Kehrer und Schlepper in Block VI. Passiert.«

Der Paß bekam einen Tagesstempel. Heinz Behrenz wurde weitergeschoben. Der Nächste trat in den Lampenschein.

Aufatmend stieg er auf den Lastwagen, der am Straßenrand wartete. Beim Aufsteigen betastete er noch einmal den Paß in seiner Brusttasche. Tausend Dollar, dachte er. Auf der Welt ist alles käuflich, auch der Arbeiter James Nichols, der jetzt irgendwo auf der Fahrt nach Osten war. Nach Kanada, hatte er gesagt. Mit tausend Dollar kann man ein neues Leben anfangen.

Das Anrucken des Wagens riß ihn aus seinen Gedanken. Er fiel gegen andere Menschen, die knurrten und ihn wegstießen.

Der Wagen fuhr. Hinein in die Berge. Über eine schmale, kurvenreiche Straße. Vier Posten kontrollierten sie, viermal nannte er seinen neuen Namen James Nichols.

Beim Morgengrauen passierten sie die innere Sperrzone. Frierend und fluchend fuhr der Arbeiterwagen in die Canons ein. Die ersten Häuser tauchten auf… ein Hochplateau mit kleinen Bauten, ein Canon mit gewölbten

Betondecken, schlanke, hohe Schornsteine, die aus den Felsen emporwuchsen.

Los Alamos.

Heinz Behrenz steckte die Hände in die Taschen seines dünnen Anzuges. Seine Blicke gingen von Bau zu Bau.

Er hatte das Gehirn Amerikas erreicht.

Die erste fremde Macht griff nach dem Geheimnis Prof. Paersons.

Japan.

*

Am nächsten Morgen brachte Dr. Bouth Mabel bis an den äußeren Posten. Er hatte ihr seinen Wagen geliehen und beugte sich nun zum Fenster hinein.

«Wenn du in Santa Fe Zeit hast, so bring mir bitte eine neue Pfeife mit«, bat er sie und strich ihr noch einmal über die Hand, die das Steuerrad hielt. Sie nickte ihm zu, lächelte, spitzte die Lippen, als wolle sie ihn küssen und fuhr langsam an.

Ralf winkte ihr nach, bis sie um die Felsenecke bog. Er sah noch ihre Hand, als sie vom Steuer aus sein Winken erwiderte. Dann hörte er nur das Brummen des starken Motors, der sich schnell entfernte.

Es sollte für lange Zeit das letzte sein, was er von Mabel Paerson gesehen hatte…

In Santa Fe hatten Wassilij Gregoronow und Piotre Zanewskij seit langer Zeit wieder ruhig und angenehm geschlafen. Sie hatten sich gebadet, waren frisch rasiert und sauber gekämmt, frühstückten umfangreich und setzten sich dann in ihren schweren Cadillac. Fast außerhalb der Stadt, auf der Straße nach den Bergen, verloren sie das Gesicht der lässigen Vornehmheit und hielten das Auto an. Gregoronow nahm aus der Tasche einige Zettel und reichte sie Zanewskij herüber.

«Das ist das Neueste, Genosse Kommissar«, sagte er leise, als könne man hier belauscht werden.»Von dem russischen Konsulat wurde mir gestern abend auf der Toilette des Hotels eine genaue Angabe gemacht.«

Zanewskij, ein Mann mittleren Alters mit dem kantigen Gesicht eines europäisch-asiatischen Mischlings und der Brutalität erzogenen Fanatismus' blätterte die Papiere durch.

«Prof. Dr. Paerson hat eine Tochter, Mabel. Hellblond, mittelgroß, auffallend hübsche Erscheinung«, las er leise.»Das ist eine der dümmsten Angaben, die ich kenne. In diese Klassifizierung lassen sich einige tausend amerikanische Mädchen pressen. Weiter: verlobt mit Dr. Ralf Bouth, dem Assistenten Paersons. Dr. Bouth ist über alle Forschungen genauestens orientiert und gehört zu den wenigen, die auch in die neuen Spaltungen eingeweiht wurden. Mabel Paerson kann als Druckmittel gegen Dr. Bouth erfolgreich benutzt werden. «Zanewskij pfiff durch die Zähne.»Nicht übel«, sagte er anerkennend.»Die Leute im Konsulat haben einen Blick für den treffenden Augenblick. «Er las weiter in den Zetteln und nickte ab und zu.

Als er sie in die Jacke steckte, sah ihn Gregoronow von der Seite an.

«Ist alles klar, Genosse?«

«Ja. Fahren wir.«

«Wohin?«

Piotre Zanewskij lachte auf. Er blickte aus dem Fenster und wies nach allen Seiten.»Wohin du willst, du Esel«, schrie er vergnügt. Dann wurde er still und meinte:»Es ist am besten, wir bleiben hier auf der Straße außer Sichtweite der ersten Kontrolle. Vielleicht hilft uns der Zufall und spielt uns ein dickes Tier in die Hände.«

«Und dann?«

Zanewskij wies nach hinten in den Wagen, wo eine flache, dunkle hailederne Tasche auf den Polstern lag.

«Dann wird Wassilij Gregoronow die Tasche nehmen und ein wenig Chloroform auf einen Ballen Watte gießen. Das Weitere findet sich dann…«Er lachte wieder vor sich hin.»Es ist doch merkwürdig«, stellte er philosophisch fest,»daß überall die Methoden die gleichen sind, was, Genosse?«

Der Zufall spielte an diesem Tage eine große Rolle in dem Spiel, an dem das Leben eines ganzen Erdballs hing. Es war eine Rolle, die das Schicksal in diesen Augenblicken ungleich verteilte und die Regie ein wenig von seinem Haß gegen die Menschen legte, die es wagten, es herauszufordern.

Zanewskij und Gregoronow warteten drei Stunden am Straßenrand. Sie waren ausgestiegen, zogen ihre Overalls über und schraubten am Motor ihres Wagens herum, als habe eine Panne sie gezwungen, an dieser unmöglichen Stelle der Straße anzuhalten. Sie beschmierten ihre Gesichter mit Öl und Stauferfett, Zanewskij legte sich unter die Vorderräder, aber so, daß er die Straße vor sich im Auge behielt und jede Bewegung wahrnahm. Gregoronow arbeitete unter der geöffneten Motorhaube und schraubte stundenlang Zündkerzen aus und ein, denn der Betrieb auf der Straße nahm von Minute zu Minute zu.

Die auswärtigen Arbeiter des Atomwerks fuhren nach Schichtwechsel zurück in die umliegenden ärmlichen Lehmhütten-Dörfer.

Lastwagen nach Lastwagen ratterte vorbei. Man beachtete die beiden Männer im Overall nicht oder man warf einige Scherzworte hinüber wie:»Dreht doch den Benzinhahn auf!«oder» am linken hinteren Rad klebt 'n Kaugummi!«was die beiden Russen mit kräftigen Originalflüchen beantworteten. Dann wurde es etwas stiller, die auswärtige Schicht war heimgefahren.

Gregoronow richtete sich auf und trat an den unter den Rädern liegenden Zanewskij heran.

«Die Zündkerzen glühen schon vom Raus- und Reinschrauben«, meinte er sarkastisch.»Es scheint wenig Sinn zu haben, hier noch länger zu warten. Was Sie >dicke Tiere< nennen, die verlassen bei Einbruch der Dunkelheit ihren Fuchsbau.«

Zanewskij kroch unter den Rädern hervor. Er dehnte die etwas steif gewordenen Glieder und klopfte sich den Staub vom Overall und Hose. Sein breites Gesicht war mit Öl fast unkenntlich gemacht.

«Machen Sie den Motor wieder zu und dann ab«, brummte er mißmutig.»Vielleicht hat das Konsulat doch recht, wenn es vorschlägt, Dr. Bouth oder sonst einen nach Santa Fe zu locken unter dem Vorwand, eine neue Erfindung anzubieten. «Er wischte sich über das Gesicht, betrachtete seine schmierige Ölhand und verzog wie vor Ekel das Gesicht.»Es ist nur gefährlicher. «Er wandte sich ab und blieb plötzlich stehen.»Aber Sie haben doch schon ganz andere Sachen gedreht. Gregoronow. Sie müssen es doch können.«

«Man müßte es versuchen. «Gregoronow warf die Motorhaube zu und klappte die Verschlüsse herab. Dann wischte er sich die schmutzigen Hände an einem Lappen ab, der um die Werkzeuge gewickelt war.»Fahren wir zurück nach Santa Fe«, fragte er, bevor er die Tür öffnete,»oder wollen wir noch ein wenig bis zur Sperrzone fahren? Vielleicht kann man was sehen?«

«Wir wollen nichts sehen, wir wollen was erfahren. «Zanewskij war schlechter Laune und betrachtete sich im Rückspiegel.»Wie ein Kuli sieht man aus, ich möchte mich anständig waschen! So kann ich doch nicht ins Hotel zurückkommen!«

Er wollte ebenfalls in den Wagen steigen, in dem Gregoronow bereits hinter dem Lenkrad saß und den Motor laufen ließ, als aus dem Felsen hervor, wo sich die Straße verengte, ein schwerer Wagen hervorschoß. Er brummte in großem Tempo über das gerade Asphaltband und kam schnell näher.

Gregoronow, der den Wagen zuerst sah, pfiff durch die Zähne und war mit einem Satz auf der Straße. Ehe Zanewskij begriff, was diese Hast zu bedeuten hatte, lag Gregoronow schon unter den Rädern und strampelte mit den Beinen. Man hörte ihn an den Achsen klopfen und leise fluchen.

Zanewskij wollte etwas rufen, als auch er den Wagen sah, zu spät, um seinerseits reagieren zu können. Er beugte sich deshalb zum Wagenboden und wickelte das Werkzeug wieder aus.

Der fremde Wagen hielt mit knirschenden Bremsen auf der anderen Straßenseite. Ein Fenster wurde heruntergedreht, und ein blonder Lockenkopf beugte sich heraus.

«Kann ich Ihnen helfen?«sagte das Mädchen.

Gregoronow fluchte, wie es alle Autofahrer zu eigen haben, wenn sie eine Panne reparieren, schimpfte auf die alte Kiste und kroch langsam unter dem Wagen hervor.

Mabel Paerson stieg aus ihrem Wagen und kam über die Straße zu dem ölverschmierten Mann.

«Kann ich Ihnen mit irgend etwas aushelfen?«fragte sie und nickte Zanewskij zu, der im Innern des Wagens an den Werkzeugen schraubte.

Gregoronow warf einen schnellen Blick zu Zanewskij.»Den sollte man beim nächsten Händler verkloppen«, meinte er ärgerlich.»Da sagt man immer: Fahrt Cadillac und ihr fahrt wie im Paradies… Nichts damit!«Er blickte zu ihrem Wagen hinüber und nickte.»Sie haben es gut, Sie fahren einen Ford. Unverwüstlich, die Wagen. «Er strich sich mit der Hand die Haare aus der Stirn.»Werde mir auch einen Ford kaufen, Miß…«

«Paerson«, antwortete Mabel naiv.

Gregoronow warf einen schnellen Blick zu Zanewskij. Der spielte mit einem Wattebausch und öffnete die Tür.

«Haben Sie vielleicht einen B-Schraubenschlüssel?«fragte er harmlos.»Unsrer ist zerbrochen.«

Mabel beugte sich in den Wagen, um sich den Schlüssel anzusehen. Da fühlte sie plötzlich zwei Arme um ihren Hals, sie wurde in den Wagen gestoßen, sie wollte schreien, hieb mit den Armen um sich, trat gegen die Sitze… ihre Augen waren weit vor Entsetzen, der Mund wollte das Erschrecken hinausschreien… da sah sie einen Wattebausch vor Mund und Nase, atmete ein widerlich süßes Parfüm — so dachte sie — ein, fühlte, wie sie leicht wurde, so leicht und ohne Schwere… sie schwebte auf einmal, es war schön, dieses Schweben, dieses Fliegen wie ein Engel… sie lachte sogar, und ihre um sich schlagenden Arme wurden schlaff und müde.

Müde… so müde bin ich… dachte sie noch. Ach, ist es herrlich, zu schlafen… Man träumt so Schönes… eine Wiese mit lauter Blumen und ganz, ganz weiße Wolken darüber… Wolken wie Watte… und die Blumen duften, herrlich süß… so süß…

Dann war Nacht um sie. Aber sie lächelte in dieser Nacht, weil sie erfüllt war mit herrlichen Bildern…

«Fort!«schrie Zanewskij, indem er Mabel auf den Rücksitz bettete.»Gregoronow, fahren Sie, was die Kiste hergibt. Richtung Chamita-Farmington-Mesa Verde-National-Park, und dann weiter zum Großen Salzsee.«

Der Wagen schoß über die Straße, kreischte an der Kreuzung in der Kurve und raste die gerade Straße in die Rocky Mountains hinein.

Verlassen stand der Wagen Dr. Bouths auf der Straße Santa Fe-Los Alamos. Man fand ihn zwei Stunden später, und die Militärstreife, die den Wagen kannte, schüttelte den Kopf.

Ein Anruf in Los Alamos alarmierte die ganze Atomstadt. Prof. Paerson und Dr. Bouth fuhren sofort hinaus zu dem verlassenen Wagen. Von Washington, das im Blitzgespräch verständigt wurde, sagte man einige Fachleute des FBI zu. Eine Sperrung aller Straßen New Mexicos, Arizona und Idahos jagte durch den Äther. Militär übernahm die sofortige hermetische Abschließung des ganzen Gebietes von Los Alamos. Es war, als habe man in einen Ameisenhaufen getreten. Aus den Schluchten und Canons quollen die Truppen und Polizeiformationen hervor. In Santa Fe kämmte die Kriminalpolizei alle Hotels und Herbergen durch, um Anhaltspunkte des rätselhaften Verschwindens zu bekommen.

Prof. Dr. Paerson stand erschüttert und keines Wortes fähig vor der offenen Tür des leeren Wagens. Dr. Bouth hatte die Hände in die Taschen gesteckt und biß die Lippen aufeinander.

«Sie wollte nach Santa Fe und sich ein Brautkleid aussuchen«, sagte er nach einer Weile, als müsse er damit alles erklären.»Ich lieh Mabel meinen Wagen. Es ist mir alles rätselhaft.«

«Der Wagen ist in Ordnung. «Der untersuchende Polizeichef kroch aus dem Auto.»Benzintank ist gefüllt, Motor ist vollkommen intakt. Es kann sich nicht um eine Panne gehandelt haben. Auch sind keinerlei Anzeichen von Gewalt festzustellen. Fräulein Paerson muß den Wagen freiwillig verlassen haben und — anders ist gar keine Erklärung möglich — in einen anderen Wagen umgestiegen sein.«

«Aber das ist doch Irrsinn!«schrie Dr. Bouth.»Warum sollte sie in einen anderen Wagen steigen, wenn mein Wagen völlig in Ordnung ist?«

«Vielleicht traf Fräulein Paerson eine Bekannte?«

«Und läßt meinen Wagen einfach auf der Straße stehen?«

Der Polizeichef nickte.»Das ist ja das Rätselhafte. «Er blickte zur anderen Straßenseite, wo einige Beamte mit hochempfindlichen Folien die Spuren des russischen Cadillac von der Straße abzogen.»Eines ist gewiß, dort, gegenüber Ihrem Wagen, Dr. Bouth, parkte seit längerer Zeit ein anderer Wagen. Sehen Sie den kleinen Ölfleck, die deutlichen Reifenspuren in dem Staub? Es scheint so, als habe der Wagen auf Fräulein Paerson gewartet.«

Prof. Paerson schlug die Tür des Wagens zu und wandte sich ab.»Es sind alles nur Vermutungen«, sagte er mit schwacher Stimme, der man anmerkte, wie sehr ihn dieser Vorfall innerlich ergriff.»Man weiß nichts, man hat nichts gesehen. «Er sah Dr. Bouth an, als wolle er bei ihm Hilfe suchen.»Mabel ist nicht mehr da… Mabel…«Die Stimme versagte ihm. Er drehte sich herum und verließ die Gruppe Männer. Allein, wie ausgestoßen, ging er über die helle Straße und stellte sich an seinen Wagen, den Rücken den anderen zugewandt.

Dr. Bouth ballte die Fäuste. Seine Ohnmacht kam ihm erschreckend zum Bewußtsein.

Wie kann ein Mensch auf einer so belebten Straße verschwinden? Am hellen Tage verschwinden?

Ohne Spur? Ohne Grund? Ohne den kleinsten Anlaß?

Ein Mädchen, das keine Feinde hat.

«Versuchen Sie alles, was möglich ist«, sagte er zu dem Polizeichef. Dann ging er zu Prof. Paerson und legte ihm die Hand auf die Schulter.»Kommen Sie«, sagte er leise, als der alte Mann zusammenzuckte.»Wir können hier nichts mehr tun.«

Prof. Paerson sah Dr. Bouth groß an. In seinen Augen stand dunkel die Angst vor einem Etwas, das er nicht auszusprechen wagte.

«Mabel hatte recht«, sagte er leise.»Die Atome werden Opfer fordern. Sie ist das erste.«

«Wie meinen Sie das, Herr Professor?«Dr. Bouth starrte seinen Chef an.»Glauben Sie, daß man Mabel…?«

Paerson wischte mit der Hand durch die Luft.»Warten wir ab, Dr. Bouth, warten wir ab… Ich habe nie damit gerechnet, wie gemein die Menschen sein können. «Sein Körper fiel zusammen, er wurde noch kleiner, als er von Natur aus war. Es sah aus, als krieche er in sich zusammen, als griff eine große Kälte nach ihm.

«Es wird nicht das letzte Opfer sein«, sagte er zitternd und stieg schnell in den Wagen.

Der dunkle Cadillac jagte über die Höhenstraße nach Utah, dem steilen Rücken der Uinta Mountains entgegen. Noch bevor die Polizei von Colorado die Straße bei Cortez sperren konnte und die Konstabler und Gebirgstruppen an der Kreuzung von Fairview unterhalb des Utah-Sees ihren

Riegel legten, hatte der rasende Wagen die Straße passiert und befand sich auf einem Seitenweg zum Strawberry-River, den er überquerte und auf holprigen Felsenpfaden bis in die Nähe des Emmons Peak vordrang. Hier, in einer Wildnis von Felsenschluchten und unbegehbaren Höhlen, unter dem 4090 Meter hohen Gipfel des mit Schnee bedeckten Berges, in Felsenspalten, die noch nie ein Mensch betreten hatte, versteckten sie den Wagen und trugen das noch immer betäubte Mädchen in eine Höhle, die eingehend auf einen solchen Besuch vorbereitet war. Ein Klappbett mit drei dicken Decken, ein Tisch, sogar ein Spiegel und eine zusammenlegbare Gummiwaschanlage standen in einem hinteren Raum, der durch eine Bohlentür von einem größeren Raum getrennt war, in dem Gregoronow und Zanewskij hausten.

Sie legten dabei Mabel Paerson auf das Klappbett und deckten sie mit den flauschigen Decken zu. Dann schlossen sie die Bohlentür, und während Zanewskij seinen größten Wunsch erfüllte und sich prustend wusch, saß Gregoronow an einem Kurzwellengerät und funkte auf geheimer Welle unter Chiffrebuchstaben den Erfolg nach Nowo Krasnienka.

Tick… tick… tick… tick…

Die Röhren des Empfängers leuchteten auf. Zahlenkolonnen schwirrten hinaus.

354 / 6734 / 5692 / 2 / 59 / 45923459 / 5723 /

In Nowo Krasnienka saß der Funker unter der Erde und schrieb diese Zahlen mit. Mit einem eng beschriebenen Blatt in der Hand klopfte er dann bei Prof. Dr. Kyrill an.

«Aus Amerika«, sagte er, als er das Papier überreichte.

Prof. Kyrill überflog die Meldung und wandte sich lächelnd an Dr. v. Kubnitz, der in seinem weißen Kittel hinter einer Formelreihe saß.

«Wir haben Erfolg, mein Lieber«, sagte Kyrill und seine asiatischen Züge verzerrten sich beim Lachen.»Gregoronow hat Mabel Paerson in den Händen, die einzige Tochter des Professors und Verlobte von Dr. Bouth. Gute Arbeit, sehr gute Arbeit. «Er legte das Chiffreblatt auf seinen Tisch und faltete die Hände wie ein Mann, der soeben eine große Arbeit zur Zufriedenheit vollendet hat.»In spätestens drei Wochen werden wir wissen, was Paerson spaltete«, meinte er grinsend.»Es ist ganz gut, wenn man eine Tochter hat.«

Dr. v. Kubnitz dachte an seine kleine Cornelia und schauderte zusammen.»Tiere«, dachte er.»Es sind Tiere mit dem Geist kleiner Götter.«

Aber er schwieg. Er nickte nur und wandte sich wieder den Formeltabellen zu.

Doch in der Nacht, in der die drei Mongolen wieder rauchend und brummend vor der erleuchteten weißen Villa am Njemda Wache hielten, trat wieder ein Radfahrer keuchend durch die Nacht einer schwarzen Kolchose entgegen.

Er verschwand in der Finsternis des Hofes. Und durch die Nacht tickte wieder ein anderer Sender mit Strahlern nach Amerika und Japan, wo japanische Funker mit deutschen Helfern in Nagoi saßen und die Sprüche aufnahmen.

«Achtung! Achtung! Meldung an alle! Meldung an alle! Mabel Paerson von zwei Russen, Gregoronow und Zanewskij, entführt. Achtung für alle!«

In Nagoi und in Washington nahm man diese Botschaft aus dem Äther wie einen Schlag ins Gesicht auf. Man tastete den Äther ab, man suchte den unbekannten Sender, man versuchte, den Standpunkt zu ermitteln — aber die Welle schwieg und ließ sich nicht anpeilen.

Im Kriegsministerium von Washington saß man in dieser Nacht zusammen und studierte die Meldung. Sie wurde herumgereicht, sie wurde Präsident Truman vorgelegt, sie kam zu General McKinney, dem Abwehrchef der Armee.

Die Tatsache war plötzlich klar. Was man immer geahnt hatte, wurde von einem Geheimsender, der irgendwo im Osten stehen mußte, bestätigt: Mabel Paerson war entführt worden von einer Gruppe, die Interesse an den neuen Spaltungen Prof. Paersons hatte. Es sollten zwei Russen sein. Wußte man im Kreml von dieser Entführung? War es eine staatlich gelenkte Aussageerpressung?

Das Außenministerium in Washington kam zu einer Nachtsitzung zusammen. Die besten Experten gaben ihre Gutachten ab. Wenn es sich um Atomspionage handelt, ist es eine von Rußland staatlich gelenkte Spionage. Es gibt in der ganzen Welt keine Privatgruppen, die die Mittel hätten, Atomspaltungen herzustellen. Anlagen von 2 Milliarden Dollar Kosten kann kein Privatmann errichten!

Man arbeitete eine Note nach Moskau aus. Die Presse wurde angewiesen, vorerst über diesen Vorfall völlig zu schweigen. Es senkte sich Schweigen über Mabel Paerson. Nach Los Alamos ging ein Telefongespräch mit Prof. Paerson persönlich. An einem zweiten Hörer hörte Dr. Bouth das Gespräch mit.

General McKinney empfand es als schwer, das, was er zu sagen hatte, in tröstende Worte zu kleiden.

«Alle Anzeichen, bester Herr Professor«, sagte er langsam,»deuten darauf hin, daß das Verschwinden Ihrer Tochter eine rein politische Tat ist. Eine russische Interessengruppe hat Ihre Tochter entführt — wie, das wissen wir noch nicht —, um Sie dadurch zu zwingen, das Geheimnis Ihrer neuen Spaltung bekannt zu geben. Es ist eine Erpressung im Großen. Wir nehmen an, daß Sie in den nächsten Tagen von irgendeiner Seite einen Brief bekommen werden, der die Freilassung Ihrer Tochter gegen Preisgabe Ihres Geheimnisses ankündigt. Bitte, unternehmen Sie nichts, ohne uns vorher unterrichtet zu haben.«

«Und wenn man meine Tochter tötet?«schrie Prof. Paerson.

«Denken Sie daran, daß es um den Fortbestand der Nation geht. «General McKinneys Stimme wurde beschwörend.»Wenn Sie das Geheimnis Ihrer

Atomspaltung an Rußland weitergeben, haben Sie unsere Erde in Flammen gesteckt!«

«Und meine Tochter?«Prof. Paerson hielt sich an der Tischkante fest. Er schwankte, als stehe er auf einem weichen Boden.»Soll ich sie einfach umbringen lassen?«

General McKinney biß sich auf die Lippen. Er schloß die Augen, während er sagte:»Professor Paerson, denken Sie an den Verteidiger des Alkazar in Spanien. Als man seinen Sohn gefangen hatte, durfte er seinen Vater anrufen. >Vater<, sagte er, >man will mich erschießen, wenn du den Alkazar nicht übergibst. < Und der General sagte: >Mein Sohn, ich küsse dich noch einmal. Denk an Spanien und stirb tapfer. Es lebe Spanien!< Der Sohn wurde erschossen, der Alkazar wurde gehalten. Es gab einen Sieg!«McKinney schluckte.»Professor Paerson, es geht hier nicht um meine Burg… es geht um unsere Welt…«

Der alte Mann am Apparat von Los Alamos nickte. Dieses Nicken war schwer, der Kopf fiel auf die Brust und erhob sich nur mühsam wieder.»Ich verstehe«, sagte er leise.»Ich verstehe, Herr General… Stirb tapfer, Mabel…«

Der Hörer entfiel seiner Hand. Mit einem röchelnden Laut sank er nach hinten zusammen, in die Arme des herbeispringenden Dr. Bouth.

In Nagoi hielt Dr. Hakanaki die Radiodurchsage des unbekannten Senders in der zitternden Hand. General Simanuschi rang die runzeligen Hände und verlor die Beherrschung über sein Gesicht. Es zuckte, als litte es unter unsichtbaren Schlägen.»Rußland«, keuchte er.»Dr. Hakanaki… Rußland! Das darf nicht sein! Rußland war es, das Japan den Krieg erklärte, nachdem man ahnte, daß Amerika die Atombomben werfen würde. Rußland, das uns den Markt im Osten streitig macht, das in China gegen uns vorrückt, das in Korea Zugang zu einer Umklammerung sucht. Rußland…«Simanuschi stöhnte auf und lehnte sich gegen den Tisch.»Und Sie glauben, daß diese Meldung des unbekannten Senders stimmt?«

«Ja, Exzellenz.«

«Es ist kein gut gezielter Schuß im Nervenkrieg?«

«Das nehme ich nicht an. Der unbekannte Sender — er muß nach sofortigen Peilungen irgendwo in Rußland, vielleicht am Flußdreieck Wolga-Wetluga-Sura, liegen — hat bisher mit allen Informationen, die er gab, die Wahrheit gefunkt. Es muß sich um eine russische Untergrundgruppe handeln. «Er sah zu Dr. Yamamaschi hinüber, der soeben eintrat.»Ich habe sofort an unseren Agenten in Los Alamos gefunkt. Haben Sie Antwort, Dr. Yamamaschi?«

Der Assistent schüttelte den Kopf.»Nichts«, meinte er bedrückt.»Heinz Behrenz schweigt. Seit drei Tagen.«

Simanuschi fuhr sich erregt über den kahlen, faltigen Schädel. Seine Augen unter den hängenden Fettpolstern waren ohne Glanz.

«Ich werde mich mit Major Kenneth in Verbindung setzen. Er wird als Militärattache neue Nachrichten haben. Ich werde ihm unsere Hilfe anbieten. Das lenkt ihn auch ab von unseren Projekten. «Er blickte zu Dr. Hakanaki hin.»Übrigens weiß er nichts von den Spaltungen. Es wäre sinnlos, ihn hier eingehend zu befragen. «Das faltige Greisengesicht lächelte.»Sie können den >Verhandlungsraum< wieder ausräumen lassen, Dr. Hakanaki.«

«Wie Sie wünschen, Exzellenz. «Der Physiker hielt noch immer das Blatt mit der Meldung in den Händen.»Ich werde versuchen, mit unserem Mann in Los Alamos in Verbindung zu treten. Er soll versuchen, Gregoronow und Zanewskij zu finden. Unsere Zentrale in New York wird sofort verständigt.«

In Tanarenia war die Wirkung der Meldung, die man durch Zufall auf einer amerikanischen Wellenlänge entdeckte, von weniger großer Wirkung.

Dr. Sebaio und Dr. Ebberling lasen sie durch und sahen sich dann kurz an.

«Der Kampf beginnt«, meinte der Spanier und zerknüllte den Zettel mit der Meldung.»Dr. Paerson wird noch viel zu ertragen haben.«

Ebberling nickte und sah hinüber in das große Labor und durch die Fenster hinaus auf die schlanken Schornsteine des unterirdischen Werkes.

«Ein Segen, daß man Tanarenia nicht kennt und unsere Versuche. Ich bedauere Professor Paerson, Dr. Sebaio. Er ist ein genialer Kopf. Mit seiner Tochter Mabel hat man ihn jetzt abgeschlagen. Er wird uns nicht mehr gefährlich werden.«

«Und Sie haben keine Tochter?«fragte Dr. Sebaio vorsichtig.»Nein. «Eine steile Falte grub sich in die Stirn des Deutschen.»Meine Frau und drei Kinder kamen bei einem Bombenangriff auf Bremen um. Ich habe sie nicht wieder gesehen.«»Verzeihung«, sagte Dr. Sebaio leise und wandte sich ab.

In Nowo Krasnienka hockte Prof. Kyrill vor dem Empfänger. Sein asiatisches Gesicht war gerötet, als triebe Fieber durch seinen Körper.

Hin und her flogen die Worte zwischen Nowo Krasnienka und der Schlucht unterhalb des Emmons Peaks. Dr. v. Kubnitz hockte daneben, und seine Augen lagen tief in den Höhlen.

Gregoronow funkte. Mabel Paerson war erwacht.

«Was tun«, rief er durch den Äther.»Mabel Paerson tobt. Sie erleidet einen Schreikrampf. Zanewskij hat ihr eine Beruhigungsspritze gegeben.«

Prof. Kyrill schaltete um auf Sendung.

«Warten«, sagte er laut, indem er mit geübter Hand die Zahlen funkte.»Warten. Wir werden euch von Moskau die Befehle geben.«

In seinen Augen stand feuriger Triumph, als er den Kopfhörer abnahm und auf den Tisch legte. Dr. v. Kubnitz schwieg.

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