1
Noch einmal kehrte Joe Patroni in die Wärme seines Wagens zurück und rief den Flughafen an. Der Wartungschef der TWA berichtete, daß die Straße zwischen ihm und dem Flughafen immer noch durch den Verkehrsunfall blockiert war, aber die Aussichten, bald durchzukommen, ständen günstig. Er erkundigte sich, ob die 707 der Aereo Mexican immer noch im Schlamm auf dem Flugfeld feststak. Ja, lautete die Antwort. Darüber hinaus riefe jeder, der betroffen sei, alle paar Minuten bei TWA an, um zu fragen, wie lange er noch brauche, da seine Hilfe dringend benötigt werde.
Ohne zu warten, bis er sich richtig aufgewärmt hatte, verließ Patroni wieder seinen Wagen und eilte über die Straße durch den dicht fallenden Schnee und den tiefen Matsch zum Schauplatz des Unfalls zurück.
Im Augenblick sah die Szene um den beschädigten Lastzug wie die aufgebaute Dekoration für einen Breitwandfilm aus. Das gigantische Fahrzeug lag nach wie vor auf der Seite und versperrte alle vier Fahrbahnen. Inzwischen war es völlig eingeschneit, und da keines seiner Räder den Boden berührte, erinnerte es an einen toten, auf die Seite gewälzten Saurier. Scheinwerfer und Fackeln beleuchteten die Szene dank der Weiße des Schnees taghell. Die Scheinwerfer gehörten zu den drei Abschleppwagen, die auf Patronis Drängen angefordert worden und jetzt alle eingetroffen waren. Die leuchtend roten Warnfackeln waren von den Polizisten aufgestellt worden, die inzwischen auch Verstärkung erhalten hatten, und wenn einer der Beamten im Augenblick nichts anderes zu tun hatte, zündete er eine weitere Fackel an. Das Ergebnis war ein pyrotechnischer Aufwand, der einer Feier zum 4. Juli würdig gewesen wäre.
Die Ankunft eines Fernsehteams vor einigen Minuten hatte den theatralischen Effekt noch verstärkt. Mit gellenden Hupen und vorschriftswidrigem, unerlaubten Blinklicht war das Team selbstbewußt in einem braunroten Kombiwagen mit der ins Auge springenden Aufschrift WSHT über die Böschung neben der Straße heruntergefahren. Die vier jungen Leute hatten in der für Fernsehreporter typischen Art das Kommando an sich gerissen, als ob der ganze Unfall nur ihnen zu Gefallen arrangiert worden wäre und sich nun alles Weitere nach ihrem Belieben zu richten habe. Mehrere der Polizisten, die das vorschriftswidrige Blinklicht an dem Kombiwagen ignoriert hatten, waren damit beschäftigt, die Abschleppwagen aus ihren jetzigen Positionen, nach den Anweisungen der Fernsehleute, in neue zu dirigieren.
Ehe Joe Patroni zu seinem Wagen zurückgegangen war, um zu telefonieren, hatte er diese Abschleppwagen sorgfältig an Stellen bereitgestellt, die ihnen die größtmögliche Hebelwirkung gaben, um den beschädigten Lastzug gemeinsam fortzubewegen. Als er ging, waren die Fahrer und ihre Helfer dabei, schwere Ketten an dem Lastzug zu befestigen, und er wußte, daß das mehrere Minuten in Anspruch nehmen würde. Die Polizei war über seine Hilfe froh gewesen, und ein stämmiger Polizeileutnant, der inzwischen das Kommando am Unfallort übernommen hatte, befahl den Fahrern der Abschleppwagen, Patronis Anweisungen zu befolgen. Unglaublicherweise waren die Ketten jetzt aber wieder abgenommen worden, bis auf eine, die ein grienender Fahrer handhabte, während Scheinwerfer und eine Fernsehhandkamera auf ihn gerichtet waren.
Hinter der Kamera und den Lampen hatte sich eine jetzt noch größer gewordene Zuschauermenge aus den steckengebliebenen Autos angesammelt. Die meisten beobachteten interessiert die Fernsehaufnahme. Ihre frühere Ungeduld und die Unbilden der eisigen, windigen Nacht hatten sie offensichtlich vergessen.
Ein plötzlicher Windstoß fegte Joe Patroni eine Ladung eiskalten Schnee ins Gesicht. Zu spät hob er die Hand an den Kragen seines Anoraks. Er spürte, wie ihm der Schnee in den Halsausschnitt glitt und sein Hemd völlig durchnäßte. Er ignorierte das Unbehagen und ging auf den Polizeioffizier los. »Wer, zum Teufel, hat die Wagen umdirigiert?« herrschte er ihn an. »So, wie sie jetzt stehen, kriegen die keinen Krümel von der Stelle. So behindern sie sich nur gegenseitig.«
»Das weiß ich auch, Mister.« Der große, breitschultrige Leutnant, der den kleinen, gedrungenen Patroni weit überragte, schien einen Augenblick lang verlegen zu sein. »Aber die Fernsehleute wollten eine bessere Einstellung haben. Sie sind von einem lokalen Sender, und es ist für die Nachrichten heute abend, in denen der Schneesturm gezeigt werden soll. Entschuldigen Sie mich jetzt.«
Einer der Fernsehleute — der sich fest in seinen dicken Mantel hüllte —, winkte den Leutnant jetzt ins Bildfeld. Ohne auf den fallenden Schnee zu achten, schritt der Leutnant, seiner Autorität bewußt, mit erhobenem Kopf auf den Abschleppwagen zu, auf den die Kamera gerichtet war. Zwei Polizisten folgten ihm. Der Leutnant, sorgsam darauf bedacht, daß er das Gesicht der Kamera zuwendete, begann mit weiten Gesten beider Arme dem Fahrer des Abschleppwagens Befehle zu geben, die zum größten Teil sinnlos waren, sich auf dem Bildschirm aber eindrucksvoll ausnehmen würden.
Joe Patroni hatte nur vor Augen, daß er so schnell wie möglich zum Flugplatz mußte, und spürte, wie der Ärger in ihm aufwallte. Er nahm sich zusammen, um nicht vorzustürzen und die Fernsehkamera und die Scheinwerfer zu packen und zu zerschmettern. Das war ihm zuzutrauen; instinktiv spannten sich seine Muskeln, ging sein Atem schneller. Nur mühsam beherrschte er sich.
Einer der Charakterzüge Joe Patronis war sein leicht entflammbares gewalttätiges Temperament. Glücklicherweise war er nicht leicht aus der Fassung zu bringen, wenn es aber dazu kam, verließen ihn Vernunft und Logik völlig. Während seiner Mannesjahre hatte er gelernt, sein ungezügeltes Temperament zu beherrschen. Es war ihm nicht immer gelungen, wenn ihm heutzutage auch ein unvergeßliches Erlebnis dabei half. Einmal hatte seine Selbstbeherrschung versagt. Die Erinnerung daran verfolgte ihn seither.
Während des zweiten Weltkrieges in der amerikanischen Luftwaffe war Joe Patroni ein gefürchteter Amateurboxer gewesen. Er kämpfte als Mittelgewichtler und stand damals unmittelbar davor, in seinem Abschnitt auf dem europäischen Kriegsschauplatz Meister seiner Klasse in der Luftwaffe zu werden.
Bei einem Turnier, das, kurz vor der Invasion in der Normandie, in England veranstaltet wurde, mußte er gegen einen brutalen, harten Burschen namens Terry O'Hale aus Boston antreten, einen Mann, der den Ruf der Hinterhältigkeit sowohl innerhalb wie außerhalb des Rings hatte. Joe Patroni, damals als junger Gefreiter Mechaniker in der Luftwaffe, kannte O'Hale und konnte ihn nicht ausstehen. Diese Abneigung hätte keine Rolle gespielt, wenn O'Hale nicht als wohlberechneten Teil seiner Kampfweise ständig geflüstert hätte: »Du schmieriger Itaker . . . Warum kämpfst du nicht auf der anderen Seite, du Hurensohn? . . . Du jubelst doch, wenn sie unsere Schiffe versenken, kleiner Itaker?« Und ähnliche Freundlichkeiten. Patroni hatte diesen Trick als das durchschaut, was er war — einen Versuch, ihn aus der Ruhe zu bringen —, und ignorierte ihn, bis O'Hale schnell hintereinander bei ihm zwei Treffer in der Leistengegend landete, was der Schiedsrichter, der hinter ihm stand, nicht bemerkte.
Die Verbindung von Beleidigung, Fouls und quälenden Schmerzen versetzten Patroni in Wut, womit sein Gegner geredinet hatte. Worauf er nicht gefaßt war, das war ein so schneller, wilder und völlig unbarmherziger Angriff, unter dem O'Hale zusammenbrach und, nachdem er ausgezählt worden war, für tot erklärt wurde.
Patroni wurde von aller Schuld freigesprochen. Zwar hatte der Schiedsrichter die Tiefschläge nicht bemerkt, dafür aber andere am Ring. Und davon ganz abgesehen, hatte Patroni nichts anderes getan als das, was von ihm erwartet wurde: bis an die Grenzen seines Könnens und seiner Kraft gekämpft. Nur ihm selbst war bewußt, daß er sekundenlang zum Berserker, wahnsinnig geworden war. Für sich allein gewann er später die Einsicht, daß er sich auch dann nicht hätte beherrschen können, wenn er gewußt hätte, daß O'Hale sterben würde.
Am Ende verzichtete er auf die leere Geste, »die Handschuhe endgültig an den Nagel zu hängen«, wie es in Romanen im allgemeinen heißt. Er hatte weiter geboxt, im Ring seine vollen Kräfte eingesetzt, sich nicht zurückgehalten, aber Selbstbeherrschung geübt, um die haarscharfe Grenze zwischen Vernunft und berserkerhafter Wildheit nicht zu überschreiten. Er hatte dabei Erfolg, das wußte er, denn er wurde auf Proben gestellt, bei denen Vernunft mit der wilden Bestie in ihm kämpfen mußte — und die Vernunft siegte. Dann, und erst dann, gab Joe Patroni das Boxen für den Rest seines Lebens auf.
Aber daß er seine Wut beherrschen konnte, bedeutete nicht, daß er keiner Anfechtung ausgesetzt war. Als der Leutnant aus dem Bildfeld der Fernsehkamera zurückkam, stellte Patroni ihn hitzig zur Rede. »Damit haben Sie die Straße um zwanzig Minuten länger blockiert. Es hat zehn Minuten gedauert, die Abschleppwagen an die Stellen zu bringen, an denen sie stehen müssen. Es wird noch einmal zehn Minuten dauern, um sie wieder dorthin zu bringen.«
Während er sprach, dröhnte ein Düsenflugzeug über sie hinweg — eine Ermahnung zur Eile für Joe Patroni.
»Jetzt hören Sie mal zu, Mister.« Das Gesicht des Leutnants nahm ein noch dunkleres Rot an, als Kälte und Wind bereits verursacht hatten. »Machen Sie sich klar, daß ich hier das Kommando führe. Wir sind froh, wenn wir Hilfe finden, einschließlich Ihrer, aber ich bin es, der hier Entscheidungen trifft.«
»Dann treffen Sie jetzt Ihre Entscheidung!«
»Ich werde tun, was ich . . .«
»Nein! Jetzt hören Sie mir mal zu!« Joe Patroni sah den Leutnant mit funkelnden Augen an, ohne sich durch die ihn überragende Gestalt beeindrucken zu lassen. Der beherrschte Zorn und die spürbare Autorität Patronis ließen den Leutnant zögern.
»Auf dem Flughafen herrscht ein Notstand. Das habe ich Ihnen schon auseinandergesetzt. Und auch, weshalb ich dort gebraucht werde.« Patroni fuchtelte mit seiner glühenden Zigarre in der Luft herum, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Vielleicht haben auch noch andere, die hier aufgehalten werden, allen Grund, schnell weiterzukommen, aber mir genügt im Augenblick meiner völlig. Ich habe in meinem Wagen Telefon. Ich kann meine Chefs anrufen, und die rufen dann Ihre an, und ehe Sie es ahnen, wird jemand Sie über Ihr Funkgerät fragen, wie Sie dazu kommen, Ihr Fernseh-Image aufzupolieren, statt die Aufgabe zu erfüllen, für die Sie hier sind. Treffen Sie also Ihre Entscheidung, wie Sie gesagt haben, oder muß ich erst anrufen?«
Der Leutnant funkelte Joe Patroni ebenfalls wütend an. Für einen Augenblick schien es, als ob er seinem Ärger nachgeben würde, besann sich dann aber eines Besseren. Er wandte seine große Gestalt dem Fernsehteam zu. »Schafft diesen ganzen Krempel jetzt hier weg. Ihr Kerle habt lange genug Zeit gehabt.« Einer von den Fernsehleuten rief: »Wir brauchen noch ein paar Minuten, Chef.«
Mit zwei Schritten war der Leutnant neben ihm. »Haben Sie nicht verstanden? Auf der Stelle brechen Sie ab.«
Der Polizist beugte sich herab, sein Gesicht war noch wütend von dem Zusammenstoß mit Joe Patroni, und der Fernsehmann zuckte merklich zurück. »Schon gut, schon gut.« Er winkte den anderen hastig zu, und die Scheinwerfer um die Handkamera erloschen.
»Die beiden Abschleppwagen an die Plätze zurück, wo sie gestanden haben!« Der Leutnant begann, mit Befehlen um sich zu werfen, und seine Untergebenen befolgten sie eilig. Er kam zu Joe Patroni zurück und deutete auf den umgestürzten Lastzug. Sichtlich war er zu der Überzeugung gekommen, daß Patroni als Verbündeter nützlicher war denn als Gegner. »Sind Sie immer noch der Meinung, daß sie den Klotz da beiseite schleppen können, Mister? Glauben Sie nicht, daß wir ihn doch aufrichten sollten?«
»Nur wenn Sie die Straße gesperrt lassen wollen, bis es hell wird. Sie müßten zuerst den Anhänger ausladen, und wenn Sie das tun . . .«
»Ich weiß, ich weiß. Lassen wir's also! Wir ziehen und schieben jetzt, und wenn dabei was kaputtgeht, zerbrechen wir uns den Kopf später darüber.« Der Leutnant deutete auf die wartenden Autoschlangen. »Wenn Sie nachher gleich weiter wollen, holen Sie lieber Ihren Wagen hier nach vorn. Wollen Sie ein Geleit bis zum Flughafen?« Patroni nickte zustimmend. »Ja . . . danke.«
Zehn Minuten später schnappte der Haken des letzten Abschleppseils ein. Schwere Ketten von einem der Abschleppwagen waren an der Achse des Sattelschleppers befestigt worden; ein kräftiges Drahtseil verband die Kette mit der Winde des Abschleppfahrzeugs. Der zweite Abschleppwagen war an dem umgestürzten Anhänger befestigt, das dritte Schleppfahrzeug stand hinter dem Anhänger bereit.
Der Fahrer des großen Lastzugs, welcher trotz des Umstürzens nur geringfügig beschädigt war, stöhnte, als er beobachtete, was vor sich ging. »Das wird meinem Chef wenig gefallen! Der Lastzug ist fast neu. Sie zerreißen ihn so doch in Stücke.«
»Wenn schon«, erwiderte ein junger Polizist. »Wir vollenden dann nur, was Sie angefangen haben.«
»Ihnen kann's ja gleichgültig sein«, antwortete der Fahrer mürrisch. »Stört Sie ja nicht, wenn ich einen guten Job verliere. Das nächste Mal suche ich mir dann was Leichteres — werde auch ein fauler Polizist.«
Der Beamte grinste. »Warum nicht? Ein miserabler Fahrer sind Sie ja schon.«
»Sind wir soweit?« fragte der Leutnant Patroni.
Joe Patroni nickte. Er hatte sich geduckt und kontrollierte die Spannung der Ketten und Drahtseile. Er warnte: »Jetzt schön langsam und vorsichtig. Bringt erst den Sattelschlepper ins Rutschen.«
An dem ersten Abschleppwagen begann die Winde zu laufen. Seine Räder rutschten auf dem Schnee. Der Fahrer steigerte das Tempo und hielt die Schleppkette straff gespannt. Der auf der Seite liegende Sattelschlepper knarrte und glitt mit einem protestierenden Kreischen des Metalls ein oder zwei Fuß weit und hielt dann wieder an.
Patroni winkte: »Weiter, weiter! Und fangt mit dem Anhänger an!«
Die Ketten und Drahtseile zwischen dem zweiten Abschleppwagen und dem Anhänger strafften sich. Der dritte Abschlepper drückte gegen das Dach des Anhängers. Die Räder aller drei Fahrzeuge drehten durch, da sie in dem nassen hohen Schnee kaum Halt fanden. Sattelschlepper und Anhänger, noch aneinandergekoppelt, wie sie umgestürzt waren, bewegten sich von dünnen Beifallsrufen der Zuschauer begleitet, seitlich über die Fahrbahn. Die Fernsehkamera war wieder in Betrieb, ihre Scheinwerfer gaben dem Schauplatz zusätzliches Licht.
Eine breite tiefe Lücke im hohen Schnee zeigte die Stelle an, wo der große Lastzug gelegen hatte. Der Sattelschlepper und der Anhänger erlitten starke zusätzliche Schäden. Das Dach des Anhängers verschob sich, während das Fahrzeug über die Fahrbahn geschleift wurde. Der Preis, der für die Räumung der Straße bezahlt werden mußte — zweifellos von einer Versicherung —, stieg steil an.
Vor und hinter der Straßensperre versuchten zwei Schneepflüge — die wie angriffsbereite Kampfwagen zu beiden Seiten bereitstanden — so gut wie möglich den Schnee zu räumen, der sich seit dem Augenblick des Unfalls angehäuft hatte. Alles und jeder waren inzwischen von Schnee bedeckt, auch Patroni, der Leutnant, die Polizisten und alles, was im Freien war.
Die Motoren der Abschleppfahrzeuge dröhnten wieder auf. Von den Reifen, die in dem nassen, festgefahrenen Schnee durchdrehten, stieg Rauch auf. Langsam und schwerfällig bewegte sich der umgestürzte Lastzug um ein paar Zoll, einige Fuß, und glitt dann über die Fahrbahn zur anderen Straßenseite. Sekunden später war an Stelle der vier Fahrbahnen nur noch eine versperrt. Für die Abschleppwagen war es jetzt einfach, den Lastzug völlig von der Straße herunter und auf die abschüssige Böschung zu schieben.
Polizisten winkten bereits mit Fackeln und machten sich daran, die ungeheuerliche Verkehrsstauung aufzulösen, die voraussichtlich noch mehrere Stunden anhalten würde. Wieder erinnerte das Dröhnen einer Düsenmaschine in der Luft Joe Patroni daran, daß die Hauptaufgabe für diese Nacht noch woanders auf ihn wartete.
Der Polizeileutnant nahm seine Mütze ab und schüttelte den Schnee herunter. Er nickte Patroni zu. »Jetzt sind Sie an der Reihe, Mister.«
Ein Streifenwagen, der auf dem Bankett parkte, rollte behutsam auf die Fahrbahn. Der Leutnant zeigte darauf. »Halten Sie sich dicht hinter diesem Wagen. Ich habe den Leuten gesagt, daß Sie ihnen folgen, und sie haben Befehl, Sie schnell zum Flughafen zu bringen.«
Joe Patroni nickte. Als er in seinen Buick Wildcat kletterte, rief der Leutnant ihm nach: »Und noch eins, Mister . . . Danke!«
2
Kapitän Vernon Demerest trat einen Schritt von der geöffneten Schranktür zurück und stieß einen leisen Pfiff aus.
Er war immer noch in der Küche von Gwen Meighens Apartment in der Stewardess Row. Gwen war nach ihrer Dusche noch nicht erschienen, und während des Wartens, hatte er, wie von ihr vorgeschlagen, Tee gemacht. Auf der Suche nach Tassen und Untertassen hatte er den Küchenschrank geöffnet.
Vor sich hatte er vier dicht mit Flaschen gefüllte Fächer. Es waren alles Portionsflaschen, die gerade jene Menge Schnaps enthielten — anderthalb Unzen —, die die Fluglinien ihren Gästen unterwegs servierten. Die meisten Flaschen trugen über den Firmennamen kleine Etiketts der Fluggesellschaft, und alle waren ungeöffnet. Nach einem schnellen Überschlag schätzte Demerest, daß es an die dreihundert waren.
Schnäpse von Fluggesellschaften hatte er schon früher in Stewardessenwohnungen gesehen, doch noch nie so viele auf einmal.
»Im Schlafzimmer haben wir noch mehr versteckt«, sagte Gwen vergnügt hinter ihm. »Wir sparen ihn für eine Party. Ich denke, das reicht, meinst du nicht?«
Sie war unhörbar in die Küche gekommen, und er drehte sich zu ihr um. Wie stets, seit Beginn ihrer Affäre, war er von ihrem An- blick wieder bezaubert. Obwohl er ein Mann war, dem es nie an Umgang mit Frauen gefehlt hatte, wunderte er sich in solchen Augenblicken immer wieder von neuem, daß er Gwen überhaupt je besessen hatte. Sie trug den vorgeschriebenen Uniformrock mit Blu- se, worin sie jünger aussah, als sie war. Ihr offenes Gesicht mit den hohen Backenknochen hielt sie ihm entgegen, und ihr volles schwarzes Haar glänzte unter der Küchenlampe. Gwens tiefdunkle Augen sahen ihn lächelnd und bewundernd an. »Du kannst mich richtig küssen«, sagte sie. »Ich habe mich noch nicht geschminkt.«
Er lächelte, denn ihr klares klangvolles Englisch entzückte ihn wieder einmal. Wie vielen Mädchen auf englischen Mittelklasse-Internaten war es auch Gwen gelungen, alles was an der englischen Aussprache gut ist, zu erwerben und das Schlechte abzulegen. Zuweilen animierte Vernon Demerest Gwen geradezu zum Reden, nur des Vergnügens wegen, ihr zuzuhören.
Jetzt hielten sie sich ohne zu sprechen umarmt, und ihre Lippen antworteten den seinen leidenschaftlich.
Etwa nach einer Minute riß Gwen sich los. »Nein!« sagte sie energisch. »Nein, Vernon, Lieber. Jetzt nicht.«
»Warum denn nicht? Wir haben doch noch Zeit.« In Demerests Stimme lag etwas Dumpfes, eine rauhe Ungeduld.
»Weil ich dir gesagt habe, daß ich mit dir reden will und wir nicht für beides Zeit haben.« Gwen zog ihre Bluse zurecht, die aus dem Rock gerutscht war.
»Herrgott«, brummte er. »Erst versetzt du mich in Glut und dann ... Na schön, ich werde bis Neapel warten.« Er küßte sie zarter. »Auf dem ganzen Weg nach Europa kannst du an mich denken, wie ich im Cockpit sitze und auf >schmoren< geschaltet bin.«
»Ich werde dich schon wieder in Hitze bringen, das verspreche ich dir.« Sie lachte und lehnte sich dicht an ihn, fuhr ihm mit ihren langen, schlanken Fingern durch das Haar und über das Gesicht.
Er stöhnte »Mein Gott — das tust du ja jetzt schon!«
»Dann ist es jetzt genug.« Gwen nahm seine Hände, die um ihre Taille lagen, und schob sie entschlossen fort.
Sie wandte sich von ihm ab, um die Schranktür zu schließen, die er geöffnet hatte.
»Halt, warte mal einen Augenblick. Was hat es mit dem ganzen Zeug da auf sich?« Demerest wies auf die Portionsflaschen mit ihren Fluglinienetiketts.
»Die da?« Gwen überflog die vier engbepackten Fächer, zog die Augenbrauen hoch und setzte den Ausdruck der beleidigten Unschuld auf. »Das sind doch nur ein paar alte Reste, die die Passagiere nicht haben wollten. Na, Herr Kapitän, Sie werden mich doch wohl nicht melden, weil ich die paar Reste mitgenommen habe.«
Er meinte skeptisch: »So viel?«
»Natürlich.« Gwen ergriff ein Fläschchen Gin, stellte es wieder zurück und untersuchte einen Canadien Club Whisky. »Es ist nett von den Fluglinien, daß sie immer die besten Marken einkaufen. Hättest du jetzt Appetit auf einen?«
Er schüttelte den Kopf. »Das weißt du doch genau.«
»Ja, das weiß ich; aber du brauchst nicht einen so mißbilligenden Ton anzuschlagen.«
»Ich will einfach nicht, daß du bei so etwas erwischt wirst.«
»Keine wird erwischt, und beinahe alle tun es. Sieh doch mal: Jeder Passagier erster Klasse hat Anspruch auf zwei dieser kleinen Flaschen, aber manche trinken nur eine, und andere wollen überhaupt keine.«
»Die Vorschriften bestimmen, daß der Überschuß abgeliefert werden muß.«
»Ach, du lieber Gott! Das tun wir ja — ein paar liefern wir ab, der Form halber, die übrigen teilen die Mädchen untereinander auf. Genauso ist es mit dem übriggebliebenen Wein.« Gwen kicherte.
»Wir freuen uns immer, wenn ein Passagier so kurz vor Ende einer Reise noch Wein verlangt. Dann können wir offiziell eine neue Flasche aufmachen und ein Glas daraus einschenken . . .«
»Verstehe. Und den Rest mitnehmen.«
»Willst du's mal sehen?« Gwen öffnete einen anderen Schrank. Darin standen ein Dutzend volle Weinflaschen.
Demerest grinste. »Verdammt noch mal.«
»Das gehört nicht alles mir. Meine Mitbewohnerin und eins der Mädchen von nebenan haben auch für die Party gespart.« Sie ergriff seinen Arm. »Du kommst doch auch, nicht wahr?«
»Wenn ich eingeladen werde, warum nicht?«
Gwen schloß die beiden Schranktüren. »Du wirst schon noch eingeladen.«
Sie setzten sich in der Küche hin, und sie goß den Tee ein, den er zubereitet hatte. Er sah ihr dabei bewundernd zu. Gwen besaß die Gabe, aus einem zufälligen Beisammensein wie diesem, etwas Besonderes zu machen.
Amüsiert sah er zu, wie sie aus einem anderen Schrank Tassen von einem hohen Stapel nahm, die alle die Insignien der Trans America trugen. Es war die Sorte, die die Gesellschaft an Bord verwendete. Er sagte sich, daß er wegen der Portionsflaschen nicht so spießig hätte sein sollen; schließlich war es doch nichts Neues, daß Stewardessen »Schmu« machten. Es war nur der Umfang des Hortes, der ihn wunderte.
Die Stewardessen aller Fluglinien, das war ihm bekannt, kamen in ihrer Laufbahn bald dahinter, daß sie ihre Unterhaltskosten verringern konnten, wenn sie in der Galley des Flugzeugs ein bißchen haushälterisch waren. Stewardessen lernten, ihre Flüge mit persönlichem Handgepäck anzutreten, das teilweise leer war, und füllten es mit überschüssigen Lebensmitteln — immer erster Qualität, da ja die Gesellschaften nur das Allerbeste einkaufen. Eine leer mitgebrachte Thermosflasche war geeignet, gesparte Getränke — Sahne oder sogar Champagner — aufzunehmen. Eine Stewardess, die wirklich tüchtig war, das wurde Demerest einmal versichert, konnte ihre wöchentliche Lebensmittelrechnung um die Hälfte senken. Lediglich bei internationalen Flügen, bei denen nach gesetzlicher Vorschrift alle Eßwaren — berührt oder nicht — sogleich nach der Landung verbrannt werden, waren die Mädchen vorsichtiger. Diese ganze Praxis war nach den Betriebsordnungen aller Linien streng verboten — ließ sich aber nicht unterbinden.
Noch etwas anderes merkten die Stewardessen: Und zwar die Tatsache, daß von der beweglichen Ausstattung der Kabinen am Ankunftsort nie eine Inventarprüfung vorgenommen wurde. Ein Grund war, daß die Gesellschaften dazu einfach keine Zeit hatten; ein weiterer, daß es billiger war, ein paar Verluste zu übersehen, als ein großes Theater deswegen zu machen. So gelang es manchen Stewardessen, in überraschenden Mengen allerlei Hausrat zu bekommen: Decken, Kissen, Handtücher, Servietten, Gläser, Eßbestecke. Vernon Demerest war in Stewardessennestern gewesen, in denen fast alle Dinge des täglichen Gebrauchs aus Beständen der Fluggesellschaften zu stammen schienen.
Gwen überrumpelte ihn in seinen Gedanken. »Was ich dir sagen wollte, Vernon: Ich bin schwanger.«
Das wurde so nebenbei gesagt, daß er es zuerst gar nicht aufnahm. Er reagierte verwirrt.
»Du bist was?«
»Schwanger—S—C—H—W . . .«
Er unterbrach sie gereizt: »Buchstabieren kann ich das auch.« Seine Gedanken tasteten sich noch zurecht. »Bist du auch sicher?«
Gwen lachte — ihr attraktives silbernes Lachen — und nippte an ihrem Tee. Er dachte, sie zöge ihn auf. Nie hatte sie liebenswerter und begehrenswerter ausgesehen als gerade jetzt.
»Dieser Spruch, Liebling, den du da gerade aufgesagt hast, ist eine alte Masche. In jedem Buch, das ich gelesen habe, kam so eine Szene vor; der Mann fragte: >Bist du auch sicher?< «
»Na, verdammt noch mal, Gwen!« Er würde lauter. »Bist du's?«
»Natürlich. Sonst würde ich es dir doch nicht sagen.« Sie beugte sich über seine Tasse. »Noch eine Tasse Tee?«
»Nein!«
»Mir ist ganz klar«, sagte Gwen ruhig, »wie es passiert ist. Bei diesem Zwischenaufenthalt, den wir in San Francisco hatten — erinnerst du dich? —, wir wohnten in dem großartigen Hotel auf dem Nob Hill, das mit dem schönen Ausblick. Wie heißt es doch noch?«
»Das >Fairmont<. Ja, ich erinnere mich. Weiter.«
»Also, ich fürchte, ich war leichtsinnig. Ich gab das Pillenschluk-ken auf, weil ich dadurch zu dick wurde. Damals meinte ich, ich brauchte an dem Tag keine anderen Vorsichtsmaßnahmen, aber es hat sich gezeigt, daß ich mich geirrt habe. Na, jedenfalls habe ich jetzt, weil ich unvorsichtig war, einen winzig kleinen Vernon Demerest in mir, der immer größer und größer wird.«
Es gab eine Pause. Dann sagte er verlegen: »Wahrscheinlich steht mir die Frage nicht zu, ob . . .«
Sie unterbrach ihn. »Doch, das darfst du fragen. Dazu hast du das Recht.« Gwens tiefdunkle Augen sahen ihn mit offener Ehrlichkeit an. »Was du wissen möchtest, ist, ob da irgendjemand anderes war und ob ich sicher bin, daß es von dir ist. Habe ich recht?«
»Sieh mal, Gwen . . .«
Sie streckte ihre Hand nach seiner aus. »Es braucht dir doch nicht peinlich zu sein, danach zu fragen. Ich täte es auch, wenn ich an deiner Stelle wäre.«
Er machte ein paar unglückliche Bewegungen. »Reden wir nicht mehr davon. Es tut mir leid.«
»Aber ich will es dir doch sagen.« Sie sprach nun schneller, eine Spur weniger zuversichtlich.
»Da ist kein anderer gewesen — konnte gar keiner sein. Siehst du — zufällig liebe ich dich nun einmal.« Zum ersten Male hatte sie die Augen gesenkt. Sie fuhr fort: »Ich dachte, ich — ich wußte, ich — liebe dich, ich meine — sogar schon vor dem Erlebnis in San Francisco. Als ich darüber nachdachte, war ich glücklich darüber, weil man doch jemanden lieben sollte, wenn man ein Kind von ihm erwartet — findest du nicht?«
»Hör mal zu, Gwen.« Er legte seine Hand auf ihre. Vernon De-merests Hand war kräftig und feinfühlig, an Verantwortung und Beherrschung gewöhnt, doch auch zu Genauigkeit und Güte fähig. Jetzt waren es zärtliche Hände. Frauen, an denen ihm gelegen war, hatten stets diese Wirkung gespürt, im Gegensatz zu der rauhen, barschen Art, in der er mit Männern umging. »Wir müssen ernsthaft miteinander reden und überlegen.« Nachdem die erste Überraschung vorbei war, kamen seine Gedanken in Ordnung. Es war völlig klar, was zunächst geschehen mußte.
»Du brauchst überhaupt nichts zu tun.« Gwens Kopf richtete sich auf, ihre Stimme war beherrscht. »Und du kannst beruhigt aufhören, dich zu fragen, ob ich dir Schwierigkeiten oder Unannehmlichkeiten machen werde. Das werde ich nicht. Ich habe gewußt, auf was ich mich einließ; daß dies womöglich passieren könnte. Ich habe es nicht direkt erwartet, aber es ist nun einmal geschehen. Ich mußte es dir heute abend sagen, weil das Kind doch von dir ist; ein Teil von dir ist; deshalb mußt du es wissen. Da du es nun weißt, sage ich dir auch, daß du dir keine Sorgen zu machen brauchst. Ich habe mir vorgenommen, die Sache allein auszubaden.«
»Sei doch nicht lächerlich. Ich werde dir selbstverständlich helfen. Du denkst doch nicht, ich würde kneifen und von der ganzen Geschichte nichts wissen wollen?« Die Hauptsache, machte er sich klar, war Eile; der Trick bei unerwünschten Fötussen war, die kleinen Dinger frühzeitig zu erwischen. Er fragte sich, ob Gwen religiöse Bedenken gegen Abtreibung habe. Sie hatte nie über Religion gesprochen, doch manchmal waren plötzlich die unwahrscheinlichsten Menschen fromm. Er fragte sie: »Bist du katholisch?«
»Nein.«
Na, dachte er, dann war es schon leichter. Vielleicht war ein kurzer Flug nach Schweden das richtige; ein paar Tage dort waren alles, was Gwen brauchte. Die Trans America würde mithelfen, wie es alle Linien taten, vorausgesetzt, sie waren nicht offiziell verwickelt — »Abtreibung« konnte angedeutet, das Wort durfte aber nicht ausgesprochen werden. Gwen könnte kostenlos mit einem Trans-America-Flug nach Paris und dann mit einem Freiflugschein, den die Luftlinien für ihre Angestellten untereinander austauschten, durch die Air France nach Stockholm gelangen. Wenn sie allerdings nach Schweden flog, würden die Arztkosten verdammt hoch werden. Beim Personal der Fluggesellschaften kursierte der Witz, daß die Schweden ihre überseeischen Abtreibungspatienten gleichzeitig von unerwünschtem Nachwuchs und von ihrem Geld befreiten. In Japan würde die ganze Sache natürlich viel billiger. Stewardessen flogen nach Tokio und hatten Abtreibungen für fünfzig Dollar. Die Abtreibungen galten als medizinisch einwandfrei, aber Demerest mißtraute ihnen; Schweden — oder die Schweiz — waren zuverlässiger. Er hatte einmal erklärt: Wenn von ihm eine Stewardess schwanger würde, dann nur erster Klasse.
Von seinem Gesichtspunkt aus war es verdammt lästig, daß Gwen ausgerechnet jetzt ein Brot im Backofen hatte, wo er einen Anbau an seinem Haus ausführen ließ und, wie er sich erinnerte, sein Budget bereits überschritten hatte. Na schön, dann mußten eben ein paar Aktien verkauft werden — General Dynamics wahrscheinlich; da hatte er einen netten Kapitalgewinn erzielt, und es war allmählich an der Zeit, diesen Gewinn flüssig zu machen. Er würde seinen Makler gleich nach seiner Rückkehr von Rom — und Neapel — anrufen. Er fragte: »Kommst du trotzdem noch mit mir nach Neapel?«
»Selbstverständlich. Ich habe mich so darauf gefreut. Außerdem habe ich mir ein neues Neglige gekauft. Du wirst es morgen nacht sehen.«
Er stand auf und grinste. »Du bist ein schamloses Frauenzimmer.«
»Ein schamloses schwangeres Frauenzimmer, das dich schamlos liebt. Liebst du mich?«
Sie kam zu ihm, und er küßte sie auf den Mund, auf das Gesicht und auf ein Ohr. Er strich mit der Zunge durch ihre Ohrmuschel und spürte, wie sich ihre Arme daraufhin fester um ihn schlössen, und flüsterte: »Ja, ich liebe dich.« In diesem Augenblick, ging es ihm durch den Kopf, stimmte es.
»Vernon, Liebster.«
»Ja?« Ihre Wange war an die seine geschmiegt. Ihre Stimme wurde durch seine Schulter gedämpft. »Das war mein Ernst, was ich sagte. Du mußt mir nicht helfen. Wenn du es wirklich willst, ist es etwas anderes.«
»Ich will es.« Er beschloß, auf dem Weg zum Flughafen aus ihr herauszubringen, wie sie sich zu einer Abtreibung stellte.
Gwen löste sich und sah auf ihre Uhr; es war 8.20 Uhr. »Es ist Zeit, Herr Kapitän. Wir müssen wohl gehen.«
»Ich hoffe, du weißt, daß du dir wirklich keine Sorgen zu machen brauchst«, sagte Vernon Demerest zu Gwen, als sie unterwegs waren. »Fluggesellschaften sind es gewöhnt, daß ihre unverheirateten Stewardessen schwanger werden. Das kommt alle Tage vor. Nach dem letzten Bericht, den ich sah, waren es bei den amerikanischen Gesellschaften im Durchschnitt zehn Prozent jährlich.«
Ihre Unterhaltung wurde, wie er zufrieden feststellte, immer sachlicher. Gut so! Es war wichtig, Gwen von der Gefühlsduselei wegen dieses Kindes abzulenken. Wenn sie gefühlvoll wurde, wußte Demerest, konnten alle möglichen Dummheiten passieren und dem gesunden Menschenverstand in die Quere kommen.
Er fuhr den Mercedes vorsichtig, mit dem zarten, aber festen Griff, der seine zweite Natur war, wenn er irgendeine Maschine, ob Auto oder Flugzeug, unter den Händen hatte. Die Vorstadtstraßen, die frisch geräumt waren, als er vom Flughafen zu Gwens Apartment fuhr, waren wieder von hohem Schnee bedeckt. Es schneite ununterbrochen weiter, und an windigen, von Gebäuden nicht geschützten Stellen gab es Verwehungen. Kapitän Demerest umfuhr vorsichtig die höheren Verwehungen. Er hatte keine Lust steckenzubleiben oder auszusteigen, ehe der Schutz des überdachten Parkplatzes der Trans America erreicht war.
Gwen, die in den Ledersitz gekuschelt neben ihm saß, sagte ungläubig: »Stimmt es wirklich, daß jedes Jahr zehn von hundert Stewardessen schwanger werden?«
Er versicherte ihr: »Es schwankt natürlich etwas mit den Jahren, aber in der Regel bleibt es ziemlich gleich. Na ja, die Pille hat die Dinge etwas geändert, aber, wie ich hörte, nicht in dem Maß, wie zu erwarten war. Als Funktionär meiner Berufsorganisation habe ich ja Zugang zu derlei Informationen.«
Er wartete auf Gwens Antwort. Als sie ausblieb, fuhr er fort: »Was du nicht vergessen darfst, ist, daß Stewardessen meistens junge Mädchen vom Lande oder aus kleineren Städten oder aus bescheidenen städtischen Verhältnissen sind. Sie hatten eine ruhige Erziehung und ein durchschnittliches Leben. Plötzlich haben sie einen glanzvollen Beruf, sie reisen, lernen interessante Menschen kennen, steigen in den erstklassigsten Hotels ab. Es ist ihre erste Kostprobe von la dolce vita.« Er grinste. »Gelegentlich hinterläßt diese erste Probe einen Bodensatz im Glas.«
»Ich finde es einfach geschmacklos von dir, so zu reden!« Zum erstenmal, seit er sie kannte, zeigte sich Gwen gekränkt. Empört fuhr sie fort: »Du hast einen so herablassenden Ton — eben typisch Mann. Wenn ich einen Bodensatz in meinem Glas oder in mir habe, dann laß dich daran erinnern, daß er von dir stammt, und wenn wir es wirklich nicht dabei belassen wollen, würde ich wenigstens eine bessere Bezeichnung dafür finden. Auch daß du mich mit all diesen Mädchen vom Land und aus bescheidenen Verhältnissen, von denen du gesprochen hast, in einen Topf wirfst, paßt mir, verdammt noch mal, gar nicht!«
Gwens Wangen hatten sich gerötet. Ihre Augen funkelten wütend.
»Hoppla«, sagte er. »Dein Feuer gefällt mir.«
»Mach nur so weiter, dann kannst du noch ganz was anderes erleben.«
»War es denn so schlimm?«
»Du warst unerträglich.«
»Das tut mir leid.« Demerest verlangsamte das Tempo und hielt vor einer Verkehrsampel an, die mit unzähligen Reflexen durch den fallenden Schnee schimmerte. Sie warteten schweigend, bis die Ampel mit Weihnachtskarteneffekt auf Grün wechselte. Als sie wieder fuhren, sagte er behutsam: »Ich wollte dich mit niemand in einen Topf werfen, weil du doch eine Ausnahme bist. Du bist ein aufgeklärtes Mädchen, das unvorsichtig war. Das hast du selbst zugegeben. Wahrscheinlich waren wir beide unvorsichtig.«
»Also gut.« Gwens Ärger verflog. »Aber wirf mich nie mehr mit anderen in einen Topf. Ich bin ich und niemand anderes.«
Sie schwiegen ein paar Minuten lang, dann sagte Gwen nachdenklich: »Ich glaube, so könnten wir es nennen.«
»Wie was nennen?«
»Du hast mich wieder auf das gebracht, was ich vorhin gesagt habe — über den kleinen Vernon Demerest in mir. Wenn es ein Junge wird, könnten wir ihn Vernon Demerest den Zweiten nennen, wie das die Amerikaner tun.«
Sein Name hatte ihm nie besonders zugesagt. Zögernd begann er: »Ich möchte nicht, daß mein Sohn . . .« Dann hielt er inne. Dies war ein gefährlicher Boden.
»Was ich vorhin sagen wollte, Gwen: Die Gesellschaften sind solche Sachen ja gewöhnt. Du hast doch schon von dem >Dreipunkte-Schwangerschaftsprogramm< gehört?«
Einsilbig antwortete sie: »Ja.«
Ihre Einsilbigkeit war nur natürlich. Den meisten Stewardessen war bekannt, was die Gesellschaften für sie tun würden, sollten sie schwanger werden, vorausgesetzt, die Stewardessen waren mit gewissen Bedingungen einverstanden. Innerhalb der Trans America wurde von dem System vertraulich als »3-PPP« gesprochen. Andere Gesellschaften gebrauchten andere Namen, doch die Vorkehrungen unterschieden sich nur geringfügig, waren aber im Prinzip gleich.
»Ich habe Mädchen gekannt, die das >3-PPP< benutzt haben«, sagte Gwen. »Ich habe nie gedacht, daß ich es auch einmal nötig haben würde.«
»Die meisten anderen wohl auch nicht, nehme ich an.« Er fügte hinzu: »Aber du brauchtest dir keine Sorgen zu machen. Die Gesellschaften hängen das nicht an die große Glocke, und alles geht ganz diskret vor sich. Wie steht es mit unserer Zeit?«
Gwen hielt ihre Armbanduhr unter das Licht des Armaturenbretts. »Wir sind zeitig dran.«
Er lenkte seinen Wagen vorsichtig auf die mittlere Fahrbahn, achtete auf die Bodenhaftung auf der feuchten, schneebedeckten Straßendecke und überholte einen rumpelnden Müllwagen. Mehrere Männer auf den Trittbrettern des fahrenden Lkws, wahrscheinlich eine Räummannschaft, hielten sich an den Seiten fest. Sie sahen müde, naß und erbärmlich aus. Demerest fragte sich, wie es auf die Männer wirken würde, wenn sie erführen, daß er und Gwen in ein paar Stunden unter der warmen Sonne von Neapel sein würden.
»Ich weiß nicht«, sagte Gwen, »ich weiß nicht, ob ich das je tun könnte.«
Wie Demerest, kannte Gwen die Überlegungen der Verwaltung, die hinter dem Schwangerschaftsprogramm der Fluggesellschaft steckten. Keine Linie verlor gern, aus welchem Grund auch immer, Stewardessen. Deren Ausbildung war teuer; eine qualifizierte Stewardess stellte eine hohe Investition dar. Und noch etwas kam hinzu. Die richtige Art Mädchen — sie mußten gut aussehen, elegant sein und Persönlichkeit besitzen — war schwer zu finden.
Die Abwicklung des Programms war praktisch und einfach. Wenn eine Stewardess schwanger wurde und nicht zu heiraten beabsichtigte, könnt* sie natürlich ihre Arbeit wieder antreten, sobald ihre Schwangerschaft vorüber war, und gewöhnlich war ihre Gesellschaft froh, sie zurückzubekommen. So erhielt sie dem Programm entsprechend offiziell Urlaub, bei dem ihr Dienstalter berücksichtigt wurde. Für ihr persönliches Wohlergehen unterhielten die Personalabteilungen der Gesellschaften besondere Ressorts, die unter anderem dabei behilflich waren, Abmachungen mit Ärzten oder Entbindungsheimen zu treffen, entweder am Wohnort der Stewardess oder in einem entfernten Ort, ganz wie sie es wünschte. Die Gesellschaft half auch psychologisch, indem sie den Mädchen zeigte, daß sich jemand um sie kümmerte und ihre Interessen wahrnahm. Ein Darlehen könnte ebenfalls vereinbart werden. War es einer Stewardess, die ein Kind gehabt hatte, peinlich, an ihren ursprünglichen Standort zurückzukehren, wurde sie stillschweigend zu einem anderen ihrer Wahl versetzt.
Als Gegenleistung für all dies verlangte die Gesellschaft von den Stewardessen drei Zusicherungen — daher das »DreipunkteSchwangerschaftsprogramm«.
Erstens: Die Stewardess mußte die Personalabteilung der Gesellschaft während der ganzen Zeit der Schwangerschaft über ihren Aufenthalt auf dem laufenden halten.
Zweitens: Sie mußte damit einverstanden sein, daß ihr Kind unmittelbar nach der Geburt adoptiert wurde, und darauf verzichten, den Namen der Adoptiveltern jemals zu erfahren. Damit verschwand das Kind völlig aus dem Leben der Mutter. Auf jeden Fall bürgte die Gesellschaft dafür, daß ein korrektes Adoptionsverfahren erfolgte und das Kind in einem guten Heim untergebracht wurde.
Drittens: Zu Beginn des Programms mußte die Stewardess der Gesellschaft den Namen des Kindesvaters mitteilen. Danach suchte ein in solchen Fällen erfahrener Vertreter der Personalabteilung den Vater auf, um bei ihm eine finanzielle Unterstützung für die Mutter durchzusetzen. Was der Vertreter zu erreichen versuchte, war eine schriftliche Verpflichtung, die Kosten für die ärztliche Betreuung und die Auslagen für ein Pflegeheim und, wenn möglich, einen Teil oder das ganze eingebüßte Gehalt der Stewardess zu übernehmen. Die Gesellschaften sahen es gern, wenn solche Vereinbarungen freundschaftlich und diskret erfolgten. Mußte es sein, konnten sie aber auch unangenehm werden und ihren beträchtlichen wirtschaftlichen Einfluß dazu benutzen, sich sträubende Individuen unter Druck zu setzen.
Es war selten nötig, unangenehm zu werden, wenn der Vater des Kindes dem Flugpersonal angehörte — Kapitän, Erster oder Zweiter Offizier war. In solchen Fällen genügte meistens sanfte Überredung von seiten der Gesellschaft und der Wunsch des Vaters, die ganze Sache verschwiegen abzuwickeln. Was die Verschwiegenheit anging, so war die Gesellschaft entgegenkommend. Zeitweise Unterstützungszahlungen konnten auf jede vernünftige Weise geleistet werden, und falls gewünscht, zog die Gesellschaft regelmäßig den Betrag vom Gehalt des Angestellten ab. Aus dieser Rücksichtnahme erschienen, um unbequemen Fragen zu Hause zu entgehen, solche Abzüge unter der Rubrik »Verschiedene Auslagen«.
Alle auf diese Weise erhaltenen Beträge wurden in voller Höhe der schwangeren Stewardess überwiesen. Die Gesellschaft zog nichts für ihre Unkosten ab.
»Der springende Punkt bei dem Programm ist«, sagte Demerest, »daß man nicht allein ist und es jede nur mögliche Hilfe bietet.«
Vor einem hatte er sich bisher gehütet — das Wort Abtreibung auch nur zu erwähnen. Das war ein Fall für sich, denn keine Gesellschaft konnte oder wollte sich in eine Abtreibung verwickeln lassen. Rat wurde inoffiziell häufig denen gegeben, die ihn suchten — von Inspektoren, die aus den Erfahrungen anderer wußten, wie solche Arrangements zu treffen waren. Sie bemühten sich, Mädchen, die zur Abtreibung entschlossen waren, zu helfen, daß der Eingriff unter sicheren medizinischen Bedingungen stattfand und auf jeden Fall die gefährlichen und berüchtigten Praktiker vermieden wurden, zu denen verzweifelte Menschen manchmal ihre Zuflucht nahmen.
Gwen sah ihren Gefährten neugierig an. »Jetzt sag mir bloß eins: Woher weißt du über all das so genau Bescheid?«
»Ich sagte dir doch, daß ich Funktionär in meinem Berufsverband bin . . .«
»Für Angelegenheiten der Piloten. Aber du hast doch nichts mit Stewardessen zu tun — nicht in dieser Beziehung jedenfalls.«
»Vielleicht nicht direkt.«
»Vernon, das ist dir früher schon einmal passiert — daß eine Stewardess ein Kind von dir bekam — stimmt's, Vernon?«
Er nickte zögernd. »Ja.«
»Es muß dir sehr leichtfallen, Stewardessen umzulegen — diese leichtgläubigen Mädchen vom Land, von denen du gesprochen hast. Oder waren sie meistens aus >bescheidenen städtischen Verhältnissen^«: In Gwens Stimme lag Bitterkeit. »Wie viele waren es denn alles in allem? Zwei Dutzend, ein Dutzend? Gib mir nur so einen Begriff in runden Zahlen. Er seufzte. »Eine, nur eine.«
Er hatte natürlich unglaubliches Glück gehabt. Es hätten viel mehr sein können, aber seine Antwort stimmte. Na — stimmte fast; da war noch der andere Fall, die Fehlgeburt, aber das dürfte nicht zählen.
Draußen wurde der Verkehr immer dichter, je näher sie dem Flughafen kamen, der jetzt nur noch eine viertel Meile weit entfernt war. Die hellen Lichter des Hauptgebäudes, wenn heute abend auch durch Schnee gedämpft, erhellten dennoch den Himmel.
Gwen sagte: »Das andere Mädchen, das schwanger wurde, ihren Namen will ich nicht wissen . . .«
»Ich würde ihn dir auch nicht sagen.«
»Hat sie diese Gummibestimmungen . . . das Dreipunkteprogramm benutzt?«
»Ja.«
»Hast du ihr geholfen?«
Ungeduldig antwortete er: »Ich habe vorhin schon gesagt — wofür hältst du mich eigentlich? Selbstverständlich habe ich ihr geholfen. Wenn du es wissen willst — die Gesellschaft hat es von meinem Gehalt abgezogen. Daher weiß ich, wie das vor sich geht.«
Gwen lächelte. »Verschiedene Auslagen?«
»Ja.«
»Hat deine Frau es je erfahren?«
Er zögerte, ehe er antwortete. »Nein.«
»Und was ist aus dem Kind geworden?«
»Adoptiert worden.«
»Was war es denn?«
»Halt ein Baby.«
»Du weißt genau, was ich meine, Vernon. War es ein Mädchen oder ein Junge?«
»Ich glaube, ein Mädchen.«
»Du glaubst!«
»Ich weiß es. Ein Mädchen.«
Bei Gwens Fragerei wurde ihm etwas unbehaglich. Das weckte Erinnerungen, die er lieber vergessen wollte.
Sie schwiegen, als Vernon Demerest den Mercedes mit einem Schwung in die imposante Haupteinfahrt brachte. Hoch über dem Eingang erhoben sich, von Scheinwerfern angestrahlt, die parabolischen Bögen — mit Beifall begrüßtes Ergebnis eines weltweiten künstlerischen Wettbewerbs — und symbolisierten, wie es hieß, die hohen Ziele der Luftfahrt. Dann kam ein imposanter Serpentinenkomplex von Wegen, Überbrückungen, Unterführungen und Tunnels, die dazu bestimmt waren, den ununterbrochenen Autoverkehr des Flughafens in Fluß zu halten, obwohl die Wirkungen des dreitägigen Sturms das Vorwärtskommen im Vergleich zu anderen Tagen stark verlangsamten. Große Schneehügel versperrten normalerweise verfügbaren Straßenraum. Schneepflüge und Lastwagen, die das übrige Gebiet offen zu halten versuchten, erhöhten durch ihre Anwesenheit die Konfusion noch.
Nach verschiedenen kurzen Aufenthalten bog Demerest in den Dienstweg ein, der sie in das Haupthangarviertel der Trans America bringen würde, wo sie ihren Wagen verlassen und einen Personalbus zum Hauptgebäude nehmen würden.
Gwen rührte sich neben ihm. »Vernon.«
»Ja?«
»Ich danke dir, daß du mir gegenüber so ehrlich warst.« Sie ta- stete nach seiner auf dem Steuer liegenden Hand. »Ich komme schon klar. Vermutlich ist es eben ein bißchen viel, so alles zusammen. Und ich will wirklich mit dir nach Neapel.«
Er nickte und nahm lächelnd seine Hand vom Steuer und drückte ihre fest. »Wir haben eine schöne Zeit vor uns, und ich verspreche dir, daß wir sie beide in Erinnerung behalten werden.«
Er würde alles tun, was er konnte, gelobte er sich, damit sein Versprechen sich bewahrheitete. Für ihn selbst würde es nicht schwer sein. Von Gwen war er stärker angezogen, in ihrer Gegenwart empfand er mehr Liebe und fühlte sich ihr geistig näher als bei irgend jemand anderem, an den er sich erinnerte. Wenn da nicht seine Ehe wäre ... Er fragte sich, und nicht zum erstenmal, ob er mit Sarah brechen und Gwen heiraten solle. Dann verwarf er den Gedanken wieder. Er hatte zu viele andere in seinem Beruf erlebt, die unter Umwälzungen gelitten hatten — Piloten, die junger Mädchen wegen ihre Frauen nach langen Ehejahren verlassen hatten. In den meisten Fällen war all diesen Männern nichts geblieben als gescheiterte Hoffnungen und drückende Unterhaltsverpflichtungen. Irgendwann auf ihrer Reise, entweder in Rom oder in Neapel, mußte er doch noch einmal ein ernstes Gespräch mit Gwen führen. Ihre Unterhaltung war bis jetzt nicht so verlaufen, wie er es gern gesehen hätte, und auch die Frage einer Abtreibung war noch nicht aufgeworfen worden.
Inzwischen — der Gedanke an Rom erinnerte ihn daran — stand er vor der unmittelbaren Aufgabe, Flug Zwei der Trans America zu leiten.
3
Der Schlüssel gehörte zu Zimmer 224 der O'Hagan Inn.
In dem halbdunklen Umkleideraum neben der Radarstation der Flugsicherung wurde Keith Bakersfeld sich plötzlich bewußt, daß er den Schlüssel mit dem ihn kennzeichnenden Kunststoffschild minutenlang angestarrt hatte. Oder waren es nur Sekunden gewesen? Wie so vieles andere Merkwürdige in letzter Zeit schien auch der Ablauf der Zeit ungleichmäßig und regellos zu erfolgen. Natalie hatte ihn letzthin manchmal zu Hause dabei überrascht, daß er völlig bewegungslos dastand und ins Nichts starrte. Und erst, wenn sie ihn besorgt fragte: »Was hast du denn?«, war er aus seiner Lethargie erwacht, hatte sich wieder bewegt und war wieder zum Bewußtsein gekommen.
Er vermutete, daß in diesen Augenblicken sein erschöpftes, verbrauchtes Gehirn sich selbst abschaltete. Irgendwo in der komplizierten Struktur des Gehirns mit seinen Blutgefäßen, Windungen, aufgespeicherten Gedanken und Empfindungen war ein winziger Schalter vorhanden, ein Selbstschutzmechanismus, wie ein Wärmethermostat in einem Elektromotor, der sich betätigte, wenn der Motor heißlief und davor bewahrt werden mußte, durchzubrennen. Der Unterschied zwischen einem Motor und dem menschlichen Gehirn bestand allerdings darin, daß der Motor außer Betrieb bleiben konnte.
Bei einem Gehirn ging das nicht.
Durch das einzige Fenster des Umkleideraums fiel genug Licht von den Scheinwerfern des Kontrollturms herein, daß Keith sehen konnte. Eigentlich brauchte er nichts zu sehen. Er saß auf einer der Holzbänke, die Sandwiches, die Natalie für ihn gemacht hatte, unangetastet neben sich. Er hielt nur den Schlüssel der O'Hagan Inn in der Hand und grübelte, sann über die Unfaßbarkeit des menschlichen Verstandes nach.
Der menschliche Verstand konnte ungeahnte Höhen erreichen, Dichtungen schaffen und Radargeräte, die Sixtinische Kapelle und die überschallschnelle Concorde. Aber das Gehirn — das Erinnerungen und Gewissensbisse speicherte — konnte auch terrorisieren, foltern, unermüdlich sein; und erst der Tod konnte seinen Verfolgungen ein Ende setzen.
Der Tod . . . im Nichts aufgehen, vergessen, endgültige Ruhe.
Aus diesem Grund hatte Keith Bakersfeld beschlossen, in dieser Nacht Selbstmord zu begehen.
Er mußte bald auf die Radarstation zurück. Noch hatte er einige Stunden Dienst vor sich, und er hatte mit sich selbst einen Pakt geschlossen, seine Schicht bei der Flugsicherung heute nacht bis zum Ende durchzuhalten. Er wußte nicht warum, nur, daß er es für richtig hielt, und er hatte immer gewissenhaft versucht, das Richtige zu tun. Vielleicht war Gewissenhaftigkeit ein Charaktermerkmal der Familie. Jedenfalls schienen er und sein Bruder Mel diese Eigenschaft zu teilen.
Wie dem auch sei, wenn der Dienst beendet, die letzte Pflicht erfüllt war, würde er frei sein, zur O'Hagan Inn zu gehen, wo er sich heute am späten Nachmittag angemeldet hatte. Sobald er dort war, würde er keine Zeit mehr verlieren und die vierzig Kapseln Nem-butal einnehmen — im ganzen drei Gramm —, die er in einer Me-dikamentenschachtel in der Tasche trug. Sie waren ihm verschrieben worden, damit er schlafen konnte, und von jeder Packung, die Natalie in der Apotheke besorgte, hatte er heimlich die Hälfte beiseite geschafft und gehortet. Vor wenigen Tagen erst war er in eine Bibliothek gegangen und hatte dort in einem Handbuch der klinischen Toxikologie nachgeschlagen, daß sein Vorrat an »Nembutal« weit über der tödlichen Dosis lag.
Seine gegenwärtige Schicht endete zwei Stunden nach Mitternacht. Bald darauf, nachdem er die Kapseln eingenommen hatte, würde schnell der Schlaf und mit ihm das unwiderrufliche Ende kommen.
Er sah auf seine Uhr, hielt ihr Zifferblatt in das von draußen hereinfallende Licht. Es war beinahe schon neun. Sollte er jetzt schon in den Radarraum zurückkehren? Nein — besser noch ein paar Minuten warten. Wenn er zurückging, wollte er ruhig und gefaßt sein, damit seine Nerven allem, was die letzten Dienststunden noch mit sich bringen konnten, gewachsen waren.
Keith Bakersfeld bewegte den Schlüssel wieder zwischen den Fingern: Zimmer 224.
Dieses Zusammentreffen der Zahlen war merkwürdig; daß seine Zimmernummer, die ihm zufällig für heute nacht zugewiesen worden war, eine »24« enthielt. Es gab Leute, die an solche Dinge glaubten: Numerologie, die okkulte Bedeutung von Zahlen. Keith hielt nichts davon, aber trotzdem konnte man die Zahl so deuten, daß die zweite und die dritte Ziffer mit der vorangehenden »2« bedeutete: zum zweitenmal 24.
Die erste 24 war ein Datum gewesen — vor anderthalb Jahren. Keiths Augen verschleierten sich, wie schon so oft, wenn er daran dachte. Dieses Datum war mit Selbstvorwürfen und Qualen in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war der Ursprung seiner düsteren seelischen Verfassung, seiner äußersten Verzweiflung. Es war der Grund, weshalb er seinem Leben heute nacht ein Ende machen wollte.
Es war ein Sommermorgen gewesen: Donnerstag, der 24. Juni.
Es war ein Tag für Dichter, für Liebende und für Farbfotografen; ein Tag, den man für ewig im Gedächtnis behielt, um ihn wie ein Album aufzuschlagen, wenn man sich Jahre später an die besten Stunden und die schönsten Orte erinnern wollte. In Leesburg in Virginia, nicht weit von dem historischen Harpers Ferry entfernt, war der Himmel bei Tagesanbruch klar — CAVU hieß es im Wetterbericht, in der Fliegersprache eine Kurzformel für »Wolkenhöhe und Sicht unbegrenzt«. Und diese Wetterverhältnisse blieben bestehen, abgesehen von einigen verstreuten Kumuluswölkchen am Nachmittag, die wie Wattebäusche am Himmel hingen. Eine sanfte Brise von den Blue Ridge Mountains trug den Duft des Geißblatts herüber.
Keith Bakersfeld hatte an diesem Morgen, als er zu seiner Arbeit im Washington Air Route Traffic Control Center in Leesburg fuhr, wilde Rosen blühen sehen. Eine Zeile von Keats, die er auf der Schule gelernt hatte, ging ihm durch den Kopf: »For Summer has o'erbrimmed . . .« Sie schien auf einen solchen Tag zu passen.
Wie üblich hatte er die Grenze nach Virginia von Adamstown in Maryland, wo er mit Natalie und ihren beiden Jungen ein behagliches Haus bewohnte, überschritten. Das Verdeck seines VW-Ka-brioletts war heruntergeklappt. Er fuhr ohne Eile, genoß die Wohltaten von Luft und Sonne, und als die vertrauten flachen modernen Gebäude des Air Route Center in Sicht kamen, hatte er weniger Spannung empfunden als sonst. Später hatte er sich gefragt, ob das an sich schon die Ursache für die Ereignisse gewesen sei, die sich dann begaben.
Selbst in dem Arbeitsflügel — durch dessen dicke fensterlose Mauern nie ein Strahl des Tageslichts drang — hatte Keith den Eindruck, daß der Glanz des Sommertags draußen irgendwie hineingesickert sei. Unter den siebzig oder mehr Kontrollern im Dienst schien eine Heiterkeit zu herrschen, die im Gegensatz zu dem pflichtbewußten Ernst stand, mit dem die Arbeit an den meisten Tagen im Jahr verrichtet wurde. Vielleicht war die Tatsache, daß die Verkehrsbelastung infolge des außergewöhnlich klaren Wetters geringer war als üblich, ein Grund dafür. Viele nichtkommerzielle Flüge — Privatmaschinen, Militärflugzeuge, sogar einige Passagiermaschinen — flogen nach VFR, der Methode des Sehens und Gesehenwerdens, mit deren Hilfe die Piloten ihren Weg durch die Luft selbst beobachteten und verfolgten, ohne daß sie sich über Funk bei der Luftstraßen-Kontrolle der ATC melden mußten.
Das Washington Air Route Center in Leesburg war ein Hauptkontrollpunkt. Von seiner Zentrale aus wurde der gesamte Flugverkehr auf den Luftstraßen über den sechs östlichen Küstenstaaten beobachtet und gesteuert. Insgesamt umfaßte das Kontrollgebiet mehr als zehntausend Quadratmeilen. Jedes Flugzeug, das in diesem Gebiet von einem Flugplatz aufstieg und einen Instrumenten-flugplan eingereicht hatte, kam unter die Beobachtung und Kontrolle von Leesburg. Unter dieser Kontrolle blieb es, bis es seine Reise beendet hatte oder das Kontrollgebiet verließ. Maschinen, die in das Gebiet einflogen, wurden von anderen Kontrollzentren übergeben. In den Vereinigten Staaten bestanden insgesamt zwanzig dieser Zentren. Das in Leesburg gehörte zu den verkehrsreichsten und umfaßte das südliche Ende des »Nordostkorridors«, auf dem täglich der dichteste Flugverkehr der Welt herrscht.
Merkwürdigerweise lag Leesburg in weitem Abstand von jedem Flughafen und war von Washington, das dem Air Route Center seinen Namen gegeben hatte, vierzig Meilen entfernt. Das Zentrum selbst befand sich in Virginia — eine Ansammlung flacher moderner Gebäude mit einem Parkplatz — und war auf drei Seiten von wogenden Feldern umgeben. In der Nähe floß der kleine Fluß Bull Run vorbei, dessen Name durch den Ruhm zweier Schlachten aus dem Bürgerkrieg verewigt war: Nach seinem Dienst war Keith Bakersfeld einmal an den Bull Run gegangen und hatte über den merkwürdigen Gegensatz zwischen Leesburgs Vergangenheit und seiner Gegenwart nachgedacht.
An diesem Morgen verlief, ungeachtet des strahlenden Sommertags draußen, der Dienstbetrieb in dem geräumigen kathedralarti- gen Hauptkontrollraum wie üblich. Das gesamte Kontrollfeld, grö- ßer als ein Fußballplatz, war wie immer gedämpft beleuchtet, damit die mehreren Dutzend Radarschirme unbeeinträchtigt beobachtet werden konnten. Die Radargeräte waren in übereinanderstehenden Reihen angeordnet und wurden von Schutzschirmen überdacht. Das eintönige Geräusch war das erste, was jedem auffiel, der den Kon-trollraum zum erstenmal betrat. Aus dem Bereich der Flugdatenverarbeitung mit langen Reihen von Computern, den verschiedensten elektronischen Geräten und automatischen Fernschreibern stieg ein ununterbrochenes Summen und Maschinengeklapper auf. Von den mehreren Dutzend Arbeitsplätzen der Kontroller, die den Flugverkehr dirigierten, drang unaufhörlich das Summen der Stimmen, die auf zahllosen Frequenzen Funksprüche wechselten. Maschinenlärm und Menschenstimmen verschmolzen zu einem Geräusch, das mit gleichbleibender Lautstärke alles andere übertönte, aber durch schallschluckende Wände und Decken merkwürdig gedämpft klang.
Über den Arbeitsplätzen zog sich durch die ganze Länge des Kontrollraums eine Beobachtungsbrücke, über die gelegentlich Besucher bei Besichtigungen geführt wurden. Von diesem luftigen Platz aus erschien die Tätigkeit in dem Kontrollraum nicht unähnlich dem Treiben an einer Börse. Die Kontroller sahen nur selten zu der Brücke hinauf, da sie geschult waren, alles zu ignorieren, was die Konzentration auf ihre Tätigkeit beeinträchtigen konnte, und da nur wenige bevorzugte Besucher jemals in den Kontrollraum selbst eingelassen wurden, begegneten sich Kontroller und Außenstehende nur selten. Die Tätigkeit war also nicht nur in hohem Maß anstrengend, sondern wurde auch in einer geradezu mönchischen Umgebung verrichtet — ein Umstand, der durch die völlige Abwesenheit von Frauen noch verstärkt wurde.
In einem Anbau des Kontrollraums zog Keith seine Jacke aus und betrat in einem gestärkten weißen Hemd, das für die Flugsicherungskontroller fast schon zur Uniform geworden war, den Raum. Niemand wußte, warum die Kontroller im Dienst weiße Hemden trugen; es war keine Vorschrift, aber die meisten taten es. Als er auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz an anderen vorbeiging, begrüßten ihn verschiedene Kollegen mit einem freundlichen »Guten Morgen«, und auch das war ungewöhnlich. Im allgemeinen hatte es die unmittelbar nach dem Eintreten beginnende Spannung zur Sitte werden lassen, hastig mit dem Kopf zu nicken oder ein knappes »Hallo« zu sagen — manchmal nicht einmal das.
Der Kontrollabschnitt, den Keith regelmäßig bearbeitete, umfaßte einen Abschnitt des Gebiets Pittsburgh-Baltimore. Der Abschnitt wurde von einem Team von drei Mann überwacht. Keith war Radarkontroller. Seine Aufgabe bestand darin, mit den Flugzeugen Kontakt zu halten und über Funk Anweisungen zu geben. Zwei Assistenten bearbeiteten die Flugdaten und hielten die Verbindung zu den Flughäfen. Ein Inspektor koordinierte die Arbeit der drei. Heute gehörte zu dem Team noch ein Kontroller in Ausbildung, den Keith während der vergangenen Wochen regelmäßig geschult hatte.
Andere Kollegen dieser Schicht kamen zur gleichen Zeit wie Keith und stellten sich hinter den Männern auf, die sie ablösen sollten, und ließen sich ein paar Minuten Zeit, um das »Bild« in sich aufzunehmen. An allen Plätzen des Kontrollraums spielte sich das gleiche ab.
Während Keith in seinem Abschnitt hinter dem Radarkontroller stand, der seine Schicht beendete, spürte er bereits, wie sich seine geistige Aufnahmebereitschaft schärfte, und er beschleunigte bewußt sein Denken. Von zwei kurzen Pausen abgesehen, mußte sein Verstand für die nächsten acht Stunden in diesem Tempo weiterarbeiten.
Es herrschte der für diese Tageszeit übliche Verkehr, wenn man das weitverbreitete gute Wetter berücksichtigte, stellte er fest. Auf der dunklen Fläche des Radarschirms bezeichneten etwa fünfzehn hellgrüne Lichtpunkte — oder »Ziele«, wie die Radarleute sie nannten — Flugzeuge in der Luft. Allegheny hatte eine Convair 440 in achttausend Fuß Höhe, die sich Pittsburgh näherte. Hinter der Allegheny-Maschine befanden sich auf verschiedener Höhe eine stattliche DC-8, eine American Airlines 727, zwei Privatmaschinen — eine Jet-Lear und eine Fairchild F-27 — und eine weitere stattliche Maschine, diesmal eine Turbo-Prop Electra. Verschiedene andere Maschinen, bemerkte Keith, mußten jeden Augenblick auf dem Schirm erscheinen, teils aus anderen Abschnitten, teils durch startende Maschinen von Friendship Airport bei Baltimore. In entgegengesetzter Richtung flog eine Delta DC-9 auf Baltimore zu und würde bald von der Anflugkontrolle Friendship übernommen werden. Hinter dieser Maschine folgten eine TWA, eine Piedmont Airlines Martin, eine weitere Privatmaschine, zwei Uniteds und eine Mohawk. Die Abstände aller Maschinen nach Höhe und Entfernung voneinander waren zufriedenstellend, bemerkte Keith, außer den beiden Uniteds in Richtung Baltimore, die etwas dicht beieinander waren. Als ob der Kontroller am Radarschirm Keiths Gedanken gelesen hätte, gab er der zweiten United eine verzögernde Kursänderung an.
»Ich bin im Bild«, sagte Keith ruhig. Der andere Kontroller nickte und räumte seinen Platz.
Keiths Inspektor, Perry Yount, schloß über Keiths Schulter hinweg seinen Kopfhörer an, beugte sich vor und bildete sich sein eigenes Urteil über die Verkehrslage. Perry war ein großer schlanker Neger und einige Jahre jünger als Keith. Er besaß ein schnell auffassendes, zuverlässiges Gedächtnis, das eine Menge Flugdaten aufnehmen und mit der Genauigkeit eines Computers wiedergeben konnte, alle zusammen oder auch einzelne Teile. Wenn Schwierigkeiten auftauchten, war es beruhigend, Perry in der Nähe zu wissen.
Keith hatte bereits mehrere neue Flüge übernommen und andere weitergegeben, als der Inspektor ihn an der Schulter berührte. »Keith, ich muß in dieser Schicht zwei Stationen bedienen — diese und die nächste. Uns fehlt ein Mann. Schaffen Sie es für eine Weile auch so?«
Keith nickte. »Klar.« Er gab eine Kursberichtigung an eine Eastern 727 durch, deutete dann auf den Kontroller in Ausbildung, George Wallace, der auf dem Sitz neben ihm Platz genommen hatte. »George ist ja da, um ein Auge auf mich zu haben.«
»Okay.« Perry Yount schaltete seine Kopfhörer wieder ab und trat an das nächste Kontrollpult. So etwas war gelegentlich schon früher vorgekommen und ohne Schwierigkeiten abgelaufen. Perry Yount und Keith arbeiteten schon seit einigen Jahren zusammen, und beide wußten, daß sie sich aufeinander verlassen konnten.
Keith sagte zu dem Kontroller in Ausbildung an seiner Seite: »George, machen Sie sich mit dem Bild vertraut.«
George Wallace nickte und rückte näher an den Radarschirm heran. Er war Mitte Zwanzig und befand sich seit annähernd zwei Jahren in Ausbildung. Vorher hatte er in der US Air Force gedient. Wallace hatte sich bereits als ein Mann mit wachem, raschem Verstand erwiesen, der auch die Fähigkeit besaß, bei Nervenanspannung nicht die Fassung zu verlieren. In einer Woche würde er als fertig ausgebildeter Kontroller gelten, obwohl seine Ausbildung praktisch schon jetzt abgeschlossen war.
Absichtlich ließ Keith es zu, daß der Abstand zwischen einer American Airlines BAC-400 und einer stattlichen 727 geringer wurde, als er sein sollte. Er war bereit, eine kurze Anweisung durchzugeben, falls die Annäherung kritisch würde. George Wallace bemerkte den Mangel sofort und machte Keith darauf aufmerksam, der ihn gleich berichtigte.
Die praktische Übung war die einzig zuverlässige Methode, mit der die Fähigkeiten eines neuen Kontrollers beurteilt werden konnten. Ebenso wichtig war auch, daß einem in Ausbildung befindlichen Mann, der am Radarschirm saß und in eine schwierige Situation geriet, die Möglichkeit geboten wurde, seine Wendigkeit zu zeigen und die Lage ohne Hilfe zu bereinigen. In solchen Augenblicken war der Lehrer verpflichtet sich zurückzuhalten, mit geballten Fäusten abzuwarten und zu schwitzen. Einer hatte es einmal so formuliert: »Man hängt nur mit den Fingernägeln an der Ritze einer Ziegelmauer.« Es war eine kritische Entscheidung, wann man sich einmischen und den Befehl an sich reißen sollte. Sie durfte weder zu früh noch zu spät getroffen werden. Wenn der Lehrer eingriff, konnte das Selbstvertrauen des Schülers für immer untergraben werden und damit ein seinen Anlagen nach guter künftiger Kontroller verlorengehen. Andererseits, wenn ein Lehrer versäumte einzugreifen, als er hätte eingreifen müssen, konnte ein schrecklicher Zusammenstoß in der Luft die Folge sein.
Die mit dem Unterrichten verbundenen Risiken und die zusätzliche psychische Belastung waren so groß, daß viele Kontroller sich weigerten, sie auf sich zu nehmen. Sie wiesen darauf hin, daß dieser Unterricht ihnen weder offizielle Anerkennung noch zusätzliche Bezahlung einbrachte. Außerdem war der unterrichtende Kontroller voll verantwortlich, wenn irgend etwas schiefging. Warum diese Verantwortung für nichts und wieder nichts auf sich nehmen?
Keith jedoch hatte sowohl Begabung als Lehrer als auch die Geduld gezeigt, seine Schüler voranzubringen. Und obwohl auch er manchmal Qualen litt und schwitzte, übernahm er diese Aufgabe, weil er sich dazu verpflichtet fühlte. In diesem Augenblick war er stolz darauf, wie gut George Wallace sich entwickelt hatte.
Wallace sagte wieder ruhig: »Ich würde United 284 nach rechts abdrehen, bis der Höhenunterschied zu der Mohawk groß genug ist.«
Keith nickte zustimmend, während er auf den Schaltknopf an seinem Mikrofon drückte. »An United 284 von Washington Center. Nach rechts abdrehen, Kurs Null-Sechs-Null.«
Sofort kam knisternd die Antwort: »An Washington Center von United 284. Kurs Null-Sechs-Null. Verstanden.«
Meilen entfernt und hoch oben im strahlend hellen Sonnenlicht bog die mächtige, schnittige Düsenmaschine in eine glatte elegante Kurve, während die Passagiere dösten oder lasen. Der hellgrüne halbzollgroße Punkt auf dem Radarschirm, der die United 284 anzeigte, bewegte sich in eine andere Richtung.
In einem großen Raum unter der Radarstation standen in Regalen Tonbandgerät neben Tonbandgerät, die die Gespräche zwischen Boden und Luft aufnahmen, damit sie später abgespielt werden konnten, falls sich die Notwendigkeit ergab. Jedes dieser Gespräche, von jedem Arbeitsplatz im Kontrollraum, wurde aufgezeichnet und aufbewahrt. In regelmäßigen Abständen wurden einige Bänder von Inspektoren kritisch abgehört. Wenn etwas falsch gemacht worden war, bekam der betreffende Kontroller das zu wissen; aber kein Kontroller erfuhr jemals, wann eines seiner Bänder zur Überprüfung ausgesucht wurde. Die Tür zu dem Raum mit den Tonbandgeräten trug ein improvisiertes Schild, das mit Galgenhumor mahnte: »Der große Bruder hört dich.«
Der Vormittag verstrich.
In regelmäßigen Abständen erschien Perry Yount. Er überwachte nach wie vor zwei Positionen und blieb jedesmal lange genug, um die gegenwärtige Verkehrslage einzuschätzen. Was er sah, schien ihn zufriedenzustellen, und er verbrachte weniger Zeit hinter dem Platz von Keith als bei der anderen Station, wo sich verschiedene Probleme zu ergeben schienen. Um die Mitte des Vormittags ließ der Verkehr etwas nach; bis zum Mittag würde er wieder anwachsen. Kurz nach 10.30 Uhr wechselten Keith Bakersfeld und George Wallace die Plätze. Jetzt saß der in Ausbildung befindliche Kontroller am Radarschirm und Keith neben ihm zur Überwachung. Keith fand keinen Anlaß einzugreifen; der junge Wallace zeigte sich fähig und aufmerksam. Soweit es die Umstände erlaubten, entspannte Keith sich.
Um zehn vor elf mußte Keith auf die Toilette. In den letzten Monaten hatte er verschiedentlich unter Anfällen von Darmgrippe gelitten, und er befürchtete, daß ihm wieder eine bevorstand. Er winkte Perry Yount heran und unterrichtete ihn.
Der Inspektor nickte. »Wie macht sich George?«
»Wie ein alter Hase«, antwortete Keith so laut, daß George es hören konnte.
»Ich behalte alles im Auge«, sagte Perry. »Sie können eine Pause machen, Keith.«
Keith trug sich im Dienstbuch ein und vermerkte den Zeitpunkt der Unterbrechung seines Dienstes. Perry kritzelte seine Initialen auf die nächste Zeile des Dienstbuchs und übernahm damit die Verantwortung über Wallace. In wenigen Minuten, sobald Keith zurückgekommen war, würde sich der Vorgang wiederholen.
Als Keith den Radarraum verließ, studierte der Inspektor den Radarschirm, die Hand leicht auf die Schulter von George Wallace gelegt.
Die Toilette, die Keith aufsuchte, lag in einem höheren Stockwerk. Ein Milchglasfenster ließ etwas von der Tageshelligkeit draußen herein. Als Keith fertig war und sich zur Erfrischung das Gesicht gewaschen hatte, trat er ans Fenster und öffnete es. Er fragte sich, ob das Wetter noch so herrlich sei wie zu der Stunde, als er gekommen war. Es hatte sich nicht geändert.
Von der Rückseite des Gebäudes, in der sich das Fenster befand, konnte er hinter einem Hof grüne Wiesen, Bäume und wilde Blumen sehen. Es war jetzt wärmer geworden. Ringsumher erklang das einschläfernde Summen von Insekten.
Keith stand da und blickte hinaus. Er verspürte eine Abneigung, sich vom Anblick des heiteren Sonnenglanzes loszureißen und in das Halbdunkel des Kontrollraums zurückzukehren. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß er in letzter Zeit auch schon aus anderen Anlässen ähnliches empfunden hatte — zu oft vielleicht. Und er dachte: Wenn er ehrlich war, dann war es nicht das Halbdunkel, gegen das er Abneigung empfand, sondern der psychische Druck. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als die Anspannung und der Druck seiner Arbeit, so unbarmherzig sie waren, ihn nicht gestört hatten. Neuerdings war das anders geworden, und gelegentlich mußte er sich dazu zwingen, sie auf sich zu nehmen.
Während Keith Bakersfeld am Fenster stand und nachdachte, näherte sich eine Northwest Orient 727 auf dem Weg von Minne-apolis-St.Paul Washington.In der Kabine beugte sich eine Stewardess über einen älteren Passagier. Sein Gesicht war aschgrau; er schien unfähig zu sein, zu sprechen. Die Stewardess glaubte, daß er einen Herzanfall gehabt hätte oder gerade einen erlitt. Sie eilte nach vorn zur Pilotenkanzel, um den Kapitän zu informieren. Sekunden später ersuchte der Erste Offizier der Northwest aufBefehl des Kapitäns das Washington Air Route Center darum, die Höhe zu vermindern und die Maschine bevorzugt zum Washington National Airport durchzuschleusen.
Keith fragte sich manchmal in solchen Augenblicken, für wie viele Jahre noch er seinen gelegentlich erschöpften Kopf zwingen könne, durchzuhalten. Er war jetzt seit anderthalb Jahrzehnten Kontroller. Er war achtunddreißig Jahre alt.
Das Deprimierende war: In seinem Beruf konnte man im Alter von fünfundvierzig oder fünfzig Jahren psychisch ausgelaugt, ein alter Mann sein, aber eine ehrenvolle Pensionierung war erst in zehn oder fünfzehn Jahren zu erwarten. Für viele Kontroller erwiesen sich diese letzten Jahre als eine allzu grausame Wegstrecke, deren Ende sie nicht erreichten.
Keith wußte wie die meisten Kontroller, daß die physische Belastung des Organismus der Leute, die bei der Flugsicherung arbeiteten, seit langem erkannt war. Die Krankengeschichten der amtliehen Luftfahrtärzte lieferten dafür Beweise in Hülle und Fülle. Diese Krankengeschichten von Fällen, die sich unmittelbar auf die Arbeit als Kontroller zurückführen ließen, umfaßten überhöhter Blutdruck, Herzanfälle, Magengeschwüre, Tachykardie, psychische Zusammenbrüche sowie zahllose kleinere Leiden. Angesehene unabhängige Mediziner hatten diese Ergebnisse in wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt. Ein namhafter Forscher faßte das Ergebnis in folgenden Worten zusammen: »Ein Kontroller verbringt aus Nervosität jede Nacht schlaflose Stunden, in denen er sich fragt, wie es ihm, um Gottes willen, gelungen ist, alle diese Flugzeuge vor Zusammenstößen zu bewahren. Heute ist es ihm gelungen, eine Katastrophe zu verhindern, aber wird er morgen das gleiche Glück haben? Nach einer gewissen Zeit bricht in ihm unvermeidlich etwas zusammen — sei es physisch oder psychisch —, und oft genug beides.« Mit diesen Kenntnissen und weiteren bewaffnet, drängte die Federal Aviation Agency den Kongreß, Flugsicherungskontrollern ein Pensionsalter von fünfzig Jahren, oder nach zwanzigjährigem Dienst zuzugestehen. Diese zwanzig Jahre, erklärten die Ärzte, seien vierzig Jahren in den meisten anderen Berufen gleichzusetzen. Die FAA warnte die Gesetzgeber, daß es dabei um die öffentliche Sicherheit gehe; nach zwanzig Jahren Dienst könnten die Kontroller nicht mehr als zuverlässig gelten. Der Kongreß hatte, wie Keith wußte, diese Warnung ignoriert und jede Maßnahme abgelehnt.
Auch ein vom Präsidenten eingesetzter Ausschuß wies die Forderung auf eine vorzeitige Pensionierung der Kontroller zurück, und die FAA — damals eine Dienststelle im Amt des Präsidenten — erhielt Anweisung zu schweigen und von weiteren Schritten abzusehen. Offiziell hatte sie diese Anweisung befolgt, privat aber waren die Vertreter der FAA in Washington in ihrer Überzeugung nicht wankend geworden. Sie prophezeiten, diese Frage würde wieder aufgeworfen werden, wenn vielleicht auch erst nach einer einzelnen oder einer ganzen Reihe von Luftkatastrophen, in die auch überarbeitete und erschöpfte Kontroller verwickelt waren und die bei Presse und Öffentlichkeit wütende Kritik auslösen würden.
Keiths Gedanken richteten sich wieder auf die Landschaft draußen. Es war ein herrlicher Tag. Die Felder lockten, auch wenn man sie nur durch das Fenster eines Waschraums betrachtete. Er wünschte sich, er könne hinausgehen und in der Sonne schlafen. Nun, das ging nicht, und damit mußte er sich abfinden. Es war wohl besser, wenn er in den Kontrollraum zurückkehrte. Nur einen kur- zen Augenblick noch, dann würde er gehen.
Die Northwest Orient 727 hatte bereits mit Genehmigung von Washington Center mit dem Abstieg begonnen. In niedrigeren Höhen wurden andere Flüge eilig auseinandergezogen oder bekamen Befehl höher zu steigen, so daß sie in sicheren Abständen waren. Eine schräge Schneise, durch die die Northwest weiterabsteigen konnte, wurde in dem anwachsenden Mittagsverkehr freigehalten. Die Anflugkontrolle auf Washington National Airport war alarmiert worden; ihre Aufgabe würde bald beginnen, sobald sie die Düsenmaschine der Northwest von Washington Center übernahm. In diesem Augenblick lag die Verantwortung für den Flug der Northwest und die in ihrer Nähe befindlichen Maschinen bei dem Abschnittsteam neben dem von Keith — dem zusätzlichen Abschnitt, den der junge Neger Perry Yount zu überwachen hatte.
Fünfzehn Maschinen, deren Geschwindigkeit zusammenaddiert siebentausendfünfhundert Meilen in der Stunde betrug, wurden in einem wenige Meilen breiten Luftraum hin- und herdirigiert. Kein Flugzeug durfte einem anderen zu nahe kommen. Die Maschine der Northwest mußte durch sie alle hindurch sicher heruntergebracht werden.
Ähnliche Situationen entstanden jeden Tag mehrmals; bei schlechtem Wetter konnten es mehrere stündlich sein. Manchmal traten Notstände zur gleichen Zeit auf, so daß die Kontroller sie numerierten: Notstand eins, Notstand zwei, Notstand drei.
In der gegenwärtigen Situation reagierte Perry Yount wie immer — mit gedämpfter Stimme, kühl und sicher —: mit der Erfahrung des Könners. In Zusammenarbeit mit dem Abschnittsteam koordinierte er die Notmaßnahmen — gefaßt, mit gleichbleibender Stimme, so daß kein außenstehender Zuhörer seinem Ton entnehmen konnte, daß ein Notstand eingetreten war. Andere Maschinen konnten die Funksprüche, die mit der Northwest gewechselt wurden, nicht mithören, weil die Maschine angewiesen worden war, eine besondere Funkfrequenz einzuschalten.
Alles verlief glatt. Die Northwest befand sich auf einem stetig absteigenden Kurs. In wenigen Minuten würde die Notsituation behoben sein.
Perry Yount fand mitten in dieser bedrängten Lage — die unter normalen Umständen seine ungeteilte Aufmerksamkeit erfordert hätte — noch die Zeit, kurz zu dem angrenzenden Abschnitt hinüberzuschauen, um George Wallace bei seiner Arbeit zu überwachen. Alles sah gut aus, aber Perry Yount wäre wohler gewesen, wenn Keith Bakersfeldzurückgekommen wäre. Er sah sich nach der Tür des Kontrollraums um. Von Keith war noch nichts zu sehen.
Keith stand noch am offenen Fenster und blickte auf die Landschaft Virginias hinaus und dachte an Natalie. Er seufzte. In letzter Zeit war es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen gekommen, die durch seine Arbeit ausgelöst wurden. Er vertrat Ansichten, die seine Frau nicht verstehen konnte oder wollte. Natalie machte sich wegen Keiths Gesundheit Sorgen. Sie wollte, er solle die Flugsicherung aufgeben und sich einen anderen Beruf suchen, solange er noch jung genug dazu war und sich seine Gesundheit weitgehend erhalten hatte. Es war ein Fehler gewesen, das erkannte er jetzt, Natalie seine Zweifel anzuvertrauen, ihr zu schildern, was er bei anderen Kontrollern beobachtet hatte, die durch ihre Arbeit vorzeitig gealtert und leidend geworden waren. Aber es mußte überlegt werden, ehe man einen Beruf aufgab, auf Jahre der Ausbildung und Erfahrung verzichtete. Das waren Überlegungen, die Natalie — wie vermutlich jede andere Frau auch — nur schwer begreifen konnte.
Über Martinsburg in West Virginia — etwa dreißig Meilen nordwestlich von Washington Air Route Center — verließ eine private viersitzige Beech Bonanza in siebentausend Fuß Höhe Flugschneise V166 undfloginFlugschneise V44 ein. Die kleineBeechBonanza, äußerlich an ihrem Schmetterlingsschwanz erkennbar,flog mit einer Geschwindigkeit von 175 Stundenmeilen; ihr Ziel war Baltimore. In ihr befand sich die Familie Redfern: Irving Redfern, Berater für Rationalisierung, seine Frau Merry und ihre beiden Kinder Jeremy, zehn Jahre alt, und Valerie, neun.
Irving Redfern war ein vorsichtiger, gründlicher Mann. Heute hätte er auf Grund des herrschenden Wetters einen Sichtflug wagen können, hatte es aber für klüger gehalten, einen Instrumentenflug-plan einzureichen und war, nachdem er seinen Heimatflughafen Charleston in West Virginia verlassen hatten, den Flugschneisen gefolgt und in Verbindung mit der Flugsicherung geblieben. Vor wenigen Augenblicken hatte er vom Washington Air Route Center einen neuen Kurs aufFlugschneise V44 erhalten. Er war schon in ihn eingeschwenkt, und sein Magnetkompaß, der etwas ins Schwingen geraten war, hatte sich wieder beruhigt.
Die Redferns flogen nach Baltimore, zum Teil, weil Irving Redfern dort geschäftlich zu tun hatte, zum Teil aber auch zum Vergnügen, zu dem auch ein abendlicher Theaterbesuch der Familie vorgesehen war. Während der Vater sich auf das Fliegen konzentrierte, plauderten die Kinder mit Merry darüber, was sie auf Friendship Airport zu Mittag essen wollten.
Der Kontroller auf Washington Center, der Irving Redfern die letzte Anweisung gegeben hatte, war George Wallace, der nahezu fertig ausgebildete Kontroller, der an Keith Bakersfelds Platz saß. George hatte RedfernsMaschine auf dem Radarschirm richtig identifiziert, wo sie als hellgrüner Fleckzu sehen war, wenn auch kleiner und sich langsamer bewegend als die meisten anderen Flugzeuge — im Augenblick vorwiegend Düsenmaschinen der Fluggesellschaften. Doch keine kam in die Nähe der Beech Bonanza, die nach allen Richtungen reichlich Luftraum zu haben schien. Perry Yount, der Abschnittsinspektor, war inzwischen zu dem angrenzenden Abschnitt zurückgekehrt Er half mit, das zurückgebliebene Durcheinander zu bereinigen, nachdem die kritische Northwest Orient 727 sicher an die Anflugkontrolle von Washington National Airport weitergegeben worden war InregelmäßigenAbständensahPerryzu George hinüber und rief ihn einmal an: »Ist alles in Ordnung?« George nickte, obwohl er etwas zu schwitzen anfing. Der starke Mittagsverkehr schien heute früher einzusetzen als üblich.
Was weder George Wallace noch Perry Yount noch Irving Redfern wußten, war, daß ein Schulflugzeug der Air National Guard, eine Düsenmaschine T-33, unterwegs war und im Augenblick wenige Meilen nördlich der Flugschneise gelassen ihre Kreise zog. Die T-33 war auf Martin Airport bei Baltimore stationiert, und der Pilot der National Guard war ein Auto verkäufer namens Hank Neel
Leutnant Neel, der eine seiner vorgeschriebenen Ausbildungsübungen absolvierte, war zur Steigerung seiner Flugerfahrung auf einen Alleinflug geschickt worden. Da er ausdrücklich angewiesen worden war, nur in der nächsten Umgebung, in einem freigegebenen Bereich nordwestlich von Baltimore, zu bleiben, war kein Flugplan vorgelegt worden. Infolgedessen wußte das Washington Air Route Center nichts davon, daß die T-33 in der Luft war. Das hätte keine Rolle gespielt, wenn Neel sich nicht bei seinem Auftrag gelangweilt hätte und überdies ein unvorsichtigerPilotgewesen wäre. Als er bei seinem trägen Kreisen mit der Düsenschulmaschine beiläufig hinausblickte, erkannte er, daß er während seiner Übungsmanöver nach Süden abgekommen war, in Wirklichkeit aber sehr viel weiter, als er annahm. Er war so weit im Süden, daß die Düsenmaschine der National Guard vor einigen Minuten schon George Wallaces Kontrollgebiet erreicht hatte und jetzt auf dessen Radarschirm in Leesburg als grüner Fleck erschien, geringfügig größer als die Beech Bonanza der Familie Redfern. Ein Kontroller mit größerer Erfahrung hätte den Fleck augenblicklich als das erkannt, was er war. George jedoch wurde von dem anderen Verkehr in Anspruch genommen und hatte das zusätzliche, nicht identifizierte Signal noch nicht bemerkt.
Leutnant Neel, in fünfzehntausend Fuß Höhe, beschloß seine Flugübungen mit ein paar Kunstfiguren — zwei Loopings und zwei langsamen Rollen — abzuschließen und dann zu seinem Standort zurückzukehren. Er schwang die T-33 in eine scharfe Kurve und kreiste wieder, während er die vorgeschriebene Vorsichtsmaßnahme befolgte und nach anderen Maschinen über und unter sich Ausschau hielt. Er war jetzt noch näher an Flugschneise V 44 als vorher
Was seine Frau nicht erkannte, überlegte Keith Bakersfeld, war, daß ein Mann nicht einfach verantwortungslos, aus einer Laune heraus, eine Stellung aufgeben konnte. Besonders dann nicht, wenn er eine Familie zu unterhalten und Kinder aufzuziehen hatte. Besonders nicht, wenn die Stellung, die man besaß, und die Fähigkeiten, die man geduldig erworben hatte, einen zu nichts anderem befähigten. In manchen Zweigen des Öffentlichen Dienstes konnte man eine Stellung aufgeben und seine Fähigkeiten woanders, nutzbringend verwerten. Flugsicherungskontroller konnten das nicht. Für ihre Arbeit gab es in der Privatwirtschaft kein Gegenstück, niemand wünschte sie sich oder brauchte sie.
Auf diese Weise in einer Falle zu sitzen — und darauf lief es hinaus, wie Keith erkannt hatte — war eine Enttäuschung, die zu anderen Enttäuschungen noch hinzukam. Eine davon war das Geld. Wenn man jung und begeistert war und an der Luftfahrt beteiligt sein wollte, erschien der Gehaltstarif für Beamte bei der Flugsicherung angemessen oder gar hoch. Erst später wurde einem klar, wie unzureichend die Bezahlung, gemessen an der erschreckend hohen Verantwortung, die die Arbeit mit sich brachte, war. Die beiden Spezialisten mit den größten Anforderungen im heutigen Luftverkehr sind der Pilot und der Kontroller. Piloten verdienten aber dreißigtausend Dollar im Jahr, während ein alter, erfahrener Kontroller mit zehntausend die oberste Grenze erreichte. Niemand war der Meinung, daß Piloten weniger verdienen sollten, aber selbst Piloten die mit notorischer Selbstsucht ihre Interessen wahrnahmen, waren der Ansicht, Flugsicherungskontroller sollten besser bezahlt werden.
Auch Aufstiegsmöglichkeiten waren etwas, womit Kontroller — im Gegensatz zu den meisten anderen Berufen — nicht rechnen konnten. Es gab nur wenige gehobene Inspektorenposten; nur eine Handvoll vom Glück Begünstigter erhielten sie.
Und dennoch — es sei denn, man war verwegen oder rücksichtslos, was Kontroller nach der Art ihrer Tätigkeit nicht sein konnten —, hier gab es keinen Ausweg. Deshalb würde er nicht aufgeben können, erkannte Keith. Er mußte noch einmal mit Natalie darüber sprechen; es war Zeit, daß sie sich so oder so damit abfand. Es war zu spät für einen Wechsel. Er hatte im gegenwärtigen Stadium nicht die Absicht, sich auf irgendeine andere Weise kümmerlich durchs Leben zu schlagen.
Aber er mußte zurück. Bei einem Blick auf die Uhr erkannte er schuldbewußt, daß er den Kontrollraum schon vor fast fünfzehn Minuten verlassen hatte. Während eines Teils dieser Zeit hatte er mit offenen Augen geträumt, etwas, das er selten tat, und es war offenkundig die einschläfernde Wirkung des Sommertags. Keith schloß das Fenster des Waschraums. Draußen eilte er den Korridor entlang zum Kontrollraum hinunter.
Hoch oben über Frederick County, Maryland, zog Leutnant Neel seine Schulmaschine empor und machte sich zum Sturzflug bereit. Er hatte seine reichlich flüchtige Inspektion des Luftraums abge-schlössen und kein anderes Flugzeug gesehen. Dann setzte er zu seinem ersten Looping und einer langsamen Rolle an und steuerte die Maschine in einen steilen Sturzflug.
Sobald Keith Bakersfeld den Kontrollraum betrat, erkannte er den verstärkten Betrieb. Das Stimmengesumm war jetzt lauter als zu dem Zeitpunkt, als er den Raum verlassen hatte. Andere Kontroller waren zu beschäftigt, um aufzublicken — wie sie es am frühen Morgen getan hatten —, als er auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz an ihnen vorbeiging. Keith kritzelte seine Unterschrift in das Dienstbuch und notierte die Zeit, trat dann hinter George Wallace, um sich ins Bild zu setzen und seine Augen an das Halbdunkel des Kontrollraums zu gewöhnen, das in scharfem Gegensatz zu dem strahlenden Sonnenlicht draußen stand. George hatte »Hallo« gemurmelt, als Keith zurückkam, und dann weiter über Funk Anweisungen an die fliegenden Maschinen gegeben. Nach wenigen Augenblicken, sobald er das Bild in sich aufgenommen hatte, wollte er George ablösen und seinen Platz wieder einnehmen. Wahrscheinlich war es für George gut gewesen, eine Weile auf sich selbst angewiesen zu sein, überlegte Keith. Das würde sein Selbstvertrauen stärken. Perry Yount, vor dem Pult des benachbarten Radarschirms, hatte Keiths Rückkehr bemerkt.
Keith studierte den Radarschirm mit den sich bewegenden Lichtpunkten — die »Ziele«, die George identifiziert und dann mit kleinen Markierungen bezeichnet hatte. Ein hellgrüner Fleck ohne Markierung fiel Keith ins Auge. Scharf fragte er George: »Was ist das für eine andere Maschine bei der Beech Bonanza 403?«
Leutnant Neel hatte das erste Looping und die erste langsame Rolle beendet. Er war wieder auf fünfzehntausend Fuß Höhe aufgestiegen, befand sich noch über Frederick County, wenn auch wieder etwas weiter südlich. Er richtete die T-33 aus, drückte dann die Nase scharf nach unten und begann den Sturzflug für das zweite Looping.
»Welche andere Maschine . . .?« Georges Augen folgten Keiths Blick über den Radarschirm. Er hielt den Atem an, dann sagte er mit gepreßter Stimme: »Mein Gott!«
Mit einer schnellen Bewegung riß Keith George die Kopfhörer ab und drängte ihn beiseite. Er knipste einen Frequenzschalter an und drückte auf den Schaltknopf des Mikrofons: »Beech Bonanza NC-403. Hier Washington Center. Links von Ihnen ist eine uniden-tifizierte Maschine. Drehen Sie sofort nach rechts ab!«
Die National Guard T-33 hatte den tiefsten Punkt ihres Sturzfluges erreicht. Leutnant Neel zog die Steuersäule zurück und setzte mit voller Kraft zu einem schnellen steilen Aufstieg an. Unmittelbar vor ihm befand sich die winzige Beech Bonanza mitIrvingRed-fern und seiner Familie an Bord auf ihrem gleichmäßigen Flug in Flugschneise V 44.
Im Kontrollraum — beobachteten sie — atemlos — stumm — verzweifelt betend — wie die beiden grünen Punkte sich einander näherten.
Im Funkgerät knatterte ein Ausbruch statischer Elektrizität. »Washington Center. Hier Beech . . .« Abrupt brach der Funkspruch ab.
Irving Redfern war Berater für Rationalisierung. Er war ein fähiger Amateurflieger, aber er war kein Verkehrspilot
Ein Verkehrspilot, der die Anweisung von Washington Center erhalten hätte, würde seine Maschine sofort in eine scharfe Rechtskurve gesteuert haben. Er hätte den drängenden Ton in Keiths Stimme erkannt, hätte gehandelt, ohne die Maschine erst zu trimmen oder den Funkspruch zu bestätigen, und erst später nach einer Begründung gefragt. Ein Verkehrspilot hätte alle geringfügigen Folgen ignoriert gegenüber der alles andere beiseite schiebenden Notwendigkeit, der nahenden Gefahr zu entrinnen, die das Air Route Center unverkennbar ankündigte. In der Passagierkabine hinter ihm konnte siedendheißer Kaffee verschüttet, Tabletts mit Speisen umgeworfen, selbst kleinere Verletzungen verursacht werden. Später würden Beschwerden und Entschuldigungen, Anklagen und vielleicht sogar eine Untersuchung durch das Civil Aeronautics Board erfolgen, aber — mit etwas Glück — hätte man überlebt. Schnelles Handeln hätte das gewährleistet Auch für die Familie Redfern hätte es das gewährleistet
Verkehrspiloten waren durch Training und Übung geschult, schnell und sicher zu reagieren. Das war Irving Redfern nicht. Er war ein genauer, gewissenhafter Mann, gewöhnt, erst nachzudenken, ehe er handelte, und dann korrekte Prozeduren zu befolgen.
Sein erster Gedanke war, die Nachricht des Washington Center zu bestätigen. Damit verbrauchte er zwei oder drei Sekunden — und das war die ganze Zeit, die ihm noch zur Verfügung stand. Die T-33 der National Guard, die vom Tiefpunkt ihrer Schleife her aufwärts raste, traf die Beech Bonanza an der linken Seite und schnitt ihr mit einem einzigen Aufkreischen reißenden Metalls die linke Tragfläche ab. Die T-33, selbst tödlich verletzt, flog noch ein kurzes Stück weiter nach oben, während ihr Vorderteil auseinanderbrach. Leutnant Neel hatte kaum mitbekommen, was geschehen war — das andere Flugzeug hatte er nur ganz flüchtig wahrgenommen. Er betätigte seinen Schleudersitz und wartete darauf, daß sein Fallschirm sich öffnete. Weit unter ihm, steuerlos und wie wild trudelnd, stürzte die Beechcraft Bonanza mit der Familie Redfern an Bord wie ein Stein zur Erde.
Mit zitternden Händen versuchte Keith es noch einmal. »Beech Bonanza NC-403. Hier Washington Center. Hören Sie mich?«
Neben Keith bewegte George Wallace lautlos die Lippen. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren.
Vor ihren entsetzten Augen stießen die beiden Punkte auf dem Radarschirm zusammen, blühten plötzlich auf und verschwanden dann.
Perry Yount, der beobachtet hatte, daß etwas nicht stimmte, war herübergekommen. »Was gibt es?« fragte er.
Keiths Mund war ausgetrocknet: »Ich fürchte, wir hatten einen Zusammenstoß.«
Und dann geschah es: das Geräusch, wie aus einem Alptraum, von dem alle, die es vernahmen, wünschten, daß sie es nie gehört hätten, das sie aber nicht mehr aus ihrem Gedächtnis löschen konnten.
Irving Redfern, auf dem Pilotensitz der dem Untergang geweihten abtrudelnden Beech Bonanza, drückte — vielleicht unwillkürlich, vielleicht als eine letzte verzweifelte Tat — auf den Schaltknopf seines Mikrofons und hielt ihn fest. Das Funkgerät arbeitete noch.
Im Washington Center wurde die Durchgabe über einen Lautsprecher am Pult gehört, den Keith eingeschaltet hatte, als er seine Notstandsanweisung begann. Zuerst kam das Knattern statischer Elektrizität, gleich darauf eine Folge durchdringender, verzweifelter, durch Mark und Bein gehender Schreie. Überall im Kontroll-raum drehten sich die Köpfe. Gesichter in der Nähe wurden blaß. Vorgesetzte Inspektoren kamen von anderen Abschnitten herübergeeilt.
Plötzlich erklang über dem Schreien deutlich eine einzelne Stimme — entsetzt, verloren, flehend. Zunächst war nicht jedes Wort hörbar. Erst später, als die Bandaufnahme der letzten Durchgabe abgespielt und viele Male wieder und wieder abgespielt wurde, konnten die Worte vollständig zusammengesetzt und die Stimme als die der neunjährigen Valerie Redfern identifiziert werden.
»Mummy, Daddy! . . . Tut doch etwas! Ich will nicht sterben . . . Oh, lieber, guter Jesus, ich war immer gut . . . Bitte, bitte, ich will nicht . . .«
Barmherzigerweise brach die Übertragung ab.
Die Beech Bonanza schlug auf und verbrannte nahe dem Dorf Lisbon in Maryland. Was von den vier Leichen übrigblieb, war nicht zu identifizieren und wurde in einem gemeinsamen Grab beigesetzt.
Leutnant Neel landete fünf Meilen entfernt sicher mit dem Fallschirm.
Alle drei in die Tragödie verwickelten Kontroller — George Wallace, Keith Bakersfeld, Perry Yount — wurden auf der Stelle vom Dienst beurlaubt, bis die Untersuchung abgeschlossen war.
Der in Ausbildung befindliche Kontroller George Wallace wurde aus formalen Gründen nicht belangt, da er zum Zeitpunkt des Unfalls noch kein fertig ausgebildeter Kontroller gewesen war. Er wurde jedoch aus dem Regierungsdienst entlassen und für alle Zeiten von einer Beschäftigung in der Flugsicherung ausgeschlossen.
Der junge Neger-Inspektor, Perry Yount, wurde für voll verantwortlich erklärt. Der Untersuchungsausschuß nahm sich Tage und Wochen Zeit, die Bänder wieder und wieder abzuspielen, Aussagen zu überprüfen und sich die Entscheidungen vorzunehmen, für die Yount selbst, unter Druck, Sekunden zur Verfügung gehabt hatte, und entschied, er hätte weniger Zeit für den Notstand der North-west Orient 727 aufwenden sollen, dafür aber mehr für die Beaufsichtigung von George Wallace während der Abwesenheit von Keith Bakersfeld. Die Tatsache, daß Perry Yount doppelten Dienst tat — was er hätte ablehnen können, wenn er weniger einsatzwillig gewesen wäre —, wurde als unerheblich zurückgewiesen. Yount wurde öffentlich getadelt und in seinem Dienstrang zurückgesetzt.
Keith Bakersfeld wurde völlig freigesprochen. Der Untersuchungsausschuß betonte ausdrücklich, daß Keith darum ersucht hatte, vorübergehend vom Dienst befreit zu werden, daß dieses Ersuchen berechtigt war und er die Vorschriften befolgt hatte, da er sich schriftlich ab- und anmeldete. Außerdem hatte er sofort nach seiner Rückkehr die Gefahr eines Zusammenstoßes in der Luft erkannt und versucht, ihn zu verhindern. Für sein schnelles Denken und Handeln wurde er von dem Ausschuß belobigt, obwohl sein Versuch vergeblich gewesen war.
Die Frage nach der Länge von Keiths Abwesenheit wurde ursprünglich gar nicht aufgeworfen. Gegen Ende der Untersuchung, als Keith erkannte, welche Wendung die Dinge für Perry nehmen würden, versuchte er selbst, sie vorzubringen und den Hauptanteil der Schuld auf sich zu nehmen. Dieser Versuch wurde freundlich aufgenommen, es war aber klar, daß der Untersuchungsausschuß darin eine ritterliche Geste sah, und sonst nichts. Keiths Zeugenaussage wurde, sobald deutlich war, in welche Richtung sie zielte, völlig gestrichen. Der Versuch seiner Intervention wurde im Abschlußbericht des Ausschusses nicht erwähnt.
Eine unabhängige Untersuchung der Air National Guard erbrachte den Nachweis, daß Leutnant Hank Neel den Unfall durch Fahrlässigkeit mitverschuldet hatte, da er nicht in der Umgebung der Middletown Air Base geblieben war, sondern zugelassen hatte, daß seine T-33 bis in die Luftschneise V 44 abgetrieben war. Doch da sein tatsächlicher Standort nicht schlüssig nachgewiesen werden konnte, wurde auf eine Anklage verzichtet. Der Leutnant verkaufte weiter Autos und flog an Wochenenden.
Als Inspektor Perry Yount die Entscheidung des Untersuchungsausschusses erfuhr, erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Er wurde zur psychiatrischen Behandlung in ein Krankenhaus eingeliefert. Er schien seiner Genesung nahe zu sein, als er mit der Post von einem anonymen Absender ein gedrucktes Rundschreiben einer politischen Rechtsgruppe in Kalifornien erhielt, die unter anderem auch gegen die Bürgerrechte der Neger kämpfte. Das Rundschreiben enthielt eine bösartig entstellte Schilderung der Redfern-Tragödie. Es be-zeichnete Perry Yount als unfähigen, eingebildeten Dummkopf ohne Verantwortungsbewußtsein, dem der Tod der Familie Redfern gleichgültig sei. Der ganze Vorfall, behauptete das Rundschreiben, sei eine Warnung für »Liberale mit blutenden Herzen«, die Negern zu verantwortlichen Positionen verhalfen, denen sie geistig nicht gewachsen seien. Es wurde ein »großes Reinemachen« unter den anderen Negern, die bei der Flugsicherung arbeiteten, verlangt, »ehe das gleiche noch einmal passiert«.
Zu jeder anderen Zeit hätte ein Mensch mit der Intelligenz von Perry Yount das Rundschreiben als das angesehen, was es war: die Verleumdung Verrückter. Doch infolge seines Zustands erlitt er einen Rückfall, nachdem er es gelesen hatte, und hätte für unabsehbare Zeit in Behandlung bleiben müssen, wenn eine Aufsichtsbehörde der Regierung sich nicht unter der Behauptung, seine Krankheit sei nicht durch seine Tätigkeit im Dienst der Regierung verursacht worden, geweigert hätte, die Krankenhauskosten für seine Behandlung zu bezahlen. Yount wurde aus dem Krankenhaus entlassen, kehrte aber nicht zur Flugsicherung zurück. Das letzte, was Keith Bakersfeld von ihm hörte, war, daß er in einer Bar im Hafen von Baltimore arbeitete und viel trank.
George Wallace verschwand von der Bildfläche. Gerüchte wollten wissen, daß er zum Militär zurückgegangen sei — zur Infanterie diesmal, nicht zur Luftwaffe — und jetzt ernste Schwierigkeiten mit der Militärpolizei habe. Gerüchten zufolge hatte Wallace wiederholt Schlägereien und Streitigkeiten vom Zaun gebrochen, bei denen er es darauf anzulegen schien, selbst körperlichen Schaden zu erleiden. Die Gerüchte wurden nicht bestätigt.
Für Keith Bakersfeld schien es so, als ob das Leben weiter seinen üblichen Gang nehmen würde. Als die Untersuchung abgeschlossen war, wurde seine vorläufige Suspension aufgehoben; sein Status und sein Rang im Regierungsdienst blieben unangetastet. Er nahm seine Arbeit in Leesburg wieder auf. Die Kollegen, die genau wußten, daß ihnen das gleiche widerfahren könnte, waren freundlich und mitfühlend. Und seine Arbeit verlief zunächst ohne jede Schwierigkeit.
Nach seinem gescheiterten Versuch, die Frage nach seinem überflüssigen Verweilen im Waschraum an jenem schicksalsvollen Tag vor dem Untersuchungsausschuß zur Sprache zu bringen, vertraute Keith sich niemandem mehr an — nicht einmal Natalie. Aber er konnte das Geheimnis nur selten aus seinem Bewußtsein verdrängen.
Zu Hause zeigte sich Natalie voller Verständnis und liebevoll wie immer. Sie spürte, daß Keith einen traumatischen Schock erlitten hatte und Zeit brauchte, sich davon zu erholen. Sie versuchte seinen Stimmungen gerecht zu werden — zu sprechen und lebhaft zu sein, wenn ihm danach zumute war, still zu sein und zu schweigen, wenn nicht. Den Jungen, Brian und Theo, erklärte sie in ruhigen, vertraulichen Gesprächen, warum auch sie Rücksicht auf ihren Vater nehmen sollten.
Dunkel begriff er, was Natalie beabsichtigte, und war ihr dankbar dafür. Ihre Methode hätte schließlich vielleicht auch Erfolg gehabt, wenn eines nicht gewesen wäre: ein Flugsicherungskontroller braucht Schlaf, und Keith fand wenig Schlaf, in manchen Nächten keinen.
In den Stunden, in denen er schlief, hatte er einen hartnäckigen Traum, in dem sich die Szene im Kontrollraum, die Augenblicke vor dem Zusammenstoß in der Luft, wiederholten — die zusammenwachsenden Lichtpunkte auf dem Radarschirm — Keiths letzte verzweifelte Durchsage — die Schreie, die Stimme der kleinen Valerie Redfern . . .
Manchmal hatte der Traum Abweichungen. Wenn Keith versuchte, an den Radarschirm heranzukommen und George Wallace den Kopfhörer wegzunehmen, um eine Warnung durchzugeben, versagten Keith seine Gliedmaßen den Dienst, und er konnte sich nur mit quälender Langsamkeit von der Stelle bewegen, als ob die ihn umgebende Luft zäher Schlamm wäre. Sein Verstand trieb ihn unerbittlich an: wenn er sich nur frei bewegen könnte, wäre die Tragödie abzuwenden — und so sehr er sich körperlich anstrengte und mühte, immer erreichte er sein Ziel zu spät. Bei anderen Gelegenheiten bekam er den Kopfhörer zu fassen, aber dann versagte ihm die Stimme. Er wußte, wenn er nur Worte bilden könnte, würde eine Warnung genügen, konnte alles gerettet werden. Seine Gedanken rasten, seine Brust und sein Kehlkopf blähten sich, aber er brachte keinen Ton heraus.
Doch trotz dieser Abweichungen endete der Traum stets auf die gleiche Weise: mit der letzten Durchgabe der Beech Bonanza über Funk, die er während der Untersuchung so oft von dem abgespielten Tonband gehört hatte. Und nachher lag er wach, während Natalie neben ihm schlief, dachte nach, erinnerte sich und sehnte sich nach dem Unmöglichen — den Ablauf der Vergangenheit zu ändern. Noch später wehrte er sich gegen den Schlaf, kämpfte darum, wachzubleiben, damit er die Folter des Traumes nicht noch einmal ertragen mußte.
Und in der Einsamkeit der Nacht gemahnte ihn sein Gewissen an die gestohlenen, vergeudeten Minuten im Waschraum über dem Kontrollraum; entscheidende Minuten, in denen er seinen Dienst hätte wieder übernehmen können und müssen, das aber aus Trägheit und Eigensucht versäumt hatte. Keith wußte im Gegensatz zu anderen, daß die wirkliche Verantwortung für die Redfern-Tragö-die bei ihm lag, nicht bei Perry Yount. Perry war ein Opfer der Umstände, ein technisches Opfer. Perry war Keiths Freund gewesen, hatte Keith an diesem Tag vertraut, daß er gewissenhaft sein werde, so schnell in den Kontrollraum zurückzukehren wie möglich. Aber Keith, obwohl er wußte, daß sein Freund einen doppelten Dienst übernommen hatte, die zusätzliche Belastung für ihn kannte, war zweimal so lange wie nötig geblieben und hatte Perry verraten — so daß am Ende Perry Yount an der Stelle von Keith stand und angeschuldigt und verurteilt wurde.
Perry für Keith — als Opferlamm.
Aber Perry lebte noch, obwohl ihm schweres Unrecht geschehen war. Die Familie Redfern war tot. Tot, weil Keith mit seinen Gedanken die Zeit vertan, im Sonnenschein gefaulenzt, einem nur halberfahrenen Mann in Ausbildung zu lange die Verantwortung überlassen hatte, die von rechts wegen Keith zukam und für die Keith besser qualifiziert war. Es stand außer Frage: Wenn er früher zurückgegangen wäre, hätte er die eindringende T-33 entdeckt, lange ehe sie in die Nähe von Redferns Maschine gekommen wäre. Der Beweis dafür lag darin, daß er sie entdeckte, als er zurückkam — zu spät, um noch irgend etwas zu nützen.
Herum und herum — wieder und wieder in jeder Nacht — als ob er zur Tretmühle verdammt wäre — arbeitete Keiths Verstand weiter, quälte er sich, krank vor Kummer und Selbstvorwürfen. Schließlich schlief er aus reiner Erschöpfung ein, gewöhnlich, um zu träumen und wieder aufzuwachen.
Tagsüber verließ ihn der Gedanke an die Redferns ebensowenig wie nachts. Irving Redfern, dessen Frau, ihre Kinder, verfolgten Keith, obwohl er sie nie kennengelernt hatte. Die Existenz seiner eigenen Kinder, Brian und Theo — lebendig und gesund —, schien ihm ein persönlicher Vorwurf zu sein. Das eigene Leben, daß er atmete, kam Keith wie eine Anklage vor.
Die Auswirkung der schlaflosen Nächte, der seelischen Erregung zeigte sich schnell in seiner Arbeit. Seine Reaktionen kamen langsam, seine Entscheidungen traf er zögernd. Ein paarmal verlor Keith, als er unter Druck stand, das »Bild« und mußte sich helfen lassen. Nachher erkannte er, daß er unter scharfer Beobachtung gestanden hatte. Seine Vorgesetzten wußten aus Erfahrung, was geschehen könne und hatten derartige Anzeichen der Überlastung halb und halb erwartet.
Ungezwungen freundschaftliche Gespräche mit seinen Vorgesetzten folgten, führten aber zu nichts. Später wurde er auf einen Vorschlag aus Washington, und mit Keiths Zustimmung, von der Ostküste in den Mittelwesten versetzt — zum Dienst im Kontrollturm von Lincoln International. Ein Ortswechsel, so glaubte man, würde sich als heilsam erweisen. Behördengeist mit einem Hauch von Menschlichkeit kalkulierte auch ein, daß Keiths älterer Bruder Mel Generaldirektor auf Lincoln International Airport war. Vielleicht konnte Mel Bakersfeld einen festigenden Einfluß auf Keith ausüben. Natalie, die Maryland liebte, nahm die Umsiedlung ohne ein Wort der Klage auf sich.
Die Rechnung war nicht aufgegangen.
Keiths Schuldgefühle hielten sich hartnäckig; seine Alpträume auch; sie wuchsen sich aus und nahmen andere Formen an, obwohl die Grundform bestehen blieb. Er schlief nur mit Schlafmitteln, die ihm ein mit Mel befreundeter Arzt verschrieb.
Mel verstand das Problem seines Bruders zum Teil, aber nicht ganz. Keith behielt sein träges Verweilen im Waschraum in Lees-burg noch immer als Geheimnis für sich. Mel, der beobachtete, wie Keiths Zustand sich verschlimmerte, drängte ihn, Hilfe bei einem Psychiater zu suchen, aber Keith weigerte sich. Seine Überlegung war einfach. Warum sollte er irgendein Allheilmittel suchen, irgendeinen rituellen Hokuspokus, um seine Schuld zu isolieren, während die Schuld eindeutig klar war und nichts im Himmel oder auf Erden oder in der Psychiatrie etwas daran ändern konnte?
Keiths Depression verschärfte sich, bis schließlich sogar Natalies unerschütterliche Natur gegen seine Stimmungen rebellierte. Natalie hatte zwar bemerkt, daß er schlecht schlief, sie wußte aber nichts von seinen Träumen. Eines Tages fragte sie ihn wütend und aufgebracht: »Sollen wir für den Rest unseres Lebens in Sack und Asche gehen? Sollen wir nie wieder eine Freude haben und so lachen, wie wir früher gelacht haben? Wenn du so weitermachen willst, mußt du dir aber über eins im klaren sein: Ich will es nicht, und ich werde auch nicht zulassen, daß Brian und Theo in diesem Elend aufwachsen.«
Als Keith ihr nicht antwortete, fuhr Natalie fort: »Ich habe es dir schon früher gesagt: unser Leben, unsere Ehe und die Kinder sind wichtiger als deine Arbeit. Wenn du diese Arbeit nicht mehr ertragen kannst — und warum solltest du es, wenn sie derartig anstrengend ist? —, dann gib sie jetzt auf. Suche dir etwas anderes. Ich weiß, was du mir immer gesagt hast: Wir werden weniger Geld haben, und du wirfst deine Pension fort. Aber das bedeutet mir nicht alles in der Welt. Wir werden irgendwie durchkommen. Ich will alle Plagen auf mich nehmen, die du mir zumutest, Keith Bakersfeld; vielleicht werde ich mich gelegentlich beklagen, aber nicht oft, denn alles andere ist besser, als so weiterzuleben.« Sie war den Tränen nahe gewesen, aber es gelang ihr weiterzusprechen. »Ich warne dich. Ich kann es nicht mehr lange aushalten. Wenn du so weitermachen willst, mußt du es bald allein tun.«
Es war das einzige Mal, daß Natalie die Möglichkeit eines Schei-terns ihrer Ehe angedeutet hatte. Es war auch das erste Mal, daß Keith an Selbstmord dachte.
Später reifte dieser Gedanke zum festen Entschluß.
Die Tür des dunkelliegenden Umkleideraums wurde geöffnet. Ein Schalter wurde angeknipst. Keith war wieder im Kontrollturm des Lincoln International Airport. Er blinzelte in dem grellen Licht.
Ein anderer Kontroller, der seine reguläre Pause hatte, kam herein. Keith packte seine unberührten Sandwiches zusammen, verschloß seinen Spind und ging zum Radarraum zurück. Der andere sah ihm neugierig nach. Keiner von beiden hatte ein Wort gesagt.
Keith fragte sich, ob die kritische Situation der KC-135 der Air Force, bei der das Funkgerät ausgefallen war, schon behoben sei. Die Aussichten sprachen dafür, daß das Flugzeug und seine Besatzung inzwischen sicher den Boden erreicht hatten. Er hoffte es. Er hoffte, daß etwas Gutes — für irgend jemand — diese Nacht geschehen würde.
Als er in den Kontrollraum trat, griff er noch einmal in die Ta-sehe nach dem Schlüssel der O'Hagan Inn, um sich zu vergewissern, daß er noch da war. Er würde ihn bald brauchen.
4
Es war fast eine halbe Stunde her, seit Tanya Livingston Mel Bakersfeld in der Mittelhalle des Hauptgebäudes verlassen hatte. Noch jetzt, nachdem inzwischen allerlei anderes vorgegangen war, erinnerte sie sich an die Art, wie ihre Hände sich vor dem Fahrstuhl berührt hatten, an den Ton, in dem er sagte: »Das gibt mir einen Grund, Sie heute abend noch einmal zu sehen.«
Tanya hoffte sehr, daß Mel sich ebenfalls erinnern würde, und daß er, obwohl ihr bekannt war, wie dringend er in die Stadt mußte, die Zeit finden würde, vorher noch einmal vorbeizukom-, men.
Der Grund, den Mel erwähnte — als ob er überhaupt einen brauchte! —, war seine Neugier auf die Mitteilung, die Tanya bekommen hatte, als sie in der Kaffeestube waren. »Flug 80 hat einen blinden Passagier an Bord«, hatte ihr Kollege von der Trans America gesagt. »Man sucht Sie, und wie ich höre, ist dieser etwas bescheuert.«
Inzwischen hatte sich erwiesen, daß der Angestellte recht gehabt hatte.
Tanya war wieder in den kleinen Empfangsraum hinter dem Buchungsschalter der Trans America gegangen, in dem sie früher am Abend die verstörte Patsy Smith getröstet hatte. Aber nun sah sie an Stelle von Patsy eine kleine alte Dame aus San Diego vor sich.
»Sie haben das wohl früher schon einmal gemacht«, begann Tanya. »Oder etwa nicht?«
»Aber ja, meine Liebe. Schon mehrmals.«
Die kleine alte Dame saß entspannt und seelenruhig da, die Hände, zierlich im Schoß gefaltet, ließen den Zipfel eines Spitzentaschentuchs sehen. Sie war korrekt schwarz gekleidet, mit einer altmodischen hochgeschlossenen Bluse, und hätte jedermanns ehrenwerte Urgroßmutter auf dem Kirchgang sein können. Statt dessen war sie erwischt worden, wie sie illegal, ohne Flugschein, zwischen Los Angeles und New York unterwegs war.
Blinde Passagiere hatte es, wie sich Tanya irgendwo gelesen zu haben erinnerte, bereits seit dem Jahre 700 vor unserer Zeitrechnung gegeben, und zwar auf Schiffen der Phönizier, die das östliche Mittelmeer befuhren. Damals war die Strafe für die, die erwischt wurden, qualvoller Tod — durch Bauchaufschlitzen für Erwachsene, Kinder dagegen wurden auf Opfersteinen lebendig verbrannt.
Seitdem sind die Strafen zwar milder, die blinden Passagiere aber nicht weniger geworden.
Tanya fragte sich, ob irgendwer, abgesehen von einem beschränkten Kreis Angestellter bei den Fluggesellschaften, sich klarmachte, daß die Zahl der blinden Passagiere in Flugzeugen epidemische Ausmaße angenommen hatte, seit Düsenmaschinen Tempo und Andrang im Passagier-Flugverkehr steigerten. Wahrscheinlich niemand. Die Fluglinien gaben sich alle Mühe, die ganze Sache unter einem Schleier zu halten, weil sie befürchteten, wenn diese Tatsachen bekannt würden, könnte ihr Kontingent an nichtzahlenden Gästen noch größer werden. Es gab aber Leute, die dahinterkamen, wie einfach sich das alles machen ließ, unter ihnen auch die kleine alte Dame aus San Diego.
Sie hieß Mrs. Ada Quonsett; das hatte Tanya in ihrer Sozialversicherungskarte festgestellt; und Mrs. Quonsett wäre zweifellos un-entdeckt nach New York gekommen, hätte sie nicht einen Fehler begangen, nämlich den, ihre Reiseumstände ihrem Sitznachbarn anzuvertrauen, der alles einer Stewardess weitererzählte. Die Stewardess meldete es dem Kapitän, der es durch Funkspruch weitergab, und auf Lincoln International warteten ein Flugscheinkontrolleur und ein Sicherheitsinspektor darauf, die kleine alte Dame aus der Maschine herauszuholen. Sie war zu Tanya gebracht worden, deren Aufgabe unter anderem auch darin bestand, sich mit blinden Passagieren zu befassen, die zu erwischen die Gesellschaft das Glück gehabt hatte.
Tanya glättete ihren engen, gutsitzenden Uniformrock mit einer Bewegung, die ihr zur Gewohnheit geworden war. »Na schön«, sagte sie. »Ich glaube, Sie sollten mir nun lieber alles beichten.«
Die Hände der alten Dame lösten sich, und das Taschentuch veränderte etwas seine Lage. »Ja, sehen Sie, ich bin Witwe, und ich habe eine verheiratete Tochter in New York. Manchmal, da fühle ich mich so einsam, und dann möchte ich sie besuchen. Da fahre ich eben nach Los Angeles und steige in ein Flugzeug, das nach New York fliegt.«
»Einfach nur so? Ohne Flugschein?«
Mrs. Quonsett schien entsetzt zu sein. »Aber, meine Liebe, das kann ich mir doch unmöglich leisten. Ich habe ja nur meine Sozialversicherung und die kleine Pension, die mir mein verstorbener Mann hinterlassen hat. Ich kann gerade das Fahrgeld für den Bus von San Diego nach Los Angeles aufbringen.«
»Für den Bus bezahlen Sie jedenfalls?«
»Aber ja. Die Busleute sind sehr streng. Ich habe einmal versucht, einen Fahrschein nur bis zur ersten Haltestelle zu kaufen und einfach sitzen zu bleiben. Aber die kontrollieren in jeder Stadt, und der Fahrer merkte, daß mein Fahrschein ungültig war. Sie waren ziemlich unangenehm deswegen. Gar nicht so wie die Fluggesellschaften.«
»Ich würde aber zu gern wissen«, sagte Tanya, »warum Sie nicht den Flughafen in San Diego benutzen.«
»Ja, meine Liebe, da kennen die Leute mich leider schon.« »Soll das heißen, daß Sie in San Diego schon einmal erwischt worden sind?«
Die kleine alte Dame neigte den Kopf. »Ja.«
»Sind Sie auch schon mit anderen Linien schwarzgeflogen, außer mit unserer?«
»O ja. Aber die Trans America ist mir am liebsten.«
Tanya gab sich Mühe, ernst zu bleiben, obgleich es ihr schwerfiel, weil das Gespräch so klang, als ginge es um einen Bummel zum Laden an der nächsten Ecke. Aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos, als sie fragte: »Warum haben Sie die Trans America denn so gern, Mrs. Quonsett?«
»Na ja, die sind in New York immer so vernünftig. Wenn ich zwei Wochen oder so bei meiner Tochter war und wieder nach Hause möchte, dann gehe ich in ihr Flugbüro und sag es denen.«
»Sie sagen ihnen die Wahrheit? Daß Sie als blinder Passagier nach New York gekommen sind?«
»Jawohl, meine Liebe. Dann fragen die mich nach dem Datum und der Flugnummer — das schreib ich mir immer auf, damit ich es nicht vergesse. Und dann sehen sie in irgendwelchen Papieren nach.«
»Den Passagierlisten«, sagte Tanya. Sie fragte sich: Findet diese Unterhaltung wirklich statt, oder ist sie nur Einbildung?
»Ja, meine Liebe, so heißt es, glaube ich.«
»Bitte fahren Sie fort.«
Die kleine alte Dame sah verwundert aus. »Sonst ist da weiter nichts. Danach schicken sie mich einfach nach Hause. Gewöhnlich noch am selben Tag, mit einem ihrer Flugzeuge.«
»Und das ist alles? Sonst wird gar nichts gesagt?«
Mrs. Quonsett zeigte ein freundliches Lächeln, so als sei sie beim Nachmittagstee in einem Pfarrhaus. »Nun ja, ich kriege manchmal ein bißchen Schelte. Es wird mir gesagt, ich sei ungezogen und sollte es nicht wieder tun. Aber das ist doch wirklich nicht schlimm, nicht wahr?«
»Nein, das ist es gewiß nicht«, bestätigte Tanya.
Das Unglaubliche war, daß alles so offenkundig stimmte. Die Fluggesellschaften wußten, daß dies häufig passierte. Ein blinder Passagier in spe stieg einfach in ein Flugzeug — dazu boten sich viele Gelegenheiten —, setzte sich ruhig hin und wartete auf den Abflug. Sofern der blinde Passagier die 1. Klasse vermied, in der Fluggäste leicht zu identifizieren sind, es sei denn, die Maschine war voll besetzt, war eine Entdeckung unwahrscheinlich. Richtig war, daß Stewardessen die Personen zählen und vergleichen konnten, ob ihre Zahl mit der Passagierliste des Angestellten an der Sperre übereinstimmte. In diesem Fall war der blinde Passagier zwar in Gefahr entdeckt zu werden, aber der Kontrolleur an der Sperre stand dann vor zwei Möglichkeiten. Entweder konnte er das Flugzeug abgehen lassen und auf der Passagierliste notieren, daß Personen- und Fahrscheinzahl nicht übereinstimmten, oder er konnte eine nochmalige Kontrolle der Flugscheine aller Passagiere an Bord verlangen.
Eine zweite Flugscheinkontrolle dauerte bis zu einer halben Stunde; während dieser Wartezeit wuchsen die Kosten, die es verursacht, ein Flugzeug im Werte von sechs Millionen Dollar auf dem Boden zu halten. Die Zeitpläne, sowohl im Heimatflughafen wie auf der Strecke, würden ins Wanken geraten. Passagiere, die Anschlüsse erreichen mußten oder Termine hatten, würden erbost sein und ungeduldig werden, während der Kapitän, im Gedanken an seinen Ruf bedingungsloser Pünktlichkeit, vor Wut auf den Kontrolleur schäumte. Der Kontrolleur selbst mußte auf jeden Fall zugeben, daß er irgendwo einen Fehler begangen hatte, und würde spä- ter zweifellos, wenn er keine guten Gründe für die Verspätung nachweisen konnte, vom Bezirkstransportleiter seine Abreibung bekommen. Am Ende, selbst wenn ein blinder Passagier entdeckt wurde, würde der Verlust an Geld und Goodwill die Kosten für den Freiflug eines einzelnen Individuums weit übersteigen.
So blieb für die Gesellschaft also nichts anderes übrig, als das einzig Vernünftige zu tun — sie schloß die Türen und schickte das Flugzeug auf die Reise.
Das war in der Regel das Ende. War die Maschine erst einmal unterwegs, dann waren die Stewardessen zu beschäftigt, um noch einmal die Flugscheine zu kontrollieren, und die Passagiere würden die Verzögerung und die Belästigung durch eine Kontrolle am Ende der Reise sicher nicht hinnehmen. Deshalb kam der blinde Passagier ungefragt und unbehindert davon.
Was die kleine alte Dame über den Rückflug erzählt hätte, stimmte ebenfalls. Fluggesellschaften waren der Ansicht, blinde Passagiere gäbe es einfach nicht, und falls doch einmal einer auftauche, dann sei das ihre eigene Schuld, weil es ihnen nicht gelänge, derlei zu verhindern. Auf derselben Ebene lag, daß die Gesellschaften sich dafür verantwortlich fühlten, blinde Passagiere zu ihren Ausgangspunkten zurückzuschaffen, und da es keinen anderen Weg für ihre Beförderung gab, flogen die Täter mit regulären Flugscheinen und normalem Service, einschließlich der Verpflegung, zurück.
»Sie sind aber auch nett«, sagte Mrs. Quonsett. »Nette Menschen erkenne ich immer gleich, wenn ich ihnen begegne. Sie sind aber viel jünger als die anderen von der Gesellschaft — ich meine von denen, die ich kennenlernte.«
»Sie meinen jene, die mit Betrügern und blinden Passagieren zu tun haben.«
»Ganz richtig.« Die kleine alte Dame schien gar nicht beschämt zu sein. Ihre Augen wanderten abschätzend über Tanya. »Ich würde sagen, Sie sind achtundzwanzig.« Tanya antwortete knapp: »Siebenunddreißig.«
»Schön, Sie sehen jung und gereift aus. Das kommt vielleicht daher, daß Sie verheiratet sind.«
»Lassen wir das«, sagte Tanya. »Das wird Ihnen auch nichts helfen.«
»Sie sind aber doch verheiratet?«
»Ich war es. Jetzt nicht mehr.«
»Was für ein Jammer. Sie müßten hübsche Kinder haben. Mit roten Haaren, wie Sie selbst.«
Rotes Haar vielleicht, aber nicht mit dem Anflug von Grau darin, dachte Tanya — dem Grau, das sie heute morgen wieder festgestellt hatte. Und was die Kinder anging, da hätte sie erklären können, daß sie ein Kind habe, das zu Hause in ihrem Apartment war und hoffentlich jetzt schlief. Statt dessen sprach sie streng weiter:
»Was Sie da getan haben, ist verboten. Sie haben einen Betrug begangen. Sie haben das Gesetz übertreten. Ich nehme an, es ist Ihnen klär, daß Sie angezeigt werden können.«
Zum ersten Male flog ein Schimmer von Triumph über das arglose Gesicht der alten Frau. »Ich werde aber nicht angezeigt, nicht wahr? Sie zeigen nie jemanden an.«
Schließlich war es sinnlos, so fortzufahren, dachte Tanya. Sie wußte ja nur zu gut — und Mrs. Quonsett wahrscheinlich auch —, daß Fluggesellschaften blinde Passagiere nie anzeigten, weil sie befürchteten, daß sonst ihr Renommee und ihre Beliebtheit beim Publikum leiden würden.
Da war nur noch die eine Chance, daß weitere Fragen vielleicht für die Zukunft brauchbare Informationen herauslocken könnten.
»Mrs. Quonsett«, sagte Tanya, »da Sie nun einmal von Trans America so viele Freiflüge bekommen haben, könnten Sie uns doch wenigstens ein bißchen helfen.«
»Aber gern, wenn ich das kann.«
»Ich möchte wissen, wie Sie es anstellen, an Bord unserer Maschinen zu kommen.«
Die kleine alte Dame lächelte.
»Ja, meine Liebe, da gibt es verschiedene Wege. Ich versuche, so gut ich nur kann, immer neue zu benutzen.«
»Bitte erzählen Sie mir etwas darüber.«
»Nun, meistens bin ich früh genug am Flughafen, um mir eine Bordkarte zu beschaffen.«
»Ist das denn nicht schwierig?«
»Eine Bordkarte zu kriegen? Aber nein, das ist ganz leicht. Heutzutage benutzen die Gesellschaften ja die Schutzumschläge für die Flugscheine als Bordkarten. Also gehe ich an einen der Schalter und sage, ich hätte meinen Umschlag verloren und möchte gern einen neuen haben. Ich suche mir einen Schalter aus, an dem das Personal viel zu tun hat und vor dem viele Leute warten. Die geben mir immer einen.«
Selbstverständlich tun sie das, dachte Tanya. Es war ein ganz alltägliches Anliegen, das häufig vorkam, mit dem Unterschied, daß die meisten Leute — im Gegensatz zu Mrs. Quonsett — sich einen neuen Umschlag aus berechtigten Gründen holten.
»Aber das ist doch nur ein unausgefüllter Umschlag«, meinte Tanya. »Der ist doch nicht ausgeschrieben als Bordkarte.«
»Den fülle ich selbst aus — auf der Damentoilette. Ich habe immer ein paar alte Umschläge bei mir und weiß also, was ich zu schreiben habe. Und ich habe immer einen dicken schwarzen Stift in meiner Handtasche.« Sie legte das Taschentuch in den Schoß und öffnete ihre schwarze Perlenhandtasche. »Sehen Sie?«
»Ja, ich sehe«, sagte Tanya. Sie griff nach dem Stift und nahm ihn an sich. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ihn behalte?«
Mrs. Quonsett schien das ein wenig übelzunehmen. »Der gehört wirklich mir. Aber wenn Sie ihn haben wollen, kann ich mir ja einen anderen besorgen.«
»Weiter«, drängte Tanya. »Sie haben also nun Ihre Bordkarte. Was geschieht dann?«
»Ich gehe dorthin, wo der Flug abgeht.«
»Durch die Abflugsperre?«
»Ja, richtig. Da warte ich, bis der junge Mann, der die Scheine prüft, beschäftigt ist — das ist er immer, wenn viele Menschen zu gleicher Zeit kommen. Dann gehe ich an ihm vorbei und zum Flugzeug.«
»Nun mal angenommen, es hält Sie jemand an.«
»Das tut keiner, ich habe ja eine Bordkarte.«
»Nicht einmal die Stewardessen?«
»Ach, meine Liebe, das sind ja so junge Dinger. Meistens schwatzen sie miteinander oder interessieren sich für die Männer.
Das einzige, was sie sich anschauen, ist die Flugnummer, und die habe ich immer richtig.«
»Aber Sie sagten doch, Sie benutzten nicht immer eine Bordkarte.«
Mrs. Quonsett errötete. »Da muß ich Ihnen leider eine kleine Notlüge gestehen. Manchmal sage ich, ich ginge an Bord, um mich von meiner Tochter zu verabschieden — das lassen die meisten Gesellschaften zu, wissen Sie. Oder, wenn das Flugzeug von woanders herkommt, sage ich, ich ginge zu meinem Platz zurück, meinen Flugschein hätte ich im Flugzeug gelassen. Oder ich sage ihnen, mein Sohn wäre gerade an Bord gegangen, hätte aber seine Brieftasche liegenlassen, und die wollte ich ihm bringen. Dabei trage ich eine Brieftasche in der Hand, und das zieht am allerbesten.«
»Ja«, bestätigte Tanya, »das kann ich mir vorstellen. Sie scheinen sich alles sehr sorgfältig ausgedacht zu haben.« Sie hatte jetzt Material genug für einen Tagesbericht an alle Abflugsperren und Stewardessen. Nur schien ihr fraglich, ob es viel nützen würde.
»Mein verstorbener Mann hat mich gelehrt, gründlich zu sein. Er war Lehrer — Geometrielehrer. Er sagte stets, man müsse alles immer von jedem Winkel aus betrachten.«
Tanya sah Mrs. Quonsett scharf an. Sollte sie vielleicht auf den Arm genommen werden?
Das Gesicht der kleinen alten Dame aus San Diego blieb ausdruckslos. »Da ist noch eine wichtige Sache, die ich noch nicht erwähnt habe.«
Auf der anderen Seite des Raums läutete ein Telefon. Tanya ging zu ihm hinüber.
»Ist diese alte Schachtel noch bei Ihnen?« Es war die Stimme des Bezirksverkehrsleiters. Der B.V.L. war für alle Vorgänge bei der Trans America auf Lincoln International verantwortlich. Im allgemeinen war er ein ruhiger, gutartiger Chef — heute war er sehr gereizt. Verständlicherweise: Drei Tage und Nächte voller Flugverspätungen, Umleitungen, verärgerter Fluggäste und unaufhörlicher Sticheleien aus dem Hauptbüro der Gesellschaft in New York taten ihre Wirkung.
»Ja«, sagte Tanya.
»Kriegen Sie was Brauchbares aus ihr heraus?«
»Eine ganze Menge. Schicke Ihnen einen Bericht.«
»Wenn Sie das tun, dann nehmen Sie aber, verflixt noch mal, Großbuchstaben, damit ich es lesen kann.«
»Jawohl, Sir.«
Das »Sir« brachte sie so spitz heraus, daß am anderen Ende einen Augenblick lang Stille eintrat. Dann brummte der B.V.L.: »Entschuldigung, Tanya. Ich glaube, ich gebe jetzt an Sie weiter, was ich von New York bekommen habe. So, wie wenn der Schiffsjunge der Schiffskatze einen Tritt versetzt, nur daß Sie keine Katze sind. Kann ich etwas für sie tun?«
»Ich hätte gern einen einfachen Flug nach Los Angeles, noch heute abend, für Mrs. Ada Quonsett.«
»Ist das die alte Schachtel?«
»Selbige.«
Der B.V.L. fragte säuerlich: »Wohl zu Lasten der Gesellschaft?«
»Ja, leider.«
»Was mir gar nicht dabei gefällt, ist, daß die Alte ehrlichen, anständigen, zahlenden Passagieren, die schon stundenlang gewartet haben, vorgezogen werden soll. Aber ich glaube, Sie haben recht; wir sind besser dran, wenn wir sie uns vom Hals schaffen.«
»Das meine ich auch.«
»Ich werde eine Anforderung unterschreiben. Sie finden sie am Flugscheinschalter. Verständigen Sie aber ja Los Angeles, damit sie dort die alte Hexe durch die Polizei vom Flughafen schaffen lassen können.«
Tanya sagte sanft: »Sie könnte die Mutter von Whistler sein.«
Der B.V.L. brummte: »Dann soll Whistler ihr auch einen Flugschein kaufen.«
Tanya lächelte und hängte ein. Sie kehrte zu Mrs. Quonsett zurück.
»Sie sagten, da wäre noch eine wichtige Sache — zur Frage, wie man an Bord von Flugzeugen kommt — die Sie mir noch nicht erzählt hätten.«
Die kleine alte Dame zögerte. Bei der Erwähnung eines Rückflugs nach Los Angeles während des Telefongesprächs war ihr Mund sichtlich schmaler geworden.
»Das meiste haben Sie mir ja schon erzählt«, drängte Tanya. »Dann können Sie mir auch alles sagen. Wenn da noch irgendwas ist.«
»Sicher.« Mrs. Quonsett zeigte ein knappes, steifes Kopfnicken. »Ich wollte sagen, daß es am besten ist, nicht die großen Flüge zu benutzen—die wichtigen, ich meine die Non-Stop Transkontinentalflüge. Diese Maschinen sind oft voll, und die Passagiere erhalten Platzkarten, sogar in der Touristenklasse. Das macht es ja schwerer, aber ich habe es doch einmal getan, weil ich beobachten konnte, daß nicht viele mitflogen.«
»Also, Sie nehmen Flüge, die nicht direkt durchgehen. Werden Sie da nicht bei den Zwischenlandungen erwischt?«
»Da tue ich so, als ob ich schliefe. Und gewöhnlich stört man mich nicht.«
»Diesmal aber wurden Sie gestört.«
Mrs. Quonsett preßte ihre Lippen zu einer schmalen, mißbilligenden Linie zusammen. »Das war nur die Schuld des Mannes, der neben mir saß. Der war sehr gemein. Ich hatte mich ihm anvertraut, und er verriet mich an die Stewardess. Das hat man davon, wenn man den Menschen traut.«
»Mrs. Quonsett«, sagte Tanya. »Sie haben, glaube ich, gehört, daß wir Sie nach Los Angeles zurückschicken.«
Da zeigte sich ein kurzes Aufblitzen in den ältlichen grauen Augen. »Ja, meine Liebe. Ich hatte befürchtet, daß das passieren würde. Aber ich hätte gern eine Tasse Tee getrunken. Wenn ich jetzt also gehen kann, dann sagen Sie mir bitte, wann ich zurückkommen soll . . .«
»O nein!« Tanya schüttelte entschieden den Kopf. »Sie gehen nirgendwo allein hin. Sie sollen Ihre Tasse Tee haben, aber ein Angestellter wird Sie begleiten. Ich werde Ihnen einen bestellen, der bei Ihnen bleibt, bis Sie in die Maschine nach Los Angeles einsteigen. Wenn ich Sie auf diesem Flughafen hier sich selbst überlasse, weiß ich genau, was passiert: Sie säßen in einem Flugzeug nach New York, noch ehe es jemand gemerkt hätte.«
An dem für einen Augenblick feindseligen Blick, den Mrs. Quon-sett ihr zuwarf, erkannte Tanya, daß sie recht hatte.
Zehn Minuten später waren alle Anstalten getroffen und ein Platz für Flug 103 nach Los Angeles reserviert, der in anderthalb Stunden startete. Es war ein Nort-Stop-Flug; es sollte Mrs. Quonsett keine Möglichkeit bleiben, unterwegs auszusteigen und die umgekehrte Richtung einzuschlagen. Der B.V.L. von Los Angeles war durch Fernschreiben verständigt worden; an die Besatzung von Flug 103 erging eine Notiz.
Die kleine alte Dame war einem männlichen Angestellten der Trans America übergeben worden — einem kürzlich eingestellten jungen Mann, der ihr Enkel hätte sein können.
Tanyas Weisungen an den jungen Mann, Peter Coakley, waren präzise: »Sie haben bei Mrs. Quonsett bis zur Abflugzeit zu bleiben. Sie sagt, sie möchte Tee haben, also begleiten Sie sie in die Kaffeestube, und da soll sie Tee haben, auch etwas zu essen, wenn sie danach verlangt, doch auf dem Flug gibt es ja Abendessen. Aber gleichgültig, was sie wünscht, Sie bleiben bei ihr. Wenn sie zur Toilette muß, warten Sie draußen vor der Tür; sonst lassen Sie sie aber nicht aus den Augen. Zur Abflugzeit bringen Sie sie zur Sperre, gehen mit ihr an Bord und übergeben sie der dienstältesten Stewardess. Erklären Sie der Stewardess, daß Mrs. Quonsett, nachdem sie an Bord gebracht wurde, das Flugzeug aus keinerlei Gründen verlassen darf. Sie steckt voller Schliche, Tricks und glaubwürdigen Ausreden, also seien Sie vorsichtig.«
Ehe sie gingen, ergriff die kleine alte Dame den Arm des jungen Mannes. »Hoffentlich nehmen Sie es mir nicht übel, junger Mann, heutzutage braucht eine alte Dame Unterstützung, und Sie erinnern mich so an meinen lieben Schwiegersohn. Der hat auch so gut ausgesehen, aber natürlich ist er nun ein ganz Teil älter als Sie. Ihre Fluggesellschaft scheint nette Leute zu beschäftigen.« Mrs. Quonsett blickte vorwurfsvoll zu Tanya hinüber. »Meistens wenigstens.«
»Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe«, warnte Tanya Peter Coakley. »Um Tricks ist sie nie verlegen.«
Mrs. Quonsett sagte streng: »Das ist aber nicht sehr nett. Ich bin sicher, der junge Mann wird sich sein eigenes Urteil bilden.«
Der Angestellte grinste verlegen. An der Tür drehte sich Mrs. Quonsett noch einmal um und sprach Tanya an. »Trotz der Art, wie Sie sich betragen haben, meine Liebe, sollen Sie doch wissen, daß ich Ihnen nichts nachtrage.«
Einige Minuten danach kehrte Tanya aus dem kleinen Salon, den sie für die beiden Gespräche am heutigen Abend benutzt hatte, in die Verwaltungsräume der Trans America im Zwischenstock des Hauptgebäudes zurück. Sie stellte fest, daß es Viertel vor neun war. An ihrem Schreibtisch in dem großen äußeren Büro überlegte sie sich, ob die Gesellschaft wohl zum letzten Male von Mrs. Ada Quonsett gehört habe. Tanya zweifelte daran. Auf ihrer Schreibmaschine ohne Großbuchstaben begann sie ein Memorandum an den Bezirksleiter zu tippen: an: bvl von: tanya liv'stn betr.: whistlers mami
Sie hielt ein und fragte sich, wo Mel Bakersfeld sein mochte, und ob er wohl noch kommen würde.
5
Er konnte heute abend einfach nicht in die Stadt fahren, sagte sich Mel Bakersfeld.
Er war in seinem Büro in der Verwaltungsabteilung, das im Zwischenstock lag. Mit den Fingern trommelte er nachdenklich auf seinen Schreibtisch, an dem er telefonisch die letzten Berichte über den Betriebszustand des Flughafens erhalten hatte.
Startbahn Drei Null war noch immer unbenutzbar, noch immer durch die versackte Aereo Mexican blockiert. Durch diesen Verlust an verfügbaren Startbahnen war nun die allgemeine Lage kritisch, und Verzögerungen im Verkehr — sowohl in der Luft wie am Boden — wurden immer schlimmer. Die Möglichkeit, den Flughafen in den nächsten paar Stunden für geschlossen erklären zu müssen, war nicht mehr von der Hand zu weisen.
Inzwischen gingen die Abflüge über Meadowood, das einem wahren Wespennest glich, weiter. Die Telefonzentrale des Flughafens wurde, ebenso wie die Flugsicherung, von empörten Anrufen von Hausbesitzern in Meadowood überschwemmt — von jenen, die zu Hause geblieben waren. Eine große Zahl war ja, wie man Mel mitgeteilt hatte, in einer Protestversammlung, und es ging das Gerücht um — der Dienstleiter des Kontrollturms hatte es vor einigen Minuten weitergegeben —, noch heute abend solle eine Art öffentlicher Demonstration auf dem Flughafen stattfinden.
Mel dachte verdrießlich: Einen Haufen Demonstranten zwischen die Füße zu bekommen, das hatte ihm gerade noch gefehlt.
Das einzig Gute war doch, daß der Notstand Alarmstufe drei gerade aufgehoben worden war, da die KC-135 der Air Force, die ihn ausgelöst hatte, sicher gelandet war. Aber die Aufhebung des einen Notstands garantierte noch nicht, daß nicht bald ein neuer Alarm gegeben werden mußte. Mel hatte das vage Unbehagen, diese Vorahnung einer Gefahr, die er vor einer Stunde draußen auf dem Flugfeld gespürt hatte, nicht vergessen. Dieses unmöglich zu definierende und zu rechtfertigende Gefühl arbeitete immer noch in ihm. Doch davon ganz abgesehen, die sonstigen Umstände genügten schon, um sein Hierbleiben zu rechtfertigen.
Cindy — die immer noch damit rechnete, daß er zu ihrem Wohltätigkeitszirkus erschiene — würde vor Wut platzen. Aber sie war ihm ja sowieso schon böse, weil er zu spät kam. Wenn er überhaupt nicht kam, mußte er sich auf einen besonders starken Wutausbruch gefaßt machen. Am besten war es, die erste Breitseite von Cindy gleich hinter sich bringen. Der Zettel mit der Telefonnummer, unter der er seine Frau vorhin im Stadtzentrum erreicht hatte, war noch in seiner Tasche. Er zog ihn heraus und wählte.
Wie vorher dauerte es mehrere Minuten, bis Cindy ans Telefon kam; aber überraschenderweise war nichts mehr von dem Feuer zu spüren, das sie bei dem früheren Gespräch gezeigt hatte, sondern nur eisige Kälte. Sie hörte sich Mels Erklärung schweigend an — warum es unerläßlich sei, daß er auf dem Flughafen bliebe. Weil er auf keinerlei Widerspruch stieß, womit er nicht gerechnet hatte, verfiel er darauf, sich mit umständlichen Entschuldigungen abzumühen, die für ihn selbst nicht ganz überzeugend klangen. Unvermittelt brach er ab.
Es entstand eine Pause, ehe Cindy sich kühl erkundigte: »Bist du jetzt fertig?«
»Ja.«
Cindys Frage hatte sich angehört, als spräche sie mit jemand, der ihr zuwider sei und ihr nur ganz oberflächlich bekannt wäre. »Wundert mich nicht, denn ich hatte gar nicht damit gerechnet, daß du kämst. Als du sagtest, du würdest kommen, nahm ich an, es wäre, wie gewöhnlich, gelogen.«
Erregt erwiderte er: »Ich habe nicht gelogen, und es ist nicht wie gewöhnlich. Ich habe dir vorhin erklärt, wie oft ich . . .«
»Du sagtest doch, du wärst fertig.«
Mel hielt inne. Was hatte es denn für einen Sinn? Resignierend sagte er: »Rede weiter.«
»Was ich sagen wollte, als du mich unterbrachst — also wie gewöhnlich . . .«
»Cindy, um Gottes willen!«
». . . wußte ich, daß du lügst, und das gab mir die Gelegenheit, nachzudenken.« Sie machte eine Pause. »Du sagst, du bist noch auf dem Flughafen.«
»Darum dreht sich diese ganze Unterhaltung . . .«
»Wie lange noch?« »Bis Mitternacht, vielleicht die ganze Nacht über.«
»Dann komm ich hinaus. Du kannst mich erwarten.«
»Hör mal, Cindy, das hat keinen Zweck. Hier ist weder die Zeit noch der Ort dafür.«
»Dann nehmen wir uns die Zeit. Und für das, was ich dir zu sagen habe, ist jeder Ort gut genug.«
»Cindy, sei doch bitte vernünftig. Ich gebe ja zu, daß es Dinge gibt, die wir besprechen müssen, aber nicht . . .«
Mel brach ab, denn er merkte, daß er mit sich selbst sprach. Cindy hatte eingehängt. Er legte auch auf und saß nachdenklich in seinem stillen Büro da. Dann nahm er, ohne selbst zu wissen, warum, den Hörer wieder auf und wählte zum zweiten Male heute abend seine eigene Nummer zu Hause. Vorhin war Roberta am Apparat gewesen. Diesmal meldete sich Mrs. Sebastiani, ihr gewohnter Babysitter. »Ich wollte nur mal hören«, sagte Mel, »ob alles in Ordnung ist. Sind die Kinder im Bett?«
»Roberta schon, Mr. Bakersfield. Libby ist gerade dabei.«
»Kann ich mal mit Libby sprechen?«
»Na ja — also für einen Augenblick, wenn Sie versprechen, sich kurz zu fassen.«
»Ich verspreche es.«
Mrs. Sebastiani, dachte Mel, war mal wieder die Pädagogik in Person. Wenn sie im Dienst war, verlangte sie Gehorsam, nicht bloß von den Kindern, sondern von der ganzen Familie. Er fragte sich manchmal, ob die Sebastianis — es gab da noch einen spitz-mäusigen Mann — in ihrer Ehe je Gefühlsprobleme hätten. Er vermutete, daß dies wohl kaum der Fall wäre. Das würde Mrs. Sebastiani nie zulassen.
Er hörte Libbys Füße tappend näher kommen.
»Daddy«, fragte Libby, »geht das Blut in uns immer und ewig herum und herum?«
Libbys Frage waren immer faszinierend und ausgefallen. Sie fiel über neue Themen her, als wären es Geschenke unter dem Weihnachtsbaum.
»Nein, Liebling, nicht ewig; nichts ist ewig. Nur solange man lebt. Dein Blut ist seit sieben Jahren herumgegangen, seit dein Herz angefangen hat zu pumpen.«
»Ich kann mein Herz fühlen«, sagte Libby. »In meinen Knien.«
Er stand im Begriff zu erklären, daß Herzen nicht in den Knien säßen, und wollte von Arterien und Venen erzählen, unterließ es aber. Dafür war es ja immer noch Zeit. Daß man nur sein Herz fühlte — gleichgültig, wo es nun saß —, darauf kam es an. Libby hatte einen Instinkt für Wesentliches; zu Zeiten hatte er den Eindruck, ihre kleinen Hände griffen nach den Sternen, den Sternen der Wahrheit.
»Gute Nacht, Daddy.«
»Gute Nacht, Liebling.«
Mel wußte immer noch nicht, weshalb er eigentlich angerufen hatte, aber nun war ihm wohler.
Seine Gedanken gingen zu Cindy zurück. Ja, wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, dann führte sie es auch aus, und so war es auch höchst wahrscheinlich, daß sie später noch auf dem Flughafen erscheinen würde. Und vielleicht hatte sie recht. Es gab da grundlegende Dinge, die sie zu regeln hatte, besonders, ob die hohle Muschel ihrer Ehe den Kindern zuliebe fortdauern sollte oder nicht. Hier würden sie wenigstens ungestört und außer Hörweite der Kinder sein, die schon früher allzu viele ihrer Streitereien mit anhören mußten.
Im Augenblick gab es für Mel weiter nichts zu tun, als verfügbar zu sein. Er verließ sein Büro und trat auf die Galerie der Verwaltung hinaus, von wo das geschäftige Durcheinander des Menschen-auflaufs in dem großen Flughafen zu überblicken war.
Viele Jahre würde es nicht mehr dauern, dachte Mel, bis sich die Zustände auf dem Flughafen dramatisch zuspitzen mußten. Irgend etwas mußte bald geschehen, um die unzulänglichen Methoden zu verbessern, mit der Passagiere von und an Bord der Flugzeuge kamen. Einfach einzeln ein- und auszusteigen war viel zu umständlich und langsam. Mit jedem Jahr kosteten die einzelnen Maschinen mehr und mehr Millionen: gleichzeitig wurden die Kosten für das Müßig-am-Boden-stehen-Lassen größer und größer. Flugzeugkonstrukteure und Fluglinienplaner strebten danach, mehr Flugstunden, die Geld brachten, und weniger Bodenstunden, die gar keins brachten, zu erreichen.
Schon wurden Pläne für »Menschen-Container« erwogen — eine Art Riesenbehälter, die auf dem Prinzip des »Igloo« der American Airlines beruhten, wie es schon für vorgepacktes Luftfrachtgut benutzt wurde. Die meisten anderen Linien hatten ihre eigenen Varianten des Igloosystems.
Fracht-Igloos waren selbständige Behälter, die so konstruiert waren, daß sie in den Rumpf eines Düsenflugzeugs paßten. Jeder Igloo wurde im voraus mit Frachtgut von angepaßter Form und Größe beladen und konnte innerhalb von Minuten auf Rumpfhöhe gehoben und in der Maschine verstaut werden. Anders als bei den herkömmlichen Personenflugzeugen war das Innere eines Düsenfrachtflugzeugs gewöhnlich eine leere Schale. Wenn heutzutage ein reines Frachtflugzeug auf dem Flughafen landete, wurden die im Flugzeug befindlichen Igloos ausgeladen und neue eingeladen. Mit einem Minimum an Zeit und Arbeit konnte eine ganze Düsenmaschine im Nu entladen, neu beladen und für den Abflug wieder bereit sein.
»Menschen-Container« würden eine Abwandlung der gleichen Idee sein, und Mel hatte Zeichnungen der jetzt bereits in Planung befindlichen Type gesehen. Sie sollten kleine komfortable, mit Sitzplätzen versehene Abteile enthalten, die die Passagiere an einer Kontrollstelle des Flughafens besteigen würden, und die sodann auf Zubringerbändern — ähnlich den heutigen Gepäcktransportbändern — auf eine Rampe hinaufgeschwungen wurden. Während die Insassen sitzen blieben, würden diese Container in eine Maschine geschoben, die erst einige Minuten vorher angekommen war, aber bereits andere Menschen-Container mit ankommenden Passagieren gelöscht hatte.
Und das alles würde kommen, dachte sich Mel Bakersfeld. Oder wenn nicht das, dann doch etwas Ähnliches, und zwar bald. Faszinierend war für alle, die in der Luftfahrt arbeiteten, das Tempo, mit dem phantastische Träume Wirklichkeit wurden.
Plötzlich unterbrach ein Ruf aus dem Menschengewühl unten seine Gedanken.
»Hallo, Bakersfeld! Hallo, da oben!«
Mel suchte nach dem Ursprung der Stimme. Ihn festzustellen wurde aber durch die Tatsache erschwert, daß etwa fünfzig Köpfe, deren Besitzer neugierig waren, wer da gerufen wurde, gleichzeitig in die Höhe gingen. Einen Moment später identifizierte er den Rufer. Es war Egan Jeffers, ein langer, magerer Neger in hellbraunen Slaks und kurzärmeligem Hemd. Ein sehniger brauner Arm gestikulierte heftig.
»Kommen Sie mal runter, Bakersfeld. Hören Sie? Sie bekommen jetzt Ärger.«
Mel lächelte. Jeffers, der vom Flughafen die Konzession für den Schuhputzstand hatte, war eins der Originale des Flughafens. Mit einem entwaffnenden breiten Grinsen auf dem naiven Gesicht konnte er die empörendsten Behauptungen aufstellen und kam damit auch irgendwie durch.
»Ja, was ist, Egan Jeffers? Wie wäre es, wenn Sie statt dessen raufkämen?«
Das Grinsen wurde noch breiter. »Ach Quatsch. Ich habe meinen Pachtvertrag, vergessen Sie das nicht.«
»Wenn ich das tue, werden Sie mir wohl die Bürgerrechtsgesetze unter die Nase halten?«
»Genau das, Bakersfeld. Jetzt schleppen Sie Ihr Hinterteil mal hier runter.«
»Und nehmen Sie auf meinem Flughafen Ihre Zunge etwas in acht.« Immer noch amüsiert, verließ Mel die Brüstung der Galerie und ging zum Personalaufzug. Unten in der Haupthalle wartete Jeffers.
Jeffers betrieb die Vier Schuhputzstände innerhalb des Flughafens. Unter den vielen Konzessionen war es nicht gerade eine der bedeutenden, denn die für Parkplätze, Restaurants und Zeitungsstände erzielten Einnahmen waren im Vergleich mit seinen astronomisch. Aber Egan Jeffers, ein ehemaliger Straßenschuhputzer, trat unverdrossen so auf, als ob er allein den Flughafen vor dem Konkurs bewahre.
»Wir haben einen Vertrag, ich und der Flughafen. Klar?«
»Klar.«
»Und in all dem verrückten Paragraphenkram heißt es, daß ich das ausschließliche Recht habe, in dieser Anlage Schuhe zu putzen. Aus-schließ-lich. Klar?«
»Klar.«
»Wie ich gesagt habe, Mann, Sie kriegen Ärger. Kommen Sie mit, Bakersfeld.«
Sie durchquerten das Menschengewimmel zu einer Rolltreppe, die zur unteren Etage führte. Jeffers nahm sie mit langen Schritten, immer zwei Stufen auf einmal. Im Vorübergehen winkte er verschiedenen Leuten freundlich zu. Weniger athletisch und auf seinen lädierten Fuß Rücksicht nehmend, folgte ihm Mel.
Am Ende der Rolltreppe, in der Nähe der Stände der Leihwagenfirmen Hertz, Avis und National, gestikulierte Egan Jeffers. »Da ist es, Bakersfeld. Sehen Sie, da! Schnappen mir die Schuhputzerei vor der Nase weg, mir und den Jungens, die für mich arbeiten.«
Mel inspizierte den Anlaß zur Klage. Auf dem Schaltertisch der Avis verkündete ein knalliges Reklameschild:
»Einmal Schuhputzen während Sie warten Wir empfehlen uns Kundendienst ist alles«
Darunter befand sich auf Bodenhöhe eine rotierende Schuhputzmaschine, so aufgebaut, daß jeder, der vor dem Schalter stand, das tun konnte, was das Schild versprach.
Mel war amüsiert, mußte aber Egan Jeffers und seiner Beschwerde recht geben. Spaß beiseite: Jeffers war im Recht. Sein Vertrag besagte, daß niemand außer ihm im Flughafen Schuhe putzen durfte, ebensowenig, wie Jeffers Autos vermieten oder Zeitungen verkaufen dürfte. Jeder Konzessionsinhaber genoß dieselben Rechte als Gegengabe für den erheblichen Anteil an seinen Einnahmen, den der Flughafen beanspruchte.
Während Jeffers ihn beobachtete, ging Mel zum Schalter des Autoverleihs hinüber. Er befragte seine Alarmliste — ein Büchlein mit den privaten Telefonnummern des gehobenen Flughafenpersonals. Ja, der Avisdirektor stand drin. Das Mädchen hinter dem Schalter setzte ein automatisches Lächeln auf, als er sich näherte. Mel sagte: »Lassen Sie mich mal telefonieren.«
Sie protestierte: »Sir, das ist kein öffentliches . . .«
»Ich bin der Direktor des Flughafens.« Mel reichte hinüber, ergriff den Hörer und wählte. Daß er in seinem eigenen Flughafen nicht erkannt wurde, war eine häufig gemachte Erfahrung. Der größte Teil seiner Arbeit spielte sich hinter den Kulissen ab, fern von dem öffentlichen Teil, so daß viele, die dort arbeiteten, ihn nur selten zu Gesicht bekamen.
Während er auf das Rufzeichen lauschte, wünschte er sich, daß andere Probleme sich ebenso schnell und leicht lösen lassen würden wie das hier vorliegende.
Er mußte ein Dutzend Rufzeichen abwarten, und dann dauerte es noch ein paar Minuten, bis die Stimme des Direktors der Avis sich meldete: »Hier Ken Kingsley.«
»Wenn ich nun einen Wagen gebraucht hätte?« fragte Mel, nachdem er sich gemeldet hatte. »Wo stecken Sie denn nur?«
»Hab mit der Eisenbahn meines Jungen gespielt. Das lenkt meine Gedanken von Autos ab — und von Leuten, die mich derentwegen anrufen.«
»Muß großartig sein, einen Jungen zu haben«, sagte Mel. »Ich hab bloß Mädchen. Ist Ihr Junge technisch begabt?« .
»Ein Genie von acht Jahren. Wenn Sie mal jemand brauchen, um Ihnen bei der Leitung Ihres Spielzeugflughafens zu helfen, lassen Sie es mich nur wissen.«
»Ja, das werde ich, Ken.« Mel winkte zu Egan Jeffers hinüber. »Da ist aber etwas, das er jetzt schon tun könnte: sich zu Hause eine Schuhputzmaschine aufbauen. Ich weiß zufällig, wo gerade eine überflüssig ist. Sie doch wohl auch?«
Es folgte eine Stille. Dann seufzte der Direktor der Avis auf. »Warum wollt Ihr Burschen immer eine kleine ehrliche Maßnahme zur Umsatzförderung abdrosseln?«
»In erster Linie, weil wir gemein und rachsüchtig sind. Erinnern Sie sich an die Vertragsbestimmungen? Jede Veränderung in Ausstattung und Werbung muß vorher die Billigung der Flughafenleitung haben, und dann die Klausel über Nichtschädigung der Geschäftsbetriebe anderer Pächter.«
»Ah, ich verstehe«, sagte Kingsley. »Egan Jeffers hat sich aufgeblasen.«
»Sagen wir mal, er ist nicht himmelhoch begeistert.«
»Okay, Sie haben recht. Werd' meinen Leuten sagen, sie sollen das verdammte Ding da wegtun. Hat's große Eile?
»Nicht so schlimm. Irgendwann in der nächsten halben Stunde genügt es.«
»Sie Schuft.«
Aber Mel konnte den Avismann kichern hören, als er auflegte.
Egan Jeffers nickte beifällig, immer noch mit seinem breiten Grinsen auf dem Gesicht. Mel brütete: Ich bin der nette Flughafenclown, ich mache sie alle glücklich und zufrieden. Er wünschte nur, er könnte das gleiche für sich selber tun.
»Das haben Sie prima gemacht, Bakersfeld«, sagte Jeffers. »Bleiben Sie am Ball, damit's nicht wieder passiert.« Mit zielbewußten Schritten, immer noch grinsend, strebte er zur Rolltreppe nach oben.
Mel folgte langsamer. In der Haupthalle drängte sich vor den Ständen der Trans America eine Menschenmenge um zwei Schalter mit den Schildern:
»Sonderschalter
Flug Zwei — The Golden Argosy
Nonstop Rom«
In der Nähe sprach Tanya Livingston lebhaft mit einer Gruppe von Passagieren. Sie gab Mel ein Zeichen und kam einige Augenblicke später zu ihm.
»Ich darf nicht stehenbleiben. Das ist wie im Irrenhaus hier. Ich dachte, Sie wollten in die Stadt fahren?«
»Habe es mir anders überlegt«, antwortete Mel. »Aber ich dachte, Sie würden für heute Schluß machen.«
»Der Bezirksverkehrsleiter bat mich zu bleiben. Wir versuchen, >The Golden Argosy< pünktlich wegzukriegen. Es wäre eine Prestigefrage, heißt es, aber ich habe den Verdacht, der wahre Grund ist, daß Demerest es nicht gern hat, wenn man ihn warten läßt.«
»Sie lassen sich von Vorurteilen verleiten.« Mel grinste. »Aber manchmal tue ich das auch.«
Tanya wies auf ein etwas erhöhtes Podium, das einige Meter entfernt stand und dessen Schaltertheke ringsherum lief. »Darum hat sich ja wohl alles bei dem großen Streit mit Ihrem Schwager gedreht, und deshalb ist Kapitän Demerest so böse auf Sie, nicht wahr?«
Tanya hatte auf den Flugreiseversicherungsstand gewiesen. Ein Dutzend oder mehr Leute standen vor dem runden Schalter. Die meisten von ihnen verlangten Antragsformulare für Flugreiseversicherungen. Hinter der Schaltertheke standen zwei attraktive Mädchen, von denen die eine auffallend blond und vollbusig war. Sie schrieben eifrig Policen aus.
»Ja«, gab Mel zu, »das war unsere größte Auseinandersetzung — wenigstens in letzter Zeit. Vernon und der Pilotenverband sind der Meinung, wir sollten Versicherungsschalter und Automaten für Versicherungspolicen auf Flughäfen abschaffen. Der Meinung bin ich nicht. Wir beide hatten deswegen vor dem Verwaltungsrat des Flughafens eine scharfe Auseinandersetzung. Was Vernon nicht gepaßt hat und was ihm immer noch nicht paßt, ist, daß ich gewonnen habe.«
»Das habe ich gehört.« Tanya sah Mel forschend an. »Manche von uns sind auch nicht Ihrer Meinung. In diesem Fall glauben wir, daß Kapitän Demerest recht hat.«
Mel schüttelte den Kopf. »Dann müssen wir eben verschiedener Meinung bleiben. Ich habe mich sehr viel mit der Frage beschäftigt. Vernons Argumente sind einfach unsinnig.«
Sie waren — nach Mels Ansicht — schon damals unsinnig gewesen, vor einem Monat, als Vernon Demerest auf einer Verwaltungsratssitzung des Lincoln International Airport erschien. Vernon war namens des Pilotenverbandes aufgetreten, der eine Kampagne dafür führte, den Verkauf von Versicherungen überall auf den Flughäfen zu verbieten.
Mel erinnerte sich deutlich an alle Einzelheiten der Sitzung.
Es war eine reguläre Versammlung des Verwaltungsrates des Flughafens an einem Mittwochmorgen im Sitzungssaal des Flughafens. Alle fünf Mitglieder des Rates waren anwesend: Mrs. Ackerman, eine attraktive dunkelhaarige Hausfrau, die dem Gerücht nach die Geliebte des Bürgermeisters war — daher ihre Ernennung —, und vier männliche Kollegen — ein Universitätsprofessor, der den Vorsitz hatte, zwei Geschäftsleute aus der Stadt und ein Gewerkschaftsfunktionär im Ruhestand.
Der Tagungsraum war ein mahagonigetäfeltes Zimmer im Verwaltungstrakt des Hauptgebäudes. Am einen Ende saßen auf einem Podium die Mitglieder des Verwaltungsrates auf bequemen Lederstühlen hinter einem schönen ovalen Tisch. Etwas tiefer stand ein bescheidener Tisch, an dem Mel Bakersfeld, umgeben von seinen Abteilungsleitern, präsidierte. Längsseits stand ein Pressetisch, und im Hintergrund befanden sich Plätze für das Publikum, da die Sitzungen nominell öffentlich waren. Der Teil für das Publikum war nur selten besetzt.
Der einzige Außenseiter bei der Sitzung war an diesem Tag Kapitän Vernon Demerest in seiner eleganten Trans America-Uniform, deren vier goldene Ärmelstreifen, die seinen Rang bezeich-neten, unter dem Oberlicht funkelten. Er saß abwartend in dem für das Publikum bestimmten Teil und hatte Bücher und Papiere auf zwei Stühlen neben sich ausgebreitet. In entgegenkommender Weise entschloß sich der Verwaltungsrat, vor der regulären Tagesordnung zuerst Kapitän Demerest anzuhören.
Demerest erhob sich. Er sprach vor dem Verwaltungsrat mit seiner gewohnten Selbstsicherheit und zog nur gelegentlich seine Notizen zu Hilfe. Er sei im Namen des Pilotenverbandes erschienen, erklärte er, bei dem er Vorsitzender der Ortsgruppe sei. Gleichwohl seien die Ansichten, die er erläutern werde, auch seine eigenen und würden von den meisten Piloten aller Linien geteilt.
Die Mitglieder des Verwaltungsrats lehnten sich in ihren bequemen Kippstühlen zurück, um ihn anzuhören.
Der Verkauf von Flugversicherungen, begann Demerest, sei ein lächerliches, archaisches Überbleibsel aus früheren Tagen des Luftverkehrs. Allein schon die Anwesenheit von Versicherungsschaltern und -automaten und ihre auffällige Plazierung auf den Flughäfen sei für das kommerzielle Flugwesen eine Beleidigung, das im Verhältnis zu den zurückgelegten Strecken eine höhere Sicherheitsquote habe als irgendeine andere Form der Beförderung.
Würden einem Reisenden auf einem Bahnhof oder einem Busdepot, oder wenn er an Bord eines Schiffs ginge, oder wenn er im eigenen Wagen aus einem Parkhaus abfuhr, spezielle Lebens- oder Unfallversicherungen mit sanftem Kaufzwang unter die Nase gehalten? Natürlich nicht.
Warum dann bei der Luftfahrt?
Demerest beantwortete seine Frage selbst. Der Grund sei, erklärte er, daß die Versicherungsgesellschaften eine Goldader erkannten, wenn sie eine vor sich sähen, und sich um die Folgen nicht kümmerten. Die Verkehrsfliegerei sei noch so neu, daß sie für viele Menschen als gefährlich gelte, trotz der nachweisbaren Tatsache, daß der Mensch in einem kommerziellen Flugzeug sicherer ist als bei sich zu Hause. Das angeborene Mißtrauen gegen das Fliegen werde durch die äußerst seltenen Flugzeugunglücke vergrößert. Der Schock wirkte dramatisch und verdunkelte die Tatsache, daß weit mehr Todesfälle und Verletzungen bei anderen, vertrauteren Verkehrsmitteln vorkämen.
Die Wahrheit über die Sicherheit des Fliegens, stellte Demerest fest, werde von den Versicherungsgesellschaften selbst bestätigt. Piloten, die dem Luftverkehr ja in viel höherem Grade ausgesetzt seien als Fluggäste, könnten normale Lebensversicherungen zu den üblichen Prämien abschließen und durch Sonderabmachungen mit ihrem Berufsverband sogar noch billiger als das sonstige Publikum.
Doch andere Versicherungsgesellschaften führen, durch geldgierige Flughafenleitungen gefördert und von fügsamen Fluggesellschaften geduldet, fort, Angst und Leichtgläubigkeit der Fluggäste auszubeuten.
Mel auf seinem Platz am Tisch der Flughafenleitung mußte im stillen zugeben, daß sein Schwager eine einleuchtende Darstellung bot, wenn auch die Bezeichnung »geldgierige Flughafenleitungen« unklug war. Die Bemerkung hatte bei mehreren Mitgliedern des Verwaltungsrates, darunter bei Mrs. Ackermann, Stirnrunzeln hervorgerufen.
Vernon Demerest schien es nicht zu bemerken. »Und nun, meine Dame und meine Herren, zu dem bedeutendsten, dem entscheidenden Punkt.«
Dieser sei, erklärte er, die sehr reale Gefahr für jeden Passagier und das gesamte fliegende Personal, den das unverantwortliche, beiläufige Verkaufen von Versicherungspolicen an Schaltern im Flughafen und durch Automaten verursache . . . »Policen, die Riesensummen, Vermögen, als Rückzahlung für nur einige Dollar Prämie versprechen.«
Demerest fuhr hitzig fort: »Das System — wenn man soweit gehen will, einen schlechten Dienst an der Öffentlichkeit mit diesem Namen zu verherrlichen, und die wenigen Piloten tun es — stellt eine in Gold gefaßte offene Aufforderung an Wahnsinnige und Verbrecher zur Sabotage und zum Massenmord dar. Sie können die primitivste Absicht haben: ihre persönliche Bereicherung oder die der von ihnen Begünstigten.
»Herr Kapitän!« Mrs. Ackermann, die Frau unter den Mitgliedern im Verwaltungsrat, beugte sich in ihrem Stuhl vor. Ihrer Stimme und ihrem Ausdruck merkte Mel an, daß die Bemerkung »geldgierige Flughafenleitungen« sie gereizt hatte. »Herr Kapitän, wir hören soviel von Ihren Meinungen. Haben Sie auch irgendwelche Fakten, um das alles zu unterstützen?«
»Gewiß, gnädige Frau. Es gibt viele Fakten.«
Vernon Demerest hatte seine Sache gründlich vorbereitet. Mit Hilfe von Tabellen und Diagrammen legte er dar, daß Unfälle während des Flugs, durch Bomben oder andere Gewaltakte, durchschnittlich anderthalb pro Jahr betrugen. Die Motive variierten, aber eine stets vorherrschende Ursache sei finanzielle Bereicherung durch Flugversicherung. Darüber hinaus habe es Bombenanschläge gegeben, die entweder nicht gelangen oder verhindert wurden, und andere Unfälle, bei denen Sabotage vermutet, aber nicht nachgewiesen wurde.
Er nannte klassische Vorfälle: Canadian Pacific Airlines, 1949 und 1965; Western Airlines, 1957; National Airlines, 1960, und ein Verdacht auf Sabotage, 1959; zwei Mexican Airlines, 1952 und 1953; Venezuelan Airlines, 1960; Continental Airlines, 1962; Pa-cific Air Lines, 1964; United Air Lines, 1950 und 1955, und ein Verdacht auf Sabotage, 1965. Bei neun dieser dreizehn Vorfälle waren alle Passagiere und Besatzungsmitglieder ums Leben gekommen.
Es stimme selbstverständlich: wenn Sabotage festgestellt worden sei, sei jede Versicherungspolice, die von den daran Beteiligten abgeschlossen worden war, automatisch für ungültig erklärt worden. Kurz: Sabotage mache sich nicht bezahlt, und normale, einsichtige Menschen wüßten das. Sie wüßten auch, daß selbst nach einem Unglück, bei dem es keine Überlebenden gab, das Wrack aber gefunden wurde, festgestellt werden konnte, ob eine Explosion stattgefunden hatte, und in der Regel, wodurch sie entstanden war.
Aber das seien ja keine normalen Menschen, erinnerte Demerest den Verwaltungsrat, die Bombenattentate oder brutale Gewaltakte begingen. Es seien Anomale, Psychopathen, verbrecherische Geisteskranke, gewissenlose Massenmörder. Menschen dieser Sorte seien selten einsichtig, und selbst wenn sie es wären, hätten Psychopathen die Eigenschaft, nur das wahrzunehmen, was ihnen genehm sei, und die Fakten dem anzupassen, was sie gern glauben wollten.
Mrs. Ackerman machte hier wieder eine Zwischenbemerkung; diesmal war ihre Feindseligkeit gegenüber Demerest unverkennbar: »Ich weiß nicht, ob einer von uns, selbst Sie, Herr Kapitän, qualifiziert ist, darüber zu diskutieren, was im Hirn von Psychopathen vor sich geht.«
»Ich habe doch nicht darüber diskutiert«, widersprach Demerest ungeduldig. »Auf jeden Fall ist das auch nicht der entscheidende Punkt.«
»Entschuldigen Sie, Sie haben darüber diskutiert. Und ich finde zufällig, daß es doch der entscheidende Punkt ist.«
Vernon Demerest stieg das Blut zu Kopf. Er war daran gewöhnt, zu befehlen, und nicht daran, verhört zu werden. Sein Temperament, das ohnehin leicht reizbar war, ging mit ihm durch. »Madam, sind Sie von Haus aus so einfältig, oder geben Sie sich bewußt so beschränkt?«
Der Vorsitzende klopfte scharf mit seinem Hammer, und Mel mußte sich eisern das Lachen verbeißen.
Na, dachte Mel, jetzt könnten wir eigentlich damit Schluß machen. Vernon sollte sich ans Fliegen halten, davon versteht er was, und die Diplomatie meiden, in der er eben ausgerutscht ist. Die Aussichten, daß der Verwaltungsrat irgend etwas von dem tun würde, was Kapitän Demerest wollte, waren im Augenblick gleich Null — es sei denn, Mel half Demerest aus der Patsche. Einen Augenblick überlegte er, ob er das tun solle. Er vermutete, Demerest habe gemerkt, daß er zu weit gegangen sei. Jedenfalls war es nicht zu spät, dem, was eben passiert war, eine heitere Wendung zu geben, über die alle lachen konnten, einschließlich Mildred Ackerman. Mel hatte Geschick für derlei Sachen, verstand es, Differenzen auszugleichen und dabei beiden Seiten zu helfen ihr Gesicht zu wahren. Er wußte auch, daß er bei Millie Ackerman einen Stein im Brett hatte, sie kamen gut miteinander aus, und stets hörte sie aufmerksam auf alles, was er sagte.
Dann sagte er sich: Ach, zum Teufel damit. Er bezweifelte, ob sein Schwager im umgekehrten Fall für ihn das gleiche tun würde. Sollte Vernon doch mit seinem verfahrenen Karren allein fertig werden. Jedenfalls würde Mel in wenigen Minuten auch das Seine zu sagen haben.
»Kapitän Demerest«, sagte der Vorsitzende kühl, »die letzte Bemerkung war nicht am Platze und ungehörig; Sie werden sie bitte zurücknehmen.«
Demerests Züge waren noch erregt. Einen Augenblick zögerte er, dann nickte er.
»Also gut, ich nehme es zurück.« Er blickte flüchtig zu Mrs. Ackerman hinüber. »Ich bitte die Dame um Entschuldigung. Vielleicht kann sie verstehen, daß dies ein Thema ist, das mir, ebenso wie dem größten Teil des Flugpersonals, sehr am Herzen liegt. Wenn es irgend etwas gibt, das mir so klar vorkommt . . .« Er ließ den Satz unvollendet.
Mrs. Ackermans Augen funkelten. Die Entschuldigung in dieser Form war schlecht angekommen, dachte Mel. Nun war es zu spät, öl auf die Wogen zu gießen, selbst wenn er es gewollt hätte.
Ein anderes Mitglied des Verwaltungsrates fragte: »Kapitän Demerest, was wollen Sie nun wirklich von uns?«
Demerest trat einen Schritt vor. Seine Stimme bekam einen beschwörenden Ton. »Ich appelliere dringend an Sie, Versicherungsautomaten und den Abschluß von Versicherungen am Schalter auf diesem Flughafen abzuschaffen, sowie für die Zukunft fest zuzusagen, daß Sie es ablehnen werden, je wieder Raum für besagten Zweck zu vermieten.«
»Sie möchten den Verkauf von Versicherungen völlig abschaffen?«
»Auf Flughäfen — jawohl. Ich darf mitteilen, meine Dame und meine Herren, daß der Pilotenverband andere Flughäfen drängt, dasselbe zu tun. Wir richten auch eine Eingabe an den Kongreß, Gesetze zu verabschieden, die den Verkauf von Versicherungen auf Flughäfen verbieten.«
»Aber was für einen Sinn hätte es, das für die Vereinigten Staaten zu tun, da doch der Flugverkehr international ist?«
Demerest lächelte ein wenig. »Diese Kampagne ist ebenfalls international.«
»Wieso international?«
»Wir haben die aktive Unterstützung der Pilotenvereinigungen in achtundvierzig anderen Ländern. Die Mehrzahl ist der Meinung, wenn in Nordamerika entweder die Vereinigten Staaten oder Kanada ein Beispiel gäben, würden andere folgen.«
Das gleiche Mitglied meinte skeptisch: »Ich finde, Sie alle versprechen sich ein bißchen viel.«
»Auf jeden Fall«, warf der Vorsitzende ein, »hat das Publikum doch das Recht, Flugreiseversicherungen abzuschließen, wenn es das will.«
Demerest nickte zustimmend. »Selbstverständlich. Dagegen hat auch niemand etwas.«
»Doch, Sie.« Das war wieder Mrs. Ackerman.
Um Demerests Mund spannten sich die Muskeln. »Gnädige Frau, jeder kann jede Reiseversicherung abschließen, die er haben will. Er braucht sich nur rechtzeitig die Mühe zu machen, in eine Versicherungsagentur oder ein Reisebüro zu gehen.« Mit einem Blick streifte er die anderen Mitglieder des Verwaltungsrats. »Heutzutage haben sehr viele Leute eine allgemeine Reiseunfallversicherung. Damit können sie auf jede Reise gehen, die sie machen wollen, und sind ständig versichert. Dafür bieten sich zahlreiche Möglichkeiten. Zum Beispiel die großen Reisekreditunternehmen — Diners, American Express, Carte Blanche —, die allen ihren Kreditkarteninhabern Dauerreiseversicherungen anbieten. Sie können jedes Jahr automatisch verlängert und bezahlt werden.«
Die meisten reisenden Geschäftsleute, argumentierte Demerest, besäßen wenigstens eine der genannten Kreditkarten, und somit bedeute eine Abschaffung der Versicherungen auf den Flughäfen für die Geschäftsleute keine Härte oder Unbequemlichkeit.
»Und für alle diese Pauschalpolicen sind die Prämien niedrig. Das weiß ich, weil ich selbst eine solche Versicherung abgeschlossen habe.«
Nach einer kurzen Pause fuhr Vernon Demerest fort: »Das wichtigste bei all diesen Versicherungen ist aber, daß sie ordnungsgemäß bearbeitet werden. Die Anträge werden von erfahrenen Mitarbeitern entgegengenommen und geprüft. Zwischen Antrag und Aushändigung einer Versicherungspolice vergeht mindestens ein Tag. Aus diesem Grund sind die Chancen weit größer, einen Psychopathen, einen Geistesgestörten oder einen aus dem Gleichgewicht Geratenen festzustellen und nach seinen Absichten zu forschen. Und noch etwas ist zu bedenken: Ein Kranker oder psychisch Gestörter handelt impulsiv. Und gerade bei Flugversicherungen kommt die schnelle und vorbehaltlose Methode, durch Automaten oder an Schaltern Versicherungspolicen auszugeben, diesen Impulsen entgegen.«
»Ich glaube, wir haben inzwischen alle begriffen, worauf Sie hinauswollen«, wandte der Vorsitzende scharf ein. »Sie beginnen sich zu wiederholen, Kapitän Demerest.«
Mrs. Ackerman nickte. »Ganz meiner Meinung. Ich persönlich möchte aber auch gern hören, was Mr. Bakersfeld dazu zu sagen hat.« Die Augen der Mitglieder gingen zu Mel hinüber. »Jawohl«, bestätigte er, »ich habe einige Bemerkungen zu machen. Aber ich möchte lieber warten, bis Kapitän Demerest völlig zu Ende gekommen ist.«
»Er ist zu Ende«, sagte Mildred Ackerman. »Das haben wir gerade festgestellt.«
Ein anderes Mitglied des Verwaltungsrates lachte, und der Vorsitzende klopfte mit dem Hammer. »Ja, ich glaube wirklich . . . Bitte, Mr. Bakersfeld.«
Mel erhob sich. Vernon Demerest kehrte wütend auf seinen Platz zurück.
»Ich möchte von vornherein klarstellen«, begann Mel, »daß ich in fast allem, was Kapitän Demerest vorgebracht hat, entgegengesetzter Meinung bin. Vielleicht könnte man das eine Art Familienstreitigkeit nennen.«
Die Anwesenden, die Mels Verwandtschaftsverhältnis mit Ver-non Demerest kannten, lächelten, und schon lockerte sich, wie Mel wohl spürte, die gerade eben noch herrschende Spannung. Er war an solche Sitzungen gewöhnt und wußte, daß es immer das beste war, sich ungezwungen zu geben. Vernon hätte das auch herausfinden können — hätte er sich nur die Mühe gemacht, sich zu erkundigen.
»Da gibt es verschiedene Punkte, über die man nachdenken sollte«, fuhr Mel fort. »Als erstes wollen wir die Tatsache ins Auge fassen, daß die meisten Menschen eine angeborene Angst vor dem Fliegen haben, und ich bin überzeugt, daß es diese Angst immer geben wird, gleichgültig, wie große Fortschritte wir machen und wie sehr wir unsere Betriebssicherheit steigern. Der einzige Punkt, in dem ich zufällig mit Kapitän Demerest übereinstimme, ist der, daß unsere Betriebssicherheit schon jetzt ausgezeichnet ist.«
Wegen dieser angeborenen Angst, fuhr er fort, fühlen sich nun viele Passagiere durch Flugversicherungen beruhigt und sicherer. Die Leute wünschen sie. Sie wollen sie auch auf Flughäfen abschließen können, eine Tatsache, die durch den enormen Umsatz durch Automaten und Versicherungsschalter auf Flughäfen bewiesen werde. Es sei eine Frage der Freiheit, daß Fluggäste das Recht und die Möglichkeit hätten, Versicherungen abzuschließen oder nicht. Was einen vorherigen Abschluß von Versicherungen angehe, so sei es doch einfach eine Tatsache, daß Menschen dergleichen meistens vergäßen. Außerdem, fügte Mel hinzu, wenn Flugversicherungen auf diese Weise abgeschlossen würden, ginge ein Großteil der Einnahmen der Flughäfen — auch für Lincoln International — verloren. Bei der Bemerkung über Flughafeneinnahmen lächelte Mel. Die Verwaltungsräte lächelten ebenfalls.
Das war natürlich der kritische Punkt, dachte Mel: Einnahmen aus Versicherungskonzessionen waren zu wichtig, als daß man darauf verzichten konnte. Auf Lincoln International nahm der Flughafen eine halbe Million Dollar jährlich durch Provisionen aus Versicherungsabschlüssen ein, obwohl wenigen Versicherungsnehmern bekannt war, daß der Flughafen fünfundzwanzig Cent von jedem Prämiendollar beanspruchte. Doch die Versicherungen stellten nur die viertgrößte Einnahmequelle aus Konzessionen dar: Parkplätze, Restaurants und Autoverleiher brachten größere Summen in die Kassen des Flughafens. Auf anderen großen Flughäfen waren die Einnahmen aus den Versicherungen gleich hoch oder höher. Ver-non Demerest, dachte Mel, kann leicht von geldgierigen Flughafenleitungen reden, aber Einnahmen dieser Größenordnung führten auch eine deutliche Sprache.
Mel hielt es für richtiger, diese Gedanken nicht auszusprechen. Sein einziger kurzer Hinweis auf die Einnahmen genügte. Der Verwaltungsrat, der mit den Finanzverhältnissen des Flughafens vertraut war, würde ihn schon verstehen.
Er zog seine Notizen zu Rat. Es waren Notizen, die ihm eine der Versicherungsgesellschaften, die auf Lincoln International arbeiteten, gestern zur Verfügung gestellt hatte. Mel hatte nicht darum gebeten und hatte auch gegenüber niemandem außerhalb seines eigenen Büros erwähnt, daß heute die Versicherungen zur Debatte standen. Aber die Versicherungsleute hatten es irgendwie in Erfahrung gebracht — es war unglaublich, wie sie das immer herausbekamen — und zum Schutz ihrer Interessen sofort gehandelt.
Mel hätte diese Notizen nicht benutzt, wenn sie seiner eigenen ehrlichen Überzeugung widersprochen hätten. Glücklicherweise war das nicht der Fall.
»Und nun«, sagte Mel, »zur Sabotage — zur potentiellen und zur anderen.« Er bemerkte, daß der Verwaltungsrat ihm interessiert zuhörte.
»Kapitän Demerest hat sich ja hierüber lang und breit ausgelassen — aber ich muß doch sagen, nachdem ich ihm aufmerksam zugehört habe, daß mir die meisten seiner Ausführungen übertrieben zu sein scheinen. Tatsächlich waren die Flugzeugunglücke, die nachweislich auf Bombenanschläge mit dem Ziel des Versicherungsbetrugs zurückgeführt werden konnten, ganz selten.«
Kapitän Demerest sprang von seinem Platz auf. »Mein Gott! — Wie viele Katastrophen brauchen wir denn?«
Der Vorsitzende klopfte scharf mit seinem Hammer. »Kapitän — ich muß sehr bitten!«
Mel wartete, bis Demerest sich wieder gesetzt hatte, und antwortete dann ruhig: »Da die Frage gestellt wurde, hier die Antwort: Keine. Angebrachter erscheint mir die Frage: Wäre es vielleicht nicht ebenfalls zu den Katastrophen gekommen, wenn auf Flughäfen keine Versicherungen abgeschlossen werden könnten?«
Mel machte eine Pause, um sein Argument wirken zu lassen, ehe er fortfuhr.
»Selbstverständlich kann eingewendet werden, daß es zu den Unglücksfällen, von denen wir sprechen, überhaupt nicht gekommen wäre, wenn auf Flughäfen keine Versicherungen abgeschlossen werden könnten. Oder mit anderen Worten, es wären Impulsivverbrechen, die durch die Leichtigkeit ausgelöst wurden, mit der man auf Flughäfen Versicherungen abschließen konnte. Gleicherweise kann behauptet werden, daß diese Verbrechen, auch wenn sie mit Vorbedacht geplant wurden, vielleicht nicht begangen worden wären, wenn Flugversicherungen weniger leicht abzuschließen wären. Das sind, wie ich glaube, Kapitän Demerests Argumente — und die des Pilotenverbandes.«
Mel blickte flüchtig zu seinem Schwager hinüber, der außer einer finsteren Miene keine Reaktion zeigte.
»Die offenkundige Schwäche aller dieser Argumente liegt darin, daß sie einzig auf Vermutungen beruhen. Mir erscheint es ebenso wahrscheinlich, daß sich jemand, der ein solches Verbrechen plant, nicht dadurch davon abhalten läßt, daß er auf dem Flughafen keine Versicherung abschließen kann, sondern sich vielmehr die Versicherung anderswo besorgen muß, was ja, wie Kapitän Demerest selbst gesagt hat, ganz einfach ist.«
Mit anderen Worten, erläuterte Mel, die Flugversicherung tauche bei den potentiellen Verbrechern erst als sekundärer Gedanke auf und sei kein Motiv für ihre Tat. Die wirklichen Motive für Sabotageakte in der Luft beruhten auf uralten menschlichen Schwächen: Dreiecksverhältnissen, Geldgier, geschäftlichen Mißerfolgen, Selbstmord.
Seit es Menschen gebe, sagte Mel, habe es sich als unmöglich erwiesen, diese Motive auszuschalten. Daher sollten jene, die sich mit Flugsicherheit und Sabotageverhütung beschäftigten, danach trachten, nicht die Flughafenversicherung abzuschaffen, sondern andere Abwehrmaßnahmen in der Luft und am Boden zu verstärken. Eine dieser Maßnahmen sei eine schärfere Kontrolle des Handels mit Dynamit — des heute von Flugsaboteuren am meisten benutzten Mittels. Ein anderer Vorschlag sei die Entwicklung von »Such-schnüffelgeräten«, um Explosionsstoffe in Gepäckstücken aufzuspüren. Ein solches Gerät sei, wie Mel den aufmerkenden Verwaltungsratsmitgliedern darlegte, bereits versuchsweise in Gebrauch.
Ein dritter Gedanke, den die Flugversicherungsgesellschaften nachhaltig verträten, sei, das Passagiergepäck vor dem Flug zu kontrollieren, ebenso wie es beim Zoll geschehe. Jedoch, schloß Mel, biete dieser letzte Vorschlag offensichtlich Schwierigkeiten.
Die bestehenden Gesetze gegen das Mitführen von Waffen in Verkehrsflugzeugen müßten strenger angewendet werden, forderte er. Die Flugzeugkonstruktion solle im Hinblick auf Sabotage überprüft werden, um die Maschinen gegen innere Explosionen widerstandsfähiger zu machen. In diese Richtung ziele ein Gedanke, der gleichfalls von den Versicherungsgesellschaften befürwortet werde, die Innenwände der Gepäckabteile zu verstärken und schwerer als bisher zu machen, selbst um den Preis einer Erhöhung des Gewichts und einer Verminderung der Einnahmen der Fluggesellschaften.
Der Verband der Flughafendirektoren, sagte Mel, habe die Frage der Flughafenversicherung studiert und sich danach gegen ein Verbot des Abschlusses von Versicherungen auf Flughäfen entschieden. Mel blickte zu Vernon hinüber, der finster dasaß. Beide wußten sie, daß diese Studie für die Piloten ein wunder Punkt war, denn sie stammte von dem Leiter einer Versicherungsgesellschaft — die selbst Flugversicherungen abschloß —, dessen Unparteilichkeit höchst zweifelhaft war.
Die Notizen der Versicherungsgesellschaft enthielten noch weitere Punkte, die Mel bisher noch nicht berührt hatte, aber er fand, er habe genug gesagt. Außerdem waren einige der verbliebenen Argumente wenig überzeugend. Nachdem er den Vorschlag zur Verstärkung der Gepäckräume angeführt hatte, kamen ihm ernsthafte Zweifel. Wem, fragte er sich, würde das Mehrgewicht zugute kommen: den Passagieren, den Fluggesellschaften oder vorwiegend den Versicherungen? Doch die anderen Argumente, meinte er, seien stichhaltig genug.
»Es steht also zur Entscheidung«, sagte er abschließend, »ob wir auf Grund von Annahmen und nichts weiter dem Publikum eine Dienstleistung vorenthalten sollen, die es offenbar wünscht.«
Als Mel sich wieder setzte, sagte Mildred Ackerman sofort und nachdrücklich: »Ich würde nein sagen.« Sie warf Vernon Demerest einen triumphierenden Blick zu.
Mit einem Minimum an Formalität stimmten die Herren des Verwaltungsrats zu. Darauf wurde die Sitzung und Behandlung der weiteren Tagesordnung auf den Nachmittag verschoben.
Draußen im Korridor wartete Vernon Demerest auf Mel.
»Na, Vernon!« Mel sprach schnell und bemühte sich um einen Ausgleich, ehe sein Schwager sprechen konnte. »Du nimmst mir das doch hoffentlich nicht übel? Selbst Freunde und Verwandte müssen gelegentlich anderer Meinung sein.«
Das »Freunde« war natürlich eine Übertreibung. Mel Bakersfeld und Vernon Demerest hatten sich nie gemocht, obwohl Demerest Mels Schwester Sarah geheiratet hatte. Und beide waren sich dessen bewußt; außerdem hatte sich in letzter Zeit diese Abneigung zu einer offenen Gegnerschaft verschärft.
»Doch, verdammt noch mal, ich nehme es übel«, antwortete Demerest. Der Höhepunkt seines Ärgers war zwar überschritten, aber seine Augen waren hart.
Die Mitglieder des Verwaltungsrats kamen nacheinander aus dem Beratungszimmer und sahen die beiden neugierig an. Sie waren auf dem Weg zu ihrem Lunch. In wenigen Augenblicken würde Mel sich ihnen anschließen.
Verächtlich sagte Demerest: »Menschen wie du haben es ja leicht — bodenverhaftet, an den Schreibtisch gebunden, mit einem Spatzenhirn. Wenn du so viel in der Luft wärest wie ich, hättest du andere Ansichten.«
Mel sagte scharf: »Ich habe nicht immer an einem Schreibtisch gesessen.«
»Ach, komm, um Himmels willen, nicht mit dem >Helden der Luft Stußc. Jetzt bist du auf Höhe Null Komma Null. Das erkennt man daran, wie du jetzt denkst. Wenn du es nicht wärst, würdest du die Versicherungsgeschichte ebenso betrachten wie jeder Pilot mit etwas Selbstachtung.«
»Meinst du wirklich Selbstachtung und nicht Selbstanbetung?« Wenn Vernon einen Wortstreit haben wollte, fand Mel, nur zu, das konnte er ihm bieten. Jetzt war niemand in Hörweite. »Das Schlimme bei den meisten von euch Piloten ist, daß ihr euch so daran gewöhnt habt, euch als Halbgötter und Herren der Wolken zu fühlen, daß ihr euch einredet, eure Gehirne seien gleichfalls etwas Wunderbares. Also, abgesehen von ein paar spezialisierten Gebieten sind sie es nicht. Manchmal denke ich, der Rest hat bei dir unter dem zu langen Sitzen in der verdünnten Luft oben gelitten, während die Selbststeuerung die Arbeit tut. Und wenn jemand mit einer ehrlichen Meinung auftaucht, die zufällig eurer entgegensteht, dann benehmt ihr euch wie verzogene Kinder.«
»Ich will diesen Unsinn überhören«, antwortete Demerest. »Wenn aber hier jemand kindisch ist, dann bist gerade du es. Mehr noch, du bist unehrlich.«
»Also, hör mal, Vernon . . .«
»Eine ehrliche Meinung, hast du gesagt.« Demerest schnaufte leicht angeekelt. »Ehrliche Meinung: Holzauge sei wachsam! Da drinnen hast du ein >Merkblatt< einer Versicherungsgesellschaft benutzt. Daraus hast du abgelesen! Ich konnte es von meinem Platz aus sehen und habe es erkannt, weil ich das gleiche habe.« Er zeigte auf den Stoß von Papieren und Büchern, den er trug. »Du hast nicht mal den Anstand besessen, oder dir die Mühe gemacht, dir selbst deine Unterlagen auszuarbeiten.«
Mel errötete. Sein Schwager hatte ihn erwischt. Er hätte seine eigenen Unterlagen vorbereiten oder wenigstens die Notizen der Versicherungsgesellschaft überarbeiten und abtippen lassen sollen. Gewiß, er hatte in den letzten Tagen vor der Sitzung mehr als sonst zu tun gehabt, aber das war keine Entschuldigung.
»Eines Tages wird es dir vielleicht leid tun«, sagte Vernon. »Wenn das der Fall sein wird, und ich bin in der Nähe, werde ich dich daran erinnern. Bis dahin halt ich es sehr gut aus, ohne dich öfter zu sehen, als unbedingt nötig.«
Ehe Mel etwas entgegnen konnte, hatte sein Schwager sich umgedreht und entfernt.
Als Tanya in der Haupthalle des Flughafens neben ihm stand, fragte Mel sich — wie schon ein paarmal seither —, ob er sich bei dem Krach mit Vernon nicht doch hätte mehr zusammennehmen sollen. Er hatte das unbehagliche Gefühl, sich schlecht benommen zu haben. Das schloß nicht aus, daß es bei Meinungsverschiedenheiten mit seinem Schwager blieb; auch jetzt sah Mel keinen Anlaß, seine Einstellung zu ändern. Aber er hätte freundlicher sein und Taktlosigkeiten vermeiden können, die zwar zu Vernon Demerests Charakterkostüm, aber nicht zu seinem eigenen gehörten.
Seit jedem Tag hatte keine Begegnung zwischen den beiden mehr stattgefunden; bei der Fastbegegnung in der Kaffeestube heute abend hatte Mel seinen Schwager zum erstenmal wieder zu Gesicht bekommen. Mel hatte zu seiner älteren Schwester Sarah nie ein enges Verhältnis gehabt, und sie besuchten sich selten. Doch früher oder später würden die Schwäger sich begegnen müssen, wenn nicht, um ihre Differenzen zu bereinigen, so doch um sie zu applanieren. Und Mel meinte, nach den scharfen Worten im Bericht der Schneekommission zu urteilen — die fraglos durch Vernons Gegnerschaft inspiriert worden waren —, je eher, desto besser.
»Ich hätte den Versicherungskram nicht erwähnt«, sagte Tanya, »wenn ich gewußt hätte, daß er Sie so weit von mir wegtreibt.«
Da diese Erinnerungen nur für ein paar Sekunden in ihm aufgestiegen waren, wunderte Mel sich wieder einmal über Tanyas Einfühlungsvermögen ihm gegenüber. Soweit er sich erinnern konnte, hatte noch nie jemand im gleichen Maß die Fähigkeit besessen, seine Gedanken zu erraten. Das sprach für eine instinktive Verbundenheit zwischen ihnen.
Er bemerkte, daß Tanya sein Gesicht beobachtete, bemerkte ihre zärtlichen, verständnisvollen Augen, doch auch die hinter der Zärtlichkeit liegende frauliche Kraft und Sinnlichkeit, die, wie er sich instinktiv sagte, zur Flamme auflodern konnte. Plötzlich wollte er, daß ihre Verbundenheit noch tiefer würde.
»Sie haben mich nicht weggetrieben«, antwortete Mel. »Sie haben mich näher zu sich gebracht. In diesem Augenblick brauche ich Sie sehr.« Als sich ihre Augen trafen, fügte er hinzu: »In jeder Weise.«
Tanya war offen wie immer. »Ich brauche Sie auch.« Sie lächelte ein wenig. »Das tue ich schon eine ganze Weile.«
Sein erster Gedanke war, aufzubrechen und zusammen einen stillen Ort zu suchen — Tanyas Apartment vielleicht — und auf die Folgen zu pfeifen! Dann besann sich Mel aber wieder darauf, daß er ja gar nicht fort konnte. Noch nicht.
»Wir wollen uns später treffen«, versprach er ihr. »Heute abend.
Ich weiß noch nicht, wie spät es werden wird, aber wir treffen uns auf jeden Fall. Gehen Sie nicht nach Hause ohne mich.« Er wollte die Arme ausstrecken, sie umfassen, festhalten und an sich drük-ken, aber der Betrieb in der Haupthalle wogte um sie herum.
Sie streckte den Arm aus und legte ihre Fingerspitzen leicht auf seine Hand. Die Berührung war wie ein elektrischer Schlag. »Ich warte«, sagte Tanya, »werde warten, solange Sie wollen.«
Einen Augenblick danach löste sie sich und war gleich darauf vom Gedränge der Passagiere vor den Schaltern der Trans America verschlungen.
6
Trotz der Bestimmtheit, die Cindy Bakersfeld in dem Gespräch mit Mel vor einer Stunde gezeigt hatte, war sie unsicher, was sie als nächstes tun sollte. Wenn nur jemand dagewesen wäre, auf dessen Rat sie hätte vertrauen können. Sollte sie noch zum Flughafen fahren oder nicht?
Allein und einsam inmitten der Cocktailparty der Förderer des Hilfsfonds für die Kinder von Archidona brütete Cindy unentschlossen über die zwei Wege, die sie einschlagen konnte. Während des größten Teils des Abends war sie bisher von einer Gruppe zur anderen gewandert, hatte angeregt geplaudert und Menschen getroffen, die sie kannte oder kennenlernen wollte. Aber aus irgendeinem Grund störte es sie heute abend — mehr als sonst —, daß sie keine Begleitung hatte. Seit ein paar Minuten stand sie jetzt, tief in Gedanken versunken, allein da.
Sie überlegte wieder: Ohne Begleitung an dem Abendessen teilzunehmen, das bald beginnen würde, hatte sie keine Lust. Einerseits konnte sie also nach Hause fahren; andererseits konnte sie Mel aufsuchen und einen Streit vom Zaun brechen.
Bei dem Telefongespräch hatte sie darauf bestanden, hinauszufahren und ihn zu stellen. Wenn sie aber fuhr, sagte sich Cindy, bedeutete das wahrscheinlich eine unwiderrufliche und endgültige Auseinandersetzung zwischen ihnen beiden. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, früher oder später mußte diese Auseinandersetzung sowieso kommen, also je eher, desto besser; und im Zusammenhang damit gab es ja verschiedene Dinge, die geklärt werden mußten. Fünfzehn Ehejahre ließen sich nicht so einfach abschütteln wie eine entbehrliche Regenhaut. Ungeachtet vieler Mängel und Meinungsverschiedenheiten — und Cindy fielen eine Menge ein —, wenn zwei Menschen so lange miteinander lebten, gab es einige Bindungen, gefühlsmäßige und physische, die zu zerreißen schmerzlich war.
Selbst jetzt noch glaubte Cindy, ihre Ehe könne gerettet werden, wenn sie es beide ernsthaft versuchen. Die Frage war nur: Wollten sie das? Cindy war überzeugt, daß sie es wollte — wenn Mel sich einigen ihrer Bedingungen fügte, obwohl er sich bisher geweigert hatte, und sie bezweifelte sehr, daß er sich so ändern würde, wie sie es haben wollte. Doch ohne eine Änderung miteinander so weiterzuleben, wie sie es taten, war unerträglich. In letzter Zeit waren nicht einmal mehr die Tröstungen des Sex geblieben, die früher über mancherlei Mißhelligkeiten hinweggeholfen hatten. Auf diesem Gebiet war auch etwas falsch gelaufen, wenn Cindy sich auch nicht sicher war, was. Mel reizte sie körperlich immer noch; selbst jetzt noch genügte ein Gedanke an ihn in dieser Richtung, um sie zu entflammen, und im Augenblick spürte sie die Erregung im ganzen Körper. Wenn aber die Gelegenheit gegeben war, fühlten sie sich beide durch ihre psychische Kluft irgendwie gehemmt. Das Ergebnis — bei Cindy wenigstens — waren Enttäuschung, Wut und später eine solche sexuelle Gier, daß sie einfach einen Mann haben mußte. Irgendeinen Mann.
Sie stand immer noch allein in dem La-Salle-Salon der Lake Michigan Inn, wo heute abend der Presseempfang stattfand. Die Unterhaltung um sie her drehte sich meistens um den Schneesturm und die Schwierigkeiten für jeden, herzukommen; aber schließlich hatten sie es — im Gegensatz zu Mel, dachte Cindy — doch geschafft. Gelegentlich wurde auch Archidona erwähnt, was Cindy daran erinnerte, daß sie immer noch nicht herausbekommen hatte, welchem Archidona — dem in Ekuador oder dem in Spanien — zum Teufel mit dir, Mel Bakersfeld! Also gut, ich bin nicht so gescheit wie du — ihre Wohltätigkeit galt.
Ein Arm streifte den ihren, und eine Stimme fragte liebenswürdig: »Nichts zu trinken, Mrs. Bakersfeld? Darf ich Ihnen etwas holen?«
Cindy drehte sich um. Der Frager war ein Journalist namens Derek Eden, den sie flüchtig kannte. Sein Name erschien häufig über Artikeln in der Sun-Times. Wie viele seinesgleichen war er ungezwungen und selbstsicher und hatte einen Anflug von Nonchalance. Sie wußte, daß sie beide schon bei früheren Gelegenheiten voneinander Notiz genommen hatten.
»Ja, warum nicht?« antwortete Cindy. »Bourbon mit Wasser, aber seien Sie sparsam mit dem Wasser. Und bitte nennen Sie mich beim Vornamen, den wissen Sie ja wohl, denke ich.«
»Na klar, Cindy.« Die Augen des Journalisten waren voller Bewunderung und schätzten sie unverhohlen ab. Nun ja, dachte Cin-dy, warum nicht? Sie wußte, daß sie heute abend gut aussah; sie hatte sich gut angezogen und sorgfältig geschminkt.
»Ich bin gleich wieder da«, versicherte Derek Eden. »Laufen Sie mir also bitte nicht fort, nachdem ich Sie gerade erst gefunden habe.« Zielstrebig ging er in Richtung Bar.
Während sie wartete und die vielen Menschen im La-Salle-Salon überschaute, traf sich ihr Blick mit dem einer älteren Dame mit einem Blumenhut. Sofort lächelte Cindy herzlich, und die Dame nickte, aber ihr Blick ging weiter. Es war die Kolumnistin der Seite »Aus der Gesellschaft«. Neben ihr stand ein Fotograf, und sie bereiteten Aufnahmen vor, die wahrscheinlich morgen früh eine volle Seite in der Zeitung füllen würden. Die Frau im Blumenhut hatte mehrere der Wohltätigkeitslöwen samt deren Gäste zusammengetrommelt. Sie standen verbindlich lächelnd beieinander und versuchten, ganz ungezwungen auszusehen; in Wirklichkeit waren sie jedoch sehr geschmeichelt darüber, auserwählt worden zu sein. Cindy wußte, warum sie übergangen worden war: Allein war sie nicht wichtig genug, während sie es in Mels Begleitung gewesen wäre. Im gesellschaftlichen Leben der Stadt hatte Mel seinen Rang. Ärgerlich war nur, daß Mel auf das Gesellschaftliche pfiff.
Durch den Raum schössen die Blitzlichter des Fotografen; die Frau im Hut notierte sich Namen. Cindy hätte heulen mögen. An fast jeder Wohltätigkeitsveranstaltung beteiligte sie sich, arbeitete schwer, saß in den bescheidensten Komitees, leistete alltägliche Kleinarbeit, die gesellschaftlich prominentere Frauen ablehnten: und dann so übergangen zu werden!
Noch mal verflucht, Mel Bakersfeld! Verflucht der Sau-Schnee! Und zum Teufel mit dem anspruchsvollen, dreckigen, ehenzerstörenden Flughafen!
Der Journalist kam mit Cindys Drink und einem eigenen zurück. Während er sich seinen Weg durch den Raum bahnte, sah er, daß sie ihn beobachtete und lächelte. Er sah sehr selbstsicher aus. Wie Cindy die Männer kannte, rechnete dieser da sich jetzt wahrscheinlich aus, wie groß die Chancen wären, sie heute abend rumzukriegen. Reporter, nahm sie an, verstünden sich auf vernachlässigte, einsame Frauen.
Cindy stellte ihrerseits auch Überlegungen über Derek Eden an. Anfang Dreißig, dachte sie; alt genug, um etwas erlebt zu haben, jung genug, um noch das eine oder das andere dazuzulernen und in Fahrt zu kommen, so wie Cindy es gern hatte. Dem Aussehen nach körperlich gut in Form. Er würde rücksichtsvoll, vielleicht zärtlich sein; würde ebensowohl geben wie nehmen. Und er war verfügbar; schon bevor er die Drinks holen ging, hatte er das deutlich gemacht. Verständigung zwischen zwei etwas feinfühligen Menschen, die denselben Gedanken haben, dauert ja nicht lange.
Vor ein paar Minuten noch hatte sie die beiden Möglichkeiten, nach Hause oder zum Flughafen zu fahren, gegeneinander abgewogen. Jetzt schien es noch eine dritte zu geben.
»So, bitte schön.« Derek Eden reichte ihr den Drink. Sie besah ihn sich: Es war eine reichliche Menge Bourbon, und er hatte wohl dem Barmixer gesagt, nicht zu knausern. Wirklich — Männer waren doch zu plump!
»Danke schön.« Sie nippte und sah ihn über das Glas bin an.
Derek Eden setzte sein eigenes Glas an und lächelte. »Schrecklicher Lärm hier, nicht?«
Na, dachte Cindy, für einen Journalisten ist der Dialog reichlich unoriginell. Sie nahm an, es würde nun von ihr die Antwort Ja erwartet, und als nächstes würde dann folgen: Sollen wir nicht woandershingehen, wo esruhiger ist? Was dann noch kommen würde, ließ sich gleichfalls vorhersagen.
Cindy schob ihre Antwort auf und trank wieder einen Schluck Bourbon.
Sie überlegte. Natürlich, wenn Lionel in der Stadt wäre, würde sie sich nicht mit diesem Mann aufhalten. Doch Lionel, der sonst ihr Sturmanker war und wünschte, sie solle sich von Mel scheiden lassen, damit er selbst sie heiraten könne — Lionel war in Cincinatti (oder war es Columbus?) mit dem beschäftigt, was Architekten so tun, wenn sie auf Reisen sind, und würde erst in zehn Tagen zurück sein. Vielleicht sogar später.
Mel wußte nichts von Cindy und Lionel, wenigstens nichts Genaues, obwohl Cindy vermutete, Mel hätte sie im Verdacht, sich irgendwo im Hinterhalt einen Liebhaber zu halten. Gleichzeitig hatte sie das Gefühl, daß es Mel ziemlich gleichgültig sei. Das gab ihm einen Vorwand, sich auf den Flughafen zu konzentrieren und sie selbst völlig auszuschließen; dieser verdammte Flughafen war für ihre Ehe hundertmal schlimmer als eine Geliebte.
Nicht immer war das so gewesen.
Zu Anfang ihrer Ehe, gleich nachdem Mel die Navy verlassen hatte, war Cindy stolz auf seinen Ehrgeiz gewesen. Als Mel dann später die unteren Ränge in der Flughafenverwaltung so schnell hinter sich brachte, hatte sie sich über seine Beförderungen und neuen Berufungen gefreut. Mit Mels Aufstieg war auch Cindys Stellung gewachsen — besonders gesellschaftlich, und damals hatten sie fast jeden Abend gesellschaftliche Verpflichtungen wahrgenommen. In ihrer beider Interesse nahm Cindy Einladungen zu Cocktailparties, Privatdiners, Premieren, Wohltätigkeitsabenden an — und wenn zwei Veranstaltungen auf einen Abend fielen, suchte Cindy sachkundig die wichtigere aus und sagte die andere ab. Diese Art des gesellschaftlichen Verkehrs, wobei man wichtige Leute kennenlernte, war für einen im Aufstieg begriffenen jungen Mann wichtig. Selbst Mel sah das ein. Er machte alles mit, was Cindy verabredete, ohne sich zu beklagen.
Das Unglück war nur, merkte Cindy jetzt, daß sie und Mel auf lange Sicht ganz verschiedene Ziele hatten.
Mel betrachtete ihr gesellschaftliches Leben als Mittel, seine ehrgeizigen Berufspläne zu verwirklichen; seine Karriere war für ihn die Hauptsache, der gesellschaftliche Verkehr nur ein Weg dazu, auf den er schließlich hatte verzichten können. Cindy dagegen betrachtete Mels Karriere als Sprungbrett zu einem noch umfassenderen — und gehobenerem — Gesellschaftsleben. Wenn Cindy zurückblickte, dachte sie manchmal, wenn jeder von ihnen von Anfang an den Standpunkt des anderen besser verstanden hätte, wären sie vielleicht zu einer Einigung gekommen. Leider hatten sie das versäumt.
Ihre Differenzen begannen um die Zeit, als Mel neben seiner Stellung als Generaldirektor von Lincoln International auch noch zum Vorsitzenden des Verbandes der Flughafendirektoren gewählt worden war.
Als Cindy erfuhr, daß die Tätigkeit ihres Mannes und sein Einfluß jetzt bis nach Washington reichten, war sie überglücklich. Die dann folgenden Aufforderungen, ins Weiße Haus zu kommen, und seine Beziehung zu Präsident Kennedy ließen Cindy glauben, sie würden nunmehr in die Gesellschaft von Washington vordringen. In rosigen Tagträumen sah sie sich bereits mit Jackie oder Ethel oder Joan in Hyannis Port oder auf dem Rasen des Weißen Hauses wandeln — und fotografiert werden.
Dazu war es nicht gekommen, nicht im entferntesten. Mel und Cindy waren nicht in das Gesellschaftsleben Washingtons vorgedrungen, obwohl es ihnen ein leichtes gewesen wäre. Statt dessen begannen sie — auf Mels hartnäckige Forderung hin — manche Einladungen abzulehnen. Mel sagte sich, sein berufliches Ansehen sei nun so weit gefestigt, daß er sich nicht mehr darum zu sorgen brauche, gesellschaftlich »dazuzugehören«, einen Status zu erwerben, auf den er sowieso nie Wert gelegt hatte.
Als Cindy begriff, was vorging, explodierte sie, und es kam zu einem erstklassigen Krach. Auch das war ein Fehler. Mel fügte sich manchmal vernünftigen Überlegungen, doch Cindys Wut bewirkte gewöhnlich, daß er eigensinnig bis zur Dickköpfigkeit wurde. Ihre Auseinandersetzungen tobten eine ganze Woche lang, und je länger sie anhielten, desto zänkischer wurde Cindy und machte dadurch alles noch schlimmer. Zänkisch sein war eine von Cindys Schwächen, und sie wußte es. In der Regel gab sie sich Mühe, es nicht dazu kommen zu lassen, aber manchmal, wenn sie auf Mels Gleichgültigkeit stieß, ging ihr hitziges Temperament mit ihr durch — so wie bei dem Telefongespräch heute abend.
Nach dem eine Woche lang dauernden Streit, der nie wirklich endete, wurden ihre Krache immer häufiger. Sie hörten auch auf, sie vor den Kindern zu verheimlichen, was sowieso nicht möglich war. Zu ihrer beider Beschämung kündigte Roberta eines Tages an, sie würde nach der Schule künftig erst einmal zu einer Freundin gehen, »weil ich hier zu Hause meine Schularbeiten nicht machen kann, wenn ihr euch zankt«.
Schließlich bildete sich ein Schema heraus. An manchen Abenden begleitete Mel Cindy zu Veranstaltungen, an anderen Abenden blieb er um Stunden länger auf dem Flughafen und kam sehr spät nach Hause. Cindy, die sich sehr allein fühlte, konzentrierte sich auf das, was Mel spöttisch »Nachwuchs-Wohltätigkeit« und »alberne gesellschaftliche Klettertouren« nannte.
Schön, dachte Cindy, vielleicht sah es für Mel manchmal albern aus. Aber sie hatte sonst nichts, und so kam es, daß ihr dieser Wettstreit um die gesellschaftliche Stellung — was es ja in Wirklichkeit war — Spaß machte. Für einen Mann war es schließlich leicht, das zu kritisieren; Männern standen viele Möglichkeiten offen, ihre Zeit auszufüllen. Bei Mel waren es seine Karriere, sein Flughafen, seine Verantwortung. Und was sollte Cindy tun? Den ganzen Tag zu Hause sitzen und Staub wischen?
Über ihre Geistesgaben machte Cindy sich selbst nichts vor. Sie besaß keine große Intelligenz und wußte, daß sie sich in vieler Hinsicht mit Mel geistig nicht messen konnte. Das war aber doch nichts Neues. In der Anfangszeit ihrer Ehe hatte Mel ihre kleinen Torheiten immer amüsant gefunden, was er heute, wenn er sie verspottete — wie er es sich in letzter Zeit angewöhnt hatte —, ganz vergessen zu haben schien. Cindy war auch realistisch gegenüber ihrer früheren Karriere als Schauspielerin. Sie wäre niemals ein Star geworden, bei weitem nicht. Es stimmte, in der Vergangenheit hatte sie manchmal angedeutet, sie hätte es wohl geschafft, wenn ihre Heirat nicht ihre Karriere abgebrochen hätte. Aber das war lediglich eine Form von Selbstschutz, eine Notwendigkeit, andere — darunter auch Mel — daran zu erinnern, daß sie auch ein Mensch für sich war, nicht nur die Frau des Flughafendirektors. Im Inneren kannte Cindy die Wahrheit, daß sie als Schauspielerin kaum jemals über kleine Rollen hinausgekommen wäre.
Das Aufgehen im Gesellschaftsleben — das Sich-in-Szene-Set-zen in der lokalen Gesellschaft — war Cindys Element. Es gab ihr das Gefühl, eine Persönlichkeit zu sein und Format zu haben. Und wenn Mel auch spottete und nicht wahrhaben wollte, daß das, was Cindy erreicht hatte, eine Leistung war, so hatte sie es doch geschafft, aufzusteigen, von gesellschaftlich prominenten Leuten, mit denen sie sonst nicht zusammengetroffen wäre, für voll genommen zu werden und an Veranstaltungen, wie der heute abend, teilzunehmen . . . mit der einen Einschränkung, daß sie Mels Begleitung gebraucht hätte, Mel aber, der wie immer zuerst an seinen verfluchten Flughafen dachte, sie im Stich gelassen hatte.
Mel, der in so hohem Maß Individualität und Prestige besaß, hatte nie Verständnis für Cindys Bedürfnis aufgebracht, auch für sich selbst Anerkennung als Persönlichkeit zu finden. Sie zweifelte, ob ihm das je gelingen würde.
Trotz alledem war Cindy ihren Weg gegangen. Auch für die Zukunft hatte sie ihre Pläne, von denen sie wußte, daß sie einen ungeheuren häuslichen Kampf auslösen würden, wenn sie und Mel verheiratet blieben. Es war Cindys Ergeiz, ihre Töchter, Roberta und später auch Libby, als Debütantinnen für den Passavant-Ball anzumelden, diesen glänzenden Höhepunkt der Debütanten-Saison von Illinois. Als Mutter der Töchter würde ihre eigene gesellschaftliche Stellung an Ansehen gewinnen.
Diesen Gedanken hatte sie bei Gelegenheit einmal Mel gegenüber erwähnt, der ärgerlich reagiert hatte: »Nur über meine Leiche!« Debütantinnen mit ihren törichten, stupide lächelnden Müttern, belehrte er Cindy, gehörten vergangenen Zeiten an. Debütan-tinnen-Bälle — Gott sei Dank gebe es die ja nur noch selten — seien eine anachronistische Fortsetzung eines Snobismus und einer Klassengesellschaft, die das Land glücklicherweise überwunden habe, wenn auch — da es immer noch Leute gab, die so dachten wie Cindy — nicht gründlich genug. Mel wollte, die Kinder sollten in der Erkenntnis aufwachsen, daß sie nichts anderes waren als die anderen, nicht aber in der dünkelhaften, irregeleiteten Vorstellung, sie wären gesellschaftlich etwas Besseres. Und so fort.
Im Gegensatz zu sonst hatte Mel, dessen Grundsatzerklärungen in der Regel kurz und präzis waren, sich noch eine ganze Weile über das Thema ereifert.
Lionel dagegen war der Meinung, das sei ein guter Gedanke.
Lionel war Lionel Urquhart. Im Augenblick geisterte er in Form eines Fragezeichens durch Cindys Leben.
Seltsamerweise war es Mel, der Cindy und Lionel zusammengebracht hatte. Mel machte sie bei einem Essen der Stadtverwaltung miteinander bekannt, an dem Lionel teilnahm, weil er irgend etwas als Architekt für die Stadt geleistet hatte, und Mel, weil er Direktor des Flughafens war. Die beiden kannten sich seit Jahren flüchtig.
Später rief Lionel Cindy dann an, und sie trafen sich ein paarmal zu einem Frühstück oder einem Essen, dann häufiger, und schließlich kam es auch zur letzten Intimität zwischen Mann und Frau.
Im Gegensatz zu vielen, für die das außereheliche Liebesleben nichts Ungewöhnliches ist, hatte Lionel die Affäre äußerst ernst genommen. Er lebte allein, nachdem er sich vor einigen Jahren von seiner Frau getrennt hatte, war aber nicht geschieden. Jetzt wollte er sich scheiden lassen und wünschte von Cindy das gleiche, damit sie heiraten konnten. Inzwischen hatte er auch erfahren, daß Cindys Ehe brüchig war.
Lionel und seine ihm entfremdete Frau hatten keine Kinder gehabt, was er, wie er Cindy anvertraute, aufs höchste bedauerte. Es sei noch nicht zu spät für Cindy und ihn selbst, ein Kind zu haben, wenn sie bald heirateten, erklärte er. Außerdem würde es ihn überglücklich machen, Roberta und Libby ein Heim zu bieten, und er würde sich die größte Mühe geben, ihnen den Vater zu ersetzen.
Cindy hatte aus verschiedenen Gründen eine Entscheidung hinausgeschoben. In erster Linie hoffte sie, die Beziehungen zwischen ihr und Mel würden sich wieder bessern, und ihre Ehe würde wieder der ähnlicher werden, die sie früher einmal geführt hatten. Mit Bestimmtheit konnte sie nicht sagen, ob sie Mel noch liebte. Liebe, fand Cindy, war etwas, dem gegenüber man mit den Jahren skeptischer wurde. Aber schließlich war sie an Mel gewöhnt. Er war nun einmal da; auch Roberta und Libby; und wie viele Frauen fürchtete Cindy sich vor einer großen Umwälzung in ihrem Leben.
Anfänglich befürchtete sie auch, eine Scheidung und eine Wiederverheiratung könnten ihr gesellschaftlich schaden. In diesem Punkt hatte sie jedenfalls ihre Meinung geändert. Viele Menschen waren geschieden worden, ohne aus der Gesellschaft zu verschwinden, und man konnte Frauen begegnen, die von der einen Woche zur nächsten ihren Mann gewechselt hatten. Manchmal hatte Cindy den Eindruck, es sei ein bißchen spießig, nicht wenigstens einmal geschieden zu sein.
Es war möglich, daß die Heirat mit Lionel Cindys gesellschaftlichen Status verbesserte. Lionel war für Empfänge und Geselligkeiten viel eher zu haben als Mel. Auch waren die Urquharts eine alte, geachtete Familie in der Stadt. Lionels Mutter residierte gleich einer Königinwitwe in einem alten verfallenden Haus nahe dem Drake-Hotel, wo ein altmodischer Butler die Gäste empfing und eine gichtgeplagte Zofe auf einem silbernen Tablett den Fünfuhrtee servierte. Lionel hatte Cindy eines Tages zum Tee mitgenommen. Hinterher hatte er berichtet, Cindy habe einen guten Eindruck gemacht, und er sei sicher, er könne seine Mutter überreden, die Patenschaft über Roberta und Libby als Debütantinnen zu übernehmen, wenn es soweit wäre.
Um diese Zeit hätte Cindy sich wegen der immer schärfer werdenden Differenzen mit Mel Hals über Kopf entscheiden und sich Lionel ausliefern können, wenn da nicht noch etwas anderes gewesen wäre. Auf sexuellem Gebiet war Lionel eine Niete.
Er gab sich große Mühe, und gelegentlich schaffte er es auch, sie zu überraschen, doch meistens war er bei ihren Liebesstunden wie eine Uhr, deren Werk kurz vor dem Stehenbleiben war. Düster sagte er eines Abends nach einem ergebnislosen Beisammensein im Schlafzimmer seines Apartments, das für beide enttäuschend gewesen war: »Du hättest mich kennen sollen, als ich achtzehn war. Da war ich ein junger Draufgänger.« Bedauerlicherweise hatte Lio-nel die Achtzehn lange hinter sich; er war achtundvierzig.
Cindy war sich darüber klar, wenn sie Lionel heiratete und sie erst zusammen lebten, würde sich selbst ein so bescheidenes Liebes-leben, wie sie es jetzt genossen, bald in Nichts auflösen. Natürlich würde Lionel trachten, es auf andere Weise auszugleichen — er war freundlich, großzügig, rücksichtsvoll —, aber war das genug? Cindy war sexuell keineswegs auf absteigender Linie. Sie war stets sehr sinnlich gewesen, und in letzter Zeit hatten ihr Verlangen und ihr sexuelles Bedürfnis anscheinend zugenommen. Aber wenn Lio-nel auf diesem Gebiet versagte, so ging es ihr in dieser Hinsicht mit Mel im Augenblick keineswegs besser. Was spielte es also für eine Rolle? Im ganzen gesehen, würde sie mit Lionel besser fahren.
Vielleicht war es die Lösung, Lionel zu heiraten und Liebhaber anderswo zu finden. Letzteres mochte schwierig werden, besonders solange sie jung verheiratet war, aber wenn sie es vorsichtig anfing, mußte es gehen. Sie wußte von anderen — Männern wie Frauen, und manche in hohen Stellungen —, daß sie das auch taten, um ihre körperlichen Bedürfnisse, zu befriedigen, ihre Ehen aber intaktzuhalten. Schließlich war es ihr auch geglückt, Mel zu betrügen. Vielleicht hatte er ganz allgemein einen Verdacht, aber Cindy war überzeugt, daß Mel weder von Lionel noch einem anderen etwas Genaues wußte.
Nun, und heute abend? Sollte sie zum Flughafen zu einer endgültigen Abrechnung mit Mel fahren, wie sie vorhin beschlossen hatte? Oder sollte sie sich für den Abend mit diesem Journalisten Derek Eden einlassen, der neben ihr stand und auf Antwort auf seine Frage wartete.
Cindy kam die Idee, sie könne vielleicht beides schaffen.
Sie lächelte Derek Eden an. »Ach, bitte noch mal. Was haben Sie gesagt?«
»Es ist so laut hier.«
»Ja, das stimmt.«
»Wir sollten das Essen schießenlassen und wohin gehen, wo es ruhiger ist.«
Cindy hätte laut herausplatzen können. Statt dessen nickte sie. »Warum nicht.«
Sie überblickte die anderen Gäste auf dem Presseempfang des Unterstützungsfonds für die Kinder von Archidona. Die Fotografen hatten ihre Aufnahmen gemacht. Für sie bestand also kein Grund mehr, länger zu bleiben. Sie konnte still und unauffällig verschwinden.
Derek Eden fragte: »Haben Sie Ihren Wagen da, Cindy?«
»Nein. Sie?« Des Wetters wegen war Cindy im Taxi gekommen. »Ja«, antwortete er.
»Also gut«, sagte sie. »Aber ich will nicht mit Ihnen zusammen rausgehen. Wenn Sie aber in Ihrem Wagen draußen warten, dann komme ich in fünfzehn Minuten durch den Haupteingang.«
»Sagen wir lieber in zwanzig Minuten. Ich habe noch ein paar Telefonate zu erledigen.«
»Gut.«
»Haben Sie einen besonderen Wunsch? Ich meine, wo wir hingehen sollen?«
»Das überlasse ich ganz Ihnen.«
Er zögerte, ehe er fragte: »Möchten Sie lieber erst essen?«
Amüsiert dachte sie: Das »erst« ist eine Ankündigung, um ihr vollkommen klarzumachen, auf was sie sich einließ.
»Nein«, antwortete Cindy. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich muß später noch woandershin.«
Sie sah, wie Derek Eden den Blick senkte und dann wieder zu ihrem Gesicht aufsah. Sie bemerkte, wie er Atem holte, und hatte den Eindruck, daß er an sein eigenes Glück nicht recht glauben könne. »Sie sind großartig«, sagte er. »Ich kann an mein Glück erst richtig glauben, wenn Sie aus der Tür herauskommen.«
Damit entfernte er sich und verließ unbemerkt den La-Salle-Sa-lon. Eine viertel Stunde später folgte ihm Cindy unbeachtet.
Sie holte ihren Mantel, und als sie aus der Lake Michigan Inn trat, zog sie ihn fester um sich. Draußen fiel immer noch Schnee, und ein eisiger, heulender Wind fegte über die offene Fläche des Lakeshore und des Outer Drive. Das Wetter erinnerte Cindy wieder an den Flughafen. Vor ein paar Minuten hatte sie einen festen Entschluß gefaßt: sie würde noch hinausfahren, später am Abend; jetzt war es noch zu früh — nicht einmal halb zehn —, und es war noch reichlich Zeit — für alles.
Ein Portier verließ seinen geschützten Platz hinter der Tür und tippte an seine Mütze. »Taxi, Ma'am?«
»Nein, danke.«
In diesem Augenblick gingen in einem Wagen auf dem Parkplatz die Scheinwerfer an. Der Wagen fuhr an, geriet einmal auf dem lockeren Schnee ins Rutschen und fuhr dann auf den Eingang zu, vor dem Cindy stand. Der Wagen war ein mehrere Modelle alter Chevrolet. Sie sah, daß Derek Eden am Steuer saß.
Der Portier öffnete die Wagentür, und Cindy stieg ein. Als die Tür ins Schloß klappte, sagte Derek Eden: »Tut mir leid, daß der Wagen so kalt ist. Ich mußte die Zeitung anrufen und dann ein paar Abmachungen für uns treffen. Ich bin gerade eben vor Ihnen gekommen.«
Cindy schauderte und zog ihren Mantel noch fester um sich. »Egal, wo wir hinfahren. Ich hoffe nur, daß es warm ist.«
Derek Eden griff nach ihrer Hand. Da Cindys Hand auf ihrem Knie lag, umfaßte er das ebenfalls. Einen Moment spürte sie, wie seine Finger sich regten, dann legte er seine Hand wieder aufs Lenkrad. Er sagte verhalten: »Sie werden warm werden. Das verspreche ich Ihnen.«
7
Fünfundvierzig Minuten vor dem planmäßigen Abflug des Flugs Zwei der Trans America — The Golden Argosy, unter dem Kommando von Kapitän Demerest um 22 Uhr — waren die letzten Vorbereitungen für den fünftausend Meilen weiten Nonstopflug nach Rom in vollem Gange. Die grundlegenden Vorbereitungen liefen schon seit Monaten, Wochen und Tagen, weitere, unmittelbare waren während der letzten vierundzwanzig Stunden fortgesetzt worden.
Der Abflug einer Verkehrsmaschine von einem großen Flughafen gleicht einem Fluß, der ins Meer mündet. Ehe er seine Mündung erreicht, wird der Fluß von Nebengewässern gespeist, deren Ursprünge zeitlich und räumlich weit entfernt liegen und in die ihrerseits während ihres Laufs größere oder kleinere Zuflüsse einmünden. Schließlich bildet der Fluß selbst an seiner Mündung die Summe von allem, was in ihn eingeströmt ist. In die Sprache der Luftfahrt übertragen bedeutet das: Der ins Meer mündende Fluß gleicht einem Verkehrsflugzeug im Augenblick des Starts.
Die Maschine, die für Flug Zwei eingesetzt wurde, war eine Boeing 707-320B Intercontinental Jetliner mit der Registernummer N-731-TA. Sie wurde von vier Pratt-&-Whitney-Turbofan-Düsenaggregaten angetrieben, die ihr eine Reisegeschwindigkeit von 605 Stundenmeilen verliehen. Die Reichweite der Maschine betrug bei Höchstgewicht sechstausend Meilen, das entspricht in gerader Linie der Entfernung zwischen Island und Hongkong. Sie beförderte 199 Passagiere und nahm 25 000 amerikanische Gallonen Treibstoff auf — genügend, um ein mittelgroßes Schwimmbecken zu füllen.
Die Kosten der Maschine hatten für die Trans America Airlines sechseinhalb Millionen Dollar betragen.
Vorgestern war die N-731-TA von Düsseldorf nach Lincoln International Airport herübergeflogen, und zwei Stunden vor der Ankunft war einer der Motoren zu heiß geworden. Aus Vorsicht hatte der Kapitän befohlen, den Motor abzustellen. Keiner der Passagiere hatte bemerkt, daß die Maschine mit nur drei statt vier Motoren flog. Im Notfall hätte die Maschine auch mit nur einem Motor fliegen können. Sie kam nicht einmal später an.
Der Wartungsdienst der Trans America wurde jedoch über Funk benachrichtigt. Deshalb wartete eine Gruppe Mechaniker auf die Maschine und brachte sie sofort in einen Hangar, sobald Passagiere und Frachtgut ausgeladen worden waren. Noch während das Flugzeug zum Hangar rollte, waren bereits Spezialisten auf der Suche nach der Ursache der Störung, die sie auch bald herausfanden.
Eine pneumatische Leitung — ein Rohr aus nichtrostendem Stahl, das um den Motor herumführt — war unterwegs rissig geworden und gebrochen. Vorschrift war, den Motor sofort auszuwechseln. Das war verhältnismäßig einfach. Größere Schwierigkeiten bereitete die Tatsache, daß für einige Minuten, ehe der Motor abgestellt worden war, außerordentlich stark erhitzte Luft in das umhüllende Gehäuse des Motors eingedrungen sein mußte. Es bestand die Möglichkeit, daß durch die Hitze die einhundertacht Kabelpaare der elektrischen Anlage des Flugzeugs beschädigt worden waren.
Eine genaue Untersuchung der Kabel ergab, daß zwar einige der Kabel heiß geworden waren, aber dem Anschein nach keines einen Schaden davongetragen hatte. Bei einem ähnlich gearteten Vorfall in einem Auto, einem Bus oder einem Lastwagen wäre das Fahrzeug ohne weiteres sofort wieder eingesetzt worden. Aber Fluggesellschaften nahmen dieses Risiko nicht auf sich. Es wurde entschieden, daß sämtliche einhundertundacht Kabelpaare erneuert werden mußten.
Der Austausch war eine Arbeit, die hochbefähigte Spezialisten erforderte, und sie war mühsam und anstrengend, weil in dem beengten Raum des Motorgehäuses nur zwei Mann gleichzeitig arbeiten konnten. Hinzu kam, daß jedes Kabelpaar genau bezeichnet und dann sorgfältig an Stecker angeschlossen werden mußte. Es wurde ein Plan für eine ununterbrochene Tag- und Nachtarbeit aufgestellt, bei der mehrere Teams von Elektrikern sich gegenseitig ablösten.
Das Ganze würde die Trans America Tausende von Dollar für Facharbeiterlöhne und Einnahmeverluste kosten, während das gro- ße Flugzeug unproduktiv an den Boden gefesselt war. Der Verlust wurde aber stillschweigend hingenommen, da alle Fluggesellschaften sich im Interesse der Aufrechterhaltung hoher Nonnen für die Betriebssicherheit mit solchen Einbußen abfanden.
Die Boeing 707-N-731-TA, die vor dem Flug nach Rom zur Westküste und zurück hätte fliegen sollen, wurde aus dem Verkehr gezogen. Die Operationsabteilung wurde benachrichtigt und in aller Eile die Einsatzpläne abgeändert, um die entstandene Lücke zu überbrücken. Der Zwischenflug wurde abgesagt, und mehrere Dutzend Passagiere wurden auf konkurrierende Fluglinien überschrieben. Wenn es um Düsenmaschinen im Wert von mehreren Millionen ging, konnte es sich keine Gesellschaft leisten, Flugzeuge als Einsatzreserve bereitzuhalten.
Die Operationsabteilung drängte die Wartungsabteilung jedoch, die 707 für den Flug nach Rom wieder einsatzbereit zu machen, das war sechsunddreißig Stunden vor dem planmäßigen Abflug. Ein Vizepräsident der Operationsabteilung rief aus New York persönlich den Leiter des Wartungsdienstes der Trans America am Einsatzflughafen an und bekam zu hören: »Wir werden alles tun, was wir können, um die Maschine rechtzeitig fertig zu haben.« Ein erstklassiger Werkmeister und eine Spitzenmannschaft von Mechanikern und Elektrikern war schon bei der Arbeit. Sie alle wußten, wie wichtig es war, mit der Arbeit schnell fertig zu werden. Eine zweite Mannschaft, als Ablösung für die Nachtstunden, wurde zusammengeholt. Beide Mannschaften sollten Überstunden leisten, bis die Arbeit beendet war.
Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Ansicht nehmen Flugzeugmechaniker ein lebhaftes Interesse am Betriebseinsatz der Maschinen, die sie warten. Nach einer komplizierten oder dringenden Arbeit, wie der vorliegenden, verfolgen sie interessiert die Leistungen einer bestimmten Maschine, um zu erfahren, wie sich die von ihnen geleistete Arbeit bewährt hat. Es erfüllt sie mit Befriedigung, wenn das Flugzeug gut funktionierte, wie es gewöhnlich der Fall ist. Monate später noch konnten sie zueinander sagen, wenn sie die Maschine nach einer Landung anrollen sahen: »Da ist ja die alte 842. Erinnerst du dich noch — damals — und die Mühe, die wir mit ihr hatten. Anscheinend haben wir sie hingekriegt.«
Während der anderthalb kritischen Tage nach der Entdeckung der Störung an der N-731-TA wurde die Arbeit, die ihrer Natur nach zwar nur langsam vonstatten gehen konnte, so schnell wie möglich ausgeführt.
Schließlich wurde drei Stunden vor der planmäßigen Startzeit das letzte der über hundert Kabelpaare angeschlossen. Eine weitere Stunde nahm die Montage der Motorverkleidung und ein Probelauf des Motors auf dem Boden in Anspruch. Dann war noch ein Flugtest erforderlich, ehe die Maschine als einsatzbereit übernommen werden konnte. Um diese Zeit lag die dringliche Anfrage der Operationsabteilung beim Wartungsdienst vor: Wird N-731-TA für den Flug Zwei rechtzeitig einsatzbereit sein oder nicht? Wenn nicht, solle der Wartungsdienst das, verdammt noch mal, eindeutig erklären, damit der Flugscheinschalterdienst über eine möglicherweise große Verzögerung informiert wurde und die Passagiere rechtzeitig benachrichtigte, ehe sie von zu Hause wegfuhren.
Der Leiter des Wartungsdienstes hielt die Daumen und klopfte auf Holz, als er erwiderte, wenn keine unvorhergesehenen Komplikationen bei dem Probeflug einträten, würde die Maschine rechtzeitig verfügbar sein.
So war es denn auch, wenn auch nur gerade eben noch. Der Chefpilot der Trans America auf Lincoln International, der sich speziell für diesen Zweck bereitgehalten hatte, führte den Probeflug durch und stieß durch die Sturmzone nach oben in ruhigere Höhen hinauf. Nach seiner Rückkehr berichtete er: »Ihr hier unten werdet es zwar kaum glauben, aber der Mond ist noch da.« Dann bescheinigte er der N-731-TA volle Flugtauglichkeit. Piloten im Verwaltungsdienst übernahmen derartige Aufgaben sehr gern, denn das half ihnen, die erforderlichen Flugstunden zu sammeln, ohne daß sie sich allzuweit von ihren Schreibtischen entfernen mußten.
Nachdem der Chefpilot gelandet war, blieb gerade noch so viel Zeit übrig, daß er die Maschine direkt zu Ausgang 47 des Flughafengebäudes rollen ließ, wo sie als Flug Zwei — The Golden Ar-gosy — abgefertigt werden sollte.
Auf diese Weise hatte der Wartungsdienst es wieder einmal geschafft — und es war nicht gepfuscht worden, um Zeit zu sparen. Sobald das Flugzeug vor dem Ausgang stand, fielen Scharen von Arbeitern darüber her und schwärmten wie nächtliche Gespenster in der Maschine und um sie herum.
Eins der wichtigsten Güter, die an Bord genommen wurden, war die Verpflegung. Fünfundsiebzig Minuten vor der Startzeit hatte die Abflugkontrolle bei der Vertragsküche der Gesellschaft angerufen und das Essen für den Flug, der Zahl der erwarteten Passagiere entsprechend, bestellt. Heute abend würden im Erste-Klasse-Abteil bei Flug Zwei nur zwei Plätze unbesetzt bleiben; die Touristenklasse würde zu drei Vierteln gefüllt sein. Der Ersten Klasse wurden wie üblich sechs zusätzliche Portionen zugebilligt; für die Touristenklasse gab es die gleiche Anzahl Portionen wie Passagiere. Daher konnte ein Passagier Erster Klasse eine zusätzliche Mahlzeit erhalten, wenn er sie verlangte; ein Passagier der Touristenklasse aber nicht.
Doch trotz der genauen Zählung bekam auch ein Fluggast, der erst in letzter Minute dazukam, eine Mahlzeit. Reserveportionen — einschließlich koscherer Speisen — standen in Behältern in der Nähe der Ausgänge zur Verfügung. Wenn ein unerwarteter Fluggast an Bord kam, während die Ausgänge schon geschlossen wurden, wurde noch ein Tablett mit seiner Verpflegung gleichzeitig mit ihm in die Maschine gebracht.
Auch die Getränke, für die eine von der Ersten Stewardess unterschriebene Empfangsbescheinigung verlangt wurde, kamen an Bord. Passagiere Erster Klasse erhielten die Getränke gratis; Passagiere der Touristenklasse bezahlten für den Drink einen Dollar oder den Gegenwert in anderen Währungen, wenn sie sich nicht eine kleine Information für Eingeweihte zunutze machten. Die Information bestand darin, daß den Stewardessen so gut wie kein Wechselgeld, manchmal überhaupt keins, ausgehändigt wurde, und wenn eine Stewardess nicht herausgeben konnte, hatte sie die Anweisung, dem oder der Reisenden das Getränk umsonst zu überlassen. Mancher regelmäßig Reisende hat in der Touristenklasse jahrelang kostenlos getrunken, nur weil er beim Bezahlen eine Fünfzig- oder Zwanzigdollarnote anbot und hartnäckig behauptete, er habe kein kleineres Geld.
Zur gleichen Zeit, während Verpflegung und Getränke an Bord kamen, wurde das übrige bewegliche Inventar der Maschine überprüft und ergänzt. Es umfaßte einige hundert verschiedene Posten, die von Windeln über Decken, Kissen, Tüten für Luftkranke und einer Gideonbibel zu Einrichtungsstücken wie »Tablett zum Ge-tränkeservieren, für acht Gläser, Größe: 5« reichten. Alle diese Gegenstände konnten ersetzt werden. Nach Beendigung eines Flugs machten sich die Gesellschaften nie die Mühe, das Inventar zu überprüfen. Was fehlte, wurde ohne weitere Fragen ergänzt, und deshalb wurden Passagiere, die irgend etwas unter dem Arm mitgehen ließen, nur selten angehalten.
Zu der gelieferten Ausstattung gehörten auch Zeitschriften und Zeitungen. Zeitungen wurden im allgemeinen auf dem Flug verteilt — mit einer Ausnahme. Bei der Trans America galt die Anweisung: Wenn eine Zeitung auf der ersten Seite über eine Flugzeugkatastrophe berichtete, wurde sie nicht an Bord der Maschine gelassen, sondern weggeworfen. Die gleiche Bestimmung bestand bei den meisten anderen Gesellschaften.
Für Flug Zwei standen heute abend genug Zeitungen zur Verfügung. Die wichtigste Nachricht befaßte sich mit dem Wetter — den Auswirkungen des dreitägigen Schneesturms auf den gesamten Mittelwesten.
Nachdem sich jetzt die Passagiere an den Schaltern einfanden, begann auch Gepäck an Bord zu kommen. Nachdem ein Passagier seinen Koffer bei der Gepäckannahme hatte verschwinden sehen, wurde der Koffer über eine Reihe von Transportbändern in einen Raum tief unter den Ausgangstoren gebracht, den das für Gepäck zuständige Personal unter sich »die Löwengrube« nannte. Diesen Namen hatte er erworben, weil — wie die Gepäckleute nach mehreren Gläsern vertraulich preisgaben — nur die Tapferen oder Naiven zuließen, daß ein Koffer, an dem ihnen gelegen war, dorthin gelangte. Mancher Koffer erreichte — wie leidgeprüfte Besitzer bezeugen konnten — die Löwengrube und ward nie wieder gesehen.
In dem Raum kontrollierte ein diensthabender Angestellter jeden ankommenden Koffer. Dem Anhänger mit dem Bestimmungsort entsprechend betätigte er dann einen Hebel an einer Schalttafel, und einen Augenblick später reckte sich ein mechanischer Arm aus, der den Koffer ergriff und ihn neben anderen für den gleichen Flug abstellte. Von diesem Augenblick an beförderten andere, eine ganze Mannschaft, die Koffer weiter zu den richtigen Flugzeugen.
Es war ein ausgezeichnetes System — wenn es funktionierte. Unglücklicherweise tat es gerade das recht oft nicht.
Die Gepäckbeförderung war — das gaben die Fluggesellschaften vertraulich zu — die unbefriedigendste Seite im Flugverkehr. In einer Zeit, in der die menschliche Erfindungsgabe eine Raumkapsel von der Größe eines Hausboots in den Weltraum befördern konnte, war Tatsache, daß ein Passagier sich nicht darauf verlassen konnte, daß sein Koffer zuverlässig in Pine Bluff, Arkansas, oder Minneapolis-St. Paul und gar noch zur gleichen Zeit wie der Reisende selbst eintreffen werde. Eine erstaunliche Menge von Fluggepäck — von hundert Koffern mindestens einer — wurde an einen falschen Bestimmungsort gebracht, kam verzögert an oder ging ganz und gar verloren. Direktoren der Fluggesellschaften wiesen wehklagend auf die vielen Möglichkeiten für menschliches Versagen bei der Gepäckbeförderung hin. Rationalisierungsfachleute überprüften in regelmäßigen Abständen das System der Gepäckbehandlung bei den Fluggesellschaften, und in regelmäßigen Abständen wurde es verbessert. Doch noch keiner hatte ein System entwickelt, das unfehlbar war oder dem wenigstens nahekam. Infolgedessen beschäftigten alle Fluggesellschaften auf sämtlichen Flughäfen Personal, dessen ausschließliche Aufgabe darin bestand, nach vermißtem Gepäck zu forschen. Es kam nur selten vor, daß diese Leute arbeitslos waren.
Erfahrene und durch Schaden klug gewordene Reisende gaben sich die größte Mühe, sich selbst davon zu überzeugen, daß die Anhänger, die an den Schaltern der Fluggesellschaften an ihrem Gepäck befestigt wurden, den richtigen Bestimmungsort angaben. Oft war das nicht der Fall. Überraschend oft wurden in der Eile falsche Anhänger angebracht und mußten ausgetauscht werden, wenn auf den Irrtum hingewiesen wurde. Selbst dann konnte man, sobald der Koffer außer Sicht kam, nicht das Gefühl unterdrücken, sich auf ein Lotteriespiel eingelassen zu haben, und dem Reisenden blieb nichts anderes übrig, als zu beten, daß er eines Tages irgendwo wieder zu seinem Koffer kommen möge.
An diesem Abend war auf Lincoln International das Gepäck für Flug Zwei bereits unvollständig, obwohl das noch niemand ahnte. Zwei Koffer, die nach Rom bestimmt waren, wurden in diesem Augenblick an Bord einer Maschine nach Milwaukee verladen.
In einem stetigen Strom wurde jetzt Luftfracht für Flug Zwei verladen. Gleichfalls Postsäcke. An diesem Abend waren es viereinhalbtausend Kilo Post in farbigen Nylonsäcken; einige für Städte in Italien: Mailand, Palermo, Vatikanstadt, Pisa, Neapel, Rom; andere waren zur Weiterbeförderung in fernere Gegenden bestimmt, deren Namen an Marco Polo erinnerten: Sansibar, Khartum, Mom-bassa, Jerusalem, Athen, Rhodos, Kalkutta . . .
Die ungewöhnlich hohe Zuladung an Post war für die Trans America ein Extraverdienst. Einer Maschine der British Overseas Airways Corporation, die flugplanmäßig kurz vor Flug Zwei der Trans America starten sollte, war gerade eine Verspätung von drei Stunden bekanntgegeben worden. Der Postinspektor auf der Rampe, der Flugpläne und Verzögerungen ständig scharf überwachte, hatte sofort eine Verlegung der Postbeförderung von der BOAC auf die Trans America angeordnet. Die britische Gesellschaft mochte sich darüber ärgern, denn die Postbeförderung brachte hohe Gewinne ein und der Konkurrenzkampf um die Postbeförderung war hart. Alle Gesellschaften sandten uniformierte Vertreter in die Postämter auf den Flughäfen, deren Aufgabe darin bestand, den Durchlauf an Post im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, daß ihre Gesellschaft »einen gerechten Anteil« — oder mehr, wenn es ging — an der Beförderung der ausgehenden Post erhielt. Die Vorsteher der Postämter hatten unter den Vertretern der Fluggesellschaften ihre Freunde, die sie begünstigten und denen sie Beförderungsaufträge zukommen ließen. Aber wenn Startverzögerungen auftraten, galt Freundschaft nichts mehr. In solchen Augenblicken zählte nur ein unerbittliches Gesetz: Die Post wurde auf dem schnellsten Weg befördert.
In einem der unteren Stockwerke des Flughafengebäudes und nur wenige hundert Schritte von der Boeing 707 entfernt, die jetzt Flug Zwei war, befand sich die Einsatzzentrale der Trans America (Lincoln International). Die Zentrale bestand aus einer geschäftigen, dichtgedrängten, geräuschvollen Ansammlung von Menschen, Schreibtischen, Telefonen, Fernschreibern, gesellschaftseigenen Fernsehanlagen und Anschlagtafeln. Das dort arbeitende Personal war für die Überwachung der Vorbereitungen für Flug Zwei und alle anderen Flüge der Trans America verantwortlich. An Tagen wie heute, an denen infolge des Schneesturms sämtliche Flugpläne chaotisch durcheinandergeraten waren, bildete die Zentrale den reinsten Hexenkessel, und ihr Anblick glich der Lokalredaktion einer Zeitung aus alten Zeiten, wie Hollywood sie gern heute noch zeigt.
In einer Ecke der Zentrale befand sich die Verladekontrollstelle. Die Platte des Schreibtisches war unter einem Wust von Papieren begraben, der Schreibtisch selbst war von einem jungen bärtigen Mann mit dem unwahrscheinlichen Namen Fred Phirmphoot besetzt. Seine Freizeit vertrieb sich Phirmphoot als Amateurmaler abstrakter Bilder. Kürzlich war er dazu übergegangen Farben auf die Leinwand zu schleudern und dann mit einem Kinderfahrrad darauf herumzufahren. Er stand in dem Ruf, an den Wochenenden LSD zu nehmen und litt außerdem unter starkem Körpergeruch. Das letztere war für seine Kollegen in der Einsatzzentrale, in der es auch heute abend trotz der bitteren Kälte draußen heiß und stickig war, ein ständiger Stein des Anstoßes, und mehr als einmal hatte Fred Phirmphoot sich anhören müssen, er solle doch öfters baden.
Aber paradoxerweise besaß Phirmphoot einen scharfen mathematischen Verstand, und seine Vorgesetzten schworen, er sei einer der besten Verladekontrolleure in der ganzen Luftfahrt. Im Augenblick meisterte er gerade die Beladung für Flug Zwei.
Ein Flugzeug, erklärte Fred Phirmphoot gelegentlich seinen gelangweilten Beatfreunden, »das ist ein Vogel, der hin und her taumelt, Mann. Und wenn du nicht aufpaßt, Mann, dann taumelt so ein Vogel hin oder her, vielleicht sogar beides. Aber ich, mein Junge, ich sorge schon dafür, daß das nicht passiert.«
Der Trick bestand darin, das Gewicht richtig im ganzen Flugzeug zu verteilen, damit sein Hebelpunkt und sein Schwerpunkt an vorausbestimmten Stellen lagen. Dann war die Maschine ausbalanciert und lag stabil in der Luft. Fred Phirmphoots Aufgabe bestand darin, zu berechnen, wieviel Last an Bord von Flug Zwei (und anderer Flüge) untergebracht werden konnte und an welcher Stelle. Kein Postsack, kein einzelnes Stück Frachtgut kam ohne seine Anweisung an irgendeine Stelle im Frachtraum des Flugzeugs. Gleichzeitig war er darum bemüht, soviel wie möglich in die Maschine hineinzupacken. »Von Illinois nach Rom«, konnte man von Fred häufig hören, »Mann, das zieht sich hin wie Spaghetti. Das läßt sich nicht hinkleckern wie Marmelade.«
Er arbeitete mit Tabellen, Ladelisten, Aufstellungen, einer Addiermaschine, im letzten Augenblick eingegangenen Mitteilungen, einem Sprechfunkgerät, drei Telefonen und einem unfehlbaren Instinkt.
Der Rampeninspektor hatte gerade über Sprechfunk um Erlaubnis gebeten, weitere hundertfünfzig Kilo Post im vorderen Laderaum zu verstauen.
»Kann gemacht werden«, stimmte Fred Phirmphoot zu. Er blätterte in Papieren, verglich mit der Passagierliste, die in den vergangenen zwei Stunden länger geworden war. Fluggesellschaften setzten für die Flugreisenden ein Durchschnittsgewicht ein: Hundertsiebzig Pfund im Winter und zehn Pfund weniger im Sommer. Der Durchschnitt erwies sich immer als richtig, mit einer Ausnahme: wenn eine Fußballmannschaft mitflog. Die kräftig gebauten Fußballspieler warfen jede Berechnung über den Haufen, und die Verladekontrolleure berichtigten das Gewicht nach eigener Schätzung; die schwankte je nachdem, wie gut er die Mannschaft kannte. Baseball- und Hockeyspieler stellten keine Probleme, denn da sie kleiner waren, fügten sie sich dem allgemeinen Durchschnitt ein. Die Passagierliste für heute abend wies aus, daß Flug Zwei nur normale Reisende zu befördern hatte.
»Das mit der Post geht in Ordnung, Junge«, antwortete Fred Phirmphoot über Sprechfunk, »aber ich will diesen Sarg da in das hintere Abteil geschafft haben; dem Wiegezettel nach muß der Tote ein Fettwanst gewesen sein. Dann ist da noch der verpackte Generator von Westinghouse. Bringt den in der Mitte unter. Die übrige Fracht könnt ihr darum herumpacken.«
Zu Phirmphoots Problemen war gerade noch die Anordnung der Besatzung von Flug Zwei hinzugekommen, zusätzlich tausend Kilo Brennstoff für die Rollzeit auf dem Boden über die normalen Reserven hinaus zu tanken. Auf dem Flugfeld draußen wurden heute abend alle Maschinen durch lange Verzögerungen mit laufenden Motoren vor dem Start aufgehalten. Eine Düsenmaschine, die auf dem Boden operierte, soff Brennstoff wie ein durstiger Elefant, und die Kapitäne Demerest und Harris wollten keinen kostbaren Treibstoff vergeuden, den sie auf dem Flug nach Rom vielleicht brauchen würden. Gleichzeitig mußte Fred Phirmphoot errechnen, daß der ganze zusätzliche Treibstoff, der jetzt in die Flügeltanks der NC-731-TA gepumpt wurde, vor dem Start vielleicht nicht verbraucht wurde; deshalb mußte ein gewisser Teil dem Gesamtgewicht beim Start zugeschlagen werden. Die Frage war nur: wieviel?
Für das Gesamtgewicht beim Start bestand eine Sicherheitsgrenze, doch jede Fluggesellschaft hätte das Ziel, auf jedem Flug soviel Ladung wie möglich mitzuführen, um den Maximalgewinn zu erzielen. Fred Phirmphoots schmutzige Fingernägel tanzten über die Addiermaschine und machten eine hastige Berechnung. Er brütete über dem Ergebnis, wühlte in seinem Bart, und sein Körpergeruch war noch unerträglicher als sonst.
Die Entscheidung für den zusätzlichen Treibstoff war eine der vielen Entscheidungen, die Kapitän Vernon Demerest in der letzten halben Stunde getroffen hatte. Oder richtiger, er hatte Kapitän Anson Harris die Entscheidung treffen lassen, und dann hatte Demerest sie als prüfender Kapitän mit der letzten Verantwortung gebilligt. Vernon Demerest genoß seine passive Rolle heute abend —jemand anderen zu haben, der den größten Teil der Arbeit leisten mußte, aber dennoch nichts von der eigenen Autorität einzubüßen. Bisher hatte Demerest noch nichts an irgendeiner der Entscheidungen von Anson Harris auszusetzen gehabt. Das war nicht überraschend, denn die Erfahrung und das Dienstalter von Harris waren fast ebenso groß wie die von Demerest.
Harris war mürrisch und schlecht gelaunt gewesen, als sie sich an diesem Abend zum zweiten Male im Mannschaftsraum des Hangars der Trans America begegneten. Amüsiert hatte Demerest festgestellt, daß Harris ein vorschriftsmäßiges Hemd trug, obwohl es ihm etwas zu klein war, und hin und wieder hob Harris die Hand zum Hals, um den Kragen zu lockern. Kapitän Harris war es gelungen, sein Hemd mit einem hilfsbereiten Ersten Offizier zu tauschen, der die Geschichte später eilfertig seinem eigenen Kapitän weitererzählte.
Aber nach wenigen Minuten ließ Harris' Spannung nach. Als einem bis zu den buschigen, angegrauten Augenbrauen durch und durch erfahrenen Fachmann war ihm bewußt, daß keine Flugbesatzung erfolgreich zusammenarbeiten konnte, wenn im Cockpit eine feindselige Stimmung herrschte.
Im Mannschaftsraum sahen beide Kapitäne in ihre Postfächer, und wie üblich enthielten sie einen Packen Post, darunter Rundschreiben ihrer Fluggesellschaft, die sie noch vor dem Start heute abend lesen mußten. Das übrige — Mitteilungen vom Chefpiloten, der ärztlichen Beratungsstelle, der Forschungsabteilung, dem kartographischen Büro und anderes — würden sie mit nach Hause nehmen, um es später anzusehen.
Während Kapitän Harris zwei Ergänzungen in sein Flughandbuch einheftete — das Kapitän Demerest zu überprüfen beabsichtigte, wie er angekündigt hatte —, studierte Vernon Demerest die Anschlagtafel mit dem Einsatzplan für die Besatzungen.
Der Einsatzplan wurde monatlich aufgestellt. Er nannte die Daten, an denen Kapitäne und Erste sowie Zweite Offiziere zu fliegen hatten und auf welchen Routen. Eine ähnliche Anschlagtafel gab es für die Stewardessen in deren Aufenthaltsraum weiter unten am Gang.
Jeder Pilot reichte für jeden Monat seine Wünsche für die Routen ein, die er fliegen wollte, und die mit dem höchsten Dienstalter hatten den Vorrang. Demerest bekam immer unweigerlich, was er sich wünschte; Gwen Meighen gleichfalls, deren Dienstalter unter den Stewardessen ihr einen gleich hohen Rang verlieh. Dieses Wunschsystem ermöglichte es Piloten und Stewardessen, Pläne für gemeinsame »Layovers« zu machen, wie Demerest und Gwen es im voraus für den heutigen Tag getan hatten.
Anson Harris war mit der hastigen Ergänzung seines Flughandbuchs fertig.
Vernon Demerest grinste. »Ich nehme an, daß Ihr Handbuch völlig in Ordnung ist, Anson. Ich habe es mir überlegt. Ich werde mir die Nachprüfung sparen.«
Kapitän Harris zeigte keinerlei Reaktion, außer einer leichten Spannung seiner Mundwinkel.
Der Zweite Offizier für den Flug, ein junger Zweistreifer namens Cy Jordan, war zu ihnen getreten. Jordan war Flugingenieur, aber auch ausgebildeter Pilot. Er war hager und eckig, hatte ein trauriges, hohlwangiges Gesicht und sah immer so aus, als müsse er sich einmal gründlich sattessen. Die Stewardessen ließen ihm immer Extraportionen zukommen, aber das schien nichts zu helfen.
Der Erste Offizier, der im allgemeinen als Demerests Stellvertreter mit ihm flog, hatte den Befehl erhalten, zu Hause zu bleiben, wenn er auch nach dem Tarifvertrag mit dem Pilotenverband die volle Bezahlung für den Hin- und Rückflug nach Rom erhielt. In Abwesenheit des Ersten Offiziers würde Demerest einen Teil von dessen Pflichten übernehmen, Jordan den Rest. Anson Harris würde die meiste Zeit die Maschine steuern.
»Also los«, sagte Demerest zu den beiden. »Gehen wir.«
Der Mannschaftswagen, schneebedeckt und mit innen beschlagenen Scheiben, wartete vor dem Tor des Hangars. Die fünf Stewardessen für Flug Zwei saßen bereits in dem Kleinbus und grüßten im Chor: »Guten Abend, Herr Kapitän — guten Abend, Herr Kapitän«, als Demerest und Harris, gefolgt von Jordan, einstiegen. Ein Windstoß und Schneeflocken begleiteten die Piloten. Der Busfahrer schloß hastig die Tür.
»Halle, ihr Mädchen!« Vernon Demerest winkte vergnügt und blinzelte Gwen zu. Etwas förmlicher ließ Kapitän Harris ein »Guten Abend« folgen.
Der Sturm ließ den Bus schwanken, während der Fahrer sich behutsam seinen Weg über die gefegte Zufahrtsstraße suchte, an deren beiden Seiten der Schnee in hohen Bänken aufgehäuft war. Der Vorfall mit dem Verpflegungswagen der United Airlines hatte sich auf dem Flughafen herumgesprochen, und infolgedessen waren alle Fahrer sehr vorsichtig. Als der Mannschaftswagen sich seinem Ziel näherte, wurden ihm die hellen Lichter des Flughafengebäudes zum Richtpunkt in der Dunkelheit. Weit draußen auf dem Flugfeld startete und landete ein stetiger Strom von Flugzeugen.
Der Bus hielt, und die Besatzung kletterte hinaus und suchte eilends Schutz hinter der nächsten Tür. Sie befand sich jetzt im untersten Stockwerk des Flügels der Trans America im Flughafengebäude. Die Ausgänge für die Passagiere — einschließlich Ausgang 47, vor dem die Maschine für Flug Zwei startbereit gemacht wurde —, lagen höher.
Die Stewardessen gingen voraus, um ihre eigenen Vorbereitungen für den Start zu beenden, während die drei Piloten die interkontinentale Einsatzzentrale der Trans America aufsuchten.
Wie immer hatte der Einsatzleiter einen Ordner mit den vielfältigen Informationen vorbereitet, die die Flugzeugbesatzung brauchte. Er breitete ihn auf der Barriere aus, und die drei Piloten beugten sich über die Aufzeichnungen. Hinter der Barriere war ein halbes Dutzend Leute dabei, weltweite Informationen über Flugrouten, Verhältnisse auf Flughäfen und das Wetter zusammenzustellen, die andere internationale Flüge der Trans America in dieser Nacht noch benötigen würden. Eine ähnliche Einsatzzentrale für Flüge innerhalb der Vereinigten Staaten lag weiter unten am gleichen Gang.
Das war der Augenblick, in dem Kapitän Harris mit seinem Pfeifenstiel auf den vorläufigen Lagebericht klopfte und zusätzlich tausend Kilo Treibstoff für den Weg über die Rollbahnen zum Start verlangte. Er sah den Zweiten Offizier Jordan, der Kurven über den Treibstoffverbrauch prüfte, an, und dann Demerest. Beide nickten zustimmend, und der Einsatzleiter füllte eine Anweisung aus, die an die Treibstoffkontrolle an der Rampe weitergegeben wurde.
Der Meteorologe der Gesellschaft trat zu den vier Männern an der Barriere. Er war ein blasser junger Mann mit dem Gesicht eines Gelehrten, trug eine randlose Brille und sah aus, als ob er sich persönlich nur selten unwirtlichem Wetter aussetzte.
Demerest fragte: »Was haben uns die Computer heute abend beschert, John? Hoffentlich etwas Besseres als das hier.«
In zunehmendem Maß wurden Wettervoraussagen und Flugpläne der Fluggesellschaften von Computern ausgespuckt. Die Trans America und andere Gesellschaften bewahrten aber noch das Moment des Persönlichen durch Menschen, die sie zwischen die Computer und die Flugbesatzungen einschalteten, aber es wurde bereits vorausgesagt, daß die menschlichen Wetterfrösche bald verschwinden würden.
Der Meteorologe schüttelte den Kopf, während er mehrere Wetterkarten ausbreitete. »Besseres haben Sie erst mitten über dem Atlantik zu erwarten, fürchte ich. Wir können hier bald mit besserem Wetter rechnen, aber da Sie nach Osten fliegen, holen Sie das ein, was wir hinter uns gebracht haben. Der Sturm, in dem wir uns jetzt befinden, erstreckt sich von hier bis nach Neufundland und noch darüber hinaus.« Mit der Spitze seines Bleistifts zog er das breite Gebiet des Sturmes nach. »Übrigens, die beiden Flughäfen auf Ihrem Weg, Detroit Metropolitan und Toronto, sind geschlossen worden.«
Der Einsatzleiter warf einen Blick auf ein Fernschreiben, das ihm gerade gereicht worden war. Er mischte sich ein: »Setzen Sie Ottawa dazu. Dort wird auch gerade geschlossen.«
»Jenseits der Atlantikmitte«, sagte der Meteorologe, »sieht alles gut aus. Über ganz Südeuropa verstreut sind Störungen, wie Sie selbst sehen können, aber in Ihrer Höhe sollten die Sie nicht behindern. In Rom ist das Wetter klar und sonnig und wird es für mehrere Tage bleiben.«
Kapitän Demerest beugte sich über die Karte von Südeuropa. »Wie sieht es in Neapel aus?«
Der Meteorologe war überrascht. »Ihr Flug führt doch nicht dorthin.«
»Nein, aber es interessiert mich.«
»Neapel liegt im gleichen Hochdruckgebiet wie Rom. Das Wetter wird gut sein.«
Demerest grinste.
Der junge Meteorologe begann einen Vortrag über Temperaturen, Hoch- und Tiefdruckgebiete und Höhnwinde. Für den Teil des Flugs, der über Kanada führte, empfahl er einen weiter nördlich liegenden Kurs als üblich, um den starken Gegenwinden auszuweichen, auf die man weiter südlich stieß. Die Piloten hörten aufmerksam zu. Ob man sich auf Computer oder menschliche Berechnungen stützte: die Wahl der besten Höhe und des Kurses war wie eine Schachpartie, in der menschlicher Verstand über die Natur triumphieren konnte. Alle Piloten waren in diesen Dingen geschult; das galt auch für die Meteorologen der Fluggesellschaften, die stärker auf die Bedürfnisse der einzelnen Fluglinien eingingen als ihre Kollegen bei den amtlichen Wetterstationen.
»Sobald es Ihnen Ihre Treibstoffladung erlaubt«, sagte der Meteorologe der Trans America, »würde ich Ihnen eine Flughöhe von zehntausend Metern empfehlen.«
Der Zweite Offizier verglich mit seinen Tabellen. Ehe N-731-TA so hoch steigen konnte, mußte sie einen Teil ihrer anfänglich schweren Treibstoffladung verbrauchen.
Nach einigen Augenblicken meldete der Zweite Offizier: »Wir sollten in der Lage sein, zehntausend Meter in der Nähe von Detroit zu erreichen.«
Anson Harris nickte. Sein goldener Kugelschreiber flog über das Papier, als er den Flugplan ausfüllte, den er in wenigen Minuten bei der Flugsicherung einreichen würde. Die Flugsicherung würde ihm dann mitteilen, ob die Flughöhen, um die er nachsuchte, verfügbar waren oder nicht, und welche anderen er haben konnte, falls das nicht der Fall war. Vernon Demerest, der normalerweise seinen Flugplan selbst ausgefüllt hätte, überflog das Formular, als Kapitän Harris fertig war, und unterschrieb es dann.
Wie es schien, gingen alle Vorbereitungen für Flug Zwei gut voran. Trotz des Sturms hatte es den Anschein, als ob The Golden Argosy, der Stolz der Trans America, rechtzeitig starten würde.
Gwen Meighen empfing die drei Piloten, als sie an Bord der Maschine kamen. »Haben Sie es schon gehört?« fragte sie.
»Was gehört?« erwiderte Kapitän Harris.
»Wir starten mit einer Stunde Verspätung. Der Angestellte am Ausgang hat es gerade erfahren.«
»Verdammt!« schimpfte Vernon Demerest. »Verflucht noch mal!«
»Anscheinend sind eine Menge Passagiere noch unterwegs hierher, wurden aber aufgehalten — wahrscheinlich durch den Schnee. Verschiedene haben angerufen, und die Abflugkontrolle hat entschieden, ihnen zusätzlich Zeit einzuräumen.«
»Wird die Verladung auch verschoben?« fragte Kapitän Harris.
»Ja, Herr Kapitän. Der Flug ist noch nicht aufgerufen worden, und es soll erst in einer halben Stunde geschehen.«
Harris hob die Schultern. »Na schön. Was sollen wir uns aufregen?« Er ging auf die Pilotenkanzel zu.
»Ich kann Ihnen allen Kaffee bringen, wenn Sie wünschen«, erbot sich Gwen.
»Ich trinke Kaffee im Flughafen drinnen«, antwortete Vernon Demerest. Er nickte Gwen zu. »Warum kommen Sie nicht mit mir?«
Sie zögerte. »Machen ließe sich das schon.«
»Gehen Sie nur«, sagte Harris. »Eins der anderen Mädchen kann mir meinen bringen, und wir haben noch reichlich Zeit.«
Ein oder zwei Minuten später schritt Gwen neben Vernon Demerest durch den Abflugtrakt der Trans America. Ihre Absätze klapperten, während sie sich bemühte, mit ihm Schritt zu halten. Sie gingen zur Haupthalle des Flughafengebäudes.
Diese Stunde Verzögerung war vielleicht gar nicht so übel, dachte Demerest. Bis zu diesem Augenblick hatte er, mit der wichtigen Aufgabe des Flugs Zwei vor Augen, jeden Gedanken an Gwens Schwangerschaft aus seinem Kopf verbannt. Aber bei Kaffee und einer Zigarette bestand die Möglichkeit, das früher am Abend begonnene Gespräch wieder aufzunehmen. Vielleicht konnte jetzt die Frage, die bisher noch nicht berührt worden war — eine Abtreibung —, aufgeworfen werden.
8
Nervös zündete sich D. O. Guerrero am Rest der vorhergegangenen Zigarette eine neue an. Trotz der Bemühung, seine Hände ruhig zu halten, zitterten sie merklich. Er war aufgeregt, gespannt und voller Angst. Wie schon vorher, als er seine Bombe zusammensetzte, spürte er Schweißperlen auf dem Gesicht und unter seinem Hemd.
Der Grund für seine Erregung war die Zeit — die Zeit, die ihm noch zwischen dem jetzigen Augenblick und dem Start von Flug Zwei blieb. Unerbittlich verrann sie wie der Sand in einem Stundenglas, und viel, allzuviel war von dem Sand bereits verronnen.
Guerrero saß im Bus zum Flughafen. Vor einer halben Stunde war der Bus in die Kennedy-Schnellstraße eingebogen, an einer Stelle, von der aus er unter normalen Umständen noch knapp fünfzehn Minuten bis zum Flughafen gebraucht hätte. Aber der Verkehr auf der Schnellstraße wurde, wie auf allen anderen großen Straßen im Staat, durch den Schneesturm und Verkehrsstauungen stark behindert. Zeitweise kam er ganz zum Erliegen, dann wieder kroch er im Schneckentempo dahin.
Vor der Abfahrt in der Innenstadt waren die etwa zwölf Fahrgäste im Bus, sämtlich für Flug Zwei bestimmt, von der Verspätung ihres Flugs um eine Stunde verständigt worden. Aber bei diesem Tempo sah es so aus, als ob es noch zwei, vielleicht drei Stunden dauern würde, bis sie zum Flughafen kämen.
Auch andere im Bus machten sich Sorgen.
Wie D. O. Guerrero hatten sie sich im Stadtbüro der Trans America gemeldet. Da war noch reichlich Zeit gewesen, aber angesichts der immer größer werdenden Verspätung fragten sie jetzt laut, ob Flug Zwei endlos lange auf sie warten würde.
Der Busfahrer konnte nicht viel Trost spenden. Auf Fragen erklärte er, wenn ein Bus vom Stadtbüro Verspätung hätte, würde gewöhnlich ein Flug so lange zurückgehalten, bis er eingetroffen wäre. Aber wenn die Verhältnisse derart unübersichtlich wurden wie heute, könnte alles passieren. Die Fluggesellschaft könnte annehmen, daß der Bus noch für Stunden aufgehalten würde — was ja sein konnte —, und entscheiden, daß die Maschine abfliegen solle. Auch habe es bei den wenigen Personen im Bus den Anschein, fügte der Fahrer hinzu, als ob die meisten der Passagiere für Flug Zwei bereits auf dem Flughafen seien. Das passiere bei internationalen Flügen oft, erklärte er; Verwandte kämen mit, mit Passagiere zu verabschieden, und brächten sie im Wagen hinaus.
Die Diskussion im Bus ging hin und her, aber D. O. Guerrero, seinen dürren Körper auf dem Sitz zusammengekauert, beteiligte sich nicht daran. Die meisten anderen Passagiere schienen Touristen zu sein, bis auf eine lebhafte italienische Familie — Mann, Frau und mehrere Kinder —, die sich angeregt in ihrer eigenen Sprache unterhielten.
»An Ihrer Stelle, Herrschaften, würde ich mir keine Sorgen machen.« Das hatte der Fahrer vor ein paar Minuten verkündet. »Die Schlange vorn sieht aus, als ob sie sich ein bißchen lockert. Wir können es vielleicht gerade noch schaffen.«
Bis jetzt hatte sich das Tempo des Busses allerdings nicht erhöht.
D. O. Guerrero hatte eine Reihe mit zwei Plätzen für sich allein, drei Reihen hinter dem Fahrer. Der höchst wichtige Aktenkoffer ruhte sicher auf seinen Knien. Er beugte sich vor, wie er es schon ein paarmal getan hatte, und versuchte mit den Augen die Finsternis vor dem Bus zu durchdringen. Alles, was er durch die beiden von den klapsenden Scheibenwischern klargefegten Halbkreise wahrnahm, war eine endlose Reihe von Rücklichtern, deren Spitze im fallenden Schnee verschwand. Trotz seines Schwitzens waren seine bleichen, dünnen Lippen trocken; er feuchtete sie mit der Zunge an.
Es genügte für Guerrero nicht, wenn er es bis zum Flughafen für Flug Zwei gerade noch schaffen würde. Er brauchte mindestens noch zusätzlich zehn bis fünfzehn Minuten, um eine Flugversicherung abzuschließen. Er verfluchte sich selbst deswegen, daß er nicht früher zum Flughafen gefahren war und die Versicherung, die er brauchte, in aller Ruhe abgeschlossen hatte. In seinem ursprünglichen Plan war die Absicht, eine Versicherung erst in letzter Minute abzuschließen und dadurch die Wahrscheinlichkeit, Rückfragen ausgesetzt zu sein, auf ein Minimum zu verringern, als eine gute Idee erschienen. Was er aber nicht vorausgesehen hatte, war, daß es ein derartiger Abend werden würde — obwohl er es, angesichts der Jahreszeit, hätte voraussehen müssen. Das war eben gerade eins der Dinge — das Übersehen eines bedeutenden veränderlichen Faktors —, die D. O. Guerrero bei seinen geschäftlichen Unternehmungen verfolgt und Mal für Mal seine grandiosen Pläne zum Scheitern gebracht hatten. Das Schlimme war, erkannte er, daß er beim Plänemachen sich selbst einredete, es würde alles so ablaufen, wie er hoffte, und deshalb versäumte er, das Unerwartete in Rechnung zu stellen. Genauer gesagt, dachte er verbittert, war er wohl nie fähig gewesen, aus früheren Erfahrungen zu lernen.
Er nahm an, er könne sich nach der Ankunft im Flughafen — vorausgesetzt, Flug Zwei war noch nicht abgegangen — beim Abfertigungsschalter der Trans America melden und dann darauf bestehen, daß ihm noch die Zeit zugestanden wurde, eine Flugversicherung abzuschließen, ehe die Maschine startete. Aber gerade das würde mit sich bringen, was er verzweifelt zu vermeiden wünschte: noch einmal die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wie er es bereits einmal getan hatte — und nur wegen der dümmsten Unterlassung, die er überhaupt begehen konnte.
Er hatte nämlich versäumt, außer dem kleinen dünnen Aktenkoffer mit der Dynamitbombe irgendein weiteres Gepäckstück mitzubringen.
An dem Anmeldeschalter im Stadtbüro hatte der Flugscheinkontrolleur gefragt: »Ist das Ihr Gepäck, Sir?« Er hatte auf eine Reihe Koffer gezeigt, die dem hinter ihm stehenden Mann gehörten.
»Nein.« D. O. Guerrero hatte gezögert und dann das kleine Köf-ferchen vorgewiesen: »Ich — eh — habe sonst nichts weiter.«
Der Kontrolleur hatte die Augenbrauen hochgezogen. »Weiter nichts für einen Flug nach Rom, Sir? Sie reisen wirklich mit leichtem Gepäck.« Dann hatte er auf das Köfferchen gewiesen. »Wünschen Sie das aufzugeben?«
»Nein, danke.« Alles, was Guerrero jetzt noch wollte, war seinen Flugschein, von dem Schalter fortzukommen und sich einen unauffälligen Platz im Flughafenbus zu sichern. Aber der Kontrolleur hatte ihn ein zweitesmal neugierig angesehen, und Guerrero hatte gewußt, daß man sich, von diesem Augenblick an, an ihn erinnern würde. Er hatte sich untilgbar in das Gedächtnis des Kontrolleurs eingegraben — nur, weil er vergessen hatte, ein Gepäckstück mitzubringen, was doch so einfach gewesen wäre. Selbstverständlich hatte er dafür rein instinktiv einen Grund gehabt. D. O. Guerrero wußte ja, im Gegensatz zu anderen, daß Flug Zwei nie seinen Bestimmungsort erreichen würde; deshalb brauchte er auch kein Gepäck. Zur Tarnung hätte er aber Gepäck haben müssen. So aber würde bei der Untersuchung, die unvermeidlich nach dem Verlust der Maschine folgen mußte, sich jemand daran erinnern, daß ein Passagier — eben er — ohne Gepäck an Bord gegangen war, und diese Tatsache zur Sprache bringen! Das würde jeden Verdacht, der gegen D. O. Guerrero bis dahin vielleicht schon bestände, nur noch verstärken.
Aber wenn keine Trümmer gefimden werden, beruhigte er sich selbst, was können sie dann beweisen?
Gar nichts! Die Flugversicherung mußte zahlen.
Kam denn der Bus nie zum Flughafen?
Die Kinder der italienischen Familie tobten lärmend im Mittelgang des Busses hin und her. Ein paar Sitze weiter hinten plapperte die Mutter immer noch auf italienisch mit ihrem Mann; sie hatte ein laut brüllendes Baby im Arm. Weder die Frau noch der Mann schienen das Schreien zu bemerken.
Guerreros Nerven waren gespannt und gereizt. Er hätte das Baby packen und erwürgen und den anderen zubrüllen mögen: »Ruhe! Ruhe!«
Hatten die denn gar kein Gefühl? . . . Wußten die Dummköpfe nicht, daß jetzt nicht die Zeit für albernes Gequatsche war? . . .
Nicht die Zeit, da doch Guerreros ganze Zukunft — wenigstens die seiner Familie — der Erfolg des so mühevoll ausgearbeiteten Plans — alles, alles davon abhing, so zeitig am Flughafen anzukommen, daß er noch etwas Bewegungsfreiheit hatte.
Eins der herumtobenden Kinder, ein Junge von fünf oder sechs Jahren mit einem hübschen, intelligenten Gesicht, stolperte in dem Gang und fiel zur Seite auf den freien Sitz neben D. O. Guerrero. Nach Gleichgewicht suchend, streckte der Junge die Hand aus und stieß gegen den Aktenkoffer auf Guerreros Knien. Der Koffer rutschte zur Seite, und Guerrero griff danach. Es gelang ihm gerade noch, ihn vor dem Fallen zu bewahren, und er wandte sich mit wutverzerrtem Gesicht und zum Zuschlagen erhobener Hand dem Kind zu. Mit erschrockenen Augen blickte der Junge ihn an. Leise sagte er: »Scusi!«
Mühsam beherrschte Guerrero sich. Andere im Bus konnten vielleicht zusehen. Wenn er sich nicht zusammennahm, würde er wieder die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Nach ein paar Worten suchend, die er von Italienern aufgeschnappt hatte, die bei Bauvorhaben für ihn gearbeitet hatten, sagte er schwerfällig: »E troppo ru-morosa.«
Das Kind nickte ernsthaft. »Si.« Es blieb stehen, wo es stand.
»Na schön«, sagte Guerrero. »Das ist alles. Hau ab! Sene vada!«
»Si«, sagte der Junge wieder. Sein Blick war unangenehm fest, und für einen Augenblick ging Guerrero der Gedanke durch den Kopf, daß dieses Kind und noch andere an Bord von Flug Zwei sein würden. Aber das ließ sich nicht ändern. Es hatte keinen Sinn, jetzt sentimental zu werden; nichts mehr konnte ihn von seiner Absicht abbringen. Außerdem, sobald es geschah, sobald er an der Schnur des Aktenkoffers ziehen würde und das Flugzeug zerbarst, war alles schnell vorbei, noch ehe jemand — besonders die Kinder — etwas davon merkte.
Der Junge drehte sich um und ging zu seiner Mutter.
Endlich! — Der Bus fuhr schneller — kam in Fahrt! Wie Guerre-ro durch die Windschutzscheibe sehen konnte, lockerte sich der Verkehr, bewegten sich die Rücklichter vor ihnen schneller. Sie konnten — konnten eben — für ihn rechtzeitig genug den Flughafen erreichen, damit er noch seine Flugversicherung abschließen konnte, ohne unnötige Aufmerksamkeit zu wecken. Aber es würde knapp werden. Er hoffte, daß an dem Versicherungskiosk kein allzu starker Betrieb war.
Er bemerkte, daß die Kinder der italienischen Familie jetzt auf ihren Plätzen saßen, und er gratulierte sich selbst dazu, soeben keine Aufmerksamkeit erregt zu haben. Hätte er das Kind geschlagen, wie es beinahe geschehen wäre, dann hätten die Leute ein großes Wesen darum gemacht. Wenigstens das hatte er vermieden. Ärgerlich war nur, daß er bei der Anmeldung im Büro der Fluggesellschaft so aufgefallen war. Aber wenn er es genau überlegte, konnte dadurch kein nicht wiedergutzumachender Schaden entstanden sein.
Oder womöglich doch?
Eine neue Sorge bedrückte ihn.
Angenommen, der Mann am Schalter, der wegen des fehlenden Gepäcks so überrascht gewesen war, erinnerte sich an den Vorfall, nachdem der Bus abgefahren war. Guerrero wußte, daß er dabei einen zerfahrenen Eindruck gemacht hatte. Angenommen, das wäre diesem Mann aufgefallen und er hätte Verdacht geschöpft? Angenommen, er hätte dann mit irgend jemand, etwa einem Inspektor, darüber geredet, und der hätte daraufhin vielleicht schon den Flughafen angerufen? Schon in diesem Augenblick konnte irgendwer — die Polizei? — auf die Ankunft des Busses warten, um D. O. Guer-rero zu verhören. Um sein einzelnes kleines Köfferchen mit dem verdammenden Beweis darin zu öffnen. Zum erstenmal fragte Guerrero sich, was geschehen würde, falls man ihn erwischte. Er würde verhaftet und käme ins Gefängnis. Dann dachte er: Ehe er das zuließe — wenn er angehalten wurde, wenn eine Entlarvung drohen sollte —, würde er an der Schnur, die aus dem Köfferchen heraushing, ziehen und sich selbst samt allen, die in seiner Nähe waren, in die Luft sprengen. Er streckte seine Hand aus. Unter dem Griff tastete er nach der Schlaufe, aber nicht zu fest. Das war beruhigend . . . Jetzt wollte er versuchen, an etwas anderes zu denken.
Er fragte sich, ob Inez seinen Zettel gefunden hatte.
Sie hatte ihn gefunden.
Müde kam Inez Guerrero in die armselige Wohnung in der 51. Straße zurück, streifte die Schuhe ab, die sie gedrückt hatten, und zog den von geschmolzenem Schnee durchnäßten Mantel und den Schal aus. Sie spürte eine Erkältung nahen und fühlte sich restlos erschöpft. Ihre Arbeit als Kellnerin war heute anstrengender als sonst gewesen, die Gäste knauseriger und die Trinkgelder kleiner. Außerdem war sie noch nicht daran gewöhnt, und das machte es für sie noch schwerer.
Vorzwei Jahren, als die Guerreros noch in einer bequemen, ausreichend großen Wohnung in einem Vorort der Stadt wohnten, war Inez, wenn auch nie eine schöne, so doch eine gutaussehende, gepflegte Frau gewesen. Seitdem aber hatten die Zeit und die Umstände auf ihrem Gesicht ihre verheerenden Spuren hinterlassen und sie, die früher jünger ausgesehen hatte als sie war, wurde nun für beträchtlich älter gehalten. Heute abend hätte Inez, wenn sie noch in ihrem eigenen Haus gewohnt hätte, Erholung und Entspannung in einem heißen Bad gesucht, das sie in schweren Zeiten stets zu beruhigen schien — und schwere Zeiten hatte es im Eheleben der Guerreros sehr oft gegeben. Zwar gab es am Ende des Korridors eine Art Badezimmer, in das sich drei Parteien teilten, aber es war ungeheizt, hatte einen abblätternden Anstrich und einen Gasboiler, der mit Münzen gespeist werden mußte. Schon der Gedanke daran ließ sie schaudern. Sie entschloß sich, eine Weile in dem schäbigen Wohnzimmer sitzen zu bleiben und dann zu Bett zu gehen. Sie hatte keine Ahnung, wo ihr Mann war.
Es dauerte eine ganze Zeit, bis sie den Zettel auf dem Wohnzimmertisch entdeckte.
»Ich komme für ein paar Tage nicht nach Hause. Ich fahre fort. Ich hoffe, daß ich bald gute Nachrichten habe, die dich überraschen werden.«
Nur selten hatte D. O. Guerrero seine Frau noch überraschen können. Unberechenbar war er immer gewesen, und in jüngster Zeit geradezu unvernünftig. Gute Neuigkeiten wären tatsächlich eine Überraschung, aber sie konnte beim besten Willen nicht mehr daran glauben, daß so etwas noch kommen würde. Inez hatte zu oft die ehrgeizigen Pläne ihres Mannes ins Wanken geraten und zusammenstürzen sehen, um noch an die Wahrscheinlichkeit auch nur eines einzigen Erfolgs zu glauben.
Aber der erste Teil der Nachricht war ihr rätselhaft. Wohin ging D. O. für ein paar Tage? Ebenso geheimnisvoll war ihr: Woher hatte er Geld dazu? Am Abend vorher hatten sie beide Kassensturz gemacht. Das Ergebnis war: Sechsundzwanzig Dollar und ein paar Cent. Außer diesem Geld gab es nur noch ein Stück, das sich im Pfandhaus zu versetzen gelohnt hätte, und das gehörte Inez — der Ring ihrer Mutter. Von ihm sich zu trennen, hatte sie sich bisher geweigert. Aber auch er würde wohl bald diesen Weg gehen müssen.
Von den rund sechsundzwanzig Dollar hatte Inez achtzehn für den Einkauf von Lebensmitteln und Mietabzahlung an sich genommen. Sie hatte die Verzweiflung in D. O.'s Gesicht gesehen, als er die übriggebliebenen acht Dollar und das Kleingeld einsteckte.
Inez beschloß, sich nicht weiter den Kopf zu zerbrechen, sondern ihre Absicht wahrzumachen und schlafenzugehen. Sie war sogar zu erschöpft, sich besorgt zu fragen, wie es den Kindern gehen mochte, obwohl sie seit über einer Woche nichts von ihrer Schwester in Cleveland, bei der die Kinder waren, gehört hatte. Sie drehte das Licht im Wohnzimmer aus und ging in das enge, schäbige Schlafzimmer.
Sie konnte ihr Nachthemd nicht finden. Der Inhalt der wackligen Kommode schien durcheinandergebracht zu sein. Schließlich fand sie das Nachthemd, zusammen mit drei von D. O.'s Hemden. Das waren seine letzten. Also hatte er, wohin er auch gegangen war, keine Wäsche zum Wechseln mitgenommen. Unter einem der Hemden fand sie ein zusammengefaltetes Blatt gelbes Papier. Sie zog es heraus und entfaltete es.
Das gelbe Blatt war ein gedrucktes Formular, das mit Schreibmaschine ausgefüllt war. Was Inez da vor sich hatte, war ein Durchschlag. Als sie erkannte, was es bedeutete, setzte sie sich ungläubig aufs Bett. Um sicherzugehen, daß sie nichts mißverstanden hatte, las sie das Formular noch einmal durch.
Es war ein Ratenzahlungsvertrag zwischen den Trans America Airlines und D. O. »Buerrero« — der Name hatte, wie sie sah, einen Tippfehler. Der Vertrag bestätigte, daß »Buerrero« einen Rückflugschein nach Rom, Touristenklasse, gegen eine Anzahlung von siebenundvierzig Dollar erhalten hatte und sich verpflichtete, den Rest von vierhundertundsiebenundzwanzig Dollar, plus Zinsen, in Raten innerhalb von vierundzwanzig Monaten zu bezahlen.
Sie begriff das alles nicht.
Inez starrte wie vor den Kopf geschlagen auf das gelbe Formular. In ihrem Kopf jagten sich die Fragen.
Wozu brauchte D. O. überhaupt einen Flugschein? Und wenn einen Flugschein, warum dann nach Rom? Und wie war es mit dem Geld? Er konnte doch unmöglich die Abzahlungen aufbringen, wenn ihr auch diese Seite der Angelegenheit wenigstens verständlich war. D. O. Guerrero war schon so oft Verpflichtungen eingegangen, die er doch nicht bezahlen konnte. Schulden machten ihm nie Sorgen, Inez dafür um so mehr. Doch ganz abgesehen von diesen Schulden: Woher stammten die siebenundvierzig Dollar für die Anzahlung? Das Formular bestätigte den Empfang. Und vor zwei Abenden hatte D. O. noch erklärt, außer dem, was vor ihnen auf dem Tisch läge, hätte er kein Geld mehr. Und was er sonst auch immer tun mochte, eines wußte Inez: Er belog sie nie.
Doch irgendwoher mußten die siebenundvierzig Dollar ja gekommen sein. Woher nur?
Plötzlich fiel ihr der Ring ein. Er war aus Gold und trug einen einzelnen Brillanten in einer Platinfassung. Bis vor einer Woche hatte Inez ihn regelmäßig getragen, aber in letzter Zeit waren ihre Hände immer sehr geschwollen. Darum hatte sie ihn abgezogen und in ein Etui in einer Schublade im Schlafzimmer gelassen. Zum zweitenmal an diesem Abend durchsuchte sie die Schubladen. Das Etui war da — aber leer. Offenbar hatte D. O. den Ring versetzt, um an die siebenundvierzig Dollar zu kommen.
Ihre erste Reaktion war Trauer. Dieser Ring hatte Inez viel bedeutet; er war das letzte Bindeglied mit ihrer Vergangenheit, mit ihrer in alle Welt verstreuten Familie, mit ihrer toten Mutter, die sie in verehrender Erinnerung bewahrte. Doch realistischer: Der Ring, wenn auch nicht besonders wertvoll, war ein letzter Notanker gewesen. Solange der Ring da war, hatte sie das Gefühl, daß er, wie schlimm es auch kommen möge, ihnen einmal für ein paar weitere Tage den Lebensunterhalt sichern würde. Nun war er fort und mit ihm auch dieser letzte kleine Rückhalt.
Zwar wußte sie nun, woher das Geld für den Flugschein gekommen war; das gab ihr jedoch noch keine Antwort auf die Frage wozu? Wozu eine Flugreise? Wozu nach Rom? Immer noch auf dem Bett sitzend, bemühte sich Inez, scharf nachzudenken. In diesem Augenblick setzte sie sich über ihre Müdigkeit hinweg.
Eine besonders intelligente Frau war Inez nicht. Wäre sie das gewesen, hätte sie die fast zwanzigjährige Ehe mit D. O. Guerrero nicht ausgehalten. Auch würde sie sich nicht damit begnügen müssen, als Kaffeehaus-Kellnerin gegen einen armseligen Lohn zu schuften, wenn ihre geistigen Gaben größer gewesen wären. Aber gelegentlich gelang es Inez, durch langes, angestrengtes Nachdenken und mit Hilfe ihres Instinkts zu richtigen Schlußfolgerungen zu kommen. Besonders, wenn es ihren Mann betraf.
Mehr als ihr Verstand alarmierte sie ihr Instinkt, daß D. O. Guer-rero in Schwierigkeiten sei — größeren Schwierigkeiten, als alles, was ihnen bisher zugestoßen war. Zwei Dinge überzeugten sie davon: Seine geistige Verstörtheit in letzter Zeit und die Weite der geplanten Reise. In der gegenwärtigen Lage der Guerreros konnte nur eine unermeßliche Verzweiflungstat einen Flug nach Rom erklären. Sie holte den Zettel aus dem Wohnzimmer und las ihn noch einmal. Im Laufe der Jahre hatte sie viele derartige Zettel vorgefunden. Inez spürte aber, daß dieser etwas anderes meinte, als er besagte.
Zu weiteren Schlüssen kam sie allerdings nicht, aber sie hatte das Gefühl, ja die sich von Minute zu Minute steigernde Gewißheit, daß es irgend etwas gab, das sie tun sollte, unbedingt tun mußte.
Inez kam nicht auf den Gedanken, völlig zu resignieren und D. O. den Folgen seiner jüngsten Torheit, mochte es sein, was es wolle, zu überlassen. Im Grunde hatte sie ein schlichtes Gemüt und war ganz unkompliziert. Vor achtzehn Jahren hatte sie D. O. Guerrero ihr Jawort gegeben »für gute und für schlechte Zeiten«. Daß es meistens schlechte geworden waren, das änderte für Inez nichts an ihrer Verantwortung als Ehefrau.
Vorsichtig und behutsam überlegte sie weiter. Zuerst wollte sie feststellen, ob D. O. bereits abgeflogen war; wenn nicht, dann hatte sie vielleicht noch Zeit, ihn zurückzuhalten. Sie hatte weder eine Ahnung, ob D. O. bereits im Flugzeug saß, noch vor wie vielen Stunden sein Zettel an sie geschrieben worden war. Sie nahm das gelbe Formular wieder vor, jedoch über Tag und Stunde war daraus nichts zu erfahren. Aber sie konnte ja die Fluggesellschaft anrufen — Trans America. So schnell sie konnte, begann Inez die Kleidungsstücke, die sie gerade erst abgelegt hatte, wieder anzuziehen.
Ihre Straßenschuhe drückten sie unverändert, und in ihrem Mantel spürte sie wieder die unangenehme Feuchtigkeit, als sie die enge Treppe hinunterstieg. Im unteren Vorplatz war Schnee unter der Haustür hereingeweht worden und bedeckte die nackten Dielen im Eingang. Draußen lag der Schnee jetzt noch höher als zuvor. Als sie aus dem Schutz des Hauses kam, fiel der eisige, rauhe Wind sie an und fegte ihr wieder Schnee ins Gesicht.
In ihrer Wohnung war kein Telefon. Inez hätte zwar den Telefonapparat in dem Schnellimbiß im Parterre benutzen können, sie wollte aber eine Begegnung mit dem Besitzer vermeiden, der gleichzeitig Wohnungsvermieter war. Er hatte für den nächsten Tag mit der Ausweisung gedroht, wenn der Mietrückstand nicht bezahlt würde. Das war auch etwas, das sie für heute abend aus ihren Gedanken verdrängt hatte und was sie allein auszubaden hatte, wenn D. O. bis morgen nicht zurückkam.
Ein Drugstore mit einer Telefonzelle befand sich anderthalb Block weiter.
Die Uhrzeit war ein Viertel vor zehn.
Das Telefon im Drugstore war durch zwei junge Mädchen besetzt, und Inez mußte fast zehn Minuten warten, bis es frei wurde. Als sie dann die Nummer der Trans America wählte, teilte ihr ein Tonband mit, daß sämtliche Telefonleitungen besetzt seien und sie bitte warten solle. Sie wartete, während das Band sich mehrmals wiederholte, bis eine lebhafte Frauenstimme verkündete, sie sei Miss Young und womit sie dienen könne?
»Ach, bitte«, sagte Inez, »ich möchte mich erkundigen über Flüge nach Rom.«
Als ob auf einen Knopf gedrückt worden wäre, antwortete Miss Young, Trans America habe direkte Non-Stop-Flüge von Lincoln International nach Rom, dienstags und freitags. Über New York gäbe es täglich direkte Anschlüsse, und ob die Anruferin gleich buchen wolle?
»Nein«, antwortete Inez. »Ich will selbst nicht fliegen. Es handelt sich um meinen Mann. Sagten Sie nicht, es gäbe freitags einen Flug, also heute abend?«
»Ja, Madam, unser Flug Zwei, The Golden Argosy. Er startet um zweiundzwanzig Uhr Ortszeit. Allerdings, heute abend wird der Abflug wegen der Wetterlage ausnahmsweise um eine Stunde verschoben.«
Inez konnte die Drugstoreuhr sehen. Im Augenblick war es fünf Minuten nach zehn.
Schnell sagte sie: »Das heißt also, das Flugzeug ist noch nicht fort?«
»Nein, Madam, noch nicht.«
»Bitte . . .« Wie es ihr oft passierte, mußte Inez nach Worten suchen. »Bitte, es ist für mich sehr wichtig, zu erfahren, ob mein Mann mitfliegt. Sein Name ist D. O. Guerrero, und . . .«
»Bedaure sehr, wir dürfen keine Auskunft erteilen.« Miss Young war höflich, aber bestimmt.
»Ich glaube, Sie verstehen nicht, Miss. Ich rede von meinem Mann. Ich bin seine Frau.«
»Ich verstehe sehr wohl, Mrs. Guerrero, und ich bedaure sehr. Aber es ist eine Vorschrift der Gesellschaft.« Miss Young war in den Vorschriften ebensogut geschult wie andere ihresgleichen und kannten deren Grund. Viele Geschäftsleute nahmen ihre Sekretärin oder eine Geliebte mit auf die Reise und schrieben sie als ihre Ehefrauen ein, um von dem Rabatt für Familienangehörige zu profitieren. In letzter Zeit waren ein paar argwöhnische Ehefrauen skeptisch geworden und hatten Passagieren — ihren Ehemännern — Scherereien gemacht. Danach waren die Männer gekommen und hatten sich bitter über Vertrauensbrüche beschwert. Der Erfolg war, daß jetzt die Fluggesellschaften grundsätzlich keine Passagiernamen mehr bekanntgaben.
Inez fragte zögernd: »Besteht denn gar keine Möglichkeit . . .?«
»Wirklich keine.«
»Ach, du lieber Gott!«
»Verstehe ich richtig«, erkundigte sich Miss Young. »Sie glauben, Ihr Mann würde mit Flug Zwei abreisen, wissen es aber nicht genau?«
»Ja, das stimmt.«
»Dann wäre das einzige, was Sie tun könnten, Mrs. Guerrero, daß Sie zum Flughafen hinausfahren. Vielleicht ist die Maschine noch nicht abgefertigt. Wenn Ihr Mann also da ist, könnten Sie ihn dort treffen. Selbst wenn er an Bord gegangen ist, könnte man Ihnen an der Ausgangssperre helfen. Sie müßten sich aber beeilen.«
»Also gut«, sagte Inez. »Wenn es die einzige Möglichkeit ist, werde ich es versuchen.« Sie hatte keine Vorstellung davon, wie sie in weniger als einer Stunde zu dem über zwanzig Meilen entfernten Flughafen kommen sollte. Und dazu der Sturm!
»Warten Sie mal.« Miss Young schien zu zögern, ihre Stimme klang menschlicher, so, als wäre etwas von Inez' Verzweiflung durch den Draht gedrungen. »Ich dürfte es ja eigentlich nicht, Mrs. Guerrero, aber ich will Ihnen einen kleinen Tip geben.«
»Ach ja, bitte!«
»Wenn Sie auf dem Flughafen zur Abflugsperre kommen, sagen Sie nicht, Sie glaubten, Ihr Mann wäre an Bord. Sagen Sie, Sie wüßten, daß er an Bord ist, und Sie müßten ihm noch etwas sagen. Wenn er nicht in der Maschine ist, bekommen Sie das ja heraus. Ist er es aber, dann erleichtert es das dem Mann an der Sperre, Ihnen zu sagen, was Sie wissen wollen.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Inez. »Danke Ihnen vielmals.«
»Aber bitte, gern geschehen, Madam.« Miss Young war nun wieder der Automat in Person. »Gute Nacht und vielen Dank für den Anruf bei Trans America.«
Als Inez den Hörer einhängte, fiel ihr etwas ein, was sie beim Hineingehen bemerkt hatte. Vor dem Lokal stand ein Taxi. Jetzt sah sie den Fahrer. Er trug seine gelbe Schirmmütze, stand vor dem Getränkeausschank und unterhielt sich mit einem anderen Mann.
Ein Taxi würde teuer sein, aber wenn sie vor elf Uhr auf dem Flughäfen sein wollte, war das wahrscheinlich die einzige Möglichkeit.
Inez ging zur Theke und berührte den Mann am Arm. »Entschuldigen Sie.«
Der Taxifahrer drehte sich zu ihr um. »Ja, was ist denn?« Er hatte ein ordinäres, gedunsenes Gesicht und war unrasiert.
»Ich möchte gern wissen, was ein Taxi zum Flughafen kostet.«
Der Fahrer musterte sie mit zugekniffenen, berechnenden Augen. »Von hier aus vielleicht neun, zehn Dollar, nach der Uhr.«
Inez wandte sich ab. Das war zuviel — mehr als die Hälfte des geringen Betrages, der ihr noch geblieben war; und dabei war sie nicht einmal sicher, ob. D. O. in der Maschine sein würde.
»Heda! Warten Sie mal!« Der Fahrer leerte seine Cola und folgte Inez, die er an der Tür einholte. »Wieviel haben Sie denn?«
»Darum geht es nicht.« Inez schüttelte den Kopf. »Es ist — das ist einfach mehr, als ich mir leisten kann.«
Der Taxifahrer schnaubte. »Manche Leute denken, sie können so 'ne Fahrt für 'n Butterbrot kriegen. Es ist weit bis da raus.«
»Ja, ich weiß.«
»Warum wollen Sie denn da hin? Warum haben Sie nicht den Bus genommen?«
»Es ist wichtig. Ich muß einfach hin — unbedingt dort sein — vor elf Uhr.«
»Na ja«, sagte der Fahrer, »soll mal eine billige Nacht werden. Ich fahr' Sie für nur sieben.«
»Ja . . .« Inez zögerte immer noch. Sieben Dollar war gerade der Betrag, den sie dem Hauswirt morgen anbieten wollte, um ihn wegen der Rückstände zu besänftigen. Ihren Lohn von der Kaffeestube würde sie erst Ende der nächsten Woche bekommen.
Ungeduldig drängte der Fahrer: »Billiger kriegen Sie es nirgends. Nehmen Sie an oder nicht?«
»Gut«, sagte Inez. »Ich nehme an.«
»Also los dann.«
Während Inez ohne Hilfe in das Taxi stieg, fegte der Fahrer grinsend mit einem Schneebesen die Windschutzscheibe und die Fenster frei. Als Inez ihn im Drugstore ansprach, hatte er bereits Feierabend, und da er in der Nähe des Flughafens wohnte, hatte er mit einer Leerfahrt nach Hause rechnen müssen. Aber jetzt hatte er einen Fahrgast. Gelogen hatte er auch, als er behauptete, der Taxiuhr nach würde die Fahrt zum Flughafen auf neun oder zehn Dollar kommen. In Wirklichkeit waren es weniger als sieben. Aber mit dieser Lüge hatte er dem Fahrgast vorflunkern können, dieser mache ein gutes Geschäft. Außerdem konnte er mit abgestellter Uhr fahren und die sieben Dollar für sich einstecken. Das war zwar ungesetzlich, aber kein Polizist würde ihn bei diesem scheußlichen Wetter anhalten und kontrollieren.
Und so, sagte sich der Fahrer selbstzufrieden, war es ihm in einem Aufwaschen geglückt, die alte Schreckschraube von Fahrgast und seinen Lausekerl von Arbeitgeber reinzulegen.
Als sie anfuhren, fragte Inez besorgt: »Sind Sie auch sicher, daß Sie es bis elf Uhr schaffen?«
Der Fahrer brummte über die Schulter: »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Also überlassen Sie es ruhig mir!«
Allerdings mußte er sich selbst eingestehen, daß er dessen gar nicht so sicher war. Die Straßenverhältnisse waren schlecht, der Verkehr behindert. Sie konnten es vielleicht gerade schaffen, aber es würde verdammt knapp werden.
Fünfunddreißig Minuten später kroch das Taxi, in dem Inez saß, beschwerlich die verschneite, immer noch verstopfte KennedySchnellstraße entlang. Inez saß angespannt hinten auf ihrem Platz, bewegte rastlos ihre Finger und fragte sich verzweifelt, wie lange die Fahrt noch dauern mochte.
Zur gleichen Zeit traf der Flughafenbus mit den Passagieren für Flug Zwei vor dem Eingang zu den Abflugrampen von Lincoln International Airport ein. Nachdem er den stockenden Verkehr in Stadtnähe hinter sich gelassen hatte, konnte der Bus weiter gutes Tempo halten. Jetzt zeigte die Uhr über dem Hauptgebäude Viertel vor elf.
Als der Bus anhielt, war D. O. Guerrero der erste, der ausstieg.
9
»Und nehmen Sie die transportable Lautsprecheranlage mit«, befahl Elliott Freemantle, »die können wir vielleicht brauchen.«
Die Versammlung in Meadowood im Gemeindesaal der Baptistenkirche bebte vor Erregung, die Rechtsanwalt Freemantle so geschickt angeheizt hatte. Die Versammlung war bereit, auf den Lincoln International Airport anzurücken.
»Ich möchte keine trüben Ausreden hören, daß es Ihnen zu spät ist, oder daß man lieber nicht gehen sollte«, hatte Freemantle seine sechshundert Zuhörer einige Minuten vorher beschworen. Zuversichtlich und untadelig, in seinem eleganten blauen Anzug und seinen glänzenden Krokodilschuhen, stand er da vor ihnen; kein einzelnes Härchen hatte sich verschoben, und er strahlte Selbstsicherheit aus. Die Versammlung stand begeistert auf seiner Seite, und je ruppiger er sprach, desto mehr gefiel er ihnen.
Er fuhr fort: »Und wir wollen keine albernen Ausreden dafür erfinden, nicht zu gehen. Ich will nichts hören von Babysittern, alleingelassenen Schwiegermüttern oder angebranntem Essen, weil es mir völlig schnuppe ist; und weil es das Ihnen — im Augenblick — auch sein sollte. Wenn Ihr Wagen im Schnee steckenbleibt, lassen Sie sich von jemand anderem mitnehmen. Der springende Punkt ist: Ich gehe heute abend zum Flughafen in Ihrem Interesse, um Ärgernis zu erregen.« Er machte eine Pause, als wieder ein Flugzeug über das Haus donnerte. »Weiß Gott — allerhöchste Zeit, daß irgendeiner etwas unternimmt.« Die letzte Bemerkung hatte Applaus und Lachen ausgelöst.
»Ich brauche Ihre Unterstützung, und ich will, daß Sie dabei sind — Sie alle. Jetzt will ich eine klare und offene Frage an Sie stellen: Kommen Sie mit?«
Die Halle dröhnte wider von den »Ja«-Rufen. Die Leute waren aufgesprungen und spendeten laut Beifall.
»Also gut«, sagte Freemantle, und der Saal wurde ruhig. »Lassen Sie uns noch ein paar Dinge klarstellen, ehe wir gehen.«
Er habe ihnen bereits gesagt, führte er aus, daß legale Mittel die Basis für alle Handlungen sein müßten, die das Ziel hätten, die Gemeinde Meadowood von dem unerträglichen Flughafenlärm zu befreien. Derartig legales Vorgehen dürfte jedoch nicht von der Art sein, die kein Mensch bemerkte oder die in irgendeinem abgelegenen Gerichtssaal ohne Zuschauer stattfinde. Im Gegenteil, es müsse in das Scheinwerferlicht öffentlicher Aufmerksamkeit und öffentlicher Sympathie gerückt werden.
»Und wie erreicht man diese Art von Aufmerksamkeit und Sympathie?« Rechtsanwalt Freemantle machte eine Pause und beantwortete seine Frage dann selbst.
»Wir erreichen sie dadurch, daß wir unseren Standpunkt auf solche Weise klarmachen, daß er schlagzeilenreif wird. Dann, und nur dann können die aufmerksamkeiterregenden Medien — Presse, Rundfunk und Fernsehen — unseren Gesichtspunkt mit Vorrang und so, wie wir es brauchen, behandeln.«
Die Presse sei freundlich gesonnen, erklärte er. »Wir verlangen ja gar nicht, daß sie unseren Standpunkt teilt, sondern nur, daß sie objektiv berichtet, was sie — meiner Erfahrung nach — immer tut. Aber es hilft unseren Reportern, wenn ein Fall sich dramatisch zuspitzt; dann bekommen sie eine bessere Story zusammen.«
Die drei Reporter am Pressetisch schmunzelten, als Freemantle hinzufügte: »Wir werden sehen, ob wir heute abend ein Drama für sie inszenieren können.«
Während Elliott Freemantle sprach, beobachtete er gespannt den Rücklauf der Formulare, die ihn als offiziellen Vertreter der einzelnen Hausbesitzer bestellten und die nun in der Halle rundgingen. Viele der Blätter, mindestens hundert, dachte er, waren unterschrieben und nach vorne gereicht worden. Er hatte gesehen, wie Kugelschreiber erschienen, Ehepaare sich über die Papiere beugten, um gemeinsam zu unterschreiben und so jede Familie sich zur Zahlung von hundert Dollar verpflichtete. Erfreut stellte Freemantle eine Rechnung an: Rund einhundert Klienten bedeuteten zehntausend Dollar für ihn selbst. Kein schlechtes Honorar für die Arbeit — bis jetzt — von einem Abend, und am Schluß würde die Gesamtsumme noch weit höher sein.
Weil die Formulare noch zirkulierten, beschloß er, noch ein paar Minuten länger zu reden. Was sich heute abend auf dem Flughafen ereignen werde, informierte er die Zuhörer, sollten sie ganz ihm überlassen. Er hoffe, daß es zu einer Konfrontation mit der Flughafenleitung kommen werde; auf jeden Fall plane er, eine Demonstration in der Haupthalle auf die Beine zu stellen, an die die Leute noch lange denken würden.
»Das einzige, um was ich Sie bitte, ist: Bleiben Sie zusammen, und erheben Sie die Stimmen nur, wenn ich es Ihnen sage.« Nachdrücklich warnte er vor Aufruhr. Niemand darf am anderen Tag behaupten können, die Antilärmdelegation von Meadowood habe irgendein Gesetz übertreten.
»Natürlich«, Freemantle lächelte herausfordernd, »könnten wir jemand in die Quere kommen und Unannehmlichkeiten verursachen. Wie ich höre, ist auf dem Flughafen heute abend besonders viel Betrieb. Aber das geht uns nichts an.«
Hier gab es wieder Lachen. Er hatte das Gefühl, die Menschen seien marschbereit.
Wieder dröhnte ein Flugzeug über die Versammlung hinweg, und er wartete, bis der Lärm nachließ.
»Also los! Machen wir uns auf den Weg!« Rechtsanwalt Free-mantle erhob die Hände gleich einem Moses des Jet-Zeitalters und zitierte falsch: »Denn ich habe Gelöbnisse getan, die Mühe verlangen, eh' ich schlafen kann.«
Das Lachen ging in erneuten Beifall über, und die Leute begannen, sich zum Ausgang hin in Bewegung zu setzen.
Da bemerkte er das Mikrofon, das von der Kirche ausgeliehen worden war, und ordnete an, die Lautsprecheranlage mitzunehmen.
Floyd Zanetta, der Vorsitzende der Versammlung, der praktisch ignoriert wurde, seit Freemantle ihm die Schau gestohlen hatte, beeilte sich, der Anweisung zu folgen.
Freemantle selbst stopfte die unterzeichneten Formulare in seine Mappe. Ein flüchtiger Überschlag zeigte, daß er vorhin zu niedrig geschätzt hatte — es waren mehr als einhundertsechzig Formulare oder ein Honorar von über sechzehntausend Dollar, die er einkassieren konnte. Dazu hatten auch noch viele, die nach vorn gekommen waren, um ihm die Hand zu schütteln, versichert, sie würden ihm am nächsten Morgen ihre Formulare mit beigefügtem Scheck per Post schicken. Anwalt Freemantle strahlte.
Von dem, was auf dem Flughafen wirklich passieren würde, hatte er keine klare Vorstellung, ebensowenig wie er heute abend einen festen Plan dafür gehabt hatte, wie er die Versammlung an sich reißen solle. Elliott Freemantle war gegen feste Pläne. Er zog es vor zu improvisieren, die Dinge sich entwickeln zu lassen und sie dann zu seinem Vorteil in die eine oder andere Richtung zu lenken. Seine Freilaufmethode hatte sich schon einmal an diesem Abend bewährt. Warum nicht ein zweites Mal?
Hauptsache war, die Einwohner von Meadowood in der Überzeugung zu halten, sie hätten einen temperamentvollen Vertreter, der etwas erreichen würde. Man mußte sie in diesem Glauben lassen — bis die Quartalszahlungen, die die Vollmachten vorsahen, geleistet waren. Danach aber, wenn Freemantle sein Geld auf der Bank hatte, war ihre Meinung nicht mehr so wichtig.
Also mußte der Zustand zehn oder elf Monate lang, überlegte er sich, lebendig erhalten werden — und dafür wollte er schon sorgen. Er würde den Leuten alle Aktivität geben, die sie sich nur wün- schen konnten. Es mußten noch weitere Versammlungen und Demonstrationen, außer der heutigen, stattfinden, weil sie den Zeitungen Stoff für Berichte lieferten. Sehr oft gaben Gerichtsverfahren das nicht her. Obwohl er vor ein paar Minuten gesagt hatte, legale Mittel seien die Grundlage, würden die Gerichtsverhandlungen voraussichtlich unspektakulär und wenig ergiebig sein. Selbstverständlich würde er sein Bestes tun, auch vor Gericht ein paar große Auftritte zu inszenieren, obwohl nur noch wenige Richter auf Rechtsanwalt Freemantles aufsehenerregende Praktiken hereinfielen, sondern sie unerbittlich unterdrückten. Aber wirkliche Probleme waren das nicht, vorausgesetzt, daß er sich daran erinnerte — was er in solchen Fällen stets tat —: die Hauptsache war und blieb, für das Wohl und die Ernährung von Elliot Freemantle zu sorgen.
Er konnte sehen, wie einer der Reporter — Tomlinson von der Tribune — draußen vor der Halle eine Telefonzelle benutzte; der andere Reporter war in der Nähe. Gut so! Das bedeutete, daß die Redaktionen in der Stadt alarmiert waren und über alles, was auch immer sich auf dem Flughafen abspielte, berichten würden. Außerdem, wenn frühere Arrangements, die Freemantle getroffen hatte, klappten, würde auch das Fernsehen nicht fehlen.
Die Menge lichtete sich. Es war Zeit zu gehen.
10
Kurz vor dem hellangestrahlten Haupteingang zum Flughafengebäude erlosch das aufblinkende rote Warnlicht des Streifenwagens, der Joe Patroni von der Unfallstelle mit dem umgestürzten Sattelschlepper vorausgefahren war. Der Wagen verlangsamte sein Tempo, und der Polizist am Steuer fuhr an den Bordstein. Er wink- te dem Leiter der Wartungsabteilung der TWA zu, vorbeizufahren. Patroni gab Gas. Als sein Buick Wildcat überholte, winkte Patroni zum Gruß mit seiner Zigarre und drückte zweimal kurz auf die Hupe.
Zwar hatte Patroni den letzten Teil seiner Fahrt schnell zurückgelegt, dennoch hatte er insgesamt drei Stunden für die Strecke von seinem Haus zum Flughafen gebraucht, die er im allgemeinen in vierzig Minuten fuhr. Er hoffte, jetzt einen Teil der verlorenen Zeit aufholen zu können.
Gegen den Schnee und die glatte Fahrbahn ankämpfend, schlängelte er sich durch den Verkehrsstrom zum Flughafen und bog in eine Abzweigung ein, die zum Bereich der Hangars führte. Bei einem Schild »TWA — Wartung« steuerte er scharf nach rechts. Wenige hundert Meter weiter ragte düster und gewichtig die Wartungshalle der Fluggesellschaft auf. Das Haupttor stand offen. Er fuhr direkt hinein.
In der Halle wartete bereits ein Einsatzwagen mit Sprechfunkausrüstung und Fahrer auf ihn. Er sollte Patroni auf das Flugfeld hinausbringen — zu der festgefahrenen Düsenmaschine der Aereo Mexican, die unverändert die Startbahn Drei-Null blockierte. Der Leiter des Wartungsdienstes stieg aus und blieb nur so lange stehen, um unter Mißachtung des Schildes »Rauchen verboten« seine Zigarre wieder anzuzünden, dann hievte er seinen stämmigen Körper in das Führerhaus des Lasters. Er befahl dem Fahrer: »Los, mein Junge, jetzt jagen Sie mal die Nadel hoch.«
Der Wagen raste los, und während sie fuhren, ließ Patroni sich vom Kontrollturm freie Fahrt für ihren Weg geben. Sobald sie den Hangar hinter sich gelassen hatten, hielt sich der Fahrer dicht an die blauen Taxilichter, der einzige Hinweis in der Schneewüste für die Grenze zwischen fester Fahrbahn und unpassierbarem Schnee. Auf Anweisung des Turms hielten sie dicht vor einer Landebahn, auf der eine DC-9 der Delta Air Lines in aufwirbelndem Schnee landete und mit donnernden rückwärts geschalteten Düsenmotoren an ihnen vorbeiraste. Die Bodenkontrolle gab ihnen den Weg über die Landebahn frei und fragte dann: »Spricht dort Joe Patroni?«
»Ja.«
Es folgte eine Unterbrechung, weil der Kontroller sich anderem Verkehr widmen mußte, dann meldete er sich wieder. »Bodenkontrolle an Patroni. Wir haben eine Nachricht von der Flughafendirektion für Sie. Haben Sie verstanden?«
»Hier Patroni. Verstanden.«
»Die Nachricht lautet: Joe, ich wette eine Kiste Zigarren gegen zwei Eintrittskarten zum Baseball, daß Du die festsitzende Maschine auf Drei-Null heute nacht nicht freikriegst, und ich wäre froh, wenn Du gewinnen würdest.< Unterschrift: >Mel Bakersfeld.< Ende der Nachricht.«
Joe Patroni mußte unwillkürlich lachen, als er auf den Schalter des Mikrofons drückte. »Patroni an Bodenkontrolle. Richten Sie ihm aus: >Angenommen.< «
Er hängte das Mikrofon zurück und trieb den Fahrer an: »Machen Sie zu, Mann. Jetzt habe ich was zu gewinnen.«
An der blockierten Kreuzung der Startbahn Drei-Null kam Ingram, der Leiter des Wartungsdienstes der Aereo Mexican, auf den Wagen zu, sobald er anhielt. Ingram hüllte sich fest in seinen Anorak und schützte sein Gesicht, so gut es ging, vor dem beißenden Wind und dem Schnee.
Joe Patroni biß die Spitze einer frischen Zigarre ab, zündete sie diesmal aber nicht an, und kletterte aus dem Führerhaus des Wagens. Auf der Fahrt vom Hangar aufs Flugfeld hinaus hatte er seine Überschuhe gegen ein Paar schwere, pelzgefütterte Stiefel vertauscht. Doch so hoch die Stiefel auch waren, er sank bis über ihren Rand in dem tiefen Schnee ein.
Patroni zog ebenfalls seinen Anorak fest um sich und nickte Ingram zu. Die beiden Männer waren flüchtig miteinander bekannt.
»Also los«, begann Patroni. Er mußte brüllen, um sich bei dem starken Sturm verständlich zu machen. »Erzählen Sie mir, wie es hier aussieht.«
Wie ein ungeheurer, riesiger Albatros ragten Tragfläche und Rumpf der festgefahrenen Boeing 707 in die stürmische Nacht über den beiden Männern auf, während Ingram berichtete. Unter dem Rumpf der großen Düsenmaschine blinkte unaufhörlich die rote Warnleuchte, und nach wie vor stand dicht zusammengedrängt auf dem Taxiweg neben der Maschine die Ansammlung von Lastwagen und Hilfsfahrzeugen, darunter der Bus für das Einsatzkommando und ein dröhnender Generatorwagen.
Der Wartungsleiter der Aereo Mexican faßte zusammen, was er bisher unternommen hatte: das Ausladen der Passagiere und den ersten fehlgeschlagenen Versuch, die Maschine mit eigener Kraft von der Stelle zu bewegen. Anschließend, berichtete er Patroni, habe er die Maschine so weit wie möglich von ihrer Zuladung befreit — von Fracht, Post, Passagiergepäck und dem größten Teil des Treibstoffs, der in Tankwagen übergepumpt worden war. Dann war ein zweiter Versuch unternommen worden, das Flugzeug durch die Triebkraft seiner eigenen Düsenmotoren freizubekommen, der ebenfalls mit einem Fehlschlag endete.
Patroni kaute auf seiner Zigarre, statt sie zu rauchen — eine der seltenen Konzessionen des Wartungschefs der TWA an die Feuersgefahr; denn es roch stark nach dem Treibstoff der Maschine —, und trat näher an das Flugzeug heran. Ingram folgte ihm, und den beiden schlössen sich mehrere Männer des Bergungskommandos an, die aus dem Schutz der Busse auftauchten. Einer der Leute schaltete die transportablen Scheinwerfer «in, die im Halbkreis um die Nase des Flugzeugs aufgebaut waren, damit Patroni sich vom Stand der Dinge ein Bild machen konnte. Die Besichtigung ergab, daß das Hauptfahrwerk teilweise unsichtbar geworden war, eingebettet in einem schwarzen Schlammbad unter der Schneedecke. Das Flugzeug war nur wenige Meter von Startbahn Drei-Null eingesunken, dich an der Kreuzung mit dem Taxiweg, von dem der Pilot der Aereo Mexican in der Dunkelheit und bei dem Schneegestöber abgekommen war. Es war reines Pech, erkannte Patroni, daß ausgerechnet an dieser Stelle der Boden so wasserdurchtränkt war, daß nicht einmal drei Tage Schnee und Frost ausgereicht hatten, ihn genügend zu festigen. Infolgedessen hatten die beiden Versuche, die Maschine durch die Kraft ihrer eigenen Motoren freizubekommen, nur dazu geführt, daß sie noch tiefer in den Schlamm eingesunken war. Jetzt befanden sich die Gehäuse der vier Düsenmotoren unter den Tragflächen bedenklich nahe am Boden.
Ohne den Schnee zu beachten, der ihn wie in einer Szene aus Mit Scott zum Südpol umwirbelte, überprüfte Patroni die Situation und erwog die Erfolgsaussichten.
Noch bestand eine den Versuch lohnende Chance, die Maschine durch die Kraft ihrer eigenen Motoren aus dem Schlamm herauszu-bekommeni entschied er. Wenn das geschafft werden konnte, war es der schnellste Weg. Wenn nicht, mußte man riesige, aufblasbare Bälge aus einem Nylongewebe einsetzen — insgesamt elf —, die unter die Tragflächen und den Rumpf plaziert und mit Hilfe eines Kompressors aufgeblasen wurden. Wenn die Bälge an Ort und Stelle angebracht waren, mußte mit Hilfe schwerer Hebegeräte das Fahrwerk des Flugzeugs angehoben und dann darunter eine solide Unterlage gebaut werden. Aber das würde eine langwierige, schwere und anstrengende Arbeit sein. Joe Patroni hoffte, daß er um sie herumkommen würde.
Er verkündete: »Wir müssen vor dem Fahrwerk tief und breit ausgraben. Ich brauche zwei sechs Fuß breite Gräben bis zu der Stelle, wo die Räder jetzt sind. Unmittelbar vor den Rädern müssen sie waagerecht laufen und dann langsam aufwärts führen.« Er wandte sich Ingram zu. »Da haben wir eine Menge zu graben.«
Ingram nickte: »Kann man wohl sagen.«
»Wenn wir damit fertig sind, starten wir die Motoren und lassen sie alle vier mit voller Kraft laufen.« Patroni deutete auf das bewegungsunfähige stille Flugzeug. »Auf diese Weise sollten wir sie in Gang bekommen. Sobald sie anrollt und die Steigung in den Gräben überwunden hat, schwingen wir sie in diese Richtung.« Er stampfte mit den schweren Stiefeln, die er in dem Lastwagen angezogen hatte, von dem weichen Boden bis zu dem betonierten Taxiweg eine tiefe Spur in den weichen Schnee. »Noch etwas. Vor die Räder wollen wir schwere Bohlen in die Gräben legen, so viele wie möglich. Haben Sie welche hier?«
»Ein paar«, antwortete Ingram. »Auf einem der Lastwagen.«
»Lassen Sie die abladen, und schicken Sie den Fahrer auf dem Flughafen herum, um so viele wie möglich heranzuschaffen. Versuchen Sie es bei allen Gesellschaften und der Wartungsabteilung des Flughafens.«
Die Leute um Patroni und Ingram riefen nach den anderen, die aus dem Bus ausstiegen. Zwei Männer schlugen eine schneebedeckte Zeltbahn von einem Lastwagen zurück, der Schaufeln und andere Werkzeuge geladen hatte. Die Schaufeln wurden von den schattenhaften Gestalten, die sich außerhalb des erleuchteten Halbkreises bewegten, aneinander weitergereicht. Der treibende Schnee machte es den Männern manchmal schwer, sich gegenseitig zu erkennen. Sie warteten auf den Befehl, anzufangen.
Die Einstiegtreppe, die zur vorderen Kabinentür der 707 führte, war bisher stehengelassen worden. Patroni deutete darauf. »Sind die Fliegerknaben noch an Bord?«
»Sind sie«, knurrte Ingram. »Dieser verdammte Kapitän und sein Erster Offizier.«
Patroni sah ihn scharf an. »Haben sie Ihnen Ärger gemacht?«
»Nicht durch das, was sie gemacht, sondern durch das, was sie nicht gemacht haben«, antwortete Ingram verdrossen. »Als ich herkam, wollte ich, daß sie die Motoren mit voller Kraft laufen ließen, genauso wie Sie gesagt haben. Wenn sie das auch gleich gemacht hätten, wäre die Maschine vermutlich freigekommen, aber dazu hatten sie nicht den Mumm, und deshalb sitzen sie jetzt noch tiefer drin. Der Kapitän hat heute abend schon einen dicken Patzer gemacht, das weiß er. Und jetzt hat er eine Todesangst, er könnte die Maschine auf die Schnauze stellen.«
Joe Patroni grinste. »An seiner Stelle ginge es mir wahrscheinlich genauso.« Er hatte seine Zigarre zu Fetzen zerkaut. Er warf sie in den Schnee und griff unter seinen Anorak nach einer neuen. »Mit dem Kapitän spreche ich später. Ist ein Telefon zum Cockpit angeschlossen?«
»Ja.«
»Dann rufen Sie an. Sagen Sie, daß wir an der Arbeit sind und ich bald zu ihm hinaufkäme.«
»Wird gemacht.« Während Ingram näher an das Flugzeug heranging, rief er den etwa zwanzig versammelten Männern des Arbeitskommandos zu: »Los jetzt, Leute. Fangen wir an zu graben.«
Joe Patroni griff selbst nach einer Schaufel, und gleich darauf schaufelte die ganze Gruppe Schnee, Schlamm und Erde auf die Seite.
Nachdem Ingram über das an den Rumpf angeschlossene Telefon mit den Piloten hoch oben in ihrem Cockpit gesprochen hatte, begann er mit vor Kälte klammen Händen in dem eisigen Schlamm herumzutasten, um mit Hilfe eines Mechanikers die erste Bohle vor den Rädern des Flugzeugs auszulegen.
Weit entfernt über dem Flugfeld, wo sich in dem wehenden Schnee die Sichtweite ständig veränderte, wurden gelegentlich die Positionslichter startender und landender Flugzeuge sichtbar, und der Wind trug das hohe, schrille Jaulen der Düsenmotoren an die Ohren der arbeitenden Männer. Aber Startbahn Drei-Null, ganz in der Nähe, lag weiterhin still und verlassen.
Joe Patroni rechnete nach. Wahrscheinlich würde eine Stunde vergehen, ehe die Grabarbeit beendet war und die Motoren der Boeing 707 angelassen und versucht werden konnte, den großen Luftkreuzer durch die Gräben aus dem Schlamm herausrollen zu lassen. Die Gräben begannen schon Form anzunehmen, aber die Männer, die sie gruben, mußten in Schichten arbeiten und sich abwechselnd in dem Mannschaftsbus, der nach wie vor auf dem Taxiweg stand, ausruhen und aufwärmen.
Jetzt war es halb elf. Mit etwas Glück, überlegte Joe Patroni, konnte er kurz nach Mitternacht wieder zu Hause und im Bett sein — bei Marie.
Um diese Aussicht der Verwirklichung näher zu bringen, aber auch um sich warm zu halten, schaufelte Joe Patroni noch angestrengter weiter.
11
Im Cloud Captain's Coffee Shop bestellte Kapitän Vernon De-merest Tee für Gwen und schwarzen Kaffee für sich selbst.
Kaffee hielt ihn — wie er es sollte — munter; von hier bis Rom würde er vermutlich noch ein Dutzend weitere Tassen brauchen. Obwohl Kapitän Harris heute nacht die Hauptarbeit beim Steuern von Flug Zwei zufiel, beabsichtigte Demerest nicht, sich geistig zu entspannen. Das tat er in der Luft selten. Er wußte, wie die meisten erfahrenen Kapitäne, daß nur die Flieger die Chance hatten, in ihrem Bett an Altersschwäche zu sterben, die während ihrer Laufbahn immer imstande waren, sofort mit dem Unerwarteten fertig zu werden.
»Wir sind beide so ungewöhnlich schweigsam«, sagte Gwen mit ihrem sanften englischen Akzent. »Kaum ein Wort haben wir gesprochen, seit wir auf den Flughafen gekommen sind.«
Vor ein paar Minuten erst hatten sie nach Bekanntgabe der ein-stündigen Verspätung das Gedränge an der Abfertigung verlassen. Es war ihnen gelungen, eine Nische im rückwärtigen Teil der Kaffeestube zu ergattern, und Gwen blickte nun in den Spiegel ihrer Puderdose und brachte ihr Haar in Ordnung, das voll und glänzend unter der schnittigen Trans-America-Stewardessmütze hervorquoll. Ihre dunklen, ausdrucksvollen Augen bildeten flüchtig vom Spiegel zu Vernons Gesicht auf.
»Ich habe nicht geredet«, sagte Demerest, »weil ich nachdachte, das ist alles.«
Gwen befeuchtete ihre Lippen, aber benutzte keinen Lippenstift — die Fluglinien hatten strenge Vorschriften über das Zurechtmachen der Stewardessen in der Öffentlichkeit. Ohnehin benutzte Gwen sehr wenig Make-up: Ihr Teint hatte diesen Milch-und-Ro-sen-Ton, der so vielen englischen Mädchen angeboren zu sein scheint.
»Nachgedacht worüber? Dein traumatisches Erlebnis — die Ankündigung, daß wir Eltern werden?« Gwen lächelte ironisch und sagte dann: »Kapitän Vernon Waldo Demerest und Miß Gwendo-lyn Meighen geben die baldige Ankunft ihres ersten Kindes bekannt, eines — ja, was denn? . . . Das wissen wir ja noch nicht. Noch sieben Monate lang nicht. Na, wir brauchen nicht lange zu warten.«
Er blieb schweigsam, während Kaffee und Tee gebracht wurden, dann protestierte er: »Um Gottes willen, Gwen, laß uns ernst bleiben.«
»Warum denn? Besonders, wo ich es nicht mal ernst nehme.
Wenn sich schon einer Sorgen machen muß, sollte ich das doch sein.«
Er war schon im Begriff, etwas zu erwidern, als Gwen unter dem Tisch seine Hand ergriff. Ihr Ausdruck ging in Mitgefühl über.
»Entschuldige. Ich glaube, das Ganze zerrt ein bißchen an unseren Nerven.«
Das war die Äußerung, auf die Demerest gewartet hatte. Vorsichtig sagte er: »Es braucht uns nicht zu beunruhigen. Denn, wenn wir nicht wollen, müssen wir nicht Eltern werden.«
»Gut«, sagte Gwen sachlich. »Ich habe mich schon gefragt, wann du damit herausrücken würdest.« Sie klappte ihre Puderdose zu und steckte sie ein. »Im Wagen warst du beinah so weit, nicht wahr? Dann hast du dir es anders überlegt.«
»Was anders überlegt?«
»Nein, wirklich, Vernon! Warum heucheln? Wir wissen beide ganz genau, wovon du sprichst. Du bist für eine Abtreibung, daran hast du immer gedacht, seit ich dir gesagt habe, daß ich schwanger bin. Hab' ich recht?«
Er nickte zögernd. »Ja.« Er fand Gwens Direktheit immer noch entwaffnend.
»Was ist los? Hast du gedacht, ich hätte noch nie im Leben von Abtreibung gehört?«
Demerest schielte über die Schulter, aus Angst, sie könnten gehört werden, aber das Geschirrklappern und Stimmengeräusch übertönte alles.
»Ich war nicht sicher, was du dazu sagen würdest.«
»Ich bin selbst nicht sicher.« Nun war es an Gwen, ernst zu werden. Sie sah auf ihre Hände hinunter, die langen, schlanken Finger, die er so bewunderte und die sie nun vor der Brust gefaltet hatte. »Ich habe darüber nachgedacht, aber ich weiß es immer noch nicht.«
Er fühlte sich ermutigt. Wenigstens war das keine zugeschlagene Tür, keine glatte Ablehnung.
Er versuchte die reine Vernunft sprechen zu lassen. »Es ist wirklich das einzig Vernünftige. In gewisser Weise ist es vielleicht unangenehm, daran zu denken, aber schließlich geht es schnell vorüber, und wenn es ordentlich gemacht wird, therapeutisch, ist keine Gefahr damit verbunden, keine Komplikation zu befürchten.«
»Ja, ich weiß«, sagte Gwen. »Es ist alles schrecklich einfach. Tust du's oder tust du's nicht?« Sie blickte ihn direkt an. »So ist es doch?«
»So ist es.«
Er trank seinen Kaffee. Vielleicht war es einfacher, als er gedacht hatte.
»Vernon«, sagte Gwen leise, »hast du auch einmal daran gedacht, daß das, was jetzt in mir ist, ein Menschenwesen ist? Daß es lebendig ist, eine Persönlichkeit — schon jetzt? Wir haben uns geliebt. Es ist wie du und ich; ein Teil von uns!« Ihre Augen, beunruhigter, als er sie je gesehen hatte, suchten auf seinem Gesicht eine Antwort.
Mit nachdrücklicher Betonung und in absichtlich barschem Ton sagte er: »Das stimmt nicht. Ein Fötus ist in diesem Stadium kein menschliches Wesen; noch keine Persönlichkeit, noch nicht. Vielleicht später, aber jetzt noch nicht. Das lebt nicht, atmet nicht und fühlt nicht. Eine Abtreibung — besonders so zeitig — ist nicht dasselbe, wie ein Menschenleben zu vernichten.«
Gwen reagierte aufgebracht, wie schon im Auto bei der Herfahrt. »Du meinst, später wäre es nicht so in Ordnung? Wenn wir noch warteten und dann eine Abtreibung machten, wäre es vielleicht nicht so ethisch. Wenn das Baby schon fertig ausgebildet ist, seine Finger und Zehen schon alle fertig sind? Es dann umzubringen, wäre schlimmer als jetzt? Ist das richtig, Vernon?« Demerest schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Aber du hast es so gemeint?«
»Wenn es so klang, war das nicht meine Absicht. Auf jeden Fall verdrehst du die Worte.«
Gwen seufzte. »Ich bin eben eine Frau.«
»Niemand hat ein größeres Recht dazu.«
Er lächelte; seine Augen wanderten zu ihr hinüber. Der Gedanke an Neapel, mit Gwen — in wenigen Stunden —, erregte ihn immer noch.
»Ich liebe dich, Vernon. Wirklich, das tu ich.«
Unter dem Tisch ergriff er wieder ihre Hand. »Ich weiß es. Deshalb ist es auch so schwer für uns beide.« »Ja, das ist es«, bestätigte Gwen langsam, als dächte sie laut. »Ich habe noch nie ein Kind empfangen, und bis das geschieht, fragt sich eine Frau immer, ob sie überhaupt dazu fähig ist. Wenn man dann erfährt, wie ich es jetzt erfuhr, daß die Antwort ein >Ja< ist, dann ist das eine Art Geschenk, ein Gefühl — das nur eine Frau hat, das ist so groß und wundervoll. Und dann plötzlich, wie in unserer Situation, steht man davor, daß alles aus ist, daß alles vergeudet wird, was geschenkt worden ist.« Ihre Augen waren feucht. »Kannst du das verstehen, Vernon? Richtig verstehen?«
Er antwortete zart: »Ja. Ich glaube, ja.«
»Der Unterschied zwischen dir und mir ist, daß du schon ein Kind gehabt hast!«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Kinder. Sarah und ich . . .«
»Nicht in deiner Ehe. Aber da war doch ein Kind, wie du erzähltest. Ein kleines Mädchen; das durch das 3-PPP-Programm« — sie zeigte den Anflug eines Lächelns —, »das adoptiert wurde. Was nun auch passieren mag, da ist immer irgendwo jemand, der wieder du ist.«
Er sagte nichts.
Gwen fragte: »Denkst du noch manchmal an es? Fragst du dich manchmal, wo es wohl sein mag, wie es wohl aussieht?«
Es gab keinen Grund zu lügen. »Ja«, sagte er, »manchmal tu ich das.«
»Gibt es keine Möglichkeit, es zu finden?«
Er schüttelte den Kopf. Er habe sich einmal erkundigt, aber erfahren, nach erfolgter Adoption würden die Akten vernichtet. Es gebe keine Möglichkeit, nie.
Gwen trank einen Schluck Tee. Über den Tassenrand hinweg betrachtete sie die überfüllte Kaffeestube. Er spürte, daß ihre Fassung wiedergekehrt war; die Vorahnung von Tränen war verschwunden.
Lächelnd sagte sie: »Du lieber Himmel, was für eine Menge Unannehmlichkeiten ich dir mache!«
Er antwortete, und es war ihm ernst: »Meine Sorgen spielen keine Rolle. Nur das, was für dich das Beste ist.«
»Na, ich glaube, schließlich tu ich das, was am vernünftigsten ist.
Das ist eine Abtreibung. Ich muß es erst einmal durchdenken, durchsprechen.«
»Wenn du bereit bist, werde ich dir helfen. Wir sollten aber nicht zuviel Zeit verlieren.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Sieh mal, Gwen«, versicherte er ihr, »die ganze Geschichte geht so schnell, und ich verspreche dir, es wird medizinisch völlig sicher sein.« Er erzählte ihr von Schweden; er würde alles bezahlen, was die Klinik kostete; die Fluglinie würde helfen, sie dorthin zu bringen.
Sie antwortete: »Ich werde mich entschließen, bevor wir von diesem Flug zurückkommen.«
Er nahm ihren Zahlbon an sich, und sie erhoben sich zum Gehen. Es war für Gwen an der Zeit, zur Stelle zu sein, um die an Bord von Flug Zwei gehenden Gäste zu begrüßen.
Als sie die Kaffeestube verließen, sagte sie: »Ich glaube, ich habe großes Glück, daß du so bist. Andere Männer wären verschwunden und hätten mich sitzenlassen.«
»Ich werde dich nicht verlassen.«
Aber er würde sie doch verlassen; dessen war er jetzt sicher. Wenn Neapel und die Abtreibung vorüber waren, dann würde er mit Gwen Schluß machen, ihre Affäre beenden — so rücksichtsvoll wie möglich, aber doch vollständig und endgültig. Das würde nicht allzu schwer werden. Es würde ein paar ungemütliche Augenblicke geben, wenn Gwen seine Absichten erfuhr, aber sie gehörte nicht zu denen, die ein großes Theater machten. Das hatte sie ja bereits bewiesen. Auf jeden Fall würde er die Situation in der Hand behalten, die ja nichts Neues für ihn war. Vernon hatte sich schon früher aus amourösen Affären geschickt herausgezogen.
Gewiß, diesmal war es anders als sonst. Noch keine Frau hatte auf ihn einen solchen Eindruck gemacht wie Gwen. Keine andere Frau hatte ihn so stark erregt. Bei keiner — wenigstens soweit er sich erinnern konnte — hatte er eine solche Freude an ihrer Ge-Seilschaft, an dem bloßen Zusammensein mit ihr empfunden. Eine Trennung würde nicht ganz leicht werden, und er wußte, er würde später in Versuchung geraten, seine Meinung zu ändern. Aber er würde unerbittlich bleiben. Wenn Vernon Demerest sich einmal für einen Weg entschieden hatte, dann war er ihn in seinem bisherigen Leben auch gegangen. Selbstzucht hatte er sich zur Gewohnheit gemacht.
Außerdem sagte ihm sein nüchterner Verstand, wenn er nicht bald mit Gwen bräche, würde eine Zeit kommen, wo er es nicht mehr fertigbrächte, wo er — Selbstzucht hin, Selbstzucht her — sich nicht mehr von Gwen trennen könnte. Wenn das passierte, mußte eine Dauerlösung gefunden werden, und das bedeutete eine katastrophale Umwälzung — in Ehe, Finanzen, Gefühlen, die er zu vermeiden entschlossen war. Vor zehn oder fünfzehn Jahren vielleicht? Heute nicht mehr.
Er berührte Gwens Arm. »Geh vor, ich komme in einer Minute nach.«
Als sich das Gedränge in der Haupthalle einen Moment lichtete, hatte er vor sich Mel Bakersfeld bemerkt. Es störte ihn nicht, mit Gwen zusammen gesehen zu werden, aber es bestand auch kein Anlaß, ihre Beziehungen der ganzen Familie auf die Nase zu binden.
Er sah, daß sein Schwager ein ernstes Gespräch mit Leutnant Ned Ordway führte, dem tüchtigen, freundlichen Neger, der die Flughafenpolizei befehligte. Vielleicht war Mel zu beschäftigt, den Mann seiner Schwester zu bemerken, was Demerest nur sehr recht sein konnte, denn er hatte nicht den geringsten Wunsch nach einer Begegnung, wenn er sie auch nicht zu vermeiden gedachte.
Gwen verschwand in der Menge. Der letzte Eindruck, den er hatte, waren gutgeformte nylonbekleidete Beine und ebenso attraktive und wohlproportionierte Fußgelenke. O sole mio ... Eil dich! Verdammt! Mel Bakersfeld hatte ihn gesehen.
»Ich habe Sie gesucht«, hatte Leutnant Ordway zu Mel ein paar Minuten vorher gesagt. »Ich habe gerade gehört, wir kriegen Besucher — einige Hundert.«
Heute abend war der Polizeileutnant in Uniform; eine große, auffallende Gestalt, die wie ein afrikanischer Kaiser aussah. Allerdings sprach er mit einer für einen solchen Riesen überraschenden Sanftheit.
»Wir haben schon genug Besucher.« Mel überblickte das Menschengewirr in der Haupthalle. Er hatte sie auf dem Weg in den Verwaltungsstock durchquert. »Nicht Hunderte, sondern Tausende.«
»Ich meine nicht Passagiere«, sagte Ordway. »Die Leute, von denen ich rede, dürften uns noch mehr Scherereien machen!«
Er berichtete kurz von der Protestversammlung gegen den Fluglärm; die Versammlung sei zu Ende, und die meisten der Beteiligten seien nun im Anmarsch auf den Flughafen. Leutnant Ordway hatte von der Versammlung und der geplanten Fortsetzung durch ein Fernsehteam erfahren, das um Erlaubnis gebeten hatte, Kameras innerhalb des Hauptgebäudes aufzustellen. Nachdem er mit den Fernsehleuten gesprochen hatte, habe er einen Freund in der Redaktion der Tribune angerufen und sich von ihm das Wesentliche aus einem Bericht vorlesen lassen, den ein Reporter von der Versammlung durchgegeben hatte.
»Teufel noch mal!« brummte Mel. »Ausgerechnet heute abend! Als ob wir nicht schon genug Schwierigkeiten hätten!«
»Das ist wohl die Absicht dabei; auf die Weise werden sie stärker beachtet. Aber ich hielt es für richtig, Sie darauf vorzubereiten, denn die werden sicher mit Ihnen sprechen wollen und vielleicht mit jemandem von der FAA.«
Mel sagte bitter: »Ach, die FAA! Die verschwinden von der Bildfläche, wenn sie von so etwas hören, und kommen erst wieder heraus, wenn die Entwarnungssirene geläutet hat.«
»Und wie steht es mit Ihnen?« Der Polizist grinste. »Wollen Sie auch verschwinden?«
»Nein, Sie können den Leuten sagen, daß ich eine Abordnung von sechs Personen empfangen werde, wenn es heute abend auch Zeitverschwendung ist. Ich kann doch nichts ändern.«
»Sie wissen ja«, sagte Ordway, »daß ich keine gesetzliche Handhabe besitze, um gegen sie einzuschreiten, wenn sie nicht gerade Aufruhr oder Sachbeschädigung begehen.«
»Ja, ich weiß, aber ich will nicht mit einem Pöbelhaufen reden. Trotzdem wollen wir es nicht erst zu einem Zusammenstoß kommen lassen. Auch wenn wir ein bißchen herumgestoßen werden: sorgen Sie dafür, daß von unserer Seite damit nicht angefangen wird, solange es sich vermeiden läßt. Vergessen Sie nicht, daß die Presse da ist. Ich will keine Märtyrer schaffen.«
»Ich habe meine Leute schon instruiert. Sie werden es mit Humor nehmen und das Jiu-Jitsu aufsparen.«
»Gut!«
Mel hatte Vertrauen zu Ned Ordway. Der Polizeidienst auf Lin-coln International wurde von einer sich selbst verwaltenden Abteilung der Städtischen Polizei versehen, und Leutnant Ordway repräsentierte den besten Typ eines Karrierepolizisten. Er war seit einem Jahr mit dem Flughafen-Polizeikommando betraut und würde wahrscheinlich bald in eine bedeutendere Stellung in der Stadt versetzt werden. Mel würde es bedauern, wenn er wegging.
»Und abgesehen von dieser Meadowood-Angelegenheit«, erkundigte sich Mel, »wie steht es sonst?«
Er wußte, daß die hundert Mann des Polizeikommandos, wie fast alle anderen auf dem Flughafen, seit Beginn des Sturms Überstunden gemacht hatten.
»Hauptsächlich Routinekram. Mehr Betrunkene als sonst und ein paar Schlägereien. Aber das geht zu Lasten der vielen Verspätungen und Ihrer tüchtigen Bars.«
Mel grinste. »Sagen Sie nichts gegen die Bars. Der Flughafen bekommt von jedem Drink seine Prozente, und wir brauchen diese Einnahmen.«
»Die Fluggesellschaften wohl auch, nehme ich an. Wenigstens nach den Passagieren zu schließen, die sie wieder nüchtern zu machen versuchen, damit sie sie an Bord kriegen können. Ich habe meinen ewigen Ärger damit.«
»Kaffee?«
»Natürlich. In dem Augenblick, wo an den Abfertigungsschaltern einer Fluglinie ein betrunkener Passagier auftaucht, wird einer der Angestellten abgeordnet, ihn mit Kaffee vollzupumpen. Fluggesellschaften scheinen es nie zu lernen, daß der ganze Erfolg, wenn der Kaffee drinnen ist, darin besteht, daß der Betrunkene hellwach ist. Und dann rufen sie uns meistens zu Hilfe.«
»Damit werden Sie ja fertig.«
Ordways Männer waren, das wußte Mel, Fachleute im Umgang mit Betrunkenen, die fast nie bestraft wurden, außer wenn sie zu lärmen anfingen. Meistens waren es Vertreter und Geschäftsleute von auswärts, manchmal durch eine anstrengende Woche harten Konkurrenzkampfes erschöpft, und ein paar Drinks auf der Heimreise warfen sie um. Wenn die Flugbesatzung sie nicht an Bord lassen wollte — und Kapitäne, die hierin das letzte Wort hatten, waren da meistens unbeugsam —, wurden Betrunkene von der Polizei in das Haftlokal geschafft und ihnen dort Gelegenheit gegeben, wieder nüchtern zu werden. Später durften sie dann wieder gehen — meistens wie begossene Pudeln.
»Ach, da wäre noch was«, sagte Leutnant Ordway. »Die Parkplatzwärter glauben, wir hätten wieder mehrere Autowracks. Bei dem Wetter ist das ja schwer festzustellen, aber wir werden es untersuchen, sobald wir können.«
Mel zog eine Grimasse. Wertlose, auf Parkplätzen im Stich gelassene alte Wagen waren auf jedem größeren Flughafen eine bekannte Plage. War eine alte Karre unbrauchbar geworden, dann war es heutzutage erstaunlich schwer, sie loszuwerden. Schrott-und Bergungsfirmen waren bis an den Rand ihrer Grundstücke vollgestopft und nahmen nichts mehr an — es sei denn, der Wagenbesitzer bezahlte dafür. So stand ein Besitzer vor der Wahl, entweder für die Abnahme zu bezahlen oder einen Abstellplatz zu mieten, oder eine Stelle zu finden, wo er, ohne eine Spur von sich zu hinterlassen, sein Fahrzeug loswerden konnte. Flughäfen-Parkplätze boten sich geradezu als Autofriedhöfe an.
Die alten Wagen wurden auf Flughafen-Parkplätze gebracht, die Autonummern abmontiert und andere Kennzeichen still und heimlich beseitigt. Motornummern konnten natürlich nicht entfernt werden, aber der Aufwand an Zeit und Mühe, nach ihnen den letzten Besitzer festzustellen, lohnte sich nicht. Es war also einfacher, der Flughafen tat das, was der Besitzer nicht tun wollte — bezahlte, damit der Wagen abgeschleppt und verschrottet wurde, und das möglichst schnell, da er einnahmenbringende Parkplätze blockierte. Auf Lincoln International war die monatliche Rechnung für die Beseitigung alter Wagen in letzter Zeit erschreckend angewachsen.
Zwischen der hin und her wogenden Menge in der großen Halle entdeckte Mel Kapitän Vernon Demerest.
»Davon abgesehen«, sagte Ordway aufmunternd, »sind wir in bester Form für Ihre Besucher aus Meadowood. Ich sage Ihnen Bescheid, wenn sie kommen.« Mit freundlichem Nicken ging der Polizist weiter.
Vernon Demerest — in der Uniform der Trans America und mit der bei ihm üblichen selbstbewußten Haltung — kam in Mels Richtung. Mel spürte einen Anflug von Gereiztheit, wenn er an den abträglichen Bericht des Schnee-Komitees dachte, von dem er gehört, den er aber immer noch nicht gesehen hatte.
Demerest schien nicht geneigt, stehenzubleiben, bis Mel sagte: »Guten Abend, Vernon.«
»Hallo!« Demerests Ton war gleichgültig.
»Wie ich höre, bist du jetzt Sachverständiger für Schneeräumung.«
»Man braucht doch kein Sachverständiger zu sein«, antwortete Vernon Demerest schroff, »um zu erkennen, daß miserable Arbeit geleistet wird.«
Mel bemühte sich, im Ton maßvoll zu bleiben. »Hast du eine Ahnung, wie hoch der Schnee gewesen ist?«
»Vielleicht besser als du. Den Wetterbericht zu lesen, gehört zu meinen Aufgaben.«
»Dann weißt du auch, daß in den letzten vierundzwanzig Stunden bei uns auf dem Flughafen zehn Zoll Schnee gefallen sind; nicht gerechnet, was vorher schon da war.«
Demerest zuckte mit den Achseln. »Dann schafft ihn doch weg.«
»Das tun wir ja.«
»Davon merkt man verdammt wenig.«
»Der stärkste je registrierte Schneefall hier war zwölf Zoll im gleichen Zeitraum. Das war eine Überflutung, und alles wurde geschlossen. Diesmal standen wir dicht davor, aber wir haben nicht geschlossen. Wir haben darum gekämpft, den Flughafen offenzuhalten, und wir haben es geschafft. Es gibt nirgendwo einen Flughafen, der besser mit diesem Sturm fertig geworden wäre als wir. Wir haben jede Maschine aus dem Schneeräumungspark Tag und Nacht eingesetzt.«
»Vielleicht habt ihr nicht genug Maschinen.«
»Mein Gott, Vernon! Niemand hat genug Ausrüstung für einen solchen Sturm, wie wir ihn in den letzten Tagen hatten. Jeder könnte mehr brauchen, aber man kauft doch keine Schneeräummaschinen für eine gelegentliche Ausnahmesituation — wenn man nur ein kleines bißchen wirtschaftlich denkt. Man kauft für normale
Tage, und wenn ein Notstand eintritt, verwendet man eben alles, was man hat, und setzt es so vorteilhaft wie möglich ein. Das haben meine Leute gemacht, und sie haben es verdammt gut gemacht!«
»Na schön«, erwiderte Demerest, »du bleibst bei deiner Meinung, ich bei meiner. Ich bin zufällig der Meinung, daß ihr unzulängliche Arbeit geleistet habt. Das habe ich auch in meinem Bericht gesagt.«
»Ich dachte, es wäre ein Komiteebericht gewesen? Oder hast du die anderen herausgeboxt, um mir persönlich einen Stich zu versetzen?«
»Wie das Komitee arbeitet, ist unsere Sache. Es kommt nur auf den Bericht an. Du kriegst morgen deinen Durchschlag.«
»Vielen Dank.« Sein Schwager, stellte Mel fest, hatte nicht einmal zu leugnen versucht, daß der Bericht persönlich gemeint war. Mel fuhr fort: »Was du auch geschrieben hast, ändern wird sich dadurch überhaupt nichts. Aber wenn es dir Genugtuung verschafft, negativen Effekt wird es haben. Morgen muß ich Zeit darauf verschwenden zu erklären, wie unwissend — auf gewissen Gebieten — du in Wirklichkeit bist.« Mel hatte erregt gesprochen und sich nicht bemüht, seinen Ärger zu verbergen.
Zum ersten Male grinste Demerest. »Ist dir wohl doch etwas unter die Haut gegangen, was? Und das mit dem negativen Effekt und deiner kostbaren Zeit ist ein Jammer. Ich werde morgen daran denken, wenn ich die italienische Sonne genieße.« Immer noch grinsend ging er.
Als er ein paar Meter weiter war, wurde aus dem Grinsen ein finsteres Gesicht.
Die Ursache von Kapitän Demerests Mißmut war der Versicherungskiosk in der Haupthalle, der heute abend sichtlich Hochkonjunktur hatte. Das war eine Mahnung daran, daß Demerests Sieg über Mel Bakersfeld eine Lappalie, bloß ein Mückenstich gewesen war. In einer Woche würde der unfreundliche Schneekomiteebericht vergessen sein, aber die Versicherungsschalter waren immer noch da. Also war der wirkliche Sieg auf Seiten seines glatten, selbstgefälligen Schwagers, der Demerests Argumente vor dem Verwaltungsrat weggefegt und ihn selbst lächerlich gemacht hatte.
Hinter den Versicherungsschaltern schrieben zwei junge Mädchen — eine von ihnen eine vollbusige Blondine — eifrig Policen für Antragsteller aus, hinter denen ein weiteres halbes Dutzend Schlange stand. Die meisten der Wartenden hielten Geldscheine in den Händen — weitere schnelle Profite für die Versicherungsgesellschaften, wie Demerest mißvergnügt feststellte, und er hatte auch keinen Zweifel daran, daß die Automaten an verschiedenen Stellen des Flughafens genauso beschäftigt waren.
Er fragte sich, ob wohl auch einige seiner Passagiere von Flug Zwei in der Schlange ständen. Er war versucht, danach zu fragen, und falls es so wäre, eigene Bekehrungsversuche zu machen, unterließ es aber dann doch. Vernon Demerest hatte das bereits früher einmal versucht — Menschen vor einem Versicherungsschalter abzuraten, eine Flugversicherung abzuschließen, und ihnen zu erklären, warum nicht; später waren dann Klagen gekommen, die ihm einen scharfen Rüffel von der Trans America eingetragen hatten. Zwar liebten die Fluggesellschaften Flugversicherungen genausowenig wie die Flugzeugbesatzungen, waren aber gezwungen, neutral zu sein, da sie von verschiedenen Stellen unter Druck gesetzt wurden. Erstens, führten die Flughafenleitungen an, brauchten sie die Einkünfte von den Versicherungsgesellschaften. Ohne die Einnahmen aus dieser Quelle, erklärten sie, müßten die Fluglinien die Differenz voraussichtlich durch höhere Landegebühren ausgleichen.
Außerdem legten die Fluglinien keinen Wert darauf, Fluggäste zu verschnupfen, die es vielleicht verärgerte, eine Versicherung nicht in der gewohnten Weise abschließen zu können. Daher hatten die Piloten allein die Initiative ergriffen — und auch die Schmähungen auf sich genommen.
Mit diesen Gedanken beschäftigt, war Kapitän Demerest ein paar Sekunden lang stehengeblieben und hatte die Geschäftigkeit an dem Versicherungskiosk betrachtet. Jetzt sah er einen Neuankömmling sich der Schlange anschließen — ein nervös wirkender spindeldürrer Mann mit gebeugtem Rücken und einem kleinen sandfarbenen Schnurrbart. Der Mann trug einen kleinen Aktenkoffer und schien wegen der Zeit beunruhigt zu sein; wiederholt blickte er zu der Zentraluhr hinauf und verglich sie mit seiner eigenen Uhr. Die Länge der Schlange vor ihm machte ihn sichtlich ungeduldig.
Mißbilligend dachte Demerest, der Mann hat sich nicht genug Zeit genommen, er sollte die Versicherung vergessen und machen,
daß er an Bord seines Flugzeugs kommt.
Dann mahnte Demerest sich selbst, daß er in die Pilotenkanzel von Flug Zwei zurück mußte. Schnell machte er sich auf den Weg zur Abfertigung der Trans America; jeden Augenblick konnte jetzt der erste Aufruf, an Bord zu gehen, erfolgen. Ah — da war er schon!
»Trans America gibt den Abflug von Flug Zwei nach Rom bekannt, The Golden Argosy.«
Kapitän Demerest war länger im Hauptgebäude geblieben, als er beabsichtigt hatte. Während er sich beeilte, ging die Ansage klar und deutlich über dem Lärm in der Halle weiter.
12
». . . Flug Zwei, The Golden Argosy, nach Rom. Die Maschine ist jetzt bereit zum Einsteigen. Die Fluggäste mit bestätigten Buchungen . . .«
Eine Abflugankündigung hat für die Leute, die sie hören, verschiedene Bedeutungen. Für einen Teil ist es reine Routine, ein Aufruf zu einer weiteren ermüdenden Geschäftsreise, die manche, wenn sie die Wahl hätten, nicht machen würden. Für andere bedeutet eine Flugankündigung den Beginn von Abenteuern; für wieder andere die Annäherung an ein Ziel — die Heimkehr. Einigen bringt sie Betrübnis und Abschied; anderen, im Gegenteil, Aussicht auf Wiedersehen und Freude. Einige hören Flugankündigungen nur für andere, für Freunde oder Verwandte, die die Reise antreten; für sie selbst sind die Namen der Bestimmungsorte mit sehnsuchtsvollen flüchtigen Vorstellungen weit entfernter Gegenden verbunden, die sie nie zu Gesicht bekommen würden. Bei einer Handvoll lösen sie Angst aus; wenige nur nehmen sie gleichgültig hin. Sie sind das Signal, daß ein Aufbruch begonnen hat. Ein Flugzeug steht bereit; es ist Zeit, an Bord zu gehen, aber nicht Zeit, um zu trödeln, denn nur selten warten Fluglinien auf einzelne Passagiere. In Kürze würde die Maschine in das für die Menschen unnatürliche Element, die Luft, aufsteigen; und da es unnatürlich war, umwitterte den Aufbruch stets ein Hauch von Abenteuer und Romantik, der immer bestehenbleiben würde.
An der technischen Ankündigung eines Flugs ist nichts Romantisches. Sie geht von einem Gerät aus, das in mancher Beziehung einem Musikautomaten ähnelt, nur daß die Druckknöpfe betätigt werden, ohne daß Münzen gebraucht werden. Die Druckknöpfe befinden sich auf einem Armaturenbrett in der Fluginformationskontrolle, einem Miniaturkontrollturm — jede Fluggesellschaft hat ihre eigene F.I.K. oder etwas Entsprechendes über den Ausgängen. Eine Angestellte drückt auf diese Knöpfe in einer bestimmten Reihenfolge, und alles weitere übernimmt das Gerät.
Fast alle Flugankündigungen wurden vorher auf Tonbänder aufgenommen. Obwohl jede Ankündigung für das Ohr in sich geschlossen klang, war sie das nie, denn sie bestand aus drei verschiedenen Bändern. Das erste Band nannte die Fluglinie und den Flug, das zweite beschrieb die Ladephase, Vorbereitung, Anbordnahme, oder Schluß;das dritte Band bezeichnete die Nummern des Ausgangs. Da die drei Aufzeichnungen ohne Pause aufeinanderfolgten, klangen sie zusammenhängend, und das sollten sie auch.
Menschen, die quasi-menschliche Automaten nicht liebten, freuten sich manchmal, wenn die Tonbänder verkehrt arbeiteten. Gelegentlich verklemmte sich irgendwas in dem Gerät, und die Folge war, daß Passagiere für ein halbes Dutzend Flüge an ein und denselben Ausgang dirigiert wurden. Das dadurch hervorgerufene Chaos in Form von tausend oder noch mehr verwirrten und ungeduldigen Passagieren war für die Fluglinienangestellten ein Alptraum.
Für Flug Zwei funktionierte die Apparatur heute abend.
». . . Passagiere mit bestätigten Buchungen wollen sich bitte zum Ausgang siebenundvierzig begeben, der blaue Warteraum >D<.«
Nunmehr hatten Tausende im Flughafen die Ansage von Flug Zwei gehört. Einige ging es mehr an als die anderen. Einige, die es jetzt noch nichts anging, würden davon betroffen sein, ehe die Nacht um war.
Mehr als hundertfünfzig Passagiere von Flug Zwei hörten die Ankündigung. Diejenigen, die abgefertigt waren, aber Ausgang siebenundvierzig noch nicht erreicht hatten, hasteten dorthin, darunter ein paar, die eben erst angekommen waren und sich im Gehen noch den Schnee von den Kleidern klopften.
Die rangälteste Stewardess, Gwen Meighen, brachte einige Familien mit kleinen Kindern an Bord, als die Ansage über die Gangway hallte. Sie benutzte das Bordtelefon, um Kapitän Anson Harris zu verständigen, und machte sich auf den Ansturm der Passagiere in den nächsten paar Minuten gefaßt. Noch vor den Passagieren kam Kapitän Vernon Demerest an Bord, eilte nach vorn und schloß die Tür der Pilotenkanzel hinter sich.
Anson Harris, der mit dem Zweiten Offizier Cy Jordan zusammenarbeitete, hatte bereits mit der Flugvorkontrolle begonnen.
»Da wären wir«, sagte Demerest. Er schob sich auf den Platz des Ersten Offiziers auf der rechten Seite und nahm den Hefter mit der Kontrolliste an sich. Jordan nahm wieder seinen ständigen Platz hinter den beiden anderen ein.
Mel Bakersfeld war immer noch in der Haupthalle, hörte die Ansage und erinnerte sich, daß The Golden Argosy ja Vernon Deme-rests Flug war. Mel bedauerte ehrlich, daß wieder einmal eine Gelegenheit, die Feindseligkeiten zwischen sich und seinem Schwager zu beenden, oder wenigstens zu vermindern, versäumt worden war. Nun waren ihre persönlichen Beziehungen womöglich noch schlechter als vorher. Mel fragte sich, wieviel Schuld dabei auf sein eigenes Konto ginge; ein Teil bestimmt, denn Vernon Demerest schien die Gabe zu haben, die schlechtesten Eigenschaften in ihm wachzurufen, aber Mel glaubte ehrlich, daß ihr Streit vorwiegend auf Ver-nons Kappe ging. Zum Teil beruhten die Schwierigkeiten darauf, daß Vernon sich selbst als ein höheres Wesen betrachtete und es übelnahm, wenn andere das nicht widerspruchslos hinnahmen. Aber eine ganze Reihe von Piloten, die Mel kannte — vor allem Kapitäne —, hatten die gleiche hohe Meinung von sich.
Mel kochte immer noch, wenn er daran dachte, wie Vernon nach jener Verwaltungsratssitzung behauptet hatte, Menschen wie Mel seien »bodenverhaftet, schreibtischgebunden, hätten Spatzengehirne«. Als ob das Fliegen eines Flugzeuges, dachte Mel, im Vergleich mit anderen Tätigkeiten so etwas verdammt Extra-Besonderes wäre!
Doch trotzdem wünschte sich Mel, er könnte heute nacht wieder einmal für ein paar Stunden Pilot sein und stünde — so wie Ver-non — vor einem Flug nach Rom. Es fiel ihm ein, wie Vernon Demerest vom Genießen der Sonne in Italien gesprochen hatte. Mel hätte davon im Augenblick etwas vertragen können und etwas weniger Luftfahrtlogistik am Boden. Heute abend schienen die sicheren Bindungen an die Erde noch zäher als sonst zu sein.
Polizeileutnant Ned Ordway, der vor ein paar Minuten Mel Bakersfeld verlassen hatte, hörte durch den offenstehenden Eingang einer kleinen Wache direkt an der Haupthalle die Ansage von Flug Zwei. Ordway erhielt gerade einen telefonischen Bericht von seinem Sergeanten in der Hauptwache der Flughafenpolizei. Der Funkmeldung eines Polizeiwagens zufolge sei ein starker Zustrom von vollbesetzten Privatwagen auf die Parkplätze zu verzeichnen, und es würden Schwierigkeiten entstehen, sie alle unterzubringen. Überprüfungen hätten ergeben, daß die Mehrzahl der Wageninsassen aus der Gemeinde Meadowood stammten, also Teilnehmer der Antilärmdemonstration seien, von der Leutnant Ordway ja schon gehört habe. Wie der Leutnant befohlen habe, seien bereits Polizeiverstärkungen unterwegs zum Flughafen.
Ein paar hundert Meter von Leutnant Ordway entfernt, in einer Wartenische für Fluggäste, machte die kleine alte Dame aus San Diego, Mrs. Ada Quonsett, eine Pause in ihrer Unterhaltung mit dem jungen Peter Coakley von der Trans America, während die beiden auf die Ankündigung von Flug Zwei horchten.
Sie saßen nebeneinander auf einer der ledergepolsterten Bankreihen. Mrs. Quonsett hatte gerade die Verdienste ihres verstorbenen Mannes in Ausdrücken beschrieben, wie Queen Victoria sie benutzt haben muß, wenn sie von Prinz Albert sprach. »So ein liebenswerter Mann, so verständig und gutaussehend. Er begegnete mir ja erst in seinen späteren Jahren, doch stelle ich mir vor, daß er Ihnen in seinen jungen Jahren sehr ähnlich gesehen haben muß.«
Peter Coakley grinste einfältig, so wie er es in den vergangenen anderthalb Stunden schon oft getan hatte. Seit er Tanya Livingston mit ihrem Auftrag verlassen hatte, bei der alten Schwarzflugdame bis zum Abgang ihres Rückfluges nach Los Angeles zu bleiben, hatte ihr Gespräch in der Hauptsache aus einem Monolog von Mrs. Quonsett bestanden, in dem Peter Coakley oft und schmeichelhaft mit dem verstorbenen Herbert Quonsett verglichen worden war. Es war ein Thema, das Peter entschieden ermüdet hatte. Er merkte nicht, daß Ada Quonsett listigerweise gerade das im Schilde führte.
Verstohlen gähnte Peter; mit solcher Art Arbeit hatte er nicht gerechnet, als er bei der Trans America als Passagieragent eintrat. Er kam sich wie ein Hanswurst vor, da in Uniform zu sitzen und das Kindermädchen für eine harmlose, schwatzhafte alte Dame zu spielen, die gut seine Urgroßmutter hätte sein können. Er hoffte, dieser Dienst hätte nun bald ein Ende. Es war Pech, daß Mrs. Quonsetts Flug nach Los Angeles, wie die meisten anderen heute abend, des Sturmes wegen verschoben war; sonst wäre die alte Schachtel bereits seit einer Stunde unterwegs. Er hoffte, daß der Flug nach Los Angeles bald aufgerufen würde. Indessen ging die Ankündigung von Flug Zwei weiter, und das war eine willkommene, wenn auch kurze Erholungspause. Der junge Peter Coakley hatte Tanyas zur Vorsicht mahnenden Worte schon vergessen: »Vergessen Sie nicht — sie hat einen Sack voll Tricks.«
»Hören Sie nur!« sagte Mrs. Quonsett, als die Ansage zu Ende war. »Ein Flug nach Rom! Ach, ein Flughafen ist doch zu interessant, finden Sie nicht? Besonders für einen intelligenten jungen Mann wie Sie. Wenn es einen Ort gibt, von dem mein lieber Mann wünschte, daß wir ihn gemeinsam sehen sollten, dann war es Rom.« Sie faltete die Hände, zwischen denen sie ein winziges Spitzentaschentuch hielt, und seufzte. »Es war uns nie vergönnt.«
Während sie redete, arbeitete es in Ada Quonsetts Kopf mit der Präzision einer guten Schweizer Uhr. Was sie wollte, war: diesem Kind in Männeruniform zu entwischen. Wenn es ihm auch sichtlich langweilig wurde, so war doch Langeweile an sich nicht genug: er war und blieb da. Was sie nun tun mußte, das war, für eine Situation zu sorgen, in der aus Langeweile Unachtsamkeit würde. Es mußte aber bald sein.
Mrs. Quonsett hatte ihre ursprüngliche Absicht nicht vergessen — sich in einen Flug nach New York einzuschmuggeln. Sie hatte sorgfältig auf die Ansagen der Abflüge nach New York geachtet, und fünf Flüge verschiedener Linien waren aufgerufen worden, aber keiner im richtigen Augenblick, das heißt, mit einer aussichtsreichen Chance, unbemerkt ihrem jungen Bewacher zu entkommen.
Sie wußte nicht, ob noch ein weiterer Abflug nach New York bevorstand, ehe die Maschine der Trans America nach Los Angeles startete — der Flug, den sie benutzen sollte, aber nicht wollte.
Alles andere ist besser, sagte sich Mrs. Quonsett, als nach Los Angeles zurückzufliegen. Aber auch alles! — Sogar — plötzlich hatte sie einen Einfall —, sogar an Bord der Maschine zu jenem Flug nach Rom zu gehen.
Noch zögerte sie. Aber warum eigentlich nicht? Vieles vom dem, was sie heute abend über Herbert gesagt hatte, stimmte nicht, aber richtig war, daß sie sich zusammen einmal Ansichtspostkarten von Rom angesehen hatten . . . Und wenn sie nicht weiter als bis zum Flughafen von Rom käme, wäre sie doch wenigstens einmal dort gewesen; dann könnte sie doch Blanche etwas erzählen, wenn sie schließlich nach New York käme. Ebenso wohltuend würde es sein, der rothaarigen Hexe von der Passagierbetreuung eins auszuwischen . . . Aber würde sie es schaffen? Und wie war die Nummer des Ausgangs, die sie gerade angesagt hatten? War es nicht. . . Ausgang siebenundvierzig im Blauen Warteraum »D«? Ja, sie war sicher.
Natürlich konnte der Flug voll besetzt und kein Platz mehr für einen blinden Passagier oder sonst jemanden sein, aber das war ja ein Risiko, das man immer einging. Und außerdem, fiel ihr ein, brauchte man für einen Flug nach Italien einen Paß, um an Bord zu kommen. Sie mußte überlegen, wie das zu machen war. Und selbst jetzt noch, wenn ein Flug nach New York angesagt würde . . . Hauptsache war jetzt, nicht dazusitzen, sondern irgend etwas zu unternehmen. Mrs. Quonsett begann mit ihren zarten faltigen Händen zu zittern. »O Gott!« stöhnte sie, »O Gott!« Die Finger ihrer rechten Hand nestelten an ihrer altmodisch hochgeschlossenen Bluse, sie betupfte ihren Mund mit dem Spitzentüchlein und ließ einen leisen, tiefen Seufzer hören.
Ein Ausdruck höchster Beunruhigung erschien auf dem Gesicht des jungen Mannes. »Was ist denn, Mrs. Quonsett? Was fehlt Ihnen?«
Ihre Augen schlössen sich und öffneten sich wieder. »Es tut mir so leid. Ich fühle mich gar nicht wohl.«
Peter Coakley erkundigte sich besorgt: »Soll ich Hilfe holen? Einen Arzt?«
»Ich möchte doch keine Umstände machen.«
»Das sind doch keine . . .«
»Nein«, Mrs. Quonsett schüttelte schwach den Kopf. »Ich glaube, ich werde mal zur Toilette gehen. Ich denke, es geht vorüber.«
Dem jungen Angestellten schien das zweifelhaft. Er wollte nicht riskieren, daß ihm die alte Dame unter den Händen starb, und danach sah es beinahe aus. Besorgt fragte er: »Glauben Sie wirklich?«
»Ja, ganz sicher.« Mrs. Quonsett hatte nicht die Absicht, hier in der Haupthalle des Flughafens Aufsehen zu erregen. Es waren zu viele Menschen in der Nähe, die sie beobachten würden. »Bitte helfen Sie mir auf — danke — wenn Sie mir jetzt Ihren Arm geben wollen — ich glaube, die Toiletten sind da drüben!« Auf dem Weg dahin stöhnte sie ein paarmal leise, was bei Peter Coakley ängstliche Blicke zur Folge hatte. Sie beruhigte ihn: »Ich habe schon einmal so einen Anfall gehabt. Ich bin sicher, es wird bald besser.«
Vor der Tür zur Damentoilette gab sie Coakleys Arm frei. »Sie sind wirklich freundlich zu einer alten Dame. So viele junge Männer sind heutzutage — o Gott! —« Sie verwarnte sich selbst: Das war jetzt genug; sie mußte sich vor Übertreibungen hüten. »Werden Sie hier auf mich warten? Sie werden doch nicht weggehen?«
»O nein. Ich bleibe hier.«
»Danke!« Sie öffnete die Tür und verschwand. Im Innern waren zwanzig oder dreißig Frauen. Überall auf dem Flughafen blühte heute abend das Geschäft, dachte Mrs. Quonsett, sogar bei den Toiletten. Nun brauchte sie einen Bundesgenossen. Sorgsam sondierte sie das Schlachtfeld, bis sie sich eine Frau vom Typ Sekretärin ausgesucht hatte, die es nicht sehr eilig zu haben schien. Mrs. Quonsett schlich sich zu ihr hinüber.
»Entschuldigen Sie, ich fühle mich nicht ganz wohl. Würden Sie mir vielleicht helfen?« Die kleine alte Dame aus San Diego fummelte mit ihren Händen, schloß die Augen und öffnete sie wieder, wie sie es bei Peter Coakley getan hatte.
Die jüngere Frau war sofort besorgt. »Natürlich helfe ich Ihnen. Soll ich Sie rausführen?«
»Nein — danke schön.« Mrs. Quonsett lehnte sich, scheinbar zur Stütze, gegen ein Waschbecken. »Ich müßte nur dringend eine Benachrichtigung geben. Draußen vor der Tür wartet ein junger Mann in der Uniform der Trans America. Er heißt Coakley. Bitte sagen Sie ihm — ja, ich bäte, doch einen Arzt zu holen.«
»Ich werd's ihm sagen. Kann ich Sie solange allein lassen?«
Mrs. Quonsett nickte. »Ja, ja, danke. Aber Sie kommen doch wieder — und sagen mir Bescheid?«
»Natürlich.«
In weniger als einer Minute war die junge Frau zurückgekehrt. »Er kümmert sich sofort um einen Arzt. Jetzt sollten Sie sich aber ausruhen, glaube ich. Warum . . .«
Mrs. Quonsett ließ das Waschbecken los. »Sie meinen, er ist schon fort?«
»Er hat sich sofort auf den Weg gemacht.«
Jetzt brauchte sie nur noch diese Frau loszuwerden, dachte Mrs. Quonsett. Von neuem schloß sie die Augen und öffnete sie wieder. »Ich weiß, daß es eigentlich zuviel verlangt ist — Sie waren ja so schon so freundlich —, aber meine Tochter wartet auf mich, vorn am Haupteingang, in der Nähe der United Air Lines.«
»Möchten Sie, daß ich sie hole?«
Mrs. Quonsett betupfte mit dem Spitzentüchlein ihre Lippen. »Ich wäre Ihnen so dankbar, wenn es auch eigentlich eine Zumutung ist.«
»Ich bin sicher, daß Sie das gleiche für mich täten. Aber woran kann ich Ihre Tochter erkennen?«
»Sie trägt einen weiten mauvefarbenen Mantel und einen kleinen weißen Hut mit gelben Blumen. Und sie hat einen Hund bei sich — einen französischen Pudel.«
Die Frau, die wie eine Sekretärin aussah, lächelte. »Dann ist es ja ganz einfach. Ich bin gleich zurück.«
»Es ist wirklich zu gütig von Ihnen.«
Ada Quonsett wartete einen Moment nachdem die Frau gegangen war. Sie hoffte nur zugunsten der freundlichen Helferin, daß sie nicht gar zu viel Zeit daran wenden würde, nach einer Phantasiegestalt in mauvefarbenem Mantel und in Begleitung eines nicht existierenden französischen Pudels zu suchen.
Innerlich lächelnd verließ die kleine alte Dame aus San Diego munteren Schritts die Damentoilette. Kein Mensch sprach sie an, als sie sich aufmachte und bald von dem Menschengebrodel des Flughafens verschluckt wurde.
Wo war nur der Blaue Warteraum »D« und der Ausgang siebenundvierzig?
Für Tanya Livingston war die Ansage für Flug Zwei so etwas wie ein Wechsel auf der Anzeigentafel über den Stand bei einem Ballspieldoppel. Vier Flüge der Trans America standen im Moment in verschiedenen Stadien des Abflugs. In ihrer Eigenschaft als Passagierbetreuerin hatte Tanya mit allen vier zu tun. Außerdem hatte sie gerade eine gereizte Verhandlung mit einem Passagier eines angekommenen Flugs aus Kansas City hinter sich.
Der aggressive Passagier beschwerte sich mit einem Wortschwall darüber, daß der Lederkoffer seiner Frau auf dem Fließband mit einem Riß in der Seite aufgetaucht war, weil er infolge unsachgemäßer Behandlung beschädigt worden sei. Tanya glaubte ihm das nicht — der Riß sah älter aus —, doch bot sie an, wie Trans America und andere Gesellschaften es zu tun pflegen, die Reklamation auf der Stelle durch Schadenersatz zu regeln. Schwieriger war es gewesen, sich auf eine angemessene Summe zu einigen. Tanya bot fünfunddreißig Dollar, was ihrer Meinung nach mehr als der ganze Wert des Koffers war; der Passagier wollte dafür fünfundvierzig haben. Schließlich einigten sie sich auf vierzig Dollar, wobei dem Kläger nicht bekannt war, daß ein Angestellter bis zu sechzig Dollar bieten durfte, um in Bagatellfällen Reklamationen loszuwerden. Selbst wenn der Verdacht eines Betrugversuchs nahelag, fanden die Gesellschaften es billiger, schnell zu bezahlen, als sich auf einen langen Disput einzulassen. Eigentlich sollten die Angestellten bei der Abfertigung beschädigte Gepäckstücke kennzeichnen, taten es aber selten. Infolgedessen erneuerten Fluggäste, die die Schliche kannten, manchmal auf diese Weise ihre alten Gepäckstücke.
Obwohl es nicht ihr Geld war, tat es Tanya leid, zu bezahlen, wenn die Fluglinie ihrer Meinung nach betrogen werden sollte. Jetzt richtete sie ihre Aufmerksamkeit darauf, gehetzten Nachzüglern zu Flug Zwei zu helfen, die immer noch ankamen. Glücklicherweise war der Bus mit den aus der Stadt Angemeldeten vor wenigen Minuten angekommen und die meisten der Fluggäste waren inzwischen zu dem Warteraum »D«, Ausgang siebenundvierzig dirigiert worden. In ein oder zwei Minuten, sagte sich Tanya, würde sie, für den Fall, daß beim Einsteigen der in letzter Minute ankommenden Passagiere Probleme auftauchen sollten, selbst zum Ausgang siebenundvierzig gehen.
D. O. Guerrero hörte die Ankündigung von Flug Zwei, während er in einer Schlange vor dem Schalter der Versicherung in der Haupthalle stand.
Es war Guerrero, gehetzt und nervös, den Kapitän Vernon De-merest hatte ankommen sehen, mit dem kleinen Aktenkoffer, der die Dynamitbombe enthielt.
Guerrero war vom Bus sofort zum Versicherungsschalter geeilt, vor dem er nun als letzter in der Schlange wartete. Zwei Leute an der Spitze verhandelten mit zwei weiblichen Angestellten, die mit einer zermürbenden Langsamkeit arbeiteten. Eins der Mädchen — eine vollbusige Blondine in tief ausgeschnittener Bluse — hatte eine lange Unterhaltung mit ihrer augenblicklichen Kundin, einer Frau mittleren Alters. Das Mädchen schien der Frau vorzuschlagen, eine höhere Police als beabsichtigt zu nehmen; die Frau konnte sich nicht entschließen. Offensichtlich würde es mindestens zwanzig Minuten dauern, um die Spitze der Schlange zu erreichen, aber bis dahin würde Flug Zwei wahrscheinlich weg sein. Aber er mußte eine Versicherung haben; er mußte an Bord sein.
Die Ansage hatte gelautet, zu Flug Zwei würde durch Ausgang siebenundvierzig an Bord gegangen. Guerrero sollte jetzt am Ausgang sein. Er merkte, wie er zitterte. Seine Hand am Griff des Aktenkoffers war feucht. Er sah wieder auf seine Uhr, zum zwanzigsten Male, und verglich sie mit der Zentraluhr. Sechs Minuten waren verstrichen seit der Ansage von Flug Zwei, der letzte Aufruf — Schließen der Flugzeugtüren — konnte jeden Augenblick kommen. Irgend etwas mußte geschehen.
D.O. Guerrero drängte sich rücksichtslos an die Spitze der Schlange vor. Ob er auffiel oder jemand beleidigte, das war ihm jetzt gleichgültig. Ein Mann protestierte: »He, Sie, wir warten auch.« Guerrero überhörte ihn. Er wandte sich an die vollbusige Blondine. »Ach, bitte schön — mein Flug nach Rom ist aufgerufen worden. Ich brauche eine Versicherung. Ich kann nicht warten.«
Der Mann, der eben protestiert hatte, fuhr dazwischen: »Dann fliegen Sie doch ohne. Das nächstemal kommen Sie früher.«
Guerrero wollte schon antworten: Es gibt kein nächstesmal. Statt dessen wandte er sich wieder der Blondine zu. »Ich bitte Sie!«
Zu seiner Überraschung lächelte sie ihn freundlich an. Dabei hatte er einen Rüffel erwartet. »Sagten Sie Rom?«
»Ja, ja, der Flug ist schon aufgerufen.«
»Ja, ich weiß.« Wieder lächelte sie. »Trans America Flug Zwei. Er heißt The Golden Argosy.«
Trotz seiner Aufregung bemerkte er, daß das Mädchen mit einem anziehenden europäischen Akzent — wahrscheinlich ungarisch — sprach. D. O. Guerrero bemühte sich, ganz ruhig zu bleiben. »Ja, stimmt.«
Das Mädchen richtete sein Lächeln an die anderen Wartenden.
»Dieser Herr hier hat wirklich keine Zeit. Ich hoffe, Sie nehmen es nicht übel, wenn ich ihn zuerst bediene.«
Es war so viel schiefgegangen, daß er an sein Glück kaum glauben konnte. Es wurde etwas gemurrt in der Schlange, doch der Mann, der bisher geredet hatte, verhielt sich still.
Das Mädchen legte ein Versicherungsformular vor. Sie strahlte die Frau an, mit der sie bisher verhandelt hatte. »Das hier dauert nur einen Augenblick.« Dann wandte sie ihr Lächeln wieder D. O. Guerrero zu.
Zum ersten Male merkte er, wie wirkungsvoll dieses Lächeln war und warum kein wirklicher Protest von den anderen erfolgte. Als das Mädchen ihn direkt ansah, hatte Guerrero, auf den Frauen selten Eindruck machten, das Gefühl dahinzuschmelzen. Sie hatte aber auch den größten Busen, den er je gesehen hatte.
»Mein Name ist Bunnie«, sagte das Mädchen mit seinem europäischen Akzent. »Wie ist der Ihre?« Ihr Kugelschreiber war gezückt.
Als Verkäuferin von Versicherungspolicen auf dem Flughafen war Bunnie Vorobioff bemerkenswert erfolgreich. Sie stammte nicht, wie D. O. Guerrero gedacht hatte, aus Ungarn, sondern aus Glauchau in Ostdeutschland und war über die Berliner Mauer in die Staaten gekommen. Bunnie, die damals noch Gretchen Vorobioff hieß und die schlichte, flachbrüstige Tochter eines kleinen kommunistischen Funktionärs und selbst Jungkommunistin war, kam nachts mit zwei männlichen Kameraden über die Mauer. Die beiden jungen Männer wurden von den Scheinwerfern erfaßt und erschossen. Bunnie dagegen hatte Glück; sie entging den Suchlich-tern und Schußwaffen und überlebte, denn Überleben war eine Fähigkeit, die für sie ganz natürlich zu sein schien.
Später, bei ihrer Ankunft in den USA, als Einwanderin von zwanzig Jahren, hatte sie das amerikanische freie Unternehmertum und seine Wohltaten mit der Begeisterung eines religiösen Konvertiten in sich aufgenommen. Sie arbeitete schwer als Hilfskraft in einem Krankenhaus, wo sie eine gewisse Ausbildung erhielt, und gleichzeitig nachts als Kellnerin. In die noch übrige Zeit quetschte sie irgendwie einen Englischkurs bei der Berlitz-School, und es gelang ihr auch noch ins Bett zu gehen — manchmal nur um zu schlafen, meistens aber mit Assistenzärzten des Krankenhauses. Die Assistenzärzte belohnten Gretchens sexuelle Gunstbeweise damit, daß sie sie mit Brustinjektionen behandelten. Es begann zufällig und endete als heiteres Gruppenexperiment, um einmal zu sehen, wie groß ihre Brüste wohl werden würden. Ehe sie mehr als gargantuanisch werden konnten, erprobte sie glücklicherweise ihre neugefundene Freiheit und gab das Krankenhaus für eine besser bezahlte Tätigkeit auf. Irgendwo unterwegs wurde sie nach Washington mitgenommen und besichtigte das Weiße Haus, das Kapitol und den Playboy-Club. Nach letzterem amerikanisierte sie sich noch mehr, indem sie den Namen Bunnie annahm.
Nun, ein Jahr später, war Bunnie Vorobioff völlig assimiliert. Sie nahm an einen Tanzkurs teil, war im Blue Cross und Columbia Record Club, hatte ein Kreditkonto bei Carson Pirie Scott, war auf Reader's Digest und TV abonniert, kaufte in Raten die World Book Encyclopedia, besaß einen Volkswagen, sammelte Rabattmarken und nahm die Pille.
Bunnie nahm auch begeistert an Wettbewerben aller Art teil, besonders solchen, die eine greifbare Belohnung versprachen. Das war auch der Grund dafür, daß ihr die jetzige Tätigkeit mehr behagte als alles, was sie vorher getan hatte. Es war die Tatsache, daß die Versicherungsgesellschaften von Zeit zu Zeit für ihre Angestellten Umsatzwettbewerbe mit Warenpreisen veranstalteten. Ein solcher Wettbewerb war nun gerade im Gange. Er sollte heute abend zu Ende gehen.
Dieser Wettbewerb war der Grund dafür, daß Bunnie so erfreut reagiert hatte, als D. O. Guerrero sagte, er sei auf dem Wege nach Rom. Im Augenblick brauchte Bunnie noch vierzig Punkte, um ihr Ziel in dem Wettbewerb zu erreichen: eine elektrische Zahnbürste. Eine Zeitlang hatte sie heute abend daran gezweifelt, daß sie ihre Punktzahl noch rechtzeitig zusammen bekäme, weil die Policen, die sie heute ausgestellt hatte, vorwiegend Inlandflüge betrafen. Denn diese Abschlüsse brachten geringere Prämien und weniger Wettbewerbspunkte. Wenn sie nun noch eine Höchstprämie für einen Überseeflug erringen konnte, würde ihr das fünfundzwanzig Punkte bringen, und der dann noch verbleibende Rest wäre leicht zu schaffen. Die Frage war nur: Eine wie hohe Police wollte der Fluggast nach Rom haben und gesetzt, sie läge unter dem Maximum, könnte Bunnie sie höher treiben?
In der Regel konnte sie das. Bunnie setzte einfach ihr verführerischstes Lächeln auf, das sie wie einen sofort wärmespendenden Ofen zu benutzen gelernt hatte, beugte sich nahe an den Kunden heran, so daß ihr Busen ihn verwirrte, und machte ihm dann klar, eine wie viel größere Chance sich ihm für etwas mehr Geld bot. Meistens zog das und war die Erklärung für Bunnies Erfolg als Versicherungsangestellte.
Nachdem D. O. Guerrero seinen Namen buchstabiert hatte, fragte sie: »An welche Police dachten Sie, Sir?«
Guerrero schluckte. »Volle Lebensversicherung — fünfundsieb-zigtausend Dollar.«
Nachdem er es ausgesprochen hatte, wurde ihm der Mund trok-ken. Er bekam plötzlich Angst, seine Worte hätte jedermann in der Schlange hinter ihm stutzig gemacht, und dachte, ihre Augen bohrten sich ihm in den Rücken. Er zitterte am ganzen Leib, er war sicher, daß es bemerkt werden würde. Um das zu verdecken, zündete er sich eine Zigarette an, aber seine Hand zitterte derart, daß er Mühe hatte, Flamme und Zigarette zusammenzubringen. Gott sei Dank hatte das Mädchen, deren Stift über der Spalte »Versicherungssumme« schwankte, anscheinend nichts gemerkt.
Bunnie äußerte: »Das würde zwei Dollar und fünfzig Cent kosten.«
»Was? — Ach so, ja.« Guerrero gelang es, seine Zigarette anzuzünden, dann ließ er das Streichholz fallen. Er griff in seine Taschen, das wenige Geld, das er noch hatte, hervorzuholen.
»Aber es ist nur eine sehr kleine Police.« Bunnie Vorobioff hatte die Summe noch nicht eingetragen. Nun beugte sie sich vor und brachte dem Kunden ihren Busen näher. Sie konnte sehen, wie er fasziniert darauf herunterschaute; das taten die Männer immer. Manchmal spürte sie, daß sie am liebsten zupacken würden. Dieser Mann jedoch nicht.
»Klein?« Guerrero sprach verlegen und stockend. »Ich dachte — es wäre die größte.«
Selbst Bunnie bemerkte nun die starke Nervosität des Mannes. Sie vermutete, das käme durch den baldigen Abflug. Sie schickte ein blendendes Lächeln über den Tisch.
»Aber nein, Sir. Sie können eine Dreihunderttausend-Dollar-Po-lice haben. Die meisten Reisenden nehmen sie, und sie kostet nur zehn Dollar Prämie. Das ist doch wirklich nicht viel für den großen Schutz, den sie bietet, nicht wahr?« Sie behielt ihr Lächeln eingeschaltet; die Antwort konnte eine Differenz von beinahe zwanzig Punkten bedeuten; sie konnte sie die elektrische Zahnbürste gewinnen oder verlieren lassen.
»Sie sagten — zehn Dollar?«
»Ganz richtig — für dreihunderttausend.«
D. O. Guerrero dachte: Wenn ich das gewußt hätte! Er hatte angenommen, fünfundsiebzigtausend Dollar seien die Höchstgrenze für auf Flughäfen abgeschlossene Versicherungen bei Überseeflügen. Diese Kenntnis hatte er aus einem Versicherungsformular gewonnen, das er vor ein oder zwei Monaten auf einem anderen Flughafen an sich genommen hatte. Jetzt fiel ihm aber ein, daß jenes Formular ja aus einem Automaten stammte. Der Gedanke war ihm nicht gekommen, daß Policen am Schalter viel höher sein könnten.
Dreihunderttausend Dollar!
»Ja«, sagte er. »Bitte — ja.«
Bunnie strahlte. »Den vollen Betrag, Mr. Guerrero?«
Er war im Begriff zustimmend zu nicken, als ihm die höchste Ironie aufging. Zehn Dollar besaß er wahrscheinlich gar nicht mehr. Er sagte: »Miss — warten Sie mal!« und begann in seinen Taschen zu wühlen und alles, was er an Geld noch besaß, zusammenzusuchen.
Die Leute in der Schlange fingen allmählich an, ungeduldig zu werden. Der Mann, der sich zu Anfang gegen »Guerrero gewandt hatte, protestierte nun bei Bunnie: »Sie sagten, es dauert nur eine Minute!«
Guerrero hatte vier Dollar und siebzig Cent zusammengekratzt.
Vor zwei Nächten, als D. O. Guerrero und Inez ihr letztes verbliebenes Geld zusammengeworfen hatten, hatte er acht Dollar und ein bißchen Kleingeld an sich genommen. Nachdem er Inez' Ring versetzt und die Ausgaben für den Flugschein gemacht hatte, waren ihm nur ein paar Dollar geblieben; genau wußte er es nicht, aber nachdem er für Essen, Untergrundbahnfahrten und den Flughafenbus bezahlt hatte . . . Er hatte gewußt, daß er zweieinhalb Dollar für die Versicherung brauchte, und diesen Betrag sorgfältig in einer Extratasche gelassen. Darüber hinaus aber hatte er sich keine Gedanken gemacht, weil er sich gesagt hatte, sobald er erst einmal an Bord von Flug Zwei wäre, hätte Geld ja keinen Wert mehr.
»Wenn Sie kein Bargeld haben«, sagte Bunnie Vorobioff, »können Sie mir auch einen Scheck geben.«
»Mein Scheckbuch habe ich zu Hause gelassen.« Das war eine Lüge; er hatte Schecks in der Tasche. Aber wenn er einen ausschrieb, würde dieser platzen und die Versicherung ungültig machen.
Bunnie sagte hartnäckig: »Wie ist es mit italienischem Geld, Mr. Guerrero? Ich kann ja Lire zum richtigen Kurs nehmen.«
Er murmelte: »Italienisches Geld habe ich auch nicht.« Dann verfluchte er sich selbst, weil er das gesagt hatte. In der Stadt hatte er sich für einen Flug nach Rom ohne Gepäck gemeldet. Nun hatte er wahrscheinlich vor Zuschauern gezeigt, daß er kein Geld, weder amerikanisches noch italienisches, hatte. Wer würde schon ohne Gepäck und ohne einen Pfennig einen Überseeflug antreten, es sei denn jemand, der wußte, daß der Flug nie seinen Bestimmungsort erreichen würde.
Dann sagte sich Guerrero aber, außer in seiner Vorstellung hätten die beiden Vorfälle — in der Stadt und hier — ja gar keinen Zusammenhang. Sie würden erst später in Zusammenhang gebracht werden, doch dann war es belanglos.
Er überlegte weiter, wie er es schon auf dem Weg hierher getan hatte: Der Grad der Verdächtigung spielte gar keine Rolle, der entscheidende Faktor war, daß es kein Wrack, keinen Beweis gab.
Erstaunlicherweise, und trotz seines letzten Fehlers, entdeckte er, daß seine Zuversicht wuchs.
Er legte noch ein paar Zehncentstücke und Pennies zu dem Haufen Kleingeld auf den Schalter. Da fand er, wie durch ein Wunder, in einer Innentasche noch eine Fünfdollarnote.
Ohne seine Erregung zu verbergen, rief Guerrero aus: »Da haben wir es! Ich habe genug!« Es blieb sogar noch ungefähr ein Dollar übrig.
Nun aber kamen sogar Bunnie Zweifel. Anstatt die Dreihundert-tausend-Dollar-Police auszuschreiben, zögerte sie.
Während er in seinen Taschen gesucht hatte, hatte sie sein Gesicht studiert.
Natürlich war es seltsam, daß dieser Mann ohne Geld nach Übersee flog, aber das war schließlich seine eigene Angelegenheit. Dafür konnte es alle möglichen Gründe geben. Was sie wirklich irritierte, waren seine Augen; eine Spur von Irrsinn, von Verzweiflung lag in ihnen. Das waren Zustände, die Bunnie aus ihrer Vergangenheit gut kannte. Sie hatte sie bei anderen erlebt. Und in Augenblicken — obwohl es schon so lange her zu sein schien — hatte sie selbst dicht davorgestanden. Bunnies Arbeitgeber bei der Versicherungsgesellschaft hatten eine feststehende Vorschrift: Beantragte jemand eine Flugversicherung, der gestört oder ungewöhnlich erregt schien, oder betrunken war, so war dieses Faktum der Fluggesellschaft zu melden, mit der er flog. Die Frage für Bunnie war: Lag hier ein Anlaß vor, die Regel zu befolgen?
Sie war sich nicht sicher.
Die Versicherungsangestellten diskutierten diese Vorschrift öfters untereinander. Einige der Mädchen hatten etwas dagegen und befolgten sie nicht. Sie machten den Einwand, sie seien angestellt, um Versicherungen auszustellen, nicht um als unbezahlte, ungeprüfte Psychologen zu arbeiten. Andere sagten, viele Menschen, die auf einen Flughafen Versicherungen abschlössen, seien nervös; wie könne einer ohne Spezialausbildung entscheiden, wo Nervosität aufhöre und Irrsinn anfange. Bunnie selbst hatte nie einen erregten Passagier gemeldet, wenn sie auch ein Mädchen kannte, die es getan hatte, wobei sich nachher herausstellte, daß es der Vizepräsident einer Fluggesellschaft war, der so aufgeregt war, weil seine Frau ein Kind bekam. Es waren alle möglichen Verwicklungen in dieser Beziehung vorgekommen.
Immer noch zögerte Bunnie. Sie hatte ihre Unsicherheit dadurch überspielt, indem sie das Geld des Mannes vor dem Schalter zählte. Nun fragte sie sich, ob Marj, die Kollegin, die neben ihr arbeitete, wohl irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt hätte. Marj war mit dem Ausschreiben einer Police und dem Verdienen ihrer Wettbewerbspunkte beschäftigt.
Am Ende war es Bunnie Vorobioffs Vergangenheit, die ihre Entscheidung beeinflußte. Ihre Jugendzeit — das besetzte Europa, ihre Flucht in den Westen, die Berliner Mauer — hatte sie überleben gelehrt und ihr die Erfahrung eingebracht: Die Neugier beherrschen und keine unnötigen Fragen stellen. Fragen führten zu Verwicklungen, und Verwicklung — in anderer Leute Probleme — war etwas, das vermieden werden mußte, wenn man seine eigenen hatte.
Ohne weitere Fragen zu stellen und dabei zugleich ihr Problem — wie gewinne ich eine elektrische Zahnbürste — lösend, schrieb Bunnie Vorobioff eine Flugversicherungspolice für dreihunderttausend Dollar auf D. O. Guerreros Leben aus.
Auf dem Weg zu Ausgang siebenundvierzig zu Flug Zwei steckte D. O. Guerrero die Police an seine Frau Inez in den Briefkasten.
13
Zollinspektor Harry Standish hörte die Ansage des bevorstehenden Abflugs von Flug Zwei nicht, doch wußte er, daß sie erfolgt war. Flugansagen wurden nicht zur Zollabfertigung durchgegeben da nur die aus dem Ausland ankommenden Besucher dorthin gehen. Folglich erhielt Standish seine Information von der Trans-America-Fluglinie über das Telefon. Ihm wurde gesagt, daß Flug Zwei mit dem Anbordgehen begonnen habe und zur neu festgesetzten Zeit, um 23 Uhr, starten würde.
Standish sah auf die Uhr und wollte in einigen Minuten zum Ausgang siebenundvierzig gehen, nicht dienstlich, sondern um sich von seiner Nichte Judy zu verabschieden, der Tochter seiner Schwester, die zu ihrer Ausbildung für ein Jahr nach Europa flog. Früher am Abend hatte er eine Weile mit seiner Nichte, einem netten, selbstsicheren Mädchen von achtzehn Jahren, verbracht und gesagt, er würde noch einmal kommen und sich verabschieden, ehe ihr Flug abginge.
Indessen war Inspektor Standish dabei, vor Ende eines mühevollen Tages, ein lästiges Problem zu lösen.
»Madam«, sagte er in aller Ruhe zu der hoheitsvollen, starkknochigen Dame, deren verschiedene Koffer geöffnet auf dem Zolluntersuchungstisch zwischen ihnen lagen, »sind Sie sicher, daß Sie ihre Darstellung nicht mehr berichtigen wollen?«
Sie stieß hervor: »Sie wollen damit wohl andeuten, ich hätte gelogen. Dabei habe ich Ihnen nur die Wahrheit gesagt. Manchmal frage ich mich, ob wir hier nicht in einem Polizeistaat leben.«
Harry Standish ignorierte die letzte Bemerkung, weil sich Zollbeamte angewöhnt haben, die vielen Beleidigungen, die sie zu hören bekommen, zu übergehen, und antwortete höflich: »Ich will gar nichts andeuten, Madam. Ich frage lediglich, ob Sie ihre Angaben über diese Dinge — die Kleider, die Pullover und den Pelzmantel — korrigieren möchten.«
Die Frau, deren amerikanischer Paß sie als Mrs. Harriet Du Barry Mossman aus Evenston auswies, und die eben von einem einmonatigen Aufenthalt in England, Frankreich und Dänemark zurückkam, antwortete scharf: »Nein, das möchte ich nicht. Außerdem, wenn der Anwalt meines Mannes von dieser Ausfragerei erfährt . . .«
»Schön, Madam«, sagte Harry Standish. »In dem Fall möchte ich Sie bitten, dies Formular zu unterschreiben. Wenn Sie wünschen, erkläre ich es Ihnen.«
Die Kleider, Pullover und der Pelzmantel lagen ausgebreitet auf dem Tisch. Den Pelz — ein Zobelmantel — hatte Mrs. Mossman bis vor einigen Minuten getragen, als Inspektor Standish zur Zollkontrolle Nr. 11 kam; er hatte sie gebeten, den Mantel auszuziehen, damit er ihn genauer ansehen könne. Kurz vorher hafte ein Rotlicht auf einem Wandbrett, weiter in der Mitte der großen Zollabfertigungshalle, Standish herbeigerufen. Diese Lichtsignale — eines für jeden Platz — meldeten, daß ein Zollbeamter vor einem Problem stand und die Hilfe seines Vorgesetzten brauchte.
Nun stand der junge Zöllner, der bisher mit Mrs. Mossman zu tun hatte, neben Inspektor Standish. Die meisten anderen Passagiere, die an Bord einer DC-8 der Scandinavian Airlines von Kopenhagen angekommen waren, hatten die Zollkontrolle hinter sich und waren gegangen. Nur diese gutgekleidete Dame gab ein Problem auf, indem sie darauf bestand, alles, was sie in Europa gekauft habe, sei etwas Parfüm, billiger Modeschmuck und Schuhe.
»Warum soll ich irgend etwas unterschreiben?« fragte Mrs. Har-riet Du Barry Mossman.
Standish blickte zu einer Uhr hinauf, es war Viertel nach zehn. Er hatte also noch Zeit, das hier zu Ende zu bringen und Flug Zwei vor Abflug noch zu erreichen. Höflich antwortete er: »Um Ihnen die Sache zu erleichtern, Madam. Wir bitten nur, uns schriftlich zu bestätigen, was Sie uns bereits gesagt haben. Sie sagten, die Kleider wären in . . .«
»Wie oft soll ich es Ihnen noch sagen? Sie sind in Chicago und New York gekauft, ehe ich nach Europa flog; ebenso die Pullover. Der Pelz ist ein Geschenk — gekauft in den Vereinigten Staaten. Ich bekam ihn vor sechs Monaten.«
Warum, fragte sich Standish, taten die Menschen nur so etwas? Die gemachten Angaben, das wußte er genau, waren lauter Lügen.
Zunächst einmal waren aus allen Kleidern — sechs, und alle von erster Qualität — die Etiketts herausgetrennt. Das tat niemand nur einfach so; in der Regel waren Frauen stolz auf Etiketts in erstklassigen Sachen. Wesentlicher war: Die Machart der Kleider war eindeutig französisch, ebenso der Schnitt des Pelzes — obwohl ein Etikett von Saks Fifth Avenue recht ungeschickt in das Futter genäht worden war. Daß Menschen wie diese Mrs. Mossman sich nie klarmachten, daß ein erfahrener Zollbeamter keine Etiketts zu sehen braucht, um zu wissen, woher Kleidungsstücke stammen. Schnitt, Näharbeit — sogar die Art, wie ein Reißverschluß eingenäht ist — waren für sie wie eine bekannte Handschrift, und auch so unterscheidbar.
Dasselbe galt auch für die drei teuren Pullover. Die waren auch ohne Etiketts und stammten unverkennbar aus Schottland, in typisch englischen, gedeckten Farben, wie sie in den Vereinigten Staaten nicht zu haben waren. Wenn Geschäfte in den Staaten solche Pullover bestellten, machten die schottischen Strickereien sie in viel knalligeren Farben, wie sie der amerikanische Markt bevorzugt. All dieses und vieles andere lernten die Zollbeamten bei ihrer Ausbildung.
Mrs. Mossman erkundigte sich: »Und was passiert, wenn ich unterschreibe?«
»Dann können Sie gehen, Madam.«
»Und kann meine Sachen mitnehmen? Alles?«
»Gewiß.«
»Wenn ich es aber nun ablehne?«
»Dann sind wir genötigt, Sie hier festzuhalten, solange die Nachforschungen dauern.«
Es entstand eine ganz kurze Pause: »Also gut. Füllen Sie das Formular aus, und ich unterschreibe.«
»Nein, Madam, Sie füllen es aus. Hier führen sie die Gegenstände auf, und hier geben Sie an, wo Sie sie gekauft haben. Bitte nennen Sie die Geschäfte und auch, von wem Sie den Pelz geschenkt bekommen haben . . .«
Harry Standish dachte: In einer Minute muß ich gehen; jetzt ist es zehn vor elf. Er wollte doch nicht bei Flug Zwei ankommen, wenn die Türen geschlossen waren. Aber erst einmal hatte er einen Verdacht . . .
Morgen früh würde ein Beamter der Zollfahndungsstelle die Erklärung prüfen, die Mrs. Mossman soeben abgegeben hatte. Die Kleider und Pullover würden sichergestellt und in den Geschäften, in denen sie angeblich gekauft waren, vorgezeigt werden; der Pelzmantel würde zu Saks in der Fifth Avenue gebracht werden, die ihn zweifellos für nicht von ihnen stammend erklären würden. Mrs Mossman hatte — obwohl sie es noch nicht wußte — große Scherereien, einschließlich hoher Zollgebühren und wohl auch einer gehörigen Geldbuße, zu erwarten.
»Madam«, sagte Inspektor Standish, »haben Sie sonst noch irgend etwas zu verzollen?«
Mrs. Mossman entgegnete empört: »Nein, ganz bestimmt nichts!«
»Sind Sie ganz sicher?«
Ihn keiner Antwort würdigend, schüttelte sie verächtlich den Kopf.
»Dann bitte ich Sie«, sagte der Inspektor, »doch einmal ihre Handtasche zu öffnen.«
Zum erstenmal verriet die hochmütige Frau Unsicherheit. »Aber Handtaschen werden doch nie kontrolliert! Ich bin so oft durch den Zoll gekommen.«
»Im allgemeinen nicht. Aber wir haben das Recht dazu.«
Das Kontrollieren von Damenhandtaschen kam selten vor. Wie die Hosentaschen bei Männern, galten Handtaschen als persönliche Sphäre und wurden fast nie beachtet. Wenn aber jemand Schwierigkeiten machte, dann konnten die Zöllner auch schwierig werden.
Zögernd klappte Mrs. Harriet Du Barry Mossman ihre Handtasche auf.
Harry Standish prüfte einen Lippenstift und eine goldene Puderdose. Als er den Puder in der Dose untersuchte, zog er einen Ring mit einem Brillanten und einem Rubin heraus; er blies den Puder von dem Ring. Dann kam eine halbvolle Tube mit Handcreme zum Vorschein. Als er die Tube aufrollte, sah er, daß das Ende aufgemacht worden war. Als er die Tube an der Spitze befühlte, bemerkte er etwas Hartes im Inneren. Er fragte sich, wann die Schmuggler sich endlich einmal etwas Neues einfallen lassen würden. So alte Tricks! Die hatte er alle schon oft gesehen.
Mrs. Mossman erbleichte sichtlich. Ihre ganze Arroganz war dahin.
»Madam«, sagte Standish, »ich muß für einen Augenblick fort, bin aber bald zurück. Auf jeden Fall wird das hier etwas länger dauern.« Er instruierte den jungen Kollegen neben ihm: »Kontrollieren Sie alles sehr sorgfältig. Sehen Sie sich das Futter der Handtasche und der Koffer an, die Säume und Nähte von allen Sachen. Machen Sie eine Liste. Sie wissen ja, was Sie zu tun haben.«
Als er gehen wollte, rief Mrs. Mossman hinter ihm her: »Herr Zollinspektor!«
Er blieb stehen. »Ja, Madam?«
»Mit dem Mantel und den Kleidern, da habe ich mich vielleicht geirrt — ich war so verwirrt. Die habe ich gekauft, und da sind vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten . . .«
Standish schüttelte den Kopf. Wenn die Leute doch endlich begreifen wollten, daß irgendwo eine Grenze sein mußte, nach der keine Zusammenarbeit mehr möglich war. Er sah, daß der Kollege noch etwas anderes gefunden hatte.
»Bitte! Ich bitte Sie sehr — mein Mann . . .«
Als der Inspektor ging, wurde das Gesicht der Frau weiß und eingefallen.
Mit schnellen Schritten nahm Harry Standish eine Abkürzung, die unterhalb des für die Allgemeinheit zugänglichen Teils des Flughafens hindurchführte, um zum Warteraum »D« und Ausgang siebenundvierzig zu kommen. Unterwegs dachte er über die Torheit dieser Mrs. Mossman und der vielen ihresgleichen nach. Wäre sie mit dem Mantel und den Kleidern ehrlich gewesen und hätte sie sie angegeben, dann wäre die Zollgebühr nicht sehr hoch gewesen, besonders für jemand, der offensichtlich wohlhabend war. Wenn der junge Kollege die Pullover auch bemerkt hätte, hätte er sich wahrscheinlich gar nicht damit aufgehalten; und sicher wäre dann auch nicht ihre Handtasche kontrolliert worden. Die Zollbeamten wußten ja genau, daß alle zurückkehrenden Reisenden ein bißchen schmuggelten, und waren da nachsichtig. Und wenn sie gebeten wurden, halfen sie den Leuten, ihre hochverzollbaren Dinge innerhalb der Grenze für zollfreie Einfuhr unterzubringen und andere. Artikel, für die niedrigere Sätze galten, zum Verzollen zu deklarieren.
Leute, die geschnappt, hart angepackt und manchmal angeklagt wurden, waren immer und ewig nur solche, wie Mrs. Mossman, die versuchten, mit allem glatt durchzukommen. Deprimiert hatte Harry Standish heute nur die große Zahl von ihresgleichen.
Erleichtert sah er, daß die Türen zu Flug Zwei noch nicht geschlossen waren und bei der Ausgangskontrolle noch einige Reisende standen. Seine Zolluniform galt für ihn auf dem Flughafen als Passierschein, und der beschäftigte Angestellte am Ausgang blickte kaum auf, als Inspektor Standish vorbeikam. Der Angestellte am Ausgang wurde, wie Standish bemerkte, von einer rothaarigen Frau in Uniform unterstützt, in der er Mrs. Livingston erkannte.
Der Inspektor betrat die Gangway zur Touristenklasse. Eine Stewardess stand am hinteren Eingang des Flugzeugs. Er lächelte. »Es dauert nur einen Augenblick. Starten Sie aber nicht mit mir an Bord.«
Er fand seine Nichte auf dem äußeren Platz einer dreisitzigen Reihe. Sie beschäftigte sich mit einem Kind, das einem jungen Ehepaar auf den beiden anderen Plätzen gehörte. Wie immer schien diese Touristenkabine erdrückend überfüllt zu sein, die Plätze unbequem eng nebeneinander. Bei den wenigen Flugreisen, die Inspektor Standish selbst gemacht hatte, war er auch in der Touristenklasse geflogen und hatte stets ein Gefühl von Platzangst gehabt. Heute abend beneidete er keinen dieser Leute um die zehnstündige Reise, die vor ihnen lag.
»Onkel Harry!« rief Judy. »Ich habe schon gedacht, du würdest es nicht mehr schaffen.« Sie gab das Kind der Mutter zurück.
»Ich bin nur schnell gekommen, um noch einmal Adieu zu sagen!« meinte er. »Ich wünsche dir ein gutes Jahr, und wenn du zurückkommst, versuche nicht zu schmuggeln!«
Sie lachte. »Das werde ich nicht. Auf Wiedersehn, Onkel Harry.«
Sie hielt ihm das Gesicht hin, und er küßte sie herzlich. Nein, um Judy hatte er keine Angst. Er hatte das Gefühl, sie würde einmal nicht so werden wie Mrs. Mossman.
Nachdem er das Flugzeug mit einem freundlichen Lächeln zur Stewardess hin verlassen hatte, blieb er einen Augenblick am Ausgang stehen und sah zu. Die letzten Augenblicke vor dem Start eines Fluges, besonders nach entfernten Gegenden, faszinierten ihn immer wieder, wie es ja vielen Menschen geht.
»Trans America Airlines geben den sofortigen Start von Flug Zwei The Golden Argosy. . .« hieß es gerade im Lautsprecher.
Das Menschenknäuel, das darauf wartete, an Bord zu gehen, hatte sich bis auf zwei verringert. Die rothaarige Passagierbetreuerin, Mrs. Livingston, sammelte ihre Papiere ein, während sich der Mann an der Sperre mit dem vorletzten Ankömmling beschäftigte — einem großen blonden Mann, hutlos, in einem Kamelhaarmantel. Nun verließ der blonde Mann die Sperre und betrat die Gangway zur Touristenklasse. Mrs. Livingston verließ ebenfalls die Sperre und ging zur Haupthalle des Flughafens.
Während er zusah, bemerkte Standish, eigentlich mehr im Unterbewußtsein, noch jemanden, der vor einem Fenster stand und der Sperre den Rücken zukehrte. Jetzt drehte sich die Gestalt um, und er sah, daß es eine alte Dame war. Sie wirkte klein, gesetzt und zart. Sie war schwarz gekleidet, in einem altmodischen Stil, und trug eine schwarze Perlenhandtasche. Sie sah aus, als brauche sie jemanden, der sich ihrer annahm, und er wunderte sich, daß jemand, der so alt und offensichtlich einsam war, noch so spät in der Nacht hier war.
Flinker als erwartet, ging die alte Dame zu dem Angestellten der Trans Amerika, der mit den letzten Reisenden für Flug Zwei beschäftigt war. Standish hörte bruchstückweise, was gesagt wurde. Die Worte der alten Dame wurden übertönt von dem Lärm der Flugzeuge, die draußen starteten. »Entschuldigen Sie — mein Sohn ist gerade an Bord gegangen — blondes Haar, ohne Hut, Kamelhaarmantel — Brieftasche vergessen — sein ganzes Geld.« Die alte Dame zeigte, wie Standish sehen konnte, etwas vor, das aussah wie eine Brieftasche. Der Angestellte blickte ungeduldig auf. Er sah abgekämpft aus; das taten die Männer an der Sperre gewöhnlich in den letzten Minuten vor einem Abflug. Der Mann wollte die Brieftasche ergreifen, sah aber dann die alte Dame, überlegte es sich anders und sagte schnell irgendwas. Er wies auf die Gangway zur Touristenklasse, und Standish hörte ihn sagen: »Bitten Sie die Stewardess.« Die alte Dame lächelte, nickte und ging zur Gangway. Einen Augenblick später war sie außer Sicht.
Alles, was Zollinspektor Standish beobachtet hatte, dauerte nur wenige Augenblicke, vielleicht weniger als eine Minute. Nun sah er einen anderen Ankömmling erscheinen — einen spindeldürren Mann mit gebeugtem Rücken, der durch den Warteraum »D« auf Ausgang siebenundvierzig zueilte. Der Mann hatte ein hageres Gesicht und einen dünnen sandfarbenen Schnurrbart. Er trug einen kleinen Aktenkoffer.
Standish wollte sich gerade abwenden, da erregte irgend etwas an dem Mann seine Aufmerksamkeit. Es war die Art, wie er seinen Koffer hielt — beschützend unter seinem Arm. Harry Standish hatte oft Leute dasselbe tun sehen, wenn sie durch die Zollabfertigung kamen. Es war ein Eingeständnis, daß sie das, was auch immer in dem Koffer oder der Tasche war, verbergen wollten. Wenn dieser Mann aus dem Ausland gekommen wäre, hätte Standish ihn den Koffer öffnen lassen und dessen Inhalt kontrolliert. Aber der Mann verließ ja die Vereinigten Staaten.
Kurz gesagt: Es ging Harry Standish nichts an.
Doch irgend etwas — ein sechster Sinn, den Zollbeamte sich aneignen, dazu eine persönliche Verbindung durch Judy mit Flug Zwei —, irgend etwas ließ den Inspektor weiterbeobachten, hielt seinen Blick an dem Aktenkoffer fest, den der dünne Mann da immer noch ans Herz drückte.
Das Gefühl der Zuversicht, das bei D. O. Guerrero am Versicherungsschalter wiedergekehrt war, hatte angehalten. Als er sich dem Ausgang siebenundvierzig näherte und bemerkte, daß er noch rechtzeitig zum Flug Zwei kam, war er der Überzeugung, im großen ganzen seien seine Schwierigkeiten vorüber. Von nun an, sagte er sich zur Beruhigung, würde alles wie geplant ablaufen. Dieser Erwartung entsprechend, gab es an der Sperre kein Problem. Wie er von Anfang an geplant hatte, machte er auf die Diskrepanz zwischen dem Namen »Buerrero« auf seinem Flugschein und Guerrero in seinem Paß aufmerksam. Nach einem flüchtigen Blick in den Paß korrigierte der Mann an der Sperre sowohl den Schein wie auch seine Passagierliste und entschuldigte sich: »Bedaure Sir, manchmal sind unsere Buchungsmaschinen unzuverlässig.« Guer-rero stellte mit Genugtuung fest, daß sein Name richtig eingetragen war. Es würde also später, wenn Flug Zwei als vermißt galt, keinen Zweifel an seiner Identität geben.
»Ich wünsche einen angenehmen Flug, Sir.« Der Mann gab ihm den Flugschein zurück und wies einladend auf die Gangway zur Touristenklasse.
Als D. O. Guerrero an Bord ging, seinen Koffer nach wie vor fest an sich gedrückt, liefen die Steuerbordmaschinen bereits.
Sein numerierter Platz — am Fenster, in einer Reihe von drei Sitzen — war ihm zugeteilt worden, als er sich im Stadtbüro gemeldet hatte. Eine Stewardess wies ihm den Weg. Ein männlicher Mitreisender, der bereits auf dem Sitzplatz am Gang saß, erhob sich etwas, um Guerrero vorbeizulassen, der Platz zwischen ihnen war unbesetzt.
D. O. Guerrero balancierte sein Köfferchen vorsichtig auf den Knien, als er sich anschnallte. Sein Platz lag in der Mitte des Abteils, auf der linken Seite. Überall in der Kabine waren die Leute damit beschäftigt, sich einzurichten, Handgepäck und Mäntel unterzubringen. Einige Menschen blockierten den Mittelgang. Eine der Stewardessen bewegte tonlos ihre Lippen und sah aus, als wünschte sie, daß alle einmal ruhig wären, denn sie war bei der Kopfzählung.
Zum ersten Male, seit D. O. Guerrero seine Wohnung verlassen hatte, entspannte er sich, lehnte sich in seinen Sitz zurück und schloß die Augen. Seine Hände, die jetzt ruhiger waren, lagen fest auf dem Aktenkoffer. Ohne die Augen zu öffnen, tastete er mit den Fingern unter dem Griff und überzeugte sich, daß die wichtige Schlinge noch da war. Das Gefühl war beruhigend. Er würde genau so sitzen, beschloß er bei sich, wenn er in etwa vier Stunden daran zöge und den elektrischen Stromkreis schloß, der die Dynamitladung im Köfferchen zur Explosion bringen würde. Und wenn dann der Augenblick käme, fragte er sich, wieviel Zeit würde ihm wohl bleiben, um es zu merken?
Diese Frage beantwortete er mit der Überlegung, daß es nur einen Moment dauern würde — den Bruchteil einer Sekunde —, um seinen Erfolg zu genießen. Dann, barmherzigerweise, war alles zu Ende.
Nun, da er an Bord und bereit war, wünschte er, der Flug möge starten. Doch als er die Augen öffnete, war dieselbe Stewardess immer noch beim Zählen.
Im Augenblick waren zwei Stewardessen in der Touristenklasse. Mrs. Ada Quonsett hatte beide beobachtet, indem sie von Zeit zu Zeit einen Spalt der Toilettentür öffnete, hinter der sie sich verbotgen hielt.
Die Vorstartkopfzählung durch eine Stewardess, die nun statt- fand, kannte Mrs. Quonsett. Sie wußte auch, daß in diesem Augen- blick jemand, der illegal an Bord war, der Entdeckung am stärksten ausgesetzt war. Wenn ein blinder Passagier aber diese Zählung überstand, hatte er oder sie die Chance, erst viel später, falls überhaupt, entdeckt zu werden.
Glücklicherweise war die Stewardess, die nun die Kopfzählung machte, nicht die gleiche, der Mrs. Quonsett begegnet war, als sie an Bord kam. Mrs. Quonsett hatte ein paar angstvolle Augenblicke hinter sich gebracht, als sie vorsichtig die rothaarige Hexe von der Passagierbetreuung beobachtete, die sie zu ihrer Bedrängnis am Ausgang siebenundvierzig im Dienst fand. Gott sei Dank verschwand die Frau, ehe das An-Bord-Gehen für den Flug beendet war, und der Mann an der Sperre erwies sich als leichtgläubig.
Danach wiederholte Mrs. Quonsett ihre Geschichte mit der Brieftasche bei der Stewardess, die an der Tür des Flugzeugs Dienst hatte. Die Stewardess, mit den Fragen verschiedener Personen, die sich am Eingang herumdrückten, beschäftigt, lehnte es ab, die Brieftasche zu übernehmen, als sie hörte, es sei eine »Menge Geld« darin — eine Reaktion, mit der Mrs. Quonsett gerechnet hatte. Wie erwartet, wurde also der kleinen alten Dame gesagt, sie könne ihrem Sohn die Brieftasche ja selbst geben, wenn sie sich beeile.
Der große blonde Mann, der unwissentlich ein Sohn von Mrs. Quonsett war, nahm seinen Platz in der vorderen Kabine ein. Mrs. Quonsett ging in seine Richtung vor, aber nur wenige Schritte. Sie beobachtete heimlich die Stewardess an der Tür und wartete darauf, daß deren Aufmerksamkeit abgelenkt würde. Und das wurde sie auch gleich.
Mrs. Quonsett hatte ihre Pläne elastisch gehalten. Da war ein Platz, ganz in der Nähe, den sie hätte einnehmen können; jedoch hatte eine plötzliche Bewegung mehrerer Reisender auf einmal einen Weg zu einer Toilette freigegeben. Ein oder zwei Momente später sah sie durch die leicht geöffnete Toilettentür, wie die ursprüngliche Stewardess nach vorne ging und verschwand und eine andere Stewardess mit der Kopfzählung, und zwar von vorn, begann.
Als die zweite Stewardess, immer noch zählend, sich dem hinteren Teil des Flugzeugs näherte, tauchte Mrs. Quonsett aus der Toilette auf und ging schnell mit einem gemurmelten »Entschuldigung« an ihr vorbei. Sie hörte die Stewardess ärgerlich mit der Zunge schnalzen. Mrs. Quonsett wußte, daß sie nun in die Zählung eingerechnet war — aber das war alles.
Ein paar Reihen weiter vorn, auf der linken Seite, war in einer Reihe von drei Plätzen der mittlere unbesetzt. Durch ihre Erfahrung als blinder Passagier hatte die kleine alte Dame aus San Diego gelernt, sich solche Plätze auszusuchen, weil die meisten Reisenden sie nicht gern mochten; daher wurden sie auch als letzte bei Vorbestellungen belegt, und wenn ein Flugzeug nicht restlos besetzt war, blieben sie leer.
Einmal auf ihrem Platz, ließ Mrs. Quonsett den Kopf sinken und versuchte so unverdächtig wie möglich auszusehen. Sie machte sich nicht vor, sie könne ewig unentdeckt bleiben. In Rom würde es Paßkontrollen und Zollformalitäten geben, die es ihr unmöglich machten, so ungehindert vom Flughafen zu kommen, wie sie es nach ihren illegalen Reisen nach New York gewohnt war. Mit etwas Glück aber würde sie die Sensation erleben, Italien zu erreichen. Inzwischen würde es auf diesem Flug ein gutes Essen geben, einen Film und vielleicht eine gute Unterhaltung mit ihren beiden Platznachbarn.
Ada Quonsett war neugierig auf ihre Reisegefährten. Sie hatte festgestellt, daß beides Männer waren, aber sie vermied es, sich den auf ihrer Rechten anzusehen, weil das bedeutet hätte, ihr Gesicht dem Mittelgang und den beiden Stewardessen zuzuwenden, die beide nun vor und zurück gingen und eine neue Kopfzählung machten. Mrs. Quonsett musterte inzwischen den Mann zu ihrer Linken, was ihr durch die Tatsache erleichtert wurde, daß er zurückgelehnt saß und die Augen geschlossen hatte. Es war ein hagerer, dünner Mann mit eingefallenem Gesicht und krummem Rük-ken, der aussah, als ob ihm eine tüchtige Mahlzeit guttun würde. Er hatte einen dünnen, sandfarbenen Schnurrbart.
Auf seinen Knien hatte er, wie Mrs. Quonsett sah, einen Aktenkoffer, den er krampfhaft festhielt, obwohl seine Augen geschlossen waren.
Die Stewardessen waren mit ihrer Kopfzählung fertig. Nun tauchte eine dritte Stewardess aus der ersten Klasse vorn auf, und die drei hielten eine eifrige Besprechung ab.
Der Mann neben Mrs. Quonsett hatte seine Augen geöffnet. Immer noch hielt er den Koffer eisern fest. Die alte Dame — von Haus aus eine neugierige Seele — fragte sich, was da wohl drin sein mochte.
Auf seinem Weg zur Zollkontrolle — diesmal durch den Publikumsteil — dachte Harry Standish immer noch an den Mann mit dem Aktenkoffer. Standish hätte den Mann nicht anhalten können, denn außerhalb der Zollabfertigung hatte ein Zollbeamter nicht das Recht, irgend jemand zur Rede zu stellen, es sei denn, daß er annahm, er habe die Zollkontrolle umgangen. Das hatte der Mann am Ausgang aber bestimmt nicht getan.
Natürlich konnte er dem italienischen Zoll die Beschreibung des Mannes telegrafieren und darauf hinweisen, er führe vielleicht Schmuggelware mit sich. Aber Standish wußte nicht so recht, ob er das tun sollte. Es gab nur eine geringe internationale Zusammenarbeit zwischen den Zollverwaltungen, doch große Rivalität. Selbst beim kanadischen Zoll, unmittelbar vor der Tür, war das der Fall. In den Akten waren Fälle enthalten, bei denen der Zoll der Vereinigten Staaten informiert worden war, daß Diamanten nach Kanada geschmuggelt werden würden, aber aus grundsätzlichen Erwägungen wurden die kanadischen Behörden nicht unterrichtet. Statt dessen lauerten amerikanische Agenten den Verdächtigen bei der Ankunft in Kanda auf und beschatteten ihn, nahmen ihn aber erst fest, als er die Grenze der Vereinigten Staaten wieder überschritt. Die Überlegung der Amerikaner war: Der Staat, der derartige Schmuggelware beschlagnahmte, behielt alles für sich, denn Zollbehörden sind abgeneigt, Beute zu teilen.
Nein, beschloß Standish, kein Telegramm nach Italien. Auf alle Fälle würde er den Trans America Airlines seine Bedenken mitteilen und ihnen die Entscheidung überlassen.
Vor sich hatte er Mrs. Livingston gesehen, die vorhin an der Abgangssperre zu Flug Zwei gewesen war. Sie sprach mit einem Gepäckträger und einer Gruppe Reisender. Standish wartete, bis der Gepäckträger und die Passagiere gegangen waren.
»Hallo, Mr. Standish«, grüßte Tanya, »hoffentlich ist es bei Ihnen im Zoll ruhiger als hier.«
»Nicht die Spur«, antwortete er und dachte an Mrs. Mossman, die sicher noch in der Zollkontrolle verhört wurde.
Da Tanya darauf zu warten schien, daß er noch etwas sagen würde, zögerte er. Er fragte sich selbst manchmal, ob er nicht langsam zum Überdetektiv geworden war, seinen Instinkt überspitzt hatte. Aber meistens hatte er sich ja als richtig erwiesen.
»Ich habe bei der Abfertigung von Flug Zwei zugesehen«, sagte Standish, »dabei ist mir etwas aufgefallen.« Er beschrieb den hageren, spindeldürren Mann, der den kleinen Aktenkoffer auf eine so verdächtige Art an sich gedrückt hatte.
»Meinen Sie, daß er etwas schmuggelt?«
Der Inspektor lächelte. »Wenn er aus dem Ausland käme, statt hinzufliegen, würde ich ihn durchsuchen. Das einzige, was ich Ihnen sagen kann. Mrs. Livingston, ist, daß in dem Koffer etwas ist, was er anderen nicht zeigen will.«
Tanya sagte nachdenklich: »Ich weiß nicht recht, was ich dabei tun kann. Selbst wenn der Mann schmuggelt, was geht das die Fluggesellschaft an?«
»Ja, wahrscheinlich ist nichts zu machen. Aber wir ziehen ja doch am selben Strang, und da dachte ich nur, ich wollte meinen Eindruck weitergeben.«
»Danke schön, Mr. Standish. Ich werde es unserem Bezirksverkehrsleiter berichten, und der wird vielleicht den Kapitän verständigen.«
Als der Zollinspektor ging, sah Tanya auf die Zentraluhr; sie zeigte eine Minute vor elf. Auf dem Weg zu den Räumen der Trans America überlegte sie: es war zu spät, Flug Zwei am Ausgang noch zu erreichen. Selbst wenn der Flug die Sperre noch nicht verlassen hatte, würde er das in den nächsten Sekunden tun. Sie fragte sich, ob der Bezirksverkehrsleiter in seinem Büro sein würde. Hielt er die Mitteilung für wichtig, könnte er sie an Kapitän De-merest über Funk weitergeben, solange der Flug noch auf der Rollbahn war. Tanya beeilte sich.
Der Bezirksverkehrsleiter war nicht in seinem Büro, dafür aber Peter Coakley.
Tanya fragte nur: »Was machen Sie denn hier?«
Der junge Trans-America-Angestellte, dem die alte Dame aus San Diego entwischt war, schilderte verlegen, was passiert war.
Peter Coakley hatte bereits eine Abkanzlung hinter sich. Der Arzt, von einem Idioten in die Damentoilette geholt, war deutlich und wütend gewesen. Der junge Mann war auf weitere Vorwürfe von seiten Mrs. Livingstons gefaßt. Er wurde nicht enttäuscht.
Tanya explodierte. »Verdammt und zugenäht noch mal! Habe ich Ihnen nicht gesagt, sie hätte einen Sack voll Tricks?«
»Ja, das haben Sie, Mrs. Livingston. Ich dachte, ich . . .«
»Schluß damit jetzt! Rufen Sie alle unsere Ausgänge an. Sie sollen auf eine alte, unschuldig aussehende Frau in Schwarz achten — die Beschreibung kennen Sie ja. Sie versucht nach New York zu kommen, macht vielleicht aber auch eine Rundreise. Wenn sie entdeckt wird, soll sie festgehalten und es hier gemeldet werden. Sie darf kein Flugzeug betreten, gleichgültig, was sie sagt. Während Sie das machen, verständige ich die anderen Linien.«
»Jawohl, Ma'm.«
Es waren mehrere Apparate in dem Büro. Peter benutzte den einen, Tanya den anderen. Die Nummern von TWA, American United und Northwest wußte sie auswendig. Alle vier Linien hatten Direktflüge nach New York. Als sie mit dem ersten Partner, Jenny Henline bei TWA, sprach, hörte sie Coakley sagen: »Ja, sehr alt — in Schwarz —, wenn man sie sieht, hält man's nicht für möglich . . .«
Tanya erkannte, daß sich ein wahrer Wettstreit zwischen ihr und der einfallsreichen Ada Quonsett entwickelt hatte. Wer, dachte sie, würde am Ende wohl den anderen überlisten?
Für den Augenblick hatte sie sowohl ihr Gespräch mit dem Zollinspektor wie auch ihre Absicht, den Bezirksverkehrsleiter zu suchen, vergessen.
An Bord von Flug Zwei schäumte Kapitän Demerest: »Woran liegt es denn in Teufels Namen?«
Die Motoren drei und vier auf der Steuerbordseite des Flugzeugs N—731—TA liefen. Im ganzen Flugzeug war das gedämpfte, mächtige Dröhnen der Düsenmaschinen zu spüren.
Die Piloten hatten durch Funk vor einigen Minuten das Startzeichen des Rampeninspektors erhalten, drei und vier anzulassen, warteten aber immer noch auf Erlaubnis, um eins und zwei auf der Backbordseite zu starten, die normalerweise nicht angelassen wurden, ehe alle Türen geschlossen waren. Ein Rotlicht auf dem Armaturenbrett hatte vor ein oder zwei Minuten aufgeblinkt, was bedeutete, daß die hintere Rumpftür geschlossen und gesichert war. Gleich danach war die hintere Gangway abgezogen worden. Doch ein anderes, kräftiges Rotlicht leuchtete noch und besagte, daß die vordere Kabinentür noch nicht geschlossen war, und ein Blick durch das Fenster des Cockpit nach hinten zeigte, daß die vordere Gangway noch an ihrem Platz war.
Sich auf seinem Sitz auf der rechten Seite umdrehend, befahl Kapitän Demerest dem Zweiten Offizier Jordan: »Machen Sie die Tür auf.«
Jordan saß hinter den beiden anderen Piloten vor einer Tafel mit Instrumenten und Maschinenkontrollen. Nun erhob er sich halb, beugte seine lange, schlanke Gestalt vor und öffnete die Tür des Cockpits, die nach außen aufging. Durch die offene Tür zur vorderen Passagierabteilung konnten sie ein halbes Dutzend Gestalten in Uniform der Trans America sehen, unter denen Gwen Meighen war.
»Gwen!« rief Demerest. Als sie in die Kanzel kam, fragte Deme-rest: »Was ist denn los, zum Kuckuck?«
Gwen war ärgerlich. »Die Zählung in der Touristenklasse will nicht stimmen. Wir haben sie schon zweimal gemacht, aber wir können mit der Liste und den Flugscheinen nicht klarkommen.«
»Ist der Rampeninspektor da?«
»Ja, er prüft jetzt unsere Zählung.«
»Ich möchte ihn sprechen.«
In diesem Stadium eines Fluges gab es immer eine Zuständigkeitsfrage. Nominell hatte der Kapitän schon das Kommando, aber er konnte ohne Erlaubnis des Rampeninspektors weder die Maschinen anlassen noch abrollen. Sowohl Kapitän wie Rampenchef hatten das gleiche Ziel — planmäßig zu starten; doch ihre unterschiedlichen Pflichten führten manchmal zu einem Zusammenstoß.
Einen Augenblick später kam der Rampeninspektor, einen einzelnen, seinen Rang angebenden Silberstreifen am Ärmel seiner Uniform, ins Cockpit.
»Hören Sie mal«, sagte Demerest, »ich weiß ja, daß Sie Ihre Probleme haben, aber wir haben auch welche. Wie lange sollen wir hier noch sitzen?«
»Ich habe gerade eine neue Flugscheinprüfung angeordnet, Kapitän. Es ist ein Passagier mehr in der Touristenklasse, als sein sollte.«
»Na schön«, sagte Demerest, »jetzt will ich Ihnen mal was sagen. Jede Sekunde, die wir hier sitzen, verbrauchen wir Treibstoff mit drei und vier, für die Sie die Starterlaubnis gegeben haben. Kostbaren Treibstoff, den wir heute nacht in der Luft dringend brauchen. Also, wenn die Maschine nicht sofort startet, mache ich erst mal den Laden dicht, und wir fordern Treibstoff an, um unsere Tanks nachzufüllen. Und noch was sollten Sie wissen. Die Flugsicherung hat uns gerade wissen lassen, daß wir augenblicklich eine Verkehrslücke haben. Wenn wir gleich rausrollen, können wir schnell vom Boden sein. In zehn Minuten kann das anders aussehen. Nun treffen Sie Ihre Entscheidung! Was soll also sein?«
Hin- und hergerissen zwischen zwei Verantwortlichkeiten zögerte der Rampenchef. Er wußte ja, daß der Kapitän mit dem Treibstoffverbrauch recht hatte, aber jetzt die Maschinen zu stoppen und die Tanks nachzufüllen, bedeutete den teuren zusätzlichen Aufschub von einer halben Stunde zu der Stunde, die Flug Zwei bereits Verspätung hatte. Aber andererseits war dies ein wichtiger internationaler Flug, bei dem Kopfzählung und Flugscheinliste übereinstimmen sollten. Wenn wirklich jemand unberechtigt an Bord war und entdeckt und hinausgesetzt wurde, konnte der Rampenchef später seine Entscheidung zu warten, rechtfertigen. Stellte sich aber die Differenz als ein Fehler heraus — was ja möglich war —, würde ihn der Bezirksverkehrsleiter lebendig vierteilen. Er traf die klarste Entscheidung. Er rief durch die Cockpittür: »Scheinkontrolle abbrechen. Der Flug geht ab.«
Als die Tür zum Cockpit zuging, rief der grinsende Anson Harris durch ein Interphon einen Besatzungsmann am Boden an: »Klar zu Start zwei?«
Die Antwort rasselte: »Klar zu Start zwei.« Die vordere Rumpftür wurde geschlossen und gesichert, das Kontrollicht im Cockpit erlosch. Maschine Nummer zwei zündete und lief mit einem gleichmäßigen Dröhnen.
»Klar zu Start eins?«
»Klar zu Start eins.«
Gleich einer abgetrennten Nabelschnur glitt die vordere Gangway zum Flughafengebäude zurück.
Vernon Demerest ersuchte über Funk die Bodenkontrolle um Erlaubnis, anzurollen.
Maschine Nummer eins zündete und lief.
Kapitän Harris, der rollen und den Start fliegen würde, hatte die Füße auf die Seitensteuerfußbremse gestemmt.
Noch immer schneite es stark.
»Trans America Flug Zwei von Bodenkontrolle: Sind Sie klar zum Abrollen . . .«
Die Motoren liefen schneller.
Demerest dachte: Rom — und Neapel — wir kommen!
Es war genau elf Uhr Normalzeit. In Warteraum »D« erreichte, halb rennend, halb stolpernd, eine Gestalt den Ausgang siebenundvierzig. Selbst wenn sie noch Atem gehabt hätte, um zu fragen, wären Fragen überflüssig gewesen. Die Laderampen waren geschlossen. Tragbare Signale, die den Abflug von Flug Zwei The Golden Argosy anzeigten, wurden abgenommen. Ein rollendes Flugzeug verließ die Sperre. Hilflos, ohne zu wissen, was sie nun zuerst tun sollte, sah Inez Guerrero die Lichter des Flugzeugs kleiner werden.