18 Uhr 30 bis 20 Uhr 30

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Es war halb sieben, an einem Freitagabend im Januar. Lincoln International Airport, Illinois, war offen, wenn auch unter Schwierigkeiten.

Der Flughafen ächzte — wie der gesamte mittlere Westen der Vereinigten Staaten — unter dem schlimmsten, heftigsten Schneesturm seit einem halben Dutzend Jahren. Der Sturm hatte drei Tage gedauert. Jetzt brachen ständig, wie Schwären an einem mitgenommenen, geschwächten Körper, Gefahrenpunkte auf.

Ein Verpflegungswagen der United Air Lines mit zweihundert Abendessen war verlorengegangen und stak vermutlich irgendwo im Außenbezirk des Flughafens im Schnee. Die Suche nach dem Lastwagen — in Schneetreiben und Dunkelheit — war bisher ergebnislos geblieben. Weder das vermißte Fahrzeug noch sein Fahrer waren aufzufinden.

Flug 111 der United — eine DC-8 nach Los Angeles, ohne Zwischenlandung, den der Verpflegungswagen versorgen sollte — hatte bereits mehrere Stunden Verspätung. Die Panne mit dem Cateringwagen würde sie noch vergrößern. Ähnliche Verzögerungen betrafen aus den verschiedensten Gründen mindestens hundert Flüge der zwanzig anderen Fluggesellschaften, die Lincoln International anflogen.

Draußen auf dem Flugfeld war die Startbahn Drei-Null außer Betrieb, sie wurde von einer Düsenmaschine der Aereo Mexican — einer Boeing 707 — blockiert, deren Räder tief in den wasserdurch-tränkten Boden unter dem Schnee neben der Rollbahn eingesunken waren. Nachdem Aereo Mexican die eigenen Hilfsmittel erschöpft hatte, wandte sie sich jetzt an TWA um Hilfe.

Durch den Ausfall der Startbahn Drei-Null behindert, hatte die Flugsicherung Maßnahmen ergriffen, um die Zahl der Anflüge aus den benachbarten Luftfahrtzentren Minneapolis, Cleveland, Kansas City, Indianapolis und Denver einzuschränken. Trotzdem zogen zwanzig Maschinen Warteschleifen in der Luft, und einige näherten sich bereits dem Mindesttreibstoffbestand. Auf dem Boden machte sich die doppelte Anzahl startbereit Doch bis die Zahl der in der Luft wartenden Maschinen verringert werden konnte, hatte die Flugsicherung weitere Verzögerungen für den abgehenden Verkehr angeordnet. Inzwischen füllten sich die Rampe, die Taxiwege und die Wartepositionen immer mehr mit Maschinen, viele mit laufen- den Motoren.

Die Luftfrachtlagerhallen aller Fluglinien waren bis an die Grenze ihrer Verladepaletten mit Waren vollgestopft. Ihre übliche große Umschlaggeschwindigkeit wurde durch das Unwetter beeinträchtigt. Frachtinspektoren kontrollierten nervös leichtverderbliche Güter — Treibhausblumen aus Wyoming für Neu-England, eine Tonne Käse aus Pennsylvania für Anchorage in Alaska, gefrorene Erbsen für Island, lebende Hummern aus dem Osten für einen Flug über die Polarroute mit Bestimmungsziel Europa. Die Hummern waren für die Speisekarten in Edinburgh und Paris bestimmt, wo man sie als »frische einheimische Meeresfrüchte« anbieten und wo nichtsahnende amerikanische Touristen sie bestellen würden. Sturm oder nicht, Verträge schrieben vor, daß leichtverderbliche Luftfracht frisch und schnell am Bestimmungsort einzutreffen hatte.

Besondere Sorge verursachte bei American Airlines eine Lieferung von mehreren tausend Truthahnküken, die erst vor Stunden in Brutofen ausgeschlüpft waren. Der genaue Fahrplan für Schlüpfen und Versand war — wie ein komplexer Schlachtplan — vor, Wochen ausgearbeitet worden, noch ehe die Truthahneier gelegt waren. Er sah die Anlieferung der lebenden Vögel an der Westküste innerhalb von achtundvierzig Stunden nach dem Ausschlüpfen vor, die Existenzgrenze für die winzigen Geschöpfe, ehe sie das erste Wasser oder Nahrung erhielten. Normalerweise boten die Vorkehrungen eine Überlebenschance der Tiere von hundert Prozent. Beachten mußte man auch, daß die Vögel zu stinken anfingen, wenn man sie unterwegs fütterte und ebenso, noch Tage danach, das Flugzeug, das sie transportierte. Der Flugplan für das Geflügel war schon um Stunden aus den Fugen geraten, aber eine Maschine war bereits vom Personenverkehr auf den Frachttransport umgebucht worden, und heute abend würden die frischgebrüteten Truthühner Priorität vor allen anderen Personen, einschließlich menschlicher VIPs haben.

In der Haupthalle für Passagiere herrschte Chaos. Die Warteräume waren von Tausenden von Passagieren verspäteter oder gestrichener Flüge überfüllt. Überall lag Gepäck in Stapeln. Der breite Hauptzugang bot den Anblick einer Fußballschlacht oder des Weihnachtsverkaufs in einem Warenhaus. Der unbescheidene Werbespruch Lincoln InternationalLuftkreuz der Welt hoch oben auf dem Dach des Flughafengebäudes war im Schneetreiben völlig untergegangen.

Das Wunder war, überlegte Mel Bakersfeld, daß überhaupt noch etwas weiterfunktionierte.

Mel, der Generaldirektor des Flughafens — hager, gelenkig und eine Kraftstation beherrschter Energie —, stand neben dem Schnee-kontrollstand hoch oben im Kontrollturm. Er spähte in die Dunkelheit hinaus. Normalerweise war von diesem verglasten Raum aus der gesamte Komplex des Flughafens sichtbar — Rollbahnen, Taxistreifen, Endpositionen, der Verkehr auf dem Boden und in der Luft, wie ordentlich aufgestellte Häuserblöcke und Modelle. Selbst nachts wurden seine Formen und Bewegungen durch Lichter klar bestimmt. Nur noch eine höhere Aussicht existierte — die von der Flugsicherung, die das Stockwerk darüber einnahm. Doch heute nacht durchdrang nur der schwache Schimmer weniger naher Lichter den fast undurchsichtigen Vorhang des vom Wind getriebenen Schnees. Mel vermutete, daß dieser Winter noch für Jahre ein Diskussionsthema auf Meteorologentagungen sein würde.

Der gegenwärtige Schneesturm war vor fünf Tagen an der Leeseite der Colorado Mountains geboren worden. Bei seiner Geburt war es ein winziges Tiefdruckgebiet, nicht größer als eine Ansiedlung am Fuß der Berge, und die meisten Wettervoraussagen auf den Wetterkarten der Flugstrecken hatten es entweder nicht bemerkt oder ignoriert. Fast wie aus Rache hatte sich das Tiefdruckgebiet daraufhin ausgedehnt wie ein riesiger Krankheitsherd und war immer noch wachsend erst nach Südosten und dann nach Norden gewandert.

Es überquerte Kansas und Oklahoma, verharrte dann in Arkansas und sammelte dort ein Sortiment von Bosheiten. Am nächsten Tag polterte es fett und ungeheuerlich das Mississippi-Tal hinauf.

Über Illinois entlud sich der Sturm dann und lahmte den Staat fast mit Schneestürmen, Temperaturen unter dem Gefrierpunkt und fünfundzwanzig Zentimeter Neuschnee innerhalb von vierundzwanzig Stunden.

Auf dem Flughafen war diesen fünfundzwanzig Zentimetern Schnee ein ständiger, wenn auch leichter Niederschlag vorausgegangen. Jetzt folgte ihm mehr Schnee, von bösartigen Winden gepeitscht, die neue Verwehungen anhäuften — noch während die Schneepflüge die alten forträumten. Die Gruppen der Schneeräumer näherten sich der Grenze der Erschöpfung. Innerhalb der letzten paar Stunden waren verschiedene Leute nach Hause geschickt worden, übermüdet trotz der Pausen in den Schlafquartieren, die der Flughafen gerade für Notfälle dieser Art bereithielt.

Am Schneekontrollpult neben Mel sprach jetzt Danny Farrow — sonst ein Stellvertreter des Flughafendirektors, jetzt Schichtinspektor der Schneeräumung — über Sprechfunk mit der Schneeräum-zentrale.

»Die Parkplätze gehen uns verloren. Ich brauche sechs weitere Lastwagen und eine Banjomannschaft bei Y-74.«

Danny saß an dem Schneepult, das eigentlich kein Pult, sondern eine breite dreiteilige Konsole war. Vor Danny und seinen beiden Assistenten, einer auf jeder Seite, stand eine Batterie von Telefonen, Fernschreibern und Funkgeräten. Sie waren von Karten, grafischen Darstellungen und Tabellen umgeben, die den Zustand und den Standort jedes einzelnen Fahrzeugs des motorisierten Schneeräumungskommandos verzeichneten, wie auch der Männer und des Überwachungspersonals. Für die Banjogruppe, mit Schneeschaufeln ausgerüstete Einsatztrupps, war eine besondere Tafel vorhanden. Das Schneekontrollpult wurde nur für seine einmalige, jahreszeitlich bedingte Aufgabe besetzt. Während der anderen Jahreszeiten blieb der Raum leer und stumm.

Dannys kahler Schädel zeigte Schweißtröpfchen, während er auf eine Karte des Flughafens in großem Maßstab Notizen kritzelte. Er wiederholte seine Nachricht an die Zentrale und ließ sie wie eine verzweifelte persönliche Bitte klingen, was sie vielleicht auch war. Hier oben war die Befehlsstelle der Schneeräumung. Wer sie leitete, hatte den Flughafen als Ganzes zu sehen, Anforderungen abzuwägen und Gerät dort einzusetzen, wo die Not am größten schien. Das Problem jedoch — und zweifellos eine Ursache für Dannys Schweißausbruch — bestand darin, daß die unten, die darum kämpften, ihren eigenen Betrieb aufrechtzuerhalten, in der Frage der Vordringlichkeit selten gleicher Meinung waren.

»Gewiß, gewiß, sechs weitere Lastwagen.« Eine grantige Stimme von der Zentrale, die auf der gegenüberliegenden Seite des Flugfeldes lag, knarrte in der Hörmuschel. »Wir holen sie uns vom Weihnachtsmann. Er müßte hier irgendwo in der Nähe sein.« Eine Pause, danach aggressiver: »Sonst noch ein paar idiotische Wünsche?«

Mit einem Blick auf Danny schüttelte Mel den Kopf. Er erkannte die Stimme in der Hörmuschel als die eines dienstälteren Vorarbeiters, der wahrscheinlich ununterbrochen gearbeitet hatte, seit der Schneefall begann. Aus gutem Grund waren die Temperamente in solchen Zeiten leicht reizbar. Im allgemeinen veranstalteten die Flughafenwartung und die Leitung nach einem anstrengenden Winter der Schneebekämpfung gemeinsam ein Abendessen, das sie »Liebes- und Versöhnungsfest« nannten. In diesem Jahr würden sie es bestimmt brauchen.

Danny sagte besänftigend: »Wir haben vier Lastwagen hinter dem Verpflegungswagen der United hergeschickt. Sie müßten zurück sein, oder bald kommen.«

»Möglicherweise — wenn wir den verdammten Karren finden könnten.«

»Ihr habt ihn noch nicht gefunden? Was macht ihr Kerle eigentlich? Habt ihr Damenbesuch zum Abendessen?« Danny drehte die Lautstärke für den Empfang zurück, als die Antwort erdröhnte.

»Jetzt hört ihr Vögel in eurem komischen Taubenschlag mal zu! Habt ihr eine Ahnung, wie es draußen auf dem Flugfeld aussieht? Vielleicht seht ihr gelegentlich mal zum Fenster raus. In dieser Nacht könnte einer irgendwo am verdammten Nordpol sein und keinerlei Unterschied bemerken.«

»Blas dir mal in die Hände, Ernie«, antwortete Danny. »Vielleicht bleiben sie davon warm und du redest dann nicht so laut.«

In Gedanken schob Mel Bakersfeld den größten Teil des Wortwechsels von sich, obwohl ihm klar war, daß alles zutraf, was über die Verhältnisse außerhalb des Flughafengebäudes gesagt wurde. Vor einer Stunde war Mel selbst über das Flugfeld gefahren. Er hatte die vorgesehenen Fahrwege benutzt, doch obwohl er die Anlage des Flughafens genau kannte, hatte er heute abend Schwierigkeiten gehabt, sich zurechtzufinden und war mehrmals nahe daran gewesen, die Orientierung zu verlieren.

Mel war zu einer Inspektion in die Schneeräumungszentrale gefahren, und dort, wie jetzt hier, hatte emsige Aktivität geherrscht. Wenn das Schneekontrollpult die Befehlsstelle war, so war die Schneeräumungszentrale der Frontgefechtsstand. Hier kamen und gingen Räumtrupps und Vormänner, entweder schwitzend oder frierend. Die Reihen der regulären Arbeitskräfte waren durch Hilfstrupps verstärkt worden — Schreiner, Elektriker, Klempner, Schreiber, Polizisten. Die Hilfskräfte wurden von ihren regulären Arbeiten auf dem Flughafen abkommandiert und erhielten fünfzig Prozent Zuschlag zu ihren Bezügen, bis der Schneenotstand vorüber war. Aber sie wußten, was von ihnen erwartet wurde, da sie wie Reservisten den ganzen Sommer und den Herbst über auf Rollbahnen und Taxistreifen Schneeräumen geübt hatten. Manchmal amüsierten sich Außenstehende darüber, wenn sie an einem warmen Tag Schneeräumtrupps mit einsatzbereiten Schneepflügen und dröhnenden Exhaustoren auf dem Flugfeld sahen. Doch wenn jemand sein Erstaunen über das Ausmaß der Vorbereitungen ausdrückte, wurde er von Mel Bakersfeld darauf hingewiesen, daß die Entfernung des Schnees vom Betriebsbereich des Flughafens der Räumung von siebenhundert Meilen Autostraße gleichkam.

Wie das Schneekontrollpult im Kontrollturm wurde die Schneeräumungszentrale nur im Winter in Betrieb genommen. Sie lag in einem großen höhlenartigen Raum über einer Lastwagengarage des Flughafens und unterstand im Betrieb einem Einsatzleiter. Nach der Stimme im Sprechfunkgerät zu schließen, nahm Mel an, daß der reguläre Einsatzleiter zur Zeit abgelöst worden war, vielleicht um im »Blue Room«, in der Blauen Kammer, wie die Dienstvorschrift des Flughafens mit einem Anflug von Humor die Ruhebaracke der Schneeräumer bezeichnete, etwas Schlaf zu finden.

Die Stimme des Einsatzleiters meldete sich wieder am Telefon. »Wir machen uns Sorgen um diesen Lastwagen, Danny. Der Fahrer, der arme Kerl, kann da draußen erfrieren. Wenn er allerdings einen Funken Grütze hat, wird er nicht gerade verhungern.«

Der Verpflegungswagen der United Air Lines hatte vor annähernd zwei Stunden die Versorgungsküche der Fluggesellschaft verlassen, um zum Flughafen zu fahren. Seine Route führte über die Zufahrtsstraße, eine Fahrt, die im allgemeinen fünfzehn Minuten dauerte. Der Wagen war aber nicht angekommen, und offensichtlich hatte der Fahrer die Orientierung verloren und war irgendwo in den Außenbereichen des Geländes im Schnee steckengeblieben. Die Fluggesellschaft hatte zunächst ihren eigenen Suchtrupp ausgeschickt, jedoch ohne Erfolg. Jetzt hatte sich die Flughafenleitung eingeschaltet.

»Die Maschine der United ist schließlich aber doch gestartet?« fragte Mel. »Wohl ohne Verpflegung.«

Danny Farrow antwortete, ohne aufzusehen. »Ich habe gehört, der Kapitän hätte die Entscheidung den Passagieren überlassen. Er hat ihnen gesagt, es würde über eine Stunde dauern, um andere Verpflegung zu bekommen, es wären aber ein Film und Getränke an Bord, und in Kalifornien scheine die Sonne. Jeder stimmte dafür, so schnell wie möglich aus der Hölle rauszukommen. Hätte ich auch getan.«

Mel nickte. Er widerstand der Versuchung, die Leitung der Suche nach dem vermißten Fahrer und seinem Wagen selbst in die Hand zu nehmen. Tätigkeit wäre zwar eine Medizin, denn die tagelange Kälte und die sie begleitende Feuchtigkeit hatten die Schmerzen an Mels alter Kriegsverletzung wieder auftreten lassen — eine Erinnerung an Korea, die er nie loswerden würde —, und jetzt machte sie sich wieder bemerkbar. Er wechselte seine Stellung, beugte sich vor und verlagerte sein Gewicht auf sein unversehrtes Bein. Die Erleichterung war nur vorübergehend. Fast sofort meldeten sich die Schmerzen in der neuen Stellung wieder.

Einen Augenblick später war er froh, daß er sich nicht eingemischt hatte. Danny tat bereits das Richtige — verstärkte die Suche nach dem Lieferwagen, zog Schneepflüge und Leute vom Flugplatzgelände ab und schickte sie zur Zufahrtsstraße. Für den Augenblick mußten die Parkplätze zurückstehen. Später würde es deshalb genügend Beschwerden geben. Zunächst aber mußte der vermißte Fahrer gerettet werden.

Zwischen Telefongesprächen warnte Danny Mel: »Machen Sie sich auf weitere Beschwerden gefaßt. Durch diese Suche wird die Zufahrtsstraße blockiert. Wir müssen alle anderen Verpflegungswagen anhalten, bis wir diesen Burschen gefunden haben.«

Mel nickte. Beschwerden gehörten zum täglichen Brot eines Flughafendirektors. In diesem Fall war, wie Danny voraussagte, mit einer Flut von Protesten zu rechnen, wenn die anderen Fluggesellschaften bemerkten, daß ihre Verpflegungsfahrzeuge, aus welchem Grund auch immer, nicht durchkamen.

Es würde Leute geben, die es für unglaubwürdig hielten, daß ein Mensch an einem Mittelpunkt der Zivilisation, wie einem Flughafen, der Gefahr des Erfrierens ausgesetzt sein konnte, was trotzdem möglich war. Die abgelegeneren Bereiche eines Flughafens waren kein Ort, an dem man sich in einer solchen Nacht ohne Not aufhalten sollte. Und wenn der Fahrer auf den Gedanken kam, in seiner Kabine sitzen zu bleiben und den Motor laufen zu lassen, um sich warm zu halten, konnte es passieren, daß er bald im Schnee verweht wurde, unter dem sich dann tödliches Kohlendioxid ansammelte. Mit einer Hand hielt Danny jetzt ein rotes Telefon, während er mit der anderen in den Alarmvorschriften blätterte, Vorschrifen, die von Mel stammten und für Fälle wie den vorliegenden sorgfältig ausgearbeitet worden waren.

Das rote Telefon war eine direkte Verbindung mit dem Leiter der Feuerwehr des Flughafens. Danny faßte die vorliegende Situation zusammen.

»Und wenn wir den Wagen gefunden haben, müssen wir einen Krankenwagen hinausschicken, und Sie werden vielleicht ein Sauerstoffgerät oder Wärme brauchen, möglicherweise beides. Aber warten Sie lieber mit dem Einsatz, bis wir genau wissen, wohin es geht. Wir wollen euch Kerle nicht auch noch ausgraben müssen.«

Der Schweiß glänzte in zunehmendem Maß auf Dannys kahlwerdendem Schädel. Mel wußte genau, daß Danny nur ungern die Leitung der Schneekontrollstelle übernahm und lieber in seiner Abteilung für die Planung des Flughafens saß, um sich mit Logistik und Hypothesen über die Zukunft der Luftfahrt zu befassen. Dinge dieser Art wurden in aller Ruhe weit voraus geplant, während man Zeit zum Überlegen hatte und nicht zusammenhanglos improvisieren mußte, wie bei den Problemen dieser Nacht. Genau wie es Menschen gab, die in der Vergangenheit lebten, überlegte Mel, so war für die Danny Farrows dieser Welt die Zukunft eine Zuflucht Aber ob gern oder ungern und ungeachtet des Schweißes nahm Danny die gestellte Aufgabe ernst.

Mel beugte sich über Dannys Schulter und griff nach einem Telefon, das unmittelbar mit der Flugsicherung verbunden war. Der Leiter der Wache auf dem Kontrollturm meldete sich.

»Wie steht es mit der 707 der Aereo Mexican?«

»Sitzt noch an der gleichen Stelle, Mr. Bakersfeld. Sie arbeiten seit ein paar Stunden daran, sie fortzuschaffen, aber bisher ohne Erfolg.«

Diese besondere Schwierigkeit war kurz nach Einbruch der Dunkelheit eingetreten, als ein Kapitän der Aereo-Mexican, der zum Startplatz rollte, bei einem blauen Taxilicht irrtümlich nach rechts statt nach links abbog. Unglücklicherweise bestanden bei dem Boden rechts, der normalerweise mit Gras bewachsen war, Entwässerungsschwierigkeiten, die nach dem Winter in Angriff genommen werden sollten. Inzwischen war dort, trotz der dicken Schneedecke, dicht unter der Oberfläche ein schlammiger Morast. Wenige Sekunden nach dem falschen Abbiegen war das hundertzwanzig Tonnen schwere Flugzeug tief im Schlamm eingesunken.

Als man merkte, daß das Flugzeug beladen aus eigner Kraft nicht freikommen konnte, wurden die ungehaltenen Passagiere ausgeladen und durch den Morast zu schnell gemieteten Bussen gebracht Jetzt waren über zwei Stunden vergangen, und die große Düsenmaschine saß noch fest und blockierte mit ihrem Rumpf und mit ihrem Leitwerk die Startbahn Drei-Null. »Startbahn Und Taxistreifen sind noch nicht wieder betriebsfähig?«

»Ganz richtig«, bestätigte der Leiter der Wache im Kontrollturm. »Wir halten den gesamten abfliegenden Verkehr an den Toren auf und schicken ihn dann über die längere Route zu den anderen Startbahnen.«

»Das geht wohl recht langsam, was?«

»Es verringert die Abfertigung um fünfzig Prozent. Im Augenblick halten wir die Erlaubnis, zum Start zu rollen, für zehn Maschinen zurück, und zwölf weitere warten auf Erlaubnis, die Motoren anzulassen.«

Das demonstrierte, wie dringend der Flughafen zusätzliche Start-und Taxibahnen brauchte. Seit drei Jahren drängte er auf den Bau einer neuen Startbahn parallel zur Drei-Null sowie anderer Verbesserungen der Betriebsanlagen. Aber der Verwaltungsrat des Flughafens verweigerte unter dem politischen Druck der Stadtverwaltung seine Zustimmung. Der Druck erfolgte, weil die Stadträte, aus nur ihnen bekannten Gründen, eine neue Anleihe vermeiden wollten, die für die Finanzierung erforderlich gewesen wäre.

»Dazu kommt«, fuhr der Leiter der Kontrollturmwache fort, »daß wir die startenden Maschinen über Meadowood leiten müssen, da Startbahn Drei-Null außer Betrieb ist. Die Beschwerden haben schon angefangen.«

Mel stöhnte. Die Gemeinde Meadowood, die im Südwesten an den Flughafen grenzte, war ihm ein ständiger Dorn im Auge und eine Behinderung des Flugbetriebs. Zwar war der Flughafen lange vor der Gemeinde entstanden, trotzdem beklagten sich die Bewohner von Meadowood über den Lärm der Flugzeuge über ihnen. Von der Presse wurden diese Klagen aufgegriffen, was noch mehr Beschwerden, mit immer erbitterteren Anschuldigungen gegen den Flughafen und seine Leitung nach sich zog. Schließlich hatten der Flughafen und die Luftfahrtbehörde des Bundes nach langwierigen Verhandlungen, bei denen auch politische Einflüsse, noch mehr Publizität in der Presse und — nach Mel Bakersfelds Ansicht — grobe Verzerrungen mitgewirkt hatten, zugestanden, daß Starts und Landungen von Düsenmaschinen nur dann unmittelbar über Meadowood erfolgen sollten, wenn besondere Umstände das erforderlich machten. Da dem Flughafen Start- und Landebahnen ohnehin nur in begrenztem Umfang zur Verfügung standen, war die Einbuße an Leistungsfähigkeit beträchtlich.

Darüber hinaus wurde auch vereinbart, daß Maschinen, die über Meadowood starteten, sofort nach dem Abheben Vorkehrungen zur Drosselung des Lärms ergreifen sollten. Das löste seinerseits wieder Proteste der Piloten aus, die diese Maßnahmen für gefährlich hielten. Die Fluggesellschaften dagegen — die an den öffentlichen Zorn und den Ruf ihrer Firmen dachten — ordneten an, daß die Piloten sich diesen Vorschriften fügen sollten. Doch selbst damit gaben sich die Einwohner von Meadowood noch nicht zufrieden. Ihre kampffreudigen Führer protestierten weiterhin, organisierten und planten, jüngsten Gerüchten zufolge, juristische Schritte gegen den Flughafen.

»Wie viele Anrufe sind gekommen?« fragte Mel den Leiter der Wache. Schon vor der Frage kam er zu der düsteren Überzeugung, daß noch mehr Stunden seines Arbeitstages durch Delegationen, Auseinandersetzungen und die gleichen ergebnislosen Diskussionen wie früher in Anspruch genommen werden würden.

»Ich würde sagen, mindestens fünfzig haben wir beantwortet. Und auf weitere Anrufe haben wir nicht mehr reagiert. Das Telefon fängt unmittelbar nach jedem Start zu klingeln an — auch auf unseren Anschlüssen, die nicht im Telefonbuch stehen. Ich würde was dafür geben, wenn ich wüßte, woher sie die Nummern haben.«

»Sicher haben Sie den Leuten, die anriefen, gesagt, daß wir in einer besonders schwierigen Lage sind — das Unwetter, die nichtbetriebsfähige Startbahn.«

»Wir haben alles erklärt, aber niemand hat sich dafür interessiert. Die Leute wollen einfach, daß die Flugzeuge nicht mehr über sie hinwegfliegen. Manche sagen, ob Schwierigkeiten bestünden oder nicht, die Piloten seien gehalten, die Vorschriften zur Minderung des Lärms zu befolgen, täten es aber nicht.«

»Mein Gott! Wenn ich Pilot wäre, täte ich's auch nicht«, sagte Mel. Wie konnte ein intelligenter Mensch bei dem heutigen Unwetter von einem Piloten erwarten, unmittelbar nach dem Start die Motoren zu drosseln und dann im Instrumentenflug in eine scharfgezogene Kurve zu gehen: denn das schrieben die Vorschriften zur Minderung des Lärms vor.

»Ich auch nicht«, stimmte der Leiter auf dem Kontrollturm zu, »obwohl das wahrscheinlich eine Frage des Standpunkts ist. Wenn ich in Meadowood wohnte, wäre ich vielleicht der gleichen Ansicht wie die Leute dort.«

»Sie wären nicht nach Meadowood gezogen, sie hätten auf die Warnungen gehört, die wir den Leuten zukommen ließen, schon vor Jahren, sie sollten dort keine Häuser bauen.«

»Wahrscheinlich. Übrigens sagte mir einer meiner Leute, sie würden heute abend dort wieder eine Gemeindeversammlung veranstalten.«

»Bei diesem Wetter?«

»Anscheinend wollen sie bei ihrer Absicht bleiben, und nach dem was wir gehört haben, hecken sie etwas Neues aus.«

»Was es auch sei«, prophezeite Mel, »ich werde es bald erfahren.«

Trotzdem, überlegte er, wenn in Meadowood tatsächlich eine öffentliche Versammlung stattfand, war es ärgerlich, den Leuten noch Wasser auf die Mühle zu gießen. Es war so gut wie sicher, daß Presse und Lokalpolitiker anwesend waren, und die vielen Flüge unmittelbar über ihre Köpfe hinweg, so notwendig sie auch sein mochten, würden ihnen reichlich Stoff zum Schreiben und Reden geben. Deshalb, je eher die blockierte Startbahn — Drei-Null — wieder betriebsfähig war, um so besser war es für alle Betroffenen.

»Ich werde selbst auf das Flugfeld hinausgehen«, sagte Mel, »und nachsehen, was vorgeht. Ich gebe Ihnen Nachricht, wie es da draußen steht.«

»Danke.«

Mel wechselte das Thema und fragte: »Hat mein Bruder heute abend Dienst?«

»Ja. Keith hat Radarwache — Anflüge von Westen.«

Anflüge von Westen, das war eine der schwierigen, anspruchsvollen Aufgaben im Kontrollturm, zu der die Überwachung aller eintreffenden Maschinen im westlichen Quadranten gehörte. Mel zögerte erst, aber er kannte den Dienstleiter im Kontrollturm schon lange, darum fragte er: »Ist mit Keith alles in Ordnung? Zeigt er keine Erschöpfung?«

Erst nach einer kurzen Pause kam die Antwort. »Doch, das tut er, mehr als üblich.«

Beiden Männern war Mels jüngerer Bruder in letzter Zeit eine Quelle der Sorge gewesen.

»Offen gesagt«, fuhr der Dienstleiter im Kontrollturm fort, »ich wünschte, ich könnte ihm einen leichteren Dienst geben, aber es geht nicht. Wir sind unterbesetzt, und jeder ist hart eingespannt. Das gilt auch für mich«, fügte er noch hinzu.

»Das weiß ich, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie sich so um Keith kümmern.«

»Na ja, in unserem Beruf haben die meisten hin und wieder mal eine Periode der Erschöpfung.« Mel spürte, daß der Dienstleiter seine Worte sorgfältig wählte. »Manchmal zeigt es sich in der geistigen Verfassung, manchmal in der nervlichen. Aber was es auch ist, wir versuchen uns gegenseitig zu helfen, wenn es dazu kommt.«

»Danke.« Das Gespräch hatte Mels Sorge nicht gemildert. »Vielleicht schaue ich Später mal herein.«

»Jederzeit, Sir.« Der Dienstleiter auf dem Kontrollturm hängte ein.

Das »Sir« war reine Höflichkeit. Mel hatte keine Autorität über die Flugsicherung, die ausschließlich der Bundesbehörde für Luftfahrt in Washington unterstand. Aber die Beziehungen zwischen den Dienstleitern der Flugsicherung und der Flughafendirektion waren gut, und Mel ließ es sich angelegen sein, daß sie es blieben.

Ein Flughafen, jeder Flughafen weist eine schwer durchschaubare Komplexität sich überschneidender Autoritäten auf. Keine Einzelperson hat höchste Anweisungsbefugnis, dennoch ist kein einziger Abschnitt völlig unabhängig. Als Generaldirektor des Flughafens kam Mel einer alles umfassenden Leitung am nächsten, aber es gab Bereiche, von denen er wußte, daß es klüger war, sich nicht einzumischen. Einer davon war die Flugsicherung, ein anderer die Leitung internationaler Fluggesellschaften. Er konnte in Angelegenheiten eingreifen, die das Wohl des Flughafens als Ganzes, oder der Menschen, die sich seiner bedienten, betrafen. Er konnte widerspruchslos einer Fluggesellschaft befehlen, ein Schild zu entfernen, das irreführend war oder den Normen des Flughafens nicht entsprach, doch was hinter ihrer Tür vorging, war innerhalb vernünftiger Grenzen ausschließlich die Angelegenheit der Beauftragten der Fluggesellschaft.

Aus diesem Grund mußte der Direktor eines Flughafens nicht nur ein Taktiker, sondern auch ein vielseitiger und gewandter Verwaltungsfachmann sein.

Mel legte den Hörer in der Schneekontrolle auf die Gabel zurück. Auf einer anderen Leitung stritt sich Danny Farrow mit dem Aufsichthabenden der Parkplätze, einem geplagten Individuum, das seit mehreren Stunden zornige Beschwerden steckengebliebener Autobesitzer weitergegeben hatte. Die Leute fragten: »Wissen die Stellen, die für die Leitung des Flughafens verantwortlich sind, denn nicht, daß es schneit? Und wenn sie es wissen, warum macht sich dann nicht jemand auf die Socken und schafft das Zeug fort, damit man mit seinem Wagen, wann und wohin man will, fahren kann, wie es das demokratische Recht jedes Menschen ist?«

»Sagen Sie, wir hätten eine Diktatur ausgerufen.« Danny bestand darauf, daß die nicht bewachten Parkplätze warten müßten, bis die vordringlichen Probleme gelöst seien. Er würde Ausrüstung und Leute schicken, sobald er könne. Er wurde durch einen Anruf des Dienstleiters im Kontrollturm unterbrochen. Eine neue Wettervoraussage kündigte in einer Stunde einen Wechsel der Windrichtung an. Das bedeutete, daß andere Startbahnen benutzt werden mußten. Ob nicht ganz schnell Startbahn Eins-Sieben links vom Schnee geräumt werden könne? Er würde sein möglichstes tun. Er würde mit dem Leiter des Schneeräumkommandos Verbindung aufnehmen und den Kontrollturm zurückrufen.

Dies war der Druck, der jetzt schon seit drei Tagen und drei Nächten ungemindert anhielt, seit der Schneefall eingesetzt hatte. Die Tatsache, daß trotz dieses Drucks bisher alles funktioniert hatte, machte eine Notiz noch aufreizender, die Mel vor fünfzehn Minuten durch einen Boten erhalten hatte. Die Notiz lautete: m—

meine müßt warnen — Schneeausschuß (auf drängen vern demerst — warum kann ihr Schwager sie nicht leiden?) reicht kritischen bericht ein weil schneeräumung roll- und taxibahnen (sagt v. d.) miserabel, unfähig---

bericht beschuldigt flughafen (also sie) hauptanteil an Verzögerung der abflüge zu haben . . . behauptet auch steckende 707 gäbe es nicht wenn taxibahnen früher und besser geräumt . . . deshalb werden jetzt alle gesellschaften bestraft, etc etc, sie verstehen schon . . . und wo stecken sie — in einer? (schneedrift meine ich) . . . steigen sie aus und holen mich bald zum kaffee ab. herzlichst t


Das »t« bedeutete Tanya — Tanya Livingston, Agentin für Passagierbetreuung der Trans America und Mels besondere Freundin. Mel las die Notiz noch einmal, wie er es mit Mitteilungen Tanyas im allgemeinen tat, die beim zweiten Lesen verständlicher wurden. Tanya, zu deren Aufgaben es gehörte, aufgebrachte Passagiere zu besänftigen und ähnliche Public-Relations-Probleme zu lösen, hatte etwas gegen große Buchstaben. (»Mel, ist es nicht wahr? Wenn wir die Großbuchstaben abschafften, gäbe es erheblich weniger Ärger. Sieh dir doch nur die Zeitungen an!«) Sie hatte sogar einen Mechaniker der Trans America gezwungen, von den Typen ihrer Schreibmaschine alle Großbuchstaben abzumeißeln. Ein Vorgesetzter hatte sich darüber aufgeregt, wie Mel erfahren hatte, und auf die strengen Richtlinien der Fluggesellschaft gegen willkürliche Beschädigung von Firmeneigentum hingewiesen, aber Tanya war damit durchgekommen. Im allgemeinen gelang ihr das.

Der Vern Demerst in ihrer Notiz war Kapitän Vernon Demerest, gleichfalls bei der Trans America. Er war nicht nur einer der dienstältesten Flugkapitäne der Gesellschaft, er war auch ein militanter Vorkämpfer der Air Lines Pilots Association, des Berufsverbands der Piloten, und in diesem Jahr Mitglied des Schneeausschusses der Fluggesellschaften auf Lincoln International Airport. Der Ausschuß inspizierte während der Schneeperioden Startbahnen und Taxibahnen und erklärte sie für betriebsbereit oder bemängelte ihren Zustand. Dem Ausschuß gehörte immer ein aktiver Flugkapitän an.

Zufällig war Vernon Demerest auch Mels Schwager und mit dessen älterer Schwester Sarah verheiratet. Die Sippe Bakersfeld hatte durch Vorfahren und Eheschließungen Wurzeln und Zweiglinien in der Luftfahrt, wie andere Familien einmal mit der Seefahrt verbunden waren. Die Beziehungen zwischen Mel und seinem Schwager waren jedoch wenig herzlich, und Mel hielt Vernon Demerest für eingebildet und anmaßend. Andere waren der gleichen Ansicht, wie er wußte. Kürzlich war es zwischen Mel und Kapitän Demerest zu einem erregten Wortwechsel auf einer Sitzung des Verwaltungsrats des Flughafens gekommen, auf der Demerest die Interessen des Pilotenverbandes vertrat. Mel vermutete, daß der kritische Bericht über die Schneelage — der anscheinend auf die Initiative seines Schwagers zurückging — die Vergeltung dafür war.

Mel machte sich wegen dieses Berichts keine großen Sorgen. Welche Mängel der Flughafen auch auf anderen Gebieten haben mochte, er wußte, daß sie mit dem Schneesturm ebenso gut fertig wurden wie andere Organisationen. Trotzdem war der Bericht ärgerlich. An alle Fluggesellschaften würden Exemplare verteilt werden, und morgen würden telefonische Rückfragen und Memoranden kommen, und es mußten Erklärungen abgegeben werden.

Mel vermutete, daß es ratsam sei, wenn er auf dem laufenden blieb, sich in Bereitschaft hielt. Er beschloß, sich zu vergewissern, wie die Dinge mit der Schneeräumung gegenwärtig standen, und gleichzeitig die blockierte Startbahn und das eingesunkene Düsenflugzeug der Aereo Mexican zu überprüfen, wenn er draußen auf dem Flugfeld war.

In der Schneekontrollstelle sprach Danny Farrow gerade wieder mit der Flughafenwartung. Als eine kurze Pause eintrat, warf Mel dazwischen: »Ich gehe jetzt ins Empfangsgebäude und fahre dann hinaus aufs Flugfeld.«

Ihm war eingefallen, was Tanya in ihrer Notiz über eine gemeinsame Tasse Kaffee geschrieben hatte. Zuerst würde er in sein Büro gehen und dann auf seinem Weg durch das Empfangsgebäude bei der Trans America hereinschauen, um sie zu sprechen. Der Gedanke belebte ihn.

2

Mel nahm den privaten Fahrstuhl, der nur mit einem besonderen Schlüssel bedient werden konnte, um in die Verwaltungsetage im Zwischenstock zu fahren. Seine Büroräume lagen zwar verlassen, die Schreibtische der Stenotypistinnen waren aufgeräumt und die Schreibmaschinen zugedeckt, aber die Lichter brannten. Er ging in sein Privatbüro. Aus einem Wandschrank neben dem breiten Mahagonischreibtisch, den er tagsüber benutzte, nahm er einen dicken Mantel und ein Paar pelzgefütterte Stiefel.

Heute abend hatte Mel keine besonderen Verpflichtungen auf dem Flughafen. So sollte es auch sein. Er war nur während des größten Teils des dreitägigen Schneesturms hiergeblieben, um im Falle eines Notstands zur Verfügung zu stehen. Sonst, dachte er, während er sich die Stiefel anzog und verschnürte, wäre er längst zu Haus bei Cindy und den Kindern.

Oder etwa nicht?

Gleichgültig, wie sehr man sich um Objektivität bemühte, ging es ihm durch den Kopf, war es doch schwierig, sich über seine eigenen Motive völlig klar zu sein. Wenn der Schneesturm nicht gewesen wäre, hätte sich wahrscheinlich ein anderer Grund angeboten, um zu rechtfertigen, daß er nicht ginge. Tatsächlich schien es in letzter Zeit so, als ob nicht nach Hause zu gehen ihm zur Gewohnheit geworden sei. Sein Beruf war selbstverständlich eine Ursache dafür. Er bot reichlich Gründe, um zusätzliche Stunden auf dem Flughafen zu bleiben, wo sich in letzter Zeit für ihn schwierige Probleme ergeben hatten, ganz abgesehen von den Schwierigkeiten des heutigen Abends. Aber — wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war — der Flughafen bot ihm auch eine Zuflucht vor den unaufhörlichen Streitereien zwischen Cindy und ihm, zu denen es neuerdings kam, sobald sie zusammen waren.

»Zum Teufel!« Mels Ausruf zerschnitt die Stille des Büros.

Er schlurfte in den pelzgefütterten Stiefeln zu seinem Schreibtisch. Ein Blick auf die getippte Notiz seiner Sekretärin bestätigte, was ihm gerade wieder eingefallen war. Heute abend fand wieder einmal eine dieser langweiligen Wohltätigkeitsveranstaltungen seiner Frau statt. Vor einer Woche hatte Mel widerwillig versprochen, daran teilzunehmen. Es war eine Cocktailparty mit anschließendem Essen in der Stadt, in der eleganten »Michigan Inn«. Um welchen wohltätigen Zweck es dabei ging, war in der Notiz nicht angegeben, und falls es je erwähnt worden war, so hatte er es vergessen. Das spielte aber auch keine Rolle. Die hohen Ziele, denen Cindy Bakersfeld sich widmete, waren bedrückend gleichartig. Die Würdigkeit wurde — wie Cindy es sah — durch das gesellschaftliche Ansehen der anderen Mitglieder des jeweiligen Wohlfahrtsausschusses bewiesen.

Glücklicherweise begann — um des Friedens mit Cindy willen — die Veranstaltung erst spät. Er hatte fast noch zwei Stunden Zeit, und in Anbetracht des herrschenden Wetters konnte es sogar noch später werden. Er würde es also noch schaffen, selbst wenn er erst das Flugfeld inspizierte. Danach konnte er in sein Büro zurückkommen, sich dort rasieren und umziehen und mit nur geringer Verspätung in der Stadt sein. Dennoch war es besser, wenn er Cindy warnte. Er griff nach dem Telefon und wählte seine Privatnummer.

Roberta, seine ältere Tochter, meldete sich.

»Hallo«, sagte Mel. »Hier ist dein alter Herr.«

Robertas Stimme klang kühl: »Ja, ich weiß.«

»Wie war's heute in der Schule?«

»Könntest du etwas genauer sein, Vater? Wir hatten verschiedene Fächer. Für welches interessierst du dich?«

Mel seufzte. Es gab Tage, an denen in seinem häuslichen Leben alles auf einmal zu zerbrechen schien. Er erkannte, daß Roberta in einer ihrer Launen war, die Cindy als rotzig bezeichnete. Verloren alle Väter, fragte er sich abrupt, die Verbindung zu ihren Töchtern, sobald die Mädchen dreizehn wurden? Vor noch nicht zwei Jahren hatte es so ausgesehen, als ob sie beide einander so nahe ständen, wie Vater und Tochter nur sein können. Mel liebte seine beiden Töchter herzlich — Roberta und ihre jüngere Schwester Libby. Gelegentlich wurde ihm bewußt, daß sie der einzige Grund waren, weshalb seine Ehe noch bestand. Was Roberta anging, so hatte er gewußt, daß sie als Teenager Interessen entwickeln würde, die er weder teilen noch völlig verstehen konnte. Er hatte sich darauf vorbereitet. Was er nicht erwartet hatte, war, daß er völlig ausgeschlossen oder mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Herablassung behandelt wurde. Aber, um objektiv zu sein, er vermutete, daß die schärfer werdende Spannung zwischen Cindy und ihm mit dazu beigetragen hatte. Kinder waren empfindsam.

»Laß nur«, antwortete Mel. »Ist deine Mutter zu Hause?«

»Sie ist fortgegangen. Sie hat gesagt, wenn du anrufst, soll ich dir sagen, du müßtest sie in der Stadt treffen und wenigstens diesmal versuchen, nicht zu spät zu kommen.« Mel unterdrückte seine Gereiztheit Roberta wiederholte zweifellos nur genau Cindys Worte. Er konnte fast hören, wie seine Frau sie ausgesprochen hatte.

»Wenn deine Mutter anruft, dann sage ihr, ich könnte mich vielleicht etwas verspäten, aber das ließe sich nicht ändern.« Darauf folgte Stille, und er fragte: »Hast du mich verstanden?« »Ja«, antwortete Roberta. »Willst du sonst noch etwas, Vater? Ich habe noch Schularbeiten zu machen.«

Er erwiderte scharf: »Ja, ich will noch etwas. Du wirst deinen Ton mir gegenüber ändern, junges Fräulein, und etwas mehr Respekt zeigen. Außerdem beende ich unser Gespräch, wenn ich soweit bin.«

»Wie du willst, Vater.«

»Und hör auf, mich Vater zu nennen!«

»Jawohl, Vater.«

Mel war versucht zu lachen, hielt es dann aber für richtiger, es zu unterdrücken. Er fragte: »Ist zu Hause alles in Ordnung?«

»Ja, aber Libby will mit dir sprechen.«

»Einen Augenblick noch. Ich wollte dir noch sagen: Wegen des Schneesturms komme ich heute vielleicht nicht nach Hause. Hier auf dem Flughafen ist eine Menge passiert. Ich fahre wahrscheinlich zurück und schlafe hier.«

Wieder folgte eine Pause, ganz als ob es Roberta erwäge, ob ihr eine freche Antwort wie »Und ist das was Neues?« durchgelassen würde oder nicht. Anscheinend verzichtete sie lieber darauf. »Willst du jetzt Libby sprechen?«

»Ja, gib sie mir. Gute Nacht, Robbie.«

»Gute Nacht«

Es folgte ein ungeduldiges Scharren, ehe der Hörer weitergegeben wurde, und dann meldete sich Libbys piepsige, atemlose Stimme: »Daddy, Daddy! Rate mal was!«

Libby war immer atemlos, als ob für eine Siebenjährige das Leben ständig vor ihr herrannte und sie Schritt halten müsse, um nicht zurückzubleiben.

»Laß mich mal überlegen«, antwortete Mel. »Ich weiß es — du hast im Schnee getobt und dich großartig amüsiert.«

»Ja, das hab ich, aber das meine ich nicht.«

»Dann kann ich es nicht erraten. Du mußt es mir schon sagen.«

»Also, in der Schule hat Miss Curzon uns die Hausaufgabe gestellt, alles aufzuschreiben, was wir im nächsten Monat an Schönem und Gutem erwarten.«

Liebevoll dachte er: Libbys Begeisterung ist verständlich. Für sie war fast alles aufregend und gut, und die wenigen Dinge, die es nicht waren, wurden beiseite gewischt und schnell vergessen. Er fragte sich, wie lange ihre glückliche Unschuld noch währen würde.

»Das ist hübsch«, sagte Mel. »Das gefällt mir.«

»Daddy, Daddy! Hilfst du mir?«

»Wenn ich kann.«

»Ich brauche eine Landkarte vom Februar.«

Mel lächelte. Libby hatte eine eigene Kurzsprache, die manchmal ausdrucksstärker schien als konventionelle Worte.

»In meinem Schreibtisch ist ein Kalender.« Mel erklärte ihr, wo sie ihn finden würde und hörte ihre kleinen Füße aus dem Zimmer laufen. Das Telefon war vergessen. Mel nahm an, daß es Roberta war, die wortlos einhängte.

Mel verließ sein Büro und trat auf die Galerie des Zwischenstocks hinaus, die das Empfangsgebäude des Flughafens der ganzen Länge nach durchlief. Den dicken Mantel trug er über dem Arm. Für einen Augenblick blieb er stehen und blickte, in die überfüllte Halle hinunter; in der letzten halben Stunde schien der Betrieb noch größer geworden zu sein. In den Wartehallen war jeder verfügbare Platz besetzt. Zeitungskioske und Informationsstände waren von Menschen umringt, unter ihnen viele in Uniform. Vor den Schaltern aller Fluggesellschaften standen Schlangen, von denen sich manche um die Ecken zogen. Das Personal hinter den Schaltern, um Kollegen früherer Schichten verstärkt, die Überstunden machten, hatte Flugpläne und Flugscheine wie Orchesterpartituren vor sich ausgebreitet.

Verzögerungen und Umleitungen, die der Schneesturm verursacht hatte, erschwerten die Abfertigung und stellten die menschliche Geduld auf harte Proben. Unmittelbar unter Mel, am Schalter der Braniff, protestierte ein jüngerer Mann mit langem blondem Haar und einem gelben Schal laut: »Sie haben die Stirn, mir zu sagen, daß ich nach Kansas City muß, um nach New Orleans zu kommen? Ihr werft hier ja die Geographie über den Haufen! Ihr seid ja besoffen von eurer Macht!«

Das Mädchen hinter dem Schalter, eine attraktive Brünette Mitte Zwanzig, strich sich mit der Hand über die Augen, ehe sie mit professioneller Geduld antwortete: »Wir können Sie für einen direkten Flug vorsehen, Sir, aber wir wissen nicht für wann. Infolge der Wetterverhältnisse ist der längere Weg schneller, und der Flugpreis bleibt der gleiche.«

Hinter dem Mann mit dem gelben Schal drängten sich andere Passagiere mit anderen Problemen.

Am Schalter der United spielte sich eine kleine Pantomime ab. Ein Passagier — ein gutgekleideter Geschäftsmann — neigte sich vor und sprach leise. Nach dem Ausdruck und dem Verhalten des Mannes konnte Mel Bakersfeld erraten, was gesagt wurde. »Ich würde größten Wert darauf legen, mit dem nächsten Flug mitzukommen.«

»Es tut mir leid, Sir. Die Maschine ist ausgebucht, und wir haben schon eine lange Warteliste . . .« Doch ehe der Angestellte der Fluggesellschaft seinen Satz beendet hatte, blickte er auf. Der Passagier hatte seine Aktentasche vor sich auf den Schalter gelegt. Ebenso unauffällig wie nachdrücklich klopfte er mit einem Kofferanhänger auf seine Aktentasche. Der Kofferanhänger war ein Abzeichen des 100 000-Meilen-Clubs, wie sie die United Airlines an ihre guten Kunden ausgab und damit, wie alle anderen Fluggesellschaften, eine Elite schuf. Die Haltung der Angestellten veränderte sich. Ihre Stimme wurde ebenso leise. »Ich glaube, wir können etwas arrangieren.« Ihr Bleistift zögerte noch einen Moment, strich dann den Namen eines anderen Passagiers, den sie für den Flug vorgesehen hatte, aus, und setzte den Namen des Neuankömmlings an dessen Stelle ein. Niemand in der Schlange hinter ihm hatte es bemerkt.

Mel wußte, daß das gleiche überall an allen Schaltern der Fluggesellschaften geschah. Nur Naive oder Nichtinformierte glaubten daran, daß Wartelisten oder Reservierungen mit unerschütterlicher Objektivität behandelt wurden.

Mel beobachtete eine Gruppe von Neuankömmlingen — vermutlich aus der Stadt —, die das Flughafengebäude betraten. Sie klopften Schnee von ihren Mänteln, während sie hereinkamen, und nach ihrer Erscheinung zu urteilen, schien sich das Wetter draußen zu verschlechtern. Die Neuankömmlinge wurden von der wartenden Menge schnell aufgesogen.

Wenige der etwa achtzigtausend Reisenden, die täglich durch das Flughafengebäude strömten, blickten je zur Etage der Verwaltung hinauf. Und noch weniger bemerkten heute abend Mel, der auf sie hinabblickte. Die meisten von ihnen stellten sich unter Flughäfen nichts anderes als Fluggesellschaften und Flugzeuge vor. Es war zweifelhaft, ob vielen von ihnen die Existenz eines Verwaltungsapparats überhaupt bewußt war — unsichtbar, aber vielschichtig, mit Hunderten von Angestellten —, der ständig arbeitete und den Flugplatz in Betrieb hielt.

Vielleicht ist das ganz gut, dachte Mel, während er mit dem Fahrstuhl weiter nach unten fuhr. Falls die Leute besser unterrichtet wären, würden sie mit der Zeit auch mehr über die Schwächen und Gefahren des Flughafens wissen und danach weniger beruhigt abfliegen und ankommen.

Durch den Hauptgang ging er auf den Flügel der Trans America zu. Dicht bei dem Anmeldeschalter hielt ein uniformierter Angestellter der Fluggesellschaft ihn an.

»Guten Abend, Mr. Bakersfeld. Suchen Sie Mrs. Livingston?«

Wie stark der Betrieb auf dem Flughafen auch war, dachte Mel, zum Klatsch blieb immer Zeit. Er fragte sich, wie weit sein Name mit dem von Tanya bereits in Verbindung gebracht wurde.

»Ja«, antwortete er, »das tue ich.«

Der Angestellte deutete mit dem Kopf auf eine Tür mit der Aufschrift: »Nur für Personal der Fluggesellschaft«.

»Sie finden sie da drin, Mr. Bakersfeld. Wir hatten hier einen kleinen Zwischenfall. Sie kümmert sich gerade darum.«

3

In dem kleinen Salon, der manchmal zum Empfang von VIPs benutzt wurde, schluchzte ein junges Mädchen in der Uniform einer Angestellten der Trans America hysterisch.

Tanya Livingston führte sie zu einem Sessel. »Fassen Sie sich erst einmal«, sagte Tanya nüchtern, »und lassen Sie sich Zeit. Danach wird Ihnen besser sein, und dann können wir miteinander reden.«

Tanya setzte sich selbst und strich ihren straffen, engen Uniformrock glatt. Sonst war niemand in dem Raum, und außer dem schwachen Summen der Klimaanlage hörte man nur das Schluchzen.

Zwischen den beiden Frauen bestand ein Altersunterschied von etwa fünfzehn Jahren. Das Mädchen war knapp über zwanzig und Tanya in der zweiten Hälfte der Dreißiger. Als Tanya sie ansah, empfand sie den Altersunterschied größer, als er war. Vermutlich kam es daher, dachte sie, daß sie verheiratet gewesen war. Wenn auch nur kurz und vor langer Zeit — wenigstens schien es ihr so.

Das ist das zweite Mal, daß mir heute mein Alter bewußt wird, dachte sie. Das erste Mal war es gewesen, als sie am Morgen ihr Haar kämmte. Sie hatte verräterische Strähnen in ihrem kurzgeschnittenen, flammend roten Haar entdeckt. Es war mehr Grau darin als vor einem Monat, und beide Male hatte es sie daran erinnert, daß die Vierzig — ein Alter, in dem eine Frau wissen sollte, was und warum sie etwas wollte — näher rückte, als ihr lieb war. Dann kam ihr ein anderer Gedanke: In fünfzehn Jähren war ihre eigene Tochter so alt wie das Mädchen, das jetzt vor ihr weinte.

Das Mädchen, es hieß Patsy Smith, wischte sich die geröteten Augen mit einem großen leinenen Taschentuch, das Tanya ihr gegeben hatte. Sie sprach mühsam, wobei sie weitere Tränen unterdrückte. »Zu Hause — so würden sie da nicht reden — so gemein und grob — mit ihren Frauen nicht . . .«

»Meinen Sie die Passagiere?«

Das Mädchen nickte.

»Manche doch«, sagte Tanya. »Wenn Sie erst verheiratet sind, Patsy, werden Sie das merken. Ich wünsche es Ihnen zwar nicht. Aber wenn Sie meinen, daß Männer sich wie unerwachsene Flegel betragen, wenn etwas mit ihren Reiseplänen schiefgeht, dann gebe ich Ihnen recht.«

»Ich gab mir die größte Mühe . . . Das taten wir alle . . . Den ganzen Tag; und gestern — und vorgestern . . . Aber wie die Leute mit einem reden . . .«

»Ja, die benehmen sich, als ob Sie selbst an dem Schneesturm schuld wären, um ihnen Ungelegenheiten zu machen.«

»Ja . . . Und dann der letzte . . . Bis dahin ging alles gut . . .«

»Was ist denn eigentlich passiert? Ich wurde erst gerufen, als alles vorbei war.«

Langsam fand das Mädchen seine Selbstbeherrschung wieder.

»Also ... Er hatte einen Flugschein für Flug 72, und der war wegen des Wetters gestrichen worden. Wir verschafften ihm einen

Platz für 114, und den hat er verpaßt. Er sagte, er sei im Speisesaal gewesen und hätte den Aufruf nicht gehört.«

»Die Aufrufe werden im Speisesaal nicht durchgegeben«, sagte Tanya. »Ein großes Schild gibt das bekannt, und es steht auf allen Speisekarten.«

»Das habe ich ihm auch erklärt, Mrs. Livingston, als er vom Ausgang zurückkam. Trotzdem war er gehässig. Er benahm sich, als ob es meine Schuld wäre, daß er seinen Flug verpaßt hatte, und nicht seine eigene. Er sagte, wir seien alle unfähig und schliefen halb.«

»Haben Sie die Aufsicht gerufen?«

»Das habe ich versucht, aber die hatte zu tun.«

»Und was haben Sie dann getan?«

»Ich sicherte dem Passagier einen Platz — auf dem Sonderflug 2122.«

»Und dann?«

»Dann wollte er wissen, welcher Film auf dem Flug gezeigt würde. Ich stellte das fest, und er sagte, den Film hätte er schon gesehen. Er wurde wieder ausfallend. Der Film, den er sehen wollte, wurde auf dem ersten Flug gezeigt, der abgesagt worden war. Er verlangte, ich Sollte ihm einen anderen Flug geben, bei dem der gleiche Film gezeigt würde wie auf dem ersten. Und die ganze Zeit über waren andere Fluggäste da, die sich an den Schalter herandrängten. Manche machten Bemerkungen darüber, wie langsam ich wäre. Also, als er das von dem Film sagte, passierte es, daß ich . . .« Das Mädchen zögerte. »Wahrscheinlich ist dann etwas bei mir geplatzt.«

»Das war, als Sie ihm den Flugplan an den Kopf warfen?« drängte Tanya.

Patsy Smith nickte verzweifelt. Es sah aus, als ob sie wieder anfangen würde zu weinen. »Ja. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, Mrs. Livingston . . . Ich warf den Plan einfach über den Schalter und sagte ihm, er solle sich seinen Flug selbst aussuchen.«

»Ich kann nur hoffen, daß Sie ihn getroffen haben«, sagte Tanya.

Das Mädchen blickte auf. Statt der Tränen zeigte sie den Ansatz eines Lächelns. »O ja, das habe ich.« Sie überlegte, lächelte dann. »Sie hätten sein Gesicht sehen sollen. Er war völlig überrascht.« Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst. »Und danach . . .«

»Was danach geschah, weiß ich. Sie hatten einen Zusammenbruch, und das war ganz natürlich. Sie wurden hier reingeschickt, um sich auszuweinen, und das haben Sie jetzt getan, und jetzt fahren Sie mit einem Taxi nach Hause.«

Das Mädchen sah sie ungläubig an. »Meinen Sie — das ist alles?«

»Selbstverständlich ist das alles. Haben Sie gedacht, wir würden Sie deswegen rauswerfen?«

»Ich — ich war mir nicht sicher.«

»Vielleicht müssen wir es«, sagte Tanya, »so ungern wir es täten, Patsy, wenn Sie das gleiche noch einmal machen. Aber das tun Sie doch nicht, oder? Bestimmt nicht.«

Das Mädchen schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, bestimmt nicht. Ich kann es nicht erklären, aber wenn man es einmal getan hat, genügt es.«

»Das wäre also erledigt. Falls Sie nicht hören wollen, was danach geschehen ist.«

»Ja, bitte.«

»Ein Herr meldete sich. Er sagte, er habe das Ganze mit angesehen und mit angehört. Er sagte auch, er habe eine Tochter im gleichen Alter wie Sie, und wenn dieser Mann mit seiner Tochter so gesprochen hätte wie mit Ihnen, hätte er ihm persönlich eine runtergehauen. Dann hinterließ der zweite Herr aus der Schlange seinen Namen und seine Adresse und sagte, falls der Mann, den Sie bedient haben, sich beschwere, solle man ihm Bescheid geben, und dann würde er berichten, was wirklich vorgefallen sei.« Tanya lächelte. »Sie sehen also — es gibt auch nette Menschen.«

»Ich weiß«, sagte das Mädchen. »Es gibt nicht viele, aber wenn man einen trifft, der nett und freundlich zu einem ist, möchte man ihn direkt umarmen.«

»Unglücklicherweise dürfen wir das nicht tun, ebensowenig wie mit Flugplänen werfen. Unsere Aufgabe ist, jeden in gleicher Weise zu behandeln und höflich zu sein, selbst wenn die Fluggäste es nicht sind.«

»Ja, Mrs. Livingston.«

Tanya war überzeugt, daß Patsy Smith in Zukunft nicht versagen würde. Anscheinend hatte sie nicht daran gedacht zu kündigen, wie manche Mädchen, die ähnliche Erfahrungen machten. Tatsächlich hatte sie jetzt ihren Schock überwunden, und Patsy schien über die Widerstandskraft zu verfügen, die ihr künftig nützlich sein würde.

Weiß Gott, man braucht Widerstandskraft, dachte Tanya — und eine gewisse Härte, wenn man es mit Reisenden zu tun hat, in welcher Position auch immer.

Zum Beispiel die Vorbestellungen. Sie wußte, daß an den Schaltern für Vorbestellungen in der Stadt die persönliche Belastung noch stärker war als auf dem Flughafen. Seit Ausbruch des Schneesturms mußten die Angestellten an den Platzreservierungen Tausende von Telefongesprächen geführt und Passagiere über Verzögerungen und Umstellungen informiert haben. Das war eine Aufgabe, die alle Angestellten haßten, weil die Angerufenen unweigerlich verärgert waren und häufig schimpften. Verzögerungen bei Fluggesellschaften schienen bei jenen, die davon betroffen waren, eine schlafende Wildheit zu wecken. Männer wurden beleidigend zu Telefonistinnen, und selbst Leute, die sonst höflich und verständnisvoll waren, wurden unwillig und unangenehm. Am schlimmsten war es bei den Flügen nach New York. Es war bekannt, daß Angestellte, die Buchungen entgegennahmen, sich weigerten, Verzögerungen oder Streichungen von Flügen telefonisch an Passagiere für New York durchzugeben, und lieber ihre Stellung riskierten, als den Sturm der Beschimpfungen zu ertragen, der ihnen, wie sie wußten, bevorstand. Tanya hatte oft darüber nachgedacht, warum gerade New York alle Reisenden in einen wahren Taumel versetzte, dorthin zu gelangen.

Aber aus welchen Gründen auch immer, sie wußte, daß beim Personal der Fluggesellschaften Kündigungen folgen würden — bei den Buchungen und in anderen Abteilungen —, sobald der gegenwärtige Notstand vorüber war. So war es immer. Auch mit einigen Nervenzusammenbrüchen mußte man rechnen. Im allgemeinen bei den jüngeren Mädchen, die für die Grobheiten und die schlechte Laune der Fluggäste empfindlicher waren. Gleichbleibende Höflichkeit war, selbst wenn man darin geschult war, eine Belastung, die einen hohen Preis forderte.

Deshalb war sie froh, daß Patsy Smith nicht unter den Opfern war.

Es klopfte an die Tür. Sie öffnete sich, und Mel Bakersfeld sah herein. Er trug pelzgefütterte Stiefel und hatte einen dicken Mantel über dem Arm. »Ich kam gerade vorbei«, sagte er zu Tanya. »Wenn Sie wollen, komme ich später wieder.«

»Bleiben Sie bitte.« Sie lächelte ihm entgegen. »Wir sind beinahe fertig.«

Sie beobachtete ihn, während er durch den Raum zu einem Sessel ging. Er sieht erschöpft aus, dachte Tanya.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen zu, füllte ein Formular aus und gab es ihr. »Gehen Sie damit zum Einsatzleiter für die Taxis, Patsy, er läßt Sie dann nach Hause bringen. Schlafen Sie sich gründlich aus, damit Sie frisch und munter sind, wenn Sie morgen wieder herkommen.«

Als das Mädchen gegangen war, drehte sich Tanya auf ihrem Sessel um und wandte sich Mel zu. »Wie geht's?« fragte sie gutgelaunt

Er legte die Zeitung nieder, in die er hineingeblickt hatte, und lächelte sie an. »Wie geht's selbst?«

»Haben Sie meine Nachricht bekommen?«

»Ich bin gekommen, um mich dafür zu bedanken, obwohl ich wahrscheinlich auch so gekommen wäre.« Er deutete auf die Tür, durch die das Mädchen verschwunden war, und fragte: »Was hat es denn hier gegeben? Einen Nervenzusammenbruch?«

»Nicht ganz so schlimm.« Sie erzählte ihm den Vorfall.

Mel lachte. »Müde bin ich auch. Wollen Sie mich nicht auch in einem Taxi nach Hause schicken?«

Tanya sah ihn forschend an. Der Blick ihrer leuchtenden hellblauen Augen war bemerkenswert direkt Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, und die Deckenbeleuchtung ließ auf ihrem Haar rote Glanzlichter reflektieren. Eine schlanke Figur, aber wohlgeformt, was die anliegende Uniform der Fluggesellschaft noch hervorhob . . . Wieder fiel Mel auf, wie anziehend und begehrenswert sie war.

»Das wäre zu erwägen«, antwortete sie, »vorausgesetzt, daß das Taxi zu meiner Wohnung fährt und ich für Sie Abendessen machen darf. Sagen wir: Hammelragout.«

Er zögerte und wog die einander ausschließenden Verpflichtungen gegeneinander ab und schüttelte dann resigniert den Kopf. »Ich wollte, ich könnte es annehmen. Aber wir haben hier einige Schwierigkeiten, und anschließend muß ich in die Stadt.« Er stand auf. »Aber Kaffee wollen wir wenigstens zusammen trinken.«

»Also gut«

Mel hielt ihr die Tür auf, und sie traten in die belebte und geräuschvolle Haupthalle hinaus.

Vor den Schaltern der Trans America drängten sich jetzt noch mehr Leute als vorhin. »Ich habe nicht lange Zeit«, sagte Tanya. »Meine Schicht dauert heute noch zwei Stunden.«

Während sie sich zwischen den Menschen und den Stapeln von Gepäck hindurchdrängten, mäßigte sie ihren im allgemeinen flinken Schritt und paßte sich Mels langsamerem Tempo an. Sie bemerkte, daß er stärker als sonst hinkte. Sie hätte gern seinen Arm genommen, um ihm zu helfen, unterließ es aber lieber. Sie trug noch die Uniform der Trans America, und der Klatsch lief schon schnell genug um, ohne daß man ihm aktiv Nahrung gab. Die beiden waren in letzter Zeit häufig zusammen gesehen worden, und Tanya war überzeugt, daß die Klatschmaschine des Flughafens — die wie ein Dschungeltelegraf mit der Geschwindigkeit eines Computers arbeitete — bereits davon Kenntnis genommen hatte. Wahrscheinlich wurde angenommen, daß sie und Mel miteinander ins Bett gingen, obwohl zufällig gerade das nicht stimmte.

Sie gingen zum Cloud Captain's Coffee Shop in der Haupthalle.

»Aber dieses Hammelragout«, begann Mel. »Könnte das nicht an einem anderen Abend stattfinden? Sagen wir mal übermorgen?«

Tanyas spontane Einladung hatte ihn überrascht. Sie waren zwar schon zusammen ausgegangen, zu einem Drink und zum Abendessen — aber bis jetzt hatte sie noch keine Einladung in ihre Wohnung ausgesprochen. Selbstverständlich war es möglich, daß er nur zum Essen gebeten wurde. Trotzdem — es bestand immerhin die Möglichkeit, daß es mehr bedeutete.

In letzter Zeit hatte Mel das Gefühl, wenn sie ihre Begegnungen außerhalb des Dienstes auf dem Flughafen fortsetzten, könnte eine natürliche und naheliegende Entwicklung einsetzen. Aber er war vorsichtig gewesen. Sein Instinkt warnte ihn davor, daß eine Affäre mit Tanya nicht nur eine vorübergehende Romanze sein würde, sondern etwas, worin sie beide emotionell tief verstrickt würden. Auch mußten seine Probleme mit Cindy berücksichtigt werden. Es würde sehr schwierig sein, für sie Lösungen zu finden, falls überhaupt Lösungen dafür gefunden werden konnten, und die Zahl der Probleme, mit denen ein Mann sich gleichzeitig befassen konnte, war begrenzt. Es ist eine merkwürdige Situation, dachte er, daß es leichter zu sein scheint, mit einer Affäre fertigzuwerden, wenn man in einer gesicherten Ehe lebt, als wenn diese Ehe erschüttert ist. Wie dem auch sei, Tanyas Einladung war zu verlockend, um sie zu übergehen.

»Übermorgen ist Sonntag«, erinnerte sie ihn, »aber ich habe an dem Tag frei, und wenn Sie es arrangieren können, habe ich mehr Zeit.«

Mel lächelte. »Kerzen und Wein also?«

Er hatte vergessen, daß es ein Sonntag war. Aber er würde trotzdem zum Flughafen kommen, denn selbst wenn der Schneesturm weiterzog, würde er seine Nachwirkungen haben. Und was Cindy anging, sie selbst war an Sonntagen mehrfach fortgegangen, ohne daß sie Gründe dafür angegeben hatte.

Einen Augenblick wurden Mel und Tanya getrennt, als sie einem eiligen Mann mit einem frischen, geröteten Gesicht auswich, dem ein Gepäckträger mit einem Karren folgte, dessen Ladung Golfschläger und Tennisracketts krönten. Wohin diese Ladung auch bestimmt ist, dachte Tanya neidisch, sie geht bestimmt weit, weit nach Süden.

»Einverstanden«, antwortete sie, als sie sich wieder trafen. »Kerzen und Wein.«

Als sie in die Kaffeestube eintraten, erkannte eine flinke Kellnerin Mel sofort und führte ihn vor anderen zu einem kleinen Tisch im Hintergrund, mit dem Schild »Reserviert«, an dem die leitenden Leute des Flughafens oft saßen. Als er sich setzen wollte, kam er etwas ins Stolpern und griff nach Tanyas Arm. Die aufmerksame Kellnerin ließ schnell ihre Blicke, mit dem Anflug eines Lächelns, über die beiden schweifen. Klatschmaschine, paß auf, dir steht Nahrung bevor, dachte Tanya.

Laut sagte sie: »Haben Sie je solche Menschenmassen gesehen? Das sind die schlimmsten drei Tage, die ich je erlebt habe.«

Mel sah sich in der dichtgefüllten Kaffeestube um. Der Stimmenlärm wurde durch das Geschirrklappern gelegentlich noch übertönt. Er deutete mit dem Kopf zur Eingangstür, durch die sie gerade gekommen waren, und durch die sie wirbelnde, sich drängende Menschenschwärme sehen konnten. »Wenn Sie das schon für eine große Horde halten, dann warten Sie erst mal ab, bis die Lockheeds L-500 in Dienst gestellt werden.«

»Ich weiß — wir werden ja kaum mit den 747 fertig. Aber tausend Passagiere, die sich dann auf einmal vor den Empfangsschaltern drängen — Gott sei uns gnädig!« Tanya schauderte. »Können Sie sich vorstellen, wie es zugehen wird, wenn die alle ihr Gepäck abholen. Ich wage nicht, auch nur daran zu denken.«

»Das tun viele andere auch nicht — Leute, die aber heute schon daran denken sollten.« Es amüsierte ihn, daß ihr Gespräch sich bereits der Luftfahrt zugewendet hatte. Flugzeuge und Fluggesellschaften faszinierten Tanya, und sie sprach gern darüber. Das galt auch für Mel, und hier lag einer der Gründe, weshalb er ihre Gesellschaft liebte.

»Welche Leute denken nicht daran?«

»Jene, die die Verkehrspolitik bestimmen — für Flughäfen und Luftverkehr. Die meisten tun so, als ob die Düsenmaschinen von heute ewig fliegen würden. Sie scheinen zu glauben, wenn sich jeder still und ruhig verhielte, würden die neuen großen Maschinen verschwinden und uns nicht belästigen. Auf diese Weise brauchten wir dann keine Bodeneinrichtungen, die diesen Maschinen entsprechen.«

Tanya sagte nachdenklich: »Aber auf den Flughäfen wird doch rege gebaut. Man sieht es überall, wohin man auch kommt.«

Mel bot ihre eine Zigarette an, aber sie schüttelte ablehnend den Kopf. Er zündete sich selbst eine an, ehe er antwortete. »Die meisten Bauarbeiten sind Flickwerk — Umbauten und Erweiterungen an Flughäfen, die in den fünfziger Jahren oder Anfang der sechziger entstanden sind. Aber wenig ist wirklich voraussehend geplant. Es gibt Ausnahmen — eine davon ist Los Angeles; Tampa in Florida und Dallas/Fort Worth in Texas sind andere. Das werden einzigen Flughäfen der Welt sein, die für die neuen Mammutmaschinen mit Überschallgeschwindigkeit bereit sind. Kansas City,

Houston und Toronto machen sich nicht schlecht. San Francisco hat einen Plan, aber der kann politisch torpediert werden. In Nordamerika gibt es sonst nicht viel, das einem imponieren könnte.«

»Wie steht es mit Europa?«

»Nichts als Routine«, antwortete Mel, »abgesehen von Paris — der neue Flughafen im Norden, der Le Bourget ersetzen soll, wird einer der besten sein. London ist ein untaugliches Schlamassel, wie es nur die Engländer zustande bringen.« Er überlegte kurz. »Aber wir sollten nicht auf anderen Ländern herumreiten. Bei uns selbst ist es schlimm genug. New York ist angsterregend, trotz der Veränderung auf Kennedy Airport. Über New York ist einfach nicht genug Luftraum vorhanden; ich überlege, ob ich in Zukunft nicht mit dem Zug hinfahren soll. Washington quält sich verzweifelt — Washington National ist eine finstere Falle; Dulles war ein Riesenschritt in die falsche Richtung. Und Chicago wird eines Tages aufwachen und feststellen, daß es zwanzig Jahre hinter der Zeit herhinkt.« Wieder überlegte er. »Erinnern Sie sich an die Zeit vor ein paar Jahren, als die ersten Düsenflugzeuge kamen — wie die Zustände auf den Flugplätzen waren, die für die DC-4 und die Con-stellation angelegt worden waren?«

»Ich erinnere mich«, antwortete Tanya. »Ich habe auf einem gearbeitet. An normalen Tagen konnte man sich vor Menschenmassen nicht von der Stelle rühren, an Tagen mit Hochbetrieb konnte man nicht einmal atmen. Wir sagten immer, es sei so, als ob man die Olympischen Spiele in einem Sandkasten austragen würde.«

»Was nach 1970 kommt, wird schlimmer«, prophezeite Mel, »viel schlimmer, und nicht nur, weil wir an Menschen ersticken werden. Wir werden auch an anderen Dingen zu würgen haben.«

»An was zum Beispiel?«

»Einmal Flugrouten und Flugsicherung, aber das ist eine andere Geschichte. Das wirklich Große, womit sich die Flughafenplanung noch nicht befaßt hat, ist, daß wir auf den Tag zusteuern — und zwar schnell —, an dem der Luftfrachtverkehr größer sein wird als der Passagierverkehr. Das galt seit jeher für alle Transportarten, angefangen beim Birkenrindenkanu. Zunächst wurden Menschen transportiert und zusätzlich ein bißchen Fracht; aber es dauerte nie lange, dann war mehr Fracht vorhanden als Menschen. Im Luftverkehr sind wir diesem Stadium bereits viel näher, als allgemein bekannt ist. Wenn Fracht an die erste Stelle tritt — wie das in rund zehn Jahren der Fall sein wird —, sind eine Menge unserer gegenwärtigen Vorstellungen von Flughafen veraltet. Wenn Sie einen Wegweiser haben wollen, in welche Richtung sich alles bewegt, dann beobachten Sie einmal einige der jungen Leute, die jetzt in die Leitung der Luftverkehrsgesellschaften eintreten. Vor nicht allzulanger Zeit wollte kaum jemand in den Abteilungen für Luftfracht arbeiten; das war zweitrangig; das Passagiergeschäft allein hatte Glanz. So ist es nicht mehr! Die klugen jungen Leute wenden sich jetzt der Luftfracht zu. Sie wissen, wo die Zukunft und die großen Aufstiegsmöglichkeiten liegen.«

Tanya lachte. »Ich bleibe altmodisch und halte mich an die Menschen. Fracht ist irgendwie . . .« Eine Kellnerin trat an ihren Tisch. »Die Sperrstunde ist aufgehoben, und wenn wir heute abend hier noch viele Gäste bekommen, wird nicht viel übrig bleiben, was wir ihnen anbieten können.«

Sie bestellten Kaffee, Tanya einen Zimttoast dazu und Mel ein Sandwich mit Spiegelei.

Als die Kellnerin gegangen war, grinste Mel. »Ich glaube, ich habe angefangen, eine Rede zu halten. Entschuldigung.«

»Vielleicht müssen Sie mal wieder üben.« Sie sah ihn neugierig an. »In der letzten Zeit haben Sie das nicht mehr oft getan.«

»Ich bin nicht mehr Präsident des Airport Operator Council. Ich komme nicht mehr oft nach Washington und woandershin auch nicht.« Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb er keine Reden mehr hielt und seltener öffentlich auftrat. Er vermutete, daß Tanya das wußte.

Seltsamerweise war es einer der Vorträge Mels gewesen, wodurch sie überhaupt bekannt geworden waren. Bei einer der wenigen gemeinsamen Tagungen, auf denen die verschiedenen Fluggesellschaften zusammenkamen, hatte er über die künftige Entwicklung der Luftfahrt gesprochen und das Hinterherhinken der Bodenorganisation mit den Fortschritten in der Luft verglichen. Er hatte die Veranstaltung benutzt, um einen Vortrag zu proben, den er etwa eine Woche später vor einem das ganze Land umfassenden Forum halten wollte. Tanya hatte der Delegation der Trans America angehört, und am nächsten Tag hatte sie ihm eine ihrer Notizen zugeschickt: mr. b rede großartig, wir erdgebundenen sklaven preisen sie für eingeständnis, daß schöpf er der luftfahrtpolitik an Zeichenbrettern schlafen. das mußte mal gesagt werden, ein vorschlag gefällig? wäre viel lebendiger, wenn weniger fakten, mehr leute . . . wenn passagiere erst im bauch (flugzeug oder wal, erinnere an jonas) denken nur an sich, nicht an System. wette daß orville/ wilbur das gleiche dachten, sobald aufgestiegen. stimmts? tl


Die Notiz hatte ihn nicht nur amüsiert, sondern auch nachdenklich gemacht. Es traf zu — er hatte sich auf Fakten und Systeme konzentriert und darüber die Menschen als Individuen vernachlässigt. Er überprüfte die Notizen zu seinem Vortrag noch einmal und verlagerte das Gewicht so, wie Tanya es angeregt hatte. Das Ergebnis war der erfolgreichste Vortrag, den er je gehalten hatte. Er trug ihm einen Beifallssturm ein, und auf internationaler Ebene wurde ausführlich darüber berichtet. Nachher hatte er Tanya angerufen, um sich bei ihr zu bedanken. Seitdem waren sie öfter zusammengekommen.

Der Gedanke an Tanyas erste Notiz erinnerte ihn an jene, die sie ihm heute abend geschickt hatte. »Für den Tip über den Bericht des Schneeausschusses bin ich Ihnen dankbar, obwohl es mich interessieren würde, wie es Ihnen gelungen ist, ihn vor mir zu Gesicht zu bekommen.«

»Kein Geheimnis. Er wurde im Büro der Trans America getippt. Ich habe gesehen, wie Kapitän Demerest ihn durchsah und darüber frohlockte.«

»Vernon hat Ihnen den Bericht gezeigt?«

»Nein, aber er hatte ihn ausgebreitet, und ich bin geübt, Texte, die auf dem Kopf stehen, zu lesen. Wobei mir einfällt, daß Sie meine Frage nicht beantwortet haben: Was hat Ihr Schwager eigentlich gegen Sie?«

Mel schnitt eine Grimasse. »Wahrscheinlich weiß er, daß ich nicht besonders viel für ihn übrig habe.«

»Wenn Sie ihm das mal sagen wollen, können Sie es jetzt tun«, sagte Tanya. »Da ist der große Mann persönlich.« Sie deutete mit dem Kopf zur Kasse, und Mel wandte sich um.

Kapitän Vernon Demerest von der Trans America zählte das Wechselgeld, nachdem er seine Rechnung bezahlt hatte. Er war eine große, breitschultrige, auffallende Erscheinung, die alle anderen um ihn herum überragte. Er war leger in eine Harris-Tweedjacke und eine makellos gebügelte Hose gekleidet, aber dennoch gelang es ihm, den Eindruck von Autorität um sich zu verbreiten — wie ein hoher General, der vorübergehend Zivil trägt, dachte Mel. Deme-rests festes, aristokratisches Gesicht lächelte nicht, als er sich an einen Kapitän der Trans America in Uniform mit vier Streifen am Ärmel wandte, der ihn begleitete. Anscheinend erteilte Demerest Anweisungen, denn der andere nickte. Kapitän Demerest sah sich kurz in der Kaffeestube um, bemerkte Mel und Tanya und grüßte mit einem knappen kühlen Nicken. Dann blickte er auf seine Uhr und ging nach einem letzten Wort an den anderen Kapitän hinaus.

»Anscheinend hat er Eile«, sagte Tanya. »Aber was er auch vorhat, er hat nicht viel Zeit. Kapitän D. nimmt heute abend den Flug Zwei nach Rom.«

Mel lächelte. »The Golden Argosy?«

»Nichts Geringeres. Aber wie ich sehe, Sir: Sie lesen unsere Anzeigen.«

»Dem kann man sich nur schwer entziehen.« Mel wußte, wie Millionen andere Leute, die die doppelseitigen Vierfarbenanzeigen in Life, Look, Good House-keeping, der Saturday Evening Post und anderen großen Zeitschriften bewunderten, daß Flug Zwei der Trans America — The Golden Argosy — der Spitzenprestigeflug der Gesellschaft war. Er wußte auch, daß nur die erfahrensten Flugkapitäne der Gesellschaft die Maschinen auf diesem Flug steuerten.

»Es scheint Einigkeit darüber zu herrschen«, sagte Mel, »daß Vernon einer der besten Piloten ist, die es gibt.«

»Aber ja, ohne jeden Zweifel. Hervorragend und anmaßend.« Tanya zögerte, dann sagte sie in vertraulichem Ton: »Wenn Ihnen gerade nach Klatsch zumute sein sollte: Sie sind nicht der einzige, der sich aus Ihrem Schwager nicht viel macht. Vor gar nicht langer Zeit hörte ich einen unserer Mechaniker sagen, es tue ihm leid, daß es keine Propellermaschinen mehr gäbe, weil er immer gehofft hätte, Kapitän Demerest würde mal in einen Propeller reinlaufen.«

Mel sagte scharf: »Das ist eine reichlich brutale Vorstellung.«

»Zugegeben. Persönlich ziehe ich vor, was unser Präsident, Mr. Youngquist, gesagt haben soll. Soviel ich weiß, lautete seine Anweisung bezüglich Kapitän Demerest: Man halte mir diesen anmaßenden Burschen vom Hals, aber für seine Flüge soll man mich buchen.«

Mel lachte verhalten. Er kannte beide Männer und war deshalb überzeugt, daß diese Bemerkung so gefallen war. Er hätte sich nicht auf ein Gespräch über Vernon Demerest einlassen sollen, erkannte er, aber die Mitteilung über den kritischen Schneebericht und Ärger, den das nach sich ziehen würde, wurmten ihn. Er fragte sie flüchtig, wohin sein Schwager im Augenblick wohl gehe und ob sich um eines seiner amourösen Abenteuer handle, deren es — verbürgten Berichten zufolge — zahlreiche gab. Als er in die Haupthalle hinausblickte, stellte er fest, daß Kapitän Demerest bereits in der Menschenmenge untergetaucht war.

Auf der anderen Seite des Tisches strich Tanya mit einer raschen Bewegung, die Mel schon früher an ihr beobachtet hatte und die ihm gefiel, ihren Rock glatt. Es war eine weibliche Geste und eine Erinnerung daran, daß nur wenige Frauen in Uniform so gut au sahen, weil die Uniform oft eine desillusionierende Wirkung hatte; aber bei Tanya war es umgekehrt.

Manche Fluggesellschaften verzichteten bei älteren Angestellten, die die Passagiere bedienten, auf die Uniform, aber bei Trans America schätzte man die Würde, die das fesche Blau und Gold verliehen. Zwei goldene, weißgefaßte Streifen an Tanyas Ärmelaufschlägen verkündeten ihre Stellung und ihr Dienstalter. Als ob sie seine Gedanken erriete, sagte sie: »Ich ziehe diese Uniform vielleicht bald aus.«

»Warum?«

»Unser Bezirksverkehrsleiter wird nach New York versetzt. Sein Stellvertreter rückt auf, und ich habe mich um seinen Posten beworben.«

Er betrachtete sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Neugier. »Ich glaube, daß Sie die Stelle bekommen. Und das wird noch nicht das Ende vom Lied sein.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Glauben Sie, ich könnte noch Vizepräsident werden?«

»Das glaube ich schon. Das heißt, falls Sie den Ehrgeiz haben. Eine Frau in leitender Stellung und was so dazugehört.«

Leise sagte Tanya: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es will oder nicht.«

Die Kellnerin brachte ihnen die Bestellung. Als sie wieder allein waren, sagte Tanya: »Uns berufstätigen Frauen bleibt manchmal keine große Wahl. Wenn man sich mit dem Job, den man hat, bis zur Pensionierung nicht zufrieden geben will — und viele von uns tun das nicht —, gibt es nur einen Ausweg: nach oben.«

»Schließen Sie eine Ehe aus?«

Sie nahm ein Stück ihres Zimttoastes. »Ich schließe sie nicht aus, aber bei mir hat es das erste Mal nicht geklappt, und klappt es vielleicht nie wieder. Außerdem gibt es nicht viele Anwärter — verfügbare, meine ich — für benutzte Bräute und Babys.«

»Es könnte Ausnahmen geben.«

»Ich könnte das große Los gewinnen. Aus Erfahrung, mein lieber Mel, kann ich Ihnen versichern, daß Männer ihre Frauen gern ohne Vorbelastungen haben. Fragen Sie meinen früheren Mann. Das heißt, falls Sie ihn finden können. Mir ist das nicht gelungen.«

»Er hat Sie verlassen, nachdem Ihr Kind geboren wurde?«

»Meine Güte, nein! Dann hätte Roy ja sechs Monate lang eine Verantwortung auf sich genommen. Ich glaube, es war ein Donnerstag, als ich ihm sagte, daß ich ein Kind bekäme. Ich konnte es mir selbst nicht mehr länger verheimlichen. Als ich am Freitag von der Arbeit heimkam, waren Roys Anzüge verschwunden. Und Roy auch.«

»Haben Sie ihn seitdem wiedergesehen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Am Ende hat das die Scheidung sehr erleichtert — böswilliges Verlassen. Keine Komplikationen, wie zum Beispiel eine andere Frau. Ich muß jedoch fair sein. Roy war nicht durch und durch schlecht. Er hob nicht unser gemeinsames Bankkonto ab, obwohl er das gekonnt hätte. Ich muß zugeben, daß ich mich manchmal gefragt habe, ob das Freundlichkeit war oder ob er es nur vergessen hat. Jedenfalls hatte ich die ganzen achtzig Dollar für mich.«

»Das haben Sie bisher noch nie erwähnt«, sagte Mel.

»Hätte ich das tun sollen?«

»Um Mitgefühl zu finden, vielleicht.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenn Sie mich besser verstünden, wüßten Sie, daß ich Ihnen das nicht erzähle, weil ich Mitgefühl brauche. Alles ist gutgegangen.« Tanya lächelte. »Vielleicht werde ich sogar Vizepräsident einer Fluggesellschaft. Das haben Sie doch gesagt.«

An einem Nachbartisch sagte eine Frau: »Mein Gott! Sieh mal, wie spät es ist!« Instinktiv folgte Mel der Aufforderung. Es war eine dreiviertel Stunde vergangen, seit er Danny Farrow in der Schneekontrolle verlassen hatte. Er stand auf und bat Tanya: »Gehen Sie noch nicht. Ich muß nur telefonieren.«

Auf der Theke neben der Kassiererin stand ein Apparat, und Mel wählte eine der im Telefonverzeichnis nicht aufgeführten Nummern der Schneekontrolle. Danny Farrow meldete sich mit »Moment mal«, und war wenige Augenblicke später wieder am Apparat.

»Ich wollte Sie schon anrufen«, sagte Danny. »Ich habe eine Meldung über die festgefahrene Maschine der Aereo Mexican.«

»Ja, bitte.«

»Sie wissen, daß die Mexikaner TWA um Hilfe gebeten haben?«

»Ja.«

»Also, die haben jetzt Schlepper und Kräne und weiß Gott was draußen. Startbahn und Taxistreifen sind völlig blockiert, aber sie haben die verdammte Maschine noch nicht von der Stelle bekommen. Das Neueste ist, daß TWA nach Joe Patroni geschickt hat.«

»Ich bin froh, das zu hören«, sagte Mel erleichtert. »Allerdings wünschte ich, sie hätten das früher getan.«

Joe Patroni war der Leiter des Wartungsdienstes bei TWA und der geborene Zauberer, wenn es um Schwierigkeiten ging. Er war eine praktische, dynamische Persönlichkeit und ein naher Freund von Mel.

»Anscheinend haben sie versucht, Patroni sofort zu erreichen«, sagte Danny. »Aber er war nicht zu Hause, und die Leute hatten Mühe, ihn ausfindig zu machen. Der Schneesturm scheint viele Telefonleitungen beschädigt zu haben.«

»Aber jetzt weiß er Bescheid? Sind Sie sicher?«

»Bei TWA sind sie sicher. Sie sagen, er sei auf dem Weg hierher.«

Mel rechnete. Er wußte, daß Joe Patroni in Glen Ellyn wohnte, etwa fünfundzwanzig Meilen vom Flughafen entfernt, und selbst bei idealen Fahrbedingungen nahm der Weg vierzig Minuten in Anspruch. Heute abend, bei eingeschneiten Straßen und kriechendem Verkehr, hatte der Leiter des Wartungsdienstes Glück, wenn er es in der doppelten Zeit schaffte.

»Wenn jemand dieses Flugzeug heute nacht von der Stelle bewegt, dann Joe Patroni«, stimmte Mel bei. »Inzwischen will ich aber nicht, daß jemand untätig herumsitzt, bis er ankommt. Machen Sie jedem eindeutig klar, daß wir Startbahn Drei-Null dringend einsatzfähig brauchen.« Abgesehen von den Notwendigkeiten für den Flugbetrieb dachte er auch daran, daß die Maschinen immer noch über Meadowood starteten. Er fragte sich, ob die Gemeindeversammlung, von der ihm der Dienstleiter im Kontrollturm berichtet hatte, noch tagte.

»Das habe ich allen auseinandergesetzt«, bestätigte Danny. »Ich werde es noch einmal tun. Ach ja, und auch eine gute Neuigkeit — wir haben diesen Verpflegungswagen gefunden.«

»Ist der Fahrer in Ordnung?«

»Er war bewußtlos unter dem Schnee. Sein Motor lief, und wir nehmen an, daß er etwas Kohlendioxid abbekommen hat. Aber wir haben ihn mit Sauerstoff behandelt, und er wird keinen Schaden zurückbehalten.«

»Gut. Ich gehe jetzt aufs Flugfeld hinaus und überzeuge mich selbst, wie es da aussieht. Ich rufe von dort über Sprechfunk wieder an.«

»Packen Sie sich gut ein«, riet Danny. »Soviel ich gehört habe, ist es lausig kalt draußen.«

Tanya saß noch am Tisch, als Mel zurückkam, machte sich aber bereit zu gehen.

»Warten Sie«, sagte Mel. »Ich komme mit.« Sie zeigte auf sein unberührtes Sandwich. »Und was wird aus dem Abendessen? Falls das eines gewesen sein sollte.«

»Das muß im Augenblick genügen.« Er nahm einen Mundvoll, spülte mit Kaffee hastig nach und griff nach seinem Mantel. »Ich esse auf jeden Fall heute abend noch in der Stadt.«

Als Mel ihre Rechnung bezahlte, kamen zwei Angestellte der Trans America in die Kaffeestube. Der eine war der leitende Mann beim Abfertigungsschalter, mit dem Mel schon vorhin gesprochen hatte. Als er Tanya bemerkte, kam er herüber.

»Entschuldigen Sie, Mr. Bakersfeld . . . Mrs. Livingston, der Bezirksverkehrsleiter sucht Sie. Er hat wieder mal ein Problem.«

Mel nahm das Wechselgeld von der Kassiererin entgegen und steckte es ein. »Lassen Sie mich raten. Es hat wieder jemand mit Flugplänen um sich geworfen.«

»Nein, Sir.« Der Mann grinste. »Wenn so etwas heute abend noch einmal geschieht, bin ich es wahrscheinlich. Hier geht es um einen blinden Passagier. Auf Flug 80 von Los Angeles.«

»Ist das alles?« Tanya war erstaunt. Blinde Passagiere auf Flugzeugen — das gab es bei allen Gesellschaften und war selten ein Anlaß zu ernstlicher Sorge.

»Nach dem, was ich gehört habe, ist der, um den es sich handelt, etwas bescheuert. Es liegt ein Funkspruch des Kapitäns vor, und eine Sicherheitswache ist hinausgefahren, um das Flugzeug zu empfangen. Aber was auch immer los ist: man sucht Sie, Mrs. Livings-ton.« Mit einem freundlichen Kopfnicken ging er zu seinem Kollegen zurück.

Mel trat mit Tanya aus der Kaffeestube in die Haupthalle hinaus. Vor dem Fahrstuhl, mit dem Mel in die unterirdische Garage fahren wollte, um seinen dort parkenden Wagen zu holen, blieben sie stehen.

»Fahren Sie vorsichtig da draußen«, warnte sie, »und kommen Sie keinem Flugzeug in die Quere.«

»Wenn das passiert, werden Sie es bestimmt erfahren!« Er zog sich seinen dicken Mantel an. »Ihr blinder Passagier klingt interessant. Ich will versuchen, noch einmal vorbeizukommen, ehe ich gehe, um zu erfahren, was hinter der Geschichte steckt.« Er zögerte, ehe er noch hinzufügte: »Das gibt mir auch einen Vorwand, Sie heute abend noch einmal zu sehen.«

Sie standen nahe beieinander. Mit einer gleichzeitigen Bewegung reichten sie sich die Hände. »Wer braucht dazu einen Vorwand?« fragte Tanya leise.

Als Mel im Fahrstuhl nach unten fuhr, spürte er noch die glatte Wärme ihrer Haut und hatte ihre Stimme im Ohr.

4

Joe Patroni befand sich — wie Mel Bakersfeld erfahren hatte — auf dem Weg von seinem Heim in Glen Ellyn zum Flughafen. Der untersetzte Italo-Amerikaner, Leiter der Wartungsabteilung der TWA auf dem Flughafen, hatte seinen vorstädtischen, im Ranchstil erbauten Bungalow vor etwa zwanzig Minuten mit dem Auto verlassen. Er kam nur außergewöhnlich langsam vorwärts, wie Mel bereits vermutet hatte.

Im Augenblick wurde Joe Patronis Buick Wildcat durch eine Verkehrsstauung aufgehalten. Vor und hinter ihm standen, so weit er sehen konnte, andere Fahrzeuge. Während Patroni wartete, zündete er sich im Schein der Rückleuchten des Wagens vor ihm eine frische Zigarre an.

Um Joe Patroni hatte sich ein Kranz von Legenden gebildet; manche beschäftigten sich mit seiner Arbeit, andere galten ihm privat.

Seine berufliche Laufbahn hatte er als Abschmierer in einer Autowerkstatt begonnen. Bald darauf nahm er die Werkstatt seinem Arbeitgeber beim Würfeln ab, so daß nach dem Spiel die Rollen vertauscht waren. Dadurch erbte der junge Joe auch eine Anzahl nicht einziehbarer Außenstände, durch die er unter anderem Besitzer eines alten, abgeklapperten Waco-Doppeldeckers wurde. Mit Hilfe seiner Erfindungsgabe und seines technischen Geschicks reparierte er das Flugzeug und flog es dann erfolgreich — wenn auch ohne in den Genuß von Flugunterricht gekommen zu sein, weil er sich die Stunden nicht leisten konnte.

Das Flugzeug und seine technische Funktion absorbierten Joe Patron! völlig — in einem solchen Maß, daß er seinen früheren Arbeitgeber zu einem neuen Würfelspiel verleitete und ihn die Werkstatt zurückgewinnen ließ. Darauf gab Joe seine Stellung auf und nahm eine als Flugzeugmechaniker an. Er besuchte eine Abendschule, wurde Erster Mechaniker, dann Abteilungsleiter und stand in dem Ruf, absolute Spitzenklasse beim Ausfindigmachen und Beheben von Pannen zu sein. Seine Gruppe konnte einen Motor schneller auswechseln, als die Hersteller angaben, und das mit absoluter Zuverlässigkeit. Bald hieß es, wenn Not am Mann war oder eine schwierige Reparatur vorgenommen werden mußte: Holt Joe Patroni.

Ein wichtiger Grund für seinen Erfolg lag darin, daß er niemals Zeit auf Diplomatie verschwendete. Statt dessen kam er immer sofort zur Sache, sowohl im Umgang mit Menschen als auch mit Flugzeugen. Er besaß eine völlige Mißachtung für jeden Rang und trat gegenüber jedem rückhaltlos offen auf, die leitenden Männer der Fluggesellschaft eingeschlossen.

In einem Fall, von dem bei den Fluggesellschaften immer noch gesprochen wurde, wenn man Erinnerungen austauschte, verließ Joe Patroni, ohne jemand vorher zu fragen oder auch nur ein Wort zu sagen, seinen Arbeitsplatz und nahm ein Flugzeug nach New York. Er hatte ein Paket bei sich. Nach seiner Ankunft fuhr er mit Bus und U-Bahn zu den olympischen Höhen der Gesellschaft mitten in Manhattan und marschierte dort ohne vorherige Anmeldung oder eine Vorrede in das Büro des Präsidenten. Er öffnete sein Paket und breitete auf dem makellosen Schreibtisch des Präsidenten einen verölten, auseinandergenommenen Vergaser aus.

Der Präsident, der von Joe Patroni nie etwas gehört hatte und den niemand ohne vorher festgelegten Termin erreichte, war einem Schlaganfall nahe, doch Joe erklärte ihm: »Wenn Sie ein paar Flugzeuge in der Luft verlieren wollen, können Sie mich rauswerfen. Wenn nicht, dann setzen Sie sich, und hören Sie zu.«

Der Präsident setzte sich — während Joe Patroni sich eine Zigarre anzündete — und hörte zu. Später rief er den technischen Vizepräsidenten zu sich, der anschließend einige mechanische Veränderungen anordnete, die die Vereisung von Vergasern beim Flug betrafen, auf die Patroni seit Monaten auf der unteren Ebene erfolglos gedrängt hatte.

Später erhielt Patroni eine öffentliche Belobigung, und aus dem Vorfall wurde eine weitere Episode in dem bereits wachsenden Bestand an Geschichten über Patroni. Bald danach wurde Patroni zum Oberinspektor befördert und erhielt wenige Jahre später den wichtigen Posten als Leiter des Wartungsdienstes auf dem Lincoln International.

Auf der persönlichen Ebene besagte ein anderer Bericht, daß Joe Patroni in den meisten Nächten mit seiner Frau Marie schlief, etwa so, wie andere vor dem Abendessen einen Aperitif genießen. Das entsprach den Tatsachen. Tatsächlich war er gerade damit beschäftigt, als die telefonische Nachricht vom Flughafen über die festgefahrene Düsenmaschine der Aereo Mexican kam, die wiederflott-zumachen die TWA gebeten worden war.

Ein weiteres Gerücht hielt sich hartnäckig: Patroni schliefe mit seiner Frau so, wie er auch alles andere tat — mit einer langen, dünnen Zigarre im Mundwinkel. Das stimmte nicht, jedenfalls jetzt nicht mehr. Nachdem Marie in ihren ersten Ehejahren verschiedentlich mit brennenden Kopfkissen hatte fertig werden müssen — wobei sich beim Löschen ihre Ausbildung als Stewardess der TWA als nützlich erwies —, hatte sie sich weitere Zigarren im Bett nachdrücklich verbeten. Joe fügte sich dem Spruch, weil er seine Frau liebte. Er hatte Grund dazu. Als er sie heiratete, war sie wahrscheinlich die bekannteste und schönste Stewardess sämtlicher Fluggesellschaften, und zwölf Jahre später, mit drei Kindern, konnte sie es immer noch mit den meisten ihrer Nachfolgerinnen aufnehmen. Es gab Leute, die sich verwundert fragten, warum Marie, die von Kapitänen und Ersten Offizieren heiß umworben worden war, überhaupt Joe Patroni gewählt hatte. Aber Joe hatte schon damals, als sie sich kennenlernten, als junger Vorarbeiter im Wartungsdienst, das gewisse Etwas an sich und hatte Marie seither immer zufriedengestellt — auf jedem wichtigen Gebiet.

Joe Patroni besaß aber noch etwas anderes: Er geriet in einer Krisensituation nie in Panik. Statt dessen bildete er sich schnell ein Urteil über die Lage, entschied, welche Dringlichkeit der Krise zukam, und ob er eine andere Aufgabe erst abschließen sollte, ehe er sich mit der neuen befaßte. Im Fall der festgefahrenen 707 sagte ihm sein Instinkt, daß es sich um eine mittlere bis akute Krise handele, und das bedeutete, daß er das, womit er gerade beschäftigt war, beenden oder aber zu Abend essen konnte, jedoch nicht beides. Dementsprechend verzichtete er auf das Abendessen. Bald danach hetzte Marie im Morgenrock in die Küche, um für Joe schnell ein paar Sandwiches zu machen, die er auf der Fünfundzwanzig-Meilen-Fahrt zum Flughafen essen konnte, und er kaute gerade an einem.

Daß er nach einem vollausgefüllten Arbeitstag zum Flughafen zurückgerufen wurde, war für ihn nichts Neues; heute abend aber war das Wetter schlechter als bei jedem früheren Anlaß, soweit er sich erinnern konnte. Überall waren die sich summierenden Auswirkungen des dreitägigen Schneesturms zu spüren und machten das Fahren anstrengend und gefahrvoll. Riesige Schneeberge säumten die Straßen, und in der Dunkelheit schneite es immer noch. Auf den Schnellstraßen wie auf den normalen Straßen bewegte sich der Verkehr kriechend oder überhaupt nicht weiter. Selbst die M + S-Rei-fen, die Patroni an seinem Wagen hatte, faßten nur schlecht. Scheibenwischer und Entfrostungsanlagen kamen gegen die Schneeböen draußen und die beschlagenden Scheiben drinnen nicht an, und die Scheinwerfer erhellten nur ein kurzes Stück der Straße vor den Wagen. Stilliegende Fahrzeuge, manche von ihren Fahrern preisgegeben, verwandelten die Straßen in Hindernisbahnen. Offensichtlich wagten sich nur Leute, die guten Grund dazu hatten, an diesem Abend auf die Straße.

Patroni sah auf seine Uhr. Sowohl sein Wagen als auch der seines Vordermannes standen jetzt schon einige Minuten. Auch weiter vorn konnte er gleichfalls haltende Wagen ausmachen, und rechts von ihm stand eine weitere Reihe haltender Fahrzeuge. Außerdem war schon seit einiger Zeit kein Fahrzeug mehr aus der entgegengesetzten Richtung gekommen: folglich war etwas geschehen, wodurch der ganze Verkehr auf allen vier Fahrbahnen blockiert wurde. Wenn sich in den nächsten fünf Minuten nichts ergab, wollte er aussteigen, um nachzuforschen, obwohl er in Anbetracht des Matsches, der Verwehungen und des unverändert fallenden Schnees hoffte, daß es nicht nötig wäre. Ihm stand noch ausreichend Gelegenheit bevor, bis auf die Knochen durchzufrieren, wozu es zweifellos kommen würde, ehe die Nacht vorüber war, sobald er auf dem Flugplatz ankam. Inzwischen drehte er das Autoradio lauter, das auf eine Rock-'n'-Roll-Sendung eingestellt war, und paffte an seiner Zigarre.

Fünf Minuten verstrichen. Joe Patroni sah, daß vor ihm Leute ausstiegen und nach vorn gingen, und schickte sich an, ihnen zu folgen. Er trug einen pelzgefütterten Anorak, den er jetzt um sich zog und sich die Kapuze über den Kopf streifte. Er griff nach der schweren Taschenlampe, die er immer mit sich führte. Als er die Wagentür öffnete, fegten Wind und Schnee herein. Er stieg aus und schloß die Tür schnell hinter sich.

Er stampfte vorwärts, während die Türen anderer Wagen schlugen und Stimmen riefen. »Was ist denn los?« Jemand rief zurück: »Da vorn war ein Unfall. Eine Riesenschweinerei.« Als er näher kam, wurden vor ihm aufblitzende Lichter sichtbar, Schatten bewegten und trennten sich, wurden zu einer Menschentraube. Eine neue Stimme sagte: »Glauben Sie mir, das läßt sich so schnell nicht beiseite räumen. Wir sitzen hier für Stunden fest.«

Ein großer dunkler Schatten tauchte vor ihm auf, zum Teil von sprühenden roten Fackeln angestrahlt. Er stellte sich als ein schwerer Sattelschlepper mit Anhänger heraus, der auf der Seite lag. Das klobige, sechzehnrädrige Gefährt lag quer über der Fahrbahn und blockierte jeden Verkehr. Ein Teil der Ladung — anscheinend Kartons mit Konserven — war herausgestürzt, und schon trotzten einige Spekulanten dem Schnee und sammelten Kartons ein, um sie schnell zu ihren Wagen zu bringen.

Zwei Streifenwagen der Verkehrspolizei befanden sich am Unfallort. Polizisten vernahmen den Lastwagenfahrer, der anscheinend unverletzt geblieben war.

»Ich habe nur ganz leicht auf die verdammte Bremse gedrückt«, protestierte der Fahrer laut, »und schon kam das Ding ins Schleudern und wälzte sich im Schnee wie eine heiße Hure.«

Einer der Polizisten schrieb in sein Notizbuch, und eine Frau fragte mit gedämpfter Stimme den Mann neben sich: »Glaubst du, daß er das wörtlich aufschreibt?«

Eine andere Frau rief mit schriller Stimme gegen den Wind: »Das hilft uns auch nichts. Warum schafft ihr Polypen das Ding nicht aus dem Weg?«

Einer der Polizisten kam herüber. Sein Uniformmantel war fast vollständig von Schnee bedeckt. »Wenn Sie mal eben mit anfassen wollen, meine Dame, werden wir es vielleicht schaffen.«

Ein paar Leute lachten. Die Frau murrte: »Klugschwätzer.«

Ein Abschleppwagen mit rotierendem gelbem Warnlicht näherte sich auf der anderen Straßenseite langsam dem Hindernis. Der Fahrer fuhr auf der jetzt leeren Gegenfahrbahn. Er hielt an und stieg aus. Als er die Größe und die Lage des Sattelschleppers erkannte, schüttelte er zweifelnd den Kopf.

Joe Patroni drängte sich vor. Er paffte an seiner Zigarre, die im Wind rot aufglühte, und klopfte dem Polizisten nachdrücklich auf die Schulter. »Passen Sie mal auf, mein Junge. Mit einem Abschleppwagen bekommen sie den Brocken nie von der Stelle. Ebensogut könnten Sie eine Schnecke vor . . .«

Der Polizist drehte sich um. »Was ebensogut ist, spielt keine Rolle, Mister; aber hier ist Benzin ausgelaufen, darum machen Sie mal Ihre Zigarre aus.«

Patroni ignorierte die Anweisung, wie er alle Rauchverbote ignorierte. Er deutete mit seiner Zigarre auf den umgekippten Sattelschlepper. »Außerdem, junger Mann, vergeuden Sie die Zeit von allen Leuten hier, meine und Ihre auch, wenn Sie versuchen wollen, den Schrotthaufen da bei Nacht auf die Räder zu kriegen. Den müssen Sie auf die Seite schleppen, damit der Verkehr wieder durchkann, und dazu brauchen Sie noch zwei Abschleppwagen — einen auf dieser Seite hier, der schiebt, und zwei da drüben, die ziehen.« Er ging um den großen Lastzug herum, inspizierte ihn im Licht seiner Lampe von den verschiedensten Stellen. Wie immer, wenn er sich mit einem Problem befaßte, wurde er von der Aufgabe völlig in Anspruch genommen. »Die beiden Schlepper müssen gleichzeitig an drei Punkten ansetzen. Zuerst wird das Triebfahrzeug weggezogen. So geht es am schnellsten. Dadurch werden auch die Anhänger frei. Der andere Abschleppwagen . . .«

»Augenblick mal«, unterbrach der Polizist. Er rief zu den anderen Beamten hinüber. »He, Hank, hier ist einer, der weiß anscheinend, wovon er redet.«

Zehn Minuten später hatte Joe Patroni im Verein mit den Polizisten praktisch die Bergungsarbeit übernommen. Über Funk wurden seinem Vorschlag gemäß zwei weitere Abschleppwagen angefordert. Während noch auf sie gewartet wurde, befestigte der Fahrer des ersten Abschleppwagens auf Patronis Anweisungen Ketten an der Achse des umgestürzten Sattelschleppers. Die Situation ließ bereits eine zweckmäßige Zielstrebigkeit erkennen — ein charakteristisches Merkmal jeder Maßnahme, bei der der energische Chef des Wartungsdienstes der TWA seine Hand im Spiel hatte.

Patroni selbst war inzwischen mehrmals besorgt der Grund durch den Kopf gegangen, warum er in dieser Nacht eigentlich unterwegs war, und daß er schon längst auf dem Flughafen hätte sein müssen. Aber er rechnete sich aus, daß er am schnellsten dorthin käme, wenn er half, die blockierte Straße freizubekommen. Sein eigener Wagen würde ebensowenig weiterkönnen wie die anderen, solange der verunglückte Lastzug nicht von der Fahrbahn heruntergeschleppt worden war. Umzudrehen und es auf einem anderen Weg zu versuchen, war aussichtslos, weil inzwischen die Straße hinter ihm auch durch eine ständig länger werdende Wagenschlange meilenweit, wie ihm die Polizisten versicherten, verstopft war.

Er kehrte zu seinem Wagen zurück, um über Funktelefon anzurufen, das er sich auf Vorschlag seiner Arbeitgeber angeschafft hatte, und für das sie die monatlichen Gebühren übernahmen. Er rief die Wartungsabteilung der Gesellschaft auf dem Flughafen an, um sie über seine Verspätung zu informieren, und erhielt seinerseits die Mitteilung von Mel Bakersfeld, daß es dringend erforderlich sei, die Startbahn Drei-Null zu räumen und einsatzfähig zu machen.

Joe Patroni gab über das Telefon einige Anweisungen durch, war sich aber klar, daß es das Wichtigste sei, selbst so schnell wie möglich zum Flughafen zu kommen.

Als er zum zweitenmal aus dem Buick ausstieg, schneite es immer noch stark. Er wich Schneeverwehungen aus, die sich um die Schlange der wartenden Wagen gebildet hatten, und kehrte in einem mühsamen Zotteltrab zum Schauplatz des Unfalls zurück. Mit Erleichterung stellte er fest, daß inzwischen der erste der beiden zusätzlichen Abschleppwagen eingetroffen war.

5

Der Fahrstuhl, in den Mel Bakersfeld gestiegen war, nachdem er sich von Tanya verabschiedet hatte, brachte ihn in das Kellergeschoß des Flughafengebäudes. Sein Dienstwagen — senfgelb und mit Sprechfunk ausgerüstet — stand an einem reservierten Platz in der Nähe bereit. Mel fuhr durch die Ausfahrt auf eine der Abstell-rampen für Flugzeuge in den Sturm hinaus. Sobald er aus dem Schutz der unterirdischen Garage kam, prallten Wind und wirbelnder Schnee mit ungezügelter Wildheit gegen seine Windschutzscheibe. Die Scheibenwischer fuhren hastig hin und her, konnten aber nur knapp so viel Platz freihalten, daß er nach vorn Sicht hatte. Durch das auf einen schmalen Spalt geöffnete Fenster fuhren ein eisiger Windstoß und Schnee herein. Hastig kurbelte er das Fenster zu. Der Unterschied zwischen der behaglichen Wärme des Flughafengebäudes und den Unbilden der Nacht draußen war überraschend.

Unmittelbar vor ihm waren Maschinen in Verladeposition an der Rampe abgestellt. Zwischen Schneeböen, die entstanden, wenn der Wind um die Ecken der Gebäude fegte, konnte er das beleuchtete Innere verschiedener Flugzeuge erkennen, in denen die Passagiere bereits Platz genommen hatten. Offenkundig waren mehrere Maschinen startbereit und warteten auf Genehmigung vom Kontrollturm, die Motoren anzulassen. Die anhaltende Verzögerung war die Folge davon, daß Startbahn Drei-Null blockiert war. Weiter draußen auf dem Flugfeld nahm er die verschwommenen Umrisse und Positionslichter weiterer Maschinen wahr, die kürzlich angekommen waren und mit laufenden Motoren warteten. Sie befanden sich in einem Wartegebiet, das die Piloten die Strafzelle nannten, und würden weiterrollen, sobald Verladepositionen für sie frei wurden. Zweifellos spielte sich das gleiche vor den sieben anderen Flugsteigen ab, die um das Hauptgebäude herumgruppiert waren.

Das Funksprechgerät in Mels Wagen, das auf die Frequenz der Bodenkontrolle eingestellt war, erwachte knisternd zum Leben.

»Kontrollturm an Eastern siebzehn«, gab ein Kontroller durch: »Sie haben freie Bahn zur Startbahn Zwei-Fünf. Schalten Sie jetzt die Funkfrequenz für Ihre Starterlaubnis ein.«

Ein Knattern statischer Elektrizität. »Eastern siebzehn. Verstanden.«

Eine lautere Stimme verkündete gereizt: »An Bodenkontrolle von Pan Am vierundfünfzig auf äußerem Taxiweg zu Zwei-Fünf.

Vor mir ist eine private Cessna — zweimotorige Schildkröte. Ich stehe auf der Bremse, um sie nicht zu überrollen.«

»Pan Am vierundfünfzig, warten.« Eine ganz kurze Pause, dann wieder die Stimme des Kontrollers: »An Cessna sieben drei metro von Bodenkontrolle. Nächste Abzweigung rechts einbiegen, abwarten und Pan American vorbeilassen.«

Überraschend antwortete eine angenehme Frauenstimme: »An Bodenkontrolle von Cessna sieben drei metro. Ich biege ab. Machen Sie zu, Pan Am, Sie dicker Protz.«

Ein verhaltenes Lachen. Dann: »Danke, mein Schatz. Sie können inzwischen Ihre Lippen nachmalen.«

Die Stimme des Kontrollers fuhr dazwischen: »Turm an alle. Beschränken Sie sich auf dienstliche Durchsagen.«

Der Kontroller war gereizt, wie Mel erkannte, trotz der geübten einstudierten Ruhe. Aber wer wäre das an diesem Abend, bei diesem Wetter und diesem Betrieb nicht? Mit Unbehagen dachte er an seinen Bruder Keith, der unter dem unablässigen Druck der Kontrolle der aus dem Westen eintreffenden Maschinen stand.

Der Austausch zwischen Turm und Flugzeugen ging weiter, ohne Pause zwischen den einzelnen Durchsagen. Als eine Durchsage beendet war, drückte Mel auf den Schaltknopf seines Mikrofons. »An Bodenkontrolle von Mobil eins. Ich bin bei Eingang fünfundsechzig auf dem Weg nach Drei-Null zur Position der festgefahrenen 707.«

Er wartete, während der Kontroller zwei weiteren gerade gelandeten Maschinen Anweisung für die Taxiwege gab. Dann: »Turm an Mobil eins. Verstanden. Folgen Sie DC-9 der Air Canada, die vor Ihnen von der Rampe rollt. Halten Sie knapp vor Rollbahn Zwei-Eins.«

Mel bestätigte. Er konnte die Maschine der Air Canada sehen, die sich in diesem Augenblick von einer Sperre des Hauptgebäudes löste; ihr hohes anmutiges Leitwerk erschien als kantige Silhouette.

Solange er noch im Gebiet der Verladerampen war, fuhr er vorsichtig auf das Flugfeld hinaus, hielt Ausschau nach Rampenläusen — wie auf dem Flughafen die Fülle der Fahrzeuge, die die Flugzeuge auf dem Boden umschwärmten, genannt wurde. Neben den üblichen waren heute abend auch mehrere sogenannte Kirschpflük-ker unterwegs — Lastwagen mit hoch ausfahrbaren, beweglichen

Plattformen auf steuerbaren Stahlträgern. Auf den Plattformen bemühten sich Leute vom Bodenpersonal, die Tragflächen der Flugzeuge vom Schnee zu befreien und besprühten sie mit Glycol, um die Eisbildung zu verhindern. Die Leute selbst auf ihren ungeschützten Plätzen waren von Schnee bedeckt.

Mel bremste plötzlich, um einem schnellfahrenden Honigwagen auszuweichen, der aus dem Rampenbereich kam, um seine übelriechende Ladung von vierhundert Gallonen fortzuschaffen, die er aus den Toiletten der Flugzeuge herausgepumpt hatte. Die Ladung wurde in einen Reißwolf in einem besonderen Gebäude des Flughafens, um das alle einen möglichst weiten Bogen machten, geleert und dann in die städtische Kanalisation gepumpt. Meistens ging die Beseitigung glatt vonstatten, außer wenn Passagiere Verluste anmeldeten: Gebisse, Handtaschen, Brieftaschen, sogar Schuhe, die ihnen versehentlich in die Toiletten der Flugzeuge gefallen waren. Das geschah jeden Tag ein- oder zweimal. Dann mußten die Ladungen gesiebt werden, und jeder Beteiligte hoffte, daß der vermißte Gegenstand schnell gefunden würde.

Mel wußte, daß auch ohne besondere Zwischenfälle das sanitäre Personal des Flughafens eine arbeitsreiche Nacht vor sich hatte. Aus Erfahrung war der Leitung des Flughafens bekannt, daß die Inanspruchnahme der Toilettenanlagen auf dem Boden und in der Luft bei sich verschlechterndem Wetter stieg. Mel fragte sich, wie viele Leute wohl wissen mochten, daß die Aufsicht über die sanitären Anlagen des Flugplatzes stündlich Wettervoraussagen erhielt und dementsprechend ihre Vorkehrungen traf — für zusätzliche Reinigung und verstärkten Materialbedarf.

Die Maschine der Air Canada, der er folgen sollte, hatte das Hauptgebäude zurückgelassen und erhöhte seine Rollgeschwindigkeit. Mel gab Gas, um den Anschluß zu halten. Es war beruhigend, das Rücklicht der DC-9 als Richtpunkt vor sich zu haben, da die Scheibenwischer mit der Fülle des Schnees kaum fertig wurden. Im Rückspiegel konnte er die Umrisse einer weiteren größeren Düsenmaschine ausmachen, die ihm jetzt folgte. Der Bodenkontroller warnte über Funk: »Air France vier null vier, zwischen Ihnen und Air Canada befindet sich ein Bodenfahrzeug des Flughafens.«

Mel brauchte eine viertel Stunde, bis er die Kreuzung erreichte, an der die Startbahn Drei-Null von der 707 der Aereo Mexican blockiert wurde. Vorher hatte er sich von dem Strom der anrollenden Flugzeuge getrennt, die zum Start auf beiden anderen offenen Startbahnen bestimmt waren.

Er hielt den Wagen an und stieg aus. In der Dunkelheit und Einsamkeit hier draußen erschien der Sturm noch eisiger und heftiger als in der Nähe des Hauptgebäudes. Der Wind heulte über die leere Startbahn. Wenn heute nacht Wölfe auftauchen, dachte Mel, wäre das nicht überraschend.

Eine schattenhafte Gestalt rief ihn an. »Sind Sie es, Mr. Patroni?«

»Nein, aber er ist auf dem Weg hierher.« Mel stellte fest, daß er schreien mußte, um sich bei dem Wind verständlich zu machen.

Der andere kam näher. Er war in einen Anorak gehüllt, das Gesicht blau vor Kälte. »Wir sind wirklich froh, wenn er kommt, obwohl ich mir auch nicht vorstellen kann, was er noch unternehmen will. Wir haben alles Erdenkliche versucht, um das Mistding frei zu kriegen.« Er deutete auf das Flugzeug, das verschwommen hinter ihm aufragte. »Die sitzt gründlich fest.«

Mel gab sich zu erkennen und fragte dann: »Wer sind Sie?«

»Mein Name ist Ingram, Sir. Ich bin der Leiter des Wartungsdienstes der Aereo Mexican. Im Augenblick wäre ich aber froh, wenn ich einen anderen Job hätte.«

Während die beiden Männer sich unterhielten, gingen sie näher an die festgefahrene Boeing 707 heran und suchten instinktiv Schutz unter den Tragflächen und dem Rumpf über ihnen. Unter dem Bauch der großen Düsenmaschine blinkten rhythmisch rote Warnleuchten. In ihrem Schein erkannte Mel den Schlamm unter dem Schnee, in den das Fahrwerk der Maschine tief eingesunken war. Auf der Startbahn und dem angrenzenden Taxistreifen stand, eng zusammengedrängt wie besorgte Verwandte, eine Ansammlung von Lastwagen und Versorgungsfahrzeugen, darunter ein Tankwagen, Gepäckkarren, ein Postwagen, zwei Busse für die Arbeitskräfte und ein lautdröhnendes Generatorfahrzeug.

Mel klappte den Mantelkragen hoch und schloß ihn fest. »Wir brauchen dringend diese Startbahn — noch heute abend. Was haben Sie bisher unternommen?«

In den vergangenen zwei Stunden, berichtete Ingram, Waren vom Hauptgebäude altmodische Einstiegsleitern herbeigeschafft, von Menschenhand an die Maschine herangebracht und die Passagiere über sie aus dem Flugzeug gebracht worden. Es war eine langwierige, schwierige Aufgabe, weil die Stufen ebenso schnell wieder vereisten, wie sie vom Eis befreit worden waren. Eine ältere Frau war von zwei Mechanikern die Stufen heruntergetragen worden. Babys waren in Decken gehüllt von Hand zu Hand weitergegeben worden. Inzwischen waren alle Passagiere fortgebracht worden — in Bussen, zusammen mit den Stewardessen und dem Zweiten Offizier. Der Kapitän und der Erste Offizier waren geblieben.

»Haben Sie versucht, die Maschine fortzubewegen, seit die Passagiere weg sind?«

Ingram nickte zustimmend. »Haben die Motoren zweimal wieder angelassen. Der Kapitän hat soviel Dampf wie möglich gegeben. Aber sie kam nicht frei. Sie scheint nur noch tiefer einzusinken.«

»Und was geschieht jetzt?«

»Wir erleichtern sie noch weiter und hoffen, daß das hilft.« Der größte Teil des Treibstoffs, fügte Ingram hinzu, war von Tankwagen übernommen worden — eine schwere Ladung, da die Maschine für den Start vollgetankt hatte. Gepäck- und Frachtraum im Rumpf waren ausgeräumt worden, ein Fahrzeug der Post übernahm die Postsäcke wieder.

Mel nickte. Die Post mußte auf jeden Fall ausgeladen werden, das war ihm bekannt. Das Postamt auf dem Flughafen überwachte die Flugpläne der Gesellschaften bis auf die Minute. Dort wußte man genau, wo die Postsäcke jeweils waren, und sobald Verzögerungen eintraten, wurde die Post von Postbeamten sofort von einer Linie auf eine andere transferiert. Die Post der festgefahrenen Düsenmaschine war jedenfalls besser daran als die Passagiere. In spätestens einer halben Stunde befand sie sich an Bord einer anderen Maschine, wenn notwendig auf einer anderen Route.

»Haben Sie genug Hilfe?« fragte Mel.

»Ja, Sir — für alles, was wir im Moment tun können. Ich habe den größten Teil unseres Personals von der Aereo Mexican hier — ein Dutzend Leute. Im Augenblick wärmt sich die Hälfte in einem der Busse auf. Vielleicht will Patroni noch mehr Leute. Es hängt davon ab, was er beabsichtigt.« Ingram drehte sich um und betrachtete düster die stumme Maschine. »Aber wenn Sie mich fragen, ich fürchte, es ist eine langwierige Arbeit, für die wir schwere Kräne, Hebegeräte und aufpumpbare Säcke brauchen, um die Tragflächen anzuheben. Für das meiste müssen wir warten, bis es wieder hell ist. Die Geschichte kann den größten Teil des morgigen Tages in Anspruch nehmen.«

Mel erwiderte scharf: »Das ist unmöglich. Wir können nicht einmal die Nacht opfern. Die Startbahn muß geräumt werden . . .« Er brach unvermittelt ab, er schauderte mit einer Plötzlichkeit, die ihn erschreckte. Diese Intensität kam unerwartet, beinahe gespenstisch.

Mel schauderte erneut. Was war das? Er beruhigte sich selbst: das Wetter — der scharfe, beißende Wind über dem Flugfeld, der den Schnee vor sich herwirbelte. Trotzdem war es seltsam, denn seit er aus dem Wagen ausgestiegen war, hatte sein Körper sich doch an die Kälte gewöhnt.

Von der anderen Seite des Flugfeldes konnte er trotz des Windes das Dröhnen der Düsenmotoren hören. Sie steigerten sich zu einem Crescendo und verklangen dann, nachdem die Maschine vom Boden abgehoben hatte. Wieder folgte eine, dann noch eine. Dort drüben war alles in Ordnung. Und hier?

Es stimmte doch, oder nicht? Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er eine Vorahnung gehabt. Ein Hauch, nicht mehr; eine Intuition; die Ahnung von drohender größerer Gefahr. Selbstverständlich sollte er das alles ignorieren: Impulse, Vorahnungen hatten dort keinen Platz, wo nüchtern und sachlich gearbeitet wurde. Hatte er nicht schon einmal, vor langer Zeit, das gleiche Gefühl gehabt — die Überzeugung, daß sich Ereignisse zusammenbrauten und einem katastrophalen, unvorstellbaren Ende zustrebten. Mel erinnerte sich an das Ende, das abzuwenden er völlig machtlos gewesen war.

Er sah wieder zu der 707 hinauf. Sie war jetzt schneebedeckt, ihre Umrisse verschwammen. Nüchterner Menschenverstand sagte ihm: Von der Sperrung der Startbahn und den Ungelegenheiten durch die Starts über Meadowood abgesehen, war die Situation harmlos. Es hatte ein Mißgeschick gegeben, ohne Verletzte, anscheinend ohne Schaden. Sonst war nichts geschehen.

»Gehen wir zu meinem Wagen«, forderte er den Mann der Aereo Mexican auf. »Wir setzen uns ans Funkgerät und stellen fest, was vorgeht.«

Unterwegs fiel ihm ein, daß Cindy ihn in Kürze ungeduldig in der Stadt erwarten würde.

Mel hatte die Wagenheizung nicht abgestellt, und in dem Wagen war es behaglich warm. Ingram grunzte angenehm überrascht. Er öffnete seinen Anorak und beugte sich vor, um seine Hände in den warmen Luftstrom zu halten. Mel schaltete sein Funksprechgerät auf die Frequenz der Wartungsabteilung des Flughafens.

»Mobil eins an Schneekontrolle. Danny, ich bin bei der blockierten Kreuzung der Drei-Null. Rufen Sie bei TWA an, und fragen Sie nach Joe Patroni. Wo er steckt. Wann er kommt. Kommen.«

Danny Farrows Stimme knisterte durch den Lautsprecher am In-strumentenbrett. »Schneekontrolle an Mobil eins. Verstanden. Außerdem hat Ihre Frau angerufen, Mel.«

Mel drückte auf den Mikrofonknopf. »Hat sie eine Nummer hinterlassen?«

»Allerdings.«

»Mobil eins an Schneekontrolle. Rufen Sie sie bitte an, Danny, sagen Sie ihr, es täte mir leid, aber ich würde mich etwas verspäten. Fragen Sie aber zunächst mal nach Patroni.«

»Verstanden. Melde mich wieder.« Das Funkgerät verstummte.

Mel griff unter seinen Mantel nach seinen Zigaretten. Er hielt die Packung Ingram hin.

»Danke.«

Sie zündeten sich die Zigaretten an und sahen dem Scheibenwischer zu, der hin- und herfuhr.

Ingram deutete mit dem Kopf auf das beleuchtete Cockpit des Düsenflugzeugs der Aereo Mexican. »Das dumme Schwein von Kapitän da oben heult wahrscheinlich in seinen Sombrero. Das nächste Mal wird er auf die blauen Taxilichter aufpassen, als wären es Altarkerzen.«

»Besteht Ihr Bodenpersonal aus Mexikanern oder Amerikanern?« fragte Mel.

»Wir sind alle Amerikaner. Nur solche Dummköpfe wie wir arbeiten bei diesem miserablen Wetter. Wissen Sie, wohin die Maschine bestimmt war?«

Mel schüttelte den Kopf.

»Acapulco. Heute nachmittag noch hätte ich gern für ein halbes Jahr auf sonst was verzichtet, wenn ich in ihr hätte sitzen können.« Der Vormann lachte verhalten vor sich hin. »Stellen Sie sich doch mal vor ... Sie steigen ein, Sie machen es sich bequem, und dann müssen Sie so wieder raus. Sie hätten hören sollen, wie die Passagiere fluchten. Besonders die Frauen. Heute abend habe ich ein paar neue Ausdrücke gelernt.«

Das Funkgerät erwachte wieder zum Leben.

»Schneekontrolle an Mobil eins«, sagte Danny Farrow. »Ich habe mit TWA wegen Joe Patroni gesprochen. Sie haben Nachricht von ihm. Er wurde durch eine Verkehrsstauung aufgehalten. Er braucht mindestens noch eine Stunde. Er hat eine Nachricht durchgegeben. Haben Sie alles verstanden?«

»Alles verstanden«, bestätigte Mel. »Wie lautet die Nachricht?«

»Patroni warnt davor, die Maschine noch tiefer in den Schlamm zu manövrieren, als sie schon ist. Er sagt, das könne leicht passieren. Wenn also die Leute von der Aereo Mexican sich nicht ganz sicher sind, daß sie das Richtige machen, sollen sie ihre Finger davon lassen, bis Joe da ist.«

Mel sah Ingram von der Seite an. »Was haben Sie und Ihre Leute dazu zu sagen?«

Ingram nickte. »Patroni kann von uns aus alles versuchen, was er will. Wir warten, bis er da ist.«

»Alles verstanden?« fragte Danny Farrow. »Alles klar?«

Mel drückte auf den Schaltknopf am Mikrofon. »Alles klar.«

»Gut. Jetzt noch was. TWA holt sich noch zusätzliche Kräfte Vom Bodenpersonal zur Hilfe heran. Und Ihre Frau hat noch einmal angerufen, Mel. Ich habe Ihre Nachricht an sie weitergegeben.« Mel spürte, daß Danny zögerte, weil er wußte, daß noch ander ihre Funksprechgeräte auf die Frequenz der Flughafenwartung eingestellt hatten und zuhörten.

»Sie war wohl nicht bei bester Laune?« fragte Mel.

»Kann man wohl sagen.« Wieder eine sekundenlange Stille. »Am besten rufen Sie bald mal bei ihr an.«

Ich könnte darauf wetten, dachte Mel, daß Cindy zu Danny noch schnippischer gewesen ist als sonst, aber aus Loyalität sagt er nichts darüber.

Mit der 707 der Aereo Mexican konnte offensichtlich nichts weiter unternommen werden, bis Joe Patroni eintraf. Patronis Hinweis, daß die Maschine noch tiefer in den Schlamm manövriert werden könnte, war einleuchtend.

Ingram knöpfte seinen Mantel wieder zu und streifte seine dicken Fausthandschuhe über. »Danke für das Aufwärmen.« Er kletterte aus dem Wagen in den Sturm und Schnee hinaus und warf die Tür schnell hinter sich zu. Gleich darauf konnte Mel ihn durch die hohen Schneewehen auf die Fahrzeuge auf der Taxibahn zuwaten sehen.

Über Sprechfunk sprach die Schneekontrolle jetzt mit dem Schneeräumungskommando. Mel wartete, bis das Gespräch beendet war, ehe er wieder auf den Schaltknopf drückte. »Hier Mobil eins, Danny. Ich fahre jetzt zur Conga-Kette.«.

Er fuhr langsam an, suchte sich vorsichtig seinen Weg durch den wehenden Schnee und die Dunkelheit, in der ihm nur die in weiten Abständen stehende Befeuerung der Startbahn Anhaltspunkte gab.

Die Conga-Kette, gleichzeitig Speerspitze und Hauptstreitmacht des Systems zur Schneeräumung auf dem Flughafen, befand sich im Augenblick auf Startbahn Eins-Sieben links. In wenigen Minuten würde er wissen, dachte Mel grimmig, ob der kritisierende Bericht von Kapitän Demerests Schneeausschuß der Fluggesellschaften von der Wahrheit oder nur von der Bosheit diktiert worden war.

6

Die Person, an die Mel gerade dachte — Kapitän Vernon Demerest von der Trans America —, befand sich im Augenblick etwa drei Meilen vom Flughafen entfernt. Er fuhr in seinem Mercedes 230 SL Coupe, und im Vergleich mit der Fahrt, die er von seinem Haus zum Flughafen hinter sich hatte, machten ihm die kürzlich vom Schnee geräumten Straßen in dieser Gegend wenig Schwierigkeiten. Immer noch fiel dichter, vom Wind gepeitschter Schnee, aber die frische Decke auf dem Boden war noch nicht tief genug, um das Fahren zu erschweren.

Demerests Ziel war eine Gruppe dreistöckiger Apartmenthäuser, die allgemein »Stewardess Row« hießen. Hier hielten sich viele der am Lincoln International stationierten Stewardessen aller Fluggesellschaften Apartments. In jedes teilten sich gewöhnlich zwei oder drei der Mädchen, und die Eingeweihten hatten auch eine Bezeichnung für die einzelnen Wohngemeinschaften. Sie hießen Stewardess-Nester.

Diese Nester waren häufig Schauplatz lebhafter Partys während der Freizeit des Flugpersonals und manchmal Ausgangspunkt der Liebesaffären, die sich mit voraussagbarer Regelmäßigkeit zwischen den Stewardessen und den männlichen Besatzungsmitgliedern an-sponnen.

Im ganzen gesehen ging es in den Stewardess-Nestern aber nicht mehr noch weniger ungezügelt zu als in anderen Apartments, die alleinstehende Mädchen bewohnten. Der Unterschied bestand darin, daß sich das ungehemmte amoralische Treiben vorwiegend auf das Personal der Fluggesellschaften beschränkte.

Das hatte seine guten Gründe. Sowohl die Stewardessen als auch die männlichen Besatzungsmitglieder, mit denen sie zusammentrafen — Kapitäne, Erste und Zweite Offiziere — waren ausnahmslos Leute von Format. Alle hatten ihre Stellungen, um die viele andere sie beneideten, durch einen harten, zermürbenden Prozeß der Auslese erworben, bei dem die weniger Begabten völlig ausgeschaltet wurden. Die verhältnismäßig wenigen, die dabei übrig blieben, waren die klügsten und die besten. Daraus ergab sich eine Auslese intelligenter, aufgeklärter Persönlichkeiten, voller Lebenslust und mit der Gabe, ihresgleichen anzuerkennen und zu schätzen.

Vernon Demerest hatte während seiner Laufbahn viele Stewardessen ebenso schätzen gelernt wie sie ihn. Tatsächlich hatte er eine Reihe von Affären mit schönen, intelligenten jungen Frauen hinter sich, die mancher Monarch und manches männliche Filmidol begehrt haben mochten, ohne sie je zu gewinnen. Die Stewardessen, die Demerest und seine Kollegen kannten und mit denen sie gewöhnlich schliefen, waren keine Huren, nicht einmal leichtfertig. Sie waren lebensfrohe, aufgeschlossene und sexuell ungehemmte junge Frauen, die Qualität schätzten und akzeptierten, wenn sie ihnen so selbstverständlich und ohne Schwierigkeiten geboten wurde.

Eine, die das Gebotene — um es so auszudrücken — von Vernon Demerest angenommen hatte und geneigt schien, es weiterhin zu tun, war die lebhafte, attraktive, in England geborene Gwen Meighen. Sie war die Tochter eines Farmers, die vor zehn Jahren als Achtzehnjährige ihre Heimat verlassen hatte und in die Vereinig ten Staaten gekommen war. Ehe sie bei der Trans America eintrat, hatte sie in Chicago kurz als Modell gearbeitet. Vielleicht auf Grund ihres bewegten Lebens verband sie eine ungehemmte Sinnlichkeit im Bett, mit Eleganz und Lebensstil im Alltag.

Gwen Meighens Apartment war jetzt das Ziel von Kapitän Demerest. Später am Abend würden sie gemeinsam mit Trans Americas Flug Zwei die Reise nach Rom antreten. In der Pilotenkanzel würde Kapitän Demerest den Befehl haben, in der Passagierkabine hinten würde Gwen Meighen Erste Stewardess sein. Am Ende der Reise in Rom erwartete die Besatzung ein dreitägiges »Layover«, während der eine andere Besatzung — die inzwischen zu ihrer eigenen Ruhepause bereits in Italien war — die Maschine zum International Lincoln Airport zurückflog.

Der Ausdruck »Layover« war schon vor langer Zeit von den Fluggesellschaften übernommen worden und wurde ohne Wimpernzucken gebraucht. Vielleicht hatte der Betreffende, der den Ausdruck geprägt hatte, einen gewissen Humor besessen. Jedenfalls gaben die Flugbesatzungen ihm häufig neben der offiziellen Bedeutung auch eine praktische Nutzanwendung. Demerest und Gwen beabsichtigten ihm eine persönliche Bedeutung zu verleihen. Nach der Ankunft in Rom wollten sie sofort zu einem gemeinsamen »Layover« von achtundvierzig Stunden weiter nach Neapel. Das war eine friedliche, idyllische Aussicht, und bei dem Gedanken daran lächelte Vernon Demerest erwartungsvoll. Er näherte sich jetzt der Stewardess Row, und als er auch noch daran dachte, wie gut andere Dinge an diesem Abend gelaufen waren, vertiefte sich sein Lächeln.

Er war frühzeitig auf dem Flughafen eingetroffen, nachdem er seine Frau Sarah verlassen hatte, die ihm — geduldig wie immer — eine angenehme Reise wünschte. In jüngeren Jahren hätte sich Sarah vielleicht während der Abwesenheit ihres Ehemannes mit Stik-ken oder Stricken beschäftigt, aber jetzt würde sie, wie er genau wußte, sich in ihrem Damenklub mit Bridge und Malen beschäftigen, die zum Hauptinhalt ihres Lebens geworden waren.

Sarah Demerests Geduld und ihre Langweiligkeit, die selbstverständlich mit ihr einherging, waren Eigenschaften, mit denen ihr Mann sich abgefunden hatte und die er auf eine perverse Weise an ihr schätzte. Zwischen seinen Flügen und seinen reizvolleren Affären mit anderen Frauen dachte er an seinen Aufenthalt zu Hause als »zur Inspektion in den Hangar gehen«, wie er Vertrauten gegenüber es manchmal formulierte. Seine Ehe hatte eine weitere Annehmlichkeit. Solange sie bestand, konnten die Frauen, zu denen er Liebesaffären unterhielt, so gefühlvoll und anspruchsvoll sein, wie sie wollten, niemals konnten sie von ihm erwarten, die höchste Forderung nach einer Ehe zu erfüllen. Auf diese Weise besaß er einen ständigen Schutz gegen seine eigenen, in der Glut der Leidenschaft übereilten Handlungen. Was seine sexuellen Beziehungen zu Sarah betraf, so genügte er gelegentlich immer noch seinen Pflichten, wie man eben mit einem alten Hund auch noch Apportieren spielt. Sarah reagierte pflichtschuldig, mit den üblichen Körperzuckungen und beschleunigtem Atmen, obwohl er den Argwohn hegte, beides entstamme eher der Gewohnheit als der Leidenschaft, und daß sie nicht sonderlich betroffen sein würde, wenn sie den Geschlechtsverkehr völlig einstellten. Er war auch überzeugt, daß Sarah seine Untreue vermutete, wenn auch vielleicht nicht in Kenntnis der Tatsachen, dann doch instinktiv. Aber in für sie typischer Weise zog sie es vor, nichts zu wissen, eine Haltung, der Vernon Demerest nur zu gern Vorschub leistete.

Und mit noch etwas anderem war er an diesem Abend zufrieden: Dem Bericht der Schneekommission der Fluggesellschaften, in dem er einen verbalen Tritt in den Unterleib ausgeteilt hatte, der auf seinen hochnäsigen Schwager Mel Bakersfeld zielte.

Der kritische Bericht war ausschließlich auf Demerests Initiative zurückzuführen. Die Vertreter der beiden anderen Fluggesellschaften in dem Ausschuß hatten zunächst den Standpunkt vertreten, die Leitung des Flughafens gebe sich die größte Mühe und leiste unter ungewöhnlichen Umständen ihr Bestes. Kapitän Demerest widersprach dem. Schließlich hatten die anderen sich ihm angeschlossen und zugestimmt, daß Demerest persönlich den Bericht aufsetze, den er so beißend abfaßte, wie er nur konnte. Er hatte sich nicht um Genauigkeit oder andere Geringfügigkeiten gekümmert; wer sollte bei so viel Schnee schon wirklich etwas Zuverlässiges sagen können? Er hatte jedoch dafür gesorgt, daß der an einen großen Kreis verbreitete Bericht für Mel Bakersfeld ein Maximum an Unannehmlichkeiten und Ärger mit sich brachte. Der Bericht wurde gerade vervielfältigt, um den regionalen Vizepräsidenten der Fluggesellschaften sowohl als auch an deren Präsidenten in New York oder andernorts verschickt zu werden. Da Kapitän Demerest wußte, es würde jeden freuen, einen Sündenbock für die eingetretenen Verzögerungen zu finden, verließ er sich darauf, daß gleich nach dem Eingang Telefone und Fernschreiber zu tun bekämen.

Vergeltung ist geübt worden, dachte Vernon Demerest befriedigt, eine geringfügige zwar, aber eine verdiente. Jetzt würde dieser hinkende Viertelkrüppel von Schwager es sich wohl zweimal überlegen, ehe er Kapitän Demerest und die Air Line Pilots Association herausforderte, wie Mel Bakersfeld es angeblich vor zwei Wochen in aller Öffentlichkeit getan hatte.

Kapitän Demerest steuerte den Mercedes auf einen Parkplatz des Apartmentblocks. Er brachte den Wagen langsam zum Stehen und stieg aus. Er war etwas zu früh gekommen, wie er bemerkte, eine Viertelstunde früher, als er mit Gwen vereinbart hatte, um sie abzuholen und zum Flughafen hinauszubringen. Er entschloß sich, trotzdem zu ihr hinaufzugehen.

Als er das Haus mit dem Schlüssel, den Gwen ihm gegeben hatte, betrat, summte er leise vor sich hin, lächelte dann, als er bemerkte, daß es O sole mio war. Nun ja, warum nicht? Es war angebracht — Neapel — eine warme Nacht statt des Schnees, der Ausblick auf die Bucht im Sternenlicht, leise Mandolinenmusik, Chianti zum Abendessen und Gwen Meighen neben sich — all das lag nur vierundzwanzig Stunden entfernt. Ja, wirklich! — O sole mio . . . Er summte die Melodie weiter.

Während er im Fahrstuhl hinauffuhr, fiel ihm noch etwas anderes Angenehmes ein. Der Flug nach Rom würde mühelos werden. Zwar hatte Kapitän Demerest heute nacht das Kommando bei Flug Zwei — The Golden Argosy —, aber er würde nur wenig von der Mühe auf sich nehmen, die mit dem Flug verbunden war. Der Grund dafür war, daß er ihn als Check-Pilot mitmachte. Ein anderer Kapitän mit vier Streifen, Anson Harris, fast mit dem gleichen Dienstalter wie Demerest — war mit dem Flug beauftragt und würde den linken Sitz des kommandierenden Piloten einnehmen. Demerest würde rechts sitzen, im allgemeinen der Platz des Ersten Offiziers, und von dort Kapitän Harris beobachten und über seine Leistung berichten.

Diese Überprüfung war angesetzt worden, weil die Versetzung von Kapitän Harris vom Inlandsdienst der Trans America zum internationalen Dienst vorgesehen war. Bevor er jedoch als vollgültiger Pilot im internationalen Luftverkehr fliegen durfte, mußte er zwei Flüge auf einer Überseeroute mit einem regulären Linienkapitän, der auch eine Fluglehrerprüfung bestanden hatte, absolvieren. Vernon Demerest besaß die erforderliche Qualifikation. Nach den beiden Flügen, von denen der heutige der zweite sein würde, mußte sich Kapitän Harris einer Abschlußprüfung durch einen dienstälteren vorgesetzten Kapitän unterziehen, ehe er für den internationalen Dienst akzeptiert wurde.

Zu diesen Prüfungen gehörte, wie auch zu den regelmäßigen, sechsmonatlichen Prüfungsflügen, denen sich alle Piloten aller Fluggesellschaften unterziehen mußten, eine scharfe Überprüfung der Fähigkeiten und des Verhaltens während des Flugs. Die Prüfungen fanden bei regulären, planmäßigen Flügen statt, und der einzige Hinweis, den die Passagiere darauf erhielten, bestand in der Tatsache, daß bei solchen Flügen vorn in der Pilotenkanzel zwei Kapitäne mit vier Streifen anwesend waren.

Trotz der Tatsache, daß die Kapitäne sich dabei gegenseitig prüften, waren diese Tests, sowohl die regelmäßigen als auch die besonderen, im allgemeinen ernste, anstrengende Proben des Könnens. Die Piloten wollten es nicht anders haben. Zuviel stand auf dem Spiel — die Sicherheit der Öffentlichkeit und der Leistungsstandard der Piloten —, um gegenseitig nachsichtig zu sein oder Schwächen zu übersehen. Ein Kapitän, der überprüft wurde, wußte, daß er die geforderten Nonnen in jeder Hinsicht erfüllen mußte. Falls das nicht geschah, war automatisch ein tadelnder Bericht die Folge, der, falls es ernst genug war, eine noch schärfere Prüfung durch den Chefpiloten der Gesellschaft nach sich zog, bei der es um die Stellung des Prüflings ging.

Doch wenn die Anforderungen an die Leistungen auch nicht verringert wurden, behandelten die prüfenden Piloten ihre erfahrenen Kollegen stets mit untadeliger Höflichkeit. Mit Ausnahme von Ver-non Demerest.

Demerest behandelte jeden Piloten, der ihm zur Prüfung zugeteilt wurde, ob er nun dienstälter oder jünger als er selbst war, in genau der gleichen Weise: wie einen aufsässigen Schuljungen, der zum Direktor gerufen worden war, um sich zu rechtfertigen.

Darüber hinaus gab sich Demerest in der Rolle des Schuldirektors dienstlich, anmaßend, herablassend und streng. Er machte keinen Hehl aus seiner Überzeugung, daß die Fähigkeiten keines Piloten seinen eigenen überlegen waren. Kollegen, die sich dieser Behandlung ausgesetzt sahen, tobten innerlich, aber sie hatten keine andere Wahl, als stillzusitzen und es hinzunehmen. Infolgedessen schworen sie sich gegenseitig, daß sie, wenn Demerest an die Reihe kam, ihn des gemeinsten und härtesten Prüfungsflugs unterziehen würden, den er je erlebt hatte. Das taten sie auch regelmäßig, mit dem einzigen, immer gleichbleibenden Ergebnis: Vernon Demerest wartete mit einer makellosen Leistung auf, an der nichts ausgesetzt werden konnte.

In der für Demerest charakteristischen Weise hatte er dem Prüfungsflug am Nachmittag einen Telefonanruf bei Kapitän Anson Harris vorausgeschickt. »Wir werden heute abend schlechte Straßenverhältnisse haben«, begann Demerest ohne weitere Vorrede. »Ich lege Wert darauf, daß meine Besatzung pünktlich ist. Deshalb rege ich an, daß Sie sich reichlich Zeit nehmen, um zum Flughafen zu kommen.« Anson Harris, der in zweiundzwanzig Dienstjahren bei der Trans America nie zu einer Beanstandung Anlaß gegeben hatte und zu keinem einzigen Flug verspätet zum Flughafen gekommen war, war so empört, daß er fast erstickte. Zum Glück hängte Demerest den Hörer ein, bevor er nur ein Wort herausbrachte.

Immer noch kochend, aber um sicherzugehen, daß Demerest ihm nichts anhaben konnte, war Kapitän Harris fast drei Stunden vor der Abflugzeit, statt der üblichen einen Stunde, auf dem Flughafen eingetroffen. Kapitän Demerest, von seinem Erfolg beim Schneekomitee der Fluggesellschaften in bester Laune, war Harris in dem Cloud Captain's Coffee Shop begegnet. Demerest trug eine Tweedjacke und eine Flanellhose. Er bewahrte eine Reserveuniform auf dem Flughafen auf und beabsichtigte, sich später umzuziehen, Kapitän Harris, ein ergrauter, bewährter Veteran, den viele jüngere Piloten mit »Sir« anredeten, trug die Pilotenuniform der Trans America.

»Hallo, Anson.« Vernon Demerest ließ sich auf dem Platz an der Theke neben Harris nieder. »Wie ich sehe, sind Sie meinem guten Rat gefolgt.«

Kapitän Harris faßte den Henkel seiner Kaffeetasse etwas fester, antwortete aber nur: »Guten Abend, Vern.«

»Wir wollen mit dem Briefing für den Flug zwanzig Minuten früher als sonst anfangen«, sagte Demerest. »Ich möchte Ihre Flughandbücher überprüfen.«

Gott sei Dank, dachte Harris. Seine Frau hatte seine Flughandbücher erst gestern durchgesehen und die neuesten Ergänzungen eingefügt. Aber es war wohl besser, wenn er noch einmal in seinem Postfach im Dienstzimmer nachsah. Dieser Schuft brachte es fertig, ihm einen Fehler anzukreiden, weil er eine Ergänzung noch nicht aufgenommen hatte, die erst an diesem Nachmittag herausgegeben worden war. Um seine Hände zu beschäftigen, die ihm juckten, stopfte Kapitän Harris seine Pfeife und zündete sie an. Er merkte, daß Vernon Demerest ihn dabei kritisch musterte.

»Sie tragen ein vorschriftswidriges Hemd.«

Einen Augenblick lang konnte Kapitän Harris nicht glauben, daß sein Kollege das ernst meinte. Als er aber erkannte, daß es doch der Fall war, lief sein Gesicht dunkelrot an.

Dienstlich vorgeschriebene Hemden waren ein wunder Punkt für die Piloten der Trans America, so gut wie für die Piloten" anderer Gesellschaften. Sie konnten nur durch die Gesellschaft bezogen werden, kosteten neun Dollar das Stück, saßen oft schlecht und waren aus fragwürdigem Material. Zwar widersprach es den Vorschriften, aber man konnte sich selbst um mehrere Dollar billiger ein viel besseres Hemd kaufen, dessen äußere Unterschiede kaum zu bemerken waren. Die meisten Piloten kauften sich vorschriftswidrige Hemden und trugen sie. Auch Vernon Demerest tat das. Bei mehreren Gelegenheiten hatte Anson Harris Demerest gering-schützig über die Hemden der Gesellschaft sprechen und auf die überlegene Qualität seiner eigenen hinweisen hören.

Kapitän Demerest winkte der Kellnerin nach Kaffee und beruhigte Harris dann: »Es spielt jetzt keine Rolle. Ich werde nicht berichten, daß Sie hier ein unvorschriftsmäßiges Hemd getragen haben, solange Sie sich umziehen, ehe Sie sich zu meinem Flug melden.«

Halte an dich!sagte Anson Harris zu sich selbst. Lieber Gott im Himmel, gib mir die Kraft nicht herauszuplatzen, denn das ist es wahrscheinlich, was der gemeine Schweinehund will. Aber warum? Warum?

Also gut! Also gut, beschloß er, und wenn es eine Demütigung ist, ich werde dieses vorschriftswidrige Hemd mit einem den Vorschriften entsprechenden tauschen. Er würde Demerest nicht die Genugtuung gönnen, ihm bei der Überprüfung auch nur einen einzigen winzigen Minuspunkt nachzuweisen. Es würde schwer sein, sich heute abend noch ein Hemd der Gesellschaft zu beschaffen. Wahrscheinlich mußte er sich eins leihen — sein Hemd mit einem anderen Kapitän oder Ersten Offizier tauschen. Wenn er ihnen sagte, warum, würden sie ihm kaum glauben. Er konnte es selbst kaum glauben.

Aber wenn der nächste Prüfungsflug von Demerest kam — der nächste und von diesem Augenblick an alle weiteren —, er sollte sich vorsehen. Anson Harris hatte unter den anderen Piloten, die Prüfungsflüge abnahmen, gute Freunde. Demerest sollte vorgeschriebene Hemden tragen; Demerest sollte auch in jeder anderen Weise, selbst in den geringfügigsten Punkten, die Vorschriften befolgen — sonst. . .! Dann dachte Harris düster: Der gerissene Hund wird sich daran erinnern; er wird sich das genau merken.

»He, Anson.« Demerest schien sich zu amüsieren. »Sie haben das Mundstück Ihrer Pfeife durchgebissen.«

Das stimmte tatsächlich.

Als Vernon Demerest sich daran erinnerte, lachte er leise vor sich hin. Das würde heute nacht ein leichter Flug werden — für ihn.

Seine Gedanken kehrten zum gegenwärtigen Augenblick zurück, als der Fahrstuhl im zweiten Stock des Apartmenthauses hielt. Er trat auf den mit Teppich ausgelegten Korridor hinaus und wandte sich zielsicher nach links, ging zu dem Apartment, das Gwen Meighen mit einer Stewardess der United Air Lines teilte. Das andere Mädchen war auf einem Nachtflug, wie Demerest von Gwen wußte. An der Apartmenttür gab er das übliche Signal, seine Initialen in Morse — dit-dit-dit-dah dah-dit-dit —, öffnete dann die Tür mit dem gleichen Schlüssel, mit dem er die Haustür aufgeschlossen hatte, und trat ein.

Gwen stand unter der Dusche. Er konnte das Wasser rauschen hören. Als er zur Tür ihres Schlafzimmers ging, rief sie: »Vernon, bist du's?« Trotz des Wasserrauschens in der Dusche klang ihre Stimme mit dem fehlerlosen englischen Akzent, den er so liebte, weich und erregend. Kein Wunder, daß Gwen bei den Passagieren so viel Erfolg hat, dachte er. Er hatte sie vor ihr schmelzen sehen — besonders die Männer —, wenn sie ihren natürlichen Charme spielen ließ.

»Ja, mein Schatz«, rief er zurück.

Ihre duftige Unterwäsche lag auf dem Bett ausgebreitet — Schlüpfer, dünne Nylons und durchsichtiger Büstenhalter, fleischfarben, wie auch der Strumpfhalter aus dem gleichen Material, ein seidener, handgestickter Unterrock aus Frankreich. Gwens Uniform entsprach zwar den Normen, aber für das, was darunter kam, glaubte sie an kostspielige Individualität. Seine Sinne erwachten; widerstrebend wandte er seine Blicke davon ab.

»Ich bin froh, daß du so zeitig kommst«, rief sie wieder. »Ich möchte mit dir etwas besprechen, ehe wir gehen.«

»Aber sicher. Wir haben Zeit.«

»Du kannst Tee machen, wenn du willst.«

»Mach ich.«

Sie hatte ihn zu der englischen Gewohnheit, zu jeder Tageszeit Tee zu trinken, bekehrt, obwohl er kaum je Tee getrunken hatte, solange er Gwen noch nicht kannte. Aber jetzt verlangte er zu Hause oft Tee, was Sarah überraschte, besonders wenn er darauf bestand, daß er richtig zubereitet wurde — erst die Kanne wärmen, wie Gwen es ihn gelehrt hatte, das Wasser, noch in dem Augenblick kochend, wenn es den Tee berührte.

Er ging in die winzige Küche, in der er sich auskannte, und setzte den Wasserkessel auf den Herd. Aus einer Tüte im Kühlschrank goß er Milch in einen Topf, trank selbst etwas von der Milch, ehe er den Karton zurückstellte. Er hätte einen Gin-Tonic bevorzugt, aber wie die meisten Piloten, verzichtete er vierundzwanzig Stunden vor jedem Flug auf jeden Alkohol. Aus Gewohnheit blickte er auf seine Uhr; sie zeigte wenige Minuten vor 20 Uhr. In diesem Augenblick, ging es ihm durch den Kopf, wurde auf dem Flughafen die elegante Langstrecken-Düsenmaschine vom Typ Boeing 707 für den Fünftausend-Meilen-Flug nach Rom für ihn bereit gemacht.

Er hörte die Dusche verstummen. In die Stille hinein begann er wieder zu summen. Glücklich. O sole mio.

7

Der tobende, schneidende Wind raste mit unverminderter Heftigkeit über das Flugfeld und trieb den dichtfallenden Schnee mit gleicher Gewalt vor sich her.

Mel Bakersfeld überfiel ein Schaudern, als er wieder in seinem Wagen saß. Er nahm Richtung auf Startbahn Eins-Sieben links, die gerade gefegt wurde, und ließ Startbahn Drei-Null mit der versackten Aereo-Mexican-Maschine hinter sich zurück. Mel fragte sich, ob dieses Schaudern durch die Kälte draußen verursacht worden sei oder nicht vielmehr durch die Erinnerung an die Vorahnung von Unheil, die ihn vor ein paar Minuten gleichzeitig mit der bohrenden Mahnung an seine alte Fußverletzung überkommen hatte.

Diese Verletzung hatte Mel vor der Küste von Korea erlitten, wo er als Marineflieger vom Flugzeugträger Essex aus Kampfeinsätze flog. Während der letzten zwölf Stunden vor jenem Flug (daran erinnerte er sich sogar jetzt noch deutlich) hatte er ein bevorstehendes Unheil geahnt. Es war keine Angst — wie die anderen Ängste, mit denen zu leben er gelernt hatte; nein, eher die feste Überzeugung, daß etwas Schicksalhaftes, womöglich Endgültiges, unerbittlich auf ihn zukam. Am nächsten Tag beim Luftkampf mit einer MIG-15 war Mels Marine F9F-5 dann ins Meer geschickt worden.

Es gelang ihm, die Maschine beim Aufsetzen auf das Wasser in der Hand zu behalten, aber obwohl er selbst unverletzt blieb, wurde sein Fuß durch ein blockiertes Steuerpedal eingeklemmt. Während die Maschine schnell versank — eine F9F-5 hat die Schwimmfähigkeit eines Ziegelsteins —, hatte Mel mit dem Jagdmesser aus der Rettungsausrüstung wild und verzweifelt auf seinen Fuß und das Pedal eingehauen. Irgendwie bekam er den Fuß unter Wasser frei und gelangte mit heftigen Schmerzen und halb ertrunken an die Oberfläche zurück.

Acht Stunden lang trieb er im Wasser, ehe er bewußtlos aufgefischt wurde. Später erfuhr er, daß er die vorderen Sehnen seines Knöchelgelenks durchschnitten hatte, so daß sein Fuß in einer beinahe geraden Linie an seinem Bein hing.

Mit der Zeit hatten die Marineärzte den Fuß wieder hinbekommen, doch seitdem war Mel nicht wieder — als Pilot — geflogen.

Aber in Abständen tauchte der Schmerz immer wieder auf und gemahnte ihn daran, daß schon vor langer Zeit, ebenso wie später bei anderen Gelegenheiten, sein Gefühl für drohendes Unheil recht behalten hatte. Und eine ähnliche Vorahnung hatte ihn auch gerade jetzt wieder überfallen.

Vorsichtig steuerte er seinen Wagen, achtete sorgfältig darauf, bei der herrschenden Dunkelheit und der beschränkten Sicht seine Richtung einzuhalten, und näherte sich nun der Startbahn Eins-Sieben links. Es war die Rollbahn, die, wie der Dienstleiter im Kon-trollturm angekündigt hatte, durch die Flugsicherung freigegeben werden sollte, sobald der Wind sich drehte, was für bald vorausgesagt worden war.

Im Augenblick waren auf dem Flugfeld zwei Startbahnen in Betrieb: Eins-Siebenrechts, und Zwei-Fünf.

Lincoln International besaß insgesamt fünf Startbahnen, die während der vergangenen drei Tage und Nächte bei dem Kampf gegen den Sturm die vorderste Frontlinie gebildet hatten.

Die längste und breiteste war Drei-Null, die jetzt von der Aereo Mexican blockierte Rollbahn. (Bei einer Drehung des Windes und beim Anflug einer Maschine aus entgegengesetzter Richtung wurde sie auch Landebahn Eins-Zwei genannt, denn die Zahlen gaben die Kompaßrichtungen 300 beziehungsweise 120 Grad an.) Diese Rollbahn war nahezu zwei Meilen lang und so breit wie ein kurzer Häuserblock. Auf dem Flughafen ging das Scherzwort um, man könne wegen der Erdkrümmung vom einen Ende aus das andere nicht sehen.

Jede der anderen vier Rollbahnen war um etwa eine halbe Meile kürzer und weniger breit.

Seit Beginn des Schneesturms wurden die meilenlangen Startbahnen ununterbrochen gepflügt, abgesaugt, gefegt und gestreut. Der motorisierte technische Dienst — mit dröhnenden Dieselmotoren im Werte von etlichen Millionen Dollar — hatte jedesmal nur wenige Minuten pausiert, vorwiegend um aufzutanken oder die Besatzungen abzulösen. Es war eine Arbeit, die die Flugreisenden nie aus der Nähe zu sehen bekamen, weil keine Maschine eine frisch gereinigte Rollbahn benutzen durfte, ehe der Boden kontrolliert und für sicher erklärt worden war. Die Maßstäbe waren rigoros. Ein halbes Zoll Matsch oder drei Zoll Pulverschnee waren das für Düsenmaschinen erlaubte Maximum, denn wenn der Boden höher bedeckt war, wurden Matsch oder Schnee von den Motoren eingesaugt und gefährdeten deren Betrieb.

Eigentlich war es bedauerlich, überlegte Mel Bakersfeld, daß das Publikum die Schneeräumkolonnen nie richtig zu Gesicht bekam. Der Anblick war sehenswert und erregend. Selbst bei Sturm und Dunkelheit war es ein imposanter Anblick, wenn man sich dieser Ansammlung von Schneeräummaschinen von hinten näherte. Riesige Schneefontänen schössen in wohl hundertfünfzig Fuß hohem Bogen nach der rechten Seite. Diese Bogen wurden von den Scheinwerfern der Fahrzeuge erfaßt. Sie schimmerten in der bernsteingelben Färbung der über zwanzig rotierenden Warnlichter auf — von denen jedes Fahrzeug der Gruppe eins auf dem Verdeck des Führerhauses trug.

Die Flughafenleute nannten die Gruppe eine Conga-Kette (nach dem kubanischen Tanz, der in einer Reihe getanzt wird). Sie hatte einen Kopf und einen Schwanz, einen Körper, eine Nachhut und zog mit choreographischer Exaktheit die Startbahn hinunter.

Die Spitze bildete der Gruppenführer, ein erfahrener Werkmeister vom Wartungsdienst des Flughafens, der in einem Dienstwagen fuhr — hellgelb wie alle anderen Fahrzeuge der Kette. Der Führer gab das Tempo der Conga-Kette an, das in der Regel schnell war.

Er hatte zwei Sprechfunkgeräte und stand mit der Schneeräumstelle und der Flugsicherung ständig in Verbindung. Durch ein System von Lichtsignalen konnte er die ihm folgenden Fahrer dirigieren — grün hieß »beschleunigen«, gelb »Tempo beibehalten«, dunkelrot »Tempo mäßigen« und hellrot »halt«. Von ihm wurde erwartet, daß er den Lageplan des Flughafens ständig vor Augen hatte und genau wußte, wo er gerade war, selbst in der finstersten Nacht wie jetzt.

Auf den Führer der Gruppe, ihren Antreiber, folgte, gleich dem ersten Geiger in einem Orchester, der Pflug Nr. l — heute abend ein gigantischer Oshkosh mit einer großen Hauptschneeschar vorn und einer Flügelschar an der Seite. Hinter Pflug Nr. l folgte etwas nach rechts abgesetzt Nr. 2. Der erste Pflug schob den Schnee zur Seite, der zweite übernahm die Ladung des ersten, vergrößerte sie um seinen Anteil und schob beide Ladungen weiter zur Seite.

Darauf kam, in Staffelstellung zu den Pflügen und sechshundert brüllende PS stark, eine Schneeschleuder. Eine Schneeschleuder kostet 60 000 Dollar, und sie ist der Cadillac der Schneeräumung. Mit riesigen Gebläsen saugte sie den von den beiden Pflügen aufgetürmten Schnee an und schleuderte ihn in herkulischem Schwung über den Rand der Rollbahn hinaus.

In einer zweiten Staffel folgten, noch weiter nach rechts versetzt, zwei weitere Pflüge und eine zweite Schneeschleuder.

Auf die Pflüge und Schleudern folgten Planierer — fünf in einer Reihe nebeneinander, mit heruntergelassenen Scharen, um etwaige von den vorherfahrenden Pflügen übergangene Schneebuckel fortzuräumen. Die Planierer schleppten rotierende Bürsten, von denen jede sechzehn Fuß breit und selbst mit einem Dieselmotor ausgerüstet war. Wie riesige Stallbesen fegten diese Bürsten die Oberfläche der Startbahn.

Als nächstes kamen die Sandstreuer. Wo die elf Fahrzeuge vor ihnen geräumt und gefegt hatten, streuten drei schwere FDW-Lkws mit Behältern, die vierzehn Kubikfuß faßten, gleichmäßig ihren Sand. Der Sand war etwas Besonderes. Überall sonst in der Umgebung des Flughafens, auf Straßen und dem Publikum zugänglichen Plätzen, wurde dem Sand Salz beigemischt, um das Eis zum Schmelzen zu bringen. Auf aeronautischem Gelände geschah das nie. Salz griff Metall an und verkürzte dessen Lebensdauer, und Flugzeuge wurden mit größerer Hochachtung behandelt als Autos.

Als letzter in der Kette fuhr, in einem zweiten Wagen, ein stellvertretender Werkmeister, der »Schwanz-Ende-Charlie«. Seine Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, daß die Kette geschlossen blieb, und Zurückbleibende anzutreiben. Er hatte Funkverbindung mit dem Geleitzugführer, der da vorne in Schnee und Dunkelheit für ihn unsichtbar war.

Zum Schluß kam die Nachhut — ein Reservepflug, für den Fall, daß einer in der Kette ausfiel, ein Werkstattwagen mit Mechanikern, Tankfahrzeuge mit Dieselöl und Benzin und — zu bestimmten Zeiten über Funk angefordert — ein Wagen mit Kaffee und Verpflegung.

Mel überholte die Nachhut und brachte seinen Wagen auf die Höhe des stellvertretenden Werkmeisters. Sein Eintreffen wurde bemerkt, und er hörte, wie der Geleitzugführer über Sprechfunk verständigt wurde: »Mr. Bakersfeld ist gerade zu uns gestoßen.«

Die Kette fuhr rasch — fast vierzig Stundenmeilen statt der gewöhnlichen fünfundzwanzig. Der Führer hatte das Tempo wohl wegen der erwarteten Winddrehung und der Notwendigkeit, die Rollbahn bald freizubekommen, beschleunigt. Mel hatte sein Radio auf Bodenfrequenz eingestellt und hörte mit, wie der Geleitzugführer den Kontrollturm anrief: ». . . auf Eins-Sieben links, nähere mich Kreuzung mit Startbahn Zwei Fünf. Ersuche um Freigabe der Kreuzung.«

Startbahn Zwei-Fünf war die einsatzbereite Startbahn und jetzt in Gebrauch.

»An Geleitzugführer von Bodenkontrolle. Vor Kreuzung anhalten. Zwei Landungen stehen unmittelbar bevor. Startbahnkreuzung nicht, wiederhole, nicht überschreiten. Bestätigen Sie.«

In der Stimme vom Kontrollturm lag Bedauern, denn auch da oben wußten sie, was es hieß, eine rollende Conga-Kette zu stoppen und wieder in Fahrt zu bringen. Aber die anfliegenden Maschinen hatten gewiß einen schwierigen Blindflug hinter sich und standen unmittelbar hintereinander kurz vor der Landung. Nur eine verzweifelte Notlage konnte rechtfertigen, sie in einer solchen Nacht auf eine weitere Warterunde zu schicken.

Vor Mel glühten rote Lichter auf und blitzten gebieterisch, worauf die Conga-Kette das Tempo verlangsamte und anhielt.

Der stellvertretende Werkmeister, ein vergnügter junger Neger, sprang aus seinem Wagen und kam zu Mel herüber. Als er Mels Tür öffnete, fegte der Wind in den Wagen, war aber bei dem Lärm der leer laufenden Dieselmotoren nicht zu hören, sondern nur zu fühlen. Der Werkmeister brachte seinen Mund dicht an Mels Ohr. »Mr. Bakersfeld, wollen Sie nicht selbst in der Kette mitfahren? Ihren Wagen kann einer der Leute übernehmen.«

Mel grinste. Der Spaß, den es ihm machte, sobald es ihm seine Zeit erlaubte, in der Kette mitzufahren und gelegentlich eines der Spezialfahrzeuge selbst zu steuern, war auf dem ganzen Flughafen wohlbekannt. Warum nicht? dachte er. Er war wegen des abfälligen Berichts von Vernon Demerests Schneekomitee herausgekommen, um die Schneeräumung zu inspizieren. Daß der Bericht ungerechtfertigt, tatsächlich aber alles in bester Ordnung war, stand eindeutig fest. Aber vielleicht sollte er die Arbeit doch ein paar Minuten länger aus größerer Nähe beobachten.

Er nickte zustimmend und brüllte: »Ja, gut. Ich fahre mit der zweiten Schneeschleuder.«

»In Ordnung, Mr. Bakersfeld!«

Der Werkmeister stemmte sich schräg gegen den Wind und ging, mit einer Handlampe leuchtend, vor Mel her an den nun stillstehenden Reihen der Sandwagen und Rollbürsten vorbei. Mel stellte fest, daß bereits neuer Schnee im Begriff war, die soeben gereinigte Startbahn wieder zu bedecken. Hinten tauchte aus einem der Lkws eine Gestalt auf und eilte zu Mels Wagen.

»Schnell, schnell, Mr. Bakersfeld. Die Kette hält nur kurz.« Der junge Neger ließ den Strahl seiner Lampe über die Fahrerkabine der Schneeschleuder gleiten, hielt ihn dann still, um Mel den Weg beim Einsteigen zu beleuchten. Hoch oben hatte der Fahrer seine Kabinentür geöffnet, und Mel kletterte hinauf. Während des Stei-gens spürte er einen scharfen Schmerz in seinem verwundeten Fuß, aber jetzt war keine Zeit zu versäumen. Vorn hatten die Lichter bereits von Rot zu Grün gewechselt. Demnach mußten die beiden ankommenden Flugzeuge inzwischen gelandet und an der Kreuzung vorüber sein, und die Conga-Kette mußte jetzt eiligst über die Kreuzung gelangen, da vielleicht schon in ein, zwei Minuten die nächste Landung erfolgen würde. Als Mel nach hinten blickte, sah er, wie der junge Werkmeister zu seinem »Schwanz-Ende-Charlie-Wagen« zurückrannte.

Die Schneeschleuder setzte sich schon in Bewegung und steigerte mit einem tiefkehligen Aufdröhnen ihr Tempo. Ihr Fahrer beobachtete Mel, der sich auf den anderen der beiden weichgepolsterten Sitze sinken ließ, aus dem Augenwinkel, »'n Abend, Mr. Bakersfeld!«

»Wie geht's, Will?« Er erkannte den Mann, der, wenn es keinen Schneenotstand gab, beim Flughafen als Lohnbuchhalter arbeitete.

»Mir geht's glänzend, Sir. Bißchen müde.«

Der Fahrer hielt seine Position zwischen dem dritten und dem vierten Pflug, deren Warnlichter gerade eben sichtbar waren, sorgfältig ein. Schon fraßen sich die riesigen Ansaugblätter der Schneeschleuder in den aufgehäuften Schnee und stopften ihn in das Gebläse. Und wieder schoß in weitem Bogen eine beständige weiße Fontäne über den Rand der Startbahn hinaus.

Hier oben war es wie auf der Brücke eines Schiffes. Der Fahrer hielt sein Lenkrad so leicht wie ein Steuermann das seine. Eine Fülle von Zifferblättern und Hebeln mit Druckknopfbedienung leuchteten in der Dunkelheit auf. Bogenförmige, mit höchster Geschwindigkeit arbeitende Scheibenwischer — wie auf einem Schiff — schufen Klarsichtluken in dem verkrusteten Schnee.

»Ich glaube, daß alle jetzt recht müde sind«, antwortete Mel. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß das ja nicht ewig dauern kann.«

Er beobachtete die Nadel des Tachometers — von fünfundzwanzig auf dreißig, dreißig und vierzig. Er wandte sich seitwärts und überblickte die Umgebung. Von seiner Position, in der Mitte der Conga-Kette aus, konnte er die Lichter und Formen der anderen Fahrzeuge sehen. Befriedigt stellte er fest, daß die Formation genau eingehalten wurde.

Vor ein paar Jahren noch hätte ein Flughafen bei einem derartigen Schneesturm vollständig geschlossen werden müssen. Heutzutage nicht mehr. In erster Linie, weil die Einrichtungen des Bodenbetriebs — jedenfalls auf diesem besonderen Gebiet — mit der Entwicklung in der Luft Schritt gehalten hatten. Doch von wie vielen Gebieten ließ sich das noch sagen? Bekümmert dachte Mel: von sehr wenigen.

»Na ja«, sagte der Fahrer, »es ist mal eine Abwechslung von der Arbeit an der Rechenmaschine, und je länger es dauert, desto mehr ist in der Lohntüte, wenn es vorbei ist.« Er berührte einen Hebel, der die Kabine vornüberneigte, um die Ansaugblätter zu inspizieren. Mit einem anderen Hebel korrigierte er die Einstellung der Ansaugblätter und brachte dann die Kabine in die alte Lage zurück. »Das hier gehört eigentlich nicht zu meinen Pflichten, das wissen Sie ja, Mr. Bakersfeld, und ich tue es freiwillig. Aber irgendwie gefällt es mir hier draußen. Es ist fast schön . . .« Er zögerte. »Also, ich weiß nicht.«

»Elementar?« meinte Mel. »So ungefähr.« Der Fahrer lachte. »Aber vielleicht macht mich Schnee berauscht.«

»Nein, Will, ich glaube nicht, daß es das ist.« Mel beugte sich vor und faßte den Weg ins Auge, auf dem sich die Conga-Kette hinzog. Ja, es war elementar hier draußen. Genauer gesagt: Mitten in der Einsamkeit des Flugfeldes hatte man ein Gefühl enger Verbundenheit mit der Fliegerei, der wirklichen Fliegerei, die, auf den einfachsten Nenner gebracht, bedeutete: Mensch gegen die Elemente. Dieses Gefühl verlor man, wenn man sich zu lange in Empfangsgebäuden und Büros von Fluggesellschaften aufhielt; da wurde man durch nebensächliche und unwesentliche Dinge abgelenkt. Vielleicht sollten wir alle in der Verwaltung der Fliegerei uns hin und wieder einmal ans äußerste Ende einer Startbahn stellen und den Wind auf unserem Gesicht fühlen. Das könnte dabei helfen, Nebensächliches von Wesentlichem zu trennen. Vielleicht würde es einmal unser Gehirn lüften.

Schon früher war Mel manchmal, wenn er nachdenken wollte, aufs Flugfeld hinausgegangen, um dort ruhig und allein zu überlegen. Heute abend hatte er das nicht vorgehabt, überraschte sich jetzt aber dabei, daß er es tat — sich fragte, nachsann, wie er es die letzten Tage sooft getan hatte, über die Zukunft des Flughafens und seine eigene.

8

Es war noch keine fünf Jahre her, seit der Flughafen als einer der besten und modernsten der Welt gegolten hatte. Delegationen besichtigten ihn voll Bewunderung. Lokalpolitiker wiesen voll Stolz auf ihn hin und warfen sich mit »Führung in der Luftfahrt« und »ein Symbol des Düsenzeitalters« in die Brust. Heute warfen sich die Politiker immer noch in die Brust, allerdings mit weniger Berechtigung. Was die meisten nicht erkannten, war, daß Lincoln International Airport, wie auch eine überraschend große Zahl anderer großer Flughäfen, dicht davor stand, zu einer gekalkten Gruft zu werden.

Mel Bakersfeld brütete über dem Ausdruck »gekalkte Gruft«, während er in der Dunkelheit über die Startbahn Eins-Sieben links fuhr. Es war eine treffende Definition, dachte er. Die Mängel des Flughafens waren ernst und grundlegend, aber da sie zum größten Teil der Öffentlichkeit nicht ins Auge fielen, waren sie nur Eingeweihten bekannt.

Reisende und Besucher sahen auf Lincoln International hauptsächlich das Hauptempfangsgebäude — ein hellbeleuchtetes Taj Mahal mit Klimaanlage. Der Bau aus schimmerndem Glas und Chrom war imposant weiträumig angelegt. Seine von Menschen überfüllten Wandelgänge grenzten an elegante Warteräume. Zahlreiche Anlagen zur Bedienung des Publikums säumten den Bereich der Passagiere. Sechs Spezialitätenrestaurants reichten von einem Speisesaal für Gourmets, mit goldgeränderten Tellern und entsprechenden Preisen, bis hinunter zu Würstchenständen. Bars, mit schummriger Beleuchtung oder von Neonröhren erhellt und ohne Sitzgelegenheiten, waren ebenso zahlreich wie die Toilettenräume. Während ein Fluggast auf seine Maschine wartete, konnte er, ohne das Gebäude zu verlassen, einkaufen, ein Zimmer mit Bett nehmen oder ein Dampfbad mit Massage, sich die Haare schneiden, seinen Anzug bügeln, die Schuhe putzen lassen und sogar sterben und sein Begräbnis den Holy Ghost Memorial Gardens übertragen, die eine Zweigstelle an einem der unteren Wandelgänge unterhielten.

Wenn man nach dem Empfangsgebäude allein urteilte, war der Flughafen noch beeindruckend. Seine Mängel lagen im Betriebsbereich, besonders bei den Start- und Taxibahnen.

Wenigen der achtzigtausend Passagiere, die täglich eintrafen und abflogen, war bekannt, wie unzulänglich und deshalb gefährlich das System der Startbahnen geworden war. Bereits vor einem Jahr hatten Startbahnen und Taxiwege kaum noch ausgereicht; jetzt wurden sie bedrohlich überfordert. Bei normal starkem Verkehr startete oder landete auf den beiden Hauptrollbahnen alle dreißig Sekunden eine Maschine. Die Lage von Meadowood und die Rücksicht, die der Flughafen auf die Bewohner der Gemeinde nahm, machten es in Stoßzeiten notwendig, eine Ausweichstartbahn zu benutzen, die eine der beiden anderen kreuzte. Infolgedessen starteten und landeten Flugzeuge auf sich überschneidenden Kursen, und es gab Augenblicke, in denen die Kontroller den Atem anhielten und beteten. Erst in der vergangenen Woche hatte Keith Bakersfeld, Mels Bruder, grimmig prophezeit: »Na schön, wir stehen also hier im Turm auf Zehenspitzen und werden mit den haarigsten Situationen fertig, und wir haben auch noch nie zwei Flugzeuge gleichzeitig an die Kreuzung gebracht; aber eines Tages wird es einen Augenblick mangelnder Aufmerksamkeit oder eine falsche Beurteilung der Lage geben, und dann ist einer von uns dran. Ich hoffe zu Gott, daß ich es nicht bin, denn dann passiert noch einmal dasselbe wie im Grand Canyon.«

Die Kreuzung, von der Keith gesprochen hatte, war dieselbe, die von der Conga-Kette gerade überquert worden war. Mel, im Führerhaus der Schneeschleuder, blickte nach hinten. Die Conga-Kette hatte sie inzwischen klar hinter sich gelassen, und durch eine Lücke im treibenden Schnee waren auf der anderen Startbahn die Positionslichter eines Flugzeugs sichtbar, die sich schnell bewegten, als die Maschine startete. Und dann tauchten plötzlich nur wenige Meter dahinter weitere Lichter auf, als eine zweite Maschine landete, im gleichen Augenblick, wie es schien.

Auch der Fahrer der Schneeschleuder hatte den Kopf gewendet. Er stieß einen Pfiff aus. »Das ist aber gerade noch mal gutgegangen.«

Mel nickte. Sie waren dicht hintereinander gewesen, ungewöhnlich dicht, und einen Augenblick lang war ihm eine Gänsehaut über den Rücken gelaufen. Offensichtlich hatte einer der Kontroller bei seinen Anweisungen an die Piloten der beiden Maschinen die Abstände haargenau abgeschätzt. Wie üblich hatte sich sein auf Erfahrung beruhendes Urteil als richtig erwiesen, wenn auch nur gerade noch. Die beiden Maschinen waren in Sicherheit — die eine jetzt in der Luft, die andere auf dem Boden. Aber die Notwendigkeit zu derartig haarscharfen Beurteilungen schuf eine nicht endende Kette von Gefahren.

Mel hatte auf diese Gefahren vor dem Verwaltungsrat des Flughafens und Mitgliedern des Stadtrats, die über die Finanzierung des Flughafens bestimmten, häufig genug hingewiesen. Er hatte nicht nur auf den sofortigen Bau zusätzlicher Start- und Taxibahnen gedrängt, sondern auch auf den Erwerb von zusätzlichem Gelände am Flughafen für den langfristigen Ausbau. Es war zu vielen Diskussionen und mitunter heftigen Auseinandersetzungen gekommen. Nur wenige Mitglieder des Verwaltungsrates und des Stadtrates sahen das ein; andere vertraten scharf einen entgegengesetzten Standpunkt. Es war schwer, Leute davon zu überzeugen, daß ein moderner, Ende der fünfziger Jahre für Düsenflugzeuge gebauter Flughafen so schnell bis an die Grenze der Gefährdung untauglich geworden sein sollte. Es spielte keine Rolle, daß das gleiche für andere Zentren auch zutraf— New York, San Francisco, Chicago und andere; gewisse Dinge wollten Politiker einfach nicht sehen.

Vielleicht hat Keith recht, dachte Mel. Vielleicht war eine weitere große Katastrophe erforderlich, um die Öffentlichkeit aufzuwecken, so wie die Katastrophe am Grand Canyon 1956 Präsident Eisenhower und den 84. Kongreß angestachelt hatte, die Luftstraßen neu festzulegen. Ironischerweise gab es aber selten die geringsten Schwierigkeiten, wenn es darum ging, Geld für Verbesserungen zu bekommen, die nicht den technischen Betrieb betrafen. Ein Vorschlag, alle Parkplätze dreistöckig auszubauen, hatte ohne Gegenstimme die Billigung der Stadt gefunden. Aber das war etwas, das die Öffentlichkeit — einschließlich jener, die Wählerstimmen hatte — sehen und anfassen konnte. Mit Start- und Taxibahnen war das anders. Eine einzige neue Startbahn kostete mehrere Millionen Dollar, und es dauerte zwei Jahre, sie zu bauen, aber nur wenige Menschen, außer den Piloten, Kontrollern und den Leitern von Flughäfen wußten jemals, wie gut oder wie schlecht ein System von Startbahnen war.

Jedoch auf Lincoln International stand eine Klärung bald bevor. Sie mußte kommen. In den vergangenen Wochen hatte Mel die Vorzeichen erkannt, und wenn es dazu kam, war die Wahl klar — zwischen der Weiterentwicklung auf dem Boden, die dem jüngst Erreichten in der Luft entsprach, oder ohnmächtigem Zurückbleiben. In der Luftfahrt gab es niemals einen Status quo.

Noch ein weiterer Faktor spielte mit.

Ebensosehr wie die Zukunft des Flughafens stand Mels persönliche Zukunft auf dem Spiel. In welche Richtung die Politik des Flughafens auch gesteuert wurde, durch sie würde sein eigenes Ansehen bei den Stellen, auf die es am meisten ankam, gefördert oder gemindert werden.

Vor kurzem noch war Mel ein im ganzen Land anerkannter Sprecher für die Bodenlogistik der Luftfahrt gewesen, war als das aufsteigende junge Genie in der Organisation der Luftfahrt gepriesen worden. Dann hatte unvermittelt ein einziges schmerzliches Ereignis die Änderung herbeigeführt. Heute, fünf Jahre später, lag die Zukunft nicht mehr klar vor ihm, und andere zweifelten und stellten Fragen nach Mel Bakersfeld, ebenso wie er selbst.

Das Ereignis, das die Änderung herbeigeführt hatte, war die Ermordung von John F. Kennedy gewesen.

»Wir sind am Ende der Startbahn, Mr. Bakersfeld. Fahren Sie mit uns zurück, oder was machen Sie?« Die Stimme des Fahrers der Schneeschleuder störte Mel aus seinen Träumereien auf.

»Wie?«

Der Mann wiederholte seine Frage. Vor ihnen blitzten wieder Warnleuchten auf, und die Conga-Kette verlangsamte ihr Tempo. Die halbe Breite der Startbahn war auf der einen Seite geräumt worden, und auf dem Weg zurück kam die andere Hälfte dran. Einschließlich der Verzögerungen durch Aufenthalte und Anfahren dauerte es fünfundvierzig Minuten bis eine Stunde, eine einzige Startbahn zu fegen und zu streuen.

»Nein«, antwortete Mel. »Ich steige hier wieder aus.«

»In Ordnung, Sir.« Der Fahrer richtete eine Signallampe auf den Wagen des stellvertretenden Vormanns, der sich sofort aus der Formation löste. Wenige Augenblicke später, als Mel ausstieg, wartete sein Wagen schon auf ihn. Von den anderen Pflügen und Lastwagen stiegen die Männer aus und eilten zum Kaffeewagen.

Während Mel zum Flughafengebäude zurückfuhr, rief er über Sprechfunk die Schneekontrolle an und bestätigte Danny Farrow, daß Startbahn Eins-Sieben links in Kürze betriebsbereit sei. Dann schaltete er sich in die Bodenkontrolle ein und stellte die Lautstärke so weit zurück, daß die gedämpften eintönigen Stimmen nur noch eine Begleitmusik zu seinen Gedanken waren.

Im Führerhaus der Schneeschleuder war ihm das Ereignis ins Gedächtnis zurückgerufen worden, das ihn von allen, an die er sich erinnerte, mit der größten Härte getroffen hatte.

Es war vor fünf Jahren gewesen.

Aufgestört fragte er sich, ob es tatsächlich schon so lange her sei? Waren fünf Jahre seit dem grauen Novembertag vergangen, als er benommen das Mikrofon der Lautsprecheranlage über den Schreibtisch an sich gezogen hatte — das Mikrofon, das er so selten benutzte, das alle anderen ausschaltete — und die Ankündigung einer eintreffenden Maschine unterbrochen hatte, um auf den Wandelgängen, über die sich sofort eine beklommene Stille legte, die niederschmetternde Nachricht zu verkünden, die er Sekunden vorher als Blitzmeldung aus Dallas erhalten hatte.

Während er damals sprach, wären seine Augen auf die Fotografie an der gegenüberliegenden Wand gerichtet, die Fotografie mit der Widmung: Meinem Freund Mel Bakersfeld in der gemeinsamen Sorge um die FlugsicherheitJohn F. Kennedy. Die Fotografie war erhalten geblieben, ebenso viele Erinnerungen.

Die Erinnerungen begannen für Mel mit einem Vortrag, den er in Washington gehalten hatte.

Damals war er nicht nur Generaldirektor des Flughafens gewesen, sondern auch Präsident des Airport Operator Council — der jüngste Führer, den diese kleine, aber einflußreiche Körperschaft, die die wichtigsten Flughäfen der Welt verband, je gehabt hatte.

Den Vortrag hatte er vor einem nationalen Kongreß für Planung gehalten.

Die Luftfahrt, hatte Mel Bakersfeld dargelegt, sei das einzig wirklich erfolgreiche internationale Unternehmen. Sie überschreite ideologische Grenzen ebenso wie die rein geographischen. Da sie ein Mittel sei, die verschiedensten Völker bei ständig sinkenden Kosten zusammenzubringen, biete sie das praktischste Mittel, eine Verständigung der Welt herbeizuführen, das die Menschen je ersonnen hätten.

Noch bedeutsamer sei der Lufthandel. Der Frachttransport durch die Luft, der schon ungeheuer angewachsen sei, würde sich weiterentwickeln. Die neuen Düsenriesen, die Anfang der siebziger Jahre in Dienst gestellt werden sollten, würden die schnellsten und billigsten Transportmittel in der Geschichte der Menschheit sein. Innerhalb eines Jahrzehnts mochten Ozeandampfer reine Museumsstücke werden, ihrer Aufgabe beraubt, so wie die Passagierflugzeuge die Queen Mary und Queen Elizabeth verdrängt hatten. Daraus konnte eine neue, große, weltumspannende Handelsflotte entstehen, die jetzt notleidenden Völkern Wohlstand brachte. Vom derzeitigen Stand der technischen Entwicklung her gesehen, hielt Mel seinen Zuhörern vor Augen, bot die Luftfahrt diese Möglichkeiten den Menschen an, und mehr noch, bereits zu Lebzeiten der heute Vierzigjährigen konnten sie verwirklicht werden.

Doch während die Flugzeugkonstrukteure aus dem Stoff, aus dem Träume gemacht sind, reale Gewebe wirkten, so hatte er fortgefahren, blieben die Bodenanlagen und Einrichtungen zum größten Teil Ergebnisse der Kurzsichtigkeit oder fehlgeleiteter Hast. Flughäfen, die Systeme von Start- und Landebahnen, Empfangsgebäude, blieben dem Gestern verhaftet mit nur geringer — falls überhaupt irgendwelcher — Vorsorge für das Morgen. Was nicht erkannt oder einfach ignoriert wurde, war die ungeheuerliche Geschwindigkeit, mit der die Fliegerei weiterentwickelt wurde. Flughäfen wurden stückweise angelegt, so individuell wie Rathäuser und oft mit ebenso geringer Phantasie. Im allgemeinen wurde zuviel für eindrucksvolle Empfangsgebäude und zuwenig für den Betriebsbereich aufgewendet. Koordination, Planung auf höchster Ebene — weder bei einzelnen Staaten noch international — waren nicht vorhanden.

Auf der lokalen Ebene, wo die Politiker den Problemen der Zufahrt zu den Flughäfen apathisch gegenüberstanden, sei die Situation ebenso mißlich oder noch schlimmer.

»Die Schallmauer haben wir durchbrochen«, erklärte Mel, »die Bodenmauer aber nicht.«

Er führte verschiedene Gebiete an, die untersucht werden müßten, und drängte auf internationale Planung — geführt von den USA und im Auftrag des Präsidenten — für die Probleme der Luftfahrt auf dem Boden.

Der Vortrag fand nachhaltigen Beifall und weitverbreitete Beachtung. So verschiedenartige Organe wie die Times in London, die Prawda in Moskau und The Wallstreet Journal stimmten ihm zu.

Am Tag nach dem Vortrag wurde Mel ins Weiße Haus eingeladen. Die Begegnung mit dem Präsidenten verlief gut. Es war ein entspanntes, gutgelauntes Gespräch in der Privatbibliothek im ersten Stock des Weißen Hauses. Wie Mel feststellte, teilte J. F. K. viele seiner Ansichten.

Später folgten weitere Gespräche, auch »Brain-Trust«-Sitzungen, in Anwesenheit von Kennedys Beratern, im allgemeinen dann, wenn sich die Regierung mit Luftfahrtfragen befaßte. Nach einer Reihe von Besprechungen dieser Art mit formlosen Nachspielen, fühlte Mel sich im Weißen Haus zu Hause und war davon weniger überrascht als darüber, daß er dort überhaupt Zugang gefunden hatte. Mit der Zeit entwickelte sich eines jener unbefangenen Verhältnisse zum Präsidenten, die J. F. K. bei Leuten, die ihm fachkundigen Rat zu bieten hatten, förderte.

Etwa ein Jahr nach der ersten Begegnung fühlte der Präsident bei Mel vor, ob er geneigt sei, die Leitung der Federal Aviation Agency — die damals noch eine Kommission war und erst später eine Behörde wurde — zu übernehmen. Zu irgendeinem Zeitpunkt während Kennedys zweiter Amtsperiode, die, wie jeder annahm, automatisch folgen würde, sollte der jetzige Leiter der FAA, Hala-by, mit anderen Aufgaben betraut werden. Was Mel wohl davon halte, einige der Maßnahmen, die er als Außenstehender empfohlen hatte, im Rahmen der Regierung durchzuführen. Mel hatte erwidert, daß ihn das sehr interessiere, und deutlich zu verstehen gegeben, er werde annehmen, wenn man ihm ein Angebot machte.

Das sprach sich herum, zwar nicht durch Mel, aber durch andere, die es von ganz oben her wußten. Damit gehörte Mel »dazu« — war ein entsprechend honoriertes Mitglied des inneren Kreises. Sein schon früher hohes Ansehen stieg noch höher. Der Airport Operators Council wählte ihn wieder zu seinem Präsidenten. Der Verwaltungsrat seines eigenen Flughafens bewilligte ihm eine beträchtliche Gehaltserhöhung. Gerade erst Ende Dreißig, wurde er als der aufsteigende junge Stern im Luftfahrt-Management angesehen.

Sechs Monate später unternahm John F. Kennedy seinen schicksalsschweren Besuch in Texas.

Wie andere war Mel zuerst benommen. Später weinte er. Und viel später erst erkannte er, daß die Kugel des Meuchelmörders zurückgeprallt war und auch das Leben anderer getroffen hatte, darunter sein eigenes. Er entdeckte, daß er in Washington nicht länger »dazu« gehörte. Najeeb Halaby dagegen wohl, er stieg sogar auf, von der FAA auf einen wichtigen Posten als Vizepräsident bei der Pan American — aber Mel wurde nicht sein Nachfolger. Inzwischen hatte sich die Macht verschoben, waren Einflüsse geschwunden. Mels Name stand, wie er später erfuhr, nicht einmal auf Präsident Johnsons kurzer Kandidatenliste für die Leitung der FAA.

Mels zweite Amtsperiode als Präsident der AOC verlief ereignislos, und ein anderer fähiger junger Mann wurde sein Nachfolger. Er reiste nicht mehr nach Washington. Sein öffentliches Auftreten beschränkte sich auf lokale Veranstaltungen, und in gewisser Weise empfand er Erleichterung über die Veränderung. Seine Verantwortung auf Lincoln International Airport war angewachsen, da sich der Luftverkehr weit über die Erwartungen der meisten hinaus entwickelte. Planungen nahmen ihn stark in Anspruch sowie die Versuche, den Verwaltungsrat des Flughafens zu seinen Ansichten zu bekehren. Er hatte über sehr vieles nachzudenken, unter anderem auch über seine häuslichen Schwierigkeiten. Seine Tage, Wochen und Monate waren ausgefüllt.

Und trotzdem nagte an ihm das Gefühl, daß die Zeit über ihn hinweggegangen und seine Chance verpaßt sei. Andere hatten das erkannt. Wenn sich nicht etwas Dramatisches ereignete, argwöhnte Mel, dann würde seine Karriere wohl weiterlaufen und genau dort enden, wo er jetzt war.

»Kontrollturm an Mobil eins — geben Sie Ihre Position bekannt.« Der Anruf über Sprechfunk unterbrach Mels Gedanken und zog ihn unvermittelt in die Gegenwart zurück. Er drehte den Ton lauter und meldete sich. Inzwischen näherte er sich wieder dem Hauptempfangsgebäude, dessen Lichter deutlicher wurden, obwohl es nach wie vor stark schneite. Er bemerkte, daß der Abstellbereich für die Maschinen ebenso dicht besetzt war wie bei seiner Abfahrt, und noch eine Reihe gelandeter Flugzeuge darauf wartete, daß Plätze an den Verladepositionen frei wurden.

»Mobil eins! Anhalten, bis die Maschine der Lake Central North vor Ihnen vorbeirollt, dann der Maschine folgen.«

»Hier Mobil eins. Verstanden.«

Wenige Minuten später lenkte Mel seinen Wagen vorsichtig in die Garage im Keller des Flughafengebäudes. Dicht bei seinem Parkplatz war ein Kasten mit einem Diensttelefon. Er öffnete den Kasten mit seinem Hauptschlüssel und wählte die Nummer der Schneekontrolle. Danny Farrow meldete sich. »Gibt's was Neues mit der festgefahrenen Maschine der Aereo Mexican«, fragte er.

»Nein«, berichtete Danny. »Und vom Dienstleiter im Kontroll-turm soll ich Ihnen sagen, daß der Verkehr noch immer um fünfzig Prozent verzögert ist, weil er Startbahn Drei-Null nicht einsetzen kann. Außerdem bekommt er jedesmal neue Beschwerden aus Meadowood, wenn eine Maschine über den Ort startet.«

»Meadowood muß das aushallen«, erwiderte Mel grimmig. Ob die Gemeindeversammlung stattfand oder nicht, gegenwärtig konnte nichts geschehen, um den Lärm über dem Wohnort zu verhindern. Im Augenblick war es das Wichtigste, die eingetretenen Verzögerungen im Flugbetrieb wieder aufzuholen. »Wo ist Joe Patroni jetzt?«

»Immer noch an der gleichen Stelle von der Verkehrsstauung aufgehalten.«

»Wird er es auch bestimmt schaffen herzukommen?«

»TWA behauptet es. Er hat ein Telefon in seinem Auto, und sie stehen mit ihm in Verbindung.«

»Sobald Joe hier ist, möchte ich benachrichtigt werden«, ordnete Mel an. »Egal, wo ich gerade bin.«

»Das wird vermutlich in der Stadt sein.«

Mel zögerte. Eigentlich bestand kein Anlaß dazu, heute abend noch länger auf dem Flughafen zu bleiben. Doch wieder hatte er dieses unerklärliche Gefühl einer Vorahnung, das ihn schon auf dem Flugfeld draußen beunruhigt hatte. Er erinnerte sich an das Gespräch, das er vorher mit dem Dienstleiter des Kontrollturms geführt hatte, an die Reihe der draußen auf der Rampe wartenden Flugzeuge. Er traf eine spontane Entscheidung.

»Nein, ich werde nicht in der Stadt sein. Wir brauchen die Startbahn dringend, und ich fahre nicht, bevor ich ganz sicher weiß, daß Patroni draußen auf dem Flugfeld ist und die Leitung der Bergung übernommen hat.«

»In diesem Fall«, sagte Danny, »würde ich empfehlen, daß Sie sofort Ihre Frau anrufen. Sie ist unter folgender Nummer zu erreichen.«

Mel notierte die Nummer, drückte dann auf die Telefongabel und wählte anschließend die angegebene Nummer. Er verlangte Cindy zu sprechen, und nach einer kurzen Wartezeit hörte er ihre Stimme scharf fragen: »Mel, warum bist du noch nicht hier?«

»Es tut mir leid, ich wurde aufgehalten. Wir haben auf dem Flughafen Schwierigkeiten. Es herrscht ein ziemlich starker Sturm . . .«

»Verdammt noch mal, komm sofort her!«

Aus der Tatsache, daß seine Frau die Stimme dämpfte, schloß Mel, daß andere Personen in Hörweite waren. Trotzdem gelang es ihr, in überraschendem Maß giftig zu klingen.

Manchmal versuchte Mel, die Stimme der Cindy von heute mit jener Cindy in Verbindung zu bringen, an die er sich aus der Zeit vor seiner Ehe, vor fünfzehn Jahren, erinnerte. Ihm schien es, als sei sie damals ein sanfterer Mensch gewesen. Tatsächlich war ihre Sanftheit eine der, Eigenschaften gewesen, die Mel zu ihr hingezogen hatten, als er sie auf Urlaub von der Navy und von Korea in San Francisco kennenlernte. Damals war Cindy Schauspielerin, allerdings eine unbedeutende, denn zu der Karriere, die sie sich erhofft hatte, war es noch nicht und würde es auch ganz eindeutig nie kommen. Sie hatte eine Reihe ständig kleiner werdender Rollen bei Sommerbühnen und im Fernsehen gespielt und später in einem ehrlichen Augenblick bekannt, daß sie in der Ehe eine willkommene Befreiung von der ganzen Geschichte sah.

Jahre später stellte sie die Sache etwas anders dar, und es war ein beliebter Eröffnungszug von Cindy geworden, zu erklären, daß sie ihre Karriere, und wahrscheinlich den Aufstieg zum Star Mel zuliebe geopfert habe. In jüngster Zeit allerdings hörte Cindy es nicht mehr gern, daß ihre Vergangenheit als Schauspielerin überhaupt erwähnt würde, und zwar deshalb, weil sie in Town and Country gelesen hatte, Schauspielerinnen würden selten, wenn überhaupt, in das Social Register aufgenommen; und die Aufnahme ihres Namens in dieses Register war etwas, das sich Cindy sehnlichst wünschte.

»Ich komme zu dir in die Stadt, sobald ich es schaffen kann«, antwortete Mel.

»Das genügt mir nicht«, erwiderte Cindy scharf. »Du hättest schon längst hier sein müssen. Du weißt ganz genau, daß der heutige Abend für mich wichtig ist, und schon vor einer Woche hast du es mir fest versprochen.«

»Vor einer Woche wußte ich noch nicht, daß wir heute den stärksten Schneesturm seit sechs Jahren haben würden. Im Augenblick ist eine unserer Startbahnen blockiert, und es geht um die Sicherheit des Flughafens . . .«

»Du hast doch Leute, die für dich arbeiten, oder nicht? Oder sind die Leute, die du dir ausgesucht hast, so unfähig, daß man sie nicht alleinlassen kann?«

Gereizt erwiderte Mel: »Sie sind sehr tüchtig und zuverlässig. Aber ich werde dafür bezahlt, daß ich auch einen Teil der Verantwortung übernehme.«

»Ein Jammer, daß du mir gegenüber keine Verantwortung zeigst. Immer wieder treffe ich wichtige gesellschaftliche Verabredungen, und du machst dir ein Vergnügen daraus, sie zunichte zu machen.«

Während Mel dem Wortschwall zuhörte, spürte er, daß Cindy dicht vor dem Siedepunkt stand. Jetzt konnte er sie sich ohne jede Mühe vorstellen, ein Meter fünfundsechzig herrschsüchtige Energie auf ihren höchsten Absätzen, mit funkelnden hellblauen Augen, den blonden, sorgfältig frisierten Kopf etwas in den Nacken geworfen, und das in dieser verflucht anziehenden Weise, die sie immer hatte, wenn sie wütend war. Das war einer der Gründe, nahm Mel an, weshalb die Temperamentsausbrüche seiner Frau ihn in den ersten Jahren ihrer Ehe nur selten gestört hatten. Je hitziger sie wurde, schien es immer, desto begehrenswerter war sie. In solchen Augenblicken hatte er seinen Blick unweigerlich an ihr heraufwandern lassen, bei den Knöcheln beginnend — nicht überhastet, denn Cindy besaß außergewöhnlich hübsche Knöchel und Beine, wirklich hübschere als die meisten anderen Frauen, die Mel kannte —, dann über alles andere an ihr, was ebenso wohlproportioniert und physisch anziehend war.

Wenn seine Augen diese wohlgefällige Bestandsaufnahme machten, war früher ein gegenseitiger physischer Kontakt geschlossen worden, der sie beide veranlaßte, die Hände auszustrecken und impulsiv und begierig nacheinander zu greifen. Das Ergebnis war vorauszusehen. Unweigerlich wurde der Grund für Cindys Ärger unter einer Woge von Sinnlichkeit, die sie beide überschwemmte, vergessen. Cindy war von einer erregenden, gierigen Wildheit, und wenn sie sich liebten, verlangte sie: »Tu mir weh, verdammt noch mal, tu mir doch weh!« Am Ende waren sie erschöpft und ausgelaugt, so daß keiner von beiden den Wunsch oder die Kraft besaß, den Streit von neuem aufzugreifen.

Selbstverständlich war das eher eine Methode, Differenzen, die — wie Mel schon frühzeitig erkannte — grundsätzlicher Natur waren, vor sich herzuschieben, statt sie zu bereinigen. Im Lauf der Jahre und bei schwindender Leidenschaft begannen sich die angesammelten Differenzen schärfer abzuzeichnen. Schließlich unterließen sie es völlig, Sex als Allheilmittel zu benutzen, und im letzten Jahr waren körperliche Intimitäten jeder Art mehr und mehr sporadisch geworden. Tatsächlich schien Cindy, deren physischer Appetit immer der Befriedigung bedurfte, in welcher Gemütsverfassung sie sich auch befand, in den letzten Monaten völlig gleichgültig geworden zu sein. Mel hatte darüber nachgedacht. Hatte seine Frau sich einen Liebhaber genommen? Es war nicht unmöglich, und Mel dachte, darüber sollte er eigentlich beunruhigt sein. Das Traurige bei der Geschichte aber war, daß es einfacher zu sein schien, sich keine Sorgen darüber zu machen.

Doch noch gab es Augenblicke, in denen der Anblick oder das Hören von Cindys Wutanfällen ihn physisch erregte, alte Begierden weckte. Diese Empfindung überkam ihn jetzt, als er auf ihren verletzenden Ton am Telefon lauschte.

Als er sie schließlich unterbrechen konnte, sagte er: »Es ist nicht wahr, daß es mir Vergnügen macht, deine Verabredungen zu boykottieren. Meistens füge ich mich allem, was du willst, obwohl ich die Veranstaltungen, zu denen wir gehen, nicht für so wichtig halte.

Was mir Spaß machen würde, wäre öfter abends mit den Kindern zu Hause zu sein.« Cindy erwiderte: »Das ist dummes Zeug, das weißt du selbst.«

Er spürte, wie sich alles in ihm spannte, und er umfaßte den Hörer fester. Dann gestand er sich selbst ein: Vielleicht ist ihre letzte Bemerkung in gewissem Sinn wahr. Vor ein paar Stunden hatte er sich an die Abende erinnert, an denen er auf dem Flughafen geblieben war, obwohl er hätte nach Hause gehen können — nur weil er einem neuen Streit mit Cindy aus dem Weg gehen wollte. Roberta und Libby hatte er aus seinen Überlegungen ausgeschaltet, wie man es vermutlich mit Kindern immer tat, wenn eine Ehe gespannt wurde. Er hätte die beiden nicht erwähnen sollen.

Doch von dem allem abgesehen: Heute abend war die Situation anders. Er mußte auf dem Flughafen bleiben, wenigstens bis Gewißheit darüber bestand, was aus der blockierten Startbahn wurde.

»Hör mal«, sagte Mel. »Eines wollen wir doch klarstellen: Ich habe dir noch nichts davon gesagt, aber ich habe mir im vergangenen Jahr ein paar Notizen gemacht. Du hast von mir verlangt, daß ich mit dir auf siebenundfünfzig deiner Wohltätigkeitszirkusse gehe. Bei fünfundvierzig ist mir das gelungen; das sind erheblich mehr, als ich freiwillig mitgemacht hätte, aber als Tabellenstand ist das nicht schlecht.«

»Du Schuft! Ich bin keine Fußballiga, bei der man Tabellen führt. Ich bin deine Frau.«

Mel erwiderte scharf: »Nimm dich zusammen!« Er wurde selbst wütend. »Falls du es nicht gemerkt hast: Du bist laut geworden. Willst du, daß alle diese netten Leute in deiner Umgebung erfahren, was für einen Schuft du zum Mann hast?«

»Das ist mir verflucht gleichgültig!« Aber das sagte sie doch leiser.

»Ich weiß, daß du meine Frau bist, und deshalb beabsichtige ich, in die Stadt zu kommen, sobald ich es schaffen kann.« Was würde geschehen, wenn er jetzt die Hand ausstrecken und Cindy berühren könnte, fragte sich Mel. Würde der alte Zauber wirken? Er war überzeugt, daß er nicht mehr wirkte. »Reserviere mir also einen Platz, und sage dem Kellner, er soll mir die Suppe warm stellen. Entschuldige mich auch bei den anderen, und erkläre ihnen, warum ich zu spät komme. Ich möchte annehmen, daß ein paar dieser Leute davon gehört haben, daß es hier einen Flughafen gibt.« Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke. »Was ist übrigens heute abend der Anlaß des Festes.«

»Das habe ich dir vorige Woche erklärt.«

»Sag es mir noch einmal.«

»Es ist eine vorbereitende Party — Cocktails und Abendessen —, um für einen Kostümball zu werben, der nächsten Monat für den Unterstützungsfonds für die Kinder von Archidona gegeben wird. Die Presse ist da, und es wird fotografiert.«

Jetzt wußte Mel, warum Cindy von ihm verlangte, daß er sich beeile. Wenn er anwesend war, hatte sie größere Aussichten, fotografiert zu werden und auf den Gesellschaftsseiten der morgigen Zeitung zu erscheinen.

»Die Männer der meisten anderen Damen des Festausschusses sind bereits hier.«

»Aber alle noch nicht.«

»Ich habe gesagt: die meisten.«

»Und du hast gesagt, für den Unterstützungsfonds für die Kinder von Archidona?«

»Ja.«

»Welches Archidona? Es gibt zwei. Das eine ist in Ekuador, das andere in Spanien.« Auf dem College hatten Landkarten und Geographie Mel fasziniert, und er besaß ein gutes Gedächtnis.

Zum erstenmal zögerte Cindy. Dann antwortete sie unwillig: »Was spielt das für eine Rolle? Ich habe jetzt keine Zeit für alberne Fragen.«

Mel lachte beinahe laut heraus. Cindy wußte es nicht. Wie üblich hatte sie sich entschlossen, für eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu arbeiten, weil ihr wichtig war, wer sich daran beteiligte, nicht das, worum es ging.

Boshaft fragte er: »Wie viele Briefe gedenkst du denn diesmal herauszuschlagen? «

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»O doch, das weißt du genau.«

Für die Aufnahme in das Social Register brauchte eine neue Aspirantin acht Empfehlungsschreiben von Personen, die bereits darin aufgenommen waren. Nach der letzten Zählung hatte Cindy vier zusammengebracht, wie Mel wußte.

»Bei Gott, Mel, wenn du je etwas sagst — heute abend oder bei anderer Gelegenheit . . .«

»Bekommst du die Briefe umsonst, oder mußt du dafür bezahlen, wie für die beiden letzten?« Er war sich bewußt, daß er jetzt im Vorteil war. Das geschah sehr selten.

Empört erwiderte Cindy: »Das ist eine schmutzige Unterstellung. Es ist unmöglich sich einzukaufen . . .«

»Unsinn«, unterbrach Mel. »Ich habe den Bankauszug von den Schecks auf unser gemeinsames Konto bekommen. Vergiß das nicht.«

Es folgte eine Pause. Dann versicherte Cindy mit leiser wütender Stimme: »Hör mir gut zu! Es ist besser, wenn du heute abend hierher kommst, und zwar schnell. Wenn du nicht kommst, oder wenn du kommst und irgend etwas sagst, das mich in Verlegenheit bringt wie eben, dann ist Schluß. Hast du mich verstanden?«

»Nicht ganz«, antwortete Mel ruhig. Sein Instinkt warnte ihn, daß dieser Augenblick für sie beide bedeutsam war. »Vielleicht sagst du besser genau, was du damit meinst.«

»Rechne es dir selbst aus«, konterte Cindy.

Sie hängte ein.

Während Mel von der Garage zu seinem Büro hinauffuhr, erreichte sein Ärger den Siedepunkt. Er war nie so schnell wütend geworden wie Cindy. Er geriet nur langsam in Hitze. Aber jetzt kochte er.

Er war sich nicht ganz sicher, was im Brennpunkt seines Ärgers stand. Ein großer Teil richtete sich auf Cindy, aber auch andere Faktoren spielten mit. Da war sein berufliches Versagen, wie er es sah, bei der Wegbereitung eines neuen Zeitalters der Luftfahrt erfolgreich mitzuwirken; daß er anscheinend unfähig geworden war, andere noch für seine Überzeugungen zu gewinnen: lauter große, unerfüllte Hoffnungen. Irgendwie war ihm in seinem persönlichen wie in seinem beruflichen Leben seine Unzulänglichkeit zwiefach bezeugt worden, dachte Mel. Seine Ehe war gescheitert oder stand offensichtlich dicht davor; wenn es dazu kam, hatte er auch gegenüber seinen Kindern versagt. Zur gleichen Zeit hatten auf dem Flughafen, wo er Treuhänder für Tausende war, die täglich dort in gutem Glauben durchkamen, seine Mühen und seine Überzeugungskraft versagt, um den Verfall aufzuhalten. Dort verfielen die hohen Normen, an deren Errichtung er gearbeitet hatte, stetig.

Auf dem Weg zum Zwischenstock der Verwaltung begegnete er niemandem, den er kannte. Das war nur gut. Wenn er angesprochen worden wäre, hätte er auf jede Frage eine wütende Antwort geknurrt. In seinem Büro löste er sich aus dem schweren Mantel und ließ ihn, wo er hinfiel, auf dem Boden liegen. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte einen beißenden Geschmack, und er drückte sie wieder aus. Als er zu seinem Schreibtisch ging, spürte er den Schmerz in seinem Fuß, der jetzt heftiger auftrat.

Es hatte eine Zeit gegeben — sie schien weit zurückzuliegen —, in der er an einem solchen Abend, wenn sein verwundeter Fuß schmerzte, nach Hause gegangen war, wo Cindy drauf bestand, daß er sich ausruhte. Als erstes hatte er ein heißes Bad genommen, danach hatte sie ihm mit kühlen festen Fingern Rücken und Nacken massiert, während er mit dem Gesicht nach unten auf seinem Bett lag, bis der Schmerz in ihm verklungen war. Selbstverständlich war es unvorstellbar, daß Cindy das je wieder tun würde; doch selbst wenn sie es täte, bezweifelte er, daß es wirkte. Man konnte auch auf andere Weise, als durch gesprochene Worte, den Kontakt miteinander verlieren.

Mel setzte sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände.

Wie bereits draußen auf dem Flugfeld schauderte er plötzlich. Dann klingelte in dem stillen Büro unvermittelt ein Telefon. Als es wieder klingelte, erkannte er, daß es der an das rote Alarmsystem angeschlossene Apparat auf einem Ständer neben dem Schreibtisch war. Mit zwei schnellen Schritten hatte er ihn erreicht.

»Hier Bakersfeld.«

Er hörte Knacken und weitere Meldungen in der Leitung, als andere ihren Hörer abnahmen.

»Hier Flugsicherung«, verkündete die Stimme des Dienstleiters vom Kontrollturm. »Wir haben eine anfliegende Maschine in Alarmstufe drei.«

9

Keith Bakersfeld, Mels Bruder, hatte ein Drittel seiner Schicht auf der Radarstation der Flugsicherung hinter sich gebracht.

Bei der Radarkontrolle hatte der heutige Sturm eine tiefe, wenn auch nicht unmittelbare physische Wirkung gehabt. Für einen Zuschauer, dachte Keith, dem es an Einsicht für die komplexe Geschichte, die die Ansammlung der Radarschirme vor ihm erzählte, mangelte, hätte es so ausgesehen, als ob der Sturm, der hier draußen raste, an die tausend Meilen weit weg wäre.

Die Radarstation befand sich im Kontrollturm, ein Stockwerk tiefer als der glasumgebene Horst — die Turmkabine —, von der aus die Flugsicherung die Maschinen auf dem Boden und im umliegenden Luftraum dirigierte. Die Jurisdiktion der Radarabteilung reichte über den Flughafen weit hinaus, und die Radarkontrolle überbrückte die Lücke zwischen lokaler Kontrolle und dem nächsten Flugsicherungszentrum. Die Gebietszentren — in der Regel Meilen entfernt von jedem Flughafen — kontrollierten die Hauptflugrouten und den durch ihren Bereich führenden Verkehr.

Im Gegensatz zum oberen Teil des Turms hatte der Radarraum keine Fenster. Tag und Nacht arbeiteten auf Lincoln International zehn Radarkontroller und Inspektoren in ständigem Halbdunkel unter verschleierten milchigen Lichtern. Um sie her, an allen vier Wänden, dicht gepackt: Arbeitsmaterial, Radarschirme, Schalttafeln, Funkgeräte. In der Regel arbeiteten die Kontroller in Hemdsärmeln, da die Temperatur im Winter wie im Sommer konstant auf 21 Grad gehalten wurde, um die empfindlichen elektronischen Geräte zu schützen.

Der im Radarraum vorherrschende Ton war ruhig. Hinter dieser Ruhe verbarg sich aber zu jeder Zeit eine nervöse Spannung. Heute abend war die Spannung durch den Sturm stärker als sonst und wurde in den eben verstrichenen Minuten noch weiter gesteigert. Die Wirkung glich der weiteren Dehnung einer bereits gespannten Feder.

Ursache der zusätzlichen Steigerung war ein Signal auf einem Radarschirm, das seinerseits ein aufblitzendes Rotlicht und eine Alarmglocke im Kontrollraum ausgelöst hatte. Die Alarmglocke war nun abgestellt worden, doch das besondere Radarsignal blieb. Bekannt als Doppelblüte, war es auf dem halbdunklen Schirm wie eine kolossale grüne Nelke aufgeblüht und hatte ein Flugzeug in Not angezeigt. In diesem Falle war das Flugzeug eine KC-135 der US Air Force hoch oben über dem Flughafen im Sturm, die um Notlandung ersuchte. Keith Bakersfeld hatte vor dem flachen Schirm Dienst, und ein Inspektor war inzwischen zu ihm getreten. Beide übermittelten jetzt dringende, eilige Entscheidungen — über direkte Telefonverbindungen an die Kontroller in angrenzenden Positionen und über Sprechfunk an andere Flugzeuge in der Nähe.

Der Dienstleiter im Kontrollturm, ein Stockwerk über ihnen, war über das Notsignal sofort informiert worden. Er seinerseits hatte einen Notstand dritten Grades erklärt und die FlughafenBodeneinrichtungen alarmiert.

Das flache Radargerät — im Augenblick der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit — war eine horizontale, kreisrunde Glasscheibe in der Größe eines Fahrradreifens und ruhte auf einer Tischplattenkonsole. Seine Oberfläche war dunkelgrün mit leuchtend grünen Lichtpünktchen, die alle Flugzeuge in der Luft innerhalb eines Umkreises von vierzig Meilen anzeigten. Ganz wie sich die Flugzeuge bewegten, verschoben sich auch die Lichtpunkte. Neben jedem Lichtpunkt stand ein kleines Kunststoffschild, um das Flugzeug zu identifizieren. Diese Markierungen hießen in der Umgangssprache »Garnelenboote«. Sie wurden von den Kontrollern bewegt, je nachdem wie sich die Flugzeuge bewegten und ihre Positionen auf dem Schirm veränderten. Erschienen weitere Flugzeuge, wurden sie durch Sprechfunk identifiziert und gleichermaßen etikettiert. Neuere Radarsysteme verzichteten auf diese »Garnelenboote«; statt dessen erschienen kennzeichnende Buchstaben-Zahlengruppen, die auch die Flughöhe angaben, unmittelbar auf dem Radarschirm. Aber die neuere Methode war noch nicht allgemein in Gebrauch und wies, wie alle neuen Systeme, Mängel auf, die noch ausgemerzt werden mußten.

Heute abend war eine außergewöhnlich große Zahl von Flugzeugen in der Luft, und irgendwer hatte vorher schon die Bemerkung gemacht, die grünen Nadelpunkte vermehrten sich so rasch wie Ameisen.

Keith saß dicht vor der flachen Scheibe auf einem grauen Stahlstuhl, die hagere, spindeldürre Gestalt vorgeneigt. Sein Körper war gespannt; die unter dem Stuhl übereinandergeschlagenen Beine waren starr wie der Stuhl selbst. Er war konzentriert, sein Gesicht ausgemergelt und angespannt wie schon seit Monaten. Der grüne Widerschein des Geräts betonte unheimlich die tiefen Höhlungen unter seinen Augen. Jeder, der Keith gut kannte, ihn aber, sagen wir einmal, seit einem Jahr nicht gesehen hatte, wäre über seine Erscheinung und sein verändertes Wesen entsetzt gewesen. Früher hatte er eine gelockerte und natürliche Liebenswürdigkeit gezeigt; alle Anzeichen davon waren nun dahin. Keith war sechs Jahre jünger als sein Bruder Mel, wirkte aber erheblich älter.

Die Veränderung von Keith Bakersfeld war von seinen Kollegen bemerkt worden, von denen einige heute abend an anderen Plätzen im Radarraum arbeiteten. Sie kannten auch die Ursache dieser Veränderung, eine Ursache, die echtes Mitgefühl erregt hatte. Aber sie waren praktische Menschen mit einer sehr exakten Aufgabe, und gerade das bewog den Inspektor Wayne Tevis, Keith insgeheim zu beobachten und die Zeichen sich steigernder Anspannung zu registrieren, die sich seit einiger Zeit zeigte. Tevis, ein schlaksiger nölen-der Texaner, saß in der Mitte des Radarraums auf einem erhöhten Stuhl, von dem aus er über die Schultern der Arbeitenden die verschiedenen Radargeräte mit ihren besonderen Funktionen beobachten konnte. Tevis persönlich hatte den Stuhl mit Gleitrollen versehen; er ritt ihn zeitweise wie ein Pferd und schob sich mittels Tritten seiner handgearbeiteten Cowboystiefel dorthin, wo er im Augenblick gerade gebraucht wurde.

Während der vergangenen Stunde hatte Tevis sich keinen Moment weit von Keith entfernt. Der Grund war, daß Tevis bereit war, wenn nötig Keith von der Radarwache abzulösen, was, wie ihm sein Instinkt sagte, jederzeit nötig werden konnte.

Der Radarinspektor war ein freundlicher Mann, trotz seines Getues. Er scheute vor dem zurück, wozu er vielleicht gezwungen war. Er war sich im klaren darüber, wie weitreichend die Folgen für Keith sein würden. Doch das war gleichgültig: wenn es sein mußte, würde er handeln.

Die Augen auf den flachen Radarschirm vor Keith gerichtet, nölte er: »Na Keith, alter Junge, der Braniff-Flug ist scharf am Eastern. Wenn Sie Braniff nach rechts abdrehen, dann können Sie Eastern auf demselben Kurs halten.« Das hätte Keith selber sehen müssen, hatte es aber nicht bemerkt.

Das Problem, an dem die meisten der Besatzung des Radarraums fieberhaft arbeiteten, war, für die KC-135 der Air Force, die bereits zum Abstieg für eine Blindlandung aus zehntausend Fuß angesetzt hatte, freie Bahn zu schaffen. Die Schwierigkeit lag darin, daß unterhalb der großen Düsenmaschine der Air Force fünf FluglinienFlüge warteten, gestaffelt in Zwischenräumen von tausend Fuß, die in einem begrenzten Luftraum kreisten. Alle warteten darauf, mit dem Landen an die Reihe zu kommen. Wenige Meilen auf jeder Seite waren vielbenutzte Anflugschneisen mit weiteren Kolonnen von Flugzeugen, gleichfalls gestaffelt, und noch tiefer befanden sich drei weitere Verkehrsmaschinen bereits beim Landungsmanöver. Irgendwie mußte der Militärflug zwischen den gestaffelten Zivilflugzeugen hindurch nach unten eingefädelt werden, ohne daß es eine Kollision gab. Unter normalen Umständen würde diese Aufgabe die stärksten Nerven auf die Probe stellen. So aber wurde die Situation infolge des Ausfalls der Funkanlage bei der KC-135 noch komplizierter, denn dadurch war die Sprechverbindung mit dem Piloten der Air Force abgerissen.

Keith Bakersfeld schaltete sein Mikrofon ein. »Braniff Acht-Zwo-Neun, sofortige Wendung nach rechts, Kurs Null-Neun-Null.« In solchen Augenblicken, selbst wenn die Spannung fieberhaft gestiegen war, mußte die Stimme ruhig bleiben. Keiths Stimme war schrill und verriet seine Nervosität. Er sah, daß Wayne Tevis scharf zu ihm herüberblickte. Aber die Lichtpunkte auf dem Radarschirm die verdammt dicht beieinander waren, begannen sich zu trennen, so wie der Kapitän der Braniff instruiert worden war. Es gab Momente — und dies war so einer —, in denen die Kontroller Gott, oder an was immer sie glaubten, für die prompte, wachsame Reaktion der Fluglinienpiloten dankten. Die Piloten mochten wohl darüber fluchen — und taten es später auch —, wenn ihnen unerwartet Kursänderungen angegeben wurden, die knappe und plötzliche Wendungen erforderten, wodurch die Passagiere erschreckt wurden.

Aber wenn ein Kontroller den Befehl gab »sofort«, gehorchten sie unverzüglich und maulten erst hinterher.

In ein oder zwei Minuten würde der Braniff-Flug wieder gewendet werden, und das galt auch für Eastern, der auf gleicher Höhe stand. Vorher brauchte man noch neue Kurse für die beiden TWAs — der eine höher, der andere niedriger —, dazu noch eine Lake Central Convair, eine Air Canada Vanguard und eine Swissair, die gerade auf den Schirm kamen. Bis die KC-135 durchgeschleust war, mußten diesen und anderen Maschinen Zickzackkurse gegeben werden, wenn auch nur für kurze Strecken, da keine in angrenzende Lufträume abirren durfte. In gewisser Weise war es wie ein verzwicktes Schachspiel, nur daß alle Figuren auf verschiedenen Niveaus waren und sich mit mehreren hundert Stundenmeilen fortbewegten. Außerdem mußten bei diesem Spiel die Figuren, während sie sich ständig vorwärtsbewegten, höher oder niedriger gebracht werden, auch durften sie einander nie über drei Meilen seitlich und tausend Fuß in der Höhe näher kommen. Und während all das vor sich ging, mußten Tausende von Passagieren, die sich nach dem Ende ihrer Reise sehnten, auf ihren fliegenden Sesseln sitzen bleiben — und warten.

In Augenblicken der Entspannung fragte Keith sich, wie der Pilot der Air Force in seinen Schwierigkeiten und bei seinem Abstieg durch Sturm und einen von Flugzeugen wimmelnden Luftraum sich wohl fühlte. Sehr einsam wahrscheinlich; der Pilot hatte zwar seinen Kopiloten und seine Besatzung, ebenso wie Keith seine Kollegen hatte, die in diesem Augenblick beinahe in Tuchfühlung neben ihm saßen. Doch eine Nähe, die wirklich zählte, war das nicht. Nicht — wenn man allein war in der innersten Kammer seines Gemüts, die kein anderer betreten konnte, und in der man lebte — allein und einsam — mit Erkenntnis, Erinnerung, Gewissen und Angst. Allein, vom Augenblick der Geburt an, bis man starb. Immer und für ewig allein.

Keith Bakersfeld wußte, wie sehr allein ein Mensch sein konnte.

Der Reihe nach gab Keith neue Kurse durch: Swissair, einer der beiden TWAs, der Lake Central und der Eastern. Er konnte hören, wie hinter ihm Wayne Tevis versuchte, mit der KC-135 der Air Force wieder in Funkverbindung zu kommen. Immer noch keine Antwort, außer daß das vom Piloten der KC-135 ausgegebene Not-Radar-Signal immer noch auf dem Schirm blühte. Die Stellung der Blüte zeigte aber an, daß der Pilot das Richtige tat und genau die Instruktionen befolgte, die ihm gegeben worden waren, ehe die Funkverständigung ausfiel. Da er so handelte, dürfte er gewußt haben, daß die Flugsicherung seine Bewegungen vorausgeahnt hatte. Er mußte auch wissen, daß seine Position auf dem Radarschirm am Boden beobachtet werden konnte, und verließ sich darauf, daß anderer Verkehr ihm aus dem Weg gehalten würde.

Keith wußte, daß die Air-Force-Maschine in Hawaii gestartet war, über der Westküste in der Luft aufgetankt hatte und sich auf einem Non-Stop-Flug mit dem Ziel Andrews Air Force Base bei Washington befand. Doch westlich der kontinentalen Wasserscheide hatte es einen Maschinenschaden gegeben und später Störungen in der elektrischen Anlage, was den Kommandanten des Flugzeugs veranlaßte, eine unplanmäßige Landung in Smoky Hill, Kansas, zu wählen. In Smoky Hill war aber die Schneeräumung der Landebahn noch nicht beendet gewesen, und die KC-135 wurde nach Lincoln International umgeleitet. Die Routenkontrolle gängelte den Militärflug nordostwärts über Missouri und Illinois. In dreißig Meilen Entfernung übernahm dann die Anflugkontrolle West, in Person von Keith Bakersfeld, die Maschine. Bald danach war dann zusätzlich zu den anderen Schwierigkeiten für den Piloten die Funkverbindung ausgefallen.

Waren die Flugbedingungen normal, vermieden Militärflugzeuge meistens zivile Flughäfen. Doch bei einem derartigen Sturm wurde ohne weiteres um Hilfe gebeten und Hilfe gewährt.

In dem verdunkelten, dichtbesetzten Raum kamen, ebenso wie Keith, auch andere Kontroller ins Schwitzen. Aber keine Spur von Hochdruck oder Spannung darf durch die Stimme des Kontrollers verraten werden, wenn er mit Piloten in der Luft spricht. Die Piloten hatten ja stets und ständig sich um genug anderes zu kümmern. Heute abend jedoch, bei Sturm und dauerndem Blindflug mangels jeder Sicht, vervielfältigten sich die Anforderungen an ihre Tüchtigkeit und ihre Geschicklichkeit. Die meisten der Piloten hatten bereits, infolge der durch den starken Verkehr verursachten Verspätungen, Überstunden geflogen; jetzt würden sie noch länger in der Luft bleiben müssen.

Von jeder Radarkontrollstelle ging ein schneller ruhiger Strom von Weisungen aus, weitere Flüge dem Gefahrengebiet fernzuhalten. Die Maschinen warteten darauf, daß sie an die Reihe kämen zum Landen, und alle paar Minuten stießen neue Anflüge zu ihnen, die aus den Luftkorridoren kamen. Ein Kontroller rief leise, aber dringend über die Schulter: »Verdammt, der hat mir noch gefehlt! Kannst du mir Delta Sieben-Drei abnehmen?« Das war die Art der Kontroller, wenn sie in Schwierigkeiten kamen und mehr hatten, als sie bewältigen konnten. Eine andere Stimme: »Himmel! — hab selbst gerade genug . . . Warte mal! . . . Wahrhaftig, ich hab ihn.« Eine Sekunde Pause. »Delta Sieben-Drei von Lincoln Anflugkontrolle. Links abbiegen; Kurs Eins-Zwei-Null. Höhe beibehalten, viertausend!« Kontroller halfen sich untereinander, wenn sie konnten. Ein paar Minuten später mochte der zweite vielleicht selber Hilfe brauchen. »He! Paß auf den Northwest auf, der kommt durch von der anderen Seite. Mein Gott! Das wird ja jetzt wie auf der Hauptstraße bei Büroschluß.« — »American Vier-Vier, gegenwärtigen Kurs halten. Geben Sie Ihre Höhe an . . . Abfliegende Lufthansa vom Kurs abgekommen. Bringt ihn doch zum Kuckuck aus dem Anflugsgebiet!« . . . Abfliegende Maschinen wurden weit um die Gefahrenzone herumgeleitet, aber Anflüge mußten aufgehalten werden, und kostbare Landezeit ging verloren. Selbst später, wenn die Gefahr vorüber war, würde es, das wußte jeder, eine Stunde oder mehr dauern, das Verkehrsdurcheinander aufzulösen, Keith Bakersfeld gab sich große Mühe, seine Konzentration nicht zu verlieren und eine klare Vorstellung von seinem Sektor und jedem Flugzeug in ihm zu behalten. Das erforderte ständiges Auswendiglernen — Identifikation, Position, Flugzeugtyp, Geschwindigkeit, Höhe, Reihenfolge der Landungen — ein detailliertes dreidimensionales Diagramm mit dauernden Änderungen — ein Bild, das niemals gleichblieb. Selbst in ruhigeren Zeiten ließ die geistige Spannung nicht nach; heute abend verlangte der Sturm das Äußerste an Konzentration. Der Alptraum jedes Kontrollers war, »das Bild zu verlieren«, ein Augenblick, in dem ein überanstrengtes Gehirn rebellierte und alles leer wurde. Das kam gelegentlich vor, selbst bei den Besten.

Keith war einer der Besten gewesen. Bis vor einem Jahr war er es, an den sich die Kollegen wandten, wenn die Konzentration unter dem Hochdruck nachließ. »Keith, mir wird mulmig! Kannst du ein paar übernehmen?« Und das tat er immer.

Doch in letzter Zeit waren die Rollen vertauscht. Nun deckten ihn die Kollegen, soweit sie nur konnten, aber es gab eine Grenze dafür, wie weit ein Mensch einem anderen helfen und gleichzeitig die eigene Arbeit verrichten konnte.

Weitere Instruktionen über Funk wurden nötig. Keith war allein; Tevis, der Inspektor, hatte sich und seinen Hochsitz durch den Raum katapultiert, um einen anderen Kontroller zu überprüfen. Keiths Gedanken trafen Entscheidungen: Schick Braniff nach links, Air Canada nach rechts, Eastern um hundertachtzig Grad. Das geschah; auf dem Schirm änderten die Punkte die Richtung. Die langsamer fliegende Lake Central Convair konnte noch eine Minute in Ruhe gelassen werden. Die schnelle Düsenmaschine der Swissair aber nicht; sie konvergierte mit Eastern. Swissair muß sofort neuen Kurs kriegen, aber welchen? Denk schnell nach! Fünfundvierzig Grad, aber nur für eine Minute, dann wieder rechts. Behalte TWA und Northwest im Auge. Ein neuer Flug kommt aus Westen in hohem Tempo — identifiziere und finde mehr Luftraum. Konzentrieren, konzentrieren!

Keith beschloß erbittert: Er würde das Bild nicht verlieren; heute abend nicht, jetzt nicht.

Dafür gab es einen Grund; ein Geheimnis, das er mit keinem Menschen geteilt hatte, nicht einmal mit Natalie, seiner Frau. Nur Keith Bakersfeld, nur Keith allein, wußte, daß er heute zum letztenmal vor einem Radarschirm saß und eine Wache durchstand. Heute war sein letzter Tag bei der Flugsicherung. Bald würde es vorüber sein.

Es war auch der letzte Tag seines Lebens.

»Machen Sie eine Pause, Keith.«: Es war die Stimme des Dienstleiters.

Keith hatte den Dienstleiter nicht hereinkommen sehen. Es war unbemerkt geschehen, und nun stand er neben dem Inspektor.

Vor einem Augenblick noch hatte Tevis dem Dienstleiter in aller Ruhe gesagt: »Keith ist ganz in Ordnung, glaube ich. Vor ein paar Minuten war ich besorgt, aber er scheint sich zusammengerissen zu haben.« Tevis war froh, daß er den drastischen Schritt, an den er vorher gedacht hatte, nicht anzuwenden brauchte, doch der Dienstleiter flüsterte: »Wir wollen ihn aber auf jeden Fall eine Weile ablösen.« Und als Nachsatz: »Ich übernehme das.«

Als Keith flüchtig die beiden Männer zusammenstehen sah, wußte er sofort, weshalb er abgelöst wurde. Die Krise war ja immer noch da, und sie trauten ihm nicht. Die Pause war ja nur ein Vorwand; sie war für ihn erst in einer halben Stunde fällig. Sollte er dagegen protestieren? Für einen Kontroller seines Dienstalters war das eine Schande, die von den anderen bemerkt wurde. Dann dachte er aber: Warum jetzt einen Streitfall daraus machen? Es lohnte sich nicht. Außerdem würden ihm zehn Minuten Pause gut tun.

Hinterher, wenn die schlimmste Gefahr vorüber war, konnte er ja für den Rest der Schicht wieder an die Arbeit zurückkehren.

Wayne Tevis beugte sich vor. »Lee wird Sie ablösen, Keith.« Er ging zu einem anderen Kontroller, der gerade von seiner Pause zurückgekommen war — einer planmäßigen.

Keith nickte ohne Kommentar, obgleich er an seinem Platz blieb und weitere Weisungen an Flugzeuge gab, während der neue Mann sich ins Bild setzte.

In der Regel brauchte ein Kontroller mehrere Minuten, um an einen anderen zu übergeben. Der Ablösende mußte das Radarbild studieren, eine Übersicht von der Gesamtlage gewinnen. Er mußte sich völlig darauf einstellen.

Diese innere Vorbereitung gehörte zur Arbeit. Die Kontroller nannten es »das Messer wetzen«, und Keith hatte es in seinen fünfzehn Jahren bei der Flugsicherung regelmäßig beobachtet, bei anderen und bei sich selbst. Man tat das, weil man es tun mußte, wenn man einen Dienst übernahm. Zu anderen Zeiten wurde es eine Reflexhandlung, so zum Beispiel, wenn Kontroller gemeinsam zur Arbeit fuhren, wie es manche taten. Bei der Abfahrt von zu Hause war die Unterhaltung entspannt und normal. An diesem Punkt der Fahrt erfolgte auf eine belanglose Frage wie: »Gehst du am Samstag zum Ballspiel?« eine ebenso belanglose Antwort — »Klar«, oder »Schaff es diese Woche wohl nicht.« Aber je näher man dem Arbeitsplatz kam, desto knapper wurde die Unterhaltung, so daß die gleiche Frage — eine viertel Meile vor dem Flughafen — ein knappes »Ja« oder »Nein« auslösen würde.

Zur Konzentration kam noch ein anderes Erfordernis — eine beherrschte, angelernte Ruhe während des ganzen Dienstes. Diese beiden Erfordernisse — widersprüchlich in Begriffen der menschlichen Natur — waren geistig erschöpfend und wurden auf die Dauer zur Plage. Viele Kontroller bekamen Magengeschwüre, die sie verheimlichten, aus Angst, die Stellung zu verlieren. Folge dieser Verheimlichung war, daß sie lieber für ärztliche Behandlung bezahlten, als die freie ärztliche Betreuung in Anspruch zu nehmen, zu der sie ihre Anstellung berechtigte. Im Dienst verbargen sie ihre Pillenschachteln — »Zur Behebung gastrischer Hyperacidität« — in ihren Spinden und benutzten sie dann eifrig in den Pausen.

Es gab aber noch andere Auswirkungen. Manche Kollegen — Keith Bakersfeld kannte verschiedene — waren zu Hause unfreundlich und reizbar, oder neigten als Reaktion auf die Unterdrückung jedes Gefühls im Dienst zu Wutausbrüchen. Bedenkt man dazu noch die Unregelmäßigkeit der Dienst- und Ruhestunden, die jede Haushaltsführung erschwerte, dann war die Wirkung vorauszusehen. Bei Kontrollern war die Liste der Familienschwierigkeiten sehr lang und die Scheidungsrate hoch.

»In Ordnung«, sagte der Neue. »Ich bin im Bild.«

Keith schob sich von seinem Sitz und legte seinen Kopfhörer ab, als der ablösende Kollege seinen Platz einnahm.

Der Dienstleiter sprach Keith an: »Ihr Bruder sagte, er käme später vielleicht auf einen Sprung herein.«

Keith nickte, als er den Raum verließ. Dem Dienstleiter trug er nichts nach, denn der hatte ja schließlich seine eigene Verantwortung zu verteidigen, und Keith war froh darüber, daß er keinen Protest gegen seine vorzeitige Ablösung eingelegt hatte. Nach nichts verlangte es Keith im Augenblick mehr als nach einer Zigarette, einem Kaffee und Alleinsein. Er war auch froh — da nun die Entscheidung über ihn gefallen war —, aus der Notstandssituation heraus zu sein. In letzter Zeit war er in zu viele verwickelt worden, um es nun zu bedauern, daß er den Höhepunkt einer weiteren versäumte.

Luftverkehrsnotstände der einen oder anderen Art kamen auf Lincoln International täglich mehrere Male vor — wie auf jedem großen Flughafen. Bei jedem Wetter konnten sie eintreten — am klarsten Tag ebensogut wie in einer Sturmnacht wie der heutigen. Im allgemeinen merkten nur wenige Menschen etwas von solchen Vorkommnissen, weil fast alle glücklich gelöst wurden, und selbst Piloten in der Luft wurde selten der Grund für Verzögerungen oder plötzliche Weisungen, dahin oder dorthin abzubiegen, genannt. Einmal brauchten sie es nicht zu wissen, und dann war auch gar keine Zeit für Schwätzereien über Funk. Rettungsmannschaften, Feuerwehr, Unfallwagen und Polizei wurden ebenso wie die oberste Flughafenverwaltung stets alarmiert, und die Verfügungen, die sie trafen, hingen von der erklärten Alarmstufe ab. Stufe eins war die ernsteste, wurde aber selten ausgegeben, denn sie signalisierte einen tatsächlichen Absturz. Stufe zwei war die Warnung von drohender Lebensgefahr oder schwerer Beschädigung. Stufe drei, wie jetzt, war eine allgemeine Alarmierung aller Einrichtungen des Flughafens bereitzustehen, ob sie nun gebraucht wurden oder nicht. Für Kontroller bedeutete jede Alarmstufe zusätzliche Anspannung und Nachwirkungen.

Keith betrat den Garderobenraum, der an den Radarkontroll-raum angrenzte. Jetzt, da er ein paar Minuten hatte, um ruhiger nachzudenken, hoffte er im Interesse aller, daß der Pilot der Air Force KC-135 und alle anderen, die in der Luft waren, sicher durch den Sturm herunterkamen.

Der Garderobenraum war eine kleine Zelle mit einem einzigen Fenster. Drei Wände bedeckten Metallspinde, und eine Holzbank stand in der Mitte. Ein Anschlagbrett neben dem Fenster trug eine wahllose Sammlung von Berichten und Mitteilungen der geselligen Vereinigungen des Flughafens. Eine nackte Birne an der Decke blendete nach dem Halbdunkel im Radarraum. Niemand war sonst in der Garderobe, und Keith griff nach dem Schalter und knipste das Licht aus. Von den Flutlichtern außen am Kontrollturm drang genug Licht herein, um zu sehen. Keith zündete sich eine Zigarette an. Dann öffnete er seinen Spind und holte die Frühstückstasche heraus, die Natalie vor seiner Abfahrt von zu Hause heute nachmittag gepackt hatte. Als er den Kaffee aus der Thermosflasche goß, fragte er sich, ob Natalie wohl ein Zettelchen neben seine Sandwichs gesteckt habe, oder wenn nicht das, dann irgendeinen kleinen Artikel, den sie aus einer Zeitung oder einer Illustrierten ausgeschnitten hatte. Das tat sie oft und hoffte ihn damit, wie er annahm, aufzuheitern. Gleich von Beginn seiner Schwierigkeiten an hatte sie sich sehr darum bemüht. Zuerst hatte sie es mit ganz augenfälligen Mitteln versucht, und als das nichts half, hatte sie zu weniger auffälligen gegriffen, obwohl er stets genau merkte — in einer distanzierten, unpersönlichen Weise —, was Natalie tat und beabsichtigte. In letzter Zeit waren ihre Zettelchen und die Ausschnitte seltener geworden.

Vielleicht hatte Natalie schließlich auch den Mut verloren. Sie sprach wenig in letzter Zeit, und er sah an ihren roten Augen, daß sie manchmal geweint hatte.

Keith hätte ihr gern geholfen, als er das merkte. Aber wie konnte er das — er, der sich ja selbst nicht helfen konnte?

Ein Foto von Natalie war auf der Innenseite seiner Spindtür angeklebt — ein farbiger Schnappschuß, den Keith einmal gemacht hatte. Schon vor langem hatte er das Bild mitgebracht. Jetzt beleuchtete das Licht von draußen das Foto nur schwach, aber er kannte es so gut, daß er deutlich sehen konnte, was darauf war, ob es nun hell beleuchtet war oder nicht.

Das Foto zeigte Natalie im Bikini. Sie saß auf einem Felsen, lachte und schützte mit einer ihrer schlanken Hände die Augen vor der Sonne. Ihr lichtbraunes Haar flatterte nach hinten. Ihr schmales, keckes Gesicht zeigte die Sommersprossen, die jedes Jahr wieder erschienen. In Natalie Bakersfeld steckte etwas von einem frechen, mutwilligen Kobold, aber auch eine große Willensstärke, und die Kamera hatte beides eingefangen. Im Hintergrund des Bildes waren ein See mit blauem Wasser, hohe Weißtannen und eine Felsenschlucht. Sie hatten mit dem Wagen eine Fahrt nach Kanada gemacht, an den Haliburton-Seen gezeltet und die Kinder, Brian und Theo, diesmal in Illinois bei Mel und Cindy zurückgelassen. Dieser Urlaub erwies sich als eine der schönsten Zeiten, die Keith und Natalie je erlebt hatten.

Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dachte Keith, sich heute abend daran zu erinnern.

Hinter dem Bild steckte ein zusammengefaltetes Stück Papier.

Das war einer dieser Zettel, an die er gedacht hatte und die Natalie ab und zu in seine Frühstückstasche steckte. Dieser war schon einige Monate alt, und Keith hatte ihn aus irgendeinem Grund aufgehoben. Obwohl er wußte was darauf stand, zog er ihn heraus und trat damit ans Fenster, um ihn zu lesen. Es war ein Ausschnitt aus einer der Illustrierten, und darunter standen ein paar Zeilen in der Handschrift seiner Frau.

Natalie hatte alle möglichen ausgefallenen Interessen, manchmal sehr weitreichende, für die sie Keith und die Jungen zu gewinnen suchte. Dieser Ausschnitt handelte von laufenden Experimenten einiger Genetiker in den Staaten. Wie es da hieß, sei es nun möglich, menschliches Sperma schnell einzufrieren. Das Sperma, tiefgekühlt gelagert, blieb so unbegrenzt lange haltbar. Sobald es wieder aufgetaut wurde, konnte es jederzeit für die Befruchtung von Frauen verwendet werden — sei es bald oder Generationen später. Natalie hatte dazu geschrieben:

»Noah hätte seine Arche um die Hälfte kleiner machen können, hätte er gewußt, was die Spermatozoen alles mit sich machen lassen. Um Babys dutzendweise zu kriegen, braucht man heute also nur noch die Tür zum Kühlschrank zu öffnen.

Nun, ich bin froh darüber, daß wir unseren Anteil noch mit Liebe und Leidenschaft bekommen haben.«

Sie hatte es damals versucht und versuchte immer noch verzweifelt, ihrem Leben wieder eine Wendung zu geben — ihrer beider Leben und dem ihrer Familie —, es auf die Bahn zurückzuführen, die es früher einmal hatte. Mit Liebe und Leidenschaft.

Mel war ihr zu Hilfe gekommen und hatte mit Natalie versucht, seinen Bruder zu bewegen, gegen die Flut der Selbstquälereien und Depressionen anzukämpfen, die ihn völlig überwältigten.

Zu dieser Zeit hatte ein Teil von Keith noch selbst den Wunsch gehabt, darauf einzugehen, hatte versucht, irgendwo im Unterbewußtsein einen Geistesfunken anzufachen, war bemüht gewesen, sich ihrer Kraft dadurch anzupassen, daß er seine eigene stärkte und auf erwiesene Liebe selbst mit Liebe reagierte. Doch die Bemühung mißlang. Sie mißlang — wie er es vorher gewußt hatte —, weil in ihm nichts von Weichheit, nichts von Gefühl übrig geblieben war. Weder Wärme noch Liebe, nicht einmal Ärger darüber, angetrieben zu werden. Nur noch Öde, Gewissensangst und grenzenlose Verzweiflung.

Natalie hatte nun ihren Fehlschlag erkannt, dessen war er sicher. Das war der Grund, vermutete er, weswegen sie weinte, irgendwo, ungesehen.

Und Mel? Auch Mel hatte es vielleicht aufgegeben. Obwohl nicht so ganz und gar — Keith erinnerte sich an das, was ihm der Dienstleiter gesagt hatte. »Ihr Bruder sagte, er würde vielleicht mal hereinschauen . . .«

Es wäre einfacher, wenn Mel es nicht täte. Keith fühlte sich einer Auseinandersetzung nicht gewachsen, gerade weil sie sich ihr ganzes Leben über so nahe gestanden hatten, wie Brüder es nur tun können. Mels Gegenwart mochte zu Verwicklungen führen.

Keith fühlte sich zu ausgelaugt, zu schwach für irgendwelche weiteren Komplikationen.

Er fragte sich erneut, ob Natalie heute wohl wieder einmal einen Zettel zu seinen Broten gesteckt hatte. Er packte seine Vorräte mit aller Vorsicht aus, in der Hoffnung, daß sie es getan hätte.

Er fand Brote mit Schinken und Wasserkresse, eine Dose mit Quark, eine Birne und Einwickelpapier. Sonst nichts.

Jetzt, als er wußte, daß sonst nichts da war, wünschte er verzweifelt, es wäre eine Mitteilung dabeigewesen, irgendeine Nachricht, selbst die allerunwichtigste. Dann fiel ihm ein — es war ja seine eigene Schuld; sie hatte ja keine Zeit dazu gehabt. Heute war er wegen der Vorbereitungen, die er treffen mußte, früher als sonst von zu Hause aufgebrochen. Natalie, der er es nicht vorher angesagt hatte, war in Eile gewesen. Zwar hatte er ihr vorgeschlagen, heute nichts mitzunehmen, sondern in einer der Kaffeestuben auf dem Flughafen schnell einen Happen zu essen. Aber Natalie, die wußte, daß die Kaffeestuben überlaufen und laut sein würden, was Keith nicht ausstehen konnte, hatte ihm widersprochen und so schnell wie möglich alles zurechtgemacht. Sie hatte nicht gefragt, warum er so früh aufbrechen wolle, obwohl sie, wie er wußte, neugierig war. Keith war erleichtert, daß es keine Fragen gegeben hatte. Wenn sie gefragt hätte, dann hätte er irgendwas erfinden müssen, und er hätte es ungern gesehen, wenn die letzten Worte zwischen ihnen eine Lüge gewesen wären.

So aber war ausreichend Zeit geblieben. Er war in das Geschäftsviertel des Flughafens gefahren und hatte sich in der O'Hagan Inn eingetragen, wo er schon früher am Tage telefonisch ein Zimmer bestellt hatte. Er hatte alles sorgfältig überlegt und folgte einem bereits vor einigen Wochen ausgearbeiteten Plan — aber er hatte mit dessen Ausführung gewartet, sich Zeit gelassen, um darüber nachzudenken und seiner selbst sicher zu sein, ehe er ihn in die Tat umsetzte. Er hatte sich sein Zimmer angesehen und dann das Hotel verlassen und war noch rechtzeitig zum Beginn seines Dienstes auf dem Flughafen angekommen.

Die O'Hagan Inn war nur ein paar Minuten Wagenfahrt vom Lincoln International Airport entfernt. In einigen Stunden, sobald seine Schicht beendet war, würde er schnell hinfahren. Den Zimmerschlüssel hatte er in der Tasche. Um sich dessen zu vergewissern, zog er ihn heraus.

10

Die Mitteilung über eine Versammlung der Bürgerschaft von Meadowood, die der Dienstleiter Mel vor kurzem durchgegeben hatte, stimmte genau.

Diese Versammlung im Gemeindesaal der Kirche von Meado-wood — fünfzehn Düsenflugsekunden vom Ende der Startbahn Zwei-Fünf entfernt, tagte bereits seit einer halben Stunde. Sie hatte später als vorgesehen begonnen, da die meisten der Anwesenden sich ihren Weg zu Fuß oder im Wagen durch tiefen Schnee hatten bahnen müssen. Doch irgendwie waren sie gekommen.

Es war eine gemischte Gesellschaft, wie man sie in jeder durchschnittlich wohlhabenden Trabantenstadt findet. Von den Männern waren einige mittlere Beamte, andere Handwerker, mit einem Einsprengsel von lokalen Geschäftsleuten. Der Zahl nach waren Männer und Frauen annähernd gleich. Da es Freitagabend war, also Anfang des Weekends, waren die meisten nachlässig gekleidet; darin machten nur ein halbes Dutzend Besucher von außerhalb und verschiedene Pressereporter eine Ausnahme.

Der Saal war unangenehm überfüllt, die Luft stickig und verräuchert. Alle vorhandenen Stühle waren besetzt, und mindestens hundert Personen mußten stehen.

Daß überhaupt so viele an einem solchen Abend ihre warmen Wohnungen verlassen hatten und erschienen waren, war ein Beweis für ihren Unmut und ihre Sorge.

Im Augenblick waren auch alle gleich wütend.

Diese Wut lag in der Luft, spürbar wie der Tabaksqualm, und hatte zwei Ursachen. Die erste war die seit langem herrschende Erbitterung über ein Nebenprodukt des Flughafens — den donnernden, ohrenbetäubenden Lärm der Düsenmaschinen, der Tag und Nacht über die Häuser Meadowoods herfiel, und sowohl im Wachen wie im Schlafen Frieden und Privatsphäre zerrüttete. Die zweite war die gegenwärtig herrschende Behinderung: Während eines großen Teils der Zusammenkunft waren die Teilnehmer bisher nicht in der Lage gewesen, sich einander verständlich zu machen.

Mit gewissen akustischen Schwierigkeiten hatte man ja gerechnet. Schließlich war es der Lärm, um den es bei der Versammlung ging, und deshalb war eine transportable Lautsprecheranlage von der Kirche ausgeborgt worden. Nicht gefaßt war man aber darauf, daß heute abend Düsenmaschinen unmittelbar über dem Dach aufsteigen und menschliche Ohren und technische Sprechanlagen außer Gefecht setzen würden. Der Grund dafür, den die Versammlung nicht kannte und der sie auch nicht interessierte, war, daß eine festgefahrene Boeing 707 der Aereo Mexican Startbahn Drei-Null blockierte und die anderen Flugzeuge angewiesen wurden, statt dessen Startbahn Zwei-Fünf zu benutzen. Und diese Startbahn zielte wie ein Pfeil direkt auf Meadowood. Startbahn Drei-Null dagegen lenkte die Abflüge wenigstens leicht seitwärts.

In einen Augenblick der Stille hinein brüllte der Versammlungsleiter mit gerötetem Gesicht: »Meine Damen und Herren, seit Jahren haben wir mit der Flughafenleitung und den Fluggesellschaften zu verhandeln versucht. Wir haben auf die Beeinträchtigung unseres häuslichen Friedens hingewiesen. Wir haben dargetan, mit unabhängigen Gutachten dargetan, daß ein normales Leben unter diesem Trommelfeuer von Lärm, das wir über uns ergehen lassen müssen, unmöglich ist. Wir haben vorgebracht, daß unsere Gesundheit unmittelbar gefährdet ist, daß unser Leben und das unserer Frauen und Kinder von Nervenzusammenbrüchen bedroht wird, die einige unter uns bereits erlitten haben.«

Der Versammlungsleiter war ein feister, kahlköpfiger Mann in den Sechzigern. Er hieß Floyd Zanetta, war Geschäftsführer einer Druckerei, Hausbesitzer in Meadowood und bekannt dafür, daß er sich der Gemeindeangelegenheiten annahm. An seinem sportlichen Sakko trug er das Abzeichen seiner langjährigen Zugehörigkeit zu den Kiwanis. Neben ihm nahm ein makellos gekleideter jüngerer Mann das kleine Podium am Kopfende des Saales ein. Der jüngere Mann saß; er hieß Elliott Freemantle und war Rechtsanwalt. Eine Aktenmappe aus schwarzem Leder stand geöffnet neben ihm.

Floyd Zanetta hieb mit der Hand auf das Pult, hinter dem er stand. »Was tun der Flughafen und die Fluggesellschaften? Ich will Ihnen sagen, was sie tun: Sie tun so, als ob; als ob sie zuhörten. Und während sie so tun, machen sie Versprechungen und wieder Versprechungen, die sie gar nicht zu halten die Absicht haben. Die Flughafenverwaltung, die F.A.A. und die Fluggesellschaften sind Lügner und Betrüger . . .«

Das Wort Betrüger war untergegangen.

Es war von einem unglaublichen Lärmcrescendo verschluckt worden, von einem gewaltigen Aufbrüllen, das das Gebäude zu packen und zu erschüttern schien. Abwehrend hielten sich viele im Saal die Ohren zu. Manche blickten nervös nach oben. Andere, mit wütenden Blicken, redeten hitzig auf neben ihnen Sitzende ein, obgleich höchstens ein Kenner der Taubstummensprache sie hätte verstehen können; Worte waren nicht zu vernehmen. Eine Wasserkaraffe auf dem Rednerpult fing zu tanzen an, und wenn Zanetta sie nicht schnell ergriffen hätte, wäre sie zu Boden gefallen und zerbrochen.

So schnell wie das Brüllen angefangen und sich gesteigert hatte, ließ es auch wieder nach und verklang. Bereits meilenweit fort und Hunderte Fuß hoch, stieg Flug 58 der Pan American durch Sturm und Dunkelheit, strebte größeren, klaren Höhen zu, bog auf den Kurs nach Frankfurt, Deutschland, ein. Nun rollte Continental Airlines 23, Bestimmungsort Denver, Colorado, dem Anfang der Startbahn Zwei-Fünf zu, klar zum Abflug — über Meadowood. Eine lange Reihe weiterer Flugzeuge wartete bereits startklar auf den angrenzenden Taxibahnen darauf, daß sie an die Reihe kämen.

So war es schon den ganzen Abend über gewesen, bereits ehe die Meadwoodo-Versammlung begonnen hatte. Und als sie begann, mußte über die Angelegenheit in den kurzen Intervallen zwischen dem überwältigenden Lärm der Abflüge verhandelt werden.

Zanetta fuhr hastig fort: »Ich sagte, sie sind Lügner und Betrüger. Was jetzt und hier vor sich geht, ist ein schlüssiger Beweis dafür. Schließlich und endlich haben wir doch einen Anspruch auf Maßnahmen zur Lärmbekämpfung, aber heute abend ist selbst das . . .«

»Herr Vorsitzender«, warf hier eine Frauenstimme aus dem Hintergrund des Saales ein, »das alles haben wir ja früher bereits gehört. Wir wissen es alle, und es wieder und wieder durchzukauen, ändert nichts.« Alle Augen wendeten sich der Frau zu, die jetzt stand. Sie hatte ein strenges, intelligentes Gesicht, und das schulterlange braune Haar war ihr ins Gesicht gefallen, so daß sie es ungeduldig zurückwarf. »Was ich gern wissen möchte, und andere auch, ist: Was können wir tatsächlich unternehmen, und was soll unser nächster Schritt sein?«

Spontanes Händeklatschen und Beifallsrufe waren die Antwort.

Gereizt sagte Zanetta: »Wenn Sie mich bitte zu Ende . . .«

Er kam nie zu Ende.

Wieder einmal beherrschte das alles übertönende Dröhnen den Gemeindesaal.

Das zeitliche Zusammenfallen mit der letzten Bemerkung sorgte für das einzige Gelächter an diesem Abend. Selbst der Versammlungsleiter grinste kläglich, als er seine Hand zu einer verzweiflungsvollen Geste hob. Eine Männerstimme rief mürrisch: »Machen Sie endlich weiter!«

Zanetta nickte zustimmend. Er fuhr fort, sich vorsichtig seinen Weg, wie ein Kletterer in den Felsen, zwischen den ständig wiederkehrenden Lärmspitzen über ihnen zu suchen. Was die Gemeinde tun müsse, erklärte er, sei/alle Höflichkeit und alle maßvollen Vorstellungen bei der Flughafenverwaltung und anderen Stellen aufzugeben und statt dessen den Rechtsweg zu beschreiten. Die Einwohner von Meadowood seien doch Bürger mit verfassungsmäßigen Rechten, die jetzt verletzt würden. Daher müßten sie bereit sein, vor Gericht zäh und wenn nötig unbarmherzig zu kämpfen. Was die Form angehe, die ein rechtliches Vorgehen annehmen sollte, so habe zufällig ein namhafter Rechtsanwalt, Mr. Elliott Freemantle, der in der City sein Büro habe, sich bereit erklärt, an der Versammlung teilzunehmen. Mr. Freemantle habe die Gesetze zum Schutz der Privatsphäre gegen Lärmbelästigung durch den Flugverkehr studiert, und gleich würden alle, die dem Sturm getrotzt hätten, um anwesend zu sein, das Vergnügen haben, diesen ausgezeichneten Gentleman zu hören. Er werde in der Tat einen Vorschlag unterbreiten . . .

Als die Gemeinplätze so weiterrollten, wurde Elliott Freemantle nervös. Er fuhr sich mit der Hand über sein gepflegtes, angegrautes Haar, fingerte über die Glätte seines Kinns und seiner Wange — er hatte sich eine Stunde vor der Versammlung frisch rasiert —, und sein scharfer Geruchssinn bestätigte ihm, daß das exklusive Gesichtswasser, das er nach dem Rasieren und den Rotlichtbestrahlungen stets gebrauchte, immer noch vorhielt. Er schlug seine Beine wieder übereinander, bemerkte, daß seine Zweihundert-Dollar-Krokodilleder-Schuhe noch spiegelblank waren, und bemühte sich, die Bügelfalten seines Maßanzugs nicht zu zerknittern. Elliott Freemantle hatte bereits vor langer Zeit die Entdeckung gemacht, daß die Leute es lieber hatten, wenn ihre Rechtsanwälte — im Gegensatz zu ihren Ärzten — wohlhabend aussahen. Wohlhabenheit vermittelte bei einem Anwalt eine Aura von Erfolg vor Gericht, von Erfolg, den Leute, die einen Prozeß führen wollen, sich wünschen.

Elliott Freemantle hoffte, daß die meisten der im Saal Anwesenden seine Klienten werden würden und er ihr Rechtsberater. Indessen wünschte er auch, der alte Quasseier Zanetta würde, zum Teufel noch mal, sich endlich hinsetzen, damit er selbst an die Reihe kam. Denn es gab keinen sichereren Weg, das Vertrauen einer Zuhörerschaft oder einer Geschworenenbank zu verlieren, als sie schneller denken zu lassen, als man es selbst tat, so daß sie im voraus wußten, was man sagen würde, noch ehe man es ausgesprochen hatte. Freemantles hochentwickelte Intuition sagte ihm, daß dies gerade jetzt der Fall war. Das bedeutete, daß er, wenn jetzt die Reihe an ihn kam, sich um so mehr anstrengen mußte, seine Kompetenz und seine höhere Intelligenz zu dokumentieren.

Einige unter seinen juristischen Kollegen hätten vielleicht in Frage gestellt, ob Freemantles Intelligenz tatsächlich überlegen war. Ja, vielleicht hätten sie sogar gegen die Definition des Versammlungsleiters, er sei ein Gentleman, etwas einzuwenden gehabt. Kollegen betrachteten Freemantle als einen Exhibitionisten, der hohe Honorare forderte, hauptsächlich aus Reklamegründen, wie ein Showmann. Zugegeben wurde aber auch, daß er ein beneidenswertes Geschick hatte, rechtzeitig in Prozesse einzusteigen, die sich später als sensationell und einträglich erwiesen.

Für Elliott Freemantle schien die Situation im Fall Meadowood wie geschaffen.

Er hatte von dem Problem der Gemeinde gelesen und sorgte durch Beziehungen prompt dafür, daß einigen Hausbesitzern sein Name als der des einzigen Anwalts vorgeschlagen wurde, der hier helfen konnte. Das Ergebnis war, daß ein Komitee der Hausbesitzer schließlich mit ihm in Verbindung trat, und die Tatsache, daß sie es waren, die sich an ihn wandten, und nicht umgekehrt, gab ihm ein psychologisches Übergewicht, das er von Anfang an eingeplant hatte. Inzwischen hatte er sich über das Gesetz und die neueste Rechtsprechung in Sachen Lärmbelästigung und Privatsphäre orientiert — ein Gebiet, das für ihn gänzlich neu war. Und als das Komitee nun erschien, trat er ihm mit der Sicherheit eines langjährigen Experten gegenüber.

Später machte er dem Komitee einen entsprechenden Vorschlag, der ihm die heutige Versammlung und seine eigene Anwesenheit eingebracht hatte.

Na, Gott sei Dank. Es sah so aus, als ob Zanetta mit seiner windigen Vorrede endlich fertig wäre. Phrasenhaft bis zum letzten Satz, leierte er: ». . . und somit habe ich die Ehre und das Vergnügen, Ihnen hier . . .«

Freemantle wartete kaum, bis sein Name gefallen war, als er schon von seinem Stuhl aufstand. Er fing zu reden an, noch ehe Zanettas Hinterteil Kontakt mit dem Stuhl gefunden hatte. Wie üblich verzichtete er auf alle Präliminarien.

»Wenn Sie von mir Mitgefühl erwarten, dann sind Sie hier an der falschen Adresse, denn das kann ich Ihnen nicht bieten. Das finden Sie in dieser Versammlung nicht und in anderen auch nicht, die wir vielleicht später abhalten werden. Ich bin kein Lieferant für Taschentücher. Wenn Sie die also zum Tränentrocknen brauchen, schlage ich vor, sie nehmen ihre eigenen oder helfen sich gegenseitig aus. Mein Geschäft ist das Recht. Nur das Recht und sonst nichts.«

Er hatte bewußt barsch gesprochen, und er wußte, er hatte sie angerempelt, wie er es beabsichtigt hatte.

Er hatte auch gesehen, daß die Zeitungsreporter aufblickten und aufmerksam wurden. Es waren drei, am Pressetisch nahe beim Eingang — zwei junge Männer von den großen Tageszeitungen der Stadt und eine ältere Frau von einer lokalen Wochenzeitung. Alle waren für seine Pläne von Bedeutung, und er hatte sich die Mühe gemacht, ihre Namen zu erfahren und vor Beginn der Versammlung kurz mit ihnen zu sprechen. Jetzt flogen ihre Stifte nur so. Gut! Zusammenarbeit mit der Presse spielte bei Freemantles Vorhaben stets eine große Rolle, und er wußte aus Erfahrung, daß dies am besten zu erreichen war, wenn man für eine zündende Geschichte mit einer guten Pointe sorgte. In der Regel gelang ihm das. Zeitungsleute mochten das viel lieber als Gratis-Drinks oder -Essen — und je lebhafter und farbiger die Geschichte, desto freundlicher würden ihre Berichte werden.

Er schenkte seine Aufmerksamkeit wieder den Zuhörern.

Um eine Nuance weniger aggressiv fuhr er fort: »Wenn Sie beschließen, daß ich Sie vertreten soll, dann werde ich Ihnen Frager über die Wirkung des Flughafenlärms auf Ihre Wohnung, auf Ihre Familie, auf Ihre eigene körperliche und geistige Gesundheit stellen. Denken Sie aber nicht, daß ich persönlich an diesen Dinger oder an Ihnen als Individuen interessiert wäre. Offen gestanden das bin ich nicht. Sie sollen ruhig wissen, daß ich ein bodenloser Egoist bin. Ich stelle diese Fragen nur, weil ich herausbekommer will, in welchem Umfang Ihnen Schaden zugefügt worden ist, der juristisch relevant ist. Ich bin bereits jetzt davon überzeugt, daß Ihnen in gewissem Umfang Schaden zugefügt wurde — vielleicht beträchtlicher Schaden — und Sie in diesem Fall Anspruch auf Entschädigung haben. Aber Sie mögen gleichfalls wissen, daß ich, was immer ich erfahre und wie tief ich vielleicht berührt werde, nicht bereit bin, für die Wohlfahrt meiner Klienten meine Nächte zu opfern, wenn ich außerhalb meines Büros oder des Gerichtsgebäudes bin. Aber . . .« Hier machte Freemantle eine dramtische Pause und stach mit seinem Finger in die Luft, um die Worte zu unterstreichen. »Aber in meinem Büro und vor Gericht werden Sie als meine Klienten in Rechtsfragen über meine äußerste Aufmerksamkeit und volle Arbeitskraft verfügen. Und bei den Gelegenheiten werden Sie, das verspreche ich Ihnen, wenn wir zusammenarbeiten, froh sein, daß ich auf Ihrer Seite und nicht auf der gegnerischen stehe.«

Jetzt hatte er die Aufmerksamkeit jedes einzelnen im Saal gefunden. Einige, sowohl Männer als auch Frauen, saßen vorgebeugt auf ihren Stühlen und waren bemüht, keines seiner Worte zu verlieren, wenn er Pausen machte — so kurze wie nur möglich, denn der Flugzeuglärm in der Luft ging weiter. Einige Gesichter waren bei seinen Worten feindlich geworden, wenn auch nicht viele. Aber jetzt war es an der Zeit, die Spannung ein wenig zu lockern. Er zeigte ein flüchtiges, leichtes Lächeln, ehe er ernsthaft fortfuhr.

»Ich informiere Sie über diese Dinge gleich, damit wir einander verstehen. Manche Leute finden, ich sei ein bösartiger, unangenehmer Mensch. Vielleicht haben sie recht. Doch wenn ich persönlich je einen Anwalt brauchen sollte, würde ich mir bestimmt einen aussuchen, der wirklich bösartig und unangenehm ist; also hart — in meinem Interesse nämlich.« Einige nickten mit dem Kopf und zeigten ein zustimmendes Lächeln.

»Aber natürlich, wenn Sie lieber einen netteren Kerl haben wollen, der Ihnen mehr Mitgefühl zeigt, wenn auch vielleicht etwas weniger Rechtskenntnis . . .« Elliott Freemantle hob die Schultern. »Bitte, das ist Ihr gutes Recht.«

Er hatte seine Zuhörer scharf beobachtet und sah, wie ein verantwortungsbewußt aussehender Mann mit dickrandiger Brille sich zu einer Frau beugte und flüsterte. Aus dem Ausdruck der beiden erriet Freemantle, daß der Mann sagte: »Das gefällt mir schon besser. — Das wollten wir hören.« Die Frau, wahrscheinlich die Ehefrau des Flüsterers, nickte beifällig. Ringsum im Saal vermittelten andere Gesichter den gleichen Eindruck.

Wie stets bei derartigen Gelegenheiten, hatte Elliott Freemantle die Stimmung der Versammlung schlau berechnet und seinen eigenen Vorstoß darauf eingestellt. Er spürte bald, daß diese Leute der Banalitäten und des Mitgefühls — gut gemeint, aber nicht am Platze — müde waren. Seine eigenen Worte, grob und brutal, waren wie eine erfrischende kalte Dusche. Jetzt, bevor die Gemüter sich entspannten und die Aufmerksamkeit sich lockerte, mußte er einen neuen Kurs einschlagen. Nun war der Augenblick gekommen, dieser Gesellschaft einen Vortrag über die Gesetze betreffend Lärmbelästigung zu halten. Ein Trick, um die Aufmerksamkeit wachzuhalten, in dem Elliott Freemantle groß war, bestand darin, immer einen halben geistigen Schritt vorauszubleiben; gerade so viel und nicht mehr, daß die Zuhörer dem, was gesagt wurde, noch folgen konnten, dazu aber auch munter genug bleiben mußten.

»Ich bitte um Aufmerksamkeit«, gebot er, »weil ich nunmehr auf Ihr spezielles Problem zu sprechen komme.«

Die Frage der Lärmbelästigung beschäftige die Gerichte in zunehmendem Maße. Neuere Entscheidungen setzten fest, daß übertriebener Lärm sowohl ein Eingriff in die Privatsphäre als auch eine Verletzung der Eigentumsrechte sein könne. Überdies seien die Gerichte geneigt, Auflagen oder Verbote zu erlassen, sowie Entschädigungen zuzusprechen, sobald Beeinträchtigungen — einschließlich solcher durch Flugzeuglärm — nachgewiesen werden könnten.

Am Pressetisch machten alle drei Reporter ihre Notizen.

Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, fuhr Freemantle fort, habe bereits einen Präzedenzfall geschaffen. In dem Fall US gegen Causby habe das Gericht befunden, der Besitzer einer Geflügelfarm in Greensboro, Northcarolina, habe wegen der Beeinträchtigung durch Militärflugzeuge, wenn diese zu tief über sein Haus flogen, Anspruch auf Entschädigung. Bei Verkündung der Causby-Entscheidung hatte der Richter William O'Douglas dargelegt: . . . wenn der Grundbesitzer volle Nutznießung seines Landes haben soll, muß er auch die ausschließliche Kontrolle über die unmittelbaren Bereiche der umgebenden Atmosphäre haben. Bei anderer Gelegenheit, in einem Wiederaufnahmeverfahren beim Obersten Gericht, Griggs gegen County of Allegheny, sei dasselbe Prinzip verfochten worden. Auch bei den Staatsgerichtshöfen von Oregon und Washington seien in den Fällen Thornburg gegen Port of Portland und Martin gegen Port of Seattle Entschädigungen für übermäßigen Flugzeuglärm zugebilligt worden, obwohl der Luftraum unmittelbar über den Klägern nicht verletzt worden war. Andere Gemeinden hatten ähnliche rechtliche Schritte unternommen oder planten sie, und einige hätten Tonwagen und Filmkameras zu Hilfe gezogen, um ihren Fall zu beweisen. Die Tonwagen nähmen Lärmmessungen vor, die Kameras hielten Flughöhen fest. Der Lärm zeige sich häufig stärker, die Flughöhen niedriger, als Fluggesellschaften und Flughafenleitungen angaben. In Los Angeles habe ein Hausbesitzer Klage gegen L. A. International Flughafen eingereicht, mit der Begründung, der Flughafen habe dadurch, daß er Landungen auf einer vor kurzem verlängerten Startbahn unmittelbar auf sein Haus zu erlaube, ein Wegerecht auf sein Haus genommen ohne gehöriges Rechtsverfahren. Der Hausbesitzer beanspruche zehntausend Dollar, die er als Gegenwert für die Wertminderung seines Hauses ansieht. Gleichartige Fälle würden immer häufiger vor den Gerichten verhandelt.

Der Vortrag war knapp und bündig und machte Eindruck. Die Erwähnung einer festen Summe — zehntausend Dollar — erregte unmittelbares Interesse, wie es Freemantle beabsichtigt hatte. Die ganze Darstellung klang sachverständig, auf Tatsachen beruhend und wie das Ergebnis jahrelangen Studiums. Allein Freemantle selbst wußte, daß seine »Tatsachen« nicht das Ergebnis langwierigen Büffeins über Sammlungen von Gerichtsurteilen, sondern lediglich die zweistündige Auswertung des Redaktionsarchivs einer Zeitung am vorigen Nachmittag war.

Da waren auch ein paar Fakten, die er zu erwähnen vergessen hatte. Das Verfahren des Geflügelfarmers vor dem Obersten Gericht hatte vor mehr als zwanzig Jahren stattgefunden, und der gesamte zugebilligte Schadenersatz betrug lumpige dreihundertsiebenundfünfzig Dollar — der tatsächliche Wert von ein paar toten Hühnern. Der Prozeß in Los Angeles war lediglich eine Klage, die noch gar nicht zur Verhandlung gekommen war und womöglich nie kommen würde. Ein auf die Situation zutreffenderer Fall, Balten gegen US, in dem das Oberste Gericht erst 1963 sein Urteil gesprochen hatte, war Freemantle zwar bekannt, er ließ ihn aber sicherheitshalber unerwähnt. In diesem Verfahren hatte das Gericht befunden, daß lediglich eine »physische Beeinträchtigung« Haftpflicht auslösen könne, aber nicht eine solche, die durch Lärm entstehe. Da es ja nun in Meadowood eine solche physische Beeinträchtigung nicht gab, bedeutete dieser Präzedenzfall, daß ein juristisches Verfahren, falls es in Gang gesetzt würde, schon verloren war, ehe es noch angefangen hatte.

Aber der Anwalt Freemantle hatte nicht den geringsten Wunsch, daß dies bekannt würde, wenigstens noch nicht; auch kümmerte es ihn nicht gar zu sehr, ob ein Fall, wenn er vor Gericht kam, eventuell verloren oder gewonnen wurde. Was er wollte? Er wollte diese Gruppe von Hausbesitzern in Meadowood als Klienten haben — gegen ein Riesenhonorar.

A propos Honorar, er hatte schon die Teilnehmer gezählt und in Gedanken etwas Arithmetik getrieben. Das Ergebnis befriedigte ihn.

Von den sechshundert Menschen im Saal waren, wie er taxierte, fünfhundert, vielleicht mehr, Hauseigentümer in Meadowood. Die Anwesenheit von Ehepaaren eingerechnet, bedeutete das ein Minimum von zweihundertundfünfzig voraussichtlichen Klienten. Wenn jeder der zweihundertundfünfzig so weit gebracht wurde, eine Verpflichtung über einen Vorschuß von einhundert Dollar zu unterschreiben — was sie, wie Freemantle hoffte, tun würden, noch ehe der Abend vorüber war —, mußte ein Gesamthonorar von über fünfundzwanzigtausend Dollar in Reichweite liegen.

Bei anderen Gelegenheiten hatte er genau dieselbe Sache gedeichselt. Es war erstaunlich, was man mit Frechheit alles fertigbrachte, besonders wenn die Leute bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen in Weißglut gerieten. Ein ausreichender Vorrat an Vorschußformularen war in seiner Mappe bereit.

Vereinbarung zwischen . . . künftig als Kläger(in) bezeichnet und Freemantle und Sye, Rechtsanwälten . . . die des Klägers/der Klägerin gesetzliche Vertretung übernehmen bei Einbringung einer Klage aufErsatz für Schädigungen, erlitten durch Verwendung von Flugzeugen auf dem Gelände des Lincoln International Airport . . . Kläger ist bereit, an besagte Freemantle und Sye einhundert Dollar in vier Raten von je fünfundzwanzig Dollar zu zahlen, wovon die erste Rate sofort, der Rest vierteljährlich nach Anforderung zu zahlen ist.. . Ferner: Wenn der Prozeß erfolgreich ist, erhalten Free-mantle und Sye zehn Prozent von der Gesamtsumme aller zugesprochenen Entschädigungen . . .

Das mit den zehn Prozent war ein Weitschuß, weil es höchst unwahrscheinlich war, daß je Entschädigungen einkassiert würden. Aber trotzdem — bei Gericht passierten manchmal die komischsten Sachen, und Freemantle war dafür, sich auf alle Eventualitäten einzurichten.

»Ich habe Sie über den juristischen Hintergrund informiert«, behauptete er. »Nun möchte ich Ihnen einen Rat geben.« Er setzte eines seiner seltenen, flüchtigen Lächeln auf. »Dieser Rat soll eine Gratisprobe sein, aber — wie bei der Zahnpasta — alle folgenden Tuben müssen bezahlt werden.«

Das Lachen, das hierauf erfolgte, schnitt er mit einer Geste brüsk ab. »Mein Rat ist, keine Zeit mehr zu verlieren und zu handeln. Sofort zu handeln.« Diese Bemerkung löste Händeklatschen und Beifallsnicken aus.

Es herrsche die Meinung, fuhr er fort, daß gerichtliche Schritte automatisch zeitraubend und umständlich seien. Häufig stimme das, doch gelegentlich könne, wenn Entschiedenheit und juristisches Geschick benutzt würden, dem Gericht Beine gemacht werden. Im vorliegenden Fall solle juristisches Handeln sofort beginnen, ehe Fluggesellschaften und Flughafen durch jahrelange Fortsetzung des Lärms sich auf Sitte und Gewohnheit berufen könnten. Als wollte es diesen Punkt betonen, dröhnte wieder ein Flugzeug darüber weg. Ehe sein Lärm abklingen konnte, brüllte Freemantle: »Also wiederhole ich — mein Rat an Sie ist, nicht länger zu warten! Handeln Sie noch heute abend. Jetzt!«

In einer der vorderen Reihen sprang ein jüngerer Mann in einer weiten Strickjacke und einer Freizeithose auf. »Bei Gott! — Sagen Sie uns, wie wir's anfangen sollen.«

»Sie fangen damit an, daß Sie — wenn Sie wollen — mich zu Ihrem Rechtsvertreter bestellen.

Darauf erwiderte sofort ein Chor von einigen hundert Stimmen. »Ja, das wollen wir!«

Der Versammlungsleiter Floyd Zanetta war nun wieder auf den Beinen und wartete darauf, daß das Rufen abklingen würde. Er schien erfreut zu sein. Zwei der drei Reporter hatten die Hälse gereckt und die offensichtliche Begeisterung im ganzen Saal beobachtet. Der dritte, die ältere Frau vom Lokalblatt, sah mit freundlichem Lächeln zum Podium hinauf.

Es hatte geklappt, wie Freemantle es vorausgesehen hatte. Das übrige, sagte er sich, war nur noch eine Frage der Routine. Innerhalb einer Stunde würde ein gut Teil der Vollmachten in seiner Mappe unterzeichnet sein, während andere nach Hause mitgenommen, besprochen und wahrscheinlich morgen mit der Post geschickt würden. Diese Leute hatten keine Angst davor, Papiere zu unterschreiben oder Gerichtsverfahren zu riskieren; an das alles hatten sie sich bei ihrem Hauserwerb gewöhnt. Auch würden ihnen hundert Dollar nicht als besonders hohe Summe erscheinen. Einige würden sogar überrascht sein, daß der Betrag so niedrig war. Nur eine Handvoll dürfte sich die Mühe einer Kopfrechnung machen, wie Elliott Freemantle sie selbst angestellt hatte; und selbst wenn sie etwas gegen die Höhe der Gesamtsumme haben sollten, könnte er einwenden, daß das Honorar durch die Verantwortung für die große Anzahl der Beteiligten gerechtfertigt sei. Überdies würde er ihnen ja auch den Gegenwert für ihr Geld bieten: eine gute Show mit Feuerwerk, vor Gericht und anderswo. Er blickte auf die Uhr: lieber weitermachen. Nachdem nun seine eigene Beteiligung gesichert war, wollte er die Beziehung fester zusammenschmieden, indem er den ersten Akt eines Dramas inszenierte. Wie alles andere, so war auch das schon von ihm geplant, und es würde in den morgigen Zeitungen Aufmerksamkeit erregen — viel mehr als diese Versammlung. Es würde diesen Leuten auch bestätigen, daß es ihm Ernst damit war, als er sagte, es dürfe keine Zeit mehr verloren werden.

Die Schauspieler in diesem Drama würden die hier versammelten Einwohner von Meadowood sein, und er hoffte, daß jeder Anwesende darauf gefaßt war, diesen Saal zu verlassen und bis spät in die Nacht draußen zu bleiben.

Die Bühne würde der Flughafen sein.

Die Zeit: heute abend.

11

Etwa um die gleiche Zeit, da Elliott Freemantle sich an seinem Erfolg weidete, fand sich der verkrachte ehemalige Bauunternehmer D. O. Guerrero damit ab, daß er endgültig gescheitert war.

Guerrero hielt sich ungefähr fünfzehn Meilen vom Flughafen entfernt auf, eingeschlossen in einem Zimmer seiner schäbigen Wohnung im Südteil der Stadt. Die Wohnung lag über einem geräuschvollen billigen Selbstbedienungsrestaurant in der 51. Straße, in der Nähe der Docks.

D. O. Guerrero war ein hagerer, spindeldürrer Mann mit leicht hängenden Schultern, gelblicher Gesichtsfarbe und einem schmalen, vorspringenden Kinn. Er hatte tiefliegende Augen, blasse schmale Lippen und einen dünnen sandfarbenen Schnurrbart. Sein Hals war ausgemergelt und zeigte einen vorspringenden Adamsapfel. Sein Haaransatz war zurückgewichen. Er hatte nervöse Hände und hielt seine Finger selten still. Er rauchte ständig und steckte sich im allgemeinen eine frische Zigarette am Stummel der alten an. Im Augenblick hätten ihm eine Rasur und ein frisches Hemd gutgetan. Er schwitzte, obwohl es in dem Zimmer, in das er sich eingeschlossen hatte, kalt war. Er war fünfzig Jahre alt, sah aber um einige Jahre älter aus.

Guerrero war verheiratet schon seit achtzehn Jahren. Die Ehe war, wenn man will, nicht schlecht, wenn auch nicht gerade hervorragend. D. O. — den größten Teil seines Lebens war er unter diesen Initialen bekanntgewesen — und Inez Guerrero nahmen einander als gegeben hin, und der Gedanke, nach einem anderen Partner zu verlangen, schien ihnen nie gekommen zu sein. D. O. Guerrero auf jeden Fall hatte sich für andere Frauen nie besonders interessiert; Geschäft und Finanztransaktionen fesselten seine Aufmerksamkeit weit stärker. Doch in den letzten Jahren hatte sich zwischen den Guerreros eine seelische Kluft aufgetan, die Inez nicht zu überbrücken vermochte, obwohl sie sich darum bemüht hatte. Diese Kluft war die Folge einer Reihe schwerer geschäftlicher Rückschläge, die sie aus verhältnismäßigem Wohlstand an den Rand der Armut gebracht und schließlich zu verschiedenen Umzügen gezwungen hatte — zuerst aus ihrem behaglichen und geräumigen, wenn auch hoch belasteten Haus in einer Vorstadt in eine weniger anspruchsvolle Unterkunft und später dann in ihre gegenwärtige heruntergekommene, zugige, von Ungeziefer verseuchte Zweizimmerwohnung.

Doch wenn Inez Guerrero an ihrer gegenwärtigen Situation auch keine Freude hatte, so hätte sie doch noch das Beste daraus gemacht, wenn ihr Mann nicht ständig mürrischer und im höchsten Maße mißgelaunter geworden wäre, so daß man mitunter nicht einmal mit ihm sprechen konnte. Vor einigen Wochen hatte er in der Wut auf Inez losgeschlagen und ihr das Gesicht böse zerschun-den, und obwohl sie ihm das verziehen hätte, entschuldigte er sich weder für den Vorfall, noch wollte er überhaupt darüber reden. Sie fürchtete sich vor weiteren Gewalttätigkeiten und schickte bald danach ihre beiden Kinder im Teenageralter — einen Jungen und ein Mädchen — zu ihrer verheirateten Schwester nach Cleveland. Inez selbst blieb bei der Stange, nahm eine Stellung als Kellnerin in einem Kaffeehaus an, und wenn die Arbeit auch anstrengend und die Bezahlung gering war, so verdiente sie doch wenigstens das Geld fürs Essen. Ihr Mann schien die Abwesenheit der Kinder kaum zu bemerken und ihre auch nicht. Seine Stimmung war in letzter Zeit eine tiefe, in sich selbst versunkene Mutlosigkeit.

Inez befand sich gegenwärtig bei ihrer Arbeit. D. O. Guerrero war allein in der Wohnung. Er hätte die Tür zu dem kleinen Schlafzimmer, in dem er sich befand, nicht abzuschließen brauchen, es aber als zusätzliche Sicherung, um nicht gestört zu werden, getan, auch wenn er sich dort nicht lange aufhalten wollte.

Wie andere an diesem Abend wollte D. O. Guerrero bald zum Flughafen fahren. Er besaß eine bestätigte Reservation sowie einen gültigen Flugschein für heute abend, für Flug Zwei der Trans America nach Rom. Im Augenblick stak der Flugschein in der Tasche seines Mantels, der ebenfalls in dem abgeschlossenen Zimmer über einem wackligen Stuhl hing.

Inez Guerrero hatte von dem Flugschein nach Rom keine Ahnung, noch hatte sie die geringste Vorstellung davon, aus welchen Motiven ihr Mann ihn gekauft hatte.

Der Flugschein der Trans America galt für den Hin- und Rückflug und kostete normalerweise 474 Dollar; durch Lügen hatte D. O. Guerrero sich aber einen Kredit verschafft. Er hatte 47 Dollar anbezahlt, die er sich besorgt hatte, indem er den letzten Wertgegenstand seiner Frau — den Ring ihrer Mutter, den Inez noch nicht vermißt hatte — verpfändete — und versprochen, die Differenz zuzüglich Zinsen in monatlichen Raten während der nächsten beiden Jahre abzustottern.

Es war im höchsten Maß unwahrscheinlich, daß er dies Versprechen je einlösen würde.

Kein respektables Kreditinstitut und keine Bank würde D. O. Guerrero auch nur den Preis für ein Busbillett nach Peoria geliehen haben, geschweige denn den Flugpreis nach Rom. Sie hätten gründlich seinen Verhältnissen nachgeforscht und entdeckt, daß er seit langem in Zahlungsschwierigkeiten steckte, ein Paket längst fälliger persönlicher Schulden hatte, und daß sein Bauunternehmen, die Guerrero Contracting Inc., bereits vor einem Jahr den Konkurs hatte anmelden müssen.

Eine noch gründlichere Überprüfung von Guerreros undurchsichtigen Finanzen hätte ergeben, daß er während der vergangenen acht Monate — unter Verwendung des Namens seiner Frau — versucht hatte, das Kapital für eine Grundstücksspekulation aufzubringen, was ihm aber mißlungen war. Dieser Fehlschlag hatte ihn noch tiefer in Schulden gebracht. Jetzt mußte eine Aufdeckung, die unmittelbar bevorzustehen schien, wegen gewisser betrügerischer Behauptungen, aber auch wegen des nicht abgewickelten Konkurses, eine strafrechtliche Verfolgung und so gut wie sicher eine Freiheitsstrafe nach sich ziehen. Nicht ganz so bedrohlich, aber ebenso bedrückend war die Tatsache, daß die Miete für die gegenwärtige Wohnung, so miserabel sie auch war, seit drei Wochen überfällig war und der Wirt für morgen mit der Ausweisung gedroht hatte. Wenn sie aus der Wohnung rausgesetzt wurden, wußte er nicht, wohin sie sich wenden sollten.

D. O. Guerrero war verzweifelt. Sein finanzieller Status lag weit unter Null.

Fluggesellschaften allerdings waren bemerkenswert entgegenkommend bei der Gewährung von Krediten. Sie waren auch bei der Eintreibung fälliger Zahlungen im allgemeinen weniger scharf als andere Institutionen. Das war eine wohlüberlegte Geschäftspolitik.

Sie beruhte auf der Tatsache, daß die zahlenden Flugreisenden sich im Lauf der Jahre als ein ungewöhnlich ehrlicher Durchschnitt der menschlichen Gesellschaft erwiesen hatten, und die Verluste der Gesellschaften durch dubiose Guthaben waren bemerkenswert gering. »Nassauer« wie D. O. Guerrero belästigten sie selten. Deshalb waren sie nicht darauf eingestellt, weil es sich nicht lohnte, Schliche, wie er sie benutzt hatte, aufzudecken.

Durch zwei einfache Mittel vermied er eine mehr als flüchtige Überprüfung seiner Kreditwürdigkeit. Erstens legte er eine »Arbeitgeberempfehlung« vor, die er selbst auf den Geschäftsbogen einer eingegangenen Firma tippte, die er einmal geführt hatte — aber nicht jener, die in Konkurs gegangen war — und deren Geschäftsadresse sein eigenes Postfach war. Zweitens schrieb er seinen Namen vorsätzlich falsch, als er den Brief tippte, und vertauschte den Anfangsbuchstaben »G« mit »B«, so daß eine Routineüberprüfung der Kreditwürdigkeit eines »Buerrero« keinerlei Informationen ergeben hätte, etwa die belastenden Angaben, die unter seinem richtigen Namen verzeichnet waren. Als weitere Ausweise hatte er seine Sozialversicherungskarte und seinen Führerschein vorgelegt und auf beiden vorher den Anfangsbuchstaben sorgfältig verändert, eine Veränderung, die er inzwischen wieder rückgängig gemacht hatte.

Ein anderer Punkt, den er nicht vergaß, war darauf zu achten, daß seine Unterschrift auf dem Kreditvertrag unleserlich und nicht klar zu erkennen war, ob er seinen Namen mit »G« oder mit »B« geschrieben hatte.

Diese falsche Schreibweise war gestern von dem Angestellten der Fluggesellschaft übernommen worden, der den Flugschein für »D. O. Buerrero« ausstellte, und das hatte D. O. Guerrero im Licht seiner unmittelbaren Pläne sorgfältig erwogen. Falls später jemals Nachforschungen angestellt werden sollten, würde die Verwechslung eines einzigen Buchstabens sowohl auf dem »Empfehlungsschreiben« als auch auf dem Flugschein als echtes Versehen erscheinen. Durch nichts konnte bewiesen werden, daß er die Verwechslung vorsätzlich herbeigeführt hatte. Auf jeden Fall wollte er, wenn er nachher auf dem Flughafen ankam, den Fehler berichtigen lassen — sowohl auf der Passagierliste der Trans America als auch auf seinem Flugschein. Wichtig war, daß es keine Unklarheit über seine korrekte Identität gab, wenn er erst an Bord des Flugzeugs war. Auch das war ein Teil seines Plans.

Ein weiterer Teil des Plans von D. O. Guerrero bestand darin, die Maschine auf dem Flug Zwei nach Rom in die Luft zu sprengen. Er wollte sich mit ihr zusammen vernichten, ein Faktor, der ihn nicht von seiner Absicht abhalten konnte, da sein Leben, wie er meinte, weder für ihn selbst noch für andere mehr einen Wert hatte.

Aber sein Tod konnte von Wert sein, und dafür wollte er sorgen.

Vor dem Abflug der Maschine der Trans America würde er eine Flugversicherung über 75 000 Dollar zugunsten seiner Frau und seiner Kinder abschließen. Er war sich bewußt, daß er bisher in seinem Leben wenig für sie getan hatte, aber seine letzte Handlung sollte eine einzige außergewöhnliche Geste zu ihren Gunsten sein. Er hielt das, was er beabsichtigte, für eine Tat der Liebe und ein Opfer.

In seiner verschrobenen, perversen, von der Verzweiflung getriebenen Gemütsverfassung hatte er keinen Gedanken an die anderen Passagiere verschwendet, die sich an Bord der Maschine befinden würden, ebensowenig an die Besatzung, deren Tod den seinen begleiten mußte. Mit der völligen Gewissenlosigkeit des Psychopathen hatte er andere nur insoweit berücksichtigt, als sie seine Absichten durchkreuzen konnten.

Er glaubte, daß er alle denkbaren Schwierigkeiten vorausberechnet hätte.

Die Frage seines Flugscheins würde keine Rolle mehr spielen, wenn die Maschine erst unterwegs war. Niemand würde beweisen können, daß er nicht beabsichtigte, die Ratenzahlungen einzuhalten, zu denen er sich verpflichtet hatte. Und selbst wenn der gefälschte »Empfehlungsbrief« entlarvt würde — wie wahrscheinlich zu erwarten war —, konnte nichts anderes bewiesen werden, als daß er sich unter falschen Voraussetzungen einen Kredit verschafft hatte. Das allein konnte keinen Einfluß auf die Ansprüche gegenüber der Versicherung haben.

Ferner kam dazu, daß er absichtlich einen Flugschein für Hin-und Rückflug gebucht hatte, um den Anschein zu erwecken, daß er nicht nur beabsichtigte, nach Rom zu fliegen, sondern auch zurückzukommen. Der Grund, weshalb er Rom als Ziel wählte, war der, daß er einen Vetter zweiten Grades in Italien hatte, dem er zwar nie begegnet war, aber gelegentlich die Absicht geäußert hatte, ihn zu besuchen — eine Tatsache, die Inez bestätigen konnte. So würde seine Wahl zumindest den Anschein einer gewissen Logik erhalten.

D. O. Guerrero hatte diesen Plan schon seit Monaten erwogen, die ganze Zeit, während ihn das Unglück verfolgte. In dieser Zeit hatte er Fälle von Flugzeugunglücken studiert, bei denen einzelne Personen Flugzeuge in der Absicht zerstört hatten, sich durch Versicherungen zu bereichern. Die Zahl der Fälle war überraschend groß. In allen verzeichneten Fällen war das Motiv durch die Untersuchungen nach dem Unfall aufgeklärt und die Täter, sofern sie überlebt hatten, des Mordes angeklagt worden. Die Versicherungspolicen der Betroffenen waren für ungültig erklärt worden.

Selbstverständlich konnte niemand wissen, wie viele Katastrophen, deren Ursachen unaufgeklärt blieben, die Folge von Sabotage gewesen waren. Der entscheidende Faktor war das Vorhandensein oder das Fehlen von Wrackteilen. Immer, wenn Wrackteile sichergestellt werden konnten, setzten geschulte Ermittler sie zusammen und versuchten dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Im allgemeinen hatten sie dabei Erfolg. Wenn eine Explosion in der Luft erfolgt war und Überreste erhalten blieben, ließ sich die Ursache der Explosion bestimmen. Deshalb war die Schlußfolgerung von D. O. Guerrero, daß sein eigener Plan die Sicherstellung von Wrackteilen ausschließen müsse.

Aus diesem Grund hatte er sich für seinen Plan den Non-Stop-Flug der Trans America nach Rom ausgesucht.

Zu einem großen Teil führte die Route des Flugs Zwei — The Golden Argosy — über den Ozean, wo Wrackteile eines zerstörten Flugzeugs niemals gefunden werden konnten.

Mit Hilfe einer Broschüre der Fluggesellschaft für ihre Passagiere, die anschaulich Flugrouten und Fluggeschwindigkeiten angab und sogar einen Aufsatz mit dem Titel Wie man die Position selbst bestimmen kann enthielt, hatte Guerrero berechnet, daß die Maschine nach vier Flugstunden — unter Berücksichtigung durchschnittlicher Windstärken — mitten über dem Atlantik sein würde. Er beabsichtigte, diese Berechnung während des Fluges zu überprüfen und, falls notwendig, zu berichtigen. Dazu würde er zunächst die genaue Abflugzeit beobachten und dann genau die Angaben verfolgen, die Flugkapitäne unterwegs über den Verlauf der Reise durch die Sprechanlage bekanntgaben. Mit diesen Informationen war es einfach festzustellen, ob der Flug hinter dem Flugplan zurückgeblieben oder ihm vorausgeeilt war und um wieviel. Schließlich würde er an einem Punkt, den er bereits festgelegt hatte — achthundert Meilen ostwärts von Neufundland —, eine Explosion auslösen. Sie würde das Flugzeug oder das, was danach noch davon übrig war, ins Meer abstürzen lassen.

Kein Wrack würde je gefunden werden.

Die Überbleibsel der Maschine von Flug Zwei würden für immer als Geheimnis auf dem Grund des Ozeans verborgen bleiben. Sie würden nicht untersucht werden, die Ursache für den Verlust der Maschine würde nicht enthüllt werden. Die Zurückgebliebenen konnten sich wundern, fragen, vermuten; sie konnten vielleicht sogar die Wahrheit erraten, aber sie würden sie niemals mit Gewißheit erkennen.

Ansprüche aus Flugversicherungen würden in Ermangelung jeg-liehen Beweises für Sabotage in voller Höhe ausbezahlt werden.

Der einzige Punkt, von dem alles andere noch abhing, war die Explosion. Selbstverständlich mußte sie ausreichen, um die Maschine zu vernichten, aber ebenso wichtig war, daß sie zum richtigen Zeitpunkt erfolgte. Aus diesem Grund hatte D. O. Guerrero beschlössen, den Sprengkörper selbst an Bord und dort zur Zündung zu bringen. Jetzt baute er ihn in dem abgeschlossenen Schlafzimmer zusammen, und obwohl er als Bauunternehmer mit Sprengstoffen vertraut war, schwitzte er dabei schon seit einer Viertelstunde, als er damit begonnen hatte.

Der Sprengkörper bestand aus fünf Hauptbestandteilen: drei Dynamitpatronen, einer winzigen Zündkapsel mit daran befestigten Drähten und einer einzelligen Batterie für ein Transistorradio. Die Dynamitpatronen waren Du Pont Red Cross Extra — klein, aber von außerordentlicher Sprengkraft —, und enthielten vierzig Prozent Nitroglyzerin. Jede maß einundeinviertel Zoll im Durchmesser und war acht Zoll lang. Sie waren mit schwarzem Isolierband zusammengewickelt und zur Tarnung in einer Schachtel für Cornflakes verpackt, die an der einen Seite offenstand.

Außerdem hatte Guerrero auf der zerschlissenen Überdecke des Betts, vor dem er arbeitete, noch einige andere Gegenstände bereitgelegt: eine hölzerne Wäscheklammer, zwei Reißbrettstifte, ein kleines quadratisches Stück aus durchsichtigem Kunststoff und ein kurzes Stück Schnur. Der gesamte Wert dieser Ausrüstung, die ein Flugzeug im Wert von sechs und einer halben Million Dollar vernichten sollte, betrug weniger als fünf Dollar. Alles, einschließlich des Dynamits — einem »Überbleibsel« aus D. O. Guerreros Zeit als Bauunternehmer —, war in Eisenwarengeschäften gekauft worden.

Auf dem Bett lag ferner ein kleiner flacher Aktenkoffer, wie ihn Geschäftsleute für ihre Papiere und Akten auf Flugreisen verwenden. In diesen Aktenkoffer baute Guerrero jetzt den Sprengkörper ein. Den Koffer wollte er bei dem Flug nicht aus der Hand geben.

Es war alles unglaublich einfach. Sogar so einfach, dachte Guerrero bei sich, daß die meisten Leute, die nichts von Sprengstoffen verstanden, einfach nicht glauben würden, daß es funktionierte. Aber es würde funktionieren, mit einer zerschmetternden, verheerenden Tödlichkeit.

In das Ende einer der Dynamitpatronen drückte er mit einem Bleistift ein anderthalb Zoll tiefes Loch. In diese Höhlung paßte er die Zündkapsel ein, die den gleichen Durchmesser wie der Bleistift hatte. An der Zündkapsel waren zwei isolierte Drähte befestigt. Jetzt war nur noch erforderlich, elektrischen Strom durch die Drähte zu leiten, um die Zündkapsel und damit die drei Dynamitpatronen zur Explosion zu bringen.

Mit Klebestreifen befestigte er die Kornflakesschachtel mit dem Dynamit sicher im Koffer, daneben die Wäscheklammer und die Batterie. Die Batterie sollte die Ladung zünden. Die Wäscheklammer war der Schalter, der den Stromkreis von der Batterie im richtigen Augenblick schloß.

Er befestigte einen der Drähte von der Zündkapsel am Boden der Batterie.

Seine Hände zitterten dabei. Er spürte, wie ihm der Schweiß in Strömen unter dem Hemd herunterlief. Nachdem die Zündkapsel eingesetzt war, konnte er durch den geringsten Fehler, durch das kleinste Versehen, sich selbst, dieses Zimmer und den größten Teil des Hauses auf der Stelle in die Luft jagen.

Er konzentrierte sich auf die Wäscheklammer.

Auf jeder ihrer beiden Backen befestigte er, innen an den oberen Enden, einen der beiden Reißbrettstifte. Wenn die beiden Reißbrettstifte durch den Druck der Feder der Wäscheklammer zusammengebracht wurden, schlössen sie den Stromkreis. Um das vorläufig zu verhindern, legte er einen Isolator dazwischen — das kleine Stück durchsichtigen Kunststoff.

Mit angehaltenem Atem verband er den zweiten Draht von der Zündkapsel und der Dynamitladung mit dem einen Reißbrettstift an der Wäscheklammer. Beide Leitungen zu den Dynamitpatronen waren jetzt angeschlossen.

Er wartete, bemerkte, wie sein Herz klopfte, wischte sich mit dem Taschentuch die feuchten Handflächen ab. Seine Nerven, sämtliche Sinne, waren aufs höchste angespannt. Er ließ sich auf den Bettrand sinken und spürte unter sich die dünne klumpige Matratze. Die wacklige eiserne Bettstelle quietschte protestierend, als er sich bewegte.

Er nahm seine Arbeit wieder auf. Mit äußerster Vorsicht verband er ein kurzes Stück Draht erst mit dem zweiten Reißbrettstift an der Wäscheklammer, dann das andere Ende mit dem zweiten Pol der Batterie. Jetzt verhinderte nur das kleine Stück Kunststoff, das die beiden Reißbrettstifte voneinander trennte, daß der Stromkreis geschlossen und damit die Explosion ausgelöst wurde.

Das Stück Kunststoff, weniger als ein Sechzehntel Zoll stark, hatte am Rand ein kleines Loch. D. O. Guerrero nahm den letzten Gegenstand vom Bett — die Schnur — und führte ihr eines Ende durch das Loch in dem Kunststoff und machte einen festen Knoten, sorgfältig darauf bedacht, den Kunststoff dabei nicht zu verschieben. Das andere Ende der Schnur schob er durch ein unauffällig unter dem Griff des Aktenkoffers bereits gebohrtes Loch. Die Schnur lag in dem Koffer verhältnismäßig locker. Außen knüpfte er einen Knoten in die Schnur, der dick genug war, daß sie nicht wieder in den Koffer hineinrutschen konnte. Schließlich band er ebenfalls außen eine fingerweite Schlaufe — die Miniatur einer Henkersschlinge — und schnitt die überschüssige Schnur ab.

Damit war es geschafft.

Einen Finger durch die Schlinge, ein Ruck an der Schnur! Im Koffer würde dadurch das Stück Kunststoff aus den Backen der Wäscheklammer herausgezogen und die beiden Reißbrettstifte den Kontakt schließen. Der Strom würde fließen und sofort die Explosion auslösen, vernichtend und endgültig für alles und jeden, der in unmittelbarer Nähe war.

Nachdem alles fertig war, entspannte Guerrero sich und steckte sich eine Zigarette an. Er lächelte düster, als er wieder daran dachte, um wieviel schwieriger und komplizierter man sich allgemein — und das galt auch für die Verfasser von Kriminalromanen — die Anfertigung einer Bombe vorstellte. In Geschichten hatte er immer gelesen, daß komplizierte Mechanismen dazu gehörten, mit Uhrwerken und Zündern, die tickten oder zischten oder sprühten und die unschädlich gemacht werden konnten, wenn man sie in Wasser tauchte. In Wirklichkeit waren gar keine komplizierten Vorrichtungen notwendig — nur die einfachen, wohlbekannten Bestandteile, die er gerade zusammengebaut hatte. Die Explosion dieser Bombe konnte nicht verhindert werden — weder durch Wasser noch Kugeln noch Tapferkeit —, sobald die Schnur einmal abgezogen war.

Mit der Zigarette zwischen den Lippen blinzelte D. O. Guerrero durch den Rauch, während er vorsichtig einige Papiere in den Aktenkoffer legte und damit das Dynamit, die Wäscheklammer, die Drähte, die Batterie und die Schnur verdeckte. Er vergewisserte sich, daß die Papiere nicht verrutschen konnten, die Schnur aber freien Lauf unter ihnen hatte. Selbst wenn er den Koffer aus irgendeinem Grund öffnete, würde sein Inhalt harmlos erscheinen. Er klappte ihn zu und schloß ihn ab.

Er sah auf den billigen Wecker neben dem Bett. Seine eigene Uhr war schon seit langem bei einem Pfandleiher verschwunden. Es war fünf Minuten nach acht. In nicht ganz zwei Stunden sollte die Maschine fliegen. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Mit der Untergrundbahn wollte er in die Stadt fahren, dann den Bus zum Flughafen nehmen. Dafür hatte er gerade noch genug Geld übrig, und um eine Flugversicherung abzuschließen. Dies erinnerte ihn daran, daß er auf dem Flughafen dazu noch genügend Zeit haben mußte. Er zog schnell seinen Mantel an und vergewisserte sich noch einmal, daß der Flugschein in der Innentasche steckte.

Er schloß die Schlafzimmertür auf und trat in das dürftige, schäbige Wohnzimmer. Den Aktenkoffer trug er dabei vorsichtig in der Hand.

Noch ein Letztes blieb zu tun! Eine Nachricht an Inez. Er fand ein Stück Papier und einen Bleistift und schrieb nach kurzem Überlegen:

»Ich komme für ein paar Tage nicht nach Hause. Ich fahre fort. Ich hoffe, daß ich bald gute Nachrichten habe, die dich überraschen werden.«

Er unterschrieb mit D. O.

Einen Augenblick zögerte er unter einer weichen Regung. Als das Ende einer achtzehnjährigen Ehe war dieser Zettel nicht sehr viel. Aber er entschloß sich, es dabei bewenden zu lassen. Es wäre ein Fehler, wenn er zuviel sagte. Später, auch wenn die Untersuchungskommission keine Wrackteile der Maschine von Flug Zwei nach Rom fand, würden sie die Passagierliste scharf unter die Lupe nehmen. Dieser Zettel würde so gut wie jedes andere Papier, das er hinterließ, genau und sorgfältig überprüft werden.

Er legte den Zettel auf den Tisch, wo Inez ihn finden mußte.

Als D. O. Guerrero die Treppe hinunterging, hörte er aus dem Selbstbedienungsrestaurant Stimmen und die Musikbox spielen. Er schlug seinen Mantelkragen hoch und umklammerte mit der anderen Hand fest den Griff des Aktenkoffers. Die Schlaufe an der Schnur, die der Schlinge eines Henkerstricks glich, befand sich dicht unter seinen gekrümmten Fingern.

Als er das Haus durch den Ausgang nach Süden verließ, schneite es draußen immer noch.

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