Kapitel 6

Die Uinta Mountains lagen hinter ihnen. An der Quelle des Bear Rivers rasteten sie und wuschen sich die wunden Füße. Noch wenige Kilometer durch die Wasatch Mountains, und sie mußten aus der Einsamkeit vergessener Landstriche herauskommen in die Nähe der kleinen Stadt Evanston… in die Nähe der Straße, die nach Salt Lake City führte… hinein in das wiedergewonnene Leben.

Mabel stützte Ralf während der langsamen, schrittweisen Wanderung durch das Gebirge. Obwohl sie selbst zusammenbrechen konnte, riß sie sich empor und ertrug den schweren Arm auf ihrer Schulter, der sie fast zu Boden drückte.

Seit zwei Tagen wanderten sie. In diesen zwei Tagen erkannte Mabel, was eine Frau zu leisten vermag, wenn man ein Leben in ihre Hand legt.

Sie schleppte Dr. Bouth durch die Schluchten und Hohlwege, wusch sein schmerzverzerrtes Gesicht mit Wasser, wenn er nicht mehr gehen konnte und sie am Wegrand im Gras saßen, um neue Kraft zu sammeln. Sie lud das Gewicht seines Körpers auf sich, wenn sie ihn mehr trug als stützte und die Entfernung in die Freiheit mit jedem gestöhnten Schritt kürzer wurde. In der Nacht schliefen sie unter freiem Himmel, eng aneinandergeschmiegt, denn die Steine kühlen sich schnell ab und sind ein gefährliches Bett. Sie lagen unter den Decken, und während Dr. Bouth ermattet einschlief und im Schlaf träumte, lag Mabel Paerson noch lange wach und starrte über sich in den Sternenhimmel.

Am Morgen erwachte sie zuerst. Mit steifen Gliedern

erhob sie sich, deckte Ralf wieder zu und lief ein wenig, mit den Armen um sich schlagend, hin und her, um sich aufzuwärmen. Dann, als die Sonne über die Berggipfel stieg, war es plötzlich zu warm, und sie kühlte den Puls im Wasser eines Baches.

Dr. Bouth wälzte sich auf die Seite. Das tut er immer, wenn er aufwacht, dachte Mabel. Auch das weiß ich jetzt schon… die kleinen Gewohnheiten Ralfs, die so vollkommen das Wesen des Menschen ausdrücken. Wie er sich setzt, wie er den Kopf hält, wenn er etwas Wichtiges ausdrücken will, wie er sich seine Pfeife stopft. Ob er das auch von mir weiß? Ob er mich auch beobachtet und weiß, wie ich mir die Haare kämme und daß ich ein Buch oder eine Zeitung von hinten zu lesen anfange?

Dr. Bouth stützte sich auf die Ellbogen und sah zu Mabel hinüber.

«Guten Morgen, Baby.«

«Guten Morgen, Ralf. «Dann tranken sie Wasser, er ersetzte ihnen den Kaffee. Dr. Bouth studierte die Karte dabei, während Mabel die beiden letzten Mullbinden um die Brust Ralfs wickelte.

Und dann ging es wieder durch die Berge. Langsam. Schritt für Schritt.

Die Sonne brannte und versengte ihnen die ungeschützten Nacken. Nach einer Stunde rasteten sie wieder… sie konnten noch den Platz sehen, wo sie übernachtet hatten, und schon ließen die Kräfte nach und schien der Tag endlos zu werden. Dr. Bouth lehnte den Kopf gegen einen Baumstamm und blickte in den blauweißen, von Hitze durchfluteten Himmel.

«Laß mich hier liegen, Mabel«, sagte er stockend. Und als er sah, wie Mabel entsetzt herumfuhr und den Mund zu einer Antwort öffnete, winkte er ab.»Nein… du sollst mich nicht verlassen. Aber du allein kommst schneller weiter, du kannst die Straße am Abend erreichen, wenn du durchgehst. Und du kannst in der Nacht schon wieder hier sein und mich holen. Es ist das beste für uns alle, glaube es mir, Mabel.«

«Ich lasse dich nicht allein. «Mabel Paerson erhob sich und suchte in dem Verbandkasten nach einem Stärkungsmittel für Ralf.»Wenn du in der Nacht Fieber bekommst, wenn du dich herumwälzt, ist keiner da, der dich wieder zudeckt. Nein, ich gehe nicht!«

«Aber du kannst doch auch nicht mehr. Mabel — ich sehe es dir doch an… du bist am Ende wie ich! Du kannst mich doch nicht auf deinen schmalen Schultern durch die Rocky Mountains schleppen.«

«Ich muß es können… und ich werde es.«

«Wir werden nie die Straße erreichen und beide irgendwo vor Erschöpfung liegenbleiben. «Dr. Bouth ergriff Mabels Hände. Sein Blick war flehend, wie sie ihn noch nie an ihm gesehen hatte. Dieser Blick zerbrach ihren inneren Widerstand, er zeigte ihr, wie ernst es um sie stand und wie deutlich Ralf sein Schicksal kannte.»Geh, Mabel!«sagte er.»Schlage dich allein durch. Ich halte es hier aus, bis du mich holen kommst.«

Sie schluckte.»Und wenn… wenn… wenn du…«Sie wagte nicht, die Worte weiter auszusprechen. Sie wandte sich ab und begann, haltlos zu weinen.

Dr. Bouth legte den Arm um sie.»Ich habe alles hier, Mabel. Ein Bach, an dem ich trinken und mich waschen kann, eine windgeschützte Felsennische für die Nacht… es sind doch nur wenige Stunden, die wir getrennt werden und in denen du mir die Rettung bringst.«

Sie nickte schwach. Es muß sein, dachte sie. Er hat ja recht, ich habe immer an diese Möglichkeit gedacht, und es schien mir Feigheit und gemein, ihn allein zu lassen. Ich werde rennen, so schnell ich kann, ich werde den ersten Menschen, den ich treffe, zu ihm hetzen, ich werde den ganzen Ort Evanston zusammenschreien und ihn mit Fackeln suchen.

Mit Fackeln. Sie sprang plötzlich auf und rannte in den nahen Wald. Dr. Bouth blickte ihr erstaunt nach. Dann kam sie wieder zurück… Reisig im Arm, Holzstücke, Wurzeln und trockene Rinden. Sie schichtete neben Dr. Bouth einen großen Haufen auf… immer wieder rannte sie in den Wald und brachte neue Arme voll Holz.

«Du mußt es anzünden«, sagte sie mit fliegendem Atem, während sie die Zweige aufschüttete.»Du mußt eine hohe Flamme machen. Wir können sie dann von weitem sehen und suchen im Dunkeln nicht vergeblich nach dir.«

«Du willst allein gehen, Mabel?«rief er froh.

«Ja, Ralf. «Sie legte ihm die Decken zurecht, die Zündhölzer, die sie wegen der Feuchtigkeit, die der Abend vielleicht mit sich brachte, in ein Stück Nylon packte, sie holte aus dem nahen Bach den Deckeltopf voll Wasser und stellte ihn neben Ralf, sie bettete seinen Kopf auf den Rucksack und legte die beiden geladenen Revolver griffbereit an seine Seite.

Plötzlich fiel sie auf die Knie und küßte ihn. Über ihr Gesicht rannen die Tränen. Wild umklammerte sie ihn, als wolle ein Unsichtbarer ihn ihr entreißen.

«Ralf…«, schluchzte sie.»Ralf… ich will dich wiedersehen!«

«Ich werde warten, Mabel. «Er strich über die zuckenden Schultern und das schmutzige, verfilzte blonde Haar.

«Du wirst nicht versuchen, allein zu gehen!«

«Nein, Mabel.«

«Versprich es mir.«

«Ich verspreche es. Ich bleibe hier, bis du mich holen kommst.«

«Und wenn mir etwas geschieht und du wartest und wartest…«Entsetzliche Angst schwang in ihrer Stimme. Dr. Bouth sah ihr in die Augen.

«Ich werde bis zum Abend des nächsten Tages warten«, sagte er fest.»Bist du nicht gekommen und ich kann aus eigener Kraft nicht weiter… dann…«Er blickte zur Seite. Dort lagen die Revolver. Lehmverschmiert, unansehnlich, aber scharf geladen. Mabel verstand seinen Blick und sank an seine Brust.

Stumm vergingen die Minuten. Ich höre wieder sein Herz, durchrann es sie. Es schlägt so laut, und es wird nicht mehr schlagen, wenn ich versage… wenn er hier bleibt ohne Rettung und Hoffnung.

Mit einem Ruck riß sie sich los und rannte in den Wald hinein. Nicht umdrehen, schrie es in ihr. Blick nicht zurück, wie er dir nachschaut… nein, dreh dich nicht um… du kannst dann nicht weiter… du versagst dann… laufe… laufe… denke an nichts, als an das Laufen… Deine Füße werden ihn retten, dein Herz, deine Kraft. Jetzt mußt du durchhalten… es geht um ein Leben…

Wie lange sie, ohne anzuhalten, lief, wußte sie nachher nicht mehr zu sagen. Sie fühlte grauenhafte Stiche in der Brust und preßte beide Hände an das Herz, als könne sie es festhalten, wenn es versagte, als müsse sie es schützen und bitten, nicht auszusetzen. Sie stolperte über Wurzeln und Steine, glitt einen Abhang hinunter und fiel in eine schmale Grube, die Fallensteller für das Wild quer durch einen Hohlweg gezogen hatten.

Aber die Beine rannten, trugen den schwachen, ausgezehrten Körper weiter, getrieben von der Angst und der Verantwortung, die in ihrer Ausdauer lagen.

Gegen Mittag — die Sonne stand fast senkrecht über den Bergen — warf sie sich an einem Bach ins Gras und schloß die Augen. Sie trank in gierigen Zügen das eiskalte, an den Steinen und im Bergkies gereinigte Wasser und kühlte die wundgelaufenen Fußsohlen in den schwachen Wellen. Sie dämmerte in einen kurzen Erschöpfungsschlaf hinüber, aus dem sie emporschreckte, als ein fernes Brummen an ihr Ohr drang.

Kühe, dachte sie. Ein Schreck aus Freude und Erlösung riß sie von der Wiese empor. Kühe… wo Rinderherden sind, sind auch Menschen. Menschen, die helfen… Menschen, die Ralf retten…

Sie watete durch den Bach mit hochgehobenem Rock und rannte dann durch einen lichten Tannenwald dem Klang der Rinderherde entgegen.

Sie lief durch den Wald und kam auf eine weite Wiese, die allmählich, mit kleinen Buckeln, zu einem breiteren Feldweg abfiel. Es war ein friedliches Tal, an dem auf der gegenüberliegenden Seite der Wald wieder bergan stieg. Ein Fluß durchzog die grüne Senke wie ein blinkendes Meßband.

Unten, am Ufer des Flusses, weidete eine Rinderherde. Auf dem Zaun des großen Korrals, in den die Herde bei Anbruch der Dunkelheit getrieben wurde, saßen vier Cowboys, hatten die breiten Filzhüte in den Nacken geschoben und rauchten. Ihre Pferde standen neben ihnen, gesattelt und bereit, bei irgendeiner Gefahr die Herde zusammenzutreiben.

Mabel verharrte einen Augenblick. Der Übergang von der einsamen Wildnis in den Anblick friedlicher Menschen war zu groß. Sie sah vom Waldrand einen

Augenblick starr hinab auf die Rinder und die rauchenden Männer, dann erfaßte sie ein wilder Schwindel, der Wald und die Wiese wurden ein Kreis, der sich schnell und immer schneller vor ihren Augen zu drehen begann, sie fühlte, wie sie zu Boden glitt… nein, schrie sie sich an. Du darfst jetzt nicht zusammenbrechen. Jetzt bist du doch am Ziel, jetzt ist Ralf gerettet!

Da schrie sie auf, grell, laut — es hallte über die Wiese und riß die Männer von ihrem Zaun empor. Sie sah noch in dem Wirbel aus Grün und Blau, wie sie die Wiese hinauf rannten, wie sie auf sie zeigten, dann fiel sie in das trockene Laub und verlor die Besinnung.

Etwas Nasses und Kaltes lief ihr über das Gesicht, in den Hals, über die Brust. Entfernte Stimmen sprachen undeutlich.

Mabel Paerson erwachte. Sie richtete sich auf und sah, daß man sie verbunden hatte, daß ein nasses Tuch über ihrer Stirn gelegen hatte und daß sie jetzt auf einigen dicken Decken ruhte, umringt von vier erstaunten und unrasierten Männern.

Sie wollte etwas sagen, aber der eine der Weidereiter schob ihr einen Becher an die Lippen. Sie schnupperte. Es war ein scharfer Schnaps, den sie in kurzen, aber hastigen Zügen trank. Er durchrann sie wie Feuer und ließ das Herz schneller schlagen.

«Das nenne ich eine Überraschung«, sagte der eine der Männer.»Fällt da ein Mädchen vom Himmel. «Er lachte.»Bist nur ein wenig zu hart gefallen, Kind. Haben allerhand an dir verpflastern müssen. Wo kommst du denn her?«Er zwinkerte ihr zu.»Wohl aus 'nem netten, kleinen Gefängnis ausgebrochen, was? Urlaub auf eigene Faust, was? Brauchst keine Angst zu haben — bei uns biste sicher, und dicht halten wir auch.«

«Die ist richtig«, sagte der zweite, der ihr den Becher wegnahm.»Halb leer! Warst wohl mal an der Bar, Mädchen?«

Mabel Paerson fuhr empor. Sie hatte fast nichts, was die Männer mit breitem Grinsen sagten, verstanden. Die Worte gingen an ihrem Verständnis vorbei, es war ein Rauschen, das sie vollends in die Wirklichkeit zurückriß.

«Rettet ihn«, stammelte sie.»Sofort reiten… Er wartet… dort in den Bergen… Schwerverletzt…«Sie schluckte und atmete tief die durch den Abend angekühlte Luft ein. Das machte sie stärker und klar genug, um den sie betroffen ansehenden Männern alles deutlicher zu erklären.

«Wo kommen Sie her?«fragte einer der Männer verblüfft.»Vom Emmons Peak? Quer durch die Uinta Mountains? Mein Gott, das ist ein Weg, den ich selbst meiner Schwiegermutter nicht gönne.«

«Reden Sie nicht so viel«, bettelte Mabel.»Reiten Sie. Den Weg immer geradeaus, und dann…«Sie stockte, denn sie wußte nicht mehr all die Schluchten und Hänge zu bezeichnen, die sie in den vergangenen Stunden hinter sich gelassen hatte. Sie wußte nicht einmal, in welcher Richtung Ralf jetzt lag… ob sie in den Bergen abgekommen war und einen Bogen geschlagen hatte, ob sie seitlich von ihm war oder ob er vielleicht sogar auf der anderen Seite lag, weil sie in einem großen, ungeschlossenen Kreis gelaufen war. Sie hatte die Richtung völlig verloren und sah die Männer hilflos an.»Ich weiß nicht mehr, wo die Stelle ist«, stammelte sie.»Er will, wenn es dunkel wird, ein großes Feuer anzünden, dessen Schein wir nicht verfehlen können.«

Sie trank aus dem Becher wieder den scharfen Schnaps. Er durchrann sie wie ein neues Leben. Stockend erzählte sie ihre Erlebnisse, die Entführung, die Flucht, die

Wanderung durch das Gebirge. Stumm hörten die Männer zu. Eine leise Ahnung von den Kräften, die Not im Menschen erzeugt, von der Liebe, die in einer Frau verborgen sein kann, machte sie wortlos. Als Mabel Paersons Erzählung beendet war und sie schwach auf die Decken zurücksank, sahen sie sich groß an.

Einer wandte sich an die anderen.»Jungs, wenn es dunkler wird, reiten wir los.«

«Ich reite mit«, sagte Mabel und richtete sich auf.

Die Männer blickten sie zweifelnd an.»Sie können wirklich reiten?«

«Ich habe es auf der Universität gelernt.«

«Aber das Mädel ist doch viel zu schwach!«protestierte ein anderer, älterer Mann mit einem Schnurrbart.

«Nein! Nein!«Mabel sprang auf. Sie taumelte ein wenig, aber krampfhaft hielt sie sich am Zaun fest und lächelte mit verzerrten Lippen.»Ich fühle mich ganz wohl. Die Ruhe hat mir gut getan. «Sie ging zu einem der Pferde und klopfte ihm den Hals, strich ihm über die Nüstern und die breite, gescheckte Brust. Das Pferd beschnupperte sie, sah sie einen Augenblick verwundert an und rieb dann den Kopf an ihrer Schulter. Vertrauen lag in dieser Bewegung, Liebkosung und Treue.

Als es dunkel wurde, saßen sie in den Sätteln und ritten langsam ins Gebirge. Zuerst den Weg, den Mabel gekommen war — es war ein Pfad, der durch einen Tannenwald führte, um in einer Felsschlucht abrupt zu enden. Hier hielten sie an und blickten sich um.

«Woher sind Sie gekommen, Miß Paerson?«fragte der Mann mit dem Schnurrbart.»Durch die Schlucht oder links am Waldrand entlang um den Felsen herum?«

Mabel sah sich um. Alles kam ihr unbekannt vor, völlig fremd, als sei sie nie in dieser Gegend gewesen. Bin ich durch eine Schlucht gegangen? Oder am Wald entlang? War es überhaupt dieser Wald? Irgendwo bin ich doch einen Abhang herabgefallen und dann in eine Fallgrube.

«Ich weiß es nicht«, sagte sie weinerlich.»Ich bin gelaufen… immer nur gelaufen… ich habe gar nicht hingesehen, ob es Wege oder Schluchten oder Waldränder waren… immer geradeaus laufen, habe ich gedacht… einmal triffst du auf einen Menschen.«

«Hm. Und Sie haben sich nichts Besonderes gemerkt?«

«Doch. Ein kleiner Hohlweg, der quer mit einer Fallgrube durchzogen war.«

Der Viehhüter richtete sich im Sattel auf.

«Das könnte das Jagdrevier von Corner-Jack sein. So viel ich weiß, müssen wir dann durch diese Schlucht und einen kleinen, gewundenen Pfad über ein Plateau. Los denn… «

Sie ritten in die Schlucht hinein. Der erste Reiter leuchtete mit einer starken Stablampe den Weg ab, ihm folgten der Ältere und Mabel. Die beiden anderen bildeten den Schluß.

Sie ritten eine halbe Stunde. Plötzlich hielt Mabel ihr Pferd an.

«Hier war es!«sagte sie laut vor Freude.»Hier bin ich den Hang herabgefallen. «Sie zeigte auf einen mäßig steilen, glatten Felshang, der links neben ihnen aufstieg.»Wir müssen oben auf den Pfad.«

Sie ritten ein Stück zurück und kletterten mit den Pferden über Geröll und dicke Steine, bis sie den Pfad erreichten, der anscheinend auf halber Höhe rund um den Berg lief.»Ein alter Indianerweg«, nickte der alte Viehhüter.»Diese Pfade führen in die einsamsten

Gegenden.«

Es dauerte eine Stunde, bis sie den Hohlweg erreichten. Die Fallgrube war noch offen, so, wie sie Mabel verlassen hatte.

«Wir sind auf dem richtigen Weg… wir werden Ralf finden!«jubelte sie und trieb ihr Pferd an. Man kam jetzt schneller vorwärts, weil sich der Hohlweg verbreiterte und auf ein Hochplateau zuführte.

Plötzlich, am Ausgang des Weges, hielt der erste Reiter an und löschte seine Stablampe. Einen Augenblick war tiefste Finsternis um sie.

«Da!«sagte der Viehhüter.»Da… am Himmel…«Er zeigte mit ausgestrecktem Arm geradeaus.

In das Schwarz der Nacht mischte sich fern ein fahler, rötlicher Schimmer. Ein kleiner Fleck nur, aber er fiel auf in der mondlosen Nacht.

«Das ist Feuer«, sagte der Alte leise.

«Ralf!«Mabel klammerte sich am Sattelknopf fest. Sie fühlte, wie die Kräfte sie wieder verließen, wie sie jeden Augenblick zu Boden gleiten würde.»Er lebt!«

«Voran!«Die Reiter spornten die Pferde an und jagten über das glatte Hochplateau. Der Strahl der Stablampe zitterte ihnen wieder voraus.

Es war ein beschwerliches Reiten durch den Wald, den kein Weg durchzog. Man ritt durch Lücken und kletterte über vermorschte, umgestürzte Stämme. Plötzlich standen sie vor einer Wiese, die zu einer Felsenkanzel allmählich emporstieg. Oben, auf der Kanzel, loderte ein riesiger Reisig- und Holzhaufen und erhellte die Umgebung mit seinem rötlichen, zuckenden Licht.

«Ralf!«schrie Mabel. Die Freude, das Glück, ihn gerettet zu sehen, alle Liebe ihres Lebens lagen in diesem

Aufschrei. Sie wußte nicht, wie sie die Wiese emporgeritten war — sie glitt aus dem Sattel und warf sich über das Bündel, das in Decken gehüllt unweit des Hitze ausstrahlenden Holzstoßes lag.

Dr. Bouth war besinnungslos. Er lag ruhig, als schlafe er, in seine Decken gewickelt. Nur die Augen, die halb geöffnet und leblos waren, zeigten, daß er seit dem Anstecken des Feuers, bei dem er sich aufgerichtet haben mußte, ohne Besinnung war. Vielleicht war er sogar herumgelaufen, hatte versucht, zu gehen. Der Blechdeckel mit Wasser neben ihm war leer.

«Ralf«, sagte Mabel und küßte die aufgesprungenen Lippen.»Ralf, nun ist alles gut. Jetzt trennt uns keiner mehr. Jetzt haben wir unser Leben zum zweitenmal gewonnen… Ralf… o Ralf…«

Die Viehhüter standen um sie herum und hatten die Hüte abgenommen. Sie sahen den blassen Mann, über dessen verzerrtes Gesicht der Schein des Feuers zuckte, und sie blickten sich an, stumm und verschlossen. Zu spät, dachten sie. Er ist nicht mehr zu retten.

Der Alte beugte sich zu Mabel nieder und berührte ihre Schulter.

«Miß Paerson«, sagte er leise.»Kommen Sie. Wir werden ihn auf ein Pferd binden. Jack wird ihn halten. «Er schluckte und strich sich über seinen Schnurrbart.»Ich glaube, wir haben keine Minute zu verlieren… wenn… wenn… «

Er wandte sich ab und winkte den anderen.

Dr. Bouth wurde in seinen Decken auf ein Pferd gehoben.

Knisternd brannte das Feuer — die Feuerlohe rauschte gegen den schwarzen Himmel.

Der Wein funkelte in den Gläsern.

Prof. Dr. Shuster saß in einem der Sessel von Paersons Salon und sah den Rauchkringeln nach, die er kunstvoll aus seiner Zigarre blies. Prof. Paerson stand mit dem Rücken an das Radio gelehnt und hatte beide Hände in die Taschen seines Sommerjacketts gesteckt. Er rauchte nicht.

Hinter ihm, über dem Kamin, hing eine Wandtafel mit der schematisch bunten Darstellung der Elemente und, auf Leinen aufgezogen, eine Zeichnung der ersten Atombombe der Welt, die an einem Stahlmast in der Wüste von New Mexico 1945 explodierte.

Prof. Dr. Paerson sah seinen Freund an. Ihr Gespräch war in den Problemen ihres Lebens festgelaufen… es gab anscheinend keine Lösung aus dem Labyrinth der Thesen und Gegenthesen, aus jenem Irrgarten der Gedanken, den Nietzsche einmal das Paradies des Wahnsinns nannte. Man hatte sich festgebissen an idealen Phrasen und nüchternen, eisklaren Beweisen, an religiösen Dogmen und freidenkerischer Kosmopolitik. Und doch ging es in allen Gedanken nur um eins, um jenes Etwas, das im Mittelpunkt unserer Erde steht und das Jahrtausende seine Unzulänglichkeit bewiesen hatte.

Der Mensch.

Prof. Dr. Shuster legte seine Zigarre in einen marmornen schwarzen Aschenbecher, dessen weiße Adern schon ein wenig gelb geworden waren. Er war ein Veteran, dieser Aschenbecher… er war eines der ersten privaten Stücke, die nach Los Alamos kamen, als man diese Stadt aus der Erde der Canons stampfte.

«Du kannst dich drehen«, sagte Prof. Shuster langsam und sah Paerson in die bebrillten Augen.»Wo du

hinsiehst, erblickst du die Welt.«

«Und sie ist in Gefahr, Henry.«

«Durch dich, willst du sagen.«

«Ja. Ich hätte der Menschheit nicht zeigen sollen, was sie vermag. Ich habe gesündigt in dem Augenblick, indem ich zeigte, daß der menschliche Geist größer ist als die Kraft der Natur. Eine Wahrheit, die alle Philosophie von Jahrtausenden ins Gesicht schlägt, die Kant, Schopenhauer, Descartes, Nietzsche, Leibnitz, Huxley der Lüge bezichtigt. >Die Grenze des Menschenc, so sagte einmal Rousseau, >ist der Himmel.< Habe ich aus ihm nicht einen lächerlichen Gaukler gemacht? Was ist denn der Himmel? Ich kann ihn mit einer Kettenreaktion von Wasserstoffatom-Spaltungen in eine einzige Flamme verwandeln! Der Mensch hat die Natur, die Kräfte des Universums, für sich gewonnen! Nur in einem Punkte werden alle Philosophen recht behalten: Wir werden zugrunde gehen an unserer eigenen Größe. Das Gesetz der Evolution zeichnet sich grauenhaft wahr ab… der Mensch steht an der Grenze seiner Möglichkeit, seinen eigenen Geist noch zu halten. «Paerson trat einen Schritt vor in den Raum. »Ich stehe an dieser Grenze, Henry.«

Prof. Dr. Shuster zog erregt an seiner Zigarre. Er war unfähig, darauf zu antworten. Er hat recht, dachte er bloß. Er allein kann ja überblicken, was seine Entdeckung bedeutet. Er allein sieht ja die Auswirkungen und kennt die Gefahren. Aber warum hat er es entdeckt. Warum hat er Tag um Tag und oft auch Nacht um Nacht in den Labors und vor den Cyclotronen gehockt… Dreizehn Jahre lang… um dieses Wunder des Alls den Menschen in die Hand zu geben? Er wußte doch, daß es der Untergang ist… oder ahnte er selbst nicht, was er erschaffen würde?

«Du hast dich überschätzt«, sagte er leise.»Auch du bist nur ein schwacher Mensch, William.«

«Ja, das bin ich. Aber man verlangt von mir, daß ich ein Übermensch sein soll! Ein Nietzschescher Zarathustra!«

«Wer verlangt das, William?«

«General McKinney. Die Regierung! Der Präsident! Man will aus meinen dienstbar gemachten kosmischen Kräften eine Hyperbombe machen.«

«Das wäre der Untergang!«Shuster sprang auf.»Das läßt du nicht zu, William! Das wäre Mord!«

Prof. Paerson lächelte schwach.»Deine Erregung in Ehren, Henry. Aber wie würdest du handeln?«

«Ich würde McKinney, wenn er mit einem solchen Anerbieten zu mir kommt, einfach hinauswerfen!«schrie er.

«Das habe ich getan! Aber er droht mir. Man wird mich zwingen wollen, die Pläne zu realisieren.«

«Niemand kann gezwungen werden, gegen sein Gewissen zu handeln.«

«So steht es so nett in den Präambeln der Staatsverfassungen. Aber einen Paragraph weiter heißt es: Er kann doch gezwungen werden, wenn es das Staatsinteresse fordert! Alles auf der Welt, Henry, was man uns verspricht, was man uns zugesteht, ist aus Gummi und dehnbar nach zwei Seiten. Das Gesetz ist eine Dirne, die sich in jedes Bett legt, wenn es ihr sauber genug erscheint. «Paerson ging zu einem Schrank in der Ecke und holte aus der Tiefe einen Kasten hervor. Er mußte schwer sein, denn Paerson keuchte, als er ihn heranbrachte und auf den Tisch stellte.

Es war ein kleiner, kaum zwanzig Zentimeter an jeder Seite messender Würfel. Grau, unansehnlich, mit einem dicken Deckel.

Prof. Shuster sah kritisch auf den schweren Kasten.

«Ein Bleiwürfel?«stellte er erstaunt fest.

«Ja. Ein Kasten aus fast massivem Blei. In der Mitte des Kastens befinden sich 6 Gramm reines Plutonium. Aber noch etwas anderes ist darin, etwas, was keiner weiß außer mir und jetzt dir, Henry. Diese 6 Gramm reines Plutonium habe ich veredelt. Ich habe es gekoppelt mit einem Element, das ich dir nicht nennen will. Diese 6 Gramm kann ich durch eine Doppel spaltung mit 32 1/2 Prozent und 5/1000 seiner Materie in Energie umwandeln. Das ist eine Spaltung, wie sie Einstein nicht träumen würde. «Paerson stützte sich auf den Bleiklotz und sah Prof. Shuster groß an.»Diese 6 Gramm genügen, unsere Erde in einen feuerflüssigen Zustand zurückzuversetzen.«

«William!«Shuster fuhr aus seinem Sessel empor und wich vor dem Bleikasten entsetzt zurück.»Und das bewahrst du in deinem Bücherschrank auf?«

«Sollte ich es im Labor tun, wo ein dummer Griff genügt, uns wegzufegen? Bei mir ist es sicher… sicher für alle Teile, Henry.«

«Du willst diese Entdeckung nicht bekanntgeben?«

«Nein.«

«William…«Prof. Shuster atmete auf. In seiner Stimme lag ungewohnte Wärme und eine tiefe Erschütterung.»Ich danke dir.«

«Weil ich mich selbst verrate?«

«Weil du dich selbst rettest, William!«

Als Prof. Dr. Shuster das Haus verließ, brachte ihn Paerson bis an die äußere Tür. Er drückte ihm fest die Hand, als müsse es ein langer Abschied sein. Dr. Shuster ahnte das Furchtbare, doch er schwieg. Er war unfähig einzugreifen. Er umarmte Paerson nur und drückte ihn an sich.

«William«, sagte er stockend.»Du warst mir der beste und einzige Freund.«

Paerson nickte. Er stand auf der Treppe, als sich Shuster von ihm losgerissen hatte und mit schnellen Schritten, fast rennend, über das Hochplateau seinem Haus zueilte. Er sah ihm nach, bis er aus dem Lichtkreis der Treppenlampe trat und in der Nacht unterging.

Ruhig wandte er sich dann ab und ging zurück ins Haus. Er schloß die Türen ab und setzte sich in seinem Arbeitszimmer an den Tisch, vor den kleinen, grauen Block aus Blei.

So saß er über eine Stunde. Allein, stumm, vor sich hinbrütend. Ab und zu ergriff er das Weinglas und trank einen kleinen, schnellen Schluck, als brenne ihm die Kehle.

Als das Telefon schellte, nahm er ohne Hast den Hörer ab und lauschte. Ein Ferngespräch aus Evanstone. Man hatte Mabel und Dr. Bouth gefunden. Auf einer Farm am Bear River lägen sie jetzt — zwei Ärzte seien unterwegs. Dr. Bouth sei schwer verwundet, aber nicht hoffnungslos. Miß Paerson sei bis auf die große Erschöpfung gesund.

Prof. Dr. Paerson hörte es an, ohne daß sein Gesicht von heller Freude erleuchtet wurde. Nur ein Glücksstrom durchflutete ihn.

«Danke«, sagte er bloß und hängte ein.

Mabel war frei. Dr. Bouth gerettet. Das Leben kann weitergehen — nur das Werk des Hasses ist geschaffen und verlangt sein Recht.

Das Recht der Zerstörung.

Mabel lebt. Und sie soll weiterleben. Ruhig, ohne Angst. Alle Menschen sollen weiterleben, die Kinder sollen weiterspielen, die Mütter weiter ihre Kinder säugen, die Väter weiter für das Leben sorgen… alles soll so sein wie immer, wie in Tausenden von Jahren… der große Rhythmus des Lebens, der ewige Gesang der Natur… die Sonne soll sein und der Mond und der Nachthimmel voller Sterne… Die Sterne sollen weiterleuchten, bis Gott und nicht der Mensch sie auslöscht.

Prof. Paerson erhob sich und holte Papier. Mit seinen steilen Schriftzügen schrieb er einen Brief, und während des Schreibens versank er ganz in sich und fühlte die große Kraft, die zum letztenmal seinen Körper durchrann.

Dann war der Brief vollendet, ein kurzer Brief, viel zu kurz für das, was er aufzugeben gewillt war. Er trank seinen Wein und überlas dabei seine Zeilen. Ruhig ging der Blick über seine Schrift:

«Meine Lieben!

Ihr kehrt ins Leben zurück, zwei junge Menschen, die noch eine Welt zu erobern haben. Ich kehre auch zurück, aber meine Rückkehr ist ein Weg zu dem, aus dem wir wurden: aus Staub.

Es bleibt mir kein anderer Weg. Wohin ich blicke, ist der Weg von Flammen eingeschlossen, die ich selbst auf meine Straße streute. Nur dieser eine Pfad, der ins Dunkle führt, ist frei, und ich bin froh, daß Gott mir diese Gnade gibt, mich selbst voll zu erkennen, mir, dem Menschen, der ihn versuchte und mit dem Geist, den er ihm schenkte, ihn entthronen wollte.

Mabel, Du wirst mich verstehen, denn ich erinnere mich an Deine Worte bei Deiner Ankunft in Los Alamos. >War die Welt nicht schön genug, bevor ihr zu forschen anfingt?< sagtest Du. Wie gut ich sie behalten habe, Deine

Worte. >Damals war die Sonne noch eine Sonne!< Das hast Du schön gesagt, Mabel. Lerne diese Sonne lieben, werde glücklich mit Ralf — nicht wahr, mein Junge, Du willst sie glücklich machen? — Lehr Deinen Kindern, das Leben, die Menschen und die Natur Gottes zu lieben und freue Dich, ohne an mich zu denken.

Ich habe Euch nur dies zu sagen: Seid glücklich, glücklich, glücklich. Ich schwöre Euch vor unserem Gott: Die Sonne und die Sterne sollen weiterleuchten. Ich küsse Euch — und weint nicht, sondern lebt.

Euer Vater.«

Er legte das Blatt hin und trank ruhig seinen Wein aus. Dann verschloß er den Brief in ein großes Kuvert und schrieb darauf: Mabel und Dr. Bouth. Dieses Kuvert legte er auf den Tisch.

Er zog seinen Mantel an, nahm den kleinen Bleiblock und verließ langsam das Haus. Er drehte das Treppenlicht aus, verschloß die Tür von außen sorgsam und stieg in seinen Wagen.

Mit abgeblendeten Lichtern fuhr er in den Canon, über die einzige Straße, die Los Alamos mit der Außenwelt verband, und wandte sich einem anderen Tal zu, das nördlich der großen Atomwerke quer in die Felsen geschnitten war und noch in der Einsamkeit und Unberührtheit träumte wie die Canons weit im Umkreis des Colorado.

Hier, abseits gelegen der Cyclotrone und Hanford-Brenner, der großen Labors und Industriewerke, stand ein kleines Versuchslabor, das sich Prof. Dr. Paerson vor einigen Jahren errichten ließ, um in aller Ruhe und unbeobachtet seinen Forschungen nachgehen zu können. Ein kleiner Cyclotron stand in dem Labor, ein

Miniaturbrenner und Spalter, ein kleines Elektronenmikroskop und überhaupt in winzigen Ausmaßen alles, was draußen in den Los Alamos-Bergen ins Riesenhafte übersteigert war.

Mit ruhiger Hand schloß Prof. Dr. Paerson. die rostig in den Angeln knarrende Tür auf und hängte seinen Hut an die verstaubte Garderobe. Dann betrat er den Raum und sah sich um.

Alles lag noch so, wie er es vor Jahren verlassen hatte. Sogar die Uranblendenprobe lag noch unter Glas, das erste Uran, das er 1939 behandelt hatte.

1939. Wie lange ist das her? Dreizehn Jahre… und in diesen dreizehn Jahren war er der einsamste unter allen Menschen geworden, weil er die Grenze des Menschlichen hinter sich ließ.

Er ging die Tische entlang und zog mit dem Zeigefinger spielerisch tiefe Rillen in den Staub. An der elektrischen Kontrolluhr drückte er einen Relaishebel herunter und sah, daß der Strom noch nicht unterbrochen war und die Leitung arbeitete. An der Schalttafel des kleinen Cyclotrons hingen dichte Spinnweben… er ließ sie hängen und sah durch ein dickes Quarzauge in das Innere des Brenners. Die Graphitblöcke lagen noch darin, die ersten Versuchsblöcke von Los Alamos.

Etwas wie eine tiefe Wehmut ergriff ihn. Er setzte sich auf den staubigen Stuhl und sah sich in Gedanken dreizehn Jahre zurückversetzt. Dr. Fermi, Dr. Wheeler und Prof. Oppenheimer standen damals hinter ihm und beobachteten die ersten kleinen ElektronenvoltSpannungen, die im Oszilloskop emporschnellten. Damals war man glücklich, fiel sich um den Hals… und heute?

Er ging an die Seite, wo man zwischen die Magneten des Cyclotrons die Vakuumröhre einschieben konnte. Er zog sie heraus und untersuchte sie. Das Metall war noch gut, es konnte halten.

Langsam ging er durch den Raum zurück zu seinem Wagen und schleppte den kleinen Bleiklotz herein. Er stellte ihn auf den Tisch und lief zurück. Mit einem Stapel Akten voll Aufzeichnungen, Berechnungen und Konstruktionszeichnungen im Arm kehrte er zurück und legte sie neben den Cyclotron auf eine Bank. Dann trug er den Bleikasten hinter ein dickes Bleischild, streifte sich dicke Gummihandschuhe über die Hände und öffnete mit einem Metallgreifer den Deckel. Aus der Mitte nahm er eine winzige Masse Metall, steckte sie in eine Bleikapsel und trug diese zu der Vakuumröhre des Cyclotrons.

Es waren Handgriffe, die er in den Jahren schon mechanisch ausführte, die zu seinem Lebensrhythmus gehörten wie Essen und Schlafen. Es war eine Arbeit, die er mit geschlossenen Augen verrichten konnte… das Füllen eines Cyclotrons.

Dann saß er vor dem Oszilloskop und wartete. Er schaltete den Strom ein, die Hochspannungsquelle begann zu surren, die Uhren zu beiden Seiten der Maschine begannen mit den Zeigern zu pendeln.

Zwischen den Magneten rasten die Atomkerne durch das elektrische Feld. Das Atomthermometer kletterte langsam hoch. 500.000… 1.000.000… 7.000.000 Volt! Prof. Dr. Paerson sah auf seine Armbanduhr. Sie zeigte 23.32 Uhr nachts.

Er drosselte den Strom etwas und packte die Akten, die neben ihm lagen, vor sich an den Fuß des Cyclotrons. Seine ganze Lebensarbeit lag vor ihm… die einzigen schriftlichen Aufzeichnungen über seine neue Spaltung, die es gab, waren nicht höher als zehn Zentimeter.

Zehn Zentimeter Papier… In ihnen ruhten dreizehn Jahre

Forscherarbeit. Nur zehn Zentimeter… nicht höher war der Untergang der Welt, wenn man ihn berechnen wollte.

Die Hochspannungsquelle summte. Das Oszilloskop zitterte bei 10.000.000 Volt. Mit unvorstellbarer Geschwindigkeit, mit einem rasenden Lauf von 10 Milliarden Umdrehungen in der Sekunde, jagten die Atome zwischen den beiden Magneten herum.

Mit ruhigem Gesicht saß Prof. Dr. Paerson auf seinem Stuhl. Er hatte die Hände gefaltet und betete. Still, mit stummen Lippen. Seine Augen waren geschlossen… wie ein großer Friede durchzog es seine blassen, eingefallenen Züge.

Sein Gebet dauerte nicht lange. Er hatte wenig zu sagen in diesen Minuten, da er endgültig die Grenze überschritt. Er war mit sich und seinen Kindern klargeworden… er war auch klar mit seinem Gott, den er herausgefordert hatte und der stärker war als er.

Er beugte sich vor. Seine Hand ergriff einen Hebel, der den vollsten Strom durch das Kraftfeld jagte und der die rasenden Atome, die Energie der Masse, freigab.

Die Finger krampften sich um den kleinen Metallstab. Dann senkte sich der Arm.

In Los Alamos, in allen Canons, selbst in Santa Fe fuhr man aus den Betten, rannte man aus den Werken auf die Straße, quollen die Arbeiter und Techniker aus den unterirdischen Anlagen, als eine riesenhafte Explosion die Luft erschütterte und die Erde wie ein Schiff auf hoher See erbeben ließ. Eine ungeheure Feuersäule schoß zwischen den Felsen hervor in den Nachthimmel, ein langer Strahl weißen Qualms stieß in das Dunkel und verbreiterte sich oben zu einem weiten Pilz.

Dr. Fermi, der vor seinem Haus stand, schrie auf.

«Eine Atomexplosion!«brüllte er.»Alarm! Alarm!«

Die Sirenen heulten auf. Das Militär jagte durch die Canons, die Straße wurde gesperrt… der Sonderbefehl vier wurde ausgegeben — Los Alamos in Gefahr!

Zehntausend Menschen rannten durch die Felsen und suchten Schutz: in den vorbereiteten Betonkammern unter der Erde. Prof. Dr. Oppenheimer lief mit wehendem weißen Haar durch die Werke und suchte Professor Dr. Paerson. Dr. Fermi und Dr. Bolz leiteten die Fluchtmaßnahmen.

Sabotage… geisterte es durch die Atomstadt. Spione! Die Russen! Sie haben mit Atombomben zu sprengen versucht!

Von Santa Fe kamen die Spezialtrupps. In Washington riß der Fernsprecher die Regierung aus den Betten. McKinney stand mit wirren Haaren und leichenblaß in seinem Haus am Apparat und berichtete von der Explosion. Militär und Polizei riegelten das gesamte Gebiet ab. Mit Geigerzählern tasteten sie die Räume nach radioaktiven Strahlen ab, Männer in Schutzanzügen streiften durch die Schluchten.

Die Geigerzähler schwiegen.

«Das Versuchslabor war es!«rief Dr. Fermi, der durch die Felsen irrte.»Ich habe Paerson vorhin dorthin fahren sehen! Mein Gott, wenn Paerson…«

Und dann stand man still. Die Felsen waren zerstört, wo das Labor gestanden hatte, war ein riesiger Trichter… sonst nichts. Kein Auto mehr, kein Haus, nicht das geringste Zeichen, daß hier ein Mensch gestanden hatte.

Die Natur war in den Urzustand zurückversetzt.

Dr. Fermi sah McKinney, Prof. Oppenheimer und Prof. Shuster an, die neben ihm an der Stelle des Unglücks standen.

«Paerson«, sagte Shuster leise.»Wer hätte das gedacht? Ich habe ihn vor einer Stunde noch gesprochen.«

McKinney sah in die Luft, wo der Wind die Rauch- und Staubwolke forttrieb.

«Und seine Pläne hatte er bei sich. Alle Pläne…«

Dr. Fermi schwankte.»Das ist unmöglich… «stammelte er.»Das wäre schrecklich… Dann stehen wir wieder am Anfang.«

McKinney wandte sich ab.»Er wollte etwas Neues erproben, das wird es sein. Er hatte Pech, meine Herren, Forscherpech.«

Prof. Oppenheimer sah den General groß an. Er ahnte, was McKinney wußte.

«Und was… was werden Sie nach Washington berichten?«

McKinney zuckte mit den Schultern.»Es war ein glatter Unglücksfall«, sagte er langsam.»Unser Land erwartet, meine Herren, daß Ihre Forschungen ungestört weitergehen.«

Wenn man nach Los Alamos kommt, sieht man in einem Seitental eine mannshohe Platte aus Stahl in die Felsen eingelassen. Mit grauen Stahlbuchstaben sagt sie nüchtern, daß hier, an dieser Stelle, der größte Atomforscher Amerikas in Ausübung seines Dienstes zum Fortschritt der Menschheit den Tod fand.

Unter diesen Sätzen aber steht ein Spruch, der eine Mahnung ist an alle, die es je vergessen sollten.

«… denn die Elemente hassen das Gebild von Menschenhand!«

Am 23. August 1952. In Los Alamos. Das amerikanische Volk.

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