23 Uhr 00 bis l Uhr 30

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Wie immer zu Beginn eines Fluges empfand die Chefstewardess Gwen Meighen ein Gefühl der Erleichterung, als die vordere Kabinentür zuschlug und sich das Flugzeug ein paar Minuten darauf in Bewegung setzte.

Auf dem Flughafen war das Flugzeug wie ein Mitglied einer großen Familie, abhängig von den Launen und dem Beistand der anderen Glieder. Dort war sein Leben nie unabhängig. Seine Einmaligkeit wurde verwischt, Versorgungsleitungen fesselten es, Fremde, die nie Anteil an seiner luftigen Existenz hatten, gingen aus und ein.

Bereitete das Flugzeug sich jedoch auf den Start vor und waren die Türen verriegelt, dann wurde es wieder zu einer Einheit. Besatzungsmitglieder spürten am deutlichsten die Veränderung. Sie waren in eine gewohnte, in sich geschlossene Umgebung zurückgekehrt, in der sie sachkundig und selbständig die Arbeit aufnehmen konnten, für die sie ausgebildet waren. Niemand kam ihnen in die Quere, nichts war ihnen im Wege, als das, was sie kannten und was ihnen geläufig war. Ihre Werkzeuge und Ausrüstung waren die allerbesten, ihre Hilfsmittel und deren Begrenzungen inventarisiert und bekannt. Das Selbstvertrauen kehrte zurück. Die Kameradschaft der Luft — nicht greifbar, aber wirklich für alle, die daran teilhatten — umgab sie wieder.

Selbst Passagiere — die feinfühligeren, — spürten eine psychische Umstellung, und wenn sie in der Luft waren, verstärkte sich dieses Bewußtsein der Veränderung. War man in großer Höhe, so verloren die Alltagssorgen an Gewicht. Manche, die gründlicher nachdachten, betrachteten die neue Perspektive als ein Abstreifen des armseligen Erdenlebens.

Gwen Meighen war mit den üblichen Vor-Start-Hantierungen beschäftigt und hatte für derlei Betrachtungen keine Zeit. Während die anderen vier Stewardessen sich mit Haushaltsarbeiten im Flugzeug befaßten, hieß Gwen über die Lautsprecheranlage die Gäste an Bord willkommen. Mit ihrem weichen englischen Akzent entledigte sie sich, so gut es ging, des salbungsvollen, unaufrichtigen Textes aus ihrem Stewardessenleitfaden, der auf jedem Flug vorgelesen werden mußte.

»Im Namen von Kapitän Demerest und seiner Besatzungunseren aufrichtigen Wunsch, daß Ihr Flug angenehm und entspannend sein möge. Bald werden wir das Vergnügen haben, Ihnen ein Abendessen zu servieren. Wenn wir irgend etwas tun können, um Ihnen den Flug angenehmer zu gestalten. . .«

Gwen fragte sich manchmal, wann die Fluggesellschaften wohl merken würden, daß die meisten Passagiere diese Ansprache zu Anfang und zu Ende jedes Flugs für eine aufdringliche Belästigung hielten.

Wichtiger waren die Ansagen über Notausgänge, Sauerstoffmasken und Notlandung. Während zwei andere Stewardessen das vorführten, erledigte sie das schnell.

Sie rollten immer noch, wie Gwen bemerkte, heute abend langsamer als sonst, und brauchten länger, um den Anfang der Startbahn zu erreichen. Zweifellos waren der Verkehr und der Sturm die Ursache. Gelegentlich war das Klatschen von sturmgepeitschtem Schnee gegen den Rumpf und die Tragflächen zu hören.

Nun war noch eine Ansage fällig — jene, die die Besatzungen am wenigsten mochten. Sie wurde vor den Starts verlangt von: Lincoln International, New York, Boston, Cleveland, San Francisco und anderen Flughäfen mit Wohngebieten in ihrer Nähe.

»Kurz nach dem Start werden Sie ein deutliches Nachlassen des Maschinenlärms infolge von Drosselung bemerken. Das ist völlig normal und geschieht aus Rücksicht auf die Menschen, die in der Nähe der Flughäfen und direkt in der Flugschneise wohnen.«

Die zweite Behauptung war eine Lüge. Die Drosselung war weder normal noch wünschenswert. In Wirklichkeit war das eine Konzession, durch die die Sicherheit des Flugzeugs und Menschenleben aufs Spiel gesetzt wurde.

Piloten gingen gegen diese Drosselung erbittert an. Manche riskierten ihre Karriere und weigerte sich, sie zu befolgen.

Gwen hatte in privatem Kreis Vernon Demerest diese Ankündigungen parodieren hören. »Meine Damen und Herren, im allerkritischsten Augenblick des Starts, wenn wir unsere ganze Kraft brauchen und hundert andere Dinge im Cockpit zu tun haben, drosseln wir die Motoren und steigen sehr steil empor mit einem Maximum an Gewicht und einem Minimum an Geschwindigkeit. Das ist ein mehr als törichtes Manöver, durch das ein angehender Pilot aus der Flugschule fliegen würde. Trotzdem tun wir das auf Befehl unserer Fluglinien und des Bundesluftfahrtamtes, weil einige Leute da unten, die sich ihre Häuser gebaut haben, lange nachdem der Flughafen gegründet war, darauf bestehen, daß wir auf Zehenspitzen vorüberschleichen. Sie kümmern sich einen Dreck um Flugsicherheit oder darum, daß wir Ihr oder unser Leben riskieren. Und nun nehmt allen Mut zusammen, Kinder, Hals und Beinbruch und betet für uns alle!«

Gwen lächelte bei der Erinnerung. Es gab so vieles, was sie an Vernon schätzte. Er war so energisch und vital. Er war von starken Gefühlen beherrscht. Wenn ihn etwas interessierte, setzte er sich aktiv dafür ein. Selbst seine Schwächen, seine Gereiztheit, seine Eitelkeit waren männlich und anziehend. Er konnte auch zart sein — und war es in der Umarmung ebenso, wie er Leidenschaft heftig erwiderte, wie Gwen nur zu gut wußte. Von keinem der Männer ihrer Bekanntschaft hätte sie lieber ein Kind empfangen als von Vernon Demerest. In dem Gedanken lag eine schmerzliche Süße.

Als sie das Mikrofon in seine Wandnische in der vorderen Kabine zurücklegte, bemerkte sie, daß sich die Rollgeschwindigkeit verlangsamt hatte; sie mußten sich der Startbahn nähern. Das waren jetzt für einige Stunden die letzten Minuten, in denen sie persönliche Gedanken nachhängen konnte. Nach dem Start blieb keine Zeit mehr, um an anderes als an die Arbeit zu denken. Gwen hatte die Aufsicht über die vier Stewardessen und außerdem ihren eigenen Dienst in der ersten Klasse. Eine ganze Reihe der Überseeflüge hatte männliche Stewards für die Leitung des Kabinendienstes, aber Trans America ermutigte erfahrene weibliche Angestellte, wie Gwen, den Posten zu übernehmen, wenn sie sich dazu fähig erwiesen.

Nun hatte das Flugzeug gestoppt. Durch ein Fenster konnte Gwen die Lichter eines anderen Flugzeugs vor ihnen und die einer ganzen Reihe hinter ihnen sehen. Das vordere bog in die Startbahn ein. Flug Zwei würde der nächste sein. Gwen klappte einen Faltsitz herunter und schnallte sich fest. Die anderen Mädchen hatten sonstwo einen Platz gefunden.

Sie dachte wieder nach: Eine schmerzliche Süße — und die ständig wiederkehrende Frage. Vernons Kind und ihr eigenes—Ab-treibung oder nicht? — Ja oder nein? Sein oder Nichtsein? — Sie waren jetzt auf der Startbahn. Abtreibung oder keine Abtreibung?

— Die Geschwindigkeit der Maschine steigerte sich. Sie rollten bereits und verloren keine Zeit; in Sekunden würden sie in der Luft sein. — Ja oder nein? Am Leben lassen oder zum Tode verurteilen? Wie könnte sich einer zwischen Liebe und Realität, zwischen Liebe und Vernunft entscheiden?

Wie sich herausstellte, hätte Gwen die Ankündigung über die Drosselung der Motoren gar nicht zu machen brauchen.

In der Kanzel hatte Kapitän Harris beim Anrollen brummig zu Demerest gesagt: »Das olle Lärmabschwächungsverfahren möchte ich uns heute schenken.«

Vernon, der gerade ihre durch Funk empfangene komplizierte Streckenfreigabe eingetragen hatte — normalerweise die Aufgabe des nicht vorhandenen Ersten Offiziers —, nickte. »Richtig, verdammt noch mal! Tät ich auch!«

Die meisten Piloten hätten es dabei bewenden lassen, aber Deme-rest — für ihn bezeichnend — holte das Bordbuch vor und machte unter der Rubrik »Bemerkungen« eine Eintragung: »L.A.P. Nicht beachtet. Grund: Wetter, Sicherheit.«

Später mochte es wegen dieser Eintragung Scherereien geben, aber das war die Art Scherereien, die Demerest gern hatte und bei denen er seinen Mann stehen konnte.

Die Cockpitlichter waren verdunkelt. Die Vorstartkontrollen waren beendet.

Sie hatten Glück gehabt mit der augenblicklichen Verkehrslücke. Sie hatten ihnen erlaubt, schnell und ohne die lange Pause am Boden, unter der die meisten Flüge heute abend zu leiden hatten, ihren Startpunkt am Anfang von Startbahn Zwei-Fünf zu erreichen. Aber für die, die nach ihnen kamen, vergrößerte sich die Verspätung noch mehr. Hinter Trans America Flug Zwei hatte sich eine wachsende Schlange von wartenden Flugzeugen angesammelt, und eine ganze Prozession weiterer Maschinen rollte vom Zentralgebäude her an. Über Funk gab die Bodenkontrolle in schneller Folge Weisungen für Flüge der United Airlines, Eastern American, Air France, Flying Tiger, Lufthansa, Braniff, Continental, Lake Central, Delta, TWA, Ozark, Air Canada, Alitalia und Pan Am, deren Bestimmungsorte wie ein Index der Weltgeographie klangen.

Die von Anson Harris angeforderten zusätzlichen Treibstoffreserven für längere Bodenrollzeit waren schließlich doch nicht nötig gewesen. Doch selbst mit der schweren Treibstoffladung blieben sie immer noch unter der Sicherheitsgrenze für den Start.

Demerests wie auch Harris' Funkgeräte waren nun auf die Frequenz der Startbahnkontrolle eingestellt.

Auf Startbahn Zwei-Fünf, unmittelbar vor Trans America, erhielt eine britische VC-10 der BOAC Weisung zum Abflug. Zuerst bewegte sie sich mit schwerfälliger Langsamkeit vorwärts, dann aber schneller. Die Farben ihrer Gesellschaft — Blau, Weiß, Gold — leuchteten in der Widerspiegelung von anderen Flugzeuglichtern kurz auf und verschwanden in einem Wirbel aus Schnee und schwarzem Auspuffqualm. Sofort ließ sich die Stimme des Abflugkontrollers hören: »Trans America Zwei, in Position rollen, Startbahn Zwei-Fünf, und warten; Landeverkehr auf Startbahn EinsSieben links.«

Eins-Sieben links war eine Landebahn, die Startbahn Zwei-Fünf direkt schnitt. Es war nicht ungefährlich, beide Bahnen gleichzeitig zu benutzen, doch die Turmkontrolle hatte Erfahrung im Einfädeln der Flugzeuge — der landenden und der startenden —, so daß keine Zeit verloren wurde, aber nie zwei Maschinen gleichzeitig die Kreuzung erreichten. Den Piloten war eine Kollisionsgefahr ungemütlich bewußt, und wenn sie durch das Radio erfuhren, daß beide Bahnen in Betrieb waren, befolgten sie strikt die Weisungen der Flugsicherung.

Anson Harris brachte Flug Zwei schnell und geschickt auf die Startbahn Zwei-Fünf.

Durch das Schneegestöber spähend, konnte Demerest die Lichter eines Flugzeuges sehen, das im Begriff war, auf Eins-Sieben den Boden zu berühren. Er drückte auf seinen Mikrofonknopf. »Trans America Zwei, verstanden. In Position, wir warten. Wir sehen den Landeverkehr.«

Noch ehe das landende Flugzeug ihre eigene Startbahn gekreuzt hatte, ließen sich die Stimmen des Kontrollers wieder vernehmen: »Trans America Zwei, klar für Start. Los, Mann, los!«

Die letzten drei Worte standen in keinem Leitfaden für Flugsicherung, aber für Kontroller und für Piloten hatten sie die gleiche Bedeutung: »Saust sofort ab! Gleich kommt die nächste Landung.« Schon näherte sich — bedrohlich nahe dem Boden — Landebahn Eins-Sieben eine neue Reihe von Lichtern.

Anson Harris hatte nicht gezögert. Mit seinen ausgespreizten Fingern schob er die vier Hauptgashebel auf ihren äußersten Grad. Er befahl: »Vergaser trimmen«, und stemmte sich kurz auf seine Fußbremse, um die Triebkraft zu komprimieren, während Demerest das Druckverhältnis für alle vier Maschinen gleich einstellte. Der Maschinenlärm ging von einem gleichmäßigen Winseln in ein tiefes Brüllen über. Dann lockerte Harris die Bremsen, und N—731—TA schoß die Startbahn entlang.

Vernon Demerest meldete dem Kontrollturm: »Trans America Zwei im Rollen«, und gab dann dem Steuerknüppel Vorwärtsdruck, während Harris mit der linken Hand das Steuer des Bugrads hielt und mit der rechten wieder zu den Gashebeln griff.

Die Geschwindigkeit nahm zu. Demerest rief: »Achtzig Knoten!« Harris nickte, gab das Bugradsteuer frei und übernahm die Ruder — Startbahnlichter blitzten im Schneewirbel vorüber. In einem Crescendo schwoll die Leistung der großen Düsenmaschine an. — Bei einhundertunddreißig Knoten, wie vorher berechnet, rief Demerest aus: »V-eins« — womit er Harris andeutete, daß sie die kritische Geschwindigkeit erreicht hatten, bei der der Start gerade noch abgebrochen und das Flugzeug zum Stehen gebracht werden konnte. Bei einer Geschwindigkeit von über V-eins mußte der Start weitergehen — nun waren sie darüber hinaus — die Geschwindigkeit immer noch mehr beschleunigend, rasten sie über die Kreuzung und erblickten zu ihrer Rechten noch die aufblitzenden Lichter des ankommenden Flugzeugs; in wenigen Sekunden würde das andere dort die Bahn kreuzen, wo Flug Zwei eben durchkam. Wieder einmal war ein Risiko — geschickt ausgerechnet — überstanden; nur Pessimisten meinten, ein solches Risiko könnte vielleicht doch eines Tages . . . Als die Geschwindigkeit hundertvierundfünfzig Knoten erreichte, begann Harris die Maschine abzuheben, indem er die Steuersäule langsam zurücknahm. Das Bugrad löste sich vom Boden; jetzt waren sie in der Auftriebhaltung, bereit, den Boden ganz zu verlassen. Einen Moment später waren sie mit sich immer noch steigender Geschwindigkeit in der Luft.

Harris sagte ruhig: »Fahrwerk einfahren.«

Demerest ergriff einen Hebel auf dem Zentralinstrumentenbrett und legte ihn um. Der Lärm des sich einziehenden Fahrwerks hallte im ganzen Flugzeug wider und endete mit einem Knall, als sich die Klappen schlössen.

Sie stiegen schnell — waren bereits über vierhundert Fuß. Im nächsten Augenblick würden Nacht und Wolken sie verschlucken.

»Klappen zwanzig.«

Immer noch den Dienst des Ersten Offiziers versehend, schob Demerest den Hebel für die Klappenbetätigung von dreißig auf zwanzig Grad. Einen Augenblick gab es ein kurzes Gefühl des Sinkens, als die Tragflächenklappen — die beim Starten eine zusätzliche Auftriebskraft verschafften — ein Stück weit einfuhren.

»Flaps up.«

Nun wurden die Klappen völlig angezogen.

Demerest merkte sich für seinen späteren Bericht, daß er in keinem Moment an Harris' Durchführung auch nur das geringste auszusetzen gehabt hatte. Das hatte er auch nicht erwartet. Trotz der vorhergegangenen Sticheleien wußte Demerest, daß Harris ein erstklassiger Kapitän war, so exakt in seiner Arbeit wie Demerest selbst. Aus dem Grunde hatte Demerest vorher gewußt, daß sein Flug nach Rom heute abend für ihn selbst eine bequeme Reise sein würde.

Erst Sekunden waren vergangen, seit sie den Boden verlassen hatten; nun überflogen sie, immer steil ansteigend, das Ende der Startbahn, die Lichter unten waren bereits durch Wolken und fallenden Schnee verschwommen. Anson Harris hatte aufgehört hinauszuschauen und flog nur noch nach seinen Instrumenten.

Der Zweite Offizier, Cy Jordan, reichte von seinem Flugingenieursitz aus nach vorn, um die Treibstoffzufuhr zu regulieren, damit alle vier Maschinen die gleiche Leistung brachten.

In den Wolken gab es allerlei Gerüttel — zu Beginn ihrer Reise hatten die Passagiere da hinten einen unruhigen Flug. Demerest schaltete die Leuchtschrift »Nicht rauchen!« aus, das Zeichen »Anschnallen« sollte aber noch bleiben, bis Flug Zwei eine ruhigere Höhe erreicht hätte. Später würde entweder Harris oder Demerest eine Ansprache an die Fluggäste halten, aber jetzt noch nicht. Im Augenblick war das Fliegen wichtiger.

Demerest meldete der Abflugkontrolle: »Wenden nach backbord eins acht null, verlassen fünfzehnhundert Fuß.«

Er sah Anson Harris lächeln, als er »wenden nach backbord« statt »wenden nach links« meldete. Das erste war korrekt, aber inoffiziell. Es war Demerests eigene Formulierung; viele der älteren Piloten gebrauchten sie — eine kleine Rebellion gegen die Amtssprache der Flugsicherung, der sich heutzutage alle fliegenden Menschen, deren Meinung nach, zu fügen hatten. Kontroller erkannten oft einzelne Piloten an ihren persönlichen Redensarten. Einen Augenblick später bekam Flug Zwei durch Funk Freigabe, auf zwanzigtausend Fuß zu steigen. Demerest bestätigte, während Anson Harris das Flugzeug weiter steigen ließ. Dort oben würden sie in wenigen Minuten in klarer, ruhiger Luft sein, die Sturmwolken tief unter ihnen und hoch über ihnen die Sterne.

Einer, der den Ausdruck »wenden nach backbord« am Boden gehört hatte, war Keith Bakersfeld. Keith war vor über einer Stunde zur Radarwache zurückgekehrt, nachdem er eine Weile allein in der Kontrollergarderobe zugebracht und sich dort an die Vergangenheit erinnert hatte, was ihn in seinem Vorhaben für heute abend neu bestärkt hatte.

Verschiedentlich hatte Keith seitdem die Hand in die Tasche gesteckt und nach dem Schlüssel zu dem heimlich bestellten Zimmer in der O'Hagan Inn gegriffen. Im übrigen hatte er sich auf den Radarschirm vor sich konzentriert. Er befaßte sich nun mit den Anflügen aus dem Osten, und das weiterhin große Verkehrsvolumen erforderte intensivste Konzentration.

Mit Flug Zwei hatte er direkt nichts zu tun, da aber der Abflugkontroller nur ein paar Meter neben ihm saß, hörte Keith in einer kurzen Pause zwischen seinen eigenen Übertragungen den Ausdruck »wenden nach backbord« und erkannte an der Stimme seinen Schwager. Bis dahin hatte Keith keine Ahnung gehabt, daß Vernon Demerest heute abend flog; es lag kein Anlaß dafür vor. Keith und Vernon sahen nicht viel voneinander. Wie Mel hatte auch Keith keinen engen Kontakt mit seinem Schwager, wenn auch zwischen ihnen nie derartige Spannungen entstanden waren, wie sie die Beziehungen zwischen Demerest und Mel verdorben hatten.

Kurz nach dem Start von Flug Zwei rollte Wayne Tevis, der Radarchef, auf seinem geräderten Sessel zu Keith hinüber.

»Machen Sie mal fünf Minuten Pause, Junge«, sagte Tevis in seinem schleppenden nasalen Texanisch. »Ich vertrete Sie. Ihr großer Bruder ist da.«

Als Keith den Kopfhörer abnahm und sich umdrehte, sah er hinter sich im Schatten die Gestalt seines Bruders. Bis jetzt hatte er gehofft, Mel würde heute abend nicht kommen, weil eine Begegnung vielleicht mehr sein würde, als er gefühlsmäßig verkraften konnte. Nun aber freute er sich doch, daß Mel da war. Sie waren nicht nur Brüder, sondern auch Freunde gewesen, und es war nur zu berechtigt, daß ein Abschied stattfinden sollte, wenn Mel auch nicht wußte, daß es ein solcher war — wenigstens bis er es morgen erfahren würde.

»Tag«, sagte Mel. »Kam gerade vorbei. Na, wie geht's?«

Keith zuckte die Achseln. »Soweit ganz gut.«

»Einen Kaffee?« Mel hatte aus einem der Restaurants zwei Pappbecher Kaffee mitgebracht. Er gab den einen Keith und behielt den anderen für sich selbst.

»Danke.« Keith war sowohl für den Kaffee wie auch für die Unterbrechung dankbar. Jetzt, da er, wenn auch nur kurz, vom Radarschirm weg war, merkte er, daß seine seelische Spannung in der letzten halben Stunde wieder zugenommen hatte. Er sah auch, als beobachte er einen Fremden, daß seine Hand mit dem Kaffeebecher zitterte.

Mel blickte in dem geschäftigen Radarraum umher. Er bemühte sich, Keith nicht zufällig anzusehen, denn dessen Aussehen — das hagere, abgehetzte Gesicht mit den Ringen unter den Augen — hatte ihn erschüttert. Keith hatte sich in den letzten Monaten sehr verändert. Heute abend, fand Mel, sah sein Bruder schlechter aus als je zuvor. Mit seinen Gedanken immer noch bei Keith, deutete er auf die reichhaltige Radarausstattung. »Ich möchte bloß wissen, was der Alte Herr zu all dem gesagt hätte.«

Der Alte Herr war ihr Vater, Wally (Wild Blue) Bakersfeld gewesen, ein Steuerknüppel- und Schutzbrillenflieger, Kunstflieger, Saatenschutzmittelstreuer, Nachtpostbeförderer und Fallschirmspringer, das letztere vor allem, wenn er dringend Geld brauchte. Wild Blue war Zeitgenosse von Lindbergh, ein alter Bekannter von Orville Wright gewesen und war sein ganzes Leben lang geflogen, bis es mit einer Trickfilmserie in Hollywood ein Ende fand — ein Flugzeugabsturz, der nur markiert sein sollte, sich aber als wirklich herausstellte. Das geschah, als Mel und Keith noch Kinder waren, aber nicht bevor Wild Blue den beiden Jungen die Hingabe an die Fliegerei als Lebensinhalt eingeimpft hatte, die auch für ihr Leben als Erwachsene weiter galt. In Keiths Fall, dachte Mel bisweilen, habe der Vater seinem Sohn einen schlechten Dienst erwiesen.

Keith schüttelte den Kopf, ohne auf Mels Frage zu antworten, die ja sowieso rein rhetorisch war und Mel Zeit zum Überlegen gab, wie er das Problem am besten anfassen könne, das ihm so dringend am Herzen lag. Er beschloß, direkt darauf zuzugehen.

Mel sagte leise: »Keith, dir geht es nicht gut. Du siehst furchtbar aus. Ich weiß es, und du weißt es auch. Warum gibst du es also nicht zu? Wenn du willst, helfe ich dir. Können wir darüber sprechen, was mit dir los ist? Wir sind doch immer offen und ehrlich miteinander gewesen.«

»Ja«, gab Keith zu, »das waren wir immer.« Er nippte an seinem Kaffee und vermied damit, Mel anzusehen.

Die Erwähnung ihres Vaters, wenn sie auch nur nebenbei erfolgt war, hatte Keith seltsam berührt. Er erinnerte sich genau an Wild Blue; er war kein großer Wirtschafter gewesen — die Familie war ständig in Geldsorgen —, doch ein guter und anregender Vater für seine Kinder, besonders wenn die Rede auf die Fliegerei kam, wie die beiden Jungen es immer wünschten. Letzten Endes war aber nicht Wild Blue für Keith die Vatergestalt geworden, sondern Mel Bakersfeld, der, soweit Keith zurückdenken konnte, den gesunden Verstand und die Ausgeglichenheit besaß, die ihrem Vater gefehlt hatten. Mel war es, der sich immer um Keith kümmerte, jedoch nie aufdringlich oder übertrieben bevormundend wie viele ältere Brüder, die ihren jüngeren Brüdern das ganze Selbstvertrauen nahmen. Mel hatte schon damals die Fähigkeit, für andere Menschen etwas in einer Weise zu tun, daß sie sich dabei auch wohl fühlten.

Mel hatte vieles mit Keith geteilt, war rücksichtsvoll und taktvoll gewesen, auch in kleinen Dingen. Das war er immer noch; daß er den Kaffee mitbrachte, dachte Keith, war ein Beispiel dafür. Dann aber schalt er sich selbst: Nun werde nicht gleich wegen einem Becher Kaffee sentimental, nur weil wir uns zum letzten Male sehen. Diesmal gingen Keiths Einsamkeit, seine Angst und seine Schuldgefühle über Mels Vorstellungen hinaus. Selbst Mel konnte die kleine Valerie Redfern und ihre Eltern nicht wieder lebendig machen.

Mel gab mit dem Kopf ein Zeichen, und beide gingen in den Korridor vor dem Radarraum hinaus.

»Hör mal Junge«, sagte Mel. »Du mußt hier raus — eine ganze Weile; vielleicht für immer.« Zum ersten Male lächelte Keith. »Du hast mit Natalie gesprochen.«

»Natalie kann ganz vernünftig sein.« Welches Problem Keith auch haben mochte, dachte Mel, mit Natalie hatte er unerhörtes Glück gehabt. Bei dem Gedanken an seine Schwägerin fiel Mel seine eigene Frau ein, Cindy, die vermutlich auf dem Weg zum Flughafen war. Seine eigene Ehe mit der eines anderen kritisch zu vergleichen, sei ungerecht, sagte sich Mel; zuzeiten war es aber schwer, das nicht zu tun. Er fragte sich, ob Keith wirklich wußte, wie glücklich — wenigstens auf diesem wichtigen Gebiet — er war.

»Ja, da ist noch etwas anderes«, sagte Mel. »Ich habe bis jetzt nicht davon angefangen, aber es ist nun wohl an der Zeit. Ich glaube, daß du mir nie alles erzählt hast, was in Leesburg passiert ist — bei der Katastrophe an diesem Tag. Vielleicht hast du es niemandem erzählt, weil ich ja alle Zeugenaussagen gelesen habe. War da noch etwas, worüber du noch nicht gesprochen hast?«

Keith zögerte nur einen Moment. »Ja.«

»Das habe ich mir gedacht.« Mel wählte seine Worte sorgfältig. Er hatte das Gefühl, was jetzt zwischen ihnen vorging, könne von entscheidender Bedeutung sein. »Aber ich habe mir auch gedacht, du würdest es mir sagen, wenn ich es wissen sollte; und wenn du es nicht tätest, dann ginge es mich auch nichts an. Doch wenn man jemand sehr gern hat — sagen wir, wie einen Bruder —, sollte man sich manchmal darum kümmern, ob er nun will, daß man sich einmischt oder nicht. Und deshalb mische ich mich jetzt hier ein.« Vorsichtig setzte er hinzu: »Hörst du mich?«

»Ja«, antwortete Keith, »ich höre.« Er dachte, er könne diese Unterhaltung natürlich abbrechen. Vielleicht sollte er es jetzt sofort tun — da sie ja zwecklos war —, indem er sich entschuldigte und zu seinem Radarschirm zurückging. Mel würde annehmen, da er ja nicht wußte, daß es für sie beide kein »später« mehr geben würde, daß sie ein andermal davon reden konnten.

»An dem Tag in Leesburg«, fuhr Mel fort, »das, worüber du nie gesprochen hast, hat das irgendwas mit deinem Zustand zu tun, damit, wie du jetzt bist?«

Keith schüttelte den Kopf. »Ach laß doch, Mel. Bitte!«

»Also habe ich recht. Da ist ein Zusammenhang nicht wahr?«

Was für einen Sinn hatte es, das Offenbare abzuleugnen? Keith nickte. »Ja.«

»Willst du es mir nicht erzählen? Irgendwann, früher oder später, mußt du doch darüber sprechen.« Mels Stimme wurde bittend, drängend. »So kannst du doch nicht weiterleben, wenn du diese Geschichte — egal, was es ist — weiter in dich hineinfrißt. Und wem solltest du es eher erzählen als mir? Ich würde es verstehen.«

So kannst du doch nicht weiterleben. — Wem solltest du es sagen, wenn nicht mir?

Es schien Keith, als käme seines Bruders Stimme, ja selbst Mels Anblick, aus dem fernsten Ende eines Tunnels auf ihn zu. An jenem fernen Tunnelende waren auch all die anderen Menschen — Natalie, Brian, Theo, Perry Yount, Keiths Freunde —, zu denen er seit langem jede Verbindung verloren hatte. Von ihnen allen streckte nur Mel seine Hand aus und versuchte die Kluft zwischen ihnen zu überbrücken — aber der Tunnel war lang, die Entfernung nach all der Zeit, in der Keith allein gewesen war, zu groß.

Und doch . . .

Als ob ein ganz anderer redete, fragte Keith: »Du meinst, ich sollte es hier erzählen? Jetzt?«

Mel drängte: »Warum nicht?«

Warum nicht? Irgend etwas im Innersten regte sich bei Keith, das dunkle Verlangen, eine Last abzuschütteln, selbst wenn es im Grunde nichts ändern konnte — oder konnte es das? War es nicht das, was beim Beichten das Wesentliche war? Eine Katharsis. Eine Austreibung der Sünde durch Beichte und Reue? Der Unterschied freilich war, daß die Beichte Vergebung und Absolution bot, aber für Keith würde es nie eine Absolution geben — niemals. Wenigstens — hatte er es nicht geglaubt. Nun fragte er sich, was Mel wohl sägen würde.

Irgendwo in Keiths Gesicht hatte sich eine Tür, die verschlossen gewesen war, zentimeterweit geöffnet.

»Ich glaube, es gibt keinen Grund«, sagte er langsam, »weshalb ich es dir nicht sagen sollte. Es wird nicht lange dauern.«

Mel schwieg weiter. Instinktiv sagte er sich, wenn die falschen Worte fielen, konnten sie Keiths Stimmung stören, konnten das Geständnis abschneiden, das zu kommen schien und auf das Mel schon so lange und schmerzlich wartete. Er dachte, wenn er endlich erführe, wovon Keith so gequält werde, würden sie es vielleicht zusammen bewältigen können. Nach seines Bruders Zustand heute abend zu urteilen, mußte es möglichst bald sein.

»Die Zeugenaussagen hast du ja gelesen«, sagte Keith mit monotoner Stimme. »Also weißt du das meiste, was an dem Tag passiert ist.«

Mel nickte.

»Was du aber nicht weißt, was außer mir niemand weiß, was in der Untersuchung nicht herauskam, über was ich immer und immer wieder nachgedacht habe . . .« Keith machte eine Pause. Es schien, als wolle er nicht fortfahren.

»Um Gottes willen! Dir selbst zuliebe, Natalie zuliebe, mir zuliebe— weiter!«

Keith nickte. »Ja, gleich.«

Er begann den Morgen in Leesburg vor anderthalb Jahren zu beschreiben: das Radarbild, als er ging, um die Toilette aufzusuchen, Inspektor Perry Yount, der mit der Verantwortung betraute Kontroller in Ausbildung. In einem Augenblick, dachte sich Keith, würde er eingestehen, wie er getrödelt hatte, wie er die anderen durch Gleichgültigkeit und Nachlässigkeit im Stich gelassen hatte, wie er zu spät zum Dienst zurückgekehrt war, daß der Unfall, die dreifache Tragödie des Todes der Redferns, einzig seine Schuld war und wie sie anderen zugeschoben wurde. Jetzt, als er das tat, wonach er sich so lange gesehnt hatte, ohne es zu wissen, hatte er ein Gefühl von segensvoller Erleichterung. Gleich einem lang gestauten Wasserfall, begannen die Worte sich zu überstürzen.

Mel hörte zu.

Plötzlich ging weiter hinten im Korridor eine Tür auf. Eine Stimme — die des Dienstleiters — rief: »Ach, Mr. Bakersfeld!«

Die Worte hallten im Korridor wider, der Dienstleiter kam auf sie zu.

»Leutnant Ordway hat versucht, Sie hier zu erreichen, Mr. Bakersfeld, ebenso die Schneekontrolle. Sie möchten beide, daß Sie anrufen.« Er nickte: »Hallo, Keith!«

Mel hätte am liebsten gebrüllt, hätte gerufen: »Ruhe!« oder »später«, hätte gesagt, er müsse noch ein paar Minuten mit Keith allein sein. Aber er wußte, daß es nicht möglich war. Beim ersten Wort, das von dem Dienstleiter zu hören war, hatte Keith mitten im Satz abgebrochen, als wäre ein Schalter auf »aus« gestellt worden.

Keith war schließlich doch nicht dazu gekommen, seine eigene Schuld Mel zu beschreiben. Als er automatisch auf den Gruß des Dienstleiters reagierte, fragte er sich, warum er überhaupt damit angefangen hatte. Was war dadurch zu gewinnen? Es konnte keinen Gewinn geben, kein Vergessen. Keine Beichte — gleichgültig, wem gegenüber — würde die Erinnerung auslöschen. Einen Augenblick lang hatte er sich an etwas geklammert, das er mit einem Hoffnungsschimmer, vielleicht sogar mit einer Gnadenfrist verwechselt hatte. Wie zu erwarten, hatte es sich als illusorisch herausgestellt. Vielleicht war es ganz gut so, daß die Unterbrechung gerade jetzt gekommen war.

Wieder einmal spürte sich Keith von Einsamkeit umgeben, die ihn wie ein dicker Vorhang umhüllte. Unterhalb des Vorhangs war er allein mit seinen Gedanken, und innerhalb seiner Gedanken war eine persönliche Folterkammer, in die niemand, nicht einmal ein Bruder, eindringen konnte. Und in dieser Folterkammer — Warten, immer nur Warten . . . Es gab nur eine Erlösung. Es war der Weg, den er bereits gewählt hatte und den er auch zu Ende gehen würde.

»Ich glaube, Sie werden drinnen gebraucht, Keith«, sagte der Dienstleiter. Es war die höflichste Art der Mißbilligung. Keith hatte heute abend bereits eine längere Pause hinter sich, eine weitere bedeutete eine stärkere Belastung der anderen. Es war auch eine vielleicht unbeabsichtigte Erinnerung für Mel, daß die Befehlsgewalt des Flughafendirektors hier keine Geltung hatte. Keith murmelte etwas und nickte geistesabwesend. Mit einem Gefühl der Hilflosigkeit sah Mel seinen Bruder in den Radarraum zurückkehren. Er hatte genug gehört, um zu wissen, daß es verzweifelt wichtig war, mehr zu hören. Er fragte sich, wann das sein würde und wie. Vor wenigen Minuten noch hatte er Keiths Zurückhaltung, seine Verschwiegenheit durchbrochen. Würde das noch einmal gelingen? Bestürzt zweifelte Mel daran.

Ganz gewiß nicht heute abend mehr.

»Es tut mir leid, Mr. Bakersfeld.« Als errate der Dienstleiter nachträglich Mels Gedanken, breitete er bedauernd die Arme aus. »Sie versuchen stets allen zu helfen. Das ist nicht immer leicht.«

»Das stimmt.« Mel war nach Aufseufzen zumute, aber er beherrschte sich. Wenn so etwas wie eben passierte, konnte man nur hoffen, daß wieder einmal die richtige Gelegenheit kommen würde; inzwischen mußte man das, was man zu tun hatte, weitermachen.

»Sagen Sie mir doch bitte«, sagte Mel, »was für Mitteilungen waren das?«

Der Dienstleiter wiederholte sie.

Statt die Schneekontrolle anzurufen, ging Mel im Kontrollturm einen Stock tiefer und trat ein. Danny Farrow saß immer noch über dem Einsatzplan der vielbeschäftigten Schneeräumung.

Es bestand eine Prioritätsfrage bei der Schneeräumung von Parkgebieten verschiedener konkurrierender Fluglinien, die Mel in Ordnung brachte. Dann prüfte er die Situation auf der blockierten Startbahn Drei-Null. Dort hatte sich nichts geändert, außer daß Joe Patroni nun auf dem Flugfeld war und versucht hatte, die versackte Aereo Mexican 707 fortzubewegen, die immer noch die Benutzung der Startbahn verhinderte. Vor ein paar Minuten hatte Patro-ni durch Funk gemeldet, er gedenke einen neuen Versuch zu machen, das Flugzeug innerhalb einer Stunde freizubekommen. Mel, der Joe Patronis Ruf als Spitzenkanone auf seinem Gebiet kannte, sagte sich, daß durch Anforderung eines detaillierten Berichts nichts zu gewinnen war. In der Schneeräumungsabteilung fiel Mel die Mitteilung ein, Leutnant Ordway anzurufen. In der Annahme, der Leutnant sei noch in seinem kleinen Büro an der großen Halle, ließ Mel ihm sagen, er warte auf seinen Anruf. Gleich darauf erfolgte dieser. Mel dachte, der Leutnant riefe ihn wegen der Delegation aus Meadowood an. Das stimmte aber nicht.

»Die Leute aus Meadowood sind im Kommen, sind aber kein Problem und haben auch noch nicht nach Ihnen gefragt«, sagte Ordway, als Mel die Frage anschnitt. »Ich lasse es Sie wissen, wenn es soweit ist.«

Er habe wegen einer Frau angerufen, meldete der Polizist, die einer seiner Leute aufgegriffen habe. Sie habe geweint und sei ziellos in der großen Halle umhergewandert. »Wir konnten nichts aus ihr herauskriegen, aber sie tat schließlich nichts Unrechtes, und ich konnte sie also nicht polizeilich belangen. Sie schien auch so schon aufgeregt genug.«

»Was haben Sie denn gemacht?«

Bedauernd sagte Ordway: »Viele ruhige Stellen gibt's ja heute abend hier nicht, und da habe ich sie in das Vorzimmer Ihres Büros gebracht. Ich dachte mir, ich sage es Ihnen lieber, für den Fall, daß Sie zurückkommen und sich wundern.«

»Ist in Ordnung. Ist sie allein?«

»Einer meiner Leute ist bei ihr, aber vielleicht ist er jetzt wieder gegangen. Sie ist aber harmlos, da bin ich sicher. Wir werden später wieder nach ihr sehen.«

»Ich bin in ein paar Minuten wieder in meinem Büro«, sagte Mel. »Ich werde sehen, ob ich selbst was tun kann.« Er fragte sich, ob er mehr Erfolg hätte, mit der unbekannten Frau zu reden, als mit Keith; daß er es schlechter machen würde, bezweifelte er. Der Gedanke an Keith, der so dicht vor dem Zusammenbruch zu stehen schien, beschäftigte Mel immer noch sehr.

Mit einem nachträglichen Einfall fragte er: »Haben Sie den Namen der Frau erfahren?«

»Ja, den haben wir herausgekriegt. Es ist ein spanisch klingender Name. Moment mal, ich hab's aufgeschrieben.« Nach einer Pause sagte Ordway: »Der Name ist Guerrero. Mrs. Guerrero.«

Ungläubig sagte Tanya Livingston: »Sie glauben, Mrs. Quonsett wäre auf Flug Zwei?«

»Ich fürchte, daran besteht kein Zweifel, Mrs. Livingston. Da war so eine kleine alte Dame, wie Sie sie beschrieben«, sagte der Angestellte, der den Abflug von The Golden Argosy kontrolliert hatte. Außer ihm war im Büro des Bezirksverkehrsleiters noch der junge Peter Coakley, der immer noch fassungslos darüber war, von Mrs. Quonsett, als sie in seiner Obhut war, so hinters Licht geführt worden zu sein.

Der Angestellte war vor wenigen Minuten ins Büro gekommen, nachdem alle Ausgänge der Trans America telefonisch gewarnt worden waren.

»Ich bin einfach nicht auf die Idee gekommen, daß da etwas nicht stimmen könnte«, sagte der Mann. »Wir haben auch andere Besucher heute abend durchgelassen, und die sind wiedergekommen. Jedenfalls bin ich den ganzen Abend unter Druck gewesen. Wir waren ja knapp an Personal, und abgesehen von der Zeit, in der Sie mir halfen, habe ich die Arbeit von zweien getan. Das wissen Sie ja.«

»Ja, ich weiß«, bestätigte Tanya. Sie hatte nicht die Absicht zu tadeln. Wenn jemand verantwortlich war, dann sie selbst.

»Das war direkt nachdem Sie gegangen waren, Mrs. Livingston.

Die alte Dame sagte etwas von ihrem Sohn, der hätte seine Brieftasche vergessen. Die hat sie mir sogar gezeigt. Es sei Geld darin, hat sie gesagt, und deswegen habe ich sie nicht an mich genommen.«

»Das hat sie schon öfters vorgegeben. Das ist eine ihrer alten Nummern.«

»Das wußte ich ja nicht, und so ließ ich sie an Bord gehen. Von da an bis vor ein paar Minuten, als ich die Telefondurchsage bekam, habe ich nicht mehr an sie gedacht.«

»Sie hält einen zum Narren«, sagte Peter. Er warf einen Blick seitwärts zu Tanya hin. »Mich hat sie schön an der Nase herumgeführt.«

Der Angestellte schüttelte den Kopf. »Wenn ich es nicht glauben müßte, würde ich es auch jetzt noch nicht glauben. Aber sie ist bestimmt an Bord.« Er berichtete von der Diskrepanz zwischen der Kopfzählung in der Touristenklasse und der Passagierliste und der dann später erfolgten Entscheidung des Rampeninspektors, lieber das Flugzeug abfliegen zu lassen, als eine weitere Verspätung in Kauf zu nehmen.

Tanya sagte schnell: »Es ist ja wohl anzunehmen, daß Flug Zwei bereits fort ist.«

»Ja, das ist er. Das habe ich auf dem Weg hierher festgestellt. Aber auch wenn er es nicht wäre, würden sie das Flugzeug nicht wieder zurückbringen, besonders nicht an einem solchen Abend.«

»Das täten sie sicher nicht.« Da bestand nicht die leiseste Aussicht, das wußte Tanya, daß The Golden Argosy nur wegen Ada Quonsett den Kurs ändern und zu einer Landung zurückfliegen würde. Zeit und Unkosten für das Absetzen eines blinden Passagiers würden in die Tausende laufen — viel mehr, als es kostete, Mrs. Quonsett mit nach Rom zu nehmen und wieder zurückzubringen.

»Ist eine Zwischenlandung zum Auftanken vorgesehen?« Tanya wußte, daß nach Europa gehende Flüge planmäßig Zwischenlandungen für Treibstoffübernahme in Montreal oder Neufundland machten. Wäre das hier der Fall, gäbe es noch eine Chance, Mrs. Quonsett abzusetzen und ihr die Genugtuung, den ganzen Weg nach Italien zu fliegen, zu rauben.

»Ich habe mich danach bei der Planung erkundigt«, antwortete der Angestellte. »Dem Flugplan nach fliegen sie im Nonstop durch.«

»Dieses alte Aas!« rief Tanya aus.

Also kam Ada Quonsett zu ihrer Reise nach Italien und zurück, wahrscheinlich mit einer Übernachtung dazwischen und Versorgt mit Mahlzeiten — und alles auf Kosten der Gesellschaft. Verärgert dachte Tanya, sie habe die Entschlossenheit der alten Dame, sich nicht an die Westküste schicken zu lassen, doch unterschätzt. Auch in der Annahme, Mrs. Quonsett würde nur in Richtung New York Kurs nehmen, hatte sie sich geirrt.

Noch vor fünfzehn Minuten hatte Tanya an den sich entwickelnden Wettstreit zwischen sich und Ada Quonsett als einen Kampf in Fixigkeit und Geschicklichkeit gedacht. Wenn es das war, dann hatte ihn zweifellos die kleine alte Dame aus San Diego gewonnen.

Mit einer für sie gar nicht charakteristischen Boshaftigkeit wünschte Tanya, daß die Gesellschaft eine Ausnahme machen und Mrs. Quonsett anzeigen würde. Aber sie wußte genau, das würde nicht geschehen.

Peter Coakley wollte gerade etwas sagen. Tanya fuhr ihm über den Mund: »Ach, seien Sie doch still.«

Einige Minuten nachdem Coakley und der Angestellte gegangen waren, kehrte der Bezirksverkehrsleiter, Bert Weatherby, in sein Büro zurück. Er war ein arbeitsamer, ehrgeiziger Mann gegen Ende Vierzig, der als Rampenlader angefangen und sich eisern hochgearbeitet hatte. War er in der Regel rücksichtsvoll und hatte Sinn für Humor, so war er heute abend infolge der dauernden Anspannung während der letzten drei Tage müde und reizbar. Ungeduldig hörte er sich Tanyas Bericht an, in dem sie die Hauptverantwortung auf sich nahm und Peter Coakley nur nebenbei erwähnte.

Sich durch sein schütteres, ergrauendes Haar fahrend, bemerkte Bert Weatherby: »Ich fühle gelegentlich mal nach, ob da oben überhaupt noch ein paar sind. Solche Geschichten, wie die da, sorgen dafür, daß der kümmerliche Rest auch noch ausfällt.« Er überlegte und sagte dann, ohne die Zähne auseinander zu bringen: »Sie haben uns in diesen Schlamassel gebracht, nun sehen Sie auch zu, wie Sie uns wieder rausbringen. Reden Sie mit der Flugabfertigung und bitten Sie, den Kapitän von Flug Zwei über unseren Funk anzurufen und ihm zu sagen, was passiert ist. Ich weiß ja nicht, was er da machen kann. Wenn es nach mir ginge, würde ich die alte Vettel aus dreißigtausend Fuß Höhe runterschmeißen, aber das ist ja seine Sache. Übrigens, wer ist der Kapitän?«

»Kapitän Demerest.«

Der Bezirksverkehrsleiter seufzte auf. »Ausgerechnet! Der wird wahrscheinlich finden, das wäre alles ein grandioser Witz, daß die Leitung so zum Narren gehalten worden ist. Jedenfalls weisen Sie ihn an, den ollen Ehrengast nach der Landung an Bord festzuhalten und nicht ohne Begleitung runter zu lassen. Wenn die Italiener sie einsperren wollen, um so besser. Dann verständigen Sie unseren Bezirksdirektor in Rom. Wenn sie ankommen, wird sie ihm ans Herz gelegt, und hoffentlich hat er tüchtigere Mitarbeiter als ich!«

»Ja, Sir«, sagte Tanya.

Sie wollte dem Bezirksverkehrsleiter noch von der anderen Angelegenheit Flug Zwei betreffend berichten — dem verdächtig aussehenden Mann mit dem Aktenkoffer, den Zollinspektor Standish hatte an Bord gehen sehen. Aber ehe sie zu Ende kam, unterbrach Weatherby sie.

»Ach, lassen wir das! Was will denn der Zoll von uns! Sollen wir denen ihre Arbeit abnehmen? Solange die Gesellschaft nichts damit zu tun hat, ist es mir piepegal, was er in seinem Koffer hat. Sollen sie doch den italienischen Zoll bitten, nachzusehen, nicht uns. Ich werde den Teufel tun und mich da einmischen und womöglich einen zahlenden Passagier beleidigen wegen etwas, das uns gar nichts angeht!«

Tanya zögerte. Etwas an dem Mann mit dem Köfferchen — obwohl sie selbst ihn nicht einmal gesehen hatte — beunruhigte sie. Sie hatte da von Beispielen gehört, bei denen . . .

»Ich habe mich nur gefragt«, sagte sie, »vielleicht hat er gar nicht geschmuggelt.«

Der Bezirksverkehrsleiter erwiderte Kurz: »Ich sagte doch, lassen wir das.«

Tanya ging. Wieder an ihrem Schreibtisch, begann sie die Meldung an Kapitän Demerest in Sachen Mrs. Ada Quonsett aufzusetzen.

2

Während der Taxifahrt zum Flughafen lehnte sich Cindy Bakersfeld in die Polster zurück und träumte. Sie bemerkte es nicht und kümmerte sich auch nicht darum, daß es draußen immer noch schneite und daß der Wagen in dem dichten Verkehr nur langsam vorwärtskam. Sie hatte es nicht eilig. Eine Woge von physischem Wohlbehagen und Befriedigung (ob Euphorie die richtige Bezeichnung sei, fragte sie sich) überschwemmte sie.

Die Ursache davon war Derek Eden.

Derek Eden, der ihr auf der Cocktailparty des Hilfsfonds für Archidona (Cindy wußte immer noch nicht, welches Archidona) einen dreifachen Bourbon gebracht hatte. Derek Eden, bis heute nichts als ein Reporter der Sun-Times für zweitrangige Sachen; De-rek Eden mit dem verlebten Gesicht, seinem leichtfertigen Wesen, seiner schwer zu beschreibenden Kleidung; Derek Eden und sein verbeulter, innen und außen schmutziger Chevrolet; Derek Eden, der Cindy in einem Moment erwischt hatte, als bei ihr alle Schranken offen waren, weil sie einen Mann brauchte, irgendeinen, und keine großen Hoffnungen hatte; Derek Eden, der sich als der denkbar beste und aufregendste Liebhaber erwiesen hatte.

Noch nie, niemals hatte Cindy jemanden wie ihn erlebt. Weiß der Himmel! dachte sie, wenn es so etwas wie sinnliche, physische Erfüllung gab, dann hatte sie sie heute abend erreicht. Genauer gesagt: nachdem sie Derek Eden — lieber Derek — kennengelernt hatte, wollte sie ihn wieder haben, oft haben. Erfreulicherweise hatte er ihr gegenüber die gleiche Einstellung.

Immer noch in die Polster zurückgelehnt, erlebte sie die vergangenen beiden Stunden in Gedanken noch einmal.

Sie waren in dem gräßlichen alten Chevrolet von der Lake Michigan Inn zu einem kleinen Hotel in der Nähe des Warenmarktes gefahren. Ein Portier empfing den Chevrolet mit leichter Geringschätzung, was Derek Eden zu übersehen schien — im Inneren, in der Halle wartete der Nachtportier.

Cindy erriet, daß eins der Telefonate, die ihr Begleiter erledigt hatte, hierher gegangen war. Es gab keinerlei Anmeldeformalitäten. Der Portier führte sie sogleich zu einem Zimmer im elften Stock. Nachdem er den Schlüssel ausgehändigt hatte, verschwand er mit einem kurzen: »Gute Nacht.«

Das Zimmer war so la-la; altmodisch möbliert spartanisch, und mit Brandstellen von Zigaretten auf den Möbeln, aber sauber. Es hatte ein Doppelbett. Auf dem Tisch neben dem Bett waren eine ungeöffnete Flasche Whisky, Wasser und Eis. Auf einer Karte auf dem Tablett stand: »Mit den besten Empfehlungen. Die Direktion.« Derek las die Karte und steckte sie ein.

Als Cindy sich später erkundigte, erklärte er: »Die Hotels wollen sich manchmal bei der Presse einschmeicheln. Wenn sie das tun, versprechen wir ihnen zwar nichts — darauf läßt sich die Zeitung nicht ein —, aber vielleicht bringt ein Reporter oder Redakteur den Namen des Hotels gelegentlich in einem Artikel unter, wenn das vorteilhaft ist; oder wenn es ein abträglicher Bericht ist wie ein Todesfall — Hotels hassen das —, nennen wir es eventuell nicht. Man tut halt, was man kann.«

Sie tranken ein Glas, plauderten, tranken wieder, und dann küßte er sie. Er begann ganz zart mit seinen Händen durch ihr Haar zu fahren, daß es sie am ganzen Körper durchrieselte, dann wanderten seine Hände langsam, ganz langsam weiter — und Cindy spürte, daß es etwas Besonderes würde.

Als er sie entkleidete und dabei eine Feinfühligkeit bewies, die ihm bisher gefehlt hatte, flüsterte er: »Wir wollen nichts überstürzen, Cindy — alle beide nicht.« Aber als sie bald im Bett und schön warm waren, wie Derek Eden es im Auto versprochen hatte, wollte sie ihn antreiben: »Ja, ja! . . . Bitte, bitte, ich kann nicht mehr warten!« Er aber gab nicht nach und sagte: »Doch, du kannst. Du mußt!« Und sie gehorchte ihm, war völlig, herrlich, in seiner Gewalt, während er sie, wie ein Kind an der Hand, bis an den Rand führte, dann wieder ein, zwei Schritte zurück, während sie ein Gefühl hatte, als schwebte sie in der Luft; dann wieder hin und zurück, und dasselbe wieder und wieder, die Seligkeit war fast unerträglich; und als schließlich keiner mehr warten konnte, gab es ein gemeinsames Crescendo gleich einer Hymne, einer unendlichen Melodie; und wenn Cindy sich einen Augenblick zum Sterben hätte aussuchen müssen, hätte sie diesen gewählt, weil nichts mehr diesem Augenblick gleichen konnte.

Später kam Cindy zu der Erkenntnis, an Derek Eden habe ihr am meisten gefallen, daß jeder Bluff, jede Angeberei fehlten. Zehn Minuten nach ihrem köstlichsten Augenblick, als Cindys Atem wieder ruhiger geworden war und ihr Herz seinen gewöhnlichen Schlag wiedergefunden hatte, stützte sich Derek Eden auf einen Ellbogen und zündete für sie beide eine Zigarette an.

»Wir waren großartig, Cindy.« Er lächelte. »Laß uns bald ein Gegenspiel machen und noch eine Menge danach.« Das war, wie Cindy sich sagte, das Eingeständnis von zwei Dingen: Das, was sie erlebt hatten, war ein rein physisches, sinnliches Abenteuer, und keiner sollte vorgeben, es sei mehr gewesen, daß sie jedoch das seltene Nirwana, einen absoluten sexuellen Gleichklang gefunden hatten. Was sie in greifbarer Nähe vor sich hatte, wann immer sie danach verlangen sollte, war ein privates physisches Paradies, das zu pflegen und immer mehr zu erforschen sich lohnte.

Dieses Abkommen paßte Cindy.

Sie fragte sich, ob sie und Derek Eden wohl außerhalb des Schlafzimmers sehr viel Gemeinsames hätten, und in der Gesellschaft war gewiß nicht viel Staat mit ihm zu machen. Ohne auch nur darüber nachzudenken, wußte Cindy, wenn sie sich öffentlich mit ihm sehen ließe, hätte sie dabei mehr zu verlieren, als zu gewinnen. Außerdem hatte er bereits zu verstehen gegeben, daß seine Ehe intakt sei, obwohl Cindy erriet, er finde zu Hause nicht alles, was er brauche, eine Situation, die ihr behagte, da sie ja selbst in der gleichen Lage war.

Ja, Derek Eden war jemand, den man sich warmhalten mußte, bei dem man aber nicht in Gefühlsdinge verwickelt werden durfte. Sie würde ihn warmhalten. Cindy nahm sich vor, nicht allzu anspruchsvoll zu sein, ihre Schäferstunden nicht zu häufig werden zu lassen. Eine Begegnung wie die heute abend würde Cindy lange Zeit ausreichen und konnte beim bloßen Gedanken daran wieder belebt werden. Sich ein bißchen rar machen, sagte sie sich; dafür sorgen, daß Derek Eden sie weiter so begehrte wie sie ihn, auf diese Weise konnte die Sache jahrelang gehen.

Cindys Entdeckung hatte ihr also auf seltsame Weise eine Freiheit gegeben, die sie vorher nie besessen hatte. Nun, da sie physische Befriedigung zur Verfügung hatte, sozusagen in einem getrennten Regal, konnte sie an die Wahl zwischen Mel und Lionel Urquhart objektiver herangehen.

Ihre Ehe mit Mel war sozusagen schon zu Ende. Psychisch und physisch hatten sie sich auseinandergelebt; ihre geringste Meinungsverschiedenheit artete in erbitterten Streit aus. Das einzige, an das Mel derzeit zu denken schien, war der verdammte Flughafen. Mit jedem Tag wurden Mel und Cindy, wie es schien, weiter auseinandergerissen.

Lionel, der in jeder Beziehung, außer der einen, befriedigt war, wollte eine Scheidung, damit er Cindy heiraten konnte.

Mel konnte Cindys gesellschaftliche Ambitionen nicht ausstehen. Nicht nur, daß er nichts tat, um sie zu unterstützen, er behinderte sie sogar. Lionel andererseits hatte eine gute gesellschaftliche Position, fand in Cindys Zielen nichts Ungewöhnliches und würde und konnte ihr helfen, sie zu erreichen.

Bisher war Cindy die Wahl noch durch die Erinnerung an die fünfzehn Ehejahre mit Mel und die guten Zeiten, psychisch und physisch, die sie miteinander verlebt hatten, erschwert worden. Sie hatte vage gehofft, daß die Vergangenheit — einschließlich der körperlichen Befriedigung — irgendwann Wiederaufleben würde. Das war, wie sie selbst zugeben mußte, eine trügerische Hoffnung.

Lionel hatte als Partner in gewisser Beziehung nichts zu bieten, ebensowenig — wenigstens für Cindy derzeit — Mel. Aber wenn das eine ausgeklammert würde — eine Ausklammerung, die Derek Eden wie ein heimlich in den Stall eingedrungener Hengst nun möglich machte —, hatte Lionel als Konkurrent gegenüber Mel einen großen Vorsprung.

Cindy schlug die Augen auf und überlegte.

Sie würde keinen festen Entschluß fassen, ehe sie Mel gesprochen hatte. Sie liebte überhaupt keine Entscheidungen und ging ihnen aus dem Weg, bis sie nicht mehr aufgeschoben werden konnten. Außerdem waren ja auch noch Imponderabilien damit verbunden: die Kinder, Erinnerungen an die Jahre mit Mel, die nicht immer nur schlecht waren; und wenn man jemanden einmal sehr geliebt hatte, schüttelte man das nicht so einfach völlig ab. Aber sie war froh, daß sie sich entschlossen hatte, noch heute abend hinauszufahren.

Zum ersten Male, seit sie die Stadt verlassen hatten, beugte sich Cindy vor und spähte in die Dunkelheit hinaus, um festzustellen, wo sie waren. Es war nicht möglich. Durch die beschlagenen Scheiben sah sie nichts als Schnee und viele andere Wagen, die langsam dahinkrochen. Sie erriet, daß sie auf der Kennedy-Schnellstraße seien, aber das war auch alles.

Sie bemerkte, daß der Fahrer sie im Rückspiegel beobachtete. Cindy hatte keine Ahnung, was für ein Mann der Fahrer war. Darauf hatte sie nicht geachtet, als sie vor dem Hotel in das Taxi gestiegen war. Sie und Derek waren getrennt aus dem Hotel gegangen, da sie beschlossen hatten, gleich von Anfang an vorsichtig zu sein. Jedenfalls verschmolzen heute abend alle Körper und alle Gesichter mit dem Körper und dem Gesicht von Derek Eden.

»Das ist der Portage Park da drüben, Madam«, sagte der Fahrer.

»Jetzt ist es nicht mehr weit bis zum Flughafen.«

»Danke.«

»Viel Verkehr da raus, abgesehen von uns! Kann mir vorstellen, daß die vom Flughafen schöne Sorgen haben bei dem Sturm und allem.«

Mein Gott, wen interessiert denn das? dachte Cindy. Dachte oder redete denn nicht irgend jemand mal von was anderem als von diesem blöden Flughafen? Aber sie beherrschte sich.

Am Haupteingang bezahlte Cindy ihr Taxi und ging hinein. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menschenmassen in der Haupthalle und umging eine größere Gruppe, die eine Demonstration zu beabsichtigen schien, da einige Leute eine transportable Lautsprecheranlage aufbauten. Ein schwarzer Polizeileutnant, den Cindy ein paarmal bei Mel getroffen hatte, sprach mit zwei oder drei Männern aus der Gruppe, die die Anführer zu sein schienen. Kaum interessiert — überhaupt nichts, was diesen Ort anging, interessierte sie — ging Cindy weiter in Richtung der Verwaltungsbüros im Zwischenstock.

In allen Büros brannte Licht, obwohl die meisten leer waren und es kein Schreibmaschinengeklapper und Gesprächsgesumme gab wie während der Arbeitsstunden am Tage. Ein paar Menschen wenigstens, dachte Cindy, sind vernünftig genug, nachts nach Hause zu gehen.

Der einzige Mensch, den sie traf, war eine Frau in mittleren Jahren, schlecht gekleidet. Sie saß im Vorzimmer zu Mels Büro auf einem Sofa, schien vor sich hin ins Leere zu starren und nahm von Cindy keine Notiz. Die Augen der Frau waren gerötet, als ob sie geweint hätte. Ihrer Kleidung und den Schuhen nach war sie draußen im Schneesturm gewesen.

Cindy streifte die Frau mit einem kurzen Blick, als sie in Mels Büro ging. Der Raum war leer, und Cindy setzte sich in einen Sessel und wartete. Nach einer Weile schloß sie die Augen und nahm ihre erfreulichen Gedanken an Derek Eden wieder auf.

Ungefähr zehn Minuten später kam Mel schnell herein. Er hinkte stärker als sonst, bemerkte Cindy.

»Ach!« Er schien überrascht, Cindy zu sehen, und schloß die Tür. »Ich habe nicht gedacht, daß du tatsächlich noch kämest.« »Das wäre dir wohl lieber gewesen?«

Mel schüttelte den Kopf. »Ich glaube immer noch nicht, daß damit was zu gewinnen ist — jedenfalls nicht für das, was du im Sinn zu haben scheinst.« Er sah seine Frau mit prüfendem Blick an und überlegte, was wohl der wirkliche Grund ihres Herauskommens heute abend war. Seit langem wußte er, daß Cindys Motive in der Regel sehr vielschichtig waren und häufig ganz andere, als sie vorgab. Er mußte allerdings einräumen, daß sie heute abend sehr vorteilhaft aussah, tatsächlich bezaubernd, mit einer besonderen Ausstrahlung. Leider hatte der Zauber auf ihn persönlich keine Wirkung mehr.

»Wie wäre es, wenn du mir sagtest, was ich deiner Meinung nach vorhabe?«

Er zuckte die Achseln. »Ich hatte den Eindruck, daß du Streit anfangen willst. Ich finde nur, davon haben wir zu Hause schon genug gehabt, um hier nun auch noch einen zu veranstalten.«

»Vielleicht müssen wir ihn jetzt hier veranstalten, da du ja kaum noch zu Hause bist.«

»Ich wäre zu Hause, wenn die Atmosphäre dort erfreulicher wäre.« Sie sprachen erst ein paar Sekunden, dachte Cindy, und schon gab es nichts als Spitzen. Es schien ihnen beiden unmöglich zu sein, miteinander zu reden, ohne daß es dazu kam.

Trotzdem konnte sie sich darauf eine Antwort nicht verkneifen: »Ach nein! Das gibst du aber sonst nicht als Grund dafür an, daß du nie zu Hause bist. Mir erzählst du nur ständig, wie brennend wichtig es für dich ist, hier im Flughafen zu sein — wenn es sein müßte, vierundzwanzig Stunden am Tag. So viel Wichtiges — behauptest du — passierte hier immer.«

Mel erwiderte kurz: »So ist es auch heute abend.«

»Sonst also nicht?«

»Wenn du fragst, ob ich manchmal lieber hier draußen bleibe, als nach Hause zu kommen, dann ist die Antwort darauf, ja.«

»Wenigstens ist es das erstemal, daß du darin ehrlich bist.«

»Selbst wenn ich mal nach Hause komme, schleppst du mich zu läppischen Veranstaltungen wie der heute abend.«

Seine Frau erwiderte verärgert: »Du hast also nie die Absicht gehabt, heute abend zu kommen!«

»Doch, die hatte ich. Das habe ich versprochen. Aber . . .«

»Gar kein Aber! Du hast damit gerechnet, daß irgend etwas passieren würde, um dich davor zu bewahren. Wie immer. Damit du dich drücken könntest und ein Alibi hättest. Und so konntest du dich vor dir selber herausreden, auch wenn du dich vor mir nicht herausreden kannst, weil ich weiß, daß du ein Lügner und ein Schwindler bist!«

»Aber beruhige dich doch, Cindy!«

»Ich will mich aber nicht beruhigen!«

Sie starrten einander an.

Was war bloß mit ihnen los, fragte sich Mel, daß es so weit gekommen war? — Sich zanken wie unartige Kinder, bösartige Sticheleien austauschen — und bei alledem war er nicht besser als Cindy. Wenn sie sich stritten, degradierten sie sich beide. Er fragte sich, ob es sich immer auf diese Art äußerte, wenn es zwischen zwei Menschen, die lange Zeit miteinander gelebt hatten, nicht mehr stimmte. War das so, weil jeder die Schwächen des anderen kannte und daher peinlich auf die Probe stellen konnte? Er hatte einmal sagen hören, eine zerrüttete Ehe bringe das Schlechteste bei beiden Partnern ans Licht. In ihrem Fall stimmte das.

Er versuchte, ihr gut zuzureden. »Ich glaube nicht, daß ich ein Lügner oder ein Schwindler bin. Aber du hast vielleicht damit recht, daß ich insgeheim auf irgend etwas hoffe, das mich vor dem ganzen gesellschaftlichen Kram bewahrt, den ich, wie du weißt, nicht ausstehen kann. Ich habe es mir allerdings nie ganz klargemacht.«

Als Cindy schwieg, fuhr er fort: »Ob du es nun glaubst oder nicht, aber ich hatte vor, heute abend in die Stadt zu kommen — wenigstens glaube ich es. Vielleicht tat ich es nicht wirklich, in der Art, wie du meinst. Ich weiß es nicht. Eins aber weiß ich: daß ich den Schneesturm nicht bestellt habe, und seit er begonnen hat, sind eine Menge Dinge passiert, die mich — diesmal tatsächlich — hier festgehalten haben.«

Er nickte nach dem Vorzimmer hin. »Eines davon ist diese Frau da draußen. Ich habe Leutnant Ordway zugesagt, ich würde mit ihr sprechen. Sie scheint irgendwie in Not zu sein.«

»Deine Frau ist in Not«, entgegnete Cindy. »Die Frau da draußen kann warten.«

Er nickte. »Na, schön.«

»Wir sind fertig«, sagte Cindy. »Du und ich. Nicht wahr?«

Er zögerte, ehe er antwortete. Er wollte nicht voreilig sein, sagte sich auch, da dies nun einmal zur Sprache kam, sei es töricht, nicht die Wahrheit zu sagen. »Ja«, antwortete er endlich. »Leider ist es soweit.«

Cindy erwiderte heftig: »Wenn du dich bloß ändern wolltest! Wenn du die Dinge auf meine Art sehen könntest. Es ging immer nur darum, was du willst oder nicht willst. Wenn du nur einmal das tun würdest, was ich möchte . . .«

»Also sechs Abende in der Woche den Smoking und am siebenten den Frack anziehen?«

»Und warum nicht?« Erregt und herrisch sah Cindy ihn an. Immer hatte er sie in dieser herausfordernden Stimmung bewundert, selbst wenn sie gegen ihn selbst gerichtet war. Selbst jetzt . . .

»Ich glaube, ich könnte dasselbe ebensogut sagen«, meinte er. »Mit dem ändern und all das. Das Dumme ist nur, daß sich die Menschen nicht ändern — nicht im Grundlegenden. Sie passen sich an. Das sollte doch — daß zwei Menschen sich einander anpassen —, das sollte doch der Sinn der Ehe sein.«

»Aber die Anpassung sollte nicht einseitig sein.«

»Das ist es doch bei uns auch nicht gewesen«, wandte Mel ein. »Egal, was du denkst. Ich habe versucht, mich anzupassen, und du doch wohl auch! Ich weiß nicht, wer sich die größere Mühe gegeben hat; offenbar glaube ich, daß ich es war, und du glaubst, du warst es. Der springende Punkt ist der, obwohl wir es ziemlich lange versucht haben, ist es uns nicht gelungen.«

Cindy antwortete langsam: »Da hast du wohl recht. In der letzten Sache jedenfalls. Das habe ich mir auch gedacht.« Sie machte eine Pause und sagte dann: »Ich glaube, das Vernünftigste wäre eine Scheidung.«

»Es wäre besser, wenn du dir da ganz sicher wärest. Es ist doch sehr wichtig.« Auch jetzt noch war Mel der Meinung, Cindy spiele nur mit einer Entscheidung und warte darauf, daß er ihr helfen würde. Wäre das, was sie gesagt hatte, weniger ernst gewesen, hätte er gelächelt.

»Ich bin sicher«, erklärte Cindy. Sie wiederholte mit Nachdruck: »Ja, ich bin sicher.«

Mel sagte ruhig: »Ja, dann wird es wohl die richtige Entscheidung für uns beide sein.«

Eine Sekunde zögerte Cindy. »Bist du ebenfalls sicher?«

»Ja«, sagte er. »Ich bin sicher.«

Der fehlende Widerspruch, seine schnelle Zustimmung schienen Cindy zu beunruhigen. Sie fragte: »Also haben wir uns entschieden?«

»Ja.«

Sie sahen sich immer noch an, aber der Ärger war fort.

»Zum Teufel!« Mel schien einen Schritt vorwärts machen zu wollen. »Es tut mir leid, Cindy.«

»Mir auch.« Cindy blieb regungslos stehen. Ihre Stimme klang wieder gefaßt. »Aber es ist doch das Vernünftigste, nicht wahr?«

Er nickte. »Ja, das denke ich auch.«

Nun war es vorbei. Beide wußten es. Nun blieben nur noch Einzelheiten zu bedenken.

Cindy war schon beim Plänemachen.

»Ich werde natürlich das Erziehungsrecht für die Kinder bekommen, wenn du sie auch jederzeit sehen kannst. Da bin ich großzügig.«

»Das habe ich auch nicht anders von dir erwartet.«

Ja, dachte Mel, es war logisch, daß die Mädchen bei der Mutter blieben. Er würde sie vermissen, besonders Libby. Keine Begegnung an einem dritten Ort, gleichgültig, wie häufig, konnte das tägliche Zusammenleben im selben Haus ersetzen. Er erinnerte sich an das Telefongespräch mit seiner jüngeren Tochter heute abend; was hatte sich Libby noch das erstemal gewünscht? Eine Landkarte vom Februar! Na, er hatte eine; sie zeigte einige unerwartete Umwege.

»Ich muß mir jetzt wohl einen Rechtsanwalt nehmen«, sagte Cindy. »Ich laß dich wissen, wer es ist.«

Er nickte und fragte sich, ob wohl alle Ehen so nüchtern wurden, sobald der Entschluß gefaßt war, sie zu beenden. Er sagte sich, daß es die zivilisiertere Art war, derlei zu erledigen. Cindy schien jedenfalls ihre Gemütsruhe mit bemerkenswerter Schnelligkeit wiedergefunden zu haben. Sie saß wieder auf dem Stuhl, auf dem sie vorher schon gesessen hatte, überprüfte ihr Gesicht im Taschenspiegel und richtete ihr Make-up. Er hatte sogar den Eindruck, sie wäre in Gedanken bereits woanders; um ihre Mundwinkel spielte der Anflug eines Lächelns. Mel dachte, in solchen Situationen galten Frauen doch als gefühlsbetonter als Männer, aber Cindy ließ sich davon nichts anmerken, während er selbst den Tränen nahe war.

Er hörte Stimmen und Menschenbewegung draußen im Vorzimmer. Es wurde angeklopft. Mel rief: »Herein!«

Es war Leutnant Ordway. Er trat ein und schloß die Tür hinter sich. Als er Cindy entdeckte, sagte er: »Ach, entschuldigen Sie, Mrs. Bakersfeld.«

Cindy blickte auf und sah dann ohne Antwort weg. Ordway, feinfühlig für Stimmungen, blieb zögernd stehen. »Vielleicht sollte ich später wiederkommen.«

Mel fragte: »Was gibt es denn, Ned?«

»Es handelt sich um die Anti-Lärm-Demonstranten aus Meado-wood. Da sind schon ein paar Hundert in der Haupthalle, und es kommen noch mehr. Sie wollten alle mit Ihnen sprechen, aber ich habe ihnen gesagt, sie sollen eine Abordnung schicken, wie Sie vorgeschlagen haben. Sie haben ein halbes Dutzend gewählt, und es sind auch drei Zeitungsreporter da. Ich habe gesagt, die Reporter könnten mitkommen.« Der Polizist deutete zum Vorzimmer. »Sie warten draußen.«

Mit der Abordnung mußte er sprechen, das wußte Mel. Nie war ihm weniger danach zumute, mit irgend jemand zu sprechen.

»Cindy«, sagte er bittend. »Das dauert nicht lange. Willst du solange warten?« Als sie nicht antwortete, setzte er hinzu: »Bitte!«

Sie fuhr fort, beide zu ignorieren.

»Wissen Sie«, sagte Ordway, »wenn es Ihnen im Augenblick nicht paßt, sollen sie an irgendeinem anderen Tag kommen.«

Mel schüttelte den Kopf. Er hatte die Verpflichtung übernommen, und es war sein eigener Vorschlag gewesen. »Holen Sie sie nur herein.« Als der Polizist sich zum Gehen wandte, fügte Mel hinzu: »Ach, ich habe noch nicht mit dieser Frau gesprochen — wie hieß sie noch?«

»Guerrero«, antwortete Ordway. »Das brauchen Sie auch nicht mehr. Es sah so aus, als wollte sie gerade gehen, als ich hereinkam.«

Wenige Augenblicke später kam das halbe Dutzend Leute aus Meadowood — vier Männer und zwei Frauen — in Mels Büro. Das Zeitungstrio folgte. Einer der Reporter war von der Tribüne — ein flinker jüngerer Mann namens Tomlinson, der bei seiner Zeitung den Flughafen und das Flugwesen allgemein bearbeitete. Mel kannte ihn gut und achtete seine Genauigkeit und Redlichkeit. Von Tomlinson erschienen gelegentlich auch Beiträge in Zeitschriften. Die beiden anderen Journalisten waren Mel flüchtig bekannt — der eine, ein junger Mann von der Sun-Times, die andere, eine ältere Frau, von einer lokalen Wochenzeitung.

Durch die offengebliebene Tür sah Mel, daß Leutnant Ordway draußen mit Inez Guerrero sprach.

»Guten Abend«, sagte Mel, stellte sich vor und wies auf die Polsterbank und die umherstehenden Sessel. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

»Schön, das wollen wir«, sagte einer der Männer. Er war teuer und gut angezogen, mit exakt gekämmtem, angegrautem Haar, und schien der Sprecher der Delegation zu sein. »Aber ich möchte Ihnen gleich sagen, wir kommen nicht zu einem Plauderstündchen. Wir haben ein paar klare, ungeschminkte Dinge vorzubringen, und wir hoffen, ebensolche Antworten und kein Wischiwaschi zu hören zu bekommen.«

»Ich werde versuchen, sie Ihnen zu geben. Würden Sie mir sagen, wer Sie sind?«

»Mein Name ist Elliott Freemantle, und ich bin Rechtsanwalt. Ich vertrete diese Herrschaften hier und alle die anderen unten.«

»Schön, Mr. Freemantle«, sagte Mel. »Warum fangen Sie nicht an?«

Die Tür zum Vorraum stand immer noch offen. Die Frau, die draußen gesessen hatte, war, wie Mel bemerkte, gegangen. Jetzt kam Ned Ordway herein und schloß die Tür hinter sich.

3

Flug Zwei der Trans America Airlines hatte Lincoln International Airport vor zwanzig Minuten verlassen und stieg stetig weiter aufwärts, bis die Maschine nach weiteren elf Minuten in der Nähe von Detroit die Höhe von dreiunddreißigtausend Fuß erreichen würde. Die Maschine befand sich bereits auf ihrer Luftstraße und hatte ihren weitgezogenen bogenförmigen Kurs nach Rom erreicht. Schon seit einigen Minuten befand sie sich in einer ruhigen Luftschicht und hatte die Sturmwolken und die sie begleitenden Störungen weit unter sich gelassen. Wie ein schief aufgehängter Lampion hing ein Dreiviertelmond oben vor ihnen am Himmel. Ringsherum schienen deutlich und klar die Sterne.

In der Pilotenkanzel hatte die erste Spannung nachgelassen. Kapitän Harris hatte über Lautsprecher den Passagieren einen Bericht über den Verlauf des Flugs gegeben. Jetzt nahmen die Piloten die Routinearbeiten für den Flug auf.

Unter dem Tisch des Zweiten Offiziers hinter den Kapitänen Harris und Demerest ertönte laut ein Klingeln. Im gleichen Augenblick blinkte an der Schalttafel des Funkgeräts oberhalb der Gashebel ein bernsteinfarbenes Licht auf. Sowohl das Klingeln wie das Blinklicht kündete einen Funkruf über das Selcal-System an, durch das die meisten Verkehrsflugzeuge in der Luft einzeln, wie durch einen privaten Telefonanschluß angerufen werden konnten. Jede Maschine der Trans America und anderer großer Fluggesellschaften hatte ihre eigenen, besonderen Rufzeichen, die automatisch übertragen und empfangen wurden. Das Rufzeichen, das gerade für das Flugzeug N-731-TA ausgesendet worden war, würde von keiner anderen Maschine gesehen oder gehört werden.

Anson Harris schaltete den Empfang von der Normalfrequenz um und meldete sich. »Hier Trans America Flug Zwei.«

»Achtung Flug Zwei, hier Trans America Vermittlung Cleveland. Ich habe eine Nachricht für den Kapitän vom Bezirksverkehrsleiter, Lincoln International Airport. Bitte melden, wenn aufnahmebereit.«

Harris bemerkte, daß auch Vernon Demerest die Funkfrequenz geändert hatte. Jetzt zog Demerest einen Notizblock an sich und nickte.

Harris antwortete: »Wir sind empfangsbereit, Cleveland. Geben Sie durch.«

Es war die Nachricht, die Tanya Livingston über den blinden Passagier in Flug Zwei, Mrs. Ada Quonsett, aufgesetzt hatte. Als die Personenbeschreibung der kleinen alten Dame aus San Diego folgte, lächelten beide Kapitäne unwillkürlich. Die Durchgabe endete mit der Bitte um Bestätigung, daß Mrs. Quonsett an Bord der Maschine sei.

»Wir prüfen nach und geben Meldung«, bestätigte Harris. Als das Gespräch beendet war, schaltete er das Funkgerät wieder auf die Frequenz der Flugsicherung zurück.

Vernon Demerest und der Zweite Offizier Jordan, der das Gespräch durch einen Lautsprecher über seinem Platz mitgehört hatte, lachten laut heraus.

»Man sollte es nicht glauben«, meinte der Zweite Offizier.

»Ich glaube es«, entgegnete Demerest gutgelaunt. »Aber was sind das doch für Dussel da unten auf dem Boden? Da kommt so ein altes Huhn und führt alle an der Nase herum.« Er drückte auf den Rufknopf für das Telefon in der vorderen Galley. »Hallo«, sagte er, als sich eine der Stewardessen meldete. »Sagen Sie Gwen, wir brauchen sie hier im Cockpit.«

Er lachte immer noch vor sich hin, als die Tür zum Cockpit geöffnet wurde und Gwen erschien.

Demerest las Gwen die Nachricht mit der Personenbeschreibung von Mrs. Quonsett vor. »Haben Sie diese Frau gesehen?«

Gwen schüttelte den Kopf. »Ich bin in die Touristenkabine noch gar nicht reingekommen.«

»Sehen Sie mal nach«, befahl Demerest, »und stellen Sie fest, ob die alte Frau da ist. Sie dürfte nicht schwer zu erkennen sein.«

»Und was soll ich tun, wenn sie da ist?«

»Nichts, kommen Sie nur wieder her und melden Sie.«

Gwen blieb nur wenige Minuten fort. Als sie zurückkam, lachte sie genauso wie die anderen.

Demerest drehte sich auf seinem Platz nach ihr um. »Nun, ist sie da?«

Gwen nickte. »Ja, auf Platz Vierzehn-B. Nach der Personenbeschreibung ist sie nicht zu verwechseln, nur wirkt sie noch komischer.«

Der Zweite Offizier fragte: »Wie alt ist sie denn?«

»Mindestens fünfundsiebzig, wahrscheinlich schon an die achtzig. Und sie sieht wie eine Figur von Dickens aus.«

Über die Schulter sagte Anson Harris: »Wohl eher noch aus >Arsen und Spitzenhäubchemc.«

»Ist sie wirklich ein blinder Passagier, Kapitän Harris?«

Harris hob die Schultern. »Die da unten auf der Erde behaupten es. Und vermutlich ist das die Erklärung dafür, weshalb ihre Zahl der Passagiere nicht stimmte.«

»Das läßt sich ja ganz leicht feststellen«, erklärte Gwen. »Ich brauche nur zu ihr gehen und mir ihren Flugschein zeigen lassen.«

»Nein«, widersprach Kapitän Demerest. »Das wollen wir lieber lassen.«

Neugierig versuchten die anderen in dem gedämpft beleuchteten Cockpit sein Gesicht genau zu erkennen. Nach einem kurzen Augenblick wandte Harris seine Augen wieder auf die Fluginstrumente, und der Zweite Offizier beugte sich wieder über seine Treibstofftabellen.

»Bleiben Sie noch«, sagte Demerest zu Gwen und gab eine fällige Standortmeldung über Funkfrequenz der Fluggesellschaft durch, während sie wartete.

»Uns wurde nur gesagt«, erklärte Demerest, nachdem er mit seiner Meldung fertig war, »wir sollten feststellen, ob die alte Dame an Bord ist. Sie ist es, und das werden wir der Zentrale melden. Wahrscheinlich werden sie von dort veranlassen, daß in Rom jemand auf sie wartet. Wir können überhaupt nichts unternehmen, selbst wenn wir wollten. Aber wenn die alte Dame es soweit geschafft hat und da wir doch nicht umkehren, warum sollen wir ihr für die nächsten acht Stunden das Leben unnütz schwer machen? Lassen Sie sie also in Ruhe. Vielleicht sollten wir ihr sagen, daß wir ihr auf die Schliche gekommen sind, kurz ehe wir in Rom landen. Dann ist der Schock für sie vielleicht nicht ganz so groß. Aber bis auf weiteres soll sie den Flug genießen. Geben Sie Oma was zum Abendessen, und sie soll sich in Ruhe den Film ansehen.«

»Wissen Sie«, antwortete Gwen und betrachtete ihn dabei nachdenklich, »es gibt Augenblicke, da kann ich Sie wirklich gut leiden.«

Nachdem Gwen das Cockpit verlassen hatte, schaltete Demerest immer noch schmunzelnd die Funkfrequenz um und meldete sich bei der Zentrale Cleveland.

Anson Harris, der seine Pfeife angezündet hatte, blickte zu ihm auf, nachdem er die Einstellung der automatischen Steuerung berichtigt hatte, und sagte trocken: »Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie soviel für alte Damen übrig haben.«

Demerest grinste. »Junge sind mir lieber.«

»Das habe ich auch immer gehört.«

Die Nachricht über den blinden Passagier und seine Antwort darauf hatte Demerest in die denkbar beste Laune versetzt. Aufgeschlossener als vorher fügte er hinzu: »Die Möglichkeiten ändern sich. Bald werden Sie und ich uns mit den nicht mehr ganz so jungen zufriedengeben müssen.«

»Das habe ich bereits getan.« Harris paffte an seiner Pfeife. »Schon seit einer ganzen Weile.«

Beide hatten eine Hörmuschel ihrer Kopfhörer über das Ohr hochgeschoben. Dadurch konnten sie sich unbehindert unterhalten, aber dennoch jeden eingehenden Funkspruch hören, wenn einer erfolgen sollte. Die Stärke der Geräusche im Cockpit war zwar gleichbleibend, übertönte aber nicht alles andere und erlaubte es den beiden, ein ungestörtes Gespräch zu führen.

»Sie sind wohl immer unerschütterlich bei der Stange geblieben, wie?« fragte Demerest. »Ich meine, bei Ihrer Frau. Keine Geschichten nebenbei. Bei Zwischenstationen habe ich Sie immer nur Bücher lesen sehen.« Jetzt war es an Harris zu grinsen. »Manchmal gehe ich auch ins Kino.«

»Hat das einen besonderen Grund?«

»Meine Frau war Stewardess — auf DC-4. So haben wir uns kennengelernt. Sie wußte Bescheid, was vorging; ständig wechselnde Liebesaffären, Schwangerschaften, Abtreibungen und so weiter. Später bekam sie einen Aufsichtsposten und hatte dadurch eine Menge mit solchen Dingen zu tun. Jedenfalls, als wir heirateten, gab ich ihr ein feierliches Versprechen — das Naheliegende. Ich habe es immer gehalten.«

»Wahrscheinlich haben die vielen Kinder, die Sie haben, Ihnen dabei geholfen.«

»Das kann sein.«

Harris berichtigte wieder die automatische Steuerung. Während die beiden Piloten miteinander sprachen, wanderten ihre Augen dank ihrer Ausbildung und aus Gewohnheit über die Reihen der erleuchteten Instrumente vor ihnen, aber auch über jene, die an der Seite und über ihnen angebracht waren. Jedes mangelhafte Funktionieren irgendeines Teils in der Maschine würde sofort durch eine Abweichung auf einem der Instrumente angezeigt werden. Aber es war alles in Ordnung.

»Wie viele Kinder haben Sie? Sechs?« fragte Demerest.

»Sieben.« Harris lächelte. »Vier waren beabsichtigt, die drei weiteren nicht. Aber es hat sich alles gut gefügt.«

»Und die, die nicht beabsichtigt waren — hatten Sie je erwogen, ihretwegen etwas zu unternehmen? Ehe sie geboren wurden.«

Harris warf ihm einen scharfen Seitenblick zu. »Meinen Sie Abtreibung?«

Vernon Demerest war einem Impuls gefolgt, als er diese Frage aussprach. Jetzt fragte er sich, warum er sie gestellt hatte. Offenbar waren seine Gedanken durch seine beiden vorangegangenen Gespräche mit Gwen auf das Thema Kinder gelenkt worden. Aber es war für ihn ungewöhnlich, daß er so viele Gedanken auf etwas so Einfaches und Naheliegendes verschwendete — wie eine Abtreibung bei Gwen. Trotzdem war er auf Harris' Reaktion neugierig.

»Ja«, antwortete er. »Daran hatte ich gedacht.«

Anson Harris erwiderte knapp: »Die Antwort lautet nein.« Weniger schroff fügte er hinzu: »Zufällig habe ich in dieser Frage sehr strenge Ansichten.«

»Aus religiöser Überzeugung?«

Harris schüttelte verneinend den Kopf. »Ich bin Agnostiker.«

»Und was sind Ihre Ansichten?«

»Wollen Sie es wirklich hören?«

»Wir haben eine lange Nacht vor uns«, erwiderte Demerest. »Warum also nicht?«

Über den Funk hörten sie einen Meldungsaustausch zwischen der Flugsicherung und einer Maschine der TWA auf dem Weg nach Paris mit an. Die Maschine war kurz nach Flug Zwei der Trans America gestartet. Sie befand sich zehn Meilen hinter und einige tausend Fuß unter ihnen. Die Maschine der TWA würde im gleichen Tempo höher steigen wie sie selbst.

Die meisten aufmerksamen Piloten machten sich aus den mitgehörten Funksprüchen anderer Maschinen ein ungefähres Bild von der Verkehrslage in ihrer Umgebung und verloren es nie aus den Augen. Demerest und Harris fügten diese jüngsten Informationen zu den bereits erhaltenen hinzu. Als der Meldungsaustausch zwischen Boden und Flugzeug beendet war, drängte Demerest Anson Harris: »Sprechen Sie doch.«

Harris überprüfte Kurs und Flughöhe der Maschine und begann dann seine Pfeife frisch zu stopfen.

»Ich habe mich viel mit Geschichte befaßt. Auf dem College wurde mein Interesse dafür geweckt, und später habe ich mich weiter damit beschäftigt. Vielleicht tun Sie das auch.«

»Nein«, antwortete Demerest. »Ich habe mich nie mehr damit beschäftigt, als ich unbedingt mußte.«

»Also, wenn man sich das alles so vor Augen hält — die Geschichte meine ich —, dann fällt einem eines auf: Für jeden kleinen Fortschritt der Menschheit gibt es einen einzigen, einfachen Grund: die Erhöhung des Status des einzelnen. Jedesmal, wenn die Zivilisation in ein neues Zeitalter gestolpert ist, das etwas besser, etwas aufgeklärter war als das vorangegangene, dann war es das deshalb, weil sich die Menschen mehr um andere Menschen kümmerten und sie als Einzelwesen respektierten. Die Zeiten, als sie sich nicht darum kümmerten, die brachten die Rückfälle. Selbst eine kurze Weltgeschiente — falls Sie einmal eine lesen — wird Ihnen das beweisen.«

»Ich glaube Ihnen aufs Wort.«

»Das brauchen Sie nicht. Es gibt eine Fülle von Beispielen dafür. Wir haben die Sklaverei aufgehoben, weil wir das Leben des menschlichen Individuums respektierten. Aus dem gleichen Grund haben wir aufgehört, Kinder zu hängen, und schufen etwa zur gleichen Zeit das Habeas corpus, und jetzt haben wir Gerechtigkeit für alle geschaffen oder sind dem wenigstens so nahe wie möglich gekommen. In der jüngsten Zeit sind die meisten, die überlegen und nachdenken, gegen die Todesstrafe, nicht so sehr wegen der, die hingerichtet werden, sondern wegen dem, was es für die menschliche Gesellschaft bedeutet, die wir alle bilden, ein menschliches Leben zu vernichten — irgendein menschliches Leben.«

Harris schwieg. Er lehnte sich in seinem Haltegurt vor und sah aus dem verdunkelten Cockpit in die sie umgebende Nacht hinaus.

In dem hellen Mondlicht konnte er tief unter sich ein Gewirr dunkler Wolkengipfel ausmachen. Bei der vorausgesagten geschlossenen Wolkendecke bis in die Mitte des Atlantiks hinaus auf ihrer Route war in dieser Nacht kein Blick auf Lichter unten auf der Erde zu erwarten. Einige hundert Meter über ihnen huschten die Positionslichter eines anderen Flugzeugs vorbei, das in entgegengesetzter Richtung flog, und verschwanden.

Von seinem Platz hinter den beiden Piloten griff der Zweite Offizier Jordan nach vorn und verstellte die Einstellung der Treibstoffhebel, um die Motorleistung der größeren Flughöhe der Maschine anzupassen.

Demerest wartete, bis Jordan damit fertig war, ehe er Anson Harris entgegenhielt: »Zwischen der Todesstrafe und einer Abtreibung besteht ein großer Unterschied.«

»Genaugenommen nicht«, antwortete Harris. »Nicht, wenn man es genau überlegt. Das hängt alles mit dem Respekt vor dem einzelnen Menschenleben zusammen, mit dem Weg, den die Zivilisation genommen hat und den sie weiter nehmen wird. Das Merkwürdige ist, daß man Leute im gleichen Atemzug gegen die Todesstrafe und für die Legalisierung der Abtreibung argumentieren hören kann. Was diese Leute nicht sehen, ist der Widerspruch, der darin liegt, auf der einen Seite den Wert des menschlichen Lebens höher einzuschätzen, ihn aber auf der anderen Seite herabzusetzen.«

Demerest erinnerte sich an das, was er an diesem Abend zu Gwen gesagt hatte. Jetzt wiederholte er es. »Ein ungeborenes Kind hat kein Leben — kein individuelles Einzelleben. Es ist ein Embryo, es ist noch keine Person.«

»Lassen Sie mich etwas fragen«, erwiderte Harris. »Haben Sie jemals einen Embryo gesehen? Nach dem Eingriff, meine ich.«

»Nein.«

»Ich habe einmal einen gesehen. Ein Arzt, den ich kenne, zeigte ihn mir. Er war in einem Glasgefäß, in Formaldehyd. Mein Freund bewahrte ihn in einem Schrank auf. Ich weiß nicht, woher er ihn hatte, aber er sagte mir, wenn dieses Kind am Leben geblieben wäre — wenn es nicht abgetrieben worden wäre —, wäre es ein normales Kind geworden. Ein Junge. Es war ein Embryo, richtig, gerade wie Sie gesagt haben, abgesehen davon war es aber auch ein menschliches Wesen. Es war alles vorhanden, alles war vollkommen ausgebildet: ein gutaussehendes Gesicht, Hände, Füße, Zehen, sogar ein kleiner Penis. Wissen Sie, was ich empfand, als ich es sah? Ich schämte mich. Ich fragte mich, wo zum Teufel ich gewesen war, wo alle anderen anständig gesinnten, mit einem Gewissen begabten Menschen gewesen waren, als dieses Kind, das sich nicht verteidigen konnte, ermordet wurde. Denn genau das war ja geschehen! Auch wenn wir in den meisten Fällen Angst haben, dieses Wort zu gebrauchen.«

»Teufel, ich sage ja nicht, daß ein Baby beseitigt werden soll, wenn es schon soweit ist.«

»Wissen Sie was?« entgegnete Harris. »Wissen Sie, daß acht Wochen nach der Empfängnis in einem Embryo alles schon genauso vorhanden ist wie in einem voll ausgetragenen Kind? Im dritten Monat sieht der Embryo wie ein Baby aus. Wo wollen Sie also die Grenze ziehen?«

Demerest knurrte: »Sie hätten Rechtsanwalt werden sollen, nicht Pilot.« Trotzdem fand er sich plötzlich vor der Frage, wie weit Gwen wohl sein mochte; dann überlegte er, wenn sie es in San Francisco empfangen hatte, wie sie ihm versichert hatte, lag es acht oder neun Wochen zurück. Deshalb war es jetzt, falls die Behauptung von Harris zutraf, ein fast schon fertig entwickeltes Kind.

Es war Zeit für die nächste Meldung bei der Flugsicherung. Ver-non Demerest gab sie durch. Sie befanden sich jetzt in neuntausendneunhundert Meter Höhe, hatten nahezu den Gipfel ihres Aufstiegs erreicht und würden in wenigen Augenblicken die Grenze nach Kanada überfliegen und sich über dem südlichen Ontario befinden. Detroit und Windsor, die Zwillingsstädte, die sich längs der Grenze erstreckten, waren im allgemeinen helle Lichtflecke, die schon aus einer Entfernung von vielen Meilen sichtbar waren. Heute lag nur Finsternis unter ihnen, die Städte irgendwo von Wolken verhüllt auf der Steuerbordseite. Demerest erinnerte sich, daß Detroit Metropolitan Airport kurz vor ihrem Start geschlossen worden war. Inzwischen würden beide Städte den Schneesturm, der weiter nach Osten zog, mit voller Wucht über sich ergehen lassen müssen.

In den Passagierkabinen hinten servierten Gwen und die anderen Stewardessen jetzt die zweite Runde Getränke und begannen in der ersten Klasse auf exquisitem Rosenthalporzellan warme Vorgerichte auszugeben.

»Ich habe Sie gewarnt, daß ich sehr strenge Ansichten in dieser Frage habe«, sagte Anson Harris. »Man braucht keine Religion, um an die ethischen Pflichten der Menschen zu glauben.«

Demerest antwortete grollend: »Oder verrückte Vorstellungen zu haben. Jedenfalls sind die Leute mit Ihren Ansichten auf der falschen Seite und werden verlieren. Die Tendenz geht dahin, Abtreibungen zu erleichtern und schließlich vielleicht völlig freizugeben und zu legalisieren.«

»Wenn es dazu kommt«, antwortete Harris, »werden wir einen Schritt rückwärts in der gesellschaftlichen Entwicklung machen.«

»Unsinn!« Demerest blickte von dem Logbuch auf, in das er gerade die eben durchgegebene Positionsmeldung eintrug. Seine Gereiztheit, die nur selten weit unter der Oberfläche schlummerte, begann erkennbar zu werden. »Es gibt viele gute Argumente für die Erleichterung von Abtreibungen — unerwünschte Kinder, die in Armut geboren werden und nie eine Chance im Leben bekommen werden; und dann die Sonderfälle — Vergewaltigung, Blutschande, die Gesundheit der Mutter.«

»Sonderfälle gibt es immer. Es ist genau so, wie wenn man sagen wollte: >Also gut, ein bißchen Morden wollen wir erlauben, vorausgesetzt, daß überzeugende Gründe dafür vorgebracht werden.< « Harris schüttelte widersprechend den Kopf. »Sie haben von unerwünschten Kindern gesprochen. Nun, sie können durch Empfängnisverhütung vermieden werden. Dazu hat heutzutage jeder die Möglichkeit, in jeder Einkommensschicht. Aber wenn wir dabei einen Fehler begehen und ein neues menschliches Leben zu wachsen beginnt, das ein neues Menschenwesen ist, haben wir kein moralisches Recht, es zum Tode zu verdammen. Wozu wir geboren werden, das ist das Risiko, das wir alle auf uns nehmen müssen, ohne es zu kennen. Aber wenn wir einmal ein Leben haben, ob gut oder schlecht, haben wir auch den Anspruch darauf, es zu behalten, und nicht viele würden, wie schlecht es auch sei, darauf verzichten. Das Mittel gegen Armut ist nicht, ungeborene Kinder zu töten, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verbessern.«

Harris dachte kurz nach, dann fuhr er fort. »Und was die Wirtschaft angeht, wirtschaftliche Argumente gibt es für alles. Es ist wirtschaftlich logisch, geistig Minderwertige und Krüppel sofort nach der Geburt zu töten, an unheilbar Kranken Euthanasie zu praktizieren, alte und nutzlose Menschen auszumerzen, wie es in Afrika geschieht, indem man sie im Dschungel den Hyänen zum Fraß überläßt. Aber wir tun das nicht, weil wir das Leben und die Würde des Menschen hochhalten. Was ich sagen will, Vernon, ist, wenn wir weiter fortschreiten wollen, müssen wir sie noch höher einschätzen.«

Die Höhenmesser, vor jedem der Piloten einer, erreichte die Zehntausend-Meter-Marke. Sie hatten den Gipfel ihres Aufstiegs erreicht. Anson Harris brachte die Maschine behutsam in eine waagerechte Position, während der Zweite Offizier Jordan wieder nach vorn griff, um die Hebel der Treibstoffzufuhr neu einzustellen.

Demerest sagte mürrisch zu Harris: »Ihr Fehler ist, daß Sie Hirngespinste haben.« Er war sich bewußt, daß er die Diskussion begonnen hatte; jetzt wünschte er sich verärgert, er hätte es unterlassen. Um das Thema abzubrechen, griff er nach dem Rufknopf für die Stewardessen. »Lassen wir uns etwas von den warmen Vorspeisen kommen, ehe die Passagiere in der ersten Klasse alles aufgefressen haben.«

Harris nickte zustimmend. »Gute Idee.«

Ein oder zwei Minuten später brachte Gwen auf die telefonische Bestellung hin drei Teller mit appetitanregend duftenden Vorspeisen und Kaffee. Bei der Trans America wurden, wie bei den meisten Fluggesellschaften, die Kapitäne am schnellsten bedient.

»Danke, Gwen«, sagte Kapitän Demerest. Als sie sich dann vorneigte, um Anson Harris zu bedienen, bestätigten ihm seine Augen, was er bereits wußte. Gwens Taille war so schlank wie eh und je, noch kein Anzeichen war zu erkennen. Es würde auch nie soweit kommen, gleichgültig, was in ihrem Körper vorging. Zum Teufel mit Harris und seinem Altweibergeschwätz. Selbstverständlich würde Gwen eine Abtreibung vornehmen lassen — sobald sie von dieser Reise zurückkamen.

Etwa zwanzig Meter hinter ihnen, in der Touristenkabine, war Mrs. Ada Quonsett in ein angeregtes Gespräch mit dem Passagier auf ihrer rechten Seite vertieft, in dem sie einen liebenswürdigen Oboisten des Chicago Symphony Orchestras, einen Mann in den mittleren Jahren, entdeckt hatte. »Wie wunderbar, Musiker und so schöpferisch zu sein! Mein verstorbener Mann liebte klassische Musik. Er hat selbst ein bißchen gegeigt, aber selbstverständlich nicht beruflich.«

Mrs. Quonsett war von dem Dry Sack Sherry, den ihr neuer Freund, der Oboist, bezahlt hatte, angenehm erwärmt, und er hatte gerade gefragt, ob sie nicht noch ein Glas trinken wolle. Mrs. Quonsett strahlte. »Also das ist wirklich zu freundlich von Ihnen, und vielleicht sollte ich es nicht annehmen, aber ich glaube, ich trinke noch eins.«

Der Passagier auf ihrer linken Seite, der Mann mit dem kleinen sandfarbenen Schnurrbart und dem ausgemergelten Hals, war weniger gesprächig gewesen. Genaugenommen war er eine Enttäuschung. Die verschiedenen Versuche von Mrs. Quonsett zu einem Gespräch waren durch einsilbige, fast unhörbare Antworten abgewiesen worden, während er meistens völlig ausdruckslos, das Ak-tenköfferchen auf seinen Knien unverändert fest umklammernd, neben ihr gesessen hatte.

Eine Zeitlang, als alle sich etwas zu trinken bestellt hatten, fragte sich Mrs. Quonsett, ob der Passagier links von ihr nicht doch noch auftauen würde. Aber er hatte es nicht getan. Er hatte von der Stewardess einen Scotch entgegengenommen, dafür mit einer Menge Kleingeld, das er umständlich vorzählen mußte, bezahlt und das Glas fast auf einen Zug heruntergestürzt. Ihr Sherry besänftigte Mrs. Quonsett sofort so weit, daß sie dachte: Der arme Mann, vielleicht hat er Sorgen, und vielleicht sollte ich ihn nicht behelligen.

Sie bemerkte jedoch, daß der Mann mit dem mageren Hals sofort aufmerksam wurde, als der Kapitän bald nach ihrem Start in einer Durchsage Geschwindigkeit, Kurs, Flugzeit und so weiter bekanntgab, Mitteilungen, denen Mrs. Quonsett nur selten zuhörte. Der Mann zu ihrer Linken dagegen kritzelte Notizen auf die Rückseite eines Briefumschlags und nahm sich dann eine der Karten »Zeichnen Sie selbst den Kurs Ihrer Maschine ein« vor, die die Fluggesellschaft frei zur Verfügung stellte, und breitete sie auf seinem Aktenkoffer aus. Jetzt studierte er diese Karte, machte mit einem Bleistift Eintragungen und blickte zwischendurch auf seine Uhr. Mrs. Quonsett kam das alles sehr albern und kindisch vor, denn sie war fest überzeugt, daß vorn ein Navigator saß, der sich darum kümmern würde, wo die Maschine zu welcher Zeit zu sein hätte.

Darauf wandte Mrs. Quonsett ihre Aufmerksamkeit wieder dem Oboisten zu, der ihr erklärte, daß er erst kürzlich, als er bei der Aufführung einer Brucknersinfonie als Zuhörer im Saal gesessen habe, erkannt hätte, daß in einem Augenblick, wenn seine Instrumentengruppe »pom-tideh-pom-pom« spiele, die Celli das mit einem »ah-diddleh-ah-dah« begleiteten. Zur Illustrierung summte er ihr die beiden Phrasen leise vor.

»Wirklich? Wie ungeheuer interessant. Daran hätte ich nie gedacht«, rief Mrs. Quonsett aus. »Mein verstorbener Mann hätte sich so gefreut, wenn er Sie kennengelernt hatte, obwohl Sie selbstverständlich viel jünger sind.«

Sie trank jetzt mit Genuß ihren zweiten Sherry und fühlte sich vollkommen wohl und behaglich. Sie hatte sich einen sehr angenehmen Flug ausgesucht, dachte sie, so ein schönes Flugzeug und eine gute Besatzung, und die Stewardessen höflich und hilfsbereit, und so interessante Mitreisende, außer dem Mann zu ihrer Linken, der aber eigentlich bedeutungslos war. Bald würde das Abendessen serviert werden, und es sollte ein Film mit Michael Caine, einem ihrer Lieblingsstars, gezeigt werden. Was konnte man noch mehr verlangen?

Mrs. Quonsett hatte sich geirrt, als sie annahm, daß vorn im Cockpit ein Navigator sitzen würde. Den gab es nicht. Bei der Trans America flogen, wie bei den meisten großen Fluggesellschaften, nicht einmal mehr bei Überseeflügen Navigatoren mit, weil die Fülle der zur Verfügung stehenden Radar- und Funkanlagen in den modernen Düsenflugzeugen sie entbehrlich machten. Die Piloten, die ständig die Hilfe der Flugsicherung hatten, übernahmen das wenige an Navigation, das noch gebraucht wurde, selbst.

Wenn jedoch ein altmodischer Luftnavigator an Bord von Flug Zwei gewesen wäre, dann hätten die von ihm eingezeichneten Positionen jenen, die D. O. Guerrero durch sein Über-den-Daumen-Peilen errechnet hatte, bemerkenswert geglichen. Guerrero hatte vor einigen Minuten geschätzt, daß sie dicht vor Detroit sein mußten. Diese Schätzung war richtig. Er wußte es, weil der Kapitän in seiner Ankündigung an die Passagiere bekanntgegeben hatte, daß der weitere Kurs über Montreal, Fredericton in New Brunswick, Cape Ray und später St. John's in Neufundland führen werde. Der Kapitän war sogar so hilfreich gewesen, sowohl die Bodengeschwindigkeit als auch die Fluggeschwindigkeit des Flugzeugs bekanntzugeben und es Guerrero dadurch zu ermöglichen, daß seine weiteren Berechnungen ebenso genau ausfielen.

Die Ostküste von Neufundland, rechnete D. O. Guerrero, würde in zweieinhalb Stunden überflogen werden. Bis es jedoch soweit war, würde der Kapitän vermutlich noch einmal die Position bekanntgeben, und danach konnte er seine Schätzung dann berichtigen, wenn es nötig sein sollte. Danach wollte Guerrero, wie er es geplant hatte, eine weitere Stunde warten, um sicherzugehen, daß die Maschine sich weit draußen über dem Atlantik befand, ehe er an der Schnur an seinem Aktenkoffer zog und das Dynamit darin zur Explosion brachte. In diesem Augenblick krampften sich seine Finger vor Erwartung fester um das Köfferchen.

Jetzt, da der entscheidende Augenblick so dicht bevorstand, wünschte er, daß es schon soweit wäre. Vielleicht brauchte er doch nicht so lange zu warten. Sobald die Maschine Neufundland erst hinter sich gelassen hatte, war ein Augenblick so gut wie der andere.

Der Schluck Whisky hatte seine Spannung gemildert. Zwar war sie schon weitgehend von ihm abgefallen, sobald er an Bord der Maschine gekommen war, jedoch bald nach dem Start wieder von neuem aufgetreten, besonders als diese aufreizende alte Ziege auf dem Platz neben ihm versucht hatte, ihn in ein Gespräch zu ziehen. D. O. Guerrero wünschte keine Unterhaltung, weder jetzt noch später. Genaugenommen wünschte er keinerlei Kontakt mehr mit irgend jemand in seinem Leben. Alles, was er sich wünschte, war, dazusitzen und zu träumen — von dreihunderttausend Dollar, einer größeren Summe, als er sie je besessen hatte und die, wie er annahm, Inez und den Kindern in wenigen Tagen zukommen würde.

In diesem Augenblick wäre ihm ein zweiter Whisky sehr willkommen gewesen, aber er hatte kein Geld mehr, um ihn bezahlen zu können. Nach seinem unerwartet hohen Versicherungsabschluß war ihm kaum genug Kleingeld für das eine Glas geblieben. Deshalb mußte er eben auf das zweite verzichten.

Wieder schloß er die Augen. Diesmal dachte er an die Wirkung auf Inez und die Kinder, wenn sie von dem Geld erfuhren. Sie sollten ihm dankbar sein für das, was er für sie tat, selbst wenn sie nie die ganze Wahrheit erfuhren — daß er sich für sie aufopferte, sein Leben für sie hingab. Vielleicht würden sie aber einen kleinen Teil erraten. Wenn ja, dann hoffte er, würden sie dafür dankbar sein, obwohl ihm das fraglich zu sein schien, da er aus Erfahrung wußte, daß die Menschen auf das, was in ihrem Interesse getan wurde, überraschend undankbar reagieren konnten.

Das Merkwürdige war: bei all seinen Gedanken an Inez und die Kinder konnte er sich ihre Gesichter nicht mehr richtig vorstellen. Fast schien es, als ob er an Leute dachte, die er niemals wirklich gekannt hatte.

Er gab sich mit einem Kompromiß zufrieden, indem er sich Dollarzeichen vorstellte, denen Dreier und endlose Reihen von Nullen folgten. Nach einer Weile mußte er eingeschlafen sein, denn als er die Augen öffnete, zeigte ihm ein schneller Blick auf seine Uhr, daß zwanzig Minuten vergangen waren, und eine Stewardess beugte sich vom Mittelgang her zu ihm nieder. Die Stewardess, ein anziehendes dunkelhaariges Mädchen, das mit einem englischen Akzent sprach, fragte: »Darf ich Ihnen jetzt Ihr Abendessen servieren, Sir? Wenn ja, darf ich Ihnen solange Ihren Koffer abnehmen?«

4

Fast vom ersten Augenblick ihrer Begegnung an empfand Mel Bakersfeld eine instinktive Abneigung gegen Rechtsanwalt Elliott Freemantle, der die Delegation der Einwohner von Meadowood anführte. Nachdem jetzt etwa zehn Minuten vergangen waren, seit die Delegation in Mels Büro marschiert war, hatte sich die Abneigung zu unverhülltem Abscheu gesteigert.

Es schien, als ob der Rechtsanwalt bewußt so unangenehm wie möglich aufträte. Noch ehe die Aussprache begann, hatte Freemantle die unfreundliche Bemerkung fallen lassen, er wünsche keinerlei »Doppelzüngigkeiten«, die Mel in gemäßigtem Ton parierte, obwohl sie ihn ärgerte. Seither war jede Erwiderung Mels mit der gleichen Grobheit und verletzenden Skepsis aufgenommen worden. Sein Instinkt warnte Mel, daß Freemantle ihn bewußt herausfordere in der Hoffnung, Mel würde seine Selbstbeherrschung verlieren und unüberlegte Erklärungen abgebende die Presse dann aufgreifen konnte. Falls das die Taktik dieses Rechtsanwalts war, dann hatte Mel nicht die Absicht, ihr Vorschub zu leisten. Mit einiger Mühe gelang es ihm, selbst gemäßigt und höflich aufzutreten.

Freemantle hatte gegen etwas protestiert, das er »gefühllose Gleichgültigkeit der Flughafenleitung gegenüber der Gesundheit und dem Wohlergehen meiner Klienten, der ehrenwerten Bewohner und Mitbürger von Meadowood«, nannte.

Mel erwiderte ruhig, weder die Flughafenleitung noch die Fluggesellschaften seien gefühllos oder gleichgültig. »Im Gegenteil, wir haben das echte Problem des bestehenden Lärms erkannt und unser Bestes getan, um eine Lösung dafür zu finden.«

»Dann ist Ihr Bestes, Sir, eine elende, unzulängliche Bemühung. Denn was haben Sie denn getan?« hielt ihm Rechtsanwalt Freemantle entgegen. »Soweit meine Klienten und ich sehen können — und hören —, haben Sie nichts als leere Versprechungen abgegeben, die wertlos sind. Es ist vollkommen klar — und das ist auch der Grund, weshalb wir vor Gericht gehen werden —, daß sich hier niemand auch nur einen Dreck darum kümmert.«

Diese Beschuldigung entspreche nicht der Wahrheit, entgegnete Mel. Es sei ein Programm entwickelt worden, Starts über die Startbahn Zwei-Fünf zu vermeiden, die unmittelbar auf Meadowood zuführe, wann immer die Möglichkeit bestehe, eine andere Startbahn zu benutzen. Deshalb werde Zwei-Fünf überwiegend für Landungen benutzt, wodurch für Meadowood nur geringe Lärmbelästigung entstehe, selbst wenn dadurch die Leistungsfähigkeit des Flughafens beeinträchtigt werde. Darüber hinaus bestehe für die Piloten aller Fluggesellschaften die Anweisung, nach jedem Start in der allgemeinen Richtung über Meadowood, gleichgültig welche Startbahn benutzt werde, alle Maßnahmen zur Lärmdrosselung zu befolgen, einschließlich des Abdrehens von Meadowood unmittelbar nach dem Abheben vom Boden. Die Flugsicherung habe alle diese Maßnahmen unterstützt.

»Was Sie sich vor Augen halten sollten, Mr. Freemantle«, fügte Mel hinzu, »wir treffen heute abend keineswegs zum erstenmal mit den Bewohnern aus unserer Umgebung zusammen. Wir haben über unsere gemeinsamen Probleme schon oft diskutiert.«

»Vielleicht wurde bei diesen Gelegenheiten nicht offen und deutlich genug gesprochen«, entgegnete Elliott Freemantle schroff.

»Ob das so war oder nicht, Sie scheinen sich jedenfalls zu bemühen, etwa Versäumtes jetzt nachzuholen.«

»Wir haben die Absicht, eine Menge Versäumtes nachzuholen — versäumte Zeit, vergebliche Mühe, vergeudeten guten Glauben, letzteres ausschließlich auf seiten meiner Klienten.«

Mel zog es vor, darauf nicht zu antworten. Für keine der beiden Seiten konnte durch Ausfälle dieser Art etwas gewonnen werden — außer vielleicht Publicity für Elliott Freemantle. Mel beobachtete, daß die Bleistifte der Reporter übers Papier flogen. Was der Rechtsanwalt jedenfalls eindeutig verstand, war der Presse Nahrung für spannende Berichte zu geben.

Mel beschloß, diese Zusammenkunft abzubrechen, sobald das mit Anstand möglich war. Er war sich Cindys Anwesenheit deutlich bewußt, die noch an der gleichen Stelle saß wie in dem Augenblick, als die Delegation erschienen war. Jetzt schien sie sich aber zu langweilen, und das war typisch für Cindy, sobald etwas zur Sprache kam, das den Flughafen betraf. Diesmal hatte Mel jedoch völliges Verständnis für sie. In Anbetracht des ernsten Themas, über das sie diskutiert hatten, empfand er selbst diese ganze Meadowood-Geschichte als eine Belästigung.

In Mels Gedanken tauchte auch immer wieder seine Sorge um Keith auf. Er fragte sich, wie es mit seinem Bruder drüben in der Radarkontrolle stehe. Hätte er darauf bestehen sollen, daß Keith seinen Dienst für diese Nacht abbrach, und das Gespräch weiterführen sollen — das bis zu dem Punkt, als es vom Dienstleiter des Kontrollturms unterbrochen worden war, zu etwas zu führen schien. Vielleicht war es jetzt noch nicht zu spät . . . Aber da war auch Cindy, die ganz gewiß ein Recht darauf hatte, vor Keith berücksichtigt zu werden. Und jetzt auch noch dieser giftige Rechtsanwalt Freemantle, der ihn weiter belästigte . . .

»Da Sie es für richtig halten, von diesen sogenannten Maßnahmen zur Lärmdrosselung zu sprechen«, faßte Elliott Freemantle sarkastisch nach, »darf ich fragen, was heute abend aus ihnen geworden ist?«

Mel seufzte. »Wir haben seit drei Tagen Schneesturm.« Sein Blick umfaßte die anderen Mitglieder der Delegation. »Damit sage ich Ihnen bestimmt nichts Neues. Dadurch ist für uns ein Notstand eingetreten.« Er erklärte die Blockierung der Startbahn DreiNull, die vorübergehende Notwendigkeit, über Startbahn ZweiFünf mit allen unvermeidlichen Auswirkungen auf Meadowood zu starten.

»Das ist alles schön und gut«, sagte einer der anderen Männer, ein bereits kahlwerdender Mann mit Hängebacken, dem Mel bereits bei anderen Diskussionen über den Lärm des Flughafens begegnet war. »Daß Schneesturm ist, wissen wir, Mr. Bakersfeld. Aber wenn man direkt darunter wohnt, hilft es nichts, wenn man weiß, warum die Flugzeuge über einen wegfliegen. Daran kann auch ein Schneesturm nichts ändern. Übrigens, mein Name ist Floyd Zanetta. Ich war der Leiter der Versammlung . . .«

Elliott Freemantle mischte sich geschickt ein. »Entschuldigen Sie, da muß noch ein anderer Punkt erwähnt werden, ehe wir fortfahren.« Offensichtlich hatte der Rechtsanwalt nicht die Absicht, die Herrschaft über die Delegation, und sei es auch noch so kurz, aus der Hand zu geben. Er wandte sich mit einem Seitenblick auf die Journalisten wieder an Mel. »Es geht nicht nur um den Lärm, der in die Häuser und Ohren der Einwohner von Meadowood dringt, obwohl der schon schlimm genug ist — die Nerven zerrüttet, die Gesundheit zerstört, Kinder um den nötigen Schlaf bringt. Sondern da ist auch eine körperliche Belästigung . . .«

Diesmal unterbrach Mel. »Wollen Sie ernsthaft als Alternative zu dem, was heute abend geschieht, vorschlagen, wir sollten den Flughafen schließen?«

»Das schlage ich Ihnen nicht nur vor, wir könnten Sie dazu zwingen. Vor einem Augenblick sprach ich von der körperlichen Belästigung. Und genau das ist es, was ich beweisen will, vor Gericht, im Interesse meiner Klienten. Und wir werden gewinnen.«

Die anderen Mitglieder der Delegation einschließlich Floyd Za-nettas nickte zustimmend.

Während Elliott Freemantle wartete, um seine Worte wirken zu lassen, überlegte er. Er nahm an, er sei jetzt weit genug gegangen. Für ihn war es eine Enttäuschung, daß bei dem Generaldirektor des Flughafens die Sicherung nicht durchgebrannt war, worum Freemantle sich so sehr bemüht hatte. Diese Technik hatte er schon früher benutzt, häufig mit Erfolg, und es war eine gute Technik, denn Leute, die ihre Selbstbeherrschung verloren, kamen in Presseberichten unweigerlich schlecht weg, und daran lag Freemantle am meisten. Aber Bakersfeld war zwar eindeutig verärgert, aber zu klug, um auf dieses Spiel reinzufallen. Macht nichts, dachte Elliott Freemantle, er hatte trotzdem Erfolg gehabt. Auch er hatte bemerkt, daß die Reporter fleißig jedes seiner Worte mitschrieben — Worte, die ohne die Anmaßung und den Hohn in seiner Stimme sich gut lesen würden; besser noch, wie er glaubte, als seine vorherige Rede auf der Versammlung in Meadowood.

Selbstverständlich erkannte Freemantle, daß das Ganze nicht mehr als ein leeres Wortgefecht war, aus dem sich nichts ergeben würde. Selbst wenn er den Direktor des Flughafens zu ihrer Ansicht bekehren könnte — was höchst unwahrscheinlich war —, Bakersfeld konnte wenig oder gar nichts unternehmen. Der Flughafen war eine gegebene Tatsache, und nichts würde etwas daran ändern, daß er vorhanden war und wie er war. Nein, der Wert seiner Anwesenheit hier draußen lag zum Teil darin, die öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, in erster Linie aber — vom Standpunkt des Rechtsanwalts Freemantle aus gesehen — darin, die Bevölkerung von Meadowood zur Überzeugung zu bringen, sie habe einen unerschütterlichen Vorkämpfer gefunden, und daß infolgedessen die unterschriebenen Rechtsvollmachten — aber auch die Schecks — reichlich in das Büro von Freemantle und Sye strömten.

Es war ein Jammer, überlegte Freemantle, daß die restliche Versammlung aus Meadowood, die unten wartete, ihn hier oben nicht hatte hören können, wie er Bakersfeld in ihrem Interesse Grobheiten an den Kopf geworfen hatte. Aber das konnten sie alle morgen in der Zeitung lesen. Außerdem war Elliott Freemantle durchaus noch nicht überzeugt, daß im Flughafen für diese Nacht schon das letzte Wort im Fall Meadowood gefallen war. Er hatte den Fernsehleuten, die unten warteten, weil sie mit ihrer Ausrüstung hier oben nicht hereinkommen durften, bereits versprochen, eine Erklärung abzugeben, sobald seine jetzige Besprechung beendet sei. Er hoffte, inzwischen seien die Fernsehkameras in der Haupthalle aufgebaut worden — denn das hatte er angeregt —, und obwohl dieser farbige Leutnant von der Polizei dort jede Demonstration untersagt hatte, vermutete Freemantle, daß sich aus dem Fernsehinterview, wenn man es geschickt handhabte, eine solche entwickeln könne.

Elliott Freemantles Erklärung von vor wenigen Minuten hatte sich auf gerichtliche Schritte bezogen — jene Schritte, die, wie er den Einwohnern von Meadowood früher am Abend versichert hatte, seine wichtigste Handlung in ihrem Interesse sein werde. »Mein Beruf ist das Recht«, hatte er erklärt, »das Recht und nichts anderes.« Selbstverständlich stimmte das nicht; aber schließlich war Elliott Freemantle durchaus befähigt, sich jeder Notwendigkeit anzupassen.

»Was Sie für juristische Schritte ergreifen«, stellte Mel Bakersfeld fest, »ist selbstverständlich Ihre Angelegenheit. Trotzdem darf ich Sie darauf hinweisen, daß die Gerichte das Recht der Flughäfen, ihren Betrieb zu unterhalten, im Dienst und im Interesse der Öffentlichkeit ungeachtet angrenzender Wohngebiete, bestätigt haben.«

Freemanle hob die Augenbrauen. »Mir war nicht bekannt, daß Sie auch Rechtsanwalt sind.«

»Ich bin kein Rechtsanwalt. Aber mir ist durchaus bekannt, daß Sie einer sind.«

»Nun, ich fing schon an, mich zu wundern.« Elliott Freemantle grinste höhnisch. »Denn ich bin es, verstehen Sie? Und habe einige Erfahrung in diesen Dingen. Überdies kann ich Ihnen versichern, daß es einige Präzedenzfäle gibt, die zugunsten meiner Klienten sprechen.« Wie schon bei der Versammlung rasselte er eine eindrucksvoll klingende Liste von Fällen herunter: die Vereinigten Staaten gegen Causby, Griggs gegen das County von Allegheny, Thornburg gegen den Flughafen von Portland, Martin gegen den Flughafen von Seattle.

Mel war belustigt, zeigte es aber nicht. Die genannten Fälle waren ihm bekannt, er kannte aber auch andere, die zu völlig entgegengesetzten Urteilen geführt hatten und mit denen Elliott Free-mantle entweder nicht vertraut war, oder die er vorsichtshalber nicht erwähnte. Mel vermutete das letztere, hatte aber nicht die Absicht, sich auf eine juristische Debatte einzulassen. Der Ort dafür war, falls es dazu kam, das Gericht.

Mel hatte aber auch nicht die Absicht, alles nach dem Willen des Rechtsanwalts gehen zu lassen, den er jetzt noch umsympathischer fand. An die gesamte Delegation gewendet erklärte Mel seine Gründe, warum er Rechtsfragen auswich, fügte aber hinzu: »Da wir aber gerade beisammen sind, möchte ich Ihnen gern ein paar Dinge zum Thema Flughäfen und Lärm ganz allgemein sagen.«

Er bemerkte, daß Cindy gähnte.

Freemantle reagierte sofort. »Ich bezweifle, ob das notwendig ist. Soweit wir betroffen sind, ist der nächste Schritt . . .«

»Ah so!« Zum erstenmal gab Mel seine Zurückhaltung auf und unterbrach scharf. »Soll ich das so verstehen, daß, nachdem ich Sie geduldig angehört habe, Sie und Ihre Gruppe nicht bereit sind, mir die gleiche Höflichkeit zu erweisen?«

Der Delegierte Zanetta, der bereits vorher gesprochen hatte, sah die anderen an. »Ich finde, wir sollten . . .«

Mel unterbrach scharf: »Lassen Sie Mr. Freemantle antworten.«

»Es ist wirklich nicht erforderlich«, sagte der Rechtsanwalt milde lächelnd, »daß hier irgend jemand seine Stimme erhebt oder unhöflich wird.«

»Und warum haben Sie dann beides getan seit dem Augenblick, in dem Sie hier hereingekommen sind?«

»Ich bin mir nicht bewußt . . .«

»Aber ich bin mir dessen bewußt.«

»Verlieren Sie nicht Ihre Selbstbeherrschung, Mr. Bakersfeld?«

»Nein.« Mel lächelte. »Leider muß ich Sie enttäuschen, das tue ich nicht.« Er spürte, daß er einen Vorteil errungen und den Rechtsanwalt überrumpelt hatte. Jetzt fuhr er fort. »Sie haben eine ganze Menge gesagt, Mr. Freemantle, und das meiste nicht gerade höflich. Aber es gibt auch ein paar Dinge, die ich gern zu Protokoll geben möchte. Außerdem bin ich überzeugt, daß die Presse daran interessiert ist, beide Seiten zu hören, selbst wenn es sonst niemand sein sollte.«

»Oh, dafür interessieren wir uns schon. Nur haben wir alle diese faulen Ausreden schon oft genug gehört.« Wie üblich, faßte Elliott Freemantle sich schnell. Aber er gestand sich ein, daß er sich durch Bakersfelds bisherige Sanftmut hatte täuschen lassen, so daß der scharfe Gegenangriff ihn unerwartet traf. Er erkannte, daß der Generaldirektor des Flughafens ein härterer Gegner war, als er erwartet hatte.

»Ich habe nichts von Ausreden gesagt«, begann Mel mit Nachdruck, »sondern einen Überblick über grundsätzliche Fragen des Lärms auf Flughäfen angekündigt.«

Freemantle hob die Schultern. Das letzte, was er sich wünschte, war ein neuer, für die Zeitungen vielleicht behandelnswerter Aspekt der Auseinandersetzung, durch den die Aufmerksamkeit von ihm womöglich abgelenkt wurde.

»Meine Damen und Herren«, fuhr Mel fort, »als Sie heute abend hierherkamen, wurde als erstes etwas von offener, unverblümter Sprache von beiden Seiten gesagt. Nachdem Mr. Freemantle bisher das wort gehabt hat, will ich nicht weniger offen sprechen.«

Mel spürte, daß die beiden Frauen und die vier Männer der Delegation mit voller Aufmerksamkeit zuhörten, aber auch die Journalisten; selbst Cindy beobachtete ihn verstohlen. Er sprach sicher und ruhig weiter.

»Sie alle kennen die Maßnahmen, oder sollten sie wenigstens kennen, die wir auf dem Lincoln International Airport gegen die Lärmentwicklung der Flugzeuge ergriffen haben, um jenen, die in der Nachbarschaft des Flughafens wohnen, das Leben leichter und erträglicher zu machen. Einige dieser Maßnahmen wurden bereits genannt, und es gibt weitere, zum Beispiel, daß für das Erproben von Motoren nur abgelegene Gebiete des Flughafens benutzt werden dürfen, und auch das nur während bestimmter, vorgeschriebener Stunden.«

Elliott Freemantle wurde bereits unsicher. »Sie haben aber zugegeben, daß diese sogenannten Systeme nicht funktioniert hätten«, warf er dazwischen.

»Ich habe nichts dergleichen zugegeben«, entgegnete Mel scharf. »Im allgemeinen haben sie sich bewährt und funktionieren so gut, wie man das von Kompromissen nur erwarten kann. Zugegeben habe ich, daß es auf Grund außergewöhnlicher Umstände heute abend nicht funktioniert. Und offen gesagt, wenn ich Pilot wäre und bei solchem Wetter starten müßte, hätte ich auch Hemmungen, die Motoren zu drosseln und dazu noch im Steigen eine Wendung zu machen. Außerdem wird es sich nicht vermeiden lassen, daß diese Umstände von Zeit zu Zeit wieder eintreten.«

»Es wird meistens so sein!«

»Nein, mein Herr! Aber erlauben Sie mir bitte, meine Ausführungen zu beenden!« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr Mel fort. »Tatsache ist, Flughäfen, hier so gut wie anderswo, haben nahezu die Grenzen dessen erreicht, was sie zur Verminderung des Lärms tun können. Sie werden das vielleicht nicht gern hören und nicht jeder in unserem Arbeitsgebiet gibt es zu, die Wahrheit aber ist: viel kann in dieser Hinsicht von niemandem mehr getan werden. Sie können Maschinen im Gewicht von einhundertfünfzigtausend Kilo mit Hochleistungstriebwerken nicht so leise wie auf Zehenspitzen von einem Ort zum anderen bringen. Wenn man also ein großes Düsenflugzeug landen oder starten läßt, ist es unvermeidlich, daß die Leute in seiner unmittelbaren Nähe kräftig durchgeschüttelt werden.« Bei verschiedenen zeigte sich ein flüchtiges Lächeln. Nicht so bei Elliott Freemantle. Er runzelte finster die Stirn. Mel fügte hinzu: »Wenn wir also Flughäfen benötigen, und offensichtlich ist das der Fall, müssen sich manche eben mit einem gewissen Lärm abfinden oder woanders hinziehen.«

Jetzt war Mel an der Reihe beobachten zu können, wie die Bleistifte der Reporter über das Papier flogen, um seine Worte festzuhalten.

»Zutreffend ist«, nahm Mel wieder das Wort, »daß die Flugzeugwerke an Vorrichtungen zur Lärmverminderung arbeiten, aber — um wieder aufrichtig Ihnen gegenüber zu sein — nur wenige Menschen im Flugwesen nehmen das sehr ernst, und ganz gewiß hat die Entwicklung neuer Flugzeugtypen den Vorrang. Im besten Fall sind es Beruhigungspillen. Wenn Sie mir nicht glauben, dann lassen Sie sich daran erinnern, daß Lastwagen zwar um viele Jahre länger im Gebrauch sind als Flugzeuge, daß aber noch niemand einen wirklich wirksamen Schalldämpfer für Lastwagenmotoren erfunden hat. Und noch etwas, das man sich vor Augen halten muß: wenn es so weit ist, daß ein Typ von Düsenmotor etwas leiser geworden ist — falls es überhaupt dazu kommt —, werden neue, noch stärkere Maschinen eingeführt, die selbst mit eingebauten Schalldämpfern lauter sind, als die ersten je gewesen waren. Wie ich schon sagte«, fügte Mel hinzu, »ich bin vorbehaltlos offen.«

Eine der Frauen in der Delegation murmelte düster: »Das kann man wohl sagen.«

»Damit komme ich auf die Zukunft zu sprechen«, fuhr Mel fort. »Eine neue Generation von Flugzeugen steht bevor — eine weitere Familie von Düsenmaschinen folgt der Boeing 747, in der sich Giganten wie die Lockheed 500 befinden, die bald eingesetzt werden wird. Kurz darauf werden die überschallschnellen Transportmaschinen kommen, die Concorde und alle folgenden. Die Lockheed 500 und ihresgleichen werden mit Überschallgeschwindigkeit fliegen, und sie werden uns den gleichen Lärm bescheren, den wir jetzt schon haben, nur wird der Lärm noch größer sein. Auch die überschallschnellen Maschinen werden einen starken Motorlärm verursachen, dazu noch den Knall, wenn sie die Schallmauer durchbrechen, und der stellt ein weit größeres Problem dar als jeder andere Lärm, mit dem wir es bisher zu tun hatten. Vielleicht haben Sie wie ich die optimistischen Darstellungen gelesen, daß das Durchbrechen der Schallmauer in großer Höhe, weit von Städten und Flughäfen entfernt, eintreten und die Auswirkung auf dem Boden gering sein wird. Glauben Sie das nicht! Wir müssen uns auf einiges gefaßt machen, wir alle — die Menschen in ihren Häusern wie Sie; Menschen, die auf Flughäfen arbeiten wie ich; Fluggesellschaften, die eine Milliarde Dollar in Flugzeuge investieren, die sie ständig einsetzen müssen, wenn sie nicht bankrott machen wollen. Glauben Sie mir, die Zeit wird kommen, in der wir uns den gewöhnlichen Lärm zurückwünschen werden, von dem wir heute abend sprechen.«

»Was sagen Sie also praktisch meinen Klienten?« hielt ihm Elliott Freemantle voll Sarkasmus entgegen. »Geht jetzt freiwillig ins Irrenhaus, statt zu warten, bis Sie und Ihre Ungeheuer sie dorthin treiben!«

»Nein«, entgegnete Mel nachdrücklich. »Das sage ich Ihnen nicht. Ich erkläre Ihnen nur offen — wie Sie es von mir verlangt haben —, daß ich über keine einfachen Antworten verfüge. Ich werde Ihnen aber auch keine Versprechungen machen, die der Flughafen nicht einlösen kann. Ferner sage ich, daß meiner Meinung nach der Lärm des Flughafens stärker werden wird, und nicht schwächer. Indessen möchte ich Sie alle daran erinnern, daß dieses Problem nicht neu ist. Es existiert, seit die Züge zu fahren anfingen und seit sich Lastwagen, Busse und Automobile ihnen anschlössen. Das gleiche Problem trat auf, als die Fernstraßen durch Wohnbezirke gelegt wurden und als Flugplätze entstanden und sich entwickelten. Alle diese Dinge dienen dem allgemeinen Wohl — oder wenigstens glauben wir das —, aber alle haben sie auch Lärm mit sich gebracht und werden das trotz aller Bemühungen auch weiterhin tun. Der entscheidende Punkt ist doch: Lastwagen, Züge, Fernstraßen und Flugzeuge und alles andere sind nun einmal da. Sie sind ein Teil unserer Lebensführung, und solange wir diese Lebensführung nicht ändern, ist Lärm etwas, womit wir uns abfinden und fertig werden müssen.«

»Mit anderen Worten: Meine Klienten sollen die Hoffnung auf Lebensfreude, gesunden Schlaf, Ungestörtsein und Ruhe für den Rest ihres Lebens aufgeben?«

»Nein«, erwiderte Mel, »ich glaube aber, daß sie schließlich einmal wegziehen müssen. Ich spreche nicht in amtlicher Eigenschaft, selbstverständlich nicht, aber ich bin überzeugt, daß unser Flughafen und andere letzten Endes viele Milliarden Dollar werden aufwenden müssen, um die umliegenden Wohngebiete aufzukaufen. Aus einem großen Teil dieser Gebiete können Industrieviertel werden, für die Lärm keine Rolle spielt. Und selbstverständlich sollten alle, die dort Häuser besitzen und gezwungen sein werden, sie aufzugeben, eine angemessene Entschädigung erhalten.«

Elliott Freemantle erhob sich und gab den übrigen ein Zeichen, das gleiche zu tun.

»Ihre letzte Bemerkung ist das einzig Vernünftige, was ich heute abend gehört habe«, sagte er zu Mel. »Allerdings wird die Entschädigung früher fällig werden und höher ausfallen, als Sie denken.« Freemantle nickte knapp. »Sie werden von uns hören. Vor Gericht sehen wir uns wieder.« Er ging hinaus. Die anderen folgten ihm.

Durch die Tür zum Vorzimmer hörte Mel eine der beiden Frauen in der Delegation ausrufen: »Sie waren großartig, Mr. Freemantle. Ich werde es jedem erzählen.« »Ich danke Ihnen. Ich danke Ihnen viel . . .« Die Stimmen verklangen.

Mel ging zur Tür, in der Absicht, sie zu schließen.

»Es tut mir alles sehr leid«, sagte er zu Cindy. Nachdem sie beide wieder allein waren, war er nicht sicher, ob sie sich überhaupt noch etwas zu sagen hatten.

Eisig erwiderte Cindy: »Es hat nichts zu bedeuten. Du hättest einen Flughafen heiraten sollen.«

Unter der Tür bemerkte Mel, daß einer der Reporter in das Vorzimmer zurückgekommen war. Es war Tomlinson von der Tribune.

»Mr. Bakersfeld, kann ich Sie einen Moment sprechen?«

Mel antwortete unwirsch: »Was gibt es denn?«

»Ich habe den Eindruck gehabt, daß Sie von Mr. Freemantle nicht gerade begeistert waren.«

»Wollen Sie meine Antwort zitieren?«

»Nein, Sir.«

»Dann kann ich Ihren Eindruck bestätigen.«

»Ich dachte, Sie würden sich für das hier interessieren«, sagte der Reporter.

»Das hier« war eines der Formulare für die Bevollmächtigung, die Elliott Freemantle bei der Versammlung der Einwohner von Meadowood verteilt hatte.

Nachdem Mel das Formular durchgelesen hatte, fragte er: »Woher haben Sie das?«

Der Reporter erklärte es ihm.

»Wie viele Leute waren auf der Versammlung?«

»Ich habe sie nicht gezählt, aber ungefähr sechshundert.«

»Und wie viele dieser Formulare wurden unterschrieben?«

»Das kann ich nicht genau sagen, Mr. Bakersfeld. Ich würde schätzen, daß hundertfünfzig unterschrieben zurückgegeben wurden. Aber es waren auch Leute da, die sagten, sie würden ihre Vollmacht mit der Post schicken.«

Jetzt ist Elliott Freemantles Theatervorstellung verständlich, dachte Mel grimmig. Und auch warum und bei wem er Eindruck schinden wollte.

»Wahrscheinlich stellen Sie jetzt die gleiche Rechnung auf wie ich«, sagte Reporter Tomlinson.

Mel nickte. »Da kommt ein ganz hübsches Sümmchen heraus.«

»Und ob. Davon hätte ich gern selbst eine Scheibe ab.«

»Vielleicht haben wir beide den falschen Beruf. Haben Sie auch an der Versammlung in Meadowood teilgenommen?«

»Ja.«

»Hat denn dort keiner darauf hingewiesen, daß das Gesamthonorar voraussichtlich mindestens fünfzehntausend Dollar betragen würde?«

Tomlinson schüttelte den Kopf. »Entweder hat niemand daran gedacht, oder es war ihnen gleichgültig. Außerdem ist Freemantle eine recht bemerkenswerte Erscheinung. Hypnotisch könnte man beinahe sagen. Er hat sich richtiggehend berauscht, fast als ob er Billy Graham wäre.«

Mel reichte das gedruckte Formular zurück. »Werden Sie das in Ihren Bericht aufnehmen?«

»Ich nehme es hinein, aber wundern Sie sich nicht, wenn die Redaktion es mir wieder herausstreicht. Bei Rechtsfragen sind sie immer vorsichtigt. Außerdem glaube ich, wenn man die Sache ganz genau betrachtet, läßt sich kaum etwas dagegen machen.«

»Nein«, bestätigte Mel. »Es mag unmoralisch sein, und ich könnte mir vorstellen, daß die Anwaltskammer nichts dafür übrig hat, aber gesetzwidrig ist es wohl nicht. Selbstverständlich hätten die Leute in Meadowood sich zusammentun und als Gruppe einen Anwalt beauftragen sollen. Aber wenn Leute einfältig sind und einen Rechtsanwalt reich machen wollen, dann ist das wohl ihre eigene Angelegenheit.«

Tomlinson grinste. »Darf ich das als Ihre Worte zitieren?«

»Sie haben mir gerade erst erklärt, daß Ihre Zeitung es doch nicht drucken würde. Außerdem ist das alles vertraulich gesagt. Vergessen Sie das nicht.«

»In Ordnung.«

Wenn es etwas nützen würde, dachte Mel, würde er seinen Kopf leeren und es darauf ankommen lassen, ob er zitiert werden würde oder nicht. Er wußte aber, daß es nichts nützen würde. Er wußte auch, daß überall im Land geschäftstüchtige und unternehmungsfreudige Rechtsanwälte wie Elliott Freemantle unterwegs waren, um Gruppen von Leuten zusammenzubringen und dann Flughäfen,

Fluggesellschaften und in manchen Fällen auch Piloten lästig zu fallen.

Es war nicht die Belästigung, gegen die Mel sich wehrte. Dazu hatte jeder das gleiche Recht wie zu rechtlichen Schritten. Es war einfach die Tatsache, daß in vielen Fällen die Hausbesitzer irregeführt, mit falschen Hoffnungen aufgehetzt wurden und eine eindrucksvoll klingende, aber einseitig ausgesuchte Liste juristischer Präzedenzfälle, wie von Elliott Freemantle an diesem Abend, vorgebetet bekamen. Die folge war eine Flut von kostspieligen und zeitraubenden Prozessen, von denen die meisten von vornherein zum Scheitern verurteilt waren und aus denen nur die daran beteiligten Rechtsanwälte einen Vorteil zogen.

Mel wünschte, er hätte schon vorher gewußt, was Tomlinson ihm gerade eröffnet hatte. Dann hätte er seine Ausführungen vor der Delegation mit Andeutungen geladen, um die Bewohner von Mea-dowood vor Elliott Freemantle und dem, worauf sie sich einließen, zu warnen. Jetzt war es zu spät.

»Mr. Bakersfeld«, sagte der Reporter der Tribüne, »ich würde Sie gerne noch ein paar andere Dinge fragen — über den Flughafen allgemein. Wenn Sie noch ein paar Minuten entbehren könnten . . .«

»Zu jeder anderen Zeit herzlich gern.« Mel hob mit einer hilflosen Geste die Hände. »Gerade jetzt passieren hier fünfzehn Dinge auf einmal.«

Der Reporter nickte. »Ich verstehe. Jedenfalls werde ich noch eine Weile hier sein. Ich habe gehört, daß Freemantle mit seinem Haufen unten noch etwas vorhat. Wenn also später eine Möglichkeit besteht . . .«

»Ich will mich gern darum bemühen«, antwortete Mel, obwohl er nicht die Absicht hatte, noch heute nacht zur Verfügung zu stehen. Er respektierte Tomlinsons Wunsch, bei jedem Fall, über den er berichtete, unter die Oberfläche zu gehen. Trotzdem, für einen Abend war Mels Bedarf an Reportern und Delegationen gedeckt.

Und was alle weiteren Vorhaben Freemantles und der Leute aus Meadowood anging, die Sorge darüber wollte Mel Leutnant Ord-way und seinen Polizisten überlassen.

5

Als Mel sich umdrehte, nachdem er die Tür hinter dem Reporter der Tribune geschlossen hatte, stand Cindy da und zog sich die Handschuhe an. Eisig bemerkte sie: »Fünfzehn Dinge passieren, sagtest du, glaube ich. Was die anderen vierzehn auch sein mögen, ich bin sicher, daß sie alle Vorrang vor mir haben.«

»Das war doch nur bildlich gesprochen«, wandte Mel ein, »das weißt du ganz genau. Ich sagte schon, daß es mir leid tut. Ich wußte ja nicht, daß das hier kommen würde — wenigstens nicht alles auf einmal.«

»Aber du hast es doch gern, nicht wahr? Alles miteinander. Viel lieber als mich, dein Heim, die Kinder, guten gesellschaftlichen Verkehr.«

»Ach!« sagte Mel. »Ich habe mich schon gefragt, wann du darauf kommen würdest.« Er machte eine Pause. »Mein Gott! Warum zanken wir uns schon wieder? Wir hatten doch alles geregelt, oder nicht? Da ist es doch nicht mehr nötig, daß wir uns noch streiten.«

»Nein«, sagte Cindy. Sie gab plötzlich nach. »Nein, du hast wohl recht.«

Ein unschlüssiges Schweigen folgte. Mel brach es als erster.

»Sieh mal, eine Scheidung durchzuführen, ist eine recht ernste Sache für uns beide; und für Roberta und Libby ebenfalls. Falls du noch irgendwelche Bedenken hast . . .«

»Haben wir das nicht bereits hinter uns?«

»Ja, aber wenn du willst, wiederholen wir es noch fünfzigmal.«

»Das will ich aber nicht.« Cindy schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe gar keine Bedenken. Und du auch nicht. Oder doch?«

»Nein«, bestätigte Mel. »Leider habe ich keine!«

Cindy schien etwas sagen zu wollen, unterließ es aber. Sie hatte Mel von Lionel Urquhart erzählen wollen, beschloß dann aber, es zu unterlassen. Mel hatte später Zeit genug, das selbst herauszufinden. Und was Derek Eden anging, an den Cindy fast die ganze Zeit, während die Abordnung dagewesen war, gedacht hatte, so hatte sie nicht die Absicht, dessen Existenz Mel oder Lionel zu enthüllen.

Es wurde an die Tür geklopft — leise, aber entschlossen.

»Mein Gott!« murmelte Cindy. »Gibt es hier denn gar kein Privatleben mehr?«

Mel rief irritiert: »Wer ist da?«

Die Tür öffnete sich. »Bloß ich«, sagte Tanya Livingston. »Mel, ich muß einen Rat haben . . .« Als sie Cindy erblickte, hielt sie abrupt inne. »Bitte um Entschuldigung. Ich dachte, Sie wären allein.«

»Das wird er auch gleich sein«, erklärte Cindy. »Das wird er sofort sein.«

»Bitte nicht!« widersprach Tanya errötend. »Ich kann ja später kommen, Mrs. Bakersfeld. Ich wußte nicht, daß ich stören würde.«

Cindy musterte Tanya, die immer noch ihre Trans-America-Uniform trug.

»Offenbar war es höchste Zeit, daß wir gestört wurden«, sagte Cindy. »Schließlich ist es gut drei Minuten her, daß die letzten Leute gegangen sind, und das ist mehr, als wir gewöhnlich miteinander haben.« Sie wandte sich an Mel. »Ist es nicht so?«

Er schüttelte den Kopf, ohne zu antworten.

»Übrigens«, Cindy wandte sich wieder an Tanya. »Eines möchte ich gern wissen. Wieso waren Sie so sicher, wer ich bin?«

Für eine Sekunde verlor Tanya ihre übliche Fassung, fand sie aber schnell wieder und lächelte. »Das habe ich wohl erraten.«

Cindys Augenbrauen gingen in die Höhe. »Wird von mir erwartet, daß ich dasselbe tue?« Sie blickte Mel an.

»Nein«, sagte er und machte sie miteinander bekannt.

Mel bemerkte Cindys kritisch abschätzenden Blick auf Tanya. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß seine Frau bereits über Tanya und ihn ihre Schlüsse zog. Schon längst war Mel dahintergekommen, daß Cindys Instinkte hinsichtlich männlich-weiblicher Beziehungen unheimlich scharf waren. Außerdem war er sicher, daß seine Vorstellung Tanyas irgend etwas verraten hatte. Eheleute waren mit ihren Sprechnuancen zu vertraut, als daß so etwas nicht auffiel. Es würde ihn nicht einmal überraschen, wenn Cindy sein Rendezvous mit Tanya für heute abend erriete, obwohl das, wie er selbst meinte, die Phantasie überschätzen hieß.

Nun, was Cindy auch immer wußte oder erriet, war seiner Meinung nach unwichtig. Schließlich hatte sie ja die Scheidung vorgeschlagen, warum sollte sie also etwas gegen jemand anderen in Mels Leben einwenden, gleichgültig, wieviel oder wie wenig Tanya ihm bedeutete, und das wußte er ja selbst nicht genau. Doch das war logisch gedacht. Und Frauen — einschließlich Cindy und wahrscheinlich auch Tanya — dachten selten logisch.

Der letzte Gedanke erwies sich als richtig.

»Wie nett für dich«, sagte Cindy mit falscher Liebenswürdigkeit, »daß nicht nur so langweilige alte Abordnungen mit ihren Nöten zu dir kommen.« Sie faßte Tanya ins Auge. »Sagten Sie nicht, Sie hätten etwas auf dem Herzen?«

Tanya nahm den Fehdehandschuh auf. »Ich sagte, ich brauchte einen Rat.«

»Oh, wirklich? War es geschäftlich oder persönlich? . . . Oder haben Sie das vielleicht vergessen?«

»Cindy«, sagte Mel scharf, »nun ist es genug! Du hast keinen Grund . . .«

»Wozu keinen Grund? Und warum ist es genug?« Die Stimme seiner Frau war voll Spott. Er hatte den Eindruck, daß sie sich auf eine perverse Weise amüsierte. »Erzählst du mir nicht ständig, ich nähme an deinen Sorgen nicht genug Anteil? Jetzt bin ich ganz begierig darauf, die Sorgen deiner Freundin zu hören . . . das heißt, wenn es welche sind.«

Tanya sagte knapp: »Es handelt sich um Flug Zwei.« Sie fügte hinzu: »Das ist der Trans America Flug nach Rom, Mrs. Bakersfeld. Er ging vor einer halben Stunde ab.«

Mel fragte: »Was ist mit Flug Zwei los?«

»Die Wahrheit zu sagen«, Tanya zögerte. »Ich bin nicht ganz sicher.«

»Nur raus damit«, sagte Cindy, »denken Sie sich was aus.«

Mel fuhr dazwischen: »Ach, sei doch still!« Zu Tanya: »Was ist los?«

Tanya schaute Cindy an, dann berichtete sie Mel ihr Gespräch mit Zollinspektor Standish. Sie beschrieb den Mann mit dem verdächtigen Aktenkoffer, den Standish für einen Schmuggler hielt.

»Und er ist an Bord von Flug Zwei gegangen?«

»Ja.«

»Selbst wenn der Mann schmuggelt«, sagte Mel, »dann wäre das nach Italien. Darum kümmert sich die U.S.-Zollbehörde doch nicht. Die lassen andere Länder selber auf sich aufpassen.«

»Ich weiß. So sieht es auch der Bezirksverkehrsleiter.« Tanya beschrieb die Unterhaltung zwischen ihr und dem Bezirksverkehrsleiter, die mit dessen gereizter, aber fester Entscheidung geendet hatte: »Lassen wir das!«

Mel sah sie ratlos an. »Dann verstehe ich aber nicht, warum . . .«

»Ich sagte Ihnen ja, ich bin nicht sicher, und vielleicht ist das alles töricht. Ich mußte aber immer daran denken, und so begann ich nachzuforschen.«

»Nachzuforschen? Wonach?«

Beide hatten Cindy ganz vergessen.

»Der Inspektor hat mir erzählt«, sagte Tanya, »der Mann — der mit dem Köfferchen — wäre einer der letzten gewesen, die an Bord des Flugs gegangen sind. Das muß er auch, weil ich an der Sperre war und eine alte Frau übersehen habe . . .« Sie unterbrach sich. »Aber diese Geschichte spielt keine Rolle. Jedenfalls habe ich vor ein paar Minuten den Mann von der Sperre erwischt, und wir haben die Flugscheine und die Liste verglichen. Er konnte sich an den Mann mit dem Köfferchen nicht erinnern, aber wir haben den Kreis auf fünf Namen eingeengt.«

»Und dann?«

»Aus einer Ahnung heraus rief ich unseren Abfertigungsschalter an, um zu hören, ob sich irgendwer an irgendwas bei diesen fünf Personen erinnert. Beim Flughafenschalter wußte niemand etwas, aber in der Stadt erinnerte sich einer der Angestellten an diesen Mann — den mit dem Koffer. Und so erfuhr ich seinen Namen. Die Beschreibung und alles paßt.«

»Ich sehe immer noch nicht, was daran sonderbar sein soll. Irgendwo mußte er sich ja melden, und das hat er in der Stadt getan.«

»Der Angestellte erinnert sich deshalb«, erklärte Tanya, »weil der Mann kein Gepäck hatte, außer diesem Köfferchen. Der Angestellte sagte noch, er wäre äußerst nervös gewesen.«

»Nervös sind viele Menschen . . .« Mel brach plötzlich ab. Seine Stirn krauste sich. »Kein Gepäck? Für einen Flug nach Rom?«

»Das ist es ja. Außer dem Köfferchen. Der Angestellte nannte es Aktenmappe.«

»Auf eine solche Reise geht niemand ohne Gepäck. Das ist doch unsinnig.

»Das fand ich auch.« Tanya zögerte. »Es ist unbegreiflich, wenn man nicht . . .«

»Nicht was?«

»Nicht zufällig schon weiß, daß die Maschine, in der man sitzt, nie ankommt, wo sie ankommen soll. Wenn man das weiß, weiß man auch, daß man kein Gepäck braucht.«

»Tanya«, fragte Mel leise, »was wollen Sie damit sagen?«

Zögernd kam es aus ihr heraus. »Ich bin ja nicht sicher. Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen. Wenn ich es mir überlege, scheint es mir töricht und melodramatisch, nur . . .«

»Weiter!«

»Na ja, angenommen, der Mann ist gar kein Schmuggler — wenigstens nicht in der Art, wie alle angenommen haben. Angenommen, die Erklärung dafür, daß er kein Gepäck hatte und nervös war und das Köfferchen so an sich drückte, wie Inspektor Standish es gesehen hat — angenommen, er hätte darin statt Schmuggelware eine Bombe . . .?«

Sie sahen sich beide starr an. Mels Verstand wog die verschiedenen Möglichkeiten gegeneinander ab. Auch für ihn schien der Gedanke, den Tanya eben ausgesprochen hatte, lächerlich und absurd. Doch ... in der Vergangenheit waren solche Dinge gelegentlich vorgekommen. Die Frage war: wie konnte man entscheiden, ob es diesmal auch so war? Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr stellte er sich vor, die ganze Geschichte von dem Mann mit dem Köfferchen könnte ganz harmlos sein, war es wahrscheinlich auch wirklich. Falls sich das später herausstellte, wenn man jetzt einen großen Wirbel um die Geschichte machte, dann stünde derjenige, der ihn verursacht hatte, schön lächerlich da. Es war doch menschlich, davor zuriickzuscheuen; doch wenn die Sicherheit von Flugzeug und Passagieren auf dem Spiel stand, spielte es dann eine Rolle, ob man sich lächerlich machte? Gewiß nicht. Andererseits sollten für so drastische Aktionen, wie sie das Schreckgespenst einer Bombe auslösen würde, triftigere Gründe als bloße Vermutungen und Ahnungen vorliegen. Gab es eine Möglichkeit, fragte sich Mel, durch die sich ein deutlicherer Hinweis oder gar eine Bestätigung finden ließe?

Auf Anhieb fand er keine.

Aber etwas gab es, das sich erforschen ließ. Es war ein Schuß ins Dunkle, er erforderte aber nicht mehr als ein Telefongespräch.

Mel nahm an, die Tatsache, daß er heute abend Vernon getroffen hatte und die Erinnerung an ihren Streit in der Verwaltungsratssitzung, habe ihn auf die Idee gebracht.

Zum zweitenmal heute abend schlug Mel die Alarmnummern in seinem Telefonverzeichnis auf. Dann griff er nach dem internen Flughafentelefon auf seinem Schreibtisch und wählte die Nummer des Versicherungskiosks in der Haupthalle. Das Mädchen am Apparat war eine langjährige Angestellte, die Mel gut kannte.

»Marj«, begann er, nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte, »haben Sie heute viele Policen für Flug Zwei ausgeschrieben?«

»Ein paar mehr als sonst, Mr. Bakersfeld. Aber bei allen anderen Flügen auch. Das ist bei solchem Wetter immer so. Für Flug Zwei habe ich ungefähr ein Dutzend gehabt, und ich weiß, daß Bunnie — das ist meine Kollegin — auch welche gehabt hat.«

»Ich möchte Sie um etwas bitten, Marj«, sagte Mel. »Lesen Sie mir doch mal alle Namen und die Beträge der Policen vor.« Als er spürte, daß sie zögerte, drängte er: »Wenn es sein muß, kann ich Ihren Bezirksinspektor anrufen und mir die Erlaubnis geben lassen. Aber Sie wissen ja, daß er sie mir gibt. Bitte, glauben Sie mir, daß es sehr wichtig ist. Wenn Sie es tun, können Sie mir viel Zeit ersparen.«

»Schön, Mr. Bakersfeld. Wenn Sie meinen, daß es in Ordnung ist. Es wird aber ein paar Minuten dauern, die Policen zusammenzusuchen.«

»Ich warte.«

Mel hörte, wie das Telefon hingelegt wurde und das Mädchen jemand vor dem Schalter um Entschuldigung für die Unterbrechung bat. Dann gab es ein Geraschel von Papieren und die Stimme der Kollegin, die fragte: »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

Mel bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und fragte Tanya: »Wie war der Name, den Sie haben — von dem Mann mit dem Koffer?«

Sie sah auf einem Zettel nach. »Guerrero oder vielleicht auch Buerrero; wir haben beide Schreibarten.« Sie sah Mel stutzen. »Vornamen D. O.«

Mels Hand war noch auf der Muschel. Seine Gedanken konzentrierten sich. Die Frau, die vor einer halben Stunde in sein Büro gebracht worden war, hieß Guerrero; er entsann sich, daß Leutnant Ordway das gesagt hatte. Es war die Frau, die der Flughafenpolizei auffiel, als sie ziellos in der Halle umhergewandert war. Ned Ord-way zufolge war sie verzweifelt und weinte; die Polizei konnte nichts Vernünftiges aus ihr herausbringen. Mel hatte mit ihr sprechen wollen, war aber nicht dazu gekommen. Er hatte die Frau im Vorzimmer aufbrechen sehen, als die Abordnung aus Meadowood hereinkam. Natürlich war es möglich, daß kein Zusammenhang bestand . . .

Durch das Telefon konnte Mel immer noch die Stimmen an den Versicherungsschaltern hören und dahinter den Lärm der großen Zentralhalle.

»Tanya«, sagte er ruhig, »vor etwa zwanzig Minuten war da draußen im Vorzimmer eine Frau — mittleren Alters, schlecht gekleidet, sie sah durchnäßt und verschmutzt aus. Ich glaube, sie ging, als die Leute aus Meadowood kamen — sie ist vielleicht noch irgendwo in der Nähe. Wenn sie noch draußen ist, bringen Sie sie herein. Wenn Sie sie finden, lassen Sie sie auf keinen Fall wieder weg.« Tanya sah ihn überrascht an. Er fügte hinzu: »Sie heißt Inez Guerrero.«

Als Tanya das Büro verließ, kam die Versicherungsangestellte wieder an den Apparat zurück. »Ich habe nun alle Policen, Mr. Bakersfeld. Soll ich die Namen vorlesen?«

»Ja, Marj. Los!«

Er hörte aufmerksam zu. Als gegen Ende der Name kam, hatte er ein Gefühl äußerster Spannung. Zum erstenmal hatte seine Stimme etwas Drängendes. »Sagen Sie mir mehr von dieser Police. Haben Sie sie selbst ausgeschrieben?«

»Nein. Das war Bunnie. Ich gebe sie Ihnen mal.«

Er hörte sich an, was die Kollegin zu sagen hatte, und stellte noch zwei oder drei Fragen. Es war nur ein kurzer Wortwechsel. Er brach das Gespräch ab und wählte eine andere Nummer, als Tanya wiederkam.

Zwar blickte sie ihn fragend an, aber das ignorierte er im Augenblick. Darum berichtete sie sofort: »Es ist niemand im ganzen Zwischenstock. Unten sind natürlich noch Unzählige, aber da kann man niemand herausfinden. Sollen wir sie ausrufen?«

»Das können Sie versuchen, obwohl ich da wenig Hoffnung habe.« Nach allem, was er von ihr gehört hatte, dachte Mel, würde nicht viel bis zu der Frau durchdringen, und der öffentliche Aufruf würde das auch kaum schaffen. Außerdem konnte sie den Flughafen inzwischen verlassen haben und unterwegs zur Stadt sein. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht, wie beabsichtigt, mit ihr gesprochen hatte, aber da waren ja die anderen Dinge gewesen. Die Abordnung von Meadowood, seine Sorgen um seinen Bruder Keith — Mel besann sich, daß er noch einmal zum Kontrollturm gehen wollte — nun, das mußte warten —, und dann war da noch Cindy. Schuldbewußt stutzte er, als er feststellte, daß Cindy gegangen war.

Er ergriff das Mikrofon für die Publikumsansage auf seinem Schreibtisch und schob es Tanya hinüber.

Da antwortete die Nummer, die er gewählt hatte. Es war die Polizeihauptwache. Mel sagte knapp: »Ich möchte Leutnant Ord-way sprechen. Ist er noch auf dem Flughafen?«

»Ja. Sir.« Mels Stimme war dem Sergeanten bekannt.

»Suchen Sie ihn, so schnell Sie können. Ich bleibe in der Leitung. Dabei fällt mir ein, wie war doch der Vorname der Frau, die Ihre Leute heute abend aufgegriffen haben? Ich weiß ihn, glaube ich, möchte mich aber vergewissern.«

»Moment, Sir. Ich sehe nach.« Nach einem Augenblick sagte er: »Inez, Inez Guerrero. Und den Leutnant haben wir bereits über seine Piep-Dose angerufen.«

Mel wußte, daß Ordway, wie viele andere im Flughafen, einen Taschenempfänger bei sich trug, der ein Pfeifsignal von sich gab, wenn man dringend verlangt wurde. Irgendwo eilte nun Ordway zweifellos zum nächsten Telefon.

Mel gab Tanya Anweisungen und schaltete dann die öffentliche Ansage ein, die alles andere im Flughafen übertönte. Durch die offenen Türen zum Vorzimmer und zum Zwischenstock hörte er, wie eine Flugansage der American Airlines mitten im Satz abgebrochen wurde. Nur zweimal während der acht Jahre seiner Direktion war diese alles übertönende Anlage benutzt worden. Die erste Gelegenheit — ein Markzeichen in Mels Erinnerungen — war die Ansage von Präsident Kennedys Tod gewesen, die zweite, ein Jahr darauf, als ein verlorengegangenes weinendes Kind direkt in Mels Büro gewandert war. Für gewöhnlich gab es reguläre Maßnahmen für die Behandlung verlorener Kinder, doch damals hatte Mel selbst das Mikrofon benutzt, um die verstörten Eltern aufzufinden.

Er gab Tanya ein Zeichen, mit der Ansage zu beginnen, sagte sich aber zugleich, er wisse eigentlich nicht genau, wozu sie diese Inez Guerrero brauchten, ja, er wisse nicht einmal sicher, ob da überhaupt etwas nicht in Ordnung sei. Aber sein Instinkt sagte ihm, daß irgend etwas Ernstes geschehen sei oder geschehen werde. Und wenn man vor einem Puzzlespiel stehe, sei es das richtigste und dringendste, alle Einzelteile zusammenzutragen und zu hoffen, sie mit Hilfe anderer so anordnen zu können, daß sie einen Sinn ergäben.

»Achtung! Achtung!« sagte Tanya in ihrer klaren und ungekünstelten, nun in jedem Winkel des Flughafens hörbaren Stimme. »Mrs. Inez Guerrero, oder Buerrero, wird gebeten, umgehend in das Büro des Flughafendirektors im Verwaltungszwischenstock zu kommen. Jeder Angestellte des Flughafens oder einer Fluggesellschaft kann den Weg zeigen. Ich wiederhole . . .«

Mels Telefon läutete. Leutnant Ordway war am Apparat.

»Wir brauchen die Frau«, sagte Mel. »Die, die vorhin hier war — Guerrero. Wir lassen sie ausrufen . . .«

»Ja, ich weiß«, sagte Ordway, »ich höre es ja.«

»Wir brauchen sie dringend. Ich erkläre Ihnen später . . .«

»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»In meinem Vorzimmer. Als sie mit Ihnen zusammen war.«

»Schön, sonst noch was?«

»Nur, daß es ein ernster Fall sein kann. Ich würde vorschlagen, alles andere abzubrechen. Setzen Sie alle Ihre Leute ein und ob Sie die Frau finden oder nicht, kommen Sie selbst schnell zu mir.«

»Schön.« Wieder ein Klingeln, als Ordway auflegte.

Tanya war mit ihrem Aufruf fertig und schaltete das Mikrofon ab. Mel hörte draußen eine andere Ansage beginnen: »Achtung!

Achtung! Mr. Lester Mainwaring, Mr. Mainwaring wird mit allen Teilnehmern seiner Gesellschaft gebeten, sich sofort am Haupteingang des Flughafens zu melden.«

Lester Mainwaring war ein Flughafen-Deckname für »Polizist«. Normalerweise bedeutete eine solche Ansage, daß der nächste Polizist im Dienst zu der bezeichneten Stelle zu gehen hatte. »Alle Teilnehmer seiner Gesellschaft« hieß: jeder Polizist im Flughafen. Die meisten Flughäfen hatten ähnliche Systeme, ihre Polizisten zu alarmieren, ohne daß das Publikum es merkte.

Ordway verschwendete keine Zeit. Gewiß würde er seine Leute über Inez Guerrero informieren, wenn sie sich am Haupteingang meldeten.

»Rufen Sie Ihren Bezirksverkehrsleiter an«, beauftragte Mel Tanya. »Er möchte so schnell wie möglich hierher ins Büro kommen. Sagen Sie ihm, es sei wichtig.« Mehr zu sich selbst, fügte er hinzu: »Wir wollen so schnell wie möglich alle hier versammeln.«

Tanya führte das Gespräch und meldete dann: »Er ist schon unterwegs.« Ihre Stimme verriet Nervosität.

Mel war zur Tür gegangen und schloß sie.

»Sie haben mir immer noch nicht erzählt«, sagte Tanya, »was Sie herausgefunden haben.«

Mel wählte seine Worte sorgsam. »Ihr Mann, dieser Guerrero, der ohne Gepäck, außer diesem Köfferchen reist und der, wie sie glauben, an Bord von Flug Zwei ist, hat unmittelbar vor dem Abflug eine Flugversicherung über dreihunderttausend Dollar abgeschlossen. Zugunsten von Inez Guerrero. Bezahlt hat er sie mit, wie es schien, seinem letzten Kleingeld.«

»Mein Gott!« Tanyas Gesicht wurde weiß. Sie flüsterte: »O du mein Gott . . . Nein!«

6

Es gab Zeiten — und heute abend war eine solche —, in denen Joe Patroni dankbar war, daß er auf dem Spezialgebiet der Wartung arbeitete und nicht Flugscheine verkaufen mußte. Dieser Gedanke kam ihm, als er bei einem Rundgang die unermüdliche Grabarbeit unter und um die versackte Düsenmaschine der Aereo Mexican herum kontrollierte. Nach wie vor blockierte das Flugzeug Startbahn Drei-Null.

In Patronis Augen bestand das Verkaufspersonal der Fluggesellschaften — in diese Kategorie rechnete er das gesamte Personal an den Schaltern und in der Verwaltung einschließlich der Geschäftsleitung — aus aufblasbaren Gummimännchen, die wie mißgünstige Kinder gegeneinander stichelten. Auf der anderen Seite war Patroni überzeugt, die Mitarbeiter in den technischen Abteilungen und im Wartungsdienst benähmen sich wie reife Erwachsene. Mitarbeiter des Wartungsdienstes, konnte Joe Patroni gelegentlich behaupten, arbeiten eng und harmonisch zusammen, teilen zum allgemeinen Wohl ihre Informationen, Erfahrungen und sogar ihre Geheimnisse, selbst wenn sie konkurrierenden Fluggesellschaften angehören.

Ein Beispiel für dieses unoffizielle Teilen sei, wie Patroni manchmal seinen Freunden privat anvertraute, das Austauschen der Informationen, die die Mitarbeiter des Wartungsdienstes regelmäßig durch die Konferenzen der einzelnen Fluggesellschaften erhielten.

Patronis Unternehmen hielt, wie die meisten Linienverkehrsgesellschaften, täglich telefonische Konferenzen ab — die »Lagebesprechungen« genannt wurden —, bei der regionale Direktionen, Niederlassungen und Außenstellen durch eine den ganzen Kontinent umspannende Konferenzschaltung miteinander verbunden wurden. Bei diesen Lagebesprechungen führte ein Vizepräsident aus der Geschäftsleitung den Vorsitz, und es fand eine Kritik und ein Informationsaustausch über den gesamten Betrieb der Fluggesellschaft während der letzten vierundzwanzig Stunden statt. Alle Mitarbeiter aus dem gesamten Unternehmen sprachen offen und vorbehaltlos miteinander. Die Betriebs- und die Verkaufsabteilungen hatten täglich ihre eigenen Lagebesprechungen für sich. So war es auch im Wartungsdienst, nach Patronis Ansicht bei weitem die wichtigste Abteilung.

Bei den Besprechungen des Wartungsdienstes, an denen Patroni an fünf Tagen in der Woche teilnahm, berichteten die Stationen nacheinander. Wo am vergangenen Tag aus technischen Gründen Verzögerungen eingetreten waren, mußten die leitenden Leute sie rechtfertigen. Niemand versuchte sich herauszureden. Wie Patroni es ausdrückte: »Wenn man gepatzt hat, soll man es sagen.« Über Unfälle oder das Versagen von Einrichtungen wurde berichtet mit dem Ziel, Kenntnisse auszutauschen und Wiederholungen zu verhindern. Bei der Besprechung am nächsten Montag würde Patroni über die Erfahrungen am heutigen Abend mit der 707 der Aereo Mexican und seinen Erfolg oder seinen Mißerfolg berichten, ganz wie es sich ergeben würde. Die täglichen Besprechungen waren streng sachlich, hauptsächlich weil die Leute vom Wartungsdienst harte Burschen waren, die wußten, daß sie sich gegenseitig nichts vormachen konnten.

Nach jeder offiziellen Besprechung, und im allgemeinen ohne Wissen der höchsten Leitung, begannen die unoffiziellen Besprechungen. Patroni und andere führten Telefongespräche mit alten Freunden im Wartungsdienst konkurrierender Fluggesellschaften. Sie verglichen die Ergebnisse ihrer täglichen Besprechungen miteinander und gaben Informationen weiter, die es wert waren. Selten wurde einmal etwas Wissenswertes vorenthalten.

Bei dringenderen Fragen, besonders solchen, die die Sicherheit betrafen, wurde die Nachricht in der gleichen Weise von Gesellschaft zu Gesellschaft weitergegeben, aber ohne die Verzögerung von einem ganzen Tag. Wenn bei Delta zum Beispiel bei einer DC-9 im Flug ein Versagen eines Rotorflügels aufgetreten war, erfuhren die Wartungsabteilungen der Eastern, TWA, Continental und anderen Gesellschaften, die die DC-9 flogen, das innerhalb einer Stunde. Die Information konnte helfen, ein ähnliches Versagen bei einem anderen Flugzeug zu verhindern. Später folgten Fotos der auseinandergenommenen Motoren und ein technischer Bericht nach. Meister und Mechaniker anderer Gesellschaften konnten, wenn sie wollten, ihre Kenntnisse erweitern, indem sie zu einer kurzen Besichtigung des ausgefallenen Teils und jeder Beschädigung des Motors herüberkamen.

Die Leute, die wie Patroni in dieser Atmosphäre des Gebens und Nehmens arbeiteten, wiesen gern darauf hin, daß wenn die Verkaufs- oder Verwaltungsabteilungen konkurrierender Gesellschaften Anlaß hatten, miteinander zu beraten, ihre Leute selten in die Büros der anderen gingen, sondern sich auf neutralem Boden trafen. Im Gegensatz dazu besuchten die Leute vom Wartungsdienst sich gegenseitig mit der Selbstverständlichkeit einer verbreiteten Bruderschaft in den Räumen und auf den Grundstücken der Konkurrenten. Und bei anderen Gelegenheiten halten Wartungsabteilungen jeder anderen, die sich in Schwierigkeiten befand, nach besten Kräften aus.

Diese Hilfe war heute abend auch Patroni geschickt worden.

In den anderthalb Stunden, seit die Arbeit an dem letzten Versuch begonnen hatte, die neben Startbahn Drei-Null festgefahrene Düsenmaschine wieder flott zu bekommen, hatten sich Patronis Hilfskräfte fast verdoppelt. Ursprünglich hatte er mit der kleinen Mannschaft der Aereo Mexican angefangen, die durch einige seiner eigenen Leute von TWA verstärkt wurde. Jetzt gruben sie unermüdlich mit dem anderen Bodenpersonal von Braniff, Pan Am, American und Eastern.

Aus dem Eintreffen der verschiedenen Neuankömmlinge in Fahrzeugen der verschiedensten Fluggesellschaften ging hervor, daß sich die Nachricht von Joe Patronis Problem auf dem Flughafen schnell herumgesprochen hatte, und die anderen Wartungsabteilungen waren zu Hilfe gekommen, ohne erst zu warten, bis sie aufgefordert wurden. Das gab Joe Patroni ein gutes, dankbares Gefühl.

Trotz der zusätzlichen Hilfe war Patronis Schätzung von einer Stunde für die vorbereitenden Arbeiten bereits überschritten. Das Ausheben der beiden parallelen Gräben, die gleich mit schweren Bohlen ausgelegt wurden, ging stetig, wenn allerdings auch langsam voran, da die Männer in regelmäßigen Abständen Schutz suchen mußten, um sich wieder aufzuwärmen. Den Schutz und ein gewisses Maß an Wärme bot einer der beiden Mannschaftsbusse. Sobald die Männer einstiegen, schlugen sie die Hände ineinander und kniffen sich in ihre von dem beißenden Wind, der unverändert eisig über das schneebedeckte Flugfeld fegte, gefühllos gewordenen Gesichter. Die Busse und die anderen Fahrzeuge, Lastwagen, Schneeräumer, ein Tankwagen, die verschiedensten Gerätewagen und ein laut dröhnender Generatorwagen, die meisten mit aufblitzenden Warnleuchten versehen, standen nach wie vor dicht nebeneinander auf der Taxibahn in der Nähe. Die ganze Szene war im Licht der Scheinwerfer gebadet, die in der umliegenden Dunkelheit eine weiße Oase von Schnee reflektierten Lichts bildeten.

Die beiden Gräben, jeder sechs Fuß breit, erstreckten sich aufwärtsführend vor den großen Rädern des Hauptfahrwerks der Düsenmaschine auf den festen Grund zu, auf den Patroni hoffte, das Flugzeug mit eigener Kraft bringen zu können. Die Sohle der Gräben war eine Masse aus schneedurchsetztem Schlamm, in dem die von der Taxibahn abgekommene Maschine steckengeblieben war. Schlamm und Schneematsch hatten sich vermischt, waren aber weniger gefährlich, je weiter die Gräben an die Oberfläche führten. Ein dritter Graben, nicht ganz so tief und weniger breit als die beiden anderen, war für das vordere Rad gegraben worden. Sobald die Maschine festeren Grund erreichte, war Startbahn Drei-Null wieder frei, über die jetzt eine ihrer Tragflächen hinausragte. Sie würde sich dann auch verhältnismäßig mühelos auf die feste Decke der angrenzenden Taxibahn manövrieren lassen.

Nachdem die Vorbereitungen jetzt nahezu abgeschlossen waren, hing der Erfolg des nächsten Schrittes von den Piloten der Maschine ab, die noch im Cockpit der Boeing 707, hoch über dem gegenwärtigen Arbeitsgebiet, warteten. Sie würden entscheiden müssen, mit wieviel Kraft sie die Motoren sicher laufen lassen konnten, um das Flugzeug vorwärts zu bewegen, ohne daß sie Gefahr liefen, die Maschine auf den Kopf zu stellen.

Während des größten Teils der Zeit hatte Patroni seit seiner Ankunft wie alle anderen Männer mit einer Schaufel gearbeitet. Er nahm manchmal ganz gern eine Chance wahr, sich in Form zu halten. Selbst jetzt, zwanzig Jahre nachdem er den Boxsport aufgegeben hatte, war er körperlich in besserer Verfassung als die meisten jüngeren Männer. Die Leute vom Bodenpersonal sahen es gern, daß der kräftige, untersetzte Patroni genauso wie sie arbeitete. Er trieb sie an und munterte sie auf: »Nur immer weiter, Junge, sonst glauben wir noch, wir wären Totengräber und du die Leiche.« — »Also, wenn man sieht, wie oft ihr zu dem Bus da rennt, könnte man meinen, ihr hättet dort ein Weib versteckt.« — »Wenn du dich noch lange auf deine Schaufel stützt, Jack, dann bist du bald so steif gefroren wie Lots Weib.« — »Mann, wir wollen das Flugzeug hier rausholen, ehe es völlig veraltet ist.«

Bisher hatte Joe Patroni noch nicht mit dem Kapitän und dem Ersten Offizier gesprochen. Er hatte das Ingram überlassen, der vor seiner Ankunft die Bergungsarbeiten leitete. Ingram hatte die Piloten telefonisch benachrichtigt und ihnen erklärt, was draußen geschah.

Jetzt richtete Patroni sich auf, drückte Ingram seine Schaufel in die Hand und sagte: »In fünf Minuten müßte es soweit sein. Wenn Sie fertig sind, schaffen Sie die Leute und die Wagen aus dem Weg.« Er deutete auf die schneebedeckte Maschine. »Wenn sie hier rauskommt, wird sie losschießen wie der Korken aus einer Sektflasche.«

Ingram, seinen Anorak fest um sich gezogen, der ihn vor dem kalten Wind kaum noch schützen konnte, nickte.

»Inzwischen werde ich mich mit diesen Flugkünstlern da oben unterhalten«, erklärte Patroni.

Die altmodische Einstiegleiter, die vor einigen Stunden vom Flughafengebäude herbeigeholt worden war, um die gestrandeten Passagiere aus der Maschine herauszuholen, stand noch an der gleichen Stelle dicht bei der Nase des Flugzeugs. Patroni kletterte über ihre tiefverschneiten Stufen und öffnete die vordere Kabinentür. Er ging zur Pilotenkanzel nach vorn und zündete sich dabei erleichtert seine unvermeidliche Zigarre an.

Im Gegensatz zu dem kalten, windigen Flugfeld war es in der Pilotenkanzel behaglich und still. Aus einem der Lautsprecher der Funkanlage ertönte gedämpft die Musik eines Rundfunksenders. Als Patroni eintrat, knipste der Erste Offizier der Aereo Mexican an einem Schalter, und die Musik brach ab.

»Die Mühe brauchen Sie sich nicht zu machen.« Der untersetzte Patroni schüttelte sich wie ein Bullterrier, daß der schmelzende Schnee in Schwaden von seiner Kleidung stob. »Warum sollten Sie es sich auch nicht bequem und angenehm machen? Wir hatten schließlich gar nicht von Ihnen erwartet, daß Sie aussteigen und mit uns schaufeln würden.«

Im Cockpit befanden sich nur der Kapitän und der Erste Offizier. Patroni erinnerte sich, daß der Flugingenieur mit den Stewardessen und den Passagieren zum Flughafengebäude gefahren war.

Der Kapitän, ein kräftiger, dunkelhäutiger Mann, der Anthony Quinn ähnelte, fuhr auf seinem Sitz links in der Kanzel herum.

Steif antwortete er: »Wir haben unsere Aufgaben, Sie die Ihren.« Sein Englisch war präzise.

»Ganz richtig«, bestätigte Patroni. »Nur wird in unsere Aufgaben hineingepfuscht und uns zusätzliche Arbeit gemacht. Von anderen.«

»Falls Sie von dem sprechen, was hier vorgefallen ist«, antwortete der Kapitän, »Madre de Dios! Sie nehmen doch wohl nicht an, ich hätte das Flugzeug absichtlich in den Matsch gefahren?«

»Nein, bestimmt nicht.« Patroni warf eine Zigarre fort, die er völlig zerkaut hatte, steckte sich eine neue in den Mund und zündete sie an. »Aber jetzt steckt es da drin, und ich will sichergehen, daß wir es bei dem nächsten Versuch herausbekommen. Wenn das nicht gelingt, sackt die Maschine bestimmt noch erheblich tiefer ein. Dann sitzen wir alle noch tiefer drin, einschließlich Ihnen.« Er deutete mit dem Kopf auf den Sitz des Kapitäns. »Wollen Sie mir nicht den Platz da einräumen und mich das Flugzeug herausrollen lassen?«

Der Kapitän errötete. Bei kaum einer Fluggesellschaft gab es jemand, der so ungeniert mit Kapitänen sprach wie Joe Patroni.

»Nein, danke«, erwiderte der Kapitän kalt. Er hätte vielleicht noch unfreundlicher reagiert, wenn es ihm nicht im höchsten Maße peinlich gewesen wäre, überhaupt in diese Notlage gekommen zu sein. Er rechnete damit, daß er morgen in Mexico City mit dem Chefpiloten seiner Fluggesellschaft eine unerfreuliche, scharfe Auseinandersetzung führen mußte. Innerlich tobte er: Jesucristo y por la amor de Dios!

»Da draußen ist ein Haufen halberfrorener Kerle, die sich krumm und lahm geschuftet haben«, erklärte Patroni hartnäckig. »Hier herauszukommen ist riskant. Ich habe das schon mal gemacht. Vielleicht sollen Sie es doch mir überlassen.«

Der Kapitän der Aereo Mexican wurde störrisch. »Ich weiß, wer Sie sind, Mr. Patroni, und mir wurde gesagt, daß Sie uns wahrscheinlich hier heraushelfen können, wenn es anderen nicht gelingt. Ich zweifle also nicht daran, daß Sie eine Lizenz besitzen, Flugzeuge auf dem Boden zu rollen. Aber lassen Sie sich daran erinnern, daß wir beide hier die Lizenz besitzen, Flugzeuge zu fliegen. Dafür werden wir bezahlt. Und deshalb bleiben wir am Steuer.«

»Ganz, wie Sie wollen.« Joe Patroni hob die Schultern. »Nur eines noch. Wenn ich Ihnen das Signal gebe, dann öffnen Sie die Treibstoffhebel ganz. Und ich meine wirklich ganz. Kneifen Sie also nicht, wenn es soweit ist.«

Er ignorierte die wütenden Blicke der beiden Piloten, als er das Cockpit verließ.

Draußen waren die Grabarbeiten beendet. Einige der Männer, die bis eben noch geschaufelt hatten, wärmten sich wieder im Bus auf. Die Busse und die anderen Fahrzeuge waren mit Ausnahme eines Kompressorfahrzeugs, das benötigt wurde, um die Motoren anzulassen, weiter von der Maschine fortgeschafft worden.

Joe Patroni schloß die vordere Kabinentür hinter sich und kletterte die Einstiegtreppe hinunter. Ingram, noch fester als vorher in seinem Anorak gehüllt, meldete: »Es ist alles bereit.«

Patroni erinnerte sich, daß seine Zigarre noch brannte, zog ein paarmal kräftig daran und ließ sie in den Schnee fallen, wo sie sofort ausging. Er deutete auf die stummen Düsenmotoren. »Also los, wir wollen alle vier anlassen.«

Mehrere Männer kamen aus dem Mannschaftsbus zurück. Vier von ihnen stemmten sich gegen die Einstiegtreppe neben dem Flugzeug und schoben sie fort. Zwei andere folgten dem von Ingram gegen den Wind geschrieenen Befehl: »Motoren klar zum Anlassen machen!«

Der eine baute sich dicht bei dem Kompressorwagen vor dem Flugzeug auf. Er trug einen Kopfhörer, der mit dem Flugzeugrumpf verbunden war. Der zweite mit leuchtenden Signaltafeln ging bis zu einer Stelle vor, wo er von den Piloten oben in der Kanzel gesehen werden konnte.

Joe Patroni, mit einem geliehenen Kopfschutz, stellte sich neben den Mann mit den Kopfhörern. Die übrigen Leute verließen jetzt den Schutz der Busse, um gespannt zu verfolgen, was sich jetzt ereignen würde.

Die Piloten im Cockpit beendeten ihre Kontrollen vor dem Start.

Unter ihnen auf dem Boden begann der Mann mit dem Kopfhörer das Ritual für das Anlassen von Düsenmotoren. »Klar zum Motoranlassen.« Eine Pause. Dann die Stimme des Kapitäns. »Bereit zum Anlassen und Druckgeben.«

Von dem Kompressorwagen preßte ein Strom Druckluft in den Luftturbinenanlasser des Motors Nummer drei. Kompressorflügel setzten sich in drehende Bewegung, beschleunigten, heulten auf. Bei fünfzehn Prozent Geschwindigkeit führte der Erste Offizier dem Motor Flugtreibstoff zu. Als der Treibstoff zündete, spuckte der Motor eine schwarze Rauchwolke aus, und der Motor sprang mit einem tiefen, rauhen Bellen an.

»Nummer vier klar zum Anlassen.«

Motor Nummer vier folgte Nummer drei. Die Generatoren beider Motoren gaben Strom.

Die Stimme des Kapitäns: »Schalte um auf Generatoren. Kraftzufuhr vom Boden lösen.«

Von oberhalb des Kompressorwagens fielen elektrische Kabel herab. »Verbindung gelöst. Klar zum Anlassen Nummer zwei.«

Motor Nummer zwei sprang an. Jetzt liefen drei Motoren. Ein überwältigendes Dröhnen. Schnee wurde nach hinten gewirbelt.

Nummer eins wurde angeworfen und lief.

»Luftverbindung lösen.«

»Gelöst.«

Die Nabelschnur des Luftschlauchs glitt herunter. Der Fahrer des Kompressorwagens steuerte das Fahrzeug fort.

Die Scheinwerfer vor dem Flugzeug waren auf einer Seite aufgestellt worden.

Patroni übernahm von dem Mann des Bodenpersonals vor dem Flugzeugrumpf den Kopfhörer. Jetzt stand er in telefonischer Verbindung mit dem Piloten.

»Hier Patroni. Wenn Sie da oben soweit sind, dann lassen Sie die Maschine jetzt herausrollen.«

Der Mann vor dem Flugzeug hob jetzt die leuchtenden Signaltafeln, bereit, die Maschine auf ihrem kurvenförmigen Weg durch die Gräben zu dirigieren, und sah zu Joe Patroni herüber. Der Mann war darauf gefaßt, rasch zur Seite zu rennen, wenn die 707 schneller als erwartet aus dem Schlamm herauskommen sollte.

Patroni kauerte dicht neben dem Vorderrad. Wenn sich das Flugzeug schnell bewegte, war auch er gefährdet. Er hatte die Hand an dem Stecker des Telefonkabels und war bereit, ihn sofort herauszuziehen. Er beobachtete den Hauptteil des Fahrgestells angespannt auf das geringste Anzeichen einer Bewegung nach vorn.

Die Stimme des Kapitäns: »Ich gebe Treibstoff.«

Die Umdrehungsgeschwindigkeit der Düsenmotoren steigerte sich. Unter einem Brüllen wie gedämpfter Donner begann das Flugzeug zu zittern; der Boden unter der schweren Maschine bebte. Aber die Räder blieben unbeweglich.

Patroni schützte mit der Hand die Sprechmuschel des Telefons. »Mehr Kraft! Die Drosselklappen ganz auf!«

Das Motorengeräusch steigerte sich, aber nur geringfügig. Die Räder hoben sich wahrnehmbar, drehten sich aber immer noch nicht vorwärts.

»Verflucht noch mal, volle Kraft!«

Ein paar Sekunden lang blieb die Geschwindigkeit der Motoren unverändert, ließ dann plötzlich nach. Die Stimme des Kapitäns krächzte in den Hörmuscheln. Sie hatte einen sarkastischen Ton. »Patroni, per favor, wenn ich die Motoren mit voller Kraft laufen lasse, stellt sich die Maschine auf den Kopf. Dann haben wir statt einer festgefahrenen eine zerstörte 707.«

Der Chef des Wartungsdienstes der TWA hatte die Räder des Fahrgestells scharf beobachtet, die jetzt wieder in den sie umgebenden Schlamm zurückgesunken waren. »Sie kommt heraus, ich sage es Ihnen! Sie brauchen nur den Mumm zu haben, ihr volle Kraft zu geben.«

»Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Mumm«, erwiderte der Kapitän schroff. »Ich stelle die Motoren wieder ab.«

Patroni schrie in das Telefon. »Lassen Sie die Motoren im Leerlauf weiterlaufen. Ich komme in das Cockpit hinauf!« Er lief unter dem Rumpf nach vorn und winkte heftig, die Einstiegtreppe wieder an die Maschine heranzuschaffen. Doch gerade, als sie an ihren Platz geschoben wurde, verstummten alle vier Motoren und blieben stehen. Als er das Cockpit erreichte, lösten die beiden Piloten gerade ihre Sicherheitsgurte. »Sie haben gekniffen!« beschuldigte Patroni die beiden. .

Die Reaktion des Kapitäns war überraschend sanft. »Es posible. Vielleicht ist es das einzige Vernünftige, was ich heute abend getan habe.« Er fragte förmlich: »Ist Ihre Wartungsabteilung bereit, die Maschine zu übernehmen?«

»Also gut.« Patroni nickte. »Wir übernehmen die Maschine.«

Der erste Offizier blickte auf seine Uhr und machte dann eine Eintragung in sein Logbuch.

»Wenn Sie diese Maschine freibekommen haben, auf welche Weise auch immer«, erklärte der Kapitän der Aereo Mexican, »wird Ihre Gesellschaft zweifellos mit meiner Gesellschaft Kontakt aufnehmen. Inzwischen buenas noches.«

Nachdem die beiden Piloten gegangen waren, ihre dicken Mäntel am Hals fest zugeknöpft, führte Patroni eine schnelle Routineüberprüfung der Einstellung der Instrumente und der Steuerung durch. Etwa eine Minute später folgte er den Piloten draußen die Einstiegtreppe herunter.

Ingram, der Leiter des Wartungsdienstes der Aereo Mexican, wartete unten schon auf ihn. Er nickte hinter den beiden Piloten her, die jetzt eilig auf einen der beiden Mannschaftsbusse zustrebten. »Genau das gleiche haben sie mit mir gemacht: nicht genug Kraft gegeben.« Er deutete finster auf das Hauptfahrgestell der Maschine. »Darum ist sie vorhin so tief eingesunken. Sie hat sich sogar noch tiefer hineingewühlt.«

Gerade das hatte Joe Patroni befürchtet.

Ingram leuchtete ihm mit einer elektrischen Lampe, während er sich unter den Rumpf der Maschine duckte, um das Fahrwerk zu inspizieren. Die Räder staken wieder tief in Schlamm und Schneematsch, fast einen Fuß tiefer als vorher. Patroni griff nach der Lampe und leuchtete die Tragflächen von unten ab. Alle vier Motoren waren jetzt dem Boden beunruhigend nahe.

»Jetzt kann sie nur noch ein Hubschrauber da herausholen«, sagte Ingram.

Patroni überprüfte noch einmal die Situation und schüttelte dann den Kopf. »Wir haben noch eine Chance. Wir machen die Gräben noch tiefer, führen sie so tief, wie die Räder jetzt sind, und lassen die Motoren wieder an. Nur werde diesmal ich am Steuer sitzen.«

Nach wie vor heulte der Wind und peitschte den Schnee um sie herum.

Schaudernd stimmte Ingram voller Zweifel zu. »Na schön, Sie haben das Kommando, aber besser Sie als ich.«

Joe Patroni grinste. »Wenn ich sie nicht herausreiße, dann reiße ich sie vielleicht in Stücke.«

Ingram ging zu dem gebliebenen Mannschaftsbus hinüber, um die Männer wieder herauszurufen. Der andere Bus war mit den beiden Piloten zum Flughafengebäude gefahren.

Patroni rechnete nach. Es lag eine weitere Stunde Arbeit vor ihnen, ehe sie das nächstemal versuchen konnten, das Flugzeug von der Stelle zu bewegen. Deshalb würde Startbahn Drei-Null mindestens noch solange außer Betrieb bleiben müssen.

Er wandte sich seinem mit Sprechfunk ausgerüsteten Wagen zu, um der Flugsicherung zu berichten.

7

Die Theorie, daß ein überforderter, erschöpfter Verstand sein eigenes Sicherheitsventil betätigen kann, indem er sich in ein passives Dämmerbewußtsein versinken läßt, war Inez Guerrero unbekannt. Dessen ungeachtet erwies sich diese Theorie für sie als zutreffend. Im Augenblick mußte sie als eine Schlafwandlerin angesehen werden.

Die Ereignisse dieses Abends, die sie persönlich getroffen hatten, in Verbindung mit den Sorgen und den Strapazen der vergangenen Wochen, hatten sich als ein letzter vernichtender Schlag erwiesen. Sie drängten ihren Verstand, wie bei einem Kurzschluß in einem elektrischen Stromkreis, abzuschalten. Der Zustand war vorübergehend, nicht endgültig, doch solange er währte, hatte Inez Guerrero vergessen, wo sie war und was sie dort wollte.

Der niederträchtige, ungehobelte Taxifahrer, der sie zum Flugplatz gebracht hatte, war keine Hilfe gewesen. Bei der Verhandlung in der Stadt hatte er einem Fahrpreis von sieben Dollar zugestimmt. Als Inez ausstieg, gab sie ihm eine Zehndollarnote, fast das ganze Geld, das sie noch besaß, und erwartete, daß er ihr herausgeben würde. Der Fahrer murmelte etwas davon, daß er kein Wechselgeld habe, aber es sich irgendwo beschaffen wolle, und fuhr davon. Inez wartete ängstlich zehn Minuten, behielt die Uhr des Flughafens im Auge, die sich immer mehr 11 Uhr näherte — der Startzeit für Flug Zwei —, bis ihr aufging, daß der Mann nicht wiederkommen würde. Sie hatte sich weder die Nummer des Taxis noch die des Fahrers gemerkt — und darauf hatte der Fahrer spekuliert.

Und selbst wenn Inez Guerrero das getan hätte, sie war nicht der Typ, der sich bei den Behörden beschwerte. Auch das hatte der Fahrer richtig berechnet.

Trotz des zunächst langsamen Tempos bei ihrer Fahrt aus der Stadt hätte sie Flug Zwei noch rechtzeitig vor dem Start erreichen können, wenn sie nicht ihre Zeit mit dem vergeblichen Warten auf das Wechselgeld vergeudet hätte. So konnte sie gerade noch das Flugzeug davonrollen sehen, als sie den Ausgang zum Flugsteig erreichte.

Doch auch dann besaß Inez noch die Geistesgegenwart, die Ausrede zu gebrauchen, zu der ihr Miss Young von der telefonischen Auskunft der Trans America geraten hatte, als sie herauszufinden versuchte, ob ihr Mann, D. O., an Bord des Flugzeugs sei. Ein uniformierter Angestellter der Gesellschaft verließ gerade Ausgang siebenundvierzig, an dem Flug Zwei abgefertigt worden war. Inez wandte sich an ihn.

Wie Miss Young empfohlen hatte, vermied es Inez, eine direkte Frage zu stellen, und stellte eine Behauptung auf. »Mein Mann ist in der Maschine, die gerade abgeflogen ist.« Sie erklärte, daß sie ihren Mann aber nicht selbst gesehen habe, sich aber vergewissern wolle, daß er sicher an Bord gekommen sei. Inez faltete den gelben Ratenzahlungsvertrag auseinander, den sie zu Hause unter D. O.'s Hemden entdeckt hatte, und zeigte ihn dem Angestellten der Trans America. Er warf kaum einen Blick darauf und sah dann in den Papieren nach, die er in der Hand hatte.

Einen Augenblick lang hoffte Inez zaghaft, daß sie sich irrte, wenn sie annahm, daß D. O. mit der Maschine abgeflogen sei. Die Vorstellung, daß er nach Rom fliegen wollte, erschien ihr immer noch allzu phantastisch. Doch dann bestätigte ihr der Mann von der Trans America, ja, ein D. O. Guerrero sei an Bord von Flug Zwei, und er persönlich bedauere es sehr, daß Mrs. Guerrero ihren Mann nicht mehr zu sehen bekommen habe, aber heute abend gehe infolge des Schneesturms alles durcheinander, und sie möge ihn jetzt bitte entschuldigen . . .

Erst nachdem der Mann gegangen war und Inez erkannte, daß sie trotz des sie umgebenden Menschengedränges auf dem Flughafen völlig allein und verlassen war, begann sie zu weinen.

Die ersten Tränen kamen langsam. Doch als ihr dann zu Bewußtsein kam, was alles schiefgegangen war, strömten sie mit tiefem, schwerem Schluchzen, das ihren ganzen Körper beben ließ. Sie weinte um die Vergangenheit und um die Gegenwart; um ihr Heim, das sie besessen und verloren hatte; um ihre Kinder, die sie nicht bei sich haben konnte; um D. O., der trotz seiner Mängel als Ehemann und seines Versäumnisses, seine Familie zu erhalten, ihr wenigstens vertraut war, sie jetzt aber verlassen hatte. Sie weinte um das, was sie selbst gewesen war; über die Tatsache, daß sie kein Geld hatte, daß sie nirgends hingehen konnte als in die elenden, ungezieferverseuchten Zimmer in der Innenstadt, aus denen sie morgen herausgesetzt werden würde, da ihr nach der Taxifahrt und dem Betrug durch den Fahrer nichts von dem kläglichen Betrag übriggeblieben war, mit dem sie gehofft hatte, den Hauswirt vertrösten zu können ... Sie war sich nicht einmal sicher, ob das Kleingeld, das sie besaß, ausreichen würde, in die Stadt zurückzukommen. Sie weinte, weil sie die Schuhe an ihren Füßen drückten, über ihre Kleidung, die schäbig und durchnäßt war, und weil sie erkältet war und Fieber hatte, von dem sie spürte, daß es stieg. Sie weinte über sich selbst und über alle, für die jede Hoffnung geschwunden war.

Dann begann sie, um den neugierigen Blicken der Leute auszuweichen, die sie beobachteten, ziellos durch das Flughafengebäude zu wandern, weinte aber weiter. Irgendwann zu dieser Zeit setzte dann auch der Abwehrmechanismus ihrer Psyche ein, umhüllte sie mit einer schützenden Benommenheit, so daß ihr Kummer zwar weiter in ihrem Bewußtsein erhalten blieb, sich seine Gründe aber wohltuend verwischten.

Bald darauf entdeckte sie einer der Polizisten des Flughafens und brachte sie mit einem Verständnis, das der Polizei nicht immer nachgesagt wird, in einer Ecke unter, die so still und abgelegen wie möglich war, während er mit seinem Vorgesetzten telefonierte, um sich Anweisungen geben zu lassen. Zufällig hielt Leutnant Ordway sich in der Nähe auf und nahm sich des Falles persönlich an. Er stellte fest, daß Inez Guerrero zwar zusammenhanglos sprach und verstört, aber wohl harmlos war, und ordnete an, daß sie in das Büro des Generaldirektors des Flughafens gebracht werde, denn das war der einzige Ort, der Ned Ordway einfiel, der ruhig, aber weniger einschüchternd war als das Polizeirevier.

Inez war folgsam mitgegangen, in einen Fahrstuhl und durch einen Gang im Zwischenstock, hatte nur halb mitbekommen, daß sie überhaupt irgendwohin gebracht wurde. Es war ihr auch gleichgültig. Danach hatte sie still in einem Sessel gesessen, zu dem man sie geführt hatte, hatte sich dankbar körperlich und wohl auch seelisch ausgeruht. Sie hatte bemerkt, daß Leute kamen und gingen, und manche hatten auch gesprochen, aber weder ihr Aussehen noch ihre Worte waren ihr deutlich geworden. Die Mühe schien ihr zu groß. Doch nach einer Weile brachte ihre Widerstandskraft, die nur ein anderes Wort für die Kraft der menschlichen Psyche ist, die alle besitzen, wie belastet oder gedemütigt sie auch sein mögen, sie zu der Erkenntnis zurück, so verschwommen sie auch war, daß sie weitermachen mußte, weil das Leben weiterging, es immer getan hatte und immer tun würde, gleichgültig, wie viele Niederlagen es mit sich brachte oder wie trübe und leer es erscheinen mochte.

Deshalb stand Inez Guerrero auf. Sie war sich zwar nicht klar, wo sie war oder wie sie dorthin gekommen war, aber sie war entschlossen zu gehen.

In diesem Augenblick betrat die Delegation aus Meadowood in Begleitung von Leutnant Ordway das Vorzimmer zu Mel Bakersfelds Büro, wo Inez sich aufhielt. Die Delegation ging weiter ins nächste Zimmer, dann kehrte Ned Ordway zurück, um mit Inez Guerrero zu sprechen, und Mel bemerkte die beiden kurz, ehe sich die Tür zu seinem Büro schloß.

Durch den Nebel der Ungewißheit nahm Inez auch den großen Negerpolizisten wahr, von dem sie das Gefühl hatte, ihn schon einmal vor kurzem gesehen zu haben, und daß er ebenso freundlich gewesen war wie jetzt. Nach seinen ruhigen, nicht drängenden Fragen schien er zu verstehen — ohne daß sie es eindeutig aussprach —, daß sie in die Stadt zurück mußte, aber nicht sicher war, ob sie genügend Geld für die Fahrt hatte. Sie begann in ihrer Geldbörse zu suchen, beabsichtigte das Geld zu zählen, das darin war, aber er unterbrach sie. Dann drückte er ihr, mit dem Rücken zum Nebenzimmer, drei Eindollarnoten in die Hand, kam mit ihr hinaus, erklärte ihr den Weg zu der Stelle, wo sie, wie er sagte, einen Bus finden werde und fügte hinzu, daß er ihr genug für die Fahrt gegeben habe und auch noch etwas mehr, das bis nach Hause reichen würde.

Danach war der Polizist gegangen, in die Richtung zurückgekehrt, aus der sie gekommen waren, und Inez tat, was sie geheißen worden war. Sie ging eine Treppe hinunter und war beinahe schon bei der großen Tür, durch die sie mußte, um zu dem Bus zu kommen, als sie einen vertrauten Anblick sah: einen Würstchenstand. In diesem Augenblick merkte sie, wie hungrig und durstig sie trotz allem war. Sie wühlte in ihrer Börse und fand 35 Cents. Sie kaufte sich eine heiße Wurst und einen Pappbecher Kaffee. Und irgendwie war der Anblick dieser beiden so gewöhnlichen Dinge aufmunternd. Nicht weit von dem Stand entfernt fand sie eine Bank und nahm auf einer Ecke Platz. Jetzt wußte sie nicht, wieviel Zeit seitdem vergangen war, aber nachdem sie den Kaffee getrunken und die Wurst gegessen hatte, ließ das eben erst einsetzende Bewußtsein für die Wirklichkeit bei ihr in für sie tröstlicher Weise wieder nach. Auch die Menschenmenge um sie herum, der Lärm und die Ankündigungen über die Lautsprecher besaßen für sie etwas Tröstendes. Zweimal glaubte Inez ihren Namen über die Lautsprecher zu hören, wußte aber, daß es Einbildung war und nicht Wirklichkeit sein konnte, weil niemand sie rufen würde oder auch nur wissen konnte, daß sie hier war.

Dunkel erkannte sie, daß sie bald weiter mußte, und spürte, daß das heute nacht für sie besonders anstrengend war. Doch ein Weilchen, dachte sie, könne sie wohl hier noch still sitzen bleiben.

8

Mit einer Ausnahme trafen alle, die in das Büro des Flughafendirektors in den Verwaltungsräumen im Zwischenstock gerufen worden waren, schnell dort ein. Die Anrufe — manche von Mel Bakersfeld, andere von Tanya Livingston — hatten auf Eile gedrängt und auf die Notwendigkeit hingewiesen, das, was sie gerade taten, stehen- und liegenzulassen.

Der Bezirksleiter der Trans America, Tanyas Chef, Bert Wea-therby, kam als erster.

Leutnant Ordway, der seine Polizisten auf die Suche nach Inez Guerrero geschickt hatte, wenn er auch noch nicht wußte warum, folgte kurz danach. Für den Augenblick hatte Ordway die beträcht-liehe Gruppe der Einwohner von Meadowood, die sich in der Haupthalle drängte und zuhörte, wie Rechtsanwalt Freemantle ihren Fall vor den Fernsehkameras erläuterte, sich selbst überlassen.

Als Weatherby durch die Tür vom Vorzimmer in Mels Büro eintrat, fragte er ungeduldig: »Um was geht es eigentlich, Mel?«

»Wir sind uns noch nicht sicher, Bert, und haben auch noch nicht sehr viel in der Hand, aber es besteht die Möglichkeit, daß sich an Bord Ihres Fluges Zwei eine Bombe befindet.«

Der Bezirksverkehrsleiter blickte Tanya forschend an, vergeudete aber keine Zeit auf die Frage, warum sie hier sei. Sein Blick ging zu Mel zurück. »Lassen Sie hören, was sie wissen.«

Mel faßte für Weatherby und Ned Ordway zusammen, was bisher bekannt war oder vermutet werden mußte: den Bericht von Zollinspektor Standish über den Passagier mit dem Aktenkoffer, den der Mann in einer Weise an sich drückte, die Standish, ein erfahrener Beobachter, für verdächtig hielt; Tanyas Ermittlung, daß der Mann mit dem Koffer ein gewisser D. O. Guerrero oder vielleicht Buerrero war; die Enthüllung des Angestellten der Fluggesellschaft in der Stadt, daß Guerrero den Flug mit keinem anderen Gepäck als nur dem bereits erwähnten Aktenkoffer angetreten hatte; Guerreros Abschluß einer Flugversicherung über dreihunderttausend Dollar auf dem Flughafen, für die zu bezahlen er kaum genug Geld besaß, so daß er eine fünftausend Meilen lange Reise nicht nur ohne Gepäck, sondern auch ohne Barmittel anzutreten schien; und schließlich — vielleicht rein zufällig, vielleicht aber auch nicht — Mrs. Inez Guerrero, die einzig Begünstigte in der Flugversicherungspolice ihres Mannes, die anscheinend im Zustand größter Verzweiflung durch das Flughafengebäude geirrt war.

Während Mel sprach, kam Zollinspektor Harry Standish, noch in Uniform, gefolgt von Bunnie Vorobioff, herein. Bunnie trat unsicher in das Büro und sah die ihr unbekannten Menschen und die ihr fremde Umgebung forschend an. Als sie die Bedeutung dessen, was Mel sagte, erfaßte, wurde sie blaß und schien verstört zu sein.

Der einzige, der nicht kam, war der Angestellte der Trans America, der an Ausgang siebenundvierzig Dienst gehabt hatte, als Flug Zwei abgefertigt worden war. Ein Inspektor, mit dem Tanya vor wenigen Minuten gesprochen hatte, hatte ihr mitgeteilt, daß der Betreffende jetzt dienstfrei sei und sich auf dem Weg nach Hause befinde. Sie gab Anweisungen, den Angestellten zu Hause zu benachrichtigen, daß er sich sofort telefonisch melden solle, wenn er nach Hause käme. Tanya bezweifelte, daß es etwas nützen könne, ihn noch heute nacht zum Flughafen zurückzuholen. Einmal wußte sie bereits, daß er sich nicht daran erinnerte, ob Guerrero an Bord gegangen war, aber vielleicht wollte ihn jemand anderes telefonisch befragen.

»Ich habe jeden angerufen, der bisher mit der Sache etwas zu tun hatte«, informierte Mel den Bezirksverkehrsleiter, »falls Sie oder jemand anderes Fragen haben. Was wir entscheiden müssen, ist meiner Meinung nach — und diese Entscheidung liegt in erster Linie bei Ihnen —, ob wir genügend Gründe haben, Ihren Kapitän von Flug Zwei zu Warnen oder nicht.« Mel wurde wieder daran erinnert, was er vorübergehend aus seinen Gedanken verdrängt hatte: daß der Kommandant dieses Flugs sein Schwager Vernon Demerest war. Mel war klar, daß er später gewisse Auswirkungen neu überdenken mußte — doch nicht jetzt.

»Ich denke darüber nach.« Der Bezirksverkehrsleiter war grimmig. Er wandte sich an Tanya. »Doch, was wir auch entscheiden, ich will die Operationsabteilung dabei haben. Stellen Sie fest, ob Royce Kettering noch auf dem Flughafen ist. Wenn ja, holen Sie ihn schnell her.«

Kapitän Kettering war der Chefpilot der Trans America auf Lincoln International Airport. Er hatte an diesem Abend das Flugzeug N-731-TA erprobt, ehe die Maschine als Flug Zwei The Golden Argosy nach Rom startete.

»Ja, Sir«, antwortete Tanya.

Während sie an einem Telefon sprach, klingelte ein anderes. Mel meldete sich.

Es war der Dienstleiter im Kontrollturm. »Ich habe die Meldung über Trans America Zwei, die Sie haben wollten.« Einer der Anrufe Mels vor wenigen Minuten war an die Flugsicherung gegangen und hatte um Informationen über die Startzeit und den Verlauf des Flugs gebeten.

»Sprechen Sie.«

»Der Start erfolgte um 11.13 Uhr Ortszeit.« Mels Blick wanderte zur Wanduhr. Es war jetzt fast zehn Minuten nach Mitternacht. Die Maschine befand sich seit fast einer Stunde in der Luft.

Der Dienstleiter fuhr fort: »Chicago Center gab den Flug um 12.27 Uhr EST an Cleveland Center weiter, Cleveland um 01.03 Uhr EST an Toronto weiter. Das war vor sieben Minuten. Im Augenblick berichtet Toronto Center die Position des Flugzeugs in der Nähe von London, Ontario; wenn Sie wollen, habe ich weitere Informationen: Kurs, Höhe, Geschwindigkeit.«

»Das genügt im Augenblick«, sagte Mel. »Vielen Dank.«

»Noch etwas, Mr. Bakersfeld.« Der Dienstleiter gab eine Zusammenfassung von Joe Patronis letztem Bericht über Startbahn Drei-Null. Die Startbahn würde mindestens noch eine weitere Stunde lang nicht betriebsfähig sein. Mel hörte ungeduldig zu. Im Augenblick erschienen ihm andere Dinge wichtiger.

Nachdem er eingehängt hatte, wiederholte Mel die Informationen über die Positionen von Flug Zwei für den Bezirksverkehrsleiter.

Tanya kam von dem anderen Telefon. Sie meldete: »Die Operationsabteilung hat Kettering gefunden. Er ist auf dem Weg hierher.«

»Diese Frau — die Ehefrau des Passagiers —«, sagte der Bezirksverkehrsleiter, »wie heißt sie noch?«

»Inez Guerrero«, antwortete Ned Ordway.

»Wo ist sie?«

»Wir wissen es nicht.« Der Polizeioffizier erklärte, daß seine Leute den Flughafen absuchten, obwohl die Frau inzwischen fort sein könne. Er fügte hinzu, daß das Polizeipräsidium in der Stadt alarmiert sei, und daß alle Busse vom Flughafen bei ihrer Ankunft in der Stadt nach ihr durchsucht würden.

»Als sie hier war, hatten wir keine Ahnung«, erklärte Mel.

Der Bezirksverkehrsleiter grunzte. »Wir waren alle langsam.« Er sah zu Tanya hinüber, dann zu Zollinspektor Standish, der bisher noch nichts gesagt hatte. Tanya wußte, daß ihr Chef jetzt seine Anweisung, es zu vergessen, bereute. Jetzt sagte er zu ihr: »Wir müssen dem Kapitän des Fluges etwas mitteilen. Er hat ein Recht darauf, alles zu erfahren, was wir wissen, selbst wenn wir bisher nur Vermutungen anstellen können.«

Tanya fragte: »Sollten wir ihm nicht eine Personenbeschreibung von Guerrero durchgeben? Vielleicht will Kapitän Demerest ihn identifizieren, ohne das der Mann es merkt.«

»Wenn Sie das tun wollen«, erklärte Mel, »können wir Ihnen helfen. Hier sind Leute anwesend, die den Mann gesehen haben.«

»Gut«, stimmte Weatherby zu. »Wir wollen das vorbereiten. Tanya, rufen Sie inzwischen unsere Nachrichtenübermittlung an. Sagen Sie, in wenigen Minuten käme eine wichtige Mitteilung, und sie sollten eine Selcal-Verbindung mit Flug Zwei herstellen. Ich wünsche die Sache vertraulich zu behandeln: keine Funksprüche, die jeder mithören kann. Vorläufig wenigstens.«

Tanya ging wieder ans Telefon.

Mel wandte sich an Bunnie. »Sie sind Miss Vorobioff?«

Sie nickte nervös, und alle Augen richteten sich auf sie. Automatisch wanderten die Blicke der Männer zu Bunnies vollem Busen. Der Bezirksverkehrsleiter schien pfeifen zu wollen, beherrschte sich aber.

Mel fragte: »Sie wissen, von welchem Mann wir sprechen?«

»Ich — ich bin mir nicht sicher.«

»Es ist ein Mann namens D. O. Guerrero. Sie haben heute abend eine Versicherungspolice für ihn ausgefertigt, oder nicht?«

Bunnie nickte wieder. »Ja.«

»Haben Sie sich ihn genau angesehen, als Sie die Police ausfüllten?«

Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht.« Ihre Stimme war leise. Sie feuchtete ihre Lippen an.

Mel schien überrascht. »Am Telefon dachte ich . . .«

»Es waren so viele andere Leute da«, sagte Bunnie abweisend.

»Aber Sie haben mir doch gesagt, daß Sie sich an ihn erinnern.«

»Das war jemand anderes.«

»Und an diesen Guerrero erinnern Sie sich nicht?«

»Nein.«

Mel machte ein ratloses Gesicht.

»Lassen Sie mich mal, Mr. Bakersfeld.« Ned Ordway trat einen Schritt vor. Er schob sein Gesicht vor das des Mädchens. »Sie haben Angst vor Schwierigkeiten, oder nicht?« Ordways Stimme hatte den harten, schroffen Ton eines Polizisten, war ganz und gar nicht die sanfte Stimme, mit der er vorher zu Inez Guerrero gesprochen hatte.

Bunnie wich zurück, aber antwortete nicht.

»Also, ist es so? Antworten Sie mir«, drängte Ordway.

»Ich weiß nicht.«

»Doch. Sie wissen es. Sie fürchten sich, jemand zu helfen, aus Angst davor, was für Sie dabei herauskäme. Ich kenne Ihre Sorte.« Ordway spie die Worte verächtlich aus. Hier zeigte sich die brutale, harte Seite in der Natur des Leutnants, die Mel noch nie zu sehen bekommen hatte.

»Jetzt hören Sie mir gut zu, mein Kind. Wenn Sie Angst vor Schwierigkeiten haben: die handeln Sie sich gerade ein. Die Möglichkeit, sich Schwierigkeiten zu ersparen — falls Sie das noch können —, ist Fragen beantworten. Und schnell antworten. Unsere Zeit ist knapp.«

Bunnie zitterte. Sie hatte Polizeiverhöre in der harten Schule Osteuropas fürchten gelernt. Das war eine Lehre, die niemand völlig vergessen konnte. Ordway hatte die Anzeichen erkannt.

»Miss Vorobioff«, sagte Mel, »an Bord des Flugzeugs, um das es hier geht, sind fast zweihundert Menschen. Sie können in großer Gefahr sein. Jetzt frage ich Sie noch einmal: Haben Sie sich diesen Guerrero genau angesehen?«

Bunnie nickte langsam. »Ja.«

»Beschreiben Sie ihn bitte.«

Das tat sie, zunächst stockend, dann mit größerer Sicherheit.

Während alle aufmerksam zuhörten, entstand ein Bild von D. O. Guerrero: hager und spindeldürr; ein blasses, ausgemergeltes Gesicht mit vorstehendem Kinn; langer, magerer Hals; dünne Lippen; ein kleiner, sandfarbener Schnurrbart; nervöse Hände mit rastlosen Fingern. Wenn man es genau betrachtete, erwies Bunnie Voro-bioff sich als eine scharfe Beobachterin.

Der Bezirksverkehrsleiter, der jetzt an Mels Schreibtisch saß, notierte die Beschreibung und arbeitete sie in die Mitteilung an Flug Zwei ein, die er schon entwarf.

Als Bunnie zu dem Teil kam, daß D. O. Guerrero kaum genug Geld hatte, vor allem gar kein italienisches Geld, seine nervöse Spannung, sein Fummeln mit Zehncent- und Eincentstücken, seine Aufregung bei der Entdeckung einer Fünfdollarnote in einer Innentasche, blickte Weatherby mit einer Mischung aus Abscheu und Entsetzen auf. »Mein Gott! Und trotzdem haben Sie ihm eine Police ausgestellt? Sind Sie denn wahnsinnig?«

»Ich dachte . . .«, begann Bunnie.

»Sie dachten! Aber getan haben Sie nichts?«

Mit blassem verstörtem Gesicht schüttelte Bunnie Vorobioff den Kopf.

»Bert, wir vergeuden Zeit«, mahnte Mel den Bezirksverkehrsleiter.

»Ich weiß, ich weiß. Trotzdem . . .«

Weatherby hielt den Bleistift gepackt, mit dem er geschrieben hatte. Er murmelte: »Sie ist es ja nicht allein, und nicht einmal die Leute, die sie beschäftigen. Wir sind es, die Fluggesellschaften. Wir verdienen die gleichen Vorwürfe. Wir sind mit den Piloten über den Abschluß von Flugversicherungen auf den Flughäfen einer Meinung, aber wir haben nicht den Mut, es zu sagen. Wir lassen sie unsere schmutzige Arbeit . . .«

Mel wandte sich kurz an Zollinspektor Standish: »Harry, haben Sie zu der Beschreibung von Guerrero noch etwas hinzuzufügen?«

»Nein«, antwortete Standish. »Ich war nicht so nahe bei ihm wie diese junge Dame, und sie bemerkte Dinge, die ich nicht gesehen habe. Aber wie Sie wissen, habe ich die Art und Weise beobachtet, wie er den Koffer behandelte, und ich würde folgendes sagen: Wenn dort wirklich das drin ist, was Sie glauben, dann darf niemand versuchen, ihm den Koffer zu entreißen.«

»Was schlagen Sie also vor?«

Der Zollbeamte schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Fachmann, folglich kann ich Ihnen nichts sagen, höchstens, daß man zu irgendeinem Trick greifen muß. Doch wenn es eine Bombe ist, muß sie sich geschlossen in dem Koffer befinden, und das bedeutet, daß ein Auslöser für sie da sein muß. Und vermutlich ist es ein Auslöser, an den er leicht herankommt. Er wacht jetzt scharf über den Koffer. Falls jemand versucht, ihm den Koffer wegzunehmen, wird er befürchten, daß er durchschaut wurde, und glauben, daß er nichts zu verlieren hat.« Grimmig fügte Standish hinzu: »Ein Finger am Abzug kann gefährlich jucken.«

»Selbstverständlich wissen wir noch nicht«, sagte Mel, »ob der Mann nicht ein gewöhnlicher Exzentriker ist, der nur seinen Schlafanzug im Koffer hat.«

»Wenn Sie meine Meinung wissen wollen«, entgegnete der Zollinspektor, »das glaube ich nicht. Ich wünschte, ich könnte es, denn eine Nichte von mir befindet sich in dem Flugzeug.«

Standish hatte bedrückende Überlegungen angestellt. Wie sollte er, um Gottes willen, die Nachricht seiner Schwester in Denver überbringen, wenn irgend etwas schiefging? Er erinnerte sich des letzten Anblicks von Judy: dieses reizende junge Mädchen, das mit dem Baby auf dem Nachbarsitz gespielt hatte. Zum Abschied hatte sie ihn geküßt. Auf Wiedersehen, Onkel Harry. Jetzt wünschte er sich verzweifelt, entschiedener gewesen zu sein, dem Mann mit dem Aktenkoffer gegenüber verantwortungsbewußter gehandelt zu haben.

»Ich möchte noch etwas sagen.« Die Augen der anderen richteten sich auf ihn. »Ich muß Ihnen das sagen, weil wir keine Zeit mit Bescheidenheit zu vergeuden haben. Ich bin ein guter Menschenkenner, meistens auf den ersten Blick, und im allgemeinen kann ich riechen, wenn etwas faul ist. Es ist ein Instinkt, fragen Sie mich nicht, wie er funktioniert, denn ich kann es Ihnen nicht sagen, nur daß manche es in meinem Beruf lernen. Ich habe diesen Mann heute abend entdeckt und habe gesagt, er ist >verdächtig<. Ich gebrauchte dieses Wort, weil ich an Schmuggeln dachte, denn darauf bin ich geschult. Nach dem, was wir jetzt wissen, so wenig es auch ist, will ich es schärfer ausdrücken. Dieser Guerrero ist gefährlich.« Standish sah den Bezirksverkehrsleiter der Trans America an. »Mr. Weatherby, übermitteln Sie Ihren Leuten in der Luft dieses Wort: gefährlich!«

»Das ist meine Absicht, Inspektor.« Der Bezirksverkehrsleiter blickte von seiner Niederschrift auf. Das meiste von dem, was Standish gesagt hatte, war bereits in der Mitteilung an Flug Zwei enthalten. Tanya, noch am Telefon, sprach mit der Nachrichtenübermittlung der Trans America in New York über eine direkte Verbindung. »Ja, es wird eine lange Mitteilung. Würden Sie bitte jemand mit der Aufnahme des Textes beauftragen.«

Ein scharfes Klopfen ertönte an der Tür, und ein großer Mann mit zerfurchtem, wettergegerbtem Gesicht und scharfen blauen Augen kam aus dem Vorzimmer herein. Er trug einen dicken Mantel und einen blauen Serge-Anzug, der eine Uniform sein konnte, es aber nicht war. Der Neuankömmling nickte Mel zu, doch ehe einer von beiden etwas sagen konnte, mischte sich der Bezirksverkehrsleiter ein.

»Danke, daß Sie so schnell gekommen sind, Royce. Wir befinden uns in einer schwierigen Situation.« Er hob den Notizblock hoch, auf dem er geschrieben hatte.

Kapitän Kettering, der Chefpilot der Trans America auf dem Flughafen, las den Entwurf für die Nachricht sorgfältig durch. Seine einzige Reaktion war eine Anspannung seines Mundes, während seine Augen über das Blatt flogen. Wie für viele andere, einschließlich des Bezirksverkehrsleiters, war es ungewöhnlich, daß der Chefpilot noch so spät in der Nacht auf dem Flughafen war. Aber die Auswirkungen des dreitägigen Schneesturms mit der Notwendigkeit, häufig Entscheidungen für den Einsatz zu treffen, hatten ihn dort festgehalten.

Das zweite Telefon klingelte und durchschnitt die vorübergehende Stille. Mel meldete sich und winkte dann Ned Ordway, der den Hörer übernahm.

Kapitän Kettering las zu Ende. Bert Weatherby fragte: »Stimmen Sie zu, daß wir das absenden? Die Nachrichtenübermittlung steht mit einer Selcal-Verbindung bereit.«

Kettering nickte. »Ja, aber ich möchte, daß Sie hinzusetzen: >Empfehle Rückkehr oder Landung andernorts nach Belieben des Kapitäns<, und lassen Sie ihm von der Nachrichtenübermittlung das letzte Wetter durchgeben.«

»Selbstverständlich.« Der Bezirksverkehrsleiter setzte die Worte hinzu und reichte den Block dann Tanya. Sie begann die Mitteilung zu diktieren.

Kapitän Kettering sah die anderen im Raum an. »Ist das alles, was wir wissen?«

»Bisher ja«, bestätigte Mel.

»Vielleicht wissen wir bald mehr«, sagte Leutnant Ordway. Er war gerade vom Telefon zurückgekommen. »Wir haben gerade Guerreros Frau gefunden.«

Die Mitteilung des Bezirksverkehrsleiters von Lincoln International Airport war adressiert an KAPITÄN, TRANS AMERICA FLUG ZWEI, und begann:

UNBESTÄTIGTE MÖGLICHKEIT VORHANDEN DASS PASSAGIER D. O. GUERRERO TOURISTENKLASSE AN BORD IHRER MASCHINE SPRENGKÖRPER IN BESITZ HAT! PASSAGIER OHNE GEPÄCK UND ANSCHEINEND OHNE GELDMITTEL VERSICHERTE SICH HOCH VOR ABFLUG. VERDÄCHTIGES VERHALTEN MIT AKTENKOFFER ALS HANDGEPÄCK WURDE BEOBACHTET. PERSONENBESCHREIBUNG FOLGT . . .

Wie der Bezirksverkehrsleiter vorausgesehen hatte, dauerte es einige Minuten, um über den Funk der Fluggesellschaft die Verbindung mit Flug Zwei herzustellen. Seit der früheren Selcal-Nachricht an die Maschine über den blinden Passagier Mrs. Ada Quonsett hatte das Flugzeug das Nachrichtenübermittlungsgebiet Cleveland der Trans America verlassen und war in das von New York hinübergewechselt. Jetzt mußten Mitteilungen der Gesellschaft durch die Nachrichtenübermittlung in New York an die Maschine weitergeleitet werden.

Die Mitteilung, die Tanya diktierte, wurde in New York von einer Stenotypistin getippt. Neben ihr las der Nachrichtenübermitt-ler der Trans America die ersten Zeilen und griff dann nach einem direkt geschalteten Telefon, das ihn mit einem Vermittler bei ARINC, einem privaten Fernsprechnetz, das kooperativ von allen großen Fluggesellschaften unterhalten wurde, verband.

Der Vermittler bei ARINC — an einem anderen Ort in New York — stellte eine zweite Verbindung zwischen sich und dem Vermittler der Trans America her, drückte dann auf einer Schalttafel das vierbuchstabige Codewort AGFG, das dem Flugzeug N-731-TA zugeteilt war. Und wieder wurde, wie bei einem Telefonanruf an eine bestimmte Nummer in einem Fernsprechnetz, nur an Bord von Flug Zwei das Rufsignal empfangen.

Wenige Augenblicke später wurde in New York die Stimme von Kapitän Vernon Demerest hörbar, der sich von hoch oben über Ontario in Kanada meldete. »Hier Trans America Zwei. Antworten auf Selcal.«

»Trans America Zwei, hier Vermittlung New York. Wir haben eine wichtige Nachricht. Bestätigen Sie, wenn aufnahmebereit.«

Eine kurze Pause folgte. Dann wieder Demerest: »Okay, New York, geben Sie durch.«

»KAPITÄN, TRANS AMERICA FLUG ZWEI«, begann die Nachrichtenübermittlung. »UNBESTÄTIGTE MÖGLICHKEIT VORHANDEN . . .«

Inez saß noch still in ihrer Ecke bei dem Würstchenstand, als sie spürte, daß sie an der Schulter geschüttelt wurde. »Inez Guerrero! Sind Sie Inez Guerrero?«

Sie blickte auf. Sie brauchte einige Sekunden, um ihre Gedanken zu sammeln, die vage dahinschweiften; sie erkannte aber, daß es ein Polizist war, der sich über sie beugte.

Er schüttelte sie wieder und wiederholte die Frage.

Inez gelang es zu nicken. Es wurde ihr bewußt, daß es diesmal ein anderer Polizist war als vorhin. Dieser war weiß und sprach weder so sanft noch so freundlich wie der andere.

»Auf, auf, meine Dame!« Der Polizist verstärkte seinen Griff an ihrer Schulter in einer Weise, die schmerzte, und zog sie abrupt auf die Füße. »Verstehen Sie mich? Wir müssen gehen! Da oben schreien sie nach Ihnen, und jeder Polizist hier in dem Laden sucht Sie.«

Zehn Minuten später stand Inez in Mels Büro im Mittelpunkt des Interesses. Sie saß in einem Sessel mitten im Zimmer, zu dem man sie bei ihrem Eintreffen geführt hatte. Leutnant Ordway stand ihr gegenüber. Der Polizist, der Inez heraufgebracht hatte, war wieder gegangen.

Die anderen, die schon vorher dagewesen waren — Mel, Tanya, Zollinspektor Standish, Bunnie Vorobioff, der Bezirksverkehrsleiter der Trans America, Bert Weatherby, und der Chefpilot, Kapitän Kettering —, standen um sie herum. Auf Mels Bitte waren alle geblieben.

»Mrs. Guerrero«, begann Ned Ordway, »warum fliegt ihr Mann nach Rom?«

Inez erwiderte seinen Blick düster und gab keine Antwort. Die Stimme des Polizeioffiziers wurde schärfer, aber nicht unfreundlich. »Mrs. Guerrero, hören Sie mir bitte genau zu. Ich habe ein paar wichtige Fragen an Sie zu richten. Sie betreffen Ihren Mann, und ich brauche Ihre Hilfe. Verstehen Sie mich?«

»Ich — ich weiß nicht recht.«

»Sie brauchen nicht genau zu verstehen, warum ich diese Frage stelle. Das hat Zeit bis später. Was ich von Ihnen will ist, daß Sie mir durch Ihre Antworten helfen. Wollen Sie das? Bitte.«

Der Bezirksleiter mischte sich ungeduldig ein. »Wir haben nicht die ganze Nacht über Zeit, Leutnant. Dieses Flugzeug bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von sechshundert Meilen in der Stunde von uns fort. Wenn es notwendig ist, müssen wir hart werden.«

»Überlassen Sie das mir, Mr. Weatherby«, entgegnete Ordway scharf. »Wenn wir alle anfangen zu schreien, dauert es viel länger, und es kommt viel weniger dabei heraus.«

Der Bezirksverkehrsleiter zeigte weiter seine Ungeduld, schwieg aber.

»Inez«, sagte Ordway, ». . . ich darf Sie doch Inez nennen?«

Sie nickte.

»Inez, wollen Sie meine Fragen beantworten?«

»Ja — wenn ich kann.«

»Warum fliegt Ihr Mann nach Rom?«

Ihre Stimme war gepreßt, kaum mehr als ein Flüstern. »Ich weiß es nicht.«

»Haben Sie dort Freunde, Verwandte?«

»Nein ... Da ist ein entfernter Vetter in Mailand, aber wir haben ihn nie gesehen.«

»Hat Ihr Mann mit dem Vetter korrespondiert?«

»Nein.«

»Wissen Sie einen Grund, weshalb Ihr Mann diesen Vetter besuchen sollte — ganz plötzlich?« »Dafür gibt es keinen Grund.«

Tanya warf dazwischen: »Auf jeden Fall würde niemand, der nach Mailand will, unseren Romflug nehmen, Leutnant. Er würde mit der Alitalia fliegen, die eine direkte Verbindung hat und billiger ist. Und die Alitalia hat heute abend auch einen Flug.«

Ordway nickte. »Den Vetter können wir wahrscheinlich ausschalten.« Er fragte Inez: »Hat Ihr Mann in Italien Geschäfte?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Was ist Ihr Mann von Beruf?«

»Er ist — war — Unternehmer.«

»Was für ein Unternehmer?«

Langsam, aber sicher fand Inez in die Wirklichkeit zurück. »Er hat Gebäude errichtet. Häuser. Wohnsiedlungen.«

»Sie sagten >war<. Warum ist er kein Unternehmer mehr?«

»Es — ging alles schief.«

»Sie meinen finanziell?«

»Ja, aber warum fragen Sie danach?«

»Bitte, glauben Sie mir, Inez«, antwortete Ordway, »dazu habe ich einen guten Grund. Es geht um die Sicherheit Ihres Mannes. Aber auch die Sicherheit anderer. Wollen Sie mir glauben?«

Sie blickte auf. Ihre Augen begegneten seinen. »Ja.«

»Befindet sich Ihr Mann jetzt in finanziellen Schwierigkeiten?«

Sie zögerte nur kurz. »Ja.«

»Großen Schwierigkeiten?«

Inez nickte langsam.

»Ist er bankrott? Verschuldet?«

Wieder ein Flüstern. »Ja.«

»Woher hat er dann das Geld für den Flug nach Rom?«

»Ich glaube . . .« Inez wollte etwas von ihrem Ring sagen, den O. D. verpfändet hatte, erinnerte sich dann aber an den Ratenzahlungsvertrag mit Trans America Airlines. Sie nahm das jetzt zerknitterte gelbe Blatt aus ihrer Handtasche und reichte es Ordway, der es überflog. Der Bezirksverkehrsleiter trat neben ihn.

»Es ist auf den Namen Buerrero ausgestellt«, sagte Weatherby, »obwohl die Unterschrift alles mögliche sein kann.«

Tanya erläuterte: »Buerrero ist der Name, der zuerst auf der Passagierliste stand.«

Ned Ordway schüttelte den Kopf. »Das ist jetzt nicht wichtig. Es ist aber ein alter Trick, wenn jemand nicht kreditwürdig ist: Der Betreffende verändert den Anfangsbuchstaben, damit bei Nachforschungen die mangelnde Kreditwürdigkeit nicht herauskommt. Jedenfalls nicht so schnell. Wenn es später entdeckt wird, kann die Schuld dem zugeschoben werden, der das Formular ausgefüllt hat.«

Ordway wandte sich wieder streng an Inez. Er hielt das gelbe Formular in der Hand. »Warum haben Sie Ihre Zustimmung dazu gegeben, da Sie doch wußten, daß Ihr Mann betrog?«

»Davon habe ich nichts gewußt«, protestierte sie.

»Wie kommen Sie dann in den Besitz dieses Papiers?«

Stockend schilderte sie, wie sie es am Abend gefunden hatte und zum Flughafen gekommen war, um ihren Mann vor dem Abflug abzufangen.

»Sie hatten also bis heute abend keine Ahnung, daß er fliegen wollte?«

»Nein, Sir.«

»Daß er überhaupt fort wollte?«

Inez schüttelte den Kopf.

»Und selbst jetzt können Sie keinen Grund angeben, weshalb er ging?«

Sie sah ihn ratlos an. »Nein.«

»Hat Ihr Mann jemals unerklärliche Dinge getan?«

Inez zögerte.

»Nun«, drängte Ordway, »hat er oder nicht?«

»In letzter Zeit manchmal . . .«

»War er unberechenbar?«

Ein Flüstern. »Ja.«

»Gewalttätig?«

Widerstrebend nickte Inez.

»Ihr Mann hatte heute abend eine Tasche bei sich«, sagte Ord-way ruhig. »Einen kleinen Aktenkoffer. Und er scheint ihn besonders vorsichtig behandelt zu haben. Haben Sie eine Ahnung, was drin sein kann?«

»Nein, Sir.«

»Inez, Sie haben gesagt, daß Ihr Mann Unternehmer war — Bauunternehmer. Hat Ihr Mann bei seiner Arbeit jemals Sprengstoff verwendet?«

Die Frage wurde so beiläufig und ohne jede Vorbereitung gestellt, daß die Zuhörenden kaum zu bemerken schienen, daß sie gestellt worden war. Doch als ihre Bedeutung begriffen wurde, herrschte plötzlich Spannung im Raum.

»O ja«, antwortete Inez. »Oft.«

Ordway ließ eine merkliche Pause eintreten, ehe er fragte: »Versteht Ihr Mann viel von Sprengstoff?«

»Ich glaube ja. Er hat immer gern damit gearbeitet. Aber . . .« Unvermittelt brach sie ab.

»Was aber, Inez?«

Plötzlich sprach Inez Guerrero mit einer Nervosität, die sie vorher nicht gezeigt hatte. »Aber — er geht sehr vorsichtig damit um.« Ihre Augen wanderten durch den Raum. »Bitte — was soll das bedeuten?«

Ordway sagte leise: »Sie haben eine Vermutung, Inez, oder nicht?«

Als sie nicht antwortete, fragte er fast gleichgültig: »Wo wohnen Sie?«

Sie nannte die Adresse ihrer Wohnung, und er schrieb sie auf.

»War Ihr Mann dort heute nachmittag; am frühen Abend?«

Sie war jetzt völlig verstört. Sie nickte.

Ordway wandte sich an Tanya. Ohne die Stimme zu heben, bat er: »Stellen Sie mir bitte eine Verbindung mit dem Polizeipräsidium in der Stadt her, mit diesem Nebenanschluß.« Er kritzelte eine Nummer auf einen Block. »Ich komme gleich an den Apparat.«

Tanya trat schnell an Mels Schreibtisch.

Ordway fragte Inez: »Bewahrte Ihr Mann noch Sprengstoff in der Wohnung auf?« Als sie zögerte, fuhr er sie plötzlich mit überraschender Schärfe an: »Bisher haben Sie die Wahrheit gesagt. Fangen Sie jetzt nicht an, mich anzulügen! Also?«

»Ja.«

»Was war das für Sprengstoff?«

»Dynamit — und Zündkapseln . . . Sie waren übriggeblieben.«

»Von seiner Arbeit als Bauunternehmer?«

»Ja.«

»Hat er zu Ihnen je etwas darüber gesagt? Hat er einen Grund genannt, warum er es aufbewahrte?«

Inez schüttelte den Kopf. »Nur, daß — wenn man wüßte, wie man damit umgehen muß — es sei dann ungefährlich.«

»Wo wurde der Sprengstoff aufbewahrt?«

»Einfach in einer Schublade.«

»In einer Schublade, wo?«

»Im Schlafzimmer.« Inez' Gesichtsausdruck verriet plötzlich einen tiefen Schock. Ordway bemerkte es.

»Sie haben gerade an etwas gedacht. An was?«

»Es ist nichts!« Ihre Augen und ihre Stimme verrieten Panik.

»Doch, es ist etwas!« Ned Ordway beugte sich vor, neigte sich dicht zu Inez hinab; sein Ausdruck war aggressiv. Zum zweitenmal an diesem Abend zeigte er hier in dem Raum nichts von seiner Freundlichkeit; nur die rauhe, harte Brutalität eines Polizisten, der eine Antwort braucht und weiß, wie er sie bekommt. Er schrie sie an: »Versuchen Sie nicht, etwas zu verschweigen oder zu lügen! Das gelingt Ihnen nicht. Sagen Sie mir jetzt, woran Sie gedacht haben?« Als Inez wimmerte: »Sparen Sie sich das! Reden Sie!«

»Heute abend . . . Bisher hatte ich nicht daran gedacht . . . Diese Sachen . . .«

»Das Dynamit und die Zündkapseln?«

»Ja.«

»Sie vergeuden Zeit! Was ist damit?«

Inez flüsterte: »Sie waren fort.«

Tanya sagte ruhig: »Ich habe Ihre Verbindung, Leutnant. Sie warten auf Sie.«

Keiner sagte etwas.

Ordway nickte, sein Blick war unentwegt scharf auf Inez gerichtet. »Haben Sie gewußt, daß sich Ihr Mann heute abend, ehe er das Flugzeug bestieg, hoch versichert hat? Sehr hoch versichert hat? Und Sie als Begünstigte angab?«

»Nein, Sir. Ich schwöre, davon weiß ich überhaupt nichts . . .«

»Ich glaube Ihnen«, antwortete Ordway. Er überlegte. Als er wieder sprach, klang seine Stimme rauh und drohend.

»Inez Guerrero, hören Sie mir jetzt sehr gut zu. Wir glauben, daß Ihr Mann diesen Sprengstoff, von dem Sie gesprochen haben, heute abend bei sich hat. Wir nehmen an, daß er ihn mit in das

Flugzeug nach Rom nahm und daß er, da es keine andere Erklärung dafür gibt, beabsichtigt, das Flugzeug zu zerstören, sich selbst und alle anderen Menschen an Bord der Maschine zu töten. Jetzt habe ich nur noch eine Frage, und denken Sie gründlich nach, ehe Sie mir darauf antworten, und denken Sie an diese anderen Menschen — Unschuldige, Kinder darunter —, die auch in dem Flugzeug sind. Inez, Sie kennen Ihren Mann. Sie kennen ihn besser als jeder andere lebende Mensch. Könnte er — um das Versicherungsgeld zu bekommen — für Sie — könnte er das tun, was ich gerade geschildert habe?«

Tränen strömten Inez Guerrero über das Gesicht. Sie schien einem Zusammenbruch nahe zu sein, aber sie nickte langsam. »Ja.« Ihre Stimme war kaum vernehmbar. »Ja, ich glaube, das könnte er.«

Ned Ordway wandte sich ab. Er nahm den Telefonhörer von Tanya entgegen und begann schnell mit leiser Stimme zu sprechen. Er gab Informationen weiter, ergänzte sie durch mehrere Anforderungen.

Einmal machte Ordway eine Pause und drehte sich nach Inez Guerrero um. »Ihre Wohnung wird durchsucht werden, und wenn nötig, beschaffen wir uns einen Haussuchungsbefehl. Aber es wäre einfacher, wenn Sie zustimmten. Wollen Sie das?«

Inez nickte stumpf.

»In Ordnung«, sagte Ordway ins Telefon. »Sie gibt ihre Zustimmung.« Gleich darauf legte er den Hörer zurück.

Zu dem Bezirksverkehrsleiter und Mel gewandt erklärte er: »Wir stellen das Belastungsmaterial in der Wohnung sicher, falls wir noch etwas finden. Davon abgesehen können wir im Augenblick nicht viel tun.«

Grimmig sagte Weatherby: »Von uns kann keiner viel tun, höchstens beten.« Mit erschöpftem, grauem Gesicht begann er, eine weitere Nachricht an Flug Zwei aufzusetzen.

Die warme Vorspeise, die Kapitän Vernon Demerest bestellt hatte, war den Piloten von Flug Zwei serviert worden. Die von einer der Stewardessen aus der Galley der Ersten Klasse auf einem Tablett gebrachte appetitliche Auswahl verschwand schnell. Deme-rest grunzte genießerisch, als er den letzten Bissen einer mit Parmesan bestreuten Pastete mit Hummer und Pilzen in den Mund schob.

Wie üblich machten sich die Stewardessen einen Spaß daraus, den dürren jungen Zweiten Offizier Cy Jordan besonders zu füttern. Verstohlen hatten sie ihm auf seinem Platz hinter den beiden Kapitänen einen Teller mit besonderen Leckerbissen zugeschoben, und während er an den Treibstoffventilen herumfingerte, kaute er mit vollen Backen Hühnerleber in Schinken.

Gleich würde den drei Piloten, die sich abwechselnd in dem Dämmerlicht entspannten, dasselbe köstliche Hauptgericht nebst Dessert gebracht werden, das die Fluggesellschaften ihren Passagieren in der Ersten Klasse servierten. Das einzige, was die Passagiere, nicht aber die Besatzungen bekamen, waren Wein und Sekt.

Trans America gab sich, wie die meisten Fluggesellschaften, große Mühe, in der Luft eine ausgezeichnete Küche zu bieten. Zwar gab es Leute, die meinten, die Fluggesellschaften sollten sich, selbst auf internationalen Linien, ausschließlich um den Transport kümmern, ihren Service während des Flugs den im Kurzstreckenverkehr üblichen Maßstäben anpassen und auf allen übertriebenen Luxus verzichten, auch bei den Mahlzeiten, soweit sie über einen kalten Imbiß hinausgingen. Andere wieder waren der Meinung, ein zu großer Teil des modernen Reiseverkehrs beschränke sich noch auf das Sandwichpaketniveau, und begrüßten den Stil und die Eleganz, den gute Flugmahlzeiten pflegten. Fluggesellschaften hörten erstaunlich wenig Klagen über den Eßservice. Die meisten Fluggäste begrüßten die Mahlzeiten als Abwechslung und verzehrten sie mit Behagen.

Vernon Demerest, der die letzten Hummerreste auf der Zunge zergehen ließ, fand das auch. In diesem Augenblick ertönte das Glockenzeichen des Selcal-Rufs im Cockpit, und das Achtungszeichen auf dem Funkschaltbrett leuchtete auf.

Anson Harris zog die Augenbrauen hoch. Ein einziger Anruf über Selcal war schon ungewöhnlich, zwei, innerhalb weniger als einer Stunde etwas ganz Besonderes.

»Was wir brauchten«, sagte Cy Jordan von hinten, »wäre eine Geheimnummer!«

Demerest griff nach dem Funkschalter. »Ich mach das schon.«

Nach der gegenseitigen Identifizierung zwischen Flug Zwei und der Vermittlung New York machte sich Demerest daran, unter abgedecktem Licht eine Mitteilung auf einem Block zu notieren. Die Mitteilung kam von B.V.L. Lincoln International und begann: »Unbestätigte Möglichkeit vorhanden . . .« Als es weiterging, strafften sich die vom Licht beleuchteten Züge Demerests. Am Schluß bestätigte er knapp und zeichnete ohne Kommentar ab.

Demerest gab Harris die Mitteilung weiter, der sie unter dem Licht neben sich las, leise pfiff, und sie über die Schulter an Cy Jordan weiterreichte.

Die Selcal-Nachricht endete: »Empfehlen Rückkehr oder Lan- dung andernorts nach Belieben des Kapitäns.«

Wie beide Kapitäne wußten, war die Frage des Kommandos zu entscheiden. Obwohl Anson Harris heute abend als Kapitän flog und Demerest den Dienst des Ersten Offiziers versah, hatte Deme-rest — als Checkpilot — die größere Autorität, wenn er sie anwenden wollte.

Auf Harris' fragenden Blick hin sagte Demerest: »Sie sitzen auf dem linken Platz. Worauf warten Sie?«

Harris überlegte nur kurz und sagte dann: »Wir kehren um, aber in einem weiten, langsamen Bogen, damit die Passagiere nichts merken. Dann lassen wir Gwen Meighen diesen Kerl herausfinden, um den es geht, denn wir können uns in der Kabine nicht sehen lassen, ohne ihn mißtrauisch zu machen.« Er zuckte die Achseln. »Und danach, nehme ich an, spielen wir's nach Gehör.«

»In Ordnung«, sagte Demerest. »Sie kehren um, und ich kümmere mich um die Kabine hinten.« Er drückte auf den Knopf, der die Stewardessen rief, und benutzte das verabredete dreimalige Zeichen für Gwen.

Auf der Radiofrequenz, die er früher benutzt hatte, rief Harris die Flugsicherung an. Lakonisch sagte er kurz: »Hier Trans America Zwei. Wir scheinen vor einem Problem zu stehen. Erbitten Freigabe nach Lincoln zurück und Radar-Vektor von augenblicklicher Position bis Linkoln.« Harris' schnelle Überlegung hatte eine Landung auf Ausweichflughäfen ausgeschaltet. Ottawa, Toronto und Detroit waren, wie ihnen vor dem Abflug schon mitgeteilt worden war, wegen des Sturms für den Luftverkehr geschlossen. Abgesehen davon brauchte die Besatzung von Flug Zwei Zeit, um mit dem Mann in der Kabine, um den es ging, fertig zu werden. Rückkehr nach Lincoln International würde diese Zeit verschaffen.

Er zweifelte nicht daran, daß Demerest zu demselben Schluß gekommen war.

Von der Flugsicherung Toronto, mehr als sechs Meilen unter ihnen, antwortete eine Stimme: »Trans America Zwei, verstanden!« Kurze Pause, dann: »Können jetzt Kehrtwendung links beginnen auf Richtung zwei sieben null. Warten mit Höhenveränderung.«

»Verstanden, Toronto. Wir beginnen Wendung. Am liebsten weit und allmählich.«

»Trans America Zwei. Einverstanden mit weitem Bogen.«

Der Wortaustausch erfolgte in ruhigem Ton, denn sowohl in der Luft als auch am Boden war man überzeugt, daß mit Ruhe am meisten zu erreichen war und am wenigsten durch Dramatisierung und Aufregung. An der Art des Ersuchens von Flug Zwei hatte der Bodenkontroller sofort erkannt, daß Gefahr — wirkliche oder drohende — bestand. In Reisehöhe fliegende Düsenmaschinen kehrten auf ihrem Kurs nicht ohne triftigen Grund plötzlich um. Aber der Kontroller wußte auch, sobald der Kapitän es für erforderlich hielt, würde er offiziell den Notstand erklären und die Ursache dafür mitteilen. Bis dahin belästigte kein Kontroller die Besatzung, die fraglos mit dringenden eigenen Problemen beschäftigt war, mit unnötigen Fragen.

Jede von der Flugsicherung erbetene Hilfe wurde jedenfalls widerspruchslos und so schnell wie möglich gegeben.

Auch jetzt begann auf dem Boden das Räderwerk der Maßnahmen anzulaufen. Sobald der Kontroller in der Flugsicherung Toronto — die in einem hübschen modernen Gebäude etwa vierzehn Meilen jenseits der Stadtgrenze untergebracht war — den Funkspruch von Flug Zwei empfangen hatte, rief er einen Inspektor. Der Inspektor setzte sich mit anderen Sektoren in Verbindung und machte eine Schneise vor Flug Zwei und in den Höhen unmittelbar unter dem Kurs der Maschine frei — letzteres war eine Vorsichtsmaßnahme. Cleveland Center, das früher den Flug an Toronto Center weitergegeben hatte und ihn nun zurückbekommen würde, war bereits benachrichtigt worden, und Chicago Center, das ihn von Cleveland übernehmen würde, wurde jetzt schon verständigt.

Im Cockpit von Flug Zwei traf soeben eine neue Meldung der Flugsicherung ein. »Tiefer gehen auf Höhe zwei acht null. Meldet Verlassen von Flughöhe drei drei null.«

Anson Harris bestätigte. »Toronto Center, hier Trans America Zwei. Wir gehen jetzt tiefer.«

Auf Harris' Anordnung meldete der Zweite Offizier Jordan an die Vermittlung der Trans America über den Funk der Fluggesellschaft den Entschluß umzukehren.

Die Türe zur vorderen Kabine öffnete sich. Gwen Meighen kam herein.

»Also, wenn es um eine zweite Portion Vorspeisen geht«, sagte sie, »tut es mir leid, aber es ist nichts mehr da. Falls Sie es noch nicht wissen sollten: Wir haben nämlich ein paar Passagiere an Bord.«

»Auf die Insubordination komme ich später zurück«, sagte Demerest. »Im Augenblick« — hier ahmte er Gwens englischen Akzent nach — »haben wir etwas Wichtigeres zu tun.«

Äußerlich hatte sich in der Pilotenkanzel nichts verändert, seit vor ein paar Minuten die Nachricht des Bezirksverkehrsleiters eingegangen war. Die entspannte Stimmung, die vorher geherrscht hatte, war jedoch verschwunden. Unter ihrer gespielten Gelassenheit war die Drei-Mann-Besatzung ganz sachlich und angespannt, der Verstand bis zum äußersten geschärft, und jeder spürte das auch bei den anderen beiden. Es ging darum, verantwortungsvoll und schnell solche Augenblicke zu meistern, wie jahrelanges Training und Erfahrung auf dem langen Weg zum Flugkapitän es forderten. Das Fliegen selbst — ein Flugzeug beherrschen — war keine so schwierige Aufgabe; ihre hohen Gehälter bekamen die Piloten für ihre Reserven an Geistesgegenwart, Hingabe an ihren Beruf, ihr allgemeines fliegerisches Wissen. Demerest, Harris und — in geringerem Maße — Cy Jordan mobilisierten nun ihre Reserven. Die Lage an Bord von Flug Zwei war noch nicht kritisch; mit etwas Glück würde sie vielleicht überhaupt nicht kritisch werden. Wenn aber eine Krise kommen sollte, war die Besatzung dafür gerüstet.

»Ich möchte, daß Sie einen Passagier identifizieren«, sagte Deme-rest zu Gwen. »Er darf aber nicht merken, daß er gesucht wird. Hier haben wir eine Beschreibung. Am besten, Sie lesen das Ganze selbst.«

Er reichte Gwen den Block mit der Meldung. Sie trat näher und hielt ihn unter das abgeschirmte Licht neben ihm.

Da das Flugzeug ein wenig rollte, streifte Gwens Hand Deme-rests Schulter. Er spürte ihre Nähe und den Duft ihres ihm wohlbekannten Parfüms. Zur Seite blickend, konnte er Gwens Profil in dem Halbdunkel sehen. Ihr Ausdruck beim Lesen war ernst, aber nicht bestürzt; es erinnerte ihn an das, was er heute abend schon einmal an ihr bewundert hatte — ihre Stärke, die keineswegs ihre Weiblichkeit schmälerte. Eine flüchtige Sekunde lang erinnerte er sich, daß Gwen zweimal heute abend erklärt hatte, sie liebe ihn. Er fragte sich, ob er selbst je ernsthaft geliebt habe. Wenn man seinen Gefühlen einen straffen Zügel anlegte, wußte man das selbst nicht genau. Doch nie war er der Liebe näher gewesen als in diesem Augenblick in seinen Gefühlen für Gwen.

Gwen las die Meldung noch einmal langsamer durch.

Einen Augenblick nur verspürte er heftigen Zorn über diesen neuen Zwischenfall, der sie zwang, ihre Pläne — seine und Gwens — für Neapel aufzuschieben. Dann besann er sich aber. Die augenblickliche Situation duldete nur berufliche Sachlichkeit. Außerdem bedeutete das, was jetzt geschah, lediglich einen Aufschub von vielleicht vollen vierundzwanzig Stunden nach ihrer Rückkehr auf Lincoln; irgendwann würde der Flug ja stattfinden. Er kam nicht auf den Gedanken, daß die Bombendrohung vielleicht nicht so schnell beseitigt werden oder nicht so friedlich ausgehen könnte wie die meisten anderen.

Anson Harris auf dem Platz neben Demerest hielt das Flugzeug weiter in einer weitausholenden Wendung und legte es nur ganz flach in die Kurve. Es war eine perfekte Wendung, exakt durchgeführt, wie es der Nadelkompaß vor jedem der Piloten anzeigte. Er war der Großvater unter den Fluginstrumenten, der auch in modernen Düsenmaschinen benutzt wurde, so, wie er schon in viel früheren Flugzeugen in Gebrauch gewesen war. Die Nadel war gekippt, die Kugel mitten im Zentrum. Aber nur Nadelkompaß und Kreiselkompaß verrieten das Ausmaß der Schwenkung — daß Flug Zwei den Kurs um hundertachtzig Grad änderte. Harris hatte erklärt, die Passagiere würden die Kursveränderung nicht bemerken, und er würde recht behalten — wenn nicht irgend jemand aus einem Kabinenfenster blickte, der zufällig mit den Bahnen von Mond und Sternen und ihren Stellungen am westlichen und östlichen Himmel vertraut war. Dann konnte man die Änderung bemerken. Doch das war ein Risiko, das eingegangen werden mußte. Glücklicherweise sorgte die Verdunklung des Bodens durch Wolken dafür, daß niemand Städte wahrnehmen und erkennen konnte. Nun begann Harris vorsichtig tieferzugehen, und die Nase des Flugzeugs senkte sich leicht. Mit äußerster Behutsamkeit drosselte er die Motoren, damit ihre Geräusche sich nicht stärker änderten, als üblich ist. Harris war konzentriert, er flog mit Lehrbuchexaktheit und kümmerte sich nicht um Gwen und Demerest. Gwen gab die Mitteilung zurück.

»Ich möchte folgendes«, erklärte ihr Demerest: »Gehen Sie nach hinten, und machen Sie diesen Mann ausfindig. Stellen Sie fest, ob der Koffer irgendwo zu sehen ist und ob eine Möglichkeit besteht, ihn ihm wegzunehmen. Sie verstehen, daß von uns keiner nach hinten gehen kann — wenigstens vorläufig nicht —, weil er sonst mißtrauisch werden könne.«

»Gewiß«, sagte Gwen, »das verstehe ich. Aber ich brauche gar nicht erst zu gehen.«

»Warum nicht?«

Ganz ruhig sagte sie: »Ich weiß schon, wo er sitzt. Auf Platz 14-A.«

Demerest sah sie scharf an. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß es von größter Wichtigkeit ist. Wenn Sie irgendwelche Zweifel haben, gehen Sie besser zurück und vergewissern Sie sich.«

»Ich habe keine Zweifel.«

Vor einer Stunde sei sie, erklärte Gwen, nachdem sie das Essen für die Erste Klasse serviert habe, in die Touristenklasse gegangen, um dort zu helfen. Einer der Passagiere — auf einem Fensterplatz links — sei im Halbschlaf gewesen. Als Gwen ihn angesprochen habe, sei er sofort wach geworden. Er habe ein Köfferchen auf den Knien gehalten, und Gwen habe ihm angeboten, ihn davon zu befreien oder es auf den Boden zu stellen, während er esse. Der Passagier habe das abgelehnt und das Köfferchen weiter auf den Knien gehalten. Ihr sei aufgefallen, daß er es festhielt, als ob etwas besonders Wichtiges darin wäre. Und später, statt es abzusetzen und die Tischplatte hinter dem vorderen Sitz herunterzuklappen, habe er es als Unterlage für sein Tablett benutzt. Gwen war an die Eigenheiten der Fluggäste gewöhnt und beachtete es nicht weiter. Aber jetzt entsann sie sich des Mannes genau.

»Ein anderer Grund, weshalb ich mich genau erinnere, ist der, daß er neben der schwarzfliegenden alten Dame sitzt.«

»Er hat einen Fensterplatz, sagen Sie?«

»Ja.«

»Das erschwert es, hinüberzugreifen und zuzupacken.« Demerest dachte an den Passus in der Mitteilung des Bezirksverkehrsleiters: »Falls Vermutung zutrifft, befindet sich der Abzug für Explosivstoff wahrscheinlich außen am Koffer, leicht erreichbar. Daher äußerste Vorsicht bei Versuch, Koffer gewaltsam wegzunehmen.« Er erriet, daß Gwen ebenfalls an diese Warnung dachte.

Zum ersten Male beeinträchtigte ein Gefühl, nicht der Angst, aber der Unsicherheit seine Überlegungen. Angst kam vielleicht später, aber jetzt noch nicht. Bestand die Möglichkeit, daß diese Bombendrohung sich als mehr als eine bloße Drohung herausstellen konnte? Vernon Demerest hatte über solche Situationen oft nachgedacht und gesprochen, aber niemals hatte er geglaubt, sie könnten einmal für ihn selbst wahr werden. Anson Harris war dabei, aus dem Kreisbogen ebenso sanft wieder herauszugleiten, wie er hineingegangen war. Sie flogen jetzt genau in entgegengesetzter Richtung.

Wieder erklang das Glockensignal. Demerest nickte zu Cy Jordan hinüber, der das Funkgerät einschaltete, sich meldete und dann eine Nachricht zu notieren begann. Anson Harris sprach wieder mit der Flugsicherung Toronto.

»Ich möchte wissen«, sagte Demerest zu Gwen, »ob irgendeine Möglichkeit besteht, die beiden anderen Personen neben Guerrero von ihren Plätzen wegzukriegen, so daß er in dem dreisitzigen Abschnitt allein wäre. Dann könnte vielleicht einer von uns von hinten kommen, sich vorbeugen und zupacken.«

»Das würde er bestimmt bemerken«, sagte Gwen nachdrücklich. »Da bin ich ganz sicher. Er ist sehr auf der Hut. Wenn wir die beiden anderen Leute von ihren Plätzen holen, gleichgültig unter welchem Vorwand, würde er merken, daß etwas im Gange ist, und wäre darauf gefaßt.«

Der Zweite Offizier reichte die Selcal-Mitteilung herüber, die er aufgenommen hatte. Sie kam vom F. V. L. Lincoln. Unter dem abgeschirmten Licht lasen Gwen und Demerest zusammen:

NEUE INFORMATION BESTÄTIGT FRÜHEREN VERDACHT, DASS SPRENGKÖRPER IM BESITZ VON PASSAGIER GUERRERO ALS HÖCHSTWAHRSCHEINLICH, WIEDERHOLE, HÖCHSTWAHRSCHEINLICH. PASSAGIER WOHL GEISTESGESTÖRT VERZWEIFELT. WIEDERHOLE FRÜHERE WARNUNG, MIT ÄUSSERSTER VORSICHT VORGEHEN! VIEL GLÜCK.

»Das hab ich gern«, sagte Cy Jordan. »Ist doch nett, daß sie uns das wünschen.«

Demerest sagte scharf: »Ruhe!« Sekundenlang herrschte — von den üblichen Geräuschen eines Cockpits abgesehen — Stille.

»Wenn es eine Möglichkeit gäbe«, sagte Demerest langsam, ». . . irgendeine Möglichkeit, ihn zu verleiten, den Koffer loszulassen, dann brauchten wir bloß ein paar Sekunden, um ihn in die Hände zu bekommen und wegzuschaffen. Wenn wir schnell wären, genügten zwei Sekunden.«

Gwen meinte: »Er wird ihn aber nie aus der Hand geben . . .«

»Ich weiß! Ich weiß! Ich denke ja nur nach.« Er machte eine Pause. »Wir wollen es noch einmal durchgehen. Da sitzen zwei Leute neben Guerrero, und dann kommt der Gang. Einer von ihnen . . .«

»Einer ist ein Mann, der auf dem äußeren Platz. In der Mitte sitzt die alte Dame, Mrs. Quonsett. Dann kommt innen Guerrero.«

»Oma sitzt also direkt neben Guerrero, direkt neben dem Koffer?« »Ja, aber was soll das nützen? Selbst wenn wir ihr etwas sagen, könnte sie unmöglich . . .«

Demerest fragte scharf: »Sie haben ihr doch noch nichts gesagt? Sie ahnt doch noch nicht, daß wir Bescheid wissen über sie?«

»Nein. Das sollte ich doch nicht.«

»Ich wollte nur sicher sein.«

Wieder herrschte Stille. Vernon Demerest konzentrierte sich, dachte nach, erwog Möglichkeiten. Schließlich sagte er zögernd: »Ich habe eine Idee. Vielleicht geht es nicht, aber im Augenblick haben wir wohl nichts Besseres. Also hören Sie mir zu, ich will Ihnen genau erklären, was zu tun ist.«

In der Touristenklasse von Flug Zwei hatten die meisten Passagiere ihr Essen beendet, und die Stewardessen räumten geschäftig die Tabletts ab. Die Abfütterung war heute abend schneller als sonst vonstatten gegangen. Das war auch darauf zurückzuführen, daß manche Passagiere infolge des verspäteten Starts im Flughafen gegessen und nun zu so fortgeschrittener Stunde das Essen abgelehnt oder nur daran genippt hatten.

Neben der Reihe mit den drei Plätzen, wo Mrs. Ada Quonsett immer noch mit ihrem neuen Freund, dem Oboisten, plauderte, fragte eine der Stewardessen, eine schnippische Blondine: »Darf ich ihr Tablett schon mitnehmen?«

»Ja bitte, Miss«, sagte der Oboist.

Mrs. Quonsett lächelte freundlich. »Ich danke Ihnen, meine Liebe, nehmen Sie meins auch. Es war sehr gut.«

Der finstere Mann neben Mrs. Quonsett trennte sich von seinem Tablett ohne Kommentar.

Da erst sah die kleine alte Dame die andere Stewardess im Gang stehen.

Mrs. Quonsett hatte sie schon ein paarmal vorher bemerkt und den Eindruck gehabt, sie sei wohl die Vorgesetzte der anderen Mädchen. Sie hatte tiefschwarzes Haar, ein anziehendes Gesicht mit hohen Backenknochen und sehr dunklen Augen, die im Augenblick fest und kühl auf Ada Quonsett gerichtet waren.

»Entschuldigen Sie, Madam. Darf ich einmal Ihren Flugschein sehen?«

»Meinen Flugschein? Nun, natürlich.« Mrs. Quonsett tat überrascht, obwohl sie sofort erriet, was hinter dem Ersuchen steckte. Offenbar wurde ihr Status als blinder Passagier entweder vermutet oder er war bekannt. Aber sie hatte nie schnell beigegeben, und auch jetzt war ihr Verstand an der Arbeit. Die Frage war nur: Wieviel wußte diese Person, Mrs. Quonsett öffnete ihre Handtasche und tat, als suche sie zwischen ihren Papieren. »Ich weiß, daß ich ihn eben noch hatte, meine Liebe. Er muß irgendwo hier stecken.« Mit dem unschuldigsten Ausdruck schaute sie auf. »Das heißt, wenn ihn der Mann an der Sperre, als ich an Bord ging, nicht noch hat. Vielleicht hat er ihn behalten, und ich habe es nicht bemerkt.«

»Nein«, sagte Gwen Meighen, »das tut er nie. Wenn es ein Schein für Hin und Zurück war, müßten Sie ja den Rückflugabschnitt haben.«

»Das ist aber wirklich sonderbar . . .« Mrs. Quonsett fummelte weiter in ihrer Handtasche herum.

Gwen fragte eisig: »Soll ich einmal nachsehen?« Von Beginn ihres Wortwechsels an hatte sie nichts von ihrer gewohnten Freundlichkeit gezeigt. Sie setzte hinzu: »Wenn in ihrer Tasche ein Flugschein ist, finde ich ihn. Wenn keiner drin ist, erspart das uns beiden Zeit.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Mrs. Quonsett schroff. Dann lenkte sie ein: »Ich weiß ja, Sie meinen es gut, meine Liebe, aber da drin sind persönliche Papiere. Als Engländerin sollten Sie die Privatsphäre achten. Sie sind doch Engländerin, nicht wahr?«

»Das spielt hier keine Rolle. Im Augenblick sprechen wir über Ihren Flugschein. Das heißt: darüber, ob Sie einen haben.« Gwens Stimme, etwas schärfer als üblich, war mehrere Reihen weit gut vernehmbar. Einige Passagiere wandten die Köpfe.

»Aber ich habe ja einen Flugschein. Fragt sich nur, wo er steckt.« Mrs. Quonsett lächelte verbindlich. »Aber daß Sie Engländerin sind, habe ich vom ersten Moment an gemerkt, als Sie zu sprechen anfingen. Bei so vielen Engländern — Menschen wie Ihnen, meine Liebe — klingt unsere Sprache wundervoll. Es ist ein Jammer, daß so wenige von uns Amerikanern das können. Mein verstorbener Mann sagte immer . . .«

»Das gehört nicht hierher. Wie ist es mit Ihrem Flugschein?«

Es fiel Gwen schwer, so grob und unfreundlich zu sein, wie sie es jetzt war. Unter anderen Umständen hätte sie mit der alten Frau klar und fest verhandelt, wäre dabei aber freundlich geblieben. Es widerstrebte Gwen auch, jemanden zu drangsalieren, der mehr als doppelt so alt war wie sie. Doch als sie das Cockpit verließ, hatte ihr Vernon Demerest klare und deutliche Anweisungen gegeben.

Mrs. Quonsett zeigte eine gewisse Empörung. »Ich habe viel Geduld mit Ihnen, junge Dame. Aber wenn ich meinen Schein finde, werde ich bestimmt etwas über Ihr Benehmen zu sagen haben . . .«

»Wirklich, Mrs. Quonsett?« Gwen sah, wie die alte Dame stutzte, als ihr Name fiel, und zum erstenmal zeigte sich etwas wie ein Erwachen hinter der sicheren Fassade. Gwen ließ nicht nach: »Sie sind doch Ada Quonsett, oder etwa nicht?«

Die kleine alte Dame betupfte ihre Lippen mit dem Spitzentuch, seufzte auf und sagte: »Da Sie es ja wissen, hat es keinen Sinn, es zu leugnen, oder?«

»Nein, denn wir wissen alles über Sie. Sie füllen ja eine ganze Akte bei uns, Mrs. Quonsett.«

Noch mehr Passagiere beobachteten jetzt die Szene und hörten zu. Zwei oder drei hatten die Plätze verlassen und waren näher getreten. Ihre Mienen drückten Sympathie für die alte Dame und Mißbilligung für Gwen aus. Der Mann auf dem Eckplatz, mit dem sich Mrs. Quonsett unterhalten hatte, als Gwen kam, schaltete sich verlegen ein: »Wenn da ein Mißverständnis vorliegt, kann ich vielleicht helfen . . .«

»Nein, da ist kein Mißverständnis«, sagte Gwen. »Reisen Sie mit der Dame zusammen?«

»Nein.«

»Dann besteht für Sie kein Grund, sich einzumischen, Sir.«

Bis jetzt hatte Gwen vermieden, den hinten am Fenster sitzenden Mann, von dem sie wußte, daß es Guerrero war, direkt anzusehen. Auch er hatte nicht zu ihr aufgesehen, obwohl sie an seiner Kopfhaltung bemerkte, daß er alles, was gesagt wurde, aufmerksam verfolgte. Doch stellte sie unauffällig fest, daß er immer noch das Köfferchen auf seinen Knien umklammert hielt. Bei dem Gedanken an den vermutlichen Inhalt des Koffers überkam sie plötzlich eine eiskalte Angst. Sie fühlte, daß sie im Vorgefühl von etwas Schrecklichem, das kommen würde, zitterte. Sie wollte fortlaufen, zurück ins Cockpit und Vernon sagen, er solle das selbst zu Ende bringen. Aber sie tat es nicht, und der Augenblick der Schwäche ging vorüber. »Ich sagte, wir wüßten alles über Sie, und das tun wir tatsächlich«, versicherte Gwen Mrs. Quonsett. »Sie sind heute abend als blinder Passagier auf einem unserer Flüge aus Los Angeles entdeckt worden. Sie waren unter Aufsicht genommen worden, aber es geläng Ihnen, zu entwischen. Dann haben Sie sich durch Lügereien an Bord dieses Flugs geschmuggelt.«

Die kleine alte Dame aus San Diego erwiderte heiter: »Wenn Sie schon so viel wissen oder zu wissen glauben, hat es keinen Zweck, darüber zu streiten.« Jetzt hatte es keinen Sinn mehr, sich Sorgen zu machen, fand sie. Schließlich hatte sie damit gerechnet, geschnappt zu werden; nun war es wenigstens erst dazu gekommen, nachdem sie ein Abenteuer und ein feines Abendessen hinter sich hatte. Außerdem, was schadet es schon? Wie die rothaarige Frau in Lincoln zugegeben hatte, zeigten die Fluggesellschaften blinde Passagiere nie an. Sie war aber doch neugierig, was nun kommen würde. »Kehren wir nun um?«

»Nein, so wichtig sind Sie nicht. Wenn wir in Italien landen, werden Sie dort den Behörden übergeben.« Vernon Demerest hatte Gwen instruiert, alle im Glauben zu lassen, Flug Zwei ginge weiter nach Rom, und ja nicht zu verraten, daß sie bereits eine Kehrtwendung gemacht hatten. Vor allem hatte er ihr auf die Seele gebunden, recht grob mit der alten Dame umzugehen, was Gwen gar nicht behagt hatte. Aber es war nötig gewesen, um auf den Passagier Guerrero Eindruck zu machen, damit Demerest seinen nächsten Schritt unternehmen konnte.

Obwohl Guerrero nichts davon ahnte — und falls es klappte, es erst erfahren würde, wenn es zu spät war, um etwas zu ändern —, fand diese Vorstellung allein seinetwegen statt.

»Sie müssen sofort mit mir kommen«, befahl Gwen Mrs. Quon-sett. »Der Kapitän hat einen Funkspruch über Sie bekommen und muß Bericht erstatten. Vorher aber will er mit Ihnen sprechen.«

Sie bat den Mann auf dem Eckplatz: »Würden Sie bitte diese Dame vorbeilassen?«

Zum ersten Male sah die alte Dame nervös aus. »Ich soll zum Kapitän kommen?«

»Ja, und er hat es nicht gern, wenn man ihn warten läßt.«

Zögernd schnallte Mrs. Quonsett ihren Sicherheitsgurt ab. Als der Oboist sich erhob und von seinem Platz trat, um sie vorbeizulassen, schritt sie unsicher in den Gang hinaus. Gwen packte sie beim Arm, schob sie vor sich her. Sie spürte geradezu alle die auf sie gerichteten feindlichen Blicke.

Sie widerstand dem Impuls, sich umzudrehen und nachzusehen, ob der Mann mit dem Koffer auch zusah.

»Ich bin Kapitän Demerest«, sagte Vernon Demerest. »Bitte kommen Sie herein — so weit vor wie möglich. Schließen Sie die Tür, Gwen. Wir wollen versuchen, ob wir uns alle hereinquetschen können.« Er lächelte Mrs. Quonsett an. »Leider entwerfen sie Pilotenkanzeln noch immer nicht groß genug, um Gäste dort zu empfangen.«

Die alte Dame aus San Diego blickte zu ihm ihn. Nach dem hellen Licht in der Passagierkabine, aus dem sie kam, waren ihre Augen noch nicht auf das Halbdunkel im Cockpit eingestellt. Das einzige, was sie ausmachen konnte, waren schattenhafte sitzende Gestalten, von Dutzenden rötlich glühender Zifferblätter umgeben. Aber die Freundlichkeit in der Stimme konnte nicht mißverstanden werden; ihr Ausdruck war so ganz anders, als das, was sie erwartet und wogegen sie sich gewappnet hatte.

Cy Jordan klappte die Armlehne seines Sitzes hinter Anson Harris in die Höhe. Ganz im Gegensatz zu ihrem Verhalten vor ein paar Minuten geleitete Gwen die alte Dame sanft zu diesem Sitz. Draußen war es immer noch ruhig, was die Kehrtwendung erleichterte. Obwohl sie an Höhe verloren hatten, waren sie doch noch weit über dem Sturm, und trotz der Geschwindigkeit von über fünfhundert Meilen je Stunde zog das Flugzeug leicht seine Bahn wie auf stiller, unbewegter See.

»Mrs. Quonsett«, begann Vernon Demerest, »was da draußen auch vor sich gegangen sein mag — denken Sie nicht mehr daran. Das ist auch nicht der Grund, weshalb wir Sie hierhergeholt haben.«

Er fragte Gwen: »Waren Sie auch richtig grob mit ihr?«

»Ja, leider.«

»Miss Meighen tat das auf meinen Befehl. Ich hatte es ihr genauso aufgetragen. Wir wußten, daß ein bestimmter Passagier aufmerksam werden und zuhören würde. Es sollte echt aussehen, damit es allen plausibel erschien, daß wir Sie herholten.«

Die große schattenhafte Gestalt, die von dem rechten Sitz sprach, wurde für Ada Quonsett allmählich deutlicher. Seinem Gesicht nach, soweit sie es sehen konnte, schien er ein netter Mann zu sein. Im Augenblick hatte sie noch keine Ahnung, wovon er da sprach. Sie sah sich um. In einem Cockpit war sie noch nie gewesen. Es war weit enger und kleiner, als sie angenommen hatte. Sehr warm war es auch, und die drei Männer, die sie nun sehen konnte, waren in Hemdsärmeln. Das war wieder einmal etwas, wovon sie in New York erzählen konnte — wenn sie hinkäme.

»Oma«, sagte der Mann, der sich als Kapitän vorgestellt hatte, »sind Sie sehr schreckhaft?«

Das war eine komische Frage, und sie dachte darüber nach, ehe sie antwortete. »Nicht so sehr, glaube ich. Ich werde ja manchmal nervös, aber nicht mehr so oft wie früher. Wenn man älter wird, gibt es nicht mehr so viel, worüber man erschrickt.«

Die Augen des Kapitäns sahen sie forschend an. »Ich habe beschlossen, Ihnen etwas zu erzählen und Sie um Ihre Hilfe zu bitten. Wir haben nicht viel Zeit, deshalb werde ich mich kurz fassen. Ich nehme an, Sie haben den Mann bemerkt, der in der Kabine neben Ihnen sitzt — auf dem Fensterplatz?«

»Den Dünnen mit dem kleinen Schnurrbart?«

»Ja«, sagte Gwen, »den meinen wir.«

Mrs. Quonsett nickte. »Das ist ein komischer Heiliger. Er will mit keinem reden, und er hat so einen kleinen Koffer bei sich, den er nicht aus der Hand gibt. Ich glaube, er hat irgendwelche Sorgen.«

»Wir haben auch Sorgen«, sagte Vernon Demerest in aller Ruhe. »Wir haben Grund zu der Annahme, daß er eine Bombe in dem Koffer hat. Wir wollen sie ihm wegnehmen, und dabei brauchen wir Ihre Hilfe.«

Hier vorn bei den Piloten zu sein, dachte Ada Quonsett, war ja schon eine Überraschung, aber das Überraschendste war doch wohl diese Bitte. Während des Schweigens, das auf Demerests Eröffnung folgte, hörte sie in einem über ihrem Platz angebrachten Lautsprecher eine Meldung ankommen.

»Trans America Zwei, hier Toronto Center. Ihre Position ist fünfzehn Meilen östlich von Kleinburg Leuchtfeuer. Melden Sie Flughöhe und Absichten.«

Der Mann auf dem anderen Vordersitz, auf der linken Seite, dessen Gesicht sie noch nicht gesehen hatte, antwortete: »An Toronto von America Zwei. Verlasse Flughöhe zwei neun null. Ersuchen weiter langsames Sinken, bis wir uns melden. Keine Änderung in Absicht zur Landung nach Lincoln zurückzukehren.«

»Verstanden, Trans America. Wir klaren Verkehr vor Ihnen. Sie können langsames Sinken fortsetzen.«

Ein dritter Mann an einem kleinen Tisch mit noch mehr Zifferblättern beugte sich zu dem, der geredet hatte, hinüber: »Nach meiner Berechnung in einer Stunde und siebzehn Minuten. Das heißt, auf Grund der angesagten Winde. Wenn die Front aber schneller als erwartet weitergekommen ist, kann es auch früher sein.«

»Wir fliegen also zurück, nicht wahr?« Mrs. Quonsett fiel es schwer, die Aufregung in ihrer Stimme zu verbergen.

Demerest nickte. »Sie sind der einzige an Bord, der das weiß, außer uns selbst, und Sie müssen es streng geheimhalten. Vor allem darf Guerrero — das ist der Mann mit dem Koffer — es nicht merken.«

Ada Quonsett verschlug es die Rede. Erlebte sie das wirklich? Es war alles so aufregend, richtig wie im Fernsehen. Man konnte geradezu Angst kriegen, aber sie beschloß, nicht weiter daran zu denken. Hauptsache war: sie war hier, gehörte dazu, stand mit dem Kapitän auf Gleich und Gleich, teilte Geheimnisse. Was würde ihre Tochter wohl dazu sagen?

»Also, wollen Sie uns helfen?«

»Aber natürlich. Sie erwarten doch von mir, daß ich versuchen soll, ihm den Koffer wegzunehmen . . .«

»Nein!« Nachdrücklich beugte Demerest sich über die Rücklehne seines Sitzes und sagte betont: »Sie dürfen den Koffer nicht einmal berühren oder ihm auch nur zu nahe kommen.«

»Wenn Sie es sagen, werde ich es auch nicht tun.«

»Ja, ich sage es. Und denken Sie daran, wie wichtig es ist, daß Guerrero keinen Verdacht schöpft, daß wir etwas von seinem Koffer oder dem, was darin ist, wissen. Und jetzt will ich, wie ich es vorhin auch bei Miss Meighen getan habe, Ihnen genau sagen, was Sie zu tun haben, wenn Sie wieder in der Kabine sind. Bitte passen Sie genau auf.« Als er zu Ende war, erlaubte sich die alte Dame aus San Diego ein leichtes, kurzes Lächeln. »Ja, gut. Ja, ich glaube, das werde ich schaffen.«

Sie stand von ihrem Platz auf, und Gwen öffnete bereits die Tür des Cockpits, als Demerest fragte: »Dieser Flug von Los Angeles, auf dem Sie sich versteckt hatten — man hat mir gesagt, Sie hätten versucht, nach New York zu kommen. Warum?«

Sie erzählte ihm, daß sie sich manchmal an der Westküste einsam fühle und dann ihre verheiratete Tochter im Osten besuchen wolle.

»Oma«, sagte Vernon Demerest, »wenn Sie diese Geschichte schaffen, garantiere ich Ihnen persönlich, daß nicht nur jede Schwierigkeit behoben wird, in der Sie gerade stecken, sondern daß unsere Fluggesellschaft Ihnen einen Freiflugschein Erster Klasse nach New York und zurück gibt.«

Mrs. Quonsett war so gerührt, daß sie beinahe weinte.

»Oh, vielen Dank! Vielen Dank!« Zum ersten Male fiel es ihr schwer zu sprechen. Was für ein bemerkenswerter Mann, dachte sie, so ein freundlicher, lieber Mann.

Ihre echte Bewegtheit half Mrs. Quonsett, nachdem sie die Pilotenkanzel verlassen hatte und den Weg durch die Kabine Erster Klasse zurück in die Touristenklassekabine wankte. Gwen Meighen hatte sie fest am Arm gepackt und schob sie vor sich her, wobei die alte Dame sich mit ihrem Spitzentüchlein die Augen betupfte und eine tränenreiche, glaubwürdige Darstellung absoluter Verzweiflung bot. Unter ihren Tränen fast schmunzelnd, dachte sie, daß dies heute abend ihre zweite Vorstellung war. Die erste hatte sie im Flughafen für den jungen Passagierbetreuer Feter Coackley gegeben, als sie ihm gegenüber so tat, als ob sie krank wäre. Dabei war sie überzeugend gewesen — warum sollte sie es diesmal nicht auch sein?

Die Vorstellung war so überzeugend, daß ein Passagier Gwen erregt fragte: »Miss, gleichgültig, was die alte Dame getan hat — ist das ein Grund, so grob zu ihr zu sein?«

Gwen erwiderte im Bewußtsein, daß sie bereits in Hörweite dieses Guerrero war, abweisend: »Mischen Sie sich bitte nicht ein, Sir!«

Als sie in die Touristenkabine traten, schloß Gwen den Vorhang zu dem Durchgang zwischen der Kabine Erster Klasse und der Touristenkabine. Das war ein Teil von Vernons Plan. Sie blickte durch das Flugzeug zurück nach vorn und erkannte, daß die Tür der Pilotenkanzel nur angelehnt war. Sie wußte, daß Vernon dahinter wartete und sie beobachtete. Sobald der Vorhang zwischen den beiden Abteilungen geschlossen war, würde Vernon nach hinten kommen und hinter dem Vorhang stehen bleiben, um durch einen Spalt, den Gwen absichtlich offen gelassen hatte, weiterzubeobachten. Wenn der geeignete Augenblick gekommen war, würde er den Vorhang beiseite reißen und vorstürzen.

Bei dem Gedanken, was in den nächsten paar Minuten geschehen würde — wie es auch immer ausgehen mochte —, überfiel Gwen wieder eine kalte Angst, eine schreckliche Vorahnung. Und wieder konnte sie sie überwinden. Sie hielt sich ihre Verantwortung für die Besatzung und die anderen Passagiere — die von dem Drama, das sich in ihrer Mitte abspielte, keine Ahnung hatten —, vor Augen und begleitete Mrs. Quonsett das letzte Stück bis zu ihrem Platz.

Der Passagier Guerrero blickte kurz auf und sah dann wieder weg. Gwen sah den kleinen Aktenkoffer noch an der gleichen Stelle auf seinen Knien, wo seine Hände ihn festhielten. Der Mann auf dem Außenplatz neben Mrs. Quonsett, der Oboist, stand auf, als sie näher kamen. Sein Ausdruck verriet Mitgefühl, und er trat beiseite, um die alte Dame vorbeizulassen. Unauffällig stellte Gwen sich vor ihn und verstellte ihm den Rückweg. Der Sitz am Mittelgang mußte unbesetzt bleiben, bis Gwen den Weg freigab. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie durch den Spalt, den sie im Vorhang aufgelassen hatte, eine Bewegung. Vernon Demerest hatte seinen Posten bezogen und stand bereit.

»Bitte!« Noch im Mittelgang stehend wandte sich Mrs. Quonsett unter Tränen bittend an Gwen. »Ich flehe Sie an! Bitten Sie den Kapitän, es sich noch einmal zu überlegen. Ich möchte nicht der italienischen Polizei übergeben werden . . .«

Gwen erwiderte schroff: »Daran hätten Sie früher denken sollen. Außerdem kann ich dem Kapitän nicht vorschreiben, was er zutun hat.«

»Aber Sie können ihn bitten! Auf Sie wird er hören.«

D. O. Guerrero wandte den Kopf. Er nahm die Szene in sich auf, dann blickte er wieder fort. Gwen faßte die alte Dame am Arm. »Setzen Sie sich jetzt endlich hin!«

Ada Quonsetts Stimme bekam einen hohen, schrillen Klang. »Ich bitte doch nur darum, zurückgebracht zu werden. Übergeben Sie mich hier der Polizei, nicht in einem fremden Land.«

Der Oboist hinter Gwen protestierte: »Sehen Sie denn nicht, daß die alte Dame völlig verzweifelt ist, Miss?«

Gwen entgegnete schärf: »Halten Sie sich bitte heraus. Diese Frau hat hier nichts zu suchen. Sie ist ein blinder Passagier.«

Empört sagte der Oboist: »Das ist mir völlig gleichgültig. Auf jeden Fall ist sie eine alte Dame.«

Gwen ignorierte ihn und gab Mrs. Quonsett einen Stoß, von dem sie taumelte. »Wollen Sie jetzt hören! Setzen Sie sich, und seien Sie still!«

Mrs. Quonsett ließ sich in ihren Sitz sinken. Sie schrie: »Sie haben mir weh getan! Sie haben mir weh getan!«

Verschiedene Passagiere hatten sich von ihren Plätzen erhoben und protestierten.

D. O. Guerrero starrte weiter geradeaus. Gwen sah, daß seine Hände nach wie vor den Aktenkoffer fest umklammerten.

Mrs. Quonsett stieß wieder einen Klagelaut aus.

Gwen sagte kalt: »Sie sind hysterisch.« Sie verabscheute, was sie tun mußte, beugte sich aber scheinbar eiskalt zwischen den Sitzen vor und schlug Mrs. Quonsett fest ins Gesicht. Das Klatschen hallte in der Kabine wider. Die Passagiere hielten erschrocken den Atem an. Mit ungläubigen Gesichtern tauchten zwei der anderen Stewardessen auf. Der Oboist packte Gwens Arm. Hastig machte sie sich von ihm frei.

Was jetzt geschah, ereignete sich so schnell, daß selbst diejenigen, die dem Schauplatz am nächsten waren, die Reihenfolge nicht deutlich erkannten.

Mrs. Quonsett wandte sich auf ihrem Platz nach links D. O. Guerrero zu. Sie flehte ihn an:»Helfen Sie mir! Bitte helfen Sie mir, Sir.« Mit starrem Gesicht ignorierte er sie.

Von Angst und Schmerz anscheinend überwältigt, streckte sie die Arme nach ihm aus und schlang sie hysterisch um seinen Hals. »Bitte, bitte!«

Guerrero drehte seinen Körper von ihr ab und versuchte sich zu befreien. Es gelang ihm nicht. Statt dessen schlang Ada Quonsett ihre Arme noch fester um seinen Hals. »Oh, helfen Sie mir!«

Mit rotem Gesicht und dem Ersticken nahe, hob D. O. Guerrero beide Hände, um sich von ihr loszureißen. Wie in einem demütigen Gebet löste Ada Quonsett ihren Griff und erfaßte seine Hände.

Im gleichen Augenblick beugte sich Gwen Meighen zu den inneren Sitzen vor. Sie streckte die Hände aus und erfaßte mit einer einzigen glatten Bewegung, fast ohne Hast den Aktenkoffer, und nahm ihn von Guerreros Knien fort. Im nächsten Augenblick war das Köfferchen frei und im Mittelgang. Zwischen Guerrero und dem Aktenkoffer bildeten Gwen und Ada Quonsett eine solide Barriere.

Der Vorhang vor dem Durchgang zur Kabine Erster Klasse wurde aufgerissen. Vernon Demerest, groß und imposant in seiner Uniform, trat schnell heraus.

Sein Gesicht zeigte Erleichterung. Er streckte die Hand nach dem Aktenkoffer aus. »Gut gemacht, Gwen, gib ihn mir.«

Unter normalen Umständen wäre der Vorfall, abgesehen davon, daß man später mit Guerrero hätte fertigwerden müssen, damit abgeschlossen gewesen. Daß es nicht dazu kam, war einzig auf Marcus Rathbone zurückzuführen.

Bis zu diesem Augenblick war Rathbone ein unbekannter, unbeachteter Passagier gewesen, der Sitz 14-D auf der anderen Seite des Mittelgangs einnahm. Obwohl er den anderen nicht weiter auffiel, war er ein selbstgefälliger, anmaßender Mensch, der eine hohe Meinung von sich hatte. Er war in der kleinen Stadt in Iowa, in der er lebte, ein kleinerer Geschäftsmann, den seine Nachbarn als »Querulant« bezeichneten. Was auch andere in der Gemeinde taten oder anregten: Marcus Rathbone erhob Einwände. Seine Einwände, groß und klein, waren legendär. Sie richteten sich gegen die Auswahl der Bücher für die Stadtbibliothek, den Plan für Gemeinschaftsantennen in der Gemeinde, die erforderliche Bestrafung seines Sohnes auf der Schule, die Farbe zum Anstrich eines öffentlichen Gebäudes. Kurz vor Antritt seiner gegenwärtigen Reise hatte er einen Vorschlag zur Beschilderung, der das Bild der Hauptstraße der Stadt verschönern sollte, zu Fall gebracht. Und bei all seiner gewohnheitsmäßigen Stänkerei war nie bekanntgeworden, daß von ihm ein konstruktiver Vorschlag gekommen wäre.

Eine weitere Absonderlichkeit von Marcus Rathbone war, daß er Frauen verabscheute, einschließlich seiner eigenen. Keiner seiner Proteste war je zu ihren Gunsten erfolgt. Infolgedessen hatte ihn die gerade erfolgte Demütigung von Mrs. Quonsett auch nicht berührt, wohl aber, daß Gwen Meighen D. O. Guerreros Aktenkoffer an sich brachte.

Für Marcus Rathbone war das Behördenterror in Uniform — und auch noch von einer Frau! —, durch den die Rechte gewöhnlicher Reisender, wie er selbst, beeinträchtigt wurden. Empört erhob Ratbone sich von seinem Platz und baute sich zwischen Gwen und Vernon Demerest auf. Im gleichen Augenblick gelang es D. O. Guerrero, mit hochrotem Gesicht und zusammenhanglose Worte ausstoßend, sich von seinem Sitz zu erheben und sich aus Ada Quonsetts Griff zu befreien. Als er den Mittelgang erreichte, entriß Marcus Rathbone Gwen das Köfferchen und reichte es mit einer höflichen Verbeugung Guerrero, der es wie ein wildes Tier mit Wahnsinn in den Augen packte.

Vernon Demerest warf sich vor, aber es war zu spät. Er versuchte Guerrero zu erreichen, aber die Enge des Mittelgangs und die ihm im Wege stehenden Personen — Gwen, Rathbone und der Oboist — behinderten ihn. D. O. Guerrero hatte sich an den anderen vorbeigedrängt und lief im Flugzeug nach hinten. Andere Passagiere erhoben sich nun auch von den Sitzen. Verzweifelt schrie Demerest: »Haltet den Mann fest! Er hat eine Bombe!«

Dieser Ruf löste Schreie aus und einen Zustrom von den Sitzen in den Mittelgang, der ihn noch mehr blockierte. Nur Gwen Meighen gelang es durch Stoßen, Schlagen und Drängen dicht hinter Guerre-ro zu bleiben.

Am Ende der Kabine drehte Guerrero sich um. Immer noch ein wildes Tier, aber jetzt ein in die Enge getriebenes. Alles, was sich zwischen ihm und dem Schwanz des Flugzeuges befand, waren die drei hinteren Toiletten. Leuchtzeichen zeigten an, daß zwei frei waren und eine besetzt. Mit dem Rücken zu den Toiletten hielt Guerrero den Aktenkoffer vor sich, die eine Hand am Griff, die andere an der Schnur, die jetzt unter dem Griff zu sehen war. Mit gepreßter Stimme, irgendwo zwischen einem Flüstern und einem Knurren, warnte er: »Bleibt, wo ihr seid. Kommt nicht näher!«

Über die Köpfe der anderen hinweg schrie Vernon Demerest wieder: »Guerrero, hören Sie auf mich! Verstehen Sie mich? Hören Sie doch!«

Für eine Sekunde herrschte Stille, in der sich niemand regte. Das einzige Geräusch war das stetige gedämpfte Dröhnen der Düsenmotoren des Flugzeugs. Blinzelnd starrte Guerrero die anderen mit argwöhnisch wandernden Augen an.

»Wir wissen, wer Sie sind«, rief Demerest ihm zu. »Und wir wissen, was Sie beabsichtigen. Wir wissen von der Versicherung und von der Bombe. Und unten auf der Erde wissen sie es auch. Das bedeutet: Ihre Versicherung ist nichts wert. Verstehen Sie das? Ihre Versicherung ist ungültig, gestrichen, wertlos. Wenn Sie die Bomben auslösen, töten Sie sich umsonst. Niemand wird etwas gewinnen. Am wenigsten Ihre Familie. Ihre Familie wird sogar verlieren, denn ihr wird die Schuld zugeschrieben, und sie wird verfolgt. Hören Sie auf mich! Denken Sie nach!«

Eine Frau schrie auf. Guerrero zögerte immer noch.

Vernon Demerest drängte: »Guerrero, lassen Sie diese Leute sich hinsetzen, dann können wir sprechen, wenn Sie wollen. Sie können mir Fragen stellen. Ich verspreche Ihnen, daß Ihnen niemand zu nahe kommt, solange Sie es nicht wollen.«

Demerest überlegte: Wenn er Guerreros Aufmerksamkeit lange genug fesselte, wurde der Mittelgang vielleicht freigegeben. Danach konnte er Guerrero vielleicht überreden, ihm den Koffer auszuhändigen. Wenn er sich weigerte, bestand immer noch die Chance, daß Demerest vorstürzte, sich auf Guerrero warf und ihm den Aktenkoffer entwand, ehe die Zündung ausgelöst werden konnte. Es war ein ungeheures Risiko, aber eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Die Leute wichen ängstlich auf ihre Sitze zurück.

»Nachdem Sie jetzt wissen, Guerrero, daß es Ihnen nichts mehr nützt, fordere ich Sie auf, mir diesen Koffer zu geben.« Demerest versuchte überzeugend zu klingen, er spürte, wie wichtig es war, weiterzusprechen. »Wenn Sie tun, was ich Ihnen sage, gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, daß Ihnen niemand in diesem Flugzeug etwas tun wird.«

In D. O. Guerreros Augen spiegelte sich Furcht. Er feuchtete seine dünnen Lippen mit der Zunge an. Gwen Meighen stand ihm am nächsten.

Demerest sagte ruhig: »Halten Sie sich zurück, Gwen, Versuchen Sie einen Sitzplatz zu finden.« Wenn er vorspringen mußte, wollte er niemand im Weg haben.

Hinter Guerrero öffnete sich die Tür der besetzten Toilette. Ein eulenhafter junger Mann mit einer dicken Brille kam heraus. Er hielt inne und blinzelte kurzsichtig. Offensichtlich hatte er nichts von dem gehört, was vorgegangen war.

Einer der Passagiere schrie ihm zu: »Packen Sie den Kerl mit dem Koffer! Er hat eine Bombe!«

Beim ersten Klicken der Toilettentür drehte Guerrero sich halb um. Jetzt stieß er den Mann mit der Brille beiseite und stürzte in die Toilette, die der Neuankömmling freigegeben hatte.

Als Guerrero sich bewegte, bewegte sich auch Gwen Meighen und blieb dicht hinter ihm. Vernon Demerest, einige Meter entfernt, kämpfte sich durch den noch immer gedrängten vollen Gang nach hinten.

Die Toilettentür schloß sich, als Gwen sie erreichte. Sie stellte einen Fuß dazwischen und drückte dagegen. Ihr Fuß verhinderte, daß die Tür sich völlig schloß, aber sie konnte sie nicht bewegen. Ein scharfer Schmerz schoß durch ihren Fuß, während sie Guer-reros Gewicht spürte, der sich verzweifelt gegen die andere Seite der Tür stemmte.

Während der letzten Minuten war in D. O. Guerreros Kopf nichts anderes als wallender Nebel gewesen. Weder hatte er völlig begriffen, was vorgegangen war, noch hatte er alles gehört, was De-merest gesagt hatte. Eines jedoch war durchgedrungen. Er erkannte, daß, wie so viele seiner großartigen Pläne, auch dieser fehlgeschlagen war. Irgendwo hatte er auch dies, wie alles — was er versuchte —, verpatzt. Sein ganzes Leben war ein einziges Versagen gewesen. Voller Erbitterung erkannte er, daß auch sein Tod ein Fehlschlag sein würde.

Mit dem Rücken stemmte er sich gegen die Innenseite der Toilettentür. Er spürte den Druck dagegen und wußte, daß dieser Druck sich jeden Augenblick verstärken würde und er die Tür nicht länger geschlossen halten konnte. Verzweifelt fummelte er an dem Aktenkoffer, griff nach der Schnur unter dem Griff, die das Stück Kunststoff lösen, den Kontakt an der Wäscheklammer schließen und das Dynamit zur Explosion bringen würde. Noch als er die Schnur fand und daran zog, fragte er sich, ob die Bombe, die er gemacht hatte, nicht auch versagen würde.

Im letzten Sekundenbruchteil seines Lebens und seines Bewußtseins erfuhr D. O. Guerrero, daß sie nicht versagte.

10

Die Explosion an Bord von Flug Zwei der Trans America, The Golden Argosy, erfolgte blitzschnell, war ungeheuerlich und vernichtend. Im beengten Raum der Maschine schlug sie mit dem Getöse von hundert Donnerschlägen, einem Flammenmeer und der Wucht eines gigantischen Schmiedehammers zu.

D. O. Guerrero war auf der Stelle tot, sein Körper, dicht bei dem Explosionsherd, wurde völlig zerfetzt. In diesem Augenblick existierte er noch, im nächsten waren nur noch einige wenige kleine blutige Fetzen von ihm übrig.

Der Rumpf des Flugzeugs wurde aufgerissen.

Gwen Meighen, die neben Guerrero der Explosion am nächsten war, wurde von deren Gewalt im Gesicht und an der Brust getroffen.

Einen Sekundenbruchteil nachdem die Dynamitladung die Außenhaut der Maschine aufgerissen hatte, trat in der Kabine die Dekompression ein. Mit einem zweiten donnernden Tosen und der Gewalt eines Tornados schoß die Luft in die Maschine, die bis dahin unter normalem Druck gehalten worden war, durch die aufgerissene Rumpfhülle und verteilte sich in der dem Vakuum nahen dünnen Außenluft. Durch die Passagierkabine fegte eine dunkle, alles verhüllende Staubwolke nach hinten. Wie von einem Strudel mitgerissen, flog jeder lose Gegenstand, ob leicht oder schwer, Zeitungen, Tabletts, Flaschen, Kaffeekannen, Handgepäck, Kleidungsstücke, das Eigentum der Passagiere, in einem Wirbel durch die Luft, wie von einem riesigen Staubsauger angesogen. Vorhänge rissen ab, Zwischentüren zur Pilotenkanzel, zur Galley und zu den Toiletten wurden aus den Angeln gerissen und mit allem anderen nach hinten gefegt.

Mehrere Passagiere wurden getroffen. Andere, die nicht an ihren Sitzen festgeschnallt waren, klammerten sich an jeden Halt, der sich bot, um von dem Luftstrom und der Saugkraft nicht unwiderstehlich mit nach hinten gerissen zu werden.

In der ganzen Maschine klappten über jedem Sitz Notbehälter auf. Gelbe Sauerstoffmasken schwankten herab; jede war durch einen kurzen Kunststoffschlauch mit der zentralen Sauerstoffversorgung verbunden.

Unvermittelt ließ der saugende Zug nach. Das Innere des Flugzeugs wurde von Dunst und einer wild beißenden Kälte erfüllt. Der Lärm der Motoren und der Zugluft war ohrenbetäubend.

Vernon Demerest stand noch im Mittelgang der Touristenkabine, wo er sich instinktiv an einer Rückenlehne festgeklammert hatte, und brüllte: »Sauerstoffmasken anlegen!« Er griff nach einer der Masken für sich selbst.

Aus Kenntnis und durch Ausbildung erkannte Demerest das, was die meisten nicht konnten: Die Luft in der Kabine war jetzt so dünn wie die Außenluft und genügte nicht zum Atmen. Nur fünfzehn Sekunden volles Bewußtsein blieben jedem, falls nicht sofort durch die Notanlage der Maschine Sauerstoff eingeatmet wurde.

Selbst mit der Hilfe von Sauerstoff konnte innerhalb von fünf Sekunden eine Verminderung des Urteilsvermögens eintreten. Nach weiteren fünf Sekunden würde ein Zustand der Euphorie viele veranlassen, auf den Sauerstoff völlig zu verzichten; gleichgültig würden sie in Bewußtlosigkeit versinken.

Die Fluggesellschaften waren seit langer Zeit von Leuten, die die Gefahr einer Dekompression beurteilen konnten, dazu gedrängt worden, vor dem Abflug klarere Erklärungen über die Ausrüstung mit Sauerstoffmasken abzugeben als bisher. Die Begründung lautete, den Passagieren müsse gesagt werden: »Sobald eine Sauerstoffmaske vor ihnen erscheint, greifen Sie nach ihr, drücken Sie sie sich gegen das Gesicht, und fragen Sie später nach den Gründen. Wenn eine echte Dekompression eintritt, haben Sie keine Sekunde zu verlieren. Im Falle eines falschen Alarms können Sie sie später wieder abnehmen; inzwischen kann Sie Ihnen nicht schaden.«

Piloten, die sich Dekompressionstests unterzogen, wurde eine simple Demonstration der Wirkung des Mangels an Sauerstoff in großen Höhen gegeben. In einer Dekompressionskammer, mit einer Sauerstoffmaske ausgerüstet, wurden sie aufgefordert, ihren Namen zu schreiben. Und während des Experiments wurden ihnen die Masken abgenommen. Die Unterschriften zerflossen in ein Gekrakel oder in nichts. Ehe die Bewußtlosigkeit eintrat, wurden die Masken wieder angelegt.

Den Piloten fiel es nachher schwer zu glauben, was sie vor sich sahen. Dennoch bestanden die Fluggesellschaften in der Annahme, daß eindeutigere Anweisungen über den Gebrauch der Sauerstoffmasken bei den Passagieren Unruhe auslösen konnten, darauf, vor dem Abflug nur unverfängliche Anweisungen zu geben. Lächelnde Stewardessen, die entweder gelangweilt oder amüsiert schienen, führten die Anlagen gleichgültig vor, während eine unsichtbare Stimme, die hetzte, um vor dem Start fertig zu werden, Phrasen wie die folgende herunterplapperte: Indem unwahrscheinlichen Fall, daßundVorschriften der Regierung verlangen, daß wir Sie unterrichten. Niemals wurde auf die Dringlichkeit hingewiesen, wie schnell die Geräte in einem Notfall benutzt werden mußten.

Infolgedessen waren die Passagiere gegenüber den Sauerstoffgeräten ebenso gleichgültig, wie die Fluggesellschaften und ihr Personal es zu sein schienen. Die Klappen über ihren Köpfen und die eintönigen, immer wieder gleichen Demonstrationen waren etwas, fanden die Passagiere, das sich eine Gesellschaft von vorschriftswütigen Beamten ausgedacht hatte, und gähnten! Das Ganze war weitgehend eine Albernheit, auf der die gleiche Sorte Menschen bestand, die Einkommensteuern eintrieben und Spesenabrechnungen nicht anerkannten. Was sollte es also?

Bei normalen Flügen öffneten sich manchmal zufällig die Behälter der Sauerstoffmasken, und die Masken tauchten vor den Passagieren auf. Wenn das geschah, starrten die meisten Fluggäste die Masken neugierig an, trafen aber keine Anstalten, sie anzulegen. Genau diese Reaktion war an Bord von Flug Zwei eingetreten, ob wohl es sich um einen echten Katastrophenfall handelte.

Vernon Demerest sah die Reaktion und erinnerte sich mit plötzlich aufwallender Wut an seine und anderer Piloten Kritik gegen die pflaumenweichen Hinweise auf die Sauerstoffanlage. Ihm blieb aber keine Zeit, eine weitere Warnung herauszuschreien oder auch nur an Gwen zu denken, die wenige Schritte entfernt tot sein oder im Sterben liegen konnte.

Nur eines war wichtig, irgendwie mußte er in die Pilotenkanzel zurückkommen und helfen, das Flugzeug zu retten, wenn es möglich war.

Tief atmete er Sauerstoff ein und überlegte, wie er durch das Flugzeug nach vorn kommen könne.

Über jeder Sitzreihe der Touristenkabine hatten sich vier Sauerstoffmasken herabgesenkt, eine für jeden Platz und eine zusätzliche als Reserve, nach der jeder greifen konnte, der gerade im Mittelgang stand. Demerest hatte nach einer der Reservemasken gegriffen.

Um aber zum Cockpit zu gelangen, mußte er seine Maske aufgeben und eine tragbare finden, die ihm erlaubte, sich frei zu bewegen.

Er wußte, daß weiter vorn in einem oben gelegenen Fach bei der Trennwand zur Kabine Erster Klasse zwei tragbare SauerstoffFlaschen untergebracht waren. Wenn er eine davon erreichte, würde sie ihm für den restlichen Weg von der Trennwand bis zur Pilotenkanzel genügen.

Sitzreihe um Sitzreihe bewegte er sich vorwärts und griff jedesmal nach der freihängenden Reservemaske. Einige Reihen vor sich bemerkte er, daß alle vier Masken von den dort sitzenden Passagieren benutzt wurden. Jeder der drei Fluggäste, darunter ein junges Mädchen, hatte eine Maske, die vierte Maske hielt das junge Mädchen vor das Gesicht eines Säuglings, der auf dem Nebensitz auf dem Schoß seiner Mutter lag. Das Mädchen schien den Befehl übernommen zu haben und winkte anderen in ihrer Nähe, das gleiche zu tun wie sie. Demerest wandte sich nach der anderen Seite, sah eine Reservemaske hängen und atmete tief Sauerstoff ein, ließ die Maske vor seinem Gesicht los und griff nach der freihängenden. Er schaffte es, und wieder atmete er tief Sauerstoff ein. Noch hatte er die halbe Länge der Touristenkabine vor sich.

Er machte einen weiteren Schritt, als er spürte, wie die Maschine scharf nach rechts abkippte und dann steil nach unten ging.

Demerest klammerte sich fest. Er wußte, daß er im Augenblick nichts tun konnte. Was als nächstes geschah, hing von zwei Dingen ab: wie groß die Beschädigung war, die die Explosion verursacht hatte, und dem Können von Anson Harris, der allein am Steuer der Maschine saß.

Im Cockpit waren die Ereignisse der letzten paar Sekunden mit noch geringerer Vorwarnung eingetreten als hinten. Nachdem Gwen Meighen und Mrs. Quonsett gegangen waren und Vernon Demerest ihnen folgte, hatten die beiden übrigen Besatzungsmitglieder — Anson Harris und der Zweite Offizier Cy Jordan — keine Ahnung, was hinter ihnen in der Passagierkabine vor sich ging, bis die Dynamitexplosion die Maschine erschütterte und einen Sekundenbruchteil später die explosive Dekompression erfolgte.

Wie die Passagierkabinen, erfüllte auch das Cockpit eine dichte dunkle Staubwolke, die fast augenblicklich abgesaugt wurde, als die Tür zur Pilotenkanzel aus Schloß und Angeln herausgerissen wurde. Alles, was in der Pilotenkanzel nicht befestigt war, wurde fortgerissen und mit dem von Trümmern beladenen Wirbel nach hinten gefegt.

Unter dem Tisch des Flugingenieurs begann eine Warnsirene aufzuheulen. Über den beiden Vordersitzen blitzten hellgelbe Lichter grell auf. Die Sirene und die Lichter signalisierten gefährlichen Unterdruck.

Ein feiner Dunst, tödlich kalt, trat an die Stelle der Staubwolke. Anson Harris spürte einen schmerzhaften Druck auf den Trommelfellen, doch noch vorher hatte er augenblicklich reagiert, die Wirkung vieler Jahre der Ausbildung und Erfahrung. Während des langen, mühsamen Aufstiegs zum Kapitänspatent für Verkehrsflugzeuge verbringen Piloten anstrengende Stunden in Lehrsälen und auf Simulatoren, studieren und üben sich in Flugsituationen, sowohl normalen als auch gefahrvollen. Die Absicht ist, sie zu jeder Zeit auf schnelle, richtige Reaktionen vorzubereiten.

Die Simulatoren standen auf allen wichtigen Flugbasen, und alle großen Fluggesellschaften besaßen sie. Von außen sah ein Simulator wie die Nase eines Flugzeugs aus, von dem der übrige Rumpf abgehackt war. Sein Inneres enthielt alles, was sich in einer normalen Pilotenkanzel befand.

Wenn Piloten einen Simulator betraten, blieben sie dort für Stunden eingeschlossen und ahmten genau die Bedingungen eines Langstreckenflugs nach. Sobald die äußere Tür geschlossen war, trat etwas Unheimliches ein. Selbst Bewegung und Geräusch waren vorhanden und schufen den physischen Eindruck des Fliegens. Alle Umstände glichen der Wirklichkeit. Auf einer Leinwand vor der vorderen Scheibe erschienen Flughäfen und Startbahnen, wurden größer oder verschwanden, um Starts und Landungen nachzubilden. Der einzige Unterschied zwischen der Pilotenkanzel eines Simulators und einer echten bestand darin, daß der Simulator niemals den Boden verließ.

Piloten im Simulator standen mit einem nahegelegenen Kontroll-raum über Funk in Verbindung wie in der Luft. In dem Kontroll-raum ahmten geübte Spezialisten die Tätigkeit der Flugsicherung und alle anderen Flugbedingungen nach. Diese Leute konnten auch ohne vorherige Warnung für die Piloten schwierige Situationen herbeiführen. Sie reichten von vielseitigen Motorschäden bis zu Feuer, von heftigem Unwetter über Versagen der elektrischen Anlage und Treibstoffmangel bis zu explosiven Dekompressionen und versagenden Instrumenten und einem Sortiment weiterer Unerfreulichkei-ten. Selbst ein Absturz konnte nachgebildet werden. Manchmal wurden Simulatoren umgekehrt benutzt, um festzustellen, was einen Absturz verursacht hatte.

Gelegentlich fütterte ein Tester gleichzeitig mehrere Notstände in den Simulator und verursachte, daß die Piloten nachher erschöpft und schweißgebadet auftauchten. Die meisten Piloten unterwarfen sich diesen Tests. Bei den wenigen, die sich weigerten, wurde diese Tatsache in ihren Personalakten vermerkt, sie wurden wieder und wieder geprüft und später scharf beobachtet. Die Tests im Simulator wurden mehrmals im Jahr während der Laufbahn eines Piloten in jedem Stadium bis zu seiner Pensionierung fortgesetzt.

Die Folge war: Wenn wirklich ein Notfall eintrat, wußten die Piloten genau, was sie zu tun hatten, und taten es, ohne zu zögern und kostbare Zeit zu verlieren. Das war einer der vielen Faktoren, die Reisen mit den Fluggesellschaften zum sichersten Verkehrsmittel in der menschlichen Geschichte machen. Dieser Faktor hatte auch Anson Harris zu sofortigem Handeln vorbereitet, das auf die Rettung von Flug Zwei abzielte.

Bei der Ausbildung für eine explosive Dekompression gab es eine Grundregel: Die Besatzung muß zuerst für sich selbst sorgen. Ver-non Demerest befolgte diese Regel; Anson Harris und Cy Jordan auch.

Sie mußten sofort Sauerstoff haben, sogar noch vor den Passagieren. Nachdem dann die vollen geistigen Fähigkeiten gesichert waren, konnten Entschlüsse gefaßt werden.

Hinter dem Sitz jedes Piloten hing eine schnell anzulegende Sauerstoffmaske, die der Schutzmaske eines Fängers beim Baseball glich. Wie er es zahllose Male geprobt hatte, riß sich Harris den Radiohörer vom Kopf und griff über die Schulter zurück nach der Maske. Er zerrte daran, damit die Halteklammer aufging, und stülpte sich die Maske über, die außer dem Anschlußschlauch an die Sauerstoffversorgung des Flugzeugs auch ein Mikrofon enthielt. Um zu hören, da er seinen Kopfhörer nicht mehr aufhatte, schaltete Harris jetzt einen über ihm befindlichen Lautsprecher ein.

Cy Jordan hatte hinter ihm mit ebenso schnellen Bewegungen das gleiche getan.

Mit einer weiteren Reflexbewegung sorgte Anson Harris für die Passagiere. Die Sauerstoffanlage für die Kabine arbeitete im Fall eines Versagens der Druckanlage automatisch. Doch aus Vorsicht — falls sie es nicht tun sollte, befand sich über den Köpfen der Piloten ein Hauptschalter, der die Freigabe der Masken für die Passagiere betätigte und die Sauerstoffzufuhr einschaltete, falls die Automatik versagte. Harris knipste den Schalter an.

Er ließ die rechte Hand auf die Gashebel fallen und riß alle vier zurück. Das Flugzeug wurde langsamer.

Es mußte noch langsamer werden.

Links von den Gashebeln befand sich der Handgriff für die Geschwindigkeitsdrosselung. Oben auf beiden Tragflächen richteten sich Bremsklappen auf, erhöhten den Luftwiderstand und verursachten eine weitere Verringerung der Geschwindigkeit.

Cy Jordan stellte die Warnsirene ab.

Bisher waren alle Handgriffe automatisch erfolgt. Jetzt war der Augenblick der Entscheidung gekommen.

Wesentlich war, daß das Flugzeug eine sichere Flughöhe weiter unten aufsuchte. Aus seiner gegenwärtigen Höhe von achtundzwan-zigtausend Fuß mußte es um rund dreieinhalb Meilen tiefer gehen, wo die Luft dichter war, damit die Passagiere und die Besatzung ohne zusätzlichen Sauerstoff atmen und überleben konnten.

Die Entscheidung, die Harris zu treffen hatte, war: Sollte der Abstieg langsam oder mit hoher Geschwindigkeit im Sturzflug erfolgen?

Bis vor etwa ein oder zwei Jahren lautete die Anweisung für die Piloten im Fall einer explosiven Dekompression: sofort in Sturzflug gehen. Tragischerweise hatte die Anweisung jedoch bei mindestens einem Flugzeug dazu geführt, daß es in der Luft zerbrach, während ein langsamer Abstieg es vielleicht gerettet hätte. Gegenwärtig wurden die Piloten gewarnt: Zuerst die strukturellen Schäden prüfen. Wenn der Schaden stark ist, kann er durch einen Sturzflug verschlimmert werden, folglich langsam absteigen.

Doch auch dieses Vorgehen hatte seine Gefahren. Anson Harris wurden sie augenblicklich klar.

Zweifellos hatte die Maschine strukturelle Schäden erlitten. Die explosive Dekompression bewies das, und die Explosion, die unmittelbar vorher erfolgt war — obwohl noch keine Minute vergangen war —, konnte bereits großen Schaden angerichtet haben. Unter anderen Umständen hätte Harris Cy Jordan nach hinten geschickt, um zu erfahren, wie stark die Beschädigung war, doch da Demerest sich bereits hinten befand, mußte Jordan bleiben.

Wie schwer jedoch der strukturelle Schaden auch sein mochte, ein anderer Faktor spielte mit, der womöglich noch bedeutender war. Die

Außentemperatur betrug fünfzig Grad Celsius unter Null. Der fast lähmenden Kälte nach zu urteilen, die Harris spürte, mußte die Innentemperatur jetzt nahezu die gleiche sein. In dieser scharfen Kälte konnte niemand ohne ausreichende Schutzkleidung länger als eine Minute leben.

Welches also war das geringere Risiko: mit Gewißheit zu erfrieren oder es zu wagen, schnell hinunterzugehen?

Harris traf eine Entscheidung, die sich nur durch spätere Ereignisse als richtig oder falsch erweisen konnte. Über das Bordtelefon rief er Cy Jordan zu: »Warnung an Flugsicherung! Gehen in Sturzflug!«

Im gleichen Augenblick legte Harris die Maschine steil nach rechts und fuhr das Fahrgestell aus. Daß er das Flugzeug auf die Seite legte, ehe er in den Sturzflug ging, würde zweierlei bewirken: Passagiere oder Stewardessen, die nicht auf Sitzen festgeschnallt waren oder standen, würden so durch die Zentrifugalkraft ihre gegenwärtige Stellung beibehalten, wogegen sie, wenn er gerade in den Sturzflug ging, gegen die Decke geschleudert würden. Die dabei erfolgte Wendung würde die Maschine auch aus der Flugschneise bringen, in der sie flog, und hoffentlich von anderen Flugzeugen unter ihnen entfernen. Das Ausfahren des Fahrgestells würde die Geschwindigkeit weiter verringern und den Sturzflug steiler machen.

Aus dem Lautsprecher konnte Harris Cy Jordans Stimme hören, der den Notruf anstimmte: »Mayday, mayday. Hier Trans America Zwei. Explosive Dekompression. Sind im Sturzflug.«

Harris stieß die Steuersäule scharf nach vorn. Über die Schulter schrie er: »Verlangen Sie zehn!« Cy Jordan fügte hinzu: »Anfordern zehntausend Fuß.«

Anson Harris stellte den Schalter der Radarübertragung auf 77 — ein S-O-S des Radars. Jetzt war auf allen Radarschirmen der Bodenstationen ein doppelt aufblühendes Signal zu sehen, das sowohl ihren Notstand als auch ihre Identität bestätigt.

Sie kamen schnell tiefer. Der Höhenmesser lief ab wie eine Uhr, deren Triebfeder durchdrehte — passierte die Marke für sechsundzwanzigtausend Fuß — für vierundzwanzig — für dreiundzwanzig. Das Meßgerät für Steigen und Hinuntergehen zeigte eine Abstiegsgeschwindigkeit von nahezu achttausend Fuß in der

Minute an . . . Toronto Air Route Center meldete sich im Lautsprecher: »Alle Höhen unter Ihnen frei. Melden Sie Ihre Absichten, wir bleiben dran.« — Harris war behutsam aus der Kurve herausgegangen und flog in gerader Richtung abwärts. — Er hatte keine Zeit, an die Kälte zu denken. Wenn er schnell genug herunterkam, konnten sie vielleicht überleben — falls das Flugzeug zusammenhielt. — Harris hatte schon Schwierigkeiten am Seiten- und Höhensteuer festgestellt. Die Steuerung ging stramm. Die Höhenruder reagierten nicht — einundzwanzigtausend Fuß — zwanzig — neunzehn. — Die Steuerung fühlte sich an, als ob das Leitwerk durch die Explosion beschädigt worden wäre; wie schwer die Beschädigung war, würden sie feststellen, wenn er in nicht einer Minute versuchen würde, den Sturzflug abzufangen. Das war der Augenblick der größten Belastung. Wenn irgendein wichtiges Teil im kritischen Augenblick versagte, würden sie weiter abstürzen . . . Harris wäre froh gewesen, von dem rechten Sitz Hilfe zu erhalten, aber es war zu spät für Cy Jordan, diesen Platz einzunehmen. Außerdem wurde der Zweite Offizier an seinem Platz gebraucht. Er mußte die Lufteinlaßöffnungen schließen, alle Wärme aufbringen, über die sie verfügten, und auf Schäden in der Treibstoffzufuhr und auf Feueralarm achten. — Achtzehntausend Fuß — siebzehn. — Wenn sie vierzehntausend erreichten, entschloß sich Harris, würde er beginnen, den Sturzflug abzufangen, und hoffte, die Maschine in zehntausend Fuß Höhe wieder waagerecht zu bringen. — Fünfzehntausend — vierzehn. — Jetzt vorsichtig abfangen.

Die Steuerung ging schwer, die Maschine reagierte aber — Harris zog die Steuersäule zurück. Der Flugwinkel wurde flacher, die Steuerflächen hielten, das Flugzeug kam aus dem Sturzflug heraus — zwölftausend Fuß. — Der Abstieg erfolgte jetzt langsamer — elf tausend — zehn, fünf — zehn!

Sie flogen gerade! Bisher hatte alles zusammengehalten. Hier war die normale Luft atembar und erhielt am Leben, zusätzlicher Sauerstoff war nicht mehr erforderlich. Das Thermometer für die Außentemperatur zeigte minus fünf Grad Celsius — fünf Grad unter dem Gefrierpunkt; immer noch kalt, aber nicht die mörderische Kälte der großen Höhen.

Vom Beginn bis zum Ende hatte der Sturzflug zweieinhalb Minuten gedauert.

Der Lautsprecher oben wurde lebendig: »Trans America Zwei. Hier Toronto Center. Wie steht es?«

Cy Jordan bestätigte, Anson Harris mischte sich ein. »Bei zehntausend Fuß im Geradeflug. Gehen in Richtung zwei sieben null zurück. Haben strukturellen Schaden durch Explosion. Ausmaß unbekannt. Erbitten Wetter und Informationen über Landebahnen — Toronto, Detroit Metropolitan und Lincoln.« In Gedanken hatte Harris sofort das Bild der Flughäfen vor Augen, die für eine Boeing 707 groß genug waren und den besonderen Anforderungen genügten, die er für eine Landung brauchte.

Vernon Demerest kletterte über die zerschmetterte Tür der Pilotenkanzel und andere Trümmer. Er kam schnell und glitt auf seinen Platz auf der rechten Seite.

»Wir haben Sie vermißt«, sagte Harris.

»Sind wir manövrierfähig?«

Harris nickte: »Wenn das Leitwerk nicht abbricht, können wir weiter Glück haben.« Er berichtete über das behinderte Seiten-und Höhenruder. »Hat da hinten jemand einen Knallfrosch losgelassen?«

»So was Ähnliches. Hat ein verdammt großes Loch gemacht. Ich nahm mir nicht die Mühe, es zu messen.«

Beide Männer wußten, daß ihre Schnoddrigkeit nur äußerlich war. Harris bemühte sich, nach wie vor die Maschine ruhig in gleicher Höhe und auf geradem Kurs zu halten. »Es war ein guter Plan, Vernon«, sagte er rücksichtsvoll. »Er hätte gelingen können.«

»Hätte, tat es aber nicht.« Demerest drehte sich nach dem Zweiten Offizier um. »Gehen Sie in die Touristenkabine. Untersuchen Sie den Schaden und melden Sie über das Bordtelefon. Dann tun Sie alles, was Sie können, für die Leute. Wir müssen wissen, wie viele verletzt sind und wie schwer.« Zum erstenmal erlaubte er sich einen angstvollen Gedanken. »Und stellen Sie fest, was mit Gwen ist.«

Die Berichte über die Flughäfen, die Anson Harris angefordert hatte, kamen jetzt vom Toronto Center: Flughafen Toronto noch geschlossen; tiefer Schnee und Verwehungen auf allen Landebahnen. Detroit Metropolitan: alle Landebahnen für regulären Verkehr geschlossen, aber Pflüge werden Landebahn Drei links räumen, um für Notanflug und Notlandung bereit zu sein. Landebahn hat fünf bis sechs Zoll Schnee mit Eis darunter. Sicht in Detroit hundertachtzig Meter bei Schneetreiben. Lincoln International: alle Landebahnen geräumt und einsatzbereit. Landebahn Drei-Null zeitweise geschlossen, da blockiert. Sicht in Lincoln tausendfünfhundert Meter, Wind Nord-West, dreißig Knoten und böig.

Anson Harris sagte zu Demerest: »Ich beabsichtige nicht, Treibstoff abzulassen.«

Demerest verstand Harris' Überlegung und nickte zustimmend. Angenommen, sie konnten das Flugzeug unter Kontrolle behalten, würde jede Landung infolge der großen Treibstoffladung, die sie unter anderen Umständen nach Rom gebracht hätte, schwierig und hart werden. Doch in ihrer gegenwärtigen Lage war die Gefahr noch größer, wenn sie jetzt überflüssigen Treibstoff abließen. Die Explosion und die Beschädigung hinten konnte einen Kurzschluß in der elektrischen Leitung oder Aneinanderreihen von Metall verursacht haben. Wenn sie während des Flugs Treibstoff abließen, konnte ein einziger Funken das Flugzeug in eine brennende Fackel verwandeln. Beide Kapitäne waren der Überzeugung, daß es besser war, der Feuergefahr auszuweichen und die Mühe einer schwierigen Landung auf sich zu nehmen.

Die gleiche Entscheidung bedeutete jedoch, daß eine Landung in Detroit — dem nächstgelegenen großen Flughafen — nur in letzter Verzweiflung versucht werden durfte. Denn durch ihr hohes Gewicht würden sie schnell landen, was jeden verfügbaren Zentimeter Landebahn und jedes letzte Quentchen Bremskraft erforderte. Landebahn Drei links — die längste auf Detroit Metropolitan, die sie benötigen würden — hatte Eis unter dem Schnee, unter den herrschenden Umständen die denkbar schlechteste Kombination. Ferner bestand der unbekannte Faktor — wo immer die Maschine auch landete —, wie begrenzt ihre Manövrierfähigkeit infolge der Schwierigkeiten mit Seiten- und Höhenruder war, die sie zwar schon kannten, aber nicht wußten, welches Ausmaß sie hatte.

Für eine Landung bot Lincoln International die größten Aussichten auf Sicherheit. Aber Lincoln war mindestens noch eine Flugstunde entfernt. Ihre gegenwärtige Fluggeschwindigkeit von 250 Knoten war weit geringer als in der größeren Höhe, und Anson Harris hielt sie gering, in der Hoffnung, weitere strukturelle Schäden zu vermeiden. Unglücklicherweise war auch damit ein Nachteil verbunden. Auf ihrer gegenwärtigen geringen Höhe von zehntausend Fuß herrschten erhebliche Böen und Turbulenz durch den Sturm, der sie jetzt umgab, statt tief unter ihnen zu liegen. Die entscheidende Frage war: Konnten sie sich eine weitere Stunde in der Luft halten?

Trotz allem, was geschehen war, waren seit der Explosion und der explosiven Dekompression noch keine fünf Minuten vergangen.

Wieder fragte die Flugsicherung an: »Trans America Zwei, melden Sie Ihre Absicht.«

Vernon Demerest antwortete und forderte einen direkten Kurs nach Detroit an, während der Umfang der Beschädigung noch geprüft werde. Landeabsicht auf Detroit Metropolitan oder woanders würde in den nächsten Minuten bekanntgegeben.

»Verstanden, Trans America Zwei. Detroit meldet, daß sie Schneepflüge von Landebahn Drei links entfernen. Bis anderweitig benachrichtigt, werden sie sich auf Notlandung vorbereiten.«

Das Bordtelefon klingelte, und Demerest meldete sich. Es war Cy Jordan, der von hinten anrief. Er mußte schreien, um sich durch den tosenden Wind verständlich zu machen. »Kapitän, hier hinten ist ein großes Loch, etwa sechs Fuß breit, hinter dem hinteren Ausgang. Um die Galley und die Toiletten ist zum größten Teil alles in Trümmern. Soweit ich aber sehen kann, hält alles andere zusammen. Der mechanische Ruderantrieb ist zerfetzt, die Steuerkabel sehen aber aus, als ob sie in Ordnung wären.«

»Was ist mit den Steuerflächen? Können Sie da etwas sehen?«

»Es sieht aus, als ob die Außenhaut des Höhenruders eingedrückt ist, darum ist das Höhensteuer blockiert. Davon abgesehen, kann ich draußen nur ein paar Löcher und böse Dellen sehen, wahrscheinlich von herausgeschleuderten Trümmern. Sonst hängt nichts lose herum. Wenigstens ist nichts zu sehen. Mir scheint, die Explosion wirkte zum größten Teil seitlich.«

Das war die Wirkung gewesen, die D. O. Guerrero nicht berücksichtigt hatte. Von Anfang an hatte er sich verrechnet. Selbst die Explosion hatte er verpatzt.

Sein größter Irrtum bestand darin, daß er nicht erkannte, daß jede Explosion nach außen wirken würde und weitgehend verpuffte in dem Augenblick, in dem die Außenhaut eines unter Druck stehenden Flugzeugs durchlöchert wurde. Ein weiterer Irrtum war, daß er nicht wußte, wie stark moderne Düsenflugzeuge gebaut werden. In einer Verkehrsmaschine ergänzen strukturelle und mechanische Systeme sich gegenseitig, so daß keine einzelne Fehlfunktion oder Beschädigung zur Zerstörung des ganzen führen kann. Ein Verkehrsflugzeug konnte durch eine Bombe vernichtet werden, doch nur, wenn die Bombe entweder planmäßig oder durch Zufall an einer verletzbaren Stelle explodierte.

Demerest fragte Cy Jordan: »Können wir noch eine Stunde in der Luft bleiben?«

»Ich nehme an, das Flugzeug kann es. Bei den Passagieren bin ich nicht so sicher.«

»Wie viele sind verletzt?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe zuerst die strukturellen Schäden geprüft, wie Sie angeordnet haben. Aber es sieht nicht gut aus.«

Demerest befahl: »Bleiben Sie dort, so lange wie nötig. Tun Sie, was Sie können.« Er zögerte, aus Furcht vor der Antwort auf seine nächste Frage, stellte sie dann aber doch. »Haben Sie etwas von Gwen gesehen?« Er wußte noch nicht, ob Gwen bei der Explosion nicht mit hinausgerissen worden war. Das war anderen schon passiert, darunter auch Stewardessen, die sich ungeschützt nahe der Stelle einer explosiven Dekompression befunden hatten. Und selbst wenn das nicht geschehen war, Gwen hatte sich am dichtesten bei der explodierenden Bombe befunden.

Cy Jordan antwortete: »Gwen ist hier. Sie ist aber böse zugerichtet, glaube ich. Wir haben drei Ärzte an Bord, die sich um sie und die anderen bemühen. Ich berichte, sobald ich kann.«

Vernon Demerest hängte das Telefon wieder ein. Trotz seiner letzten Frage und ihrer Antwort versagte er sich noch, privaten Gedanken oder persönlichen Gefühlen nachzugeben; dazu war später noch Zeit. Berufliche Entscheidungen, die Sicherheit des Flugzeugs und der Menschen an Bord kamen zuerst. Er wiederholte für Harris das Wesentliche aus dem Bericht des Zweiten Offiziers.

Harris überlegte und wog alle Faktoren gegeneinander ab. Ver-non Demerest hatte noch nicht angedeutet, daß er das Kommando unmittelbar übernahm, und billigte offensichtlich die bisherigen Entscheidungen von Harris, sonst hätte er etwas gesagt. Jetzt schien Demerest Harris auch die Entscheidung zu überlassen, wo sie landeten.

Kapitän Demerest benahm sich selbst in der höchsten Krise so, wie sich ein prüfender Pilot verhalten sollte.

»Wir wollen versuchen, Lincoln zu erreichen«, sagte Harris. Die Sicherheit des Flugzeugs war das allerwichtigste. Wie schlecht die Verhältnisse in den Passagierkabinen auch sein mochten, sie mußten darauf hoffen, daß es den meisten gelingen würde, durchzukommen.

Demerest nickte zustimmend und begann, Toronto Center von der Entscheidung zu unterrichten. In wenigen Minuten würden sie von Cleveland Center übernommen werden. Demerest forderte von Detroit Metropolitan an, sich noch bereitzuhalten, für den Fall, daß sie ihren Plan plötzlich änderten, obwohl das nicht wahrscheinlich war. Lincoln International sollte alarmiert werden, daß Flug Zwei einen direkten Notanflug erfordern werde.

»Verstanden, Trans America Zwei. Detroit und Lincoln werden benachrichtigt.«

Darauf folgte ein Kurswechsel. Sie näherten sich dem westlichen Ufer des Huron-Sees, nahe der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Kanada. Beide Piloten wußten, Flug Zwei stand bei den Bodenstationen jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Kontroller und Inspektoren in den folgenden Luftverkehrszentren würden angespannt arbeiten, die Abteilung jedes Flugverkehrs auf ihrer Route koordinieren, die folgenden Abschnitte vor ihrem Anflug warnen und die Flugschneisen räumen. Jede Anforderung, die von ihnen kam, würde mit höchster Priorität befolgt werden.

Als sie die Grenze überquerten, meldete sich Toronto Center ab und setzte seinem letzten Funkspruch hinzu: »Gute Nacht und viel Glück.«

Einen Augenblick später meldete sich Cleveland Air Route Center auf ihren Ruf.

Als Demerest sich durch die Lücke, wo die Tür zur Pilotenkanzel gewesen war, nach der Passagierkabine umsah, konnte er Gestalten sich bewegen sehen, wenn auch nur undeutlich, weil Cy Jordan unmittelbar, nachdem die Tür verschwunden war, die Beleuchtung der Erste-Klasse-Kabine gedämpft hatte, um Ausstrahlungen in die Pilotenkanzel zu vermeiden. Es hatte jedoch den Anschein, als ob Passagiere nach vorn dirigiert würden, was darauf hinwies, daß hinten jemand das Kommando übernommen hatte, wahrscheinlich Cy Jordan, der jeden Augenblick wieder berichten mußte. Die Kälte war immer noch beißend, selbst im Cockpit. Dort hinten mußte es noch kälter sein. Wieder, in einem zweiten Anfall von Angst, dachte Demerest an Gwen, verscheuchte sie dann rücksichtslos aus seinen Gedanken, um sich auf das zu konzentrieren, was als nächstes geschehen mußte.

Obwohl nur Minuten vergangen waren, seit der Entschluß, eine weitere Stunde in der Luft zu riskieren, gefallen war, war es jetzt an der Zeit, mit der Planung ihres Anflugs und ihrer Landung auf Lincoln International zu beginnen. Während Harris die Maschine weiter steuerte, suchte Vernon Demerest die Tabellen für den Anflug und die Landebahnen heraus und entfaltete sie auf seinen Knien. Lincoln International war der Heimatstandort beider Piloten, und sie kannten den Flughafen sowie seine Landebahnen und den ihn umgebenden Luftraum genau. Sicherheit und Ausbildung verlangten jedoch, daß das Gedächtnis überprüft und ergänzt wurde.

Die Tabellen bestätigten, was beide bereits wußten.

Für die Landung mit großer Geschwindigkeit und hohem Gewicht, die sie durchführen mußten, war die längstmögliche Landebahn erforderlich. Infolge der zweifelhaften Steuermöglichkeit mußte es auch die breiteste Landebahn sein. Sie mußte ferner direkt im Wind liegen, der, wie die Wettervoraussage von Lincoln besagte, mit dreißig Knoten und böig aus Nord-West wehte. Landebahn Drei-Null entsprach allen diesen Anforderungen.

»Wir brauchen Drei-Null«, sagte Demerest.

Harris erwiderte: »Der letzte Bericht meldete sie als vorübergehend gesperrt infolge Blockierung.«

»Das habe ich gehört«, knurrte Demerest. »Diese verdammte Landebahn ist seit Stunden blockiert, und alles was im Weg steht, ist eine verdammte, festgefahrene mexikanische Düsenmaschine.« Er entfaltete eine Anflugkarte für Lincoln International und befestigte sie an seiner Steuersäule. Dann rief er wütend aus: »Zum Teufel mit der Blockierung. Wir geben ihnen fünfzig Minuten, um sie zu beseitigen.«

Als Demerest auf den Schaltknopf seines Mikrofons drückte, um die Flugsicherung zu unterrichten, kam der Zweite Offizier Cy Jordan mit weißem Gesicht und angeschlagen in das Cockpit zurück.

11

Rechtsanwalt Freemantle im Hauptgebäude von Lincoln International war ratlos.

Er fand es höchst seltsam, daß noch niemand von berufener Seite gegen die immer lauter lärmende Demonstration der Einwohner von Meadowood, die jetzt einen großen Teil der Haupthalle mit Beschlag belegte, eingeschritten war.

Als Elliott Freemantle an diesem Abend um Genehmigung ersucht hatte, hier eine öffentliche Protestkundgebung zu veranstalten, war ihm das entschieden verweigert worden. Doch jetzt waren sie da, hatten eine Menge neugieriger Zuschauer gefunden — aber nirgends ließ sich ein Polizist blicken.

Freemantle dachte wieder, hier stimmt doch etwas nicht.

Dabei war das, was sich ereignet hatte, einfach unglaublich.

Nach dem Gespräch mit dem Flughafendirektor Mel Bakersfeld war die Delegation unter Führung von Elliott Freemantle aus dem Verwaltungstrakt in die Haupthalle zurückgekehrt. Dort hatten inzwischen die Fernsehleute, mit denen Freemantle unterwegs gesprochen hatte, ihre Aufnahmeapparatur aufgebaut. Die wartenden Meadowooder — inzwischen mindestens fünfhundert Personen, und ständig kamen neue dazu — standen herum und beobachteten die Vorbereitungen für die Fernsehaufnahmen.

Einer der Fernsehleute sagte zu dem Rechtsanwalt: »Wenn Sie soweit sind, Mr. Freemantle, können wir anfangen.«

Zwei Fernsehstationen waren vertreten; beide beabsichtigten am nächsten Tag ein eigenes Fernsehinterview zu senden. Mit der bei ihm üblichen Umsicht hatte Freemantle sich bereits erkundigt, für welche Programme die Filme bestimmt waren, um sich darauf einstellen zu können. Das erste Interview war, wie er erfuhr, für eine beliebte Sendung während der besten Sendezeit vorgesehen, die gern heiße Eisen anfaßte, auf Aktualität Wert legte und Provokationen nicht scheute. Er war bereit, das alles zu bieten.

Der Fernsehinterviewer, ein gutaussehender junger Mann mit wallender Mähne, fragte: »Warum sind Sie hier, Mr. Freemantle?«

»Weil dieser Flughafen eine Räuberhöhle ist.«

»Würden Sie das näher erklären?«

»Gewiß. Die Hausbesitzer der Gemeinde Meadowood werden ständig beraubt. Geraubt wird ihnen ihr Friede, ihr Recht auf Ungestörtheit, ihre wohlverdiente Ruhe nach der Arbeit und ihr Schlaf. Geraubt wird ihnen, sich ihrer Muße zu erfreuen, geraubt wird ihnen ihre psychische und physische Gesundheit und die Gesundheit und das Wohlergehen ihrer Kinder. All diese Dinge — auf die sie nach unserer Verfassung ein Grundrecht haben — werden ihnen ohne Ausgleich oder Vergütung von der Betriebsleitung des Lincoln International Airport schamlos gestohlen.«

Der Interviewer öffnete den Mund zum Lächeln und zeigte zwei Reihen makelloser Zähne. »Herr Rechtsanwalt, das sind harte Worte.«

»Ja, aber es geht um meine Klienten. Und ich bin in kämpferischer Stimmung.«

»Beruht diese Stimmung auf irgend etwas, das heute abend hier geschehen ist?«

»Jawohl, mein Herr. Uns wurde die gefühllose Gleichgültigkeit der Flughafenleitung gegenüber dem Problem meiner Klienten demonstriert.«

»Und was beabsichtigen Sie?«

»Vor Gericht — wenn nötig, vor dem höchsten Gericht — werden wir auf Schließung bestimmter Startbahnen und sogar des gesamten Flughafens während der Nachtstunden klagen. In Europa, wo man in diesen Dingen zivilisiert ist, auf dem Flughafen von Paris zum Beispiel, gibt es Sperrstunden. Ersatzweise werden wir eine angemessene Entschädigung für die brutal geschädigten Hausbesitzer einklagen.«

»Darf ich annehmen, daß Sie durch das, was Sie im Augenblick tun, die Unterstützung der Öffentlichkeit suchen?«

»Jawohl.«

»Glauben Sie, daß die Öffentlichkeit Sie unterstützen wird?«

»Wenn nicht, dann fordere ich jeden auf, vierundzwanzig Stunden in Meadowood zu verbringen, vorausgesetzt, daß seine Trommelfelle und seine geistige Gesundheit das aushalten.«

»Herr Rechtsanwalt, Flughäfen haben doch zweifellos ihre amtlichen Vorschriften zur Lärmdrosselung.«

»Nichts als Lug und Trug. Die Öffentlichkeit wird belogen. Der Generaldirektor dieses Flughafens hat mir heute abend gestanden, daß selbst die kümmerlichen sogenannten Maßnahmen zur Lärmdrosselung nicht befolgt werden.«

Und so weiter.

Später fragte Elliott Freemantle sich, ob er seine Behauptung über die Maßnahme zur Lärmdrosselung nicht — wie Bakersfeld es getan hatte — durch einen Hinweis auf die ungewöhnlichen Bedingungen durch den Schneesturm heute nacht hätte näher erläutern sollen. Doch Halbwahrheit oder nicht, so wie er es formuliert hatte, war es stärker, und Freemantle bezweifelte, daß seine Worte ange-fochten werden würden. Jedenfalls hatte er eine gute Vorstellung geboten, sowohl in dem zweiten Interview als auch in dem ersten. Auch während der beiden Filmaufnahmen, wobei die Kameras mehrmals die angespannten, ausdrucksvollen Gesichter der versammelten Einwohner von Meadowood im Bild festhielten. Elliott Freemantle hoffte, daß sie, wenn sie sich morgen zu Hause auf ihren Bildschirmen selber sahen, sich daran erinnern würden, wer ihnen die Aufmerksamkeit verschafft hatte, die sie fanden.

Die Zahl der Meadowooder, die ihm zum Flughafen gefolgt waren, so, als ob er ihr persönlicher Rattenfänger wäre, überraschte ihn. Die Zahl der Teilnehmer bei der Versammlung in dem Gemeindesaal von Meadowood hatte rund sechshundert betragen. In Anbetracht des schlechten Wetters und der späten Stunde hätte er es für beachtlich gehalten, wenn die Hälfte noch die weite Fahrt zum Flughafen auf sich genommen hätte. Aber nicht nur waren die meisten der ursprünglichen Teilnehmer gekommen, verschiedene mußten auch Freunde und Nachbarn angerufen haben, die sich ihnen daraufhin angeschlossen hatten. Man hatte sogar noch weitere Formulare von ihm verlangt, die ihn mit der gesetzlichen Vertretung beauftragten, und er hatte sie nur zu gern verteilt. Ein neuerliches Nachrechnen im Kopf überzeugte ihn, daß seine erste Hoffnung auf ein Honorar aus Meadowood von insgesamt fünfundzwanzigtausend Dollar gut und gern überschritten werden konnte.

Nach den Fernsehinterviews fragte der Reporter von der Tribüne, Tomlinson, der sich während der Aufnahmen Notizen gemacht hatte: »Was geschieht jetzt, Mr. Freemantle? Beabsichtigen Sie hier irgendeine Demonstration?«

Freemantle schüttelte den Kopf. »Bedauerlicherweise hält die Leitung dieses Flughafens nichts von freier Rede und hat uns das Grundrecht einer öffentlichen Versammlung versagt. Jedoch« — er deutete auf die versammelten Meadowooder — »beabsichtige ich, zu diesen Damen und Herren zu sprechen.«

»Ist das nicht das gleiche wie eine öffentliche Versammlung?«

»Nein, das ist es nicht.«

Jedoch, räumte Elliott Freemantle im stillen ein, wäre das eine sehr feine Unterscheidung, besonders, da er die feste Absicht hatte, aus dem Folgenden eine öffentliche Demonstration zu machen, wenn es ihm gelang. Seine Absicht war, mit einer aggressiven Ansprache zu beginnen, die die Flughafenpolizei ihm, ihrer Pflicht entsprechend, befehlen würde, abzubrechen. Freemantle hatte nicht vor, Widerstand zu leisten oder sich festnehmen zu lassen. Es genügte, von der Polizei unterbrochen zu werden, möglichst mitten in der Rede, denn das würde ihn zum Märtyrer für Meadowood machen und ganz nebenbei für die Zeitungen am nächsten Tag eine interessante Meldung ergeben. Die Morgenzeitungen, vermutete er, hatten ihre ersten Berichte über ihn und Meadowood bereits abgeschlossen, die Redakteure der Nachmittagsausgaben würden ihm aber für einen neuen Aufhänger dankbar sein.

Wichtiger noch, die Hausbesitzer von Meadowood würden noch stärker überzeugt sein, daß sie einen guten Rechtsanwalt und starken Führer engagiert hatten, der sein Honorar wohl wert war — und die ersten der Schecks, auf die Rechtsanwalt Freemantle hoffte, würden nach dem morgigen Tag hereinzuströmen beginnen.

»Wir sind soweit, daß wir anfangen können«, meldete Floyd Za-netta, der Leiter der Versammlung in Meadowood.

Während Freemantle und der Reporter der Tribune miteinander gesprochen hatten, hatten verschiedene Männer aus Meadowood hastig die Lautsprecheranlage aus dem Gemeindesaal aufgebaut. Einer reichte jetzt Freemantle ein Handmikrofon. Er begann zu der Menge zu sprechen.

»Meine Freunde, wir sind heute abend aus guten Gründen und mit konstruktiven Absichten hierhergekommen. Diese Stimmung und diese Absichten versuchten wir der Leitung des Flughafens verständlich zu machen, weil wir glauben, ein echtes und dringendes Problem zu haben, das sorgfältige Überprüfung verdient. In Ihrem Interesse versuchte ich, in vernünftigen, aber festen Worten dieses Problem darzulegen. Ich hoffte, wenn ich zurückkäme, könnte ich Ihnen im besten Fall ein Versprechen auf Abhilfe vorlegen, im schlimmsten Fall Mitgefühl und Verständnis übermitteln. Zu meinem Bedauern muß ich Ihnen sagen, daß Ihre Abordnung nichts von dem fand. Statt dessen stießen wir nur auf Feindschaft, Beschimpfungen und die mißachtende, zynische Versicherung, daß der Lärm des Flughafens in der Umgebung Ihrer Heime noch schlimmer werden wird.«

Ein empörter Aufschrei erfolgte. Freemantle hob eine Hand. »Fragen Sie die anderen, die mit mir waren. Sie werden es Ihnen bestätigen.« Er deutete auf die vorderste Reihe der Menge. »Hat der Leiter dieses Flughafens uns davon unterrichtet, daß es schlimmer werden wird oder nicht?« Zunächst etwas zögernd, dann aber nachdrücklicher nickten die Mitglieder der Delegation.

Nachdem Elliott Freemantle die ehrliche Offenheit, mit der Mel Bakersfeld die Abordnung empfangen hatte, geschickt entstellt hatte, fuhr er fort: »Ich sehe andere, außer meinen Freunden und Klienten aus Meadowood, die neugierig stehengeblieben sind, um zu erfahren, was hier vorgeht. Wir begrüßen Ihr Interesse. Lassen Sie sich darüber unterrichten . . .« In seinem üblichen aufrührerischen Stil sprach er weiter.

Die schon von Anfang an beachtliche Menge war jetzt noch größer geworden und wuchs ständig weiter. Reisende auf dem Weg zu ihren Flugzeugen hatten Schwierigkeiten durchzukommen.

Abrufe zu Flügen wurden von dem Lärm übertönt. Einzelne Meadowooder hatten hastig gekritzelte Plakate mit Aufschriften erhoben wie: FLUGZEUGE ODER MENSCHEN ZUERST? — VERBIETET DÜSENMASCHINEN ÜBER MEADOWOOD! — KEINEN TÖTENDEN LÄRM — AUCH MEADOWOOD ZAHLT STEUERN — SCHLIESST LINCOLN AIRPORT.

Jedesmal wenn Freemantle eine Pause machte, wurden die Rufe und das allgemeine Geschrei lauter. Ein grauhaariger Mann in einer Windjacke schrie: »Wir wollen dem Flughafen eine Kostprobe von seinem eigenen Lärm geben!« Seine Worte riefen tosenden Beifall hervor.

Fraglos hatte Elliott Freemantles »Bericht« sich inzwischen zu einer ausgewachsenen Demonstration entwickelt. Er erwartete jeden Augenblick, daß die Polizei eingreifen würde.

Was Rechtsanwalt Freemantle nicht wußte, war, daß während der Fernsehaufnahmen und während sich die Einwohner Meado-woods versammelten, die Flughafenleitung anfing, sich ernstliche Sorgen um Flug Zwei der Trans America zu machen. Bald darauf konzentrierte sich jeder Polizist im Flughafen auf die Suche nach Inez Guerrero, und infolgedessen entging die Meadowood-Demon-stration jeder Beachtung. Selbst nachdem Inez gefunden worden war, blieb Polizeileutnant Ordway in Mel Bakersfelds Büro und war dort völlig in Anspruch genommen. So kam es, daß Elliott Freemantle nach weiteren fünfzehn Minuten ernstlich unruhig wurde. So eindrucksvoll die Demonstration war, wenn sie nicht von Amts wegen abgebrochen wurde, hatte sie wenig Sinn. Wo in Gottes Namen, dachte er, bleibt die Flughafenpolizei, und warum erfüllt sie ihre Pflicht nicht?

Das war der Augenblick, in dem Leutnant Ordway und Mel Bakersfeld zusammen aus dem Verwaltungstrakt kamen.

Vor wenigen Minuten war die Zusammenkunft in Mels Büro beendet worden. Nach dem Verhör von Inez Guerrero und dem Absenden der zweiten Warnung an Flug Zwei war nichts mehr dadurch zu erreichen, daß man beieinander blieb. Tanya Livingston kehrte mit dem Bezirksverkehrsleiter der Trans America und deren Chefpilot besorgt in die Räume der Fluggesellschaft im Hauptgebäude zurück, um dort auf neue Nachrichten zu warten. Die anderen suchten mit Ausnahme von Inez Guerrero, die zum Verhör durch Polizeidetektive aus der Stadt festgehalten wurde, ihre eigenen Räume auf. Tanya hatte Zollinspektor Standish, der um seine Nichte an Bord von Flug Zwei besorgt war, versprochen, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn etwas Neues vorlag.

Mel, der unentschlossen war, wo er die weitere Entwicklung abwarten solle, begleitete Ned Ordway, der als erster die Demonstration bemerkte und Elliott Freemantle entdeckte. Er eilte auf die Menge in der Haupthalle zu. »Dieser verdammte Rechtsanwalt. Ich habe ihm doch gesagt, er dürfe hier nicht demonstrieren. Dem werde ich schnell ein Ende machen.«

Mel warnte ihn. »Vielleicht wartet er gerade darauf, damit er sich als Held aufspielen kann.«

Als sie näher kamen und Ordway sich durch die Menge hindurchdrängte, verkündete Elliott Freemantle laut: »Trotz der Zusicherung, die die Leitung des Flughafens heute abend gegeben hat, wird starker Flugverkehr so ohrenbetäubend und nervenzerfetzend wie immer, trotz der späten Stunde fortgesetzt. Selbst jetzt . . .«

»Hören Sie auf«, unterbrach Ned Ordway ihn schroff. »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß hier im Flughafengebäude keine Demonstration zugelassen wird.«

»Aber Leutnant, ich versichere Ihnen, daß es sich nicht um eine Demonstration handelt.« Freemantle hielt das Mikrofon weiterhin hoch, so daß seine Worte klar verständlich waren. »Ich habe hier nur nach der Zusammenkunft mit der Flughafenleitung, ich möchte sagen einer höchst unbefriedigenden Zusammenkunft, dem Fernsehen ein Interview gegeben und berichte jetzt diesen Leuten . . .«

»Berichten Sie woanders!« Ordway drehte sich um und trat den ihm am nächsten Stehenden entgegen. »Schluß jetzt. Auseinandergehen!«

Aus der Menge antworteten feindselige Blicke und wütendes Murren. Als der Polizist sich wieder Elliott Freemantle zuwandte, flammten Blitzlichter von Fotografen auf. Scheinwerfer gingen wieder an, während sich die Fernsehkameras auf die beiden richteten. Endlich, dachte Elliott Freemantle, ging alles so, wie er es haben wollte.

Am Rand der Menge sprach Mel Bakersfeld mit einem der Fernsehleute und Tomlinson von der Tribüne. Der Reporter sah in seine Notizen und las einen Satz vor. Mel wurde rot vor Ärger, als er zuhörte.

»Leutnant«, sagte Elliott Freemantle zu Ned Ordway, »ich habe vor Ihnen und vor Ihrer Uniform den größten Respekt. Dessenungeachtet möchte ich darauf hinweisen, daß wir heute abend schon woanders eine Versammlung abgehalten haben, in Meado-wood, daß wir aber infolge des Lärms von diesem Flughafen unser eigenes Wort nicht verstehen konnten.«

Ordway erwiderte scharf: »Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu debattieren, Mr. Freemantle. Wenn Sie nicht tun, was ich Ihnen sage, werden Sie festgenommen. Ich befehle Ihnen, diese Leute von hier fortzuschaffen.«

Jemand aus der Menge rief: »Und wenn wir nicht gehen?«

Eine andere Stimme drängte: »Laßt uns hierbleiben. Sie können uns nicht alle festnehmen.«

»Nein!« Elliott Freemantle hob mit selbstgerechter Pose eine Hand. »Hören Sie bitte auf mich. Es darf keine Unordnung und keinen Ungehorsam geben. Meine Freunde und Klienten, dieser Polizeibeamte hat uns befohlen, zu gehorchen und auseinanderzugehen. Wir werden diesem Befehl nachkommen. Wir mögen es für eine schwerwiegende Beschneidung des Rechts der freien Rede halten« — Beifall und Buhrufe antworteten ihm —, »aber es darf unter keinen Umständen gesagt werden, daß wir versäumt hätten, die Gesetze zu respektieren.« Lauter fügte er hinzu: »Für die Presse habe ich draußen noch eine Erklärung abzugeben.«

»Einen Augenblick!« Mel Bakersfelds Stimme klang scharf über die Köpfe der Umstehenden hinweg. Er drängte sich vor. »Mr. Freemantle, es interessiert mich zu erfahren, was diese Erklärung für die Presse enthalten soll. Werden es weitere Verdrehungen sein? Eine weitere Dosis entstellter Rechtsfälle, um Menschen zu täuschen, die es nicht besser verstehen, oder nur einfache, abgestandene Lügen, in denen Sie ein großer Meister sind?«

Mel sprach laut, seine Worte waren allen in der Nähe verständlich. Sie reagierten mit Interesse. Leute, die sich schon abgewandt hatten, blieben stehen.

Elliott Freemantle reagierte automatisch. »Das ist eine böswillige, verleumderische Behauptung.« Einen Augenblick später witterte er Gefahr und hob die Schultern. »Ich werde es Ihnen aber durchgehen lassen.«

»Warum? Wenn es verleumderisch ist, sollten Sie doch wissen, was man dagegen unternimmt.« Mel blickte den Rechtsanwalt scharf an. »Oder fürchten Sie vielleicht, es könne sich als wahr erweisen?«

»Ich fürchte mich vor nichts, Mr. Bakersfeld. Tatsache ist, daß uns von diesem Polizeibeamten hier befohlen wurde, Schluß zu machen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen . . .«

»Ich habe gesagt, daß für Sie Schluß ist«, berichtigte ihn Ned Ordway. »Was Mr. Bakersfeld tut, ist etwas anderes. Er hat hier Hausrecht.« Ordway war neben Mel getreten. Gemeinsam verstellten sie dem Rechtsanwalt den Weg.

»Wenn Sie ein wirklicher Polizeibeamter wären«, protestierte Freemantle, »würden Sie uns gleich behandeln.«

Überraschenderweise sagte Mel: »Damit hat er, glaube ich, recht.« Ordway sah ihn neugierig an. »Sie sollten uns beide gleich behandeln. Und statt diese Versammlung zu schließen, sollten Sie mir, meiner Meinung nach, das gleiche Recht einräumen, zu diesen Leuten zu sprechen, das Mr. Freemantle gerade hatte, das heißt, wenn Sie ein wirklicher Polizeibeamter sein wollen.«

»Ich denke schon.« Der große Negerpolizist, der die beiden anderen überragte, fügte grinsend hinzu: »Ich fange an, Sie zu verstehen. Sie und Mr. Freemantle.«

Mel bemerkte nüchtern zu Elliott Freemantle: »Sehen Sie, er gibt nach. Und da wir nun einmal alle hier beisammen sind, können wir auch einige Dinge klären.« Er streckte die Hand aus. »Geben Sie mir mal das Mikrofon.«

Mels Zorn von vor einer Minute war jetzt weniger spürbar. Als der Reporter der Tribune, Tomlinson, ihm aus seinen Notizen das Wesentliche dessen vorlas, was Elliott Freemantle in den Fernsehinterviews und anschließend gesagt hatte, war Mel wütend geworden. Sowohl Tomlinson als auch der Fernsehinterviewer baten Mel, sich zu dem Gesagten zu äußern. Mel versicherte ihnen, das wolle er.

»O nein!« Freemantle schüttelte entschieden den Kopf. Die Gefahr, die er vor wenigen Augenblicken gewittert hatte, stand plötzlich nahe und deutlich vor ihm. Schon einmal hatte er diesen Bakersfeld heute abend unterschätzt. Er beabsichtigte nicht, diesen Fehler zu wiederholen. Freemantle hatte jetzt die versammelten Einwohner von Meadowood in seiner Hand. Für ihn war es wichtig, daß das so blieb. Im Augenblick wünschte er nur, daß alle so schnell wie möglich auseinanderliefen.

Hochmütig erklärte er: »Es ist mehr als genug gesagt worden.«

Er ignorierte Mel und reichte das Mikrofon einem der Männer aus Meadowood und deutete auf die Lautsprecheranlage. »Wir wollen das hier abbauen und uns auf den Weg machen.«

»Geben Sie das mal mir.« Ned Ordway streckte die Hand aus und nahm das Mikrofon an sich. »Und alles andere bleibt, wie es ist.« Er nickte verschiedenen Polizisten zu, die am Rand der Menge aufgetaucht waren. Sie kamen näher. Während Freemantle hilflos zusah, reichte Ordway das Mikrofon Mel.

»Danke.« Mel wandte sich den Leuten aus Meadowood zu — viele zeigten feindselige Gesichter — und anderen, die auf dem Weg durch die Halle stehengeblieben waren, um zuzuhören. Obwohl es zwanzig Minuten nach Mitternacht und jetzt Samstag morgen war, zeigten sich noch keine Anzeichen dafür, daß der starke Verkehr in der Haupthalle nachließ. Infolge der vielen Verspätungen bei den Abflügen würde der starke Verkehr voraussichtlich die ganze Nacht über anhalten und in den verstärkten Wochenendverkehr übergehen, bis die Flugpläne wieder normal eingehalten wurden. Wenn sich die Leute aus Meadowood vorgenommen hatten, dem Flughafen lästig zu fallen, dachte Mel, war ihnen das gelungen. Die zusätzlichen rund tausend Menschen nahmen Raum in der Halle in Anspruch; ankommende und abreisende Passagiere mußten sich hindurchkämpfen, wie eine Flutwelle, die plötzlich auf eine Sandbank stößt. Es war offensichtlich, daß diese Situation nicht länger als nur noch wenige Minuten dauern durfte.

»Ich will es kurz machen«, begann Mel und erklärte seinen Zuhörern durch das Mikrofon, wer und was er war. »Vor kurzem bin ich heute abend mit einer Delegation zusammengetroffen, die Sie alle vertrat. Ich legte ihr einige der Probleme des Flughafens dar, erklärte aber auch, daß ich Ihre verstände und mit Ihnen sympathisiere. Ich hatte erwartet, daß das an Sie weitergegeben würde, wenn nicht im Wortlaut, so doch dem Sinn nach. Statt dessen stelle ich fest, daß meine Darstellung verfälscht und Sie getäuscht wurden.«

Elliott Freemantle schrie empört auf: »Das ist eine Lüge!« Sein Gesicht war gerötet. Zum erstenmal an diesem Abend geriet seine makellose Frisur in Unordnung.

Leutnant Ordway packte den Rechtsanwalt fest am Arm. »Seien Sie jetzt still. Sie sind an der Reihe gewesen.«

Vor Mel hatte sich dem Handmikrofon, in das er sprach, ein Rundfunkmikrofon hinzugesellt. Die Scheinwerfer des Fernsehteams blieben eingeschaltet, während er weitersprach.

»Mr. Freemantle beschuldigt mich der Lüge. Er verwendet heute abend starke Ausdrücke.« Mel blickte in die Notizen in seiner Hand. »Soweit ich unterrichtet bin, gehörten dazu >Räuberei<, >Gleichgültigkeit<, daß ich Ihre Delegation mit >Feindseligkeit< und >Beschimpfungen< empfangen hätte, ferner, daß die Maßnahmen zur Lärmbekämpfung, die wir durchzusetzen versuchen, >Lug und Trug< seien, daß >die Öffentlichkeit belogen< würde. Nun, wir werden sehen, wer Ihrer Ansicht nach lügt oder falsche Darstellungen gibt, und wer nicht.«

Mel erkannte, daß er einen Fehler begangen hatte, als er nur zu der kleinen Delegation und nicht gleich zu der großen Menge gesprochen hatte. Sein Ziel war gewesen, Verständnis zu finden, ohne den Flughafenbetrieb zu beeinträchtigen. Beides war ihm nicht gelungen.

Aber wenigstens konnte er jetzt versuchen, Verständnis zu erreichen.

»Lassen Sie mich kurz versuchen, die Politik des Flughafens bei der Lärmdrosselung zu umreißen.«

Zum zweitenmal an diesem Abend schildert Mel die Einschränkungen für die Piloten und ihre Fluggesellschaften. Er fügte hinzu: »Zu normalen Zeiten wird die Befolgung dieser Vorschriften durchgesetzt, doch bei schwierigen Wetterbedingungen, wie dem Schneesturm heute nacht, muß den Piloten Handlungsfreiheit eingeräumt werden und die Sicherheit der Flugzeuge an erster Stelle stehen.«

Und über die Startbahnen: »Soweit es möglich ist, vermeiden wir Starts über Meadowood auf Startbahn Zwei-Fünf.« Jedoch, erklärte er, gelegentlich werde es notwendig, diese Startbahn zu benutzen, wenn die Startbahn Drei-Null nicht einsatzfähig sei, wie im Augenblick.

»Wir tun unser Bestes für Sie«, erklärte Mel nachdrücklich. »Und wir sind nicht gleichgültig, wie uns unterstellt wurde. Wir müssen aber unsere Aufgabe als Flughafen erfüllen und dürfen unsere primäre Verantwortung nicht außer acht lassen, so wenig wie unsere Sorge um die Flugsicherheit.«

Noch war die Feindseligkeit seiner Zuhörer unverkennbar, aber jetzt zeigte sich dort auch Interesse.

Auch Elliott Freemantle, der Mels Worten mit wütenden Blicken folgte, bemerkte dieses Interesse.

»Nach dem, was ich gehört habe«, sagte Mel, »hat Mr. Freemant-le es nicht für richtig befunden, einige Bemerkungen, die ich vor Ihrer Delegation ganz allgemein über das Thema des Lärms von Flughäfen machte, weiterzugeben. Meine Bemerkungen erfolgten« — wieder blickte er in seine Notizen — »nicht in >rücksichtslosem Zynismusc, wie behauptet wurde, sondern in dem Versuch, ehrlich und offen zu sein. Ich lege Wert darauf, auch jetzt offen zu Ihnen zu sein.«

Wie schon zuvor, gab Mel zu, daß auf dem Gebiet der Lärmbekämpfung nur wenig zu erwarten war. Finstere Gesichter erschienen vor ihm, als er den größeren Lärm schilderte, den die Flugzeuge machten, die bald eingesetzt werden würden. Er spürte aber, daß seine Objektivität und Ehrlichkeit begrüßt wurden. Außer vereinzelten Bemerkungen gab es keine Zwischenrufe, und seine Worte blieben trotz des lauten Betriebs im Flughafengebäude ringsum verständlich.

»Es gibt noch zwei Dinge, die ich gegenüber Ihrer Abordnung nicht erwähnt habe, doch jetzt will ich es tun.« Mels Ton wurde schärfer. »Ich bezweifle, daß sie Ihnen gefallen werden.«

Der erste Punkt betreffe die Gemeinde Meadowood, unterrichtete er sie.

»Vor zwölf Jahren existierte Ihre Gemeinde überhaupt noch nicht. Es war eine Fläche leeren Landes, von geringem Wert, bis das Wachsen des Flughafens und seine Nähe ringsum die Bodenpreise steil ansteigen ließ. Insofern gleicht Meadowood Tausenden von Gemeinden, die überall in der Welt wie Pilze aus der Erde geschossen sind.«

Eine Frau schrie: »Als wir hierherzogen, wußten wir nichts vom Lärm der Düsenmaschinen.«

»Aber wir wußten Bescheid!« Mel deutete mit dem Finger auf die Frau. »Die Flughafenleitungen wußten, daß Düsenflugzeuge kamen, und wußten, welchen Lärm sie machen, und wir warnten die Menschen und die lokalen Siedlungsausschüsse und haben sie in zahllosen Orten wie Meadowood bedrängt, hier keine Siedlungen zu bauen. Damals war ich noch nicht auf dem Flughafen hier, aber wir haben unsere Protokolle und Fotografien in den Akten. Auf dem Gelände, wo heute Meadowood ist, hat unser Flughafen Schilder aufgestellt: ÜBER DIESEM GELÄNDE STARTEN UND LANDEN FLUGZEUGE. Andere Flughäfen taten dasselbe. Und überall, wo diese Schilder erschienen, wurden sie von Grundstücksmaklern und Verkäufern niedergerissen. Die verkauften dann Grundstücke und Häuser an Leute wie Sie, schwiegen über den bevorstehenden Lärm und die Erweiterungspläne der Flughäfen, die sie im allgemeinen kannten, und wahrscheinlich haben die Grundstücksmakler letzten Endes uns alle übertölpelt.«

Diesmal wurde kein Widerspruch laut, nur ein Meer nachdenklicher Gesichter zeigte sich, und Mel nahm an, daß das, was er gesagt hatte, bei seinen Zuhörern angekommen war. Er empfand tiefes Bedauern; die Leute vor ihm waren keine Gegner, die er besiegen wollte. Es waren anständige Menschen mit ehrlichen und schwerwiegenden Problemen, Nachbarn, und er wünschte sich aufrichtig, daß er mehr für sie tun könne.

Er entdeckte Elliott Freemantles höhnisches Gesicht. »Mr. Bakersfeld, wahrscheinlich halten Sie sich für sehr schlau.« Der Rechtsanwalt wandte sich ab und schrie, ohne sich der Lautsprecher zu bedienen, über die Köpfe der ihm Nächststehenden hinweg: »Glauben Sie das alles nicht! Sie sollen weichgemacht werden! Wenn Sie sich mir anvertrauen, werden wir mit diesen Flughafenleuten schon fertig werden, und zwar gründlich fertig werden!«

»Falls Sie das nicht verstanden haben sollten«, sagte Mel ins Mikrofon, »Mr. Freemantle hat Ihnen geraten, sich ihm anzuvertrauen. Auch dazu habe ich etwas zu sagen.«

Jetzt hatte er aufmerksame Zuhörer. »Viele Leute — Leute wie Sie — wurden übervorteilt, indem ihnen Bauplätze oder Häuser auf Gelände verkauft wurden, das gar nicht hätte besiedelt werden sollen oder nur für Industrieanlagen erschlossen werden durfte, wo der Lärm eines Flughafens keine Rolle spielt. Sie haben in Ihrem Fall nicht alles verloren, denn Sie haben Ihre Grundstücke und Häuser, aber es ist zu erwarten, daß sie im Wert gesunken sind.«

Ein Mann stimmte finster zu. »Da haben Sie verdammt recht.«

»Jetzt ist wieder so ein Plan im Gange, Sie um Ihr Geld zu bringen. In ganz Nordamerika machen sich Rechtsanwälte an Wohngebiete in der Nähe von Flughäfen heran, weil für sie Gold in dem Lärm steckt.«

Rechtsanwalt Freemantle schrie mit hochgerötetem, verzerrtem Gesicht: »Wenn Sie noch ein Wort sagen, dann verklage ich Sie!«

»Wegen was?« schoß Mel zurück. »Oder haben Sie vielleicht schon erraten, was ich jetzt noch sagen werde?« Nun ja, es mochte sein, daß Rechtsanwalt Freemantle später eine Verleumdungsklage anstrengen würde, obwohl Mel es bezweifelte. Doch so oder so, Mel spürte, daß etwas von seiner alten Kühnheit erwachte — die Bereitschaft offen zu sprechen, ohne sich um die Konsequenzen zu sorgen — die Führung zu übernehmen. Es war eine Stimmung, die er in den letzten ein oder zwei Jahren selten empfunden hatte.

»Einwohnern der Gemeinden, von denen ich spreche«, erläuterte Mel, »wird versichert, daß Flughäfen verklagt werden können mit Erfolg verklagt werden können. Hausbesitzern aus der Nachbarschaft von Flughäfen wird versichert, am Ende jeder Startbahn stände ein Topf voll mit Dollar. Nun will ich nicht behaupten, daß man Flughäfen nicht verklagen könnte, und ich sage auch nicht, daß es nicht eine ganze Reihe guter, vernünftiger Rechtsanwälte gibt, die gegen Flughäfen Prozesse führen. Ich will nur warnend darauf hinweisen, daß es auch eine ganze Menge gibt, die zu der anderen Sorte gehören.«

Die gleiche Frau, die vorher schon den Zwischenruf gemacht hatte, fragte, aber diesmal sehr viel sanfter: »Woran sollen wir erkennen, mit welcher Sorte wir es zu tun haben?«

»Ohne ein Programm ist das schwierig, das heißt, wenn Sie nicht zufällig einige Kenntnisse über die Gesetze für Flughäfen besitzen. Ist das nicht der Fall, dann können Sie durch eine einseitige Aufzählung von Präzedenzfällen völlig irregeführt werden.« Mel zögerte nur kurz, ehe er hinzufügte: »Ich kenne einige der spezifischen Gerichtsurteile, die heute abend erwähnt wurden. Wenn Sie wollen, kann ich ein paar Gegenstücke von der anderen Seite nennen.«

Ein Mann in der vordersten Reihe drängte: »Lassen Sie uns Ihre Seite hören, Mann.«

Verschiedene andere blickten neugierig zu Elliott Freemantle hinüber.

Mel zögerte. Er bemerkte, daß er schon länger sprach, als er beabsichtigt hatte. Er nahm jedoch an, daß es nun auf ein paar Minuten nicht mehr ankam.

Am Rand der ihn umstehenden Gruppe bemerkte er Tanya Livingston.

»Die Prozesse, die Ihnen und mir so oberflächlich geschildert wurden«, antwortete Mel, »sind für Leute, die etwas mit der Leitung von Flughäfen zu tun haben, ein alter Hut. Der erste war, glaube ich, Die Vereinigten Staaten contra Causby.«

Dieser spezifische Fall — eine Säule bei den Darlegungen von Rechtsanwalt Freemantle vor den Bewohnern von Meadowood — war, wie Mel erklärte, eine über zwanzig Jahre alte Entscheidung. »Sie betraf einen Hühnerfarmer und Militärflugzeuge. Die Ma-schienen überflogen wiederholt das Haus des Farmers in einer Höhe von nur fünfundzwanzig Metern — erheblich niedriger, als je ein Flugzeug über Meadowood fliegt. Die Hühner wurden geängstigt, einige gingen ein.«

Nach einem Jahr Prozessieren fand der Fall den Weg vor das höchste amerikanische Gericht. Mel erklärte: »Der gesamte, dem Kläger zugestandene Schadenersatz betrug weniger als vierhundert Dollar, den Wert der eingegangenen Hühner.« Er fügte hinzu: »Für den Farmer stand kein Topf voller Dollar bereit — und ebensowenig bietet dieser Präzedenzfall einen für Sie.«

Mel konnte Elliott Freemantle sehen, dessen Gesicht vor Zorn abwechselnd rot und weiß wurde. Wieder hielt ihn Ned Ordway am Arm zurück.

»Es gibt hingegen einen Prozeß«, bemerkte Mel, »auf den Mr. Freemantle hinzuweisen verzichtet hat. Es ist ein wichtiger Fall — der auch vor dem höchsten Gericht entschieden wurde —, und er ist wohlbekannt. Unglücklicherweise unterstützt er nicht die Argumente von Mr. Freemantle, sondern widerlegt sie.«

Bei dem Fall handelte es sich um den Prozeß Batten contra Batten, in dem das oberste Gericht 1963 entschieden hat, daß nur »physische Beeinträchtigung« eine Haftpflicht auslöse. Lärm allein genüge nicht.

»Ein weiteres Urteil auf der gleichen Linie erfolgte in dem Fall Loma Portal Civic Club contra American Airlines, das 1964 das oberste Gericht von Kalifornien fällte. Hier entschied das Gericht, Grundstücksbesitzer seien nicht berechtigt, das Überfliegen von Häusern in der Nähe von Flughäfen zu verbieten. Das Interesse der Allgemeinheit an der Fortführung der Luftfahrt, stellte das kalifornische Gericht fest, stehe an erster Stelle und überwiege alles andere . . .«

Mel hatte die Gerichtsurteile ohne zu zögern und ohne Notizen zu Rate zu ziehen zitiert. Seine Zuhörer waren eindeutig beeindruckt. Jetzt lächelte er. »Juristische Präzedenzfälle sind genau wie Statistiken. Wenn man sie manipuliert, kann man mit ihnen alles beweisen.« Er fügte hinzu: »Sie brauchen mir nicht aufs Wort zu glauben, was ich Ihnen gesagt habe. Schlagen Sie selbst nach. Es ist alles aktenkundig.«

Eine Frau neben Elliott Freemantle knurrte den Rechtsanwalt an: »Davon haben Sie uns nichts gesagt. Sie schilderten nur Ihre Seite.«

Ein Teil der früheren Feindseligkeit gegen Mel richtete sich jetzt gegen den Rechtsanwalt.

Freemantle hob die Schultern. Was macht es schon aus, überlegte er. Schließlich hatte er über hundertsechzig unterschriebene Vollmachten, die er aus Vorsicht in einen geschlossenen Koffer in seinem Auto umgepackt hatte. Das waren Tatsachen, die nichts mehr rückgängig machen konnte.

Gleich darauf mußte er aber anfangen, auch das in Frage zu stellen. Verschiedene Leute hatten sich bei Mel nach den Vollmachtsformularen erkundigt, die sie am Abend unterschrieben hatten. Ihre Stimmen verrieten Zweifel. Offensichtlich hatten sowohl Mels Auftreten wie auch das, was er gesagt hatte, einen starken Eindruck hinterlassen. Die Menge teilte sich in kleine Gruppen auf, von denen die meisten lebhaft diskutierten.

»Ich bin nach gewissen Vertragsabschlüssen gefragt worden«, verkündete Mel. Die anderen Stimmen in der Menge verstummten sofort, als er hinzufügte: »Ich glaube, Sie wissen, welchen Vertrag ich meine. Ich habe eines der Formulare gesehen.«

Elliott Freemantle drängte sich vor. »Na und? Sie sind kein Rechtsanwalt. Das haben wir doch schon klargestellt. Deshalb verstehen Sie auch nichts von Verträgen.« Dieses Mal war Freemantle nicht nahe genug bei dem Mikrofon, so daß seine Worte nicht durchdrängen.

Mel entgegnete scharf: »Ich lebe mit Verträgen! Jeder Pächter und Mieter auf diesem Flughafen — von der größten Fluggesellschaft bis zu dem Mann, der mit Aspirin handelt — arbeitet hier unter einem Vertrag, der von mir gebilligt und von meinen Mitarbeitern ausgehandelt wurde.«

Er wandte sich wieder der Menge zu. »Mr. Freemantle weist richtig darauf hin, daß ich kein Rechtsanwalt bin. Deshalb will ich Ihnen den Rat eines Geschäftsmannes geben. Unter gewissen Umständen könnte die Einhaltung des Vertrags, den Sie heute abend unterschrieben haben, erzwungen werden. Ein Vertrag ist ein Vertrag. Sie könnten vor Gericht gebracht und das Geld zwangsweise eingetrieben werden. Doch meiner Meinung nach wird keines von beiden geschehen, vorausgesetzt, daß Sie sofort in korrekter Form kündigen. Zunächst haben Sie noch keine Ware erhalten, ist noch keine Dienstleistung erfolgt. Ferner müßte gegen jeden einzelnen von Ihnen getrennt geklagt werden.« Mel lächelte. »Das an sich wäre schon eine Aufgabe. Und noch etwas.« Jetzt sah er Elliott Freemantle unmittelbar an. »Ich glaube nicht, daß irgendein Gericht ein Gesamthonorar für einen Rechtsanwalt wohlwollend betrachten wird, das im Bereich von fünfzehntausend Dollar für eine Rechtsberatung, die im besten Falle nebulös ist, liegt.«

Der Mann, der sich schon einmal zu Wort gemeldet hatte, fragte: »Was sollen wir also tun?«

»Wenn Sie wirklich Ihre Ansicht ändern sollten, empfehle ich Ihnen, heute oder morgen einen Brief zu schreiben. Richten Sie ihn an Mr. Freemantle, und erklären Sie darin, daß Sie nicht mehr in der vereinbarten Weise juristisch vertreten werden wollen und warum. Bewahren Sie sich aber einen Durchschlag auf. Meiner Meinung nach werden Sie danach nichts mehr von der ganzen Angelegenheit hören.«

Mel hatte unverblümter gesprochen, als er zunächst beabsichtigt hatte, und war auch, wie er annahm, übertrieben verwegen gewesen, als er ganz so weit ging. Falls Elliott Freemantle es darauf anlegte, konnte er ihm zweifellos Schwierigkeiten machen. In einer Angelegenheit, in der der Flughafen und damit Mel ein aktives Interesse hatte, war er zwischen den Anwalt und seine Klienten getreten und hatte die Integrität des Anwalts in Frage gestellt. Nach dem Haß in den Augen des Rechtsanwalts zu schließen, würde es ihm eine Freude sein, Mel so sehr zu schaden, wie er konnte. Doch sein Instinkt sagte Mel, das letzte, was Freemantle sich wünschte, war eine scharfe Untersuchung in der Öffentlichkeit, wie er seine Klienten warb und mit welchen Methoden er arbeitete. Ein Richter, der in Fragen der Berufsethik empfindlich war, konnte peinliche Fragen stellen und später vielleicht auch noch die Anwaltskammer, die über die Berufsethik der Juristen scharf wachte. Je länger Mel darüber nachdachte, desto weniger neigte er dazu, sich Sorgen zu machen.

Mel wußte zwar nichts davon, aber Elliott Freemantle war zu dem gleichen Ergebnis gekommen.

Was sonst Freemantle auch sein mochte, er war Pragmatiker. Seit langem hatte er erkannt, daß es im Leben Spiele gab, bei denen man gewann, und andere, bei denen man verlor. Manchmal kam der Verlust überraschend und widersinnig. Ein Zufall, eine Wendung, eine Nessel im Gras konnte einen fast greifbaren Erfolg zu einer tödlichen Niederlage machen. Zum Glück für Menschen wie Freemantle trat manchmal auch das Gegenteil ein.

Dieser Flughafendirektor Bakersfeld hatte sich als Nessel erwiesen. Unvorsichtig hatte er etwas angefaßt, dem er hätte ausweichen sollen. Selbst nach dem ersten Zusammenstoß, der Elliott Free-mantle eine Warnung hätte sein müssen, hatte er seinen Gegner weiter unterschätzt, indem er auf dem Flughafen geblieben war, statt zu verschwinden, solange er einen Vorsprung besaß. Etwas anderes, das Freemantle zu spät entdeckt hatte, war, daß Bakersfeld zwar gerissen, aber auch ein Spieler war. Nur ein Spieler konnte ein solches Risiko eingehen, wie Bakersfeld es vor einem Augenblick getan hatte. Und nur Elliott Freemantle wußte an diesem Punkt, daß Bakersfeld gewonnen hatte.

Freemantle war sich klar, daß die Anwaltskammer seine Unternehmung an diesem Abend mißbilligen würde, genauer gesagt: er hatte bereits einmal einen Zusammenstoß mit einem Untersuchungsausschuß der Kammer gehabt und beabsichtigte nicht, leichtfertig einen weiteren zu provozieren.

Bakersfeld hatte recht, dachte Elliott Freemantle. Er würde nicht versuchen, vor Gericht auf Grund der unterschriebenen Vollmachtsformulare die eingegangene Schuld einzutreiben. Das Risiko war zu groß, die Gewinnaussichten ungewiß.

Selbstverständlich würde er noch nicht vollständig aufgeben. Morgen, beschloß Freemantle, wollte er an alle Einwohner Mea-dowoods, die das Formular unterschrieben hatten, einen Brief aufsetzen. Darin würde er sich die größte Mühe geben, die Empfänger dazu zu überreden, seine Bestellung als juristischer Berater gegen das mit dem einzelnen festgelegten Honorar aufrechtzuerhalten. Er bezweifelte jedoch, daß viele antworten würden. Den Argwohn, den Bakersfeld so wirksam geweckt hatte — der verfluchte Hund! —, war zu groß. Ein paar kleine Reste mochten übrigbleiben, von Leuten, die bereit waren, weiterzumachen, und später war es dann notwendig, zu entscheiden, ob es sich lohnte. Doch die Aussicht auf eine große Beute war dahin.

Er nahm jedoch an, daß sich bald etwas anderes finden würde. Es hatte sich immer etwas gefunden.

Ned Ordway und verschiedene andere Polizisten trieben die Menge auseinander. Der Verkehr in der Haupthalle nahm wieder normale Ausmaße an. Auch die Lautsprecheranlage war endlich abgebaut und fortgeschafft worden.

Mel Bakersfeld bemerkte, daß Tanya, die er gerade vor wenigen Augenblicken entdeckt hatte, auf ihn zukam. Eine Frau, eine der Bewohnerinnen Meadowoods, die Mel bereits mehrfach bemerkt hatte, trat zu ihm. Sie hatte ein kräftiges, intelligentes Gesicht und schulterlanges braunes Haar.

»Mr. Bakersfeld«, begann die Frau ruhig, »wir haben alle sehr viel geredet und verstehen jetzt verschiedenes besser als vorher. Ich habe aber immer noch nicht gehört, was ich meinen Kindern sagen soll, wenn sie weinen und fragen, warum der Lärm nicht aufhört, damit sie schlafen können.«

Mel schüttelte bedauernd den Kopf. In wenigen Worten hatte die Frau umrissen, wie vergeblich alles gewesen war, was sich an diesem Abend ereignet hatte. Er konnte ihr auch keine Antwort geben, und er bezweifelte auch, ob je eine gefunden werden würde, solange Flughäfen und Wohngemeinden enge Nachbarn blieben.

Er überlegte noch, was er antworten sollte, als Tanya ihm ein zusammengelegtes Blatt Papier reichte.

Als er es öffnete, las er eine Mitteilung, die erkennen ließ, daß sie hastig getippt worden war.

»flug 2 hatte explosion in der luft strukturelle schaden und verletzte kommt zurück für notlandung geschätzte ankunft 01.30. kap. sagt er muß landebahn drei null haben turm meldet landebahn noch blockiert.«

12

Zwischen den blutigen Trümmern, die jetzt das hintere Ende der Touristenkabine von Flug Zwei bildeten, wandte Dr. Milton Com-pagno, ein praktischer Arzt, sein äußerstes Können auf, und bemühte sich Gwen Meighens Leben zu retten. Er war nicht sicher, ob es ihm gelingen würde.

Als D. O. Guerreros Dynamitladung explodierte, war Gwen, nach Guerrero selbst, die Person, die sich dem Explosionsherd am nächsten befand. Unter anderen Umständen wäre sie, wie D. O. Guerrero, auf der Stelle getötet worden. Für den Augenblick retteten sie zwei Dinge.

Zwischen Gwen und der Explosion befanden sich Guerreros Körper und die Toilettentür. Keins von beiden bot einen wirksamen Schutz, doch zusammen genügten sie, die erste Gewalt der Explosion für einen Sekundenbruchteil zu dämpfen. Innerhalb dieses Sekundenbruchteils wurde die Außenhaut des Flugzeugs aufgerissen, und die zweite Explosion, die explosive Dekompression, trat ein.

Trotzdem traf die Dynamitexplosion Gwen, schleuderte sie schwerverletzt und blutend zurück, doch ihrer Gewalt wirkte eine bremsende Kraft entgegen: die Wucht der durch das Loch am hinteren Ende des Flugzeugrumpfs ausströmenden Luft. Die Wirkung war die, als ob zwei Tornados gegeneinander prallten. Einen Augenblick später siegte die Dekompression und riß die ursprüngliche Explosion mit sich in den hohen dunklen Nachthimmel hinaus.

Trotz der Gewalt der Explosion war die Zahl der Verletzten nicht sehr groß.

Die am gefährlichsten verletzte Gwen Meighen lag bewußtlos im Mittelgang. Neben ihr stand noch der eulenhafte junge Mann, der aus der Toilette aufgetaucht war und Guerrero erschreckt hatte. Auch er war verletzt, blutete stark und war benommen, hielt sich aber noch bei Bewußtsein auf den Beinen. Ein halbes Dutzend Passagiere in der Nähe erlitt Schnittverletzungen und Prellungen von Splittern und Trümmern. Andere wurden von Gegenständen getroffen, die durch den Sog der explosiven Dekompression nach hinten durch das Flugzeug gerissen wurden. Sie waren benommen und erlitten Prellungen, doch keine dieser Verletzungen erwies sich als gefährlich.

Nach der Dekompression wurden zuerst alle, die nicht sicher auf ihren Plätzen saßen, von dem Sog zu dem klaffenden Loch am hinteren Teil des Flugzeugs gerissen. Auch von dieser Gefahr war Gwen Meighen am stärksten bedroht. Aber sie war so gefallen, daß ein Arm — sei es instinktiv oder zufällig — sich um das Bein einer Sitzbank gehakt hatte. Das verhinderte, daß sie zurückgezerrt wurde, und ihr Körper hielt andere auf.

Nach dem ersten heftigen Ausströmen der Luft ließ der Sog schnell nach.

Jetzt bestand die größte unmittelbare Gefahr für alle, ob verletzt oder nicht, im Sauerstoffmangel. Obwohl die Sauerstoffmasken sich sofort aus ihren Gehäusen heruntersenkten, griff nur eine Handvoll Passagiere sofort danach und legte sie an.

Ehe es jedoch zu spät war, bewiesen einige ihre Geistesgegenwart. Stewardessen handelten ihrer Ausbildung entsprechend und griffen, wo sie gerade standen, nach Masken, und bedeuteten anderen das gleiche zu tun. Drei Ärzte, die sich mit ihren Frauen auf einer Gesellschaftsreise befanden, erkannten, daß Eile notwendig war, legten sich Masken an und gaben allen in ihrer Nähe befindlichen Passagieren hastig Anweisungen. Judy, die aufgeweckte achtzehnjährige Nichte von Zollinspektor Standish, legte eine Maske über das Gesicht des Babys auf dem Platz neben sich und griff selbst nach einer. Dann gab sie den Eltern des Babys und den Passagieren auf der anderen Seite des Mittelgangs Zeichen, sich mit Sauerstoff zu versorgen. Mrs. Quonsett, die schwarzfliegende alte Dame, hatte während ihrer illegalen Flüge so oft Sauerstoffmasken demonstriert gesehen, daß sie wußte, was sie zu tun hatte. Sie nahm sich selbst eine Maske und reichte eine ihrem Freund, dem Oboisten, den sie auf seinen Sitz neben sich zog. Mrs. Quon-sett hatte keine Ahnung, ob sie überleben würde, war darüber aber nicht sonderlich beunruhigt. Doch was auch geschehen würde — sie wollte bis zu ihrem allerletzten Moment mitbekommen, was vorging.

Jemand drückte dem jungen Mann bei Gwen, der verletzt worden war, eine Maske in die Hand. Er schwankte zwar und begriff kaum, was eigentlich geschah, es gelang ihm aber, sich die Maske vor das Gesicht zu halten.

Trotzdem stand kaum die Hälfte der Passagiere nach fünfzehn Sekunden — der kritischen Zeitspanne — unter Sauerstoff. Danach versanken alle, die keinen Sauerstoff bekamen, in einen Dämmerzustand. Nach weiteren fünfzehn Sekunden waren die meisten bewußtlos.

Gwen Meighen erhielt weder Sauerstoff noch sofortige Hilfe. Die durch ihre Verletzungen verursachte Bewußtlosigkeit vertiefte sich.

Dann nahm Anson Harris in der Pilotenkanzel das Risiko weiterer struktureller Schäden und einer möglichen völligen Zerstörung des Flugzeugs auf sich und entschied sich zu einem schnellen Sturzflug, wodurch er Gwen und andere vor dem Ersticken rettete.

Der Sturzflug begann in einer Höhe von achtundzwanzigtau-send Fuß, er endete zweieinhalb Minuten später bei zehntausend Fuß.

Ein Mensch kann ohne Sauerstoff drei bis vier Minuten lang leben, ohne daß das Gehirn geschädigt wird.

Während der ersten Hälfte des Sturzflugs — für ein und eine viertel Minute — blieb die Luft dünn und genügte nicht. Leben zu erhalten. Unter dieser Höhe wurde der Sauerstoffgehalt größer und die Luft atembar.

In zwölftausend Fuß Höhe war reguläres Atmen möglich. Bei zehntausend Fuß war nur noch wenig Zeit zu verlieren, aber es hatte ausgereicht, und alle Passagiere auf Flug Zwei kehrten zum Bewußtsein zurück, mit Ausnahme von Gwen. Viele hatten nicht einmal gemerkt, daß sie bewußtlos geworden waren.

Nachdem die Passagiere und die anderen Stewardessen langsam den ersten Schock überwunden hatten, überprüften sie ihre Situation. Die nach Gwen rangälteste Stewardess, eine muntere Blondine aus Oak Lawn in Illinois, eilte nach hinten zu den Verletzten. Sie erblaßte zwar, rief aber geistesgegenwärtig: »Ist ein Arzt hier, bitte?«

»Ja, Miss.« Dr. Compagno hatte seinen Platz bereits verlassen, ohne zu warten, bis er gerufen wurde. Er war ein kleiner Mann mit scharfen Gesichtszügen und ungeduldigen Bewegungen, der schnell und mit einem Brooklyn-Akzent sprach. Er spürte bereits die beißende Kälte und den scharfen Luftzug, der laut durch das klaffende Loch im Flugzeugrumpf drang. An Stelle der Toiletten und der hinteren Galley war dort ein verbogenes Durcheinander aus verkohltem und blutbeflecktem Holz und Metall. Der hintere Teil des Rumpfes und das Innere des Leitwerks waren offen, und die Steuerkabel und das Gerippe des Rumpfes waren bloßgelegt.

Der Arzt hob seine Stimme, um sich über das Sausen des Zugwinds und das Dröhnen der Motoren verständlich zu machen, die alles übertönten, nachdem die Kabine nicht mehr abgeschlossen war. »Bringen Sie so viele wie möglich weiter nach vorn. Halten Sie alle so warm, wie Sie können. Für die Verletzten brauchen wir Decken.«

Zweifelnd antwortete die Stewardess: »Ich will versuchen, welche zu finden.« Viele der Decken, die im allgemeinen in den Fächern über den Sitzen untergebracht waren, hatte der scharfe Sog bei der Dekompression mit der Garderobe und anderen Gegenständen der Passagiere hinausgefegt.

Die beiden anderen Ärzte in Dr. Compagnos Reisegesellschaft folgten seinem Beispiel. Einer instruierte eine der Stewardessen: »Bringen Sie uns alles Erste-Hilfe-Material, das Sie haben.« Dr. Compagno, der bereits neben Gwen kniete, war der einzige der drei, der seine Arzttasche bei sich hatte.

Es war charakteristisch für Milton Compagno, daß er überall und immer seine medizinische Bereitschaftstasche mitnahm. Und jetzt übernahm er die Führung, obwohl er nur praktischer Arzt war und in der beruflichen Rangordnung hinter den beiden anderen Ärzten, die Internisten waren, stand.

Milton Compagno betrachtete sich nie außer Dienst. Vor fünfunddreißig Jahren hängte er als junger Mann, der sich aus einem New Yorker Slumviertel zäh empor gekämpft hatte, in Chicagos Klein-Italien nahe der Milwaukee Avenue und der Grand Avenue sein Arztschild aus, und seitdem praktizierte er nur dann nicht, wie seine Frau voller Resignation oft sagte, wenn er im Bett lag und schlief. Es machte ihm Freude, daß er gebraucht wurde. Er handelte, als ob sein Beruf ein Preis wäre, den er gewonnen hatte, und wieder verlieren würde, wenn er ihn nicht behütete. Nie hatte man je von ihm gehört, daß er zu irgendeiner Tages- oder Nachtzeit einen Patienten abgewiesen oder einen Hausbesuch verweigert hätte, wenn er gerufen wurde. Niemals fuhr er am Schauplatz eines Unfalls vorbei, wie es viele seiner Berufskollegen aus Furcht vor Verwicklungen taten. Er hielt immer an, stieg aus und tat, was er konnte. Gewissenhaft hielt er seine medizinischen Kenntnisse auf dem neuesten Stand. Doch je angestrengter er arbeitete, desto besser schien es ihm zu gehen. Er machte den Eindruck, indem er jeden Tag so hinter sich brachte, als beabsichtige er alle Leiden der Welt in einem einzigen Leben, von dem nur noch wenig übriggeblieben war, zu heilen.

Diese Reise nach Rom, seit vielen Jahren immer wieder aufgeschoben, galt dem Besuch des Geburtsorts seiner Eltern. Einen Monat lang wollte Dr. Compagno mit seiner Frau fortbleiben, und da er alt wurde, hatte er zugestimmt, sie solle ausschließlich der Erholung dienen. Doch hatte er fest damit gerechnet, daß er irgendwann einmal unterwegs oder vielleicht in Italien — und um die Zulassungsbestimmungen kümmerte er sich selbstverständlich nicht —, gebraucht würde. Darauf war er vorbereitet. Es überraschte ihn nicht, daß dieser Fall jetzt schon eintrat.

Er trat zuerst zu Gwen, die eindeutig die schwersten Verletzungen erlitten hatte. Zu seinen Kollegen sagte er über die Schulter: »Kümmern Sie sich um die anderen.«

In dem schmalen Mittelgang drehte Dr. Compagno Gwen teilweise um, um festzustellen, ob sie atmete. Das tat sie, aber ihr Atem war dünn und flach. Der Stewardess, mit der er gesprochen hatte, rief er zu: »Ich brauche hier Sauerstoff.« Während das Mädchen eine tragbare Sauerstoffflasche mit einer Maske brachte, untersuchte er Gwens Mund darauf, ob die Atemwege verstopft wären. Ihr waren Zähne ausgeschlagen worden, die er entfernte sowie eine Menge Blut. Er vergewisserte sich, daß die Blutungen ihre Atmung nicht beeinträchtigten. Zu der Stewardess sagte er: »Halten Sie ihr die Maske vors Gesicht.« Der Sauerstoff zischte. Nach ein oder zwei Minuten nahm Gwens Haut, die beängstigend weiß gewesen war, einen Hauch Farbe an. Inzwischen begann er die vielen Blutungen im Gesicht und an der Brust zu stillen. Mit einem Hämo-stat klemmte er eine verletzte Arterie im Gesicht ab, die gefährlichste Stelle für eine äußere Blutung, und legte an anderen Stellen Druckverbände an. Er arbeitete schnell. Er hatte bereits Brüche am Schlüsselbein und am linken Arm festgestellt. Der Arm mußte später geschient werden. Voller Schrecken nahm er im linken Auge seiner Patientin Splitter wahr. Beim rechten Auge war er sich nicht ganz sicher.

Der Zweite Offizier Jordan, der sich vorsichtig an Dr. Compagno und Gwen vorbeigedrängt hatte, übernahm den Befehl über die anderen Stewardessen und überwachte die Unterbringung der Passagiere vorn im Flugzeug. Aus der Touristenklasse wurden so viele wie möglich in der Ersten-Klasse-Kabine untergebracht, manche zu zweit auf einem Sitz, andere in den kleinen halbkreisförmigen Salon gewiesen, wo freie Plätze zur Verfügung standen. Die noch vorhandene Oberkleidung wurde ohne Rücksicht auf die eigentlichen Besitzer an jene verteilt, die sie am dringendsten zu brauchen schienen. Wie immer in solchen Situationen zeigten die Menschen sich selbstlos und bereit einander zu helfen, sogar mit Anflügen von Humor.

Die beiden anderen Ärzte verbanden die Passagiere, die Schnittwunden erlitten hatten. Keine der Verletzungen war gefährlich. Der junge Mann mit der Brille, der im Augenblick der Explosion hinter Gwen gestanden hatte, hatte einen tiefen Schnitt am Arm erlitten, der aber heilen würde. Weitere leichte Schnittverletzungen hatte er im Gesicht und an den Schultern. Vorläufig erhielt sein verletzter Arm einen Druckverband, und er wurde so bequem wie möglich untergebracht.

Die ärztliche Betreuung und die Verlegung der Passagiere wurde durch die starken Stöße erschwert, denen das Flugzeug in der jetzigen niedrigeren Höhe durch den Sturm ausgesetzt war. Ständig traten Turbulenzen auf, die das Flugzeug alle paar Minuten in heftiges Schwanken und Schaukeln versetzten. Mehrere Passagiere wurden, zusätzlich zu ihren anderen Nöten, auch noch luftkrank.

Nachdem Cy Jordan sich zum zweitenmal in der Pilotenkanzel gemeldet hatte, kehrte er zu Dr. Compagno zurück.

»Doktor, Kapitän Demerest hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß er Ihnen für alles, was Sie und die anderen Ärzte tun, sehr dankbar ist. Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, wäre er Ihnen verbunden, wenn Sie selbst in das Cockpit kämen, um ihm zu sagen, was er über Funk für die Verletzten anfordern soll.«

»Halten Sie mal den Verband«, befahl Dr. Compagno. »Drücken Sie fest drauf — gerade hier —, und jetzt möchte ich, daß Sie mir beim Schienen helfen. Wir verwenden dazu eine dieser ledernen Zeitschriftenhüllen mit einem Handtuch darunter. Suchen Sie mir die größte Hülle, die Sie finden können, und nehmen Sie die Zeitschrift heraus.«

Einen Augenblick später fügte er hinzu: »Ich komme, sobald ich kann. Sagen Sie Ihrem Kapitän, ich hielte es für richtig, daß er sobald wie möglich eine Ansprache an die Passagiere richtet. Die Leute überwinden langsam den Schock und können eine Aufmunterung gebrauchen.«

»Jawohl, Sir.« Cy Jordan blickte auf die bewußtlose Gwen hinab. Sein schon immer melancholisches hohlwangiges Gesicht verriet seine ernste Sorge. »Besteht für sie eine Chance, Doktor?«

»Sie hat eine Chance, junger Mann, wenn ich auch nicht behaupten will, daß sie besonders groß ist. Es hängt viel von ihrer Energie ab.«

»Ich war immer überzeugt, daß sie sehr viel Energie besitzt.«

»Sie war wohl ein sehr hübsches Mädchen?« Die vielen Verletzungen, das Blut, das schmutzige, zerwühlte Haar ließ das kaum noch erkennen.

»Sehr hübsch.«

Compagno antwortete darauf nicht. Wie es auch ausging: Das Mädchen auf dem Boden würde nicht mehr hübsch sein — nicht ohne Schönheitschirurgie.

»Ich überbringe dem Kapitän Ihre Mitteilung, Sir.« Cy Jordan sah noch bleicher aus als vorher und ging zur Pilotenkanzel zurück.

Wenige Augenblicke später erklang Vernon Demerests ruhige Stimme aus den Lautsprechern in den Kabinen: »Meine Damen und Herren, hier spricht Kapitän Demerest . . .« Um das Brausen des Windes und das Dröhnen der Motoren zu übertönen, hatte Cy Jordan die Lautstärke voll aufgedreht. Jedes Wort war deutlich zu verstehen. »Sie wissen, daß wir in Gefahr waren, in großer Gefahr, und uns noch darin befinden. Ich will nicht versuchen, das zu beschönigen. Ich werde auch keine Scherze machen, denn hier vorn in der Pilotenkanzel sehen wir nichts, was komisch wäre, und Sie sind wahrscheinlich der gleichen Meinung. Wir haben etwas erlebt, was niemand von unserer Besatzung schon einmal erlebt hat und hoffentlich nie wieder erleben wird. Aber wir sind durchgekommen. Jetzt haben wir das Flugzeug unter Kontrolle, wir sind umgekehrt und nehmen an, daß wir in etwa einer dreiviertel Stunde auf Lin-coln International Airport landen werden.«

In den beiden Kabinen, in denen die Passagiere Erster Klasse und die der Touristenklasse durcheinandergemischt waren, hörte jede Bewegung und jede Unterhaltung auf. Instinktiv wandten alle ihre Augen den Lautsprechern zu und strengten ihr Gehör an, um sich kein Wort entgehen zu lassen.

»Sie wissen selbstverständlich, daß das Flugzeug beschädigt wurde. Die Beschädigungen hätten aber viel schlimmer sein können.«

Vernon Demerest saß mit dem Mikrofon in der Hand im Cockpit und fragte sich, wie detailliert und wie aufrichtig er die Lage schildern solle. Bei seinen regulären Flügen beschränkte er sich in seinen Ankündigungen an die Passagiere auf das knappste Minimum. Er mißbilligte wortreiche Kapitäne, die ihr zwangsweises Publikum vom Anfang bis zum Ende mit einer Reihe von Erklärungen bombardierten. Er spürte jedoch, daß er dieses Mal mehr sagen mußte und daß die Passagiere ein Recht darauf hatten, ihre wahre Situation zu erfahren.

»Ich will Ihnen nicht vorenthalten«, sagte Demerest ins Mikrofon, »daß noch einige Schwierigkeiten vor uns liegen. Unsere Landung wird hart sein, und wir wissen nicht genau, wie weit die vorhandenen Beschädigungen sie beeinflussen werden. Das sage ich Ihnen, weil die Besatzung sofort nach dieser Ankündigung Ihnen Anweisungen geben wird, wie Sie sich unmittelbar vor der Landung setzen und festhalten sollen. Ferner wird man Ihnen erklären, wie Sie das Flugzeug sofort nach der Landung schnell verlassen können, falls das notwendig wird. Sollte das der Fall sein, dann handeln Sie ruhig, aber schnell, und befolgen Sie jede Anweisung, die Ihnen von einem Besatzungsmitglied gegeben wird. Ich kann Ihnen versichern, daß auf dem Boden alles Erforderliche getan wird, um uns zu helfen.« Demerest dachte dabei, daß sie unbedingt Landebahn Drei-Null brauchten und hoffte, daß seine Behauptung wahr sei. Er kam auch zu der Überzeugung, daß es keinen Sinn habe, im einzelnen auf das Problem des festgeklemmten Höhenruders einzugehen. Die meisten Passagiere würden es sowieso nicht verstehen. In leichterem Ton fügte er hinzu: »In gewisser Weise haben Sie heute nacht Glück, denn der Zufall will es, daß Sie heute statt eines erfahrenen Kapitäns zwei in der Pilotenkanzel haben, Kapitän Harris und mich. Wir sind zwei alte Füchse mit mehr Jahren an Flugerfahrung, als uns selbst manchmal lieb ist, außer gerade in diesem Augenblick, da sich unsere gemeinsamen Erfahrungen als außerordentlich nützlich erweisen werden. Wir werden einander helfen, genau wie der Zweite Offizier Jordan, der einen Teil seiner Zeit hinten bei Ihnen verbringen wird. Helfen auch Sie uns bitte. Wenn Sie das tun, kann ich Ihnen versprechen, daß wir gemeinsam alles sicher überstehen werden.«

Demerest legte das Mikrofon an seinen Platz zurück.

Ohne seine Augen auf den Fluginstrumenten abzuwenden, meinte Anson Harris: »Das war sehr gut. Sie sollten in die Politik gehen.«

Mürrisch antwortete Demerest: »Für mich würde niemand stimmen. Meistens schätzen die Leute offene Worte und die Wahrheit nicht.« Er erinnerte sich verbittert an die Sitzung des Verwaltungsrats auf Lincoln International, bei der er auf die Verbannung der Flugversicherungsschalter aus dem Flughafen gedrängt hatte. Dort hatten offene Worte sich als katastrophal erwiesen. Er fragte sich, was der Verwaltungsrat empfinden würde, nachdem sie von D. O. Guerreros Abschluß einer Flugversicherung und seiner wahnwitzigen Absicht, das Flugzeug zu vernichten, erfahren hatten. Wahrscheinlich, dachte Demerest, werden sie genauso selbstgefällig sein wie immer, außer daß sie in Zukunft statt: »Das wird nie geschehen«, sagen werden: »Das war eine einmalige Ausnahme; die Wahrscheinlichkeit spricht dagegen, daß es wieder passiert.« Nun, vorausgesetzt, daß Flug Zwei sicher zurückkam, und gleichgültig, was alles gesagt oder nicht gesagt wurde — er würde unter allen Umständen von neuem einen großen Kampf gegen den Abschluß von Versicherungen auf dem Flughafen beginnen. Aber etwas hatte sich jetzt geändert: Dieses Mal würden mehr Leute aufhorchen. Die heute nacht fast eingetretene Katastrophe würde zweifellos große Beachtung in der Presse finden. Das wollte er nach Kräften ausnutzen. Ungeschminkt würde er die Reporter über die Flugversicherungen aufklären, über den Verwaltungsrat des Flughafens und nicht zuletzt über seinen kostbaren Schwager Mel Bakersfeld. Die Public-Relations-Bosse der Trans America würden sich selbstverständlich die größte Mühe geben, ihm den Mund zu verbieten — »im Interesse der Geschäftspolitik der Gesellschaft«. Das sollten sie nur versuchen!

Das Funkgerät wurde mit einem Knattern lebendig. »Trans America Zwei. Hier Cleveland Center. Lincoln meldet Landebahn Drei-Null vorübergehend außer Betrieb. Sie wollen versuchen, das Hindernis vor Ihrer Ankunft zu beseitigen. Falls das nicht gelingt, müssen Sie auf Zwei-Fünf landen.«

Harris' Gesicht wurde grimmig, während Demerest den Spruch bestätigte. Landebahn Zwei-Fünf war zweitausend Fuß kürzer, aber auch schmäler, und hatte derzeit starken Seitenwind. Wenn sie dort landen mußten, würde die schon bestehende Gefahr noch vervielfacht.

Demerests Ausdruck verriet seine Reaktion auf die Mitteilung unmißverständlich.

Immer noch wurden sie von dem Sturm heftig hin und her gestoßen. Die meiste Zeit war Harris völlig davon in Anspruch genommen, die Maschine einigermaßen ruhig zu halten.

Demerest drehte sich nach dem Zweiten Offizier um. »Cy, gehen Sie wieder zu den Passagieren, und übernehmen Sie dort das Kommando. Sorgen Sie dafür, daß die Mädchen nochmals das Verhalten bei der Landung vorführen und daß jeder versteht, wie er sich zu verhalten hat. Dann suchen Sie ein paar Schlüsselleute heraus, die einen zuverlässigen Eindruck machen. Sorgen Sie dafür, daß jeder weiß, wo die Notausgänge sind und wie sie geöffnet werden. Wenn wir über die Landebahn hinausrollen, was bestimmt passiert, wenn wir Zwei-Fünf benutzen müssen, kann alles sehr schnell auseinanderbrechen. In diesem Fall wollen wir alle versuchen, nach hinten zu kommen und zu helfen, aber es kann sein, daß dazu keine Zeit mehr ist.«

»Jawohl, Sir.« Wieder erhob sich Jordan von seinem Platz als Flugingenieur.

Demerest, der unruhig auf Nachricht über das Befinden Gwens wartete, wäre lieber selbst gegangen, aber in der gegenwärtigen Lage konnten weder er noch Harris das Cockpit verlassen.

Nachdem Cy Jordan gegangen war, kam Dr. Compagno. Man konnte jetzt leichter in die Pilotenkanzel und hinausgelangen, nachdem Jordan die aus den Angeln gerissene Tür zur Seite geschafft hatte.

Milton Compagno stellte sich Vernon Demerest kurz vor. »Kapitän, ich möchte Ihnen über die Verletzten berichten, wie Sie es gewünscht haben.«

»Wir sind Ihnen dankbar, Doktor. Wenn Sie nicht dagewesen wären . . .«

Mit einer Handbewegung schnitt Compagno ihm das Wort ab. »Über all das können wir später sprechen.« Er öffnete ein ledergebundenes Notizbuch, in dem ein dünner goldener Bleistift eine Seite markierte. Für Compagno war typisch, daß er bereits die Namen notiert und die Verletzungen und ihre Behandlung aufgezeichnet hatte. »Ihre Stewardess Gwen Meighen ist am schwersten verletzt. Sie hat zahlreiche stark blutende Schnittverletzungen im Gesicht und an der Brust, einen komplizierten Bruch des linken Oberarms und selbstverständlich einen schweren Schock erlitten. Benachrichtigen Sie bitte ferner die Stelle, die die Vorbereitungen auf dem Boden trifft, daß sofort ein Augenchirurg zur Verfügung steht.«

Vernon Demerest, mit blasserem Gesicht als sonst, mußte sich zusammennehmen, als er die Angaben des Arztes in das Logbuch der Maschine eintrug. Jetzt hielt er plötzlich erschrocken inne.

»Einen Augenchirurgen? Meinen Sie — ihre Augen seien . . .?«

»Ich fürchte, ja«, antwortete Dr. Compagno ernst. »Zumindest hat sie in ihrem linken Auge Splitter, ob Holz oder Metall vermag ich nicht zu entscheiden. Nur ein Spezialist kann beurteilen, ob die Netzhaut in Mitleidenschaft gezogen ist. Das rechte Auge ist, soweit ich das beurteilen kann, unverletzt.«

»Mein Gott!« Demerest spürte eine aufkommende körperliche Übelkeit und bedeckte sein Gesicht mit der Hand.

Dr. Compagno schüttelte den Kopf. »Es ist für jede Schlußfolgerung noch zu früh. Die moderne Augenchirurgie kann Ungewöhnliches vollbringen. Aber die Zeit spielt eine wichtige Rolle.«

»Wir werden alles, was Sie gesagt haben, über die Funkfrequenz unserer Gesellschaft weitergeben«, versicherte ihm Anson Harris. »Sie haben ausreichend Zeit, alles vorzubereiten.«

»Dann will ich Ihnen jetzt das übrige mitteilen.«

Mechanisch notierte Demerest den weiteren Bericht des Arztes. Im Vergleich mit Gwen waren die Verletzungen der anderen Passagiere leicht.

»Ich gehe jetzt lieber wieder nach hinten, um festzustellen, ob sich etwas geändert hat«, sagte Dr. Compagno.

Schroff sagte Demerest: »Bleiben Sie noch.«

Der Arzt hielt inne und sah ihn überrascht an.

»Gwen — das heißt, Miss Meighen . . .« Demerests Stimme klang mühsam und verlegen, selbst in seinen eigenen Ohren. »Sie war — ist — schwanger. Spielt das irgendwie eine Rolle?«

Er bemerkte, daß Anson Harris ihm einen überraschten Seitenblick zuwarf.

Der Arzt antwortete mit einem leicht abweisenden Unterton: »Das zu erkennen hatte ich keine Möglichkeit. Die Schwangerschaft kann aber noch nicht weit fortgeschritten sein.«

»Nein.« Demerest vermied es, Dr. Compagno in die Augen zu sehen. »Das ist sie noch nicht.« Vor wenigen Minuten noch hatte er sich entschlossen, diese Frage nicht zu stellen. Aber dann war ihm klargeworden, daß er es einfach wissen mußte.

Milton Compagno überlegte. »Auf ihre Kräfte, selbst zu genesen, hat es selbstverständlich keinen Einfluß. Was das Kind betrifft, so stand die Mutter nicht lange genug unter Sauerstoffmangel, um Schaden zu nehmen. Das hat niemand getan. Die Mutter hat keine Verletzungen am Unterleib erlitten.« Er schwieg kurz, ehe er umständlich fortfuhr: »Es sollten sich also keine nachteiligen Wirkungen ergeben. Vorausgesetzt, daß Miss Meighen am Leben bleibt — und wenn sie sofort zur Behandlung in ein Krankenhaus kommt, sind ihre Chancen als mittel bis gut zu beurteilen —, wird das Baby normal zur Welt kommen.«

Demerest nickte wortlos. Nach einem kurzen Zögern ging Dr. Compagno.

Zwischen den beiden Kapitänen herrschte für eine kurze Weile Stille. Anson Harris brach es schließlich. »Vernon, ich möchte mich vor der Landung etwas ausruhen. Würden Sie eine Zeitlang fliegen?«

Demerest nickte. Seine Hände und Füße übernahmen automatisch die Steuervorrichtungen. Er war dankbar, daß Gwens wegen keine Frage gestellt und kein Kommentar gegeben wurde. Was sich Harris auch dachte oder fragen mochte, er besaß den Anstand, es für sich zu behalten.

Harris griff nach den Aufzeichnungen der Informationen von Dr. Compagno. »Ich werde das mal durchgeben.« Er stellte das Funkgerät ein, um die Nachrichtenübermittlung der Trans America zu rufen.

Nach dem Schock und der Gefühlsaufwallung über das, was er gerade gehört hatte, bedeutete das Fliegen für Vernon Demerest eine physische Erleichterung. Möglicherweise hatte Harris das in Betracht gezogen, aber vielleicht auch nicht. Doch so oder so: es war sinnvoll, wenn derjenige, der die Landung durchführen sollte, seine Kräfte schonte.

Was die Landung selbst anging: so gefährlich sie werden mochte, schien Harris offensichtlich anzunehmen, daß er sie durchführen werde. Demerest sah auf Grund der bisherigen Leistung von Harris keinen Grund, weshalb er das nicht tun sollte.

Harris beendete sein Funkgespräch, stellte dann die Rückenlehne seines Sitzes zurück und entspannte seinen Körper.

Vernon Demerest, rechts neben ihm, versuchte sich ausschließlich auf das Fliegen zu konzentrieren. Für einen Piloten mit Erfahrung und Können war völlige Konzentration beim Geradeausflug, selbst unter schwierigen Umständen wie gerade jetzt, weder üblich noch notwendig. Doch so sehr er sich auch bemühte, jeden Gedanken an Gwen zu verbannen oder hinauszuschieben, sie setzten sich hartnäckig durch.

Gwen, deren Chance zu überleben »mittel bis gut« war, die heute abend strahlend und schön und voller Verheißung gewesen war, würde jetzt niemals nach Neapel kommen, wie sie es geplant hatten .. . Gwen, die ihm vor ein oder zwei Stunden mit ihrem klaren, sanften englischen Akzent gesagt hatte: »Zufälligliebe ich dich. . .«

Gwen, die er selber liebte, gegen seinen Willen, und warum sollte er sich das nicht eingestehen? . . .

Mit Kummer und Qual sah er sie vor sich — verletzt, bewußtlos und mit seinem Kind unter dem Herzen; dem Kind, das er sie gedrängt hatte, wie einen unerwünschten Wurf Jungtiere zu beseitigen ... Sie hatte es tapfer aufgenommen. »Ich habe mich schon gefragt, wann du darauf zu sprechen kämest. . .« Später war sie unsicher und gequält gewesen. »Es ist ein Geschenketwas Großes und Wunderbares. Und dann steht man plötzlich in unserer Situation davor, allem ein Ende zu machen, zu vergeuden, was einem geschenkt wurde.««

Doch schließlich hatte sie seinem Zureden nachgegeben. »Nun, am Ende werde ich wohl das tun, was vernünftig ist Ich werde eine Abtreibung machen.««

Das kam jetzt nicht mehr in Frage. In dem Krankenhaus, in das Gwen kam, würde man das nicht zulassen, es sei denn, daß es eindeutig darum ging, die Mutter oder das ungeborene Kind zu retten. Nach dem, was Dr. Compagno gesagt hatte, erschien es unwahrscheinlich, daß es dazu käme. Und nachher würde es zu spät sein.

Wenn Gwen also durchkam, würde das Kind geboren werden. War er darüber erleichtert oder tat es ihm leid? Vernon Demerest war sich dessen nicht sicher.

Er erinnerte sich jedoch an etwas anderes, das Gwen gesagt hatte. »Der Unterschied zwischen dir und mir ist der, daß du ein Kind gehabt hast. . . Was auch geschieht, irgendwo wird immer jemand sein, der wieder du ist.«

Sie hatte von dem Kind gesprochen, das er niemals kennengelernt hatte, nicht einmal den Namen, dem Mädchen, das in das Räderwerk des PPP-Arrangements der Trans America hineingeboren worden war, das sofort und für immer seinem Blick entschwunden war. Heute abend hatte er auf Befragen zugegeben, daß er manchmal an es dachte und sich fragte, was aus ihm geworden sein mochte. Was er nicht zugegeben hatte war: daß er es öfter tat, als ihm angenehm war.

Seine unbekannte Tochter war jetzt elf Jahre alt. Demerest kannte ihren Geburtstag, und obwohl er versuchte, sich dessen nicht zu erinnern, tat er es immer, und wünschte sich jedes Jahr dasselbe: daß er irgend etwas tun könne, und sei es auch nur etwas so Gewöhnliches, wie ihr einen Glückwunsch zu schicken . . . Er nahm an, es geschähe, weil er und Sarah niemals ein Kind gehabt hatten — obwohl sie beide sich Kinder wünschten —, dessen Geburtstag er feiern konnte . . . Bei anderen Gelegenheiten stellte er sich Fragen, auf die es keine Antworten gab, wie er genau wußte: Wo war seine Tochter? Was war sie für ein Kind? War sie glücklich? Manchmal sah er sich nach Kindern auf der Straße um, wenn sie im richtigen Alter zu sein schienen, und überlegte, ob eines nicht durch einen puren Zufall . . . Dann verspottete er sich selbst wegen seiner Torheit. Gelegentlich verfolgte ihn der Gedanke, seine Tochter könne mißhandelt werden oder Hilfe brauchen, die er nicht geben konnte, weil er nicht wußte wie . . . Bei dieser instinktiven Erinnerung packte Vernon Demerest die Steuersäule unwillkürlich fester.

Zum erstenmal erkannte er: Die gleiche Ungewißheit würde er nicht noch einmal ertragen können. Sein ganzes Wesen verlangte Klarheit. Die Abtreibung hätte er auf sich nehmen und durchstehen wollen und können, weil sie etwas Klares, Endgültiges war. Darüber hinaus hatte nichts von dem, was Harris über das Thema gesagt hatte, seine Ansichten beeinflussen können. Gewiß, später mochten ihm Zweifel kommen, würde er es vielleicht bedauern, aber er würde es eindeutig wissen.

Der Lautsprecher über ihm brach abrupt in seine Gedanken ein. »Trans America Zwei, hier ist Cleveland Center. Gehen Sie nach links auf Kurs zwei null fünf. Wenn Sie bereit sind, gehen Sie auf sechstausend hinunter. Melden Sie, wenn Sie zehn verlassen.«

Demerests Hand zog alle vier Treibstoffhebel zurück, um tiefer zu gehen. Er stellte den Flugrichtungsanzeiger neu ein und ging vorsichtig in die Kurve.

»Trans America Zwei geht auf Kurs zwei null fünf«, meldete Harris an Cleveland. »Wir verlassen zehntausend jetzt.«

Das Stoßen wurde stärker, je tiefer sie kamen, aber mit jeder Minute kamen sie ihrem Ziel und der Hoffnung auf Sicherheit näher. Sie näherten sich auch dem Grenzpunkt auf der Flugroute, wo Cleveland sie jeden Augenblick an Chicago Center weitergeben würde. Von da hatten sie noch dreißig Minuten, ehe sie in den Bereich der Anflugkontrolle von Lincoln International kamen.

Harris sagte ruhig: »Vernon, Sie wissen ja wohl, wie tief erschüttert ich wegen Gwen bin.« Er zögerte. »Was zwischen Ihnen beiden besteht, geht mich nichts an, aber wenn ich als Freund irgend etwas tun kann . . .«

»Nein, nichts«, erwiderte Demerest. Er hatte nicht die Absicht, sich Anson Harris zu offenbaren, der zwar ein fähiger Pilot, in Demerests Augen aber deswegen um nichts weniger ein altes Weib war.

Demerest bedauerte es jetzt, daß er vor einigen Minuten so viel preisgegeben hatte, aber er war das Opfer seiner Gefühle geworden, etwas, das ihm selten widerfuhr. Jetzt ließ er sein Gesicht einen finsteren Ausdruck annehmen: sein Schild gegen die Enthüllung persönlicher Gefühle.

»Durchschreiten Höhe achttausend«, meldete Anson Harris der Flugsicherung.

Demerest hielt die stetig sinkende Maschine weiter auf Kurs.

Seine Blicke wanderten unaufhörlich in gleicher Reihenfolge über die Instrumente.

Er erinnerte sich an etwas mit dem Kind — seinem Kind —, das vor elf Jahren geboren worden war. Viele Wochen lang hatte er sich vor der Geburt des Kindes mit dem Problem herumgeschlagen, ob er Sarah seine Untreue gestehen und ihr den Vorschlag machen solle, das Kind als ihr eigenes zu adoptieren. Am Ende hatte ihm dazu der Mut gefehlt. Er fürchtete die schockierte Reaktion seiner Frau; er fürchtete, daß Sarah das Kind nie akzeptieren würde, dessen Vorhandensein sie immer als einen ständigen Vorwurf ansehen würde.

Lange danach und viel zu spät erkannte er, daß er Sarah damit Unrecht getan hatte. Gewiß, sie wäre schockiert und verletzt gewesen, genauso wie sie jetzt schockiert und verletzt sein würde, wenn sie von Gwen erfuhr. Aber dann, bald danach, hätte Sarahs Fähigkeit, mit den Dingen fertig zu werden, gesiegt. Bei all ihrer Gemütsruhe und dem, was Demerest für Langweiligkeit an ihr hielt, trotz ihrer bürgerlichen Vorstadtaktivität — der Kegelklub, die Amateurmalerei —, besaß seine Frau Sarah einen soliden, gesunden Kern. Er nahm an, deshalb habe seine Ehe Bestand gehabt, denn nicht einmal jetzt zog er eine Scheidung überhaupt in Erwägung.

Sarah hätte eine Lösung gefunden. Sie hätte ihn eine Zeitlang zappeln und leiden lassen, vielleicht eine lange Zeit, aber sie hätte der Adoption zugestimmt, und derjenige, der ganz gewiß nicht gelitten hätte, wäre das Kind gewesen. Dafür hätte Sarah gesorgt; zu dieser Sorte Menschen gehörte sie. Er dachte: Wenn bloß . . .

Laut sagte Demerest: »Das Leben ist voll von gottverdammten >Wenn bloße.«

Er brachte die Maschine in sechstausend Fuß in ebene Lage und schob die Treibstoffhebel vor, um die Geschwindigkeit zu halten. Das Dröhnen der Düsenmotoren wurde stärker.

Harris hatte die Funkfrequenz geändert und meldete sich bei Chicago Center, nachdem sie den Übergabepunkt passiert hatten.

Er fragte: »Haben Sie etwas gesagt?« Demerest schüttelte den Kopf.

Der Sturm war so wild wie eh und je, und die Maschine wurde nach wie vor hin- und hergestoßen.

»Trans America Zwei, wir haben mit Ihnen Radarkontakt«, krächzte eine neue Stimme von Chicago Center.

Harris nahm noch den Funkverkehr wahr.

Was Gwen anging, konnte er gut und gern schon jetzt eine Entscheidung treffen, überlegte Demerest. Also gut, beschloß er, er würde sich Sarahs Tränen und Beschuldigungen aussetzen, vielleicht auch ihrem Zorn, aber er wollte sie über Gwen unterrichten. Er würde zugeben, daß er für Gwens Schwangerschaft verantwortlich war.

Die Hysterie, die sich zu Hause daraus ergeben würde, konnte mehrere Tage anhalten, und die Nachwirkungen vielleicht Wochen und Monate, und in dieser Zeit würde er viel auszuhallen haben. Doch wenn das Schlimmste überstanden war, würden sie ein Arrangement finden. Seltsamerweise — und er nahm an, das zeige die Größe seines Vertrauens zu Sarah — hatte er daran nicht den geringsten Zweifel.

Er hatte keine Ahnung, was sie tun würden, und eine ganze Menge würde von Gwen abhängen. Trotz allem, was der Arzt gerade über die Schwere von Gwens Verletzungen gesagt hatte, war Demerest überzeugt, daß sie durchkommen werde. Gwen besaß Kraft und hatte Mut, selbst in der Bewußtlosigkeit würde sie um ihr Leben kämpfen und sich schließlich, welche Behinderungen sie auch zurückbehalten mochte, mit ihnen abfinden. Sie würde auch ihre eigenen Ansichten wegen des Kindes haben, es vielleicht gar nicht so leicht aufgeben. Gwen war niemand, der sich herumschubsen oder vorschreiben ließ, was sie zu tun hatte. Sie traf ihre Entscheidungen für sich selbst.

Was dabei herauskommen konnte, war, daß er schließlich zwei Frauen plus einem Kind hatte, statt nur einer. Damit war vielleicht nicht ganz leicht fertig zu werden.

Damit war auch die Frage aufgeworfen: Wie weit würde Sarah das mitmachen?

Mein Gott! Was für eine teuflische Situation.

Aber nachdem er jetzt seinen ersten Entschluß gefaßt hatte, war er der Überzeugung, daß etwas Gutes dabei herauskommen würde. Grimmig dachte er, bei allem, was er an Sorgen und barem Geld draufzuzahlen hatte, mußte es gut sein.

Der zurücklaufende Höhenmesser zeigte an, daß sie die Höhe von fünftausend Fuß durchschritten.

Und da war selbstverständlich noch das Kind. Er begann bereits diesen Teil des Problems in einer neuen und andersgearteten Weise zu sehen. Natürlich würde er sich nicht erlauben, deswegen widerwärtig sentimental zu werden, wie manche Leute das taten — An-son Harris bot dafür ein Beispiel —, aber schließlich und endlich war es ja sein Kind. Das war für ihn ein neues Erlebnis.

Was hatte Gwen heute abend auf der Fahrt zum Flughafen noch gesagt? ». . . ein kleiner Vernon Demerest in mir. Wenn wir einen Jungen bekommen, könnten wir ihn Vernon Demerest den Zweiten nennen, wie die Amerikaner das so machen.««

Das war vielleicht gar kein so schlechter Gedanke. Er lachte leise vor sich hin.

Harris sah ihn von der Seite an. »Worüber lachen Sie denn?«

Demerest explodierte. »Ich lache nicht! Warum, zum Teufel, sollte ich lachen? Was gibt es für uns schon zu lachen?«

Harris zuckte die Achseln. »Ich meinte, ich hätte Sie lachen hören.«

»Das ist das zweitemal, daß Sie etwas hören, als es nichts zu hören gab. Ich empfehle Ihnen, nach diesem Testflug ihre Ohren untersuchen zu lassen.«

»Es besteht gar kein Grund, unfreundlich zu werden.«

»Wirklich nicht? Wirklich nicht?« Demerest wurde wütend und aufgebracht. »Vielleicht fehlt bei dieser ganzen Schweinerei nur jemand, der unfreundlich wird.«

»Wenn das stimmen sollte, ist dazu niemand besser qualifiziert als Sie«, antwortete Harris.

»Dann fliegen Sie also wieder, wenn Sie mit Ihrer verdammten dummen Fragerei fertig sind, und lassen Sie mich mit diesen Schlafmützen auf dem Boden sprechen.«

Anson Harris richtete seine Rückenlehne wieder auf. »Von mir aus, wenn Sie wollen.« Er nickte. »Ich habe sie.«

Demerest gab die Steuerung frei und griff nach dem Funkmikrofon. Nachdem er seinen Entschluß gefaßt hatte, fühlte er sich woh-ler und stärker. Er gab seiner Stimme einen scharfen Klang. »Chicago Center, hier ist Kapitän Demerest von Trans America Zwei.

Hört ihr da unten noch zu, oder habt ihr Schlaftabletten genommen und Feierabend gemacht?«

»Hier Chicago Center, Kapitän. Wir hören noch, und niemand hat Feierabend gemacht.« Die Stimme des Kontrolleurs hatte einen vorwurfsvollen Ton.

Demerest ignorierte ihn. »Warum bekommen wir dann nichts davon zu spüren, verdämmt noch mal. Unsere Maschine ist in ernsten Schwierigkeiten. Wir brauchen Hilfe.«

»Halten Sie sich bitte bereit.« Nach einer kurzen Pause meldete sich eine andere Stimme. »Hier Chicago Center, der Dienstleiter. Kapitän, Trans America Zwei, ich habe Ihren letzten Funkspruch mitgehört. Verstehen Sie bitte, daß wir alles tun, was wir können. Ehe Sie in unseren Bereich kamen, hat ein Dutzend Leute daran gearbeitet, allen anderen Flugverkehr umzuleiten. Wir sind noch dabei. Wir geben Ihnen erste Priorität, eine klare Funkfrequenz und einen geraden Kurs nach Lincoln.«

Demerest schnauzte: »Das genügt nicht.« Er machte eine Pause, drückte den Schaltknopf des Mikrofons herunter und fuhr dann fort: »Dienstleiter Chicago, hören Sie genau zu. Ein gerader Anflugkurs auf Lincoln genügt nicht, wenn er auf Landebahn ZweiFünf führt oder irgendeine andere Landebahn außer Drei-Null. Erzählen Sie mir nicht, daß Drei-Null nicht betriebsbereit ist. Das habe ich schon gehört, und ich kenne den Grund. Jetzt schreiben Sie folgendes auf, und sorgen Sie dafür, daß Lincoln es richtig versteht: >Unsere Maschine ist schwer überladen. Wir werden mit hoher Geschwindigkeit landen. Außerdem haben wir strukturelle Schäden sowie ein nicht funktionierendes Höhensteuer und fragwürdige Seitensteuerung. Wenn wir auf Zwei-Fünf runtergebracht werden, gibt es ein zerschelltes Flugzeug und Tote, ehe die nächste Stunde vorbei ist.< Rufen Sie also Lincoln an, und ziehen Sie die Schrauben an. Sagen Sie denen, mir ist es gleichgültig, wie sie es schaffen — wenn es sein muß, sollen sie in die Luft sprengen, was Drei-Null blockiert —, aber wir brauchen diese Landebahn. Haben Sie verstanden?«

»Ja, Trans America Zwei, wir verstehen sehr gut.« Die Stimme des Dienstleiters klang unberührt, aber etwas menschlicher als vorher. »Ihre Nachricht wird gerade an Lincoln weitergegeben.«

»Gut.« Demerest drückte wieder auf den Knopf des Mikrofons. »Ich habe noch eine Nachricht. Sie geht an Mel Bakersfeld, Generaldirektor auf Lincoln. Geben Sie ihm die erste Nachricht und fügen Sie folgendes hinzu: >Persönlich von seinem Schwager: Du Schuft bist an dieser Schweinerei mit schuld, weil du wegen der Flugsicherung auf Flughäfen nicht auf mich gehört hast. Jetzt bist du es mir und allen anderen in dieser Maschine schuldig, daß du von deinem Pinguinsteiß herunterkommst und diese Landebahn freimachst.< «

Die Stimme des Dienstleiters klang zweifelnd. »Trans America Zwei, wir haben Ihren Text aufgenommen. Kapitän, wollen Sie wirklich diese Worte gebrauchen?«

»Chicago Center«, schnauzte Demerests Stimme zurück, »Sie haben verdammt recht, genau diese Worte will ich gebrauchen, und Sie geben sie weiter! Ich befehle Ihnen, diese Mitteilung zu senden — schnell, laut und deutlich.«

13

In seinem schnell fahrenden Wagen konnte Mel Bakersfeld über den Funk der Bodenkontrolle hören, wie die Rettungsfahrzeuge des Flughafens aufgerufen und in ihre Positionen beordert wurden.

»Bodenkontrolle an City fünfundzwanzig.«

City fünfundzwanzig war das Rufzeichen für den Leiter der Feuerwehr des Flughafens.

»Hier City fünfundzwanzig unterwegs. Sprechen Sie, Bodenkontrolle.«

»Weitere Informationen. Notlandung Alarmstufe Zwei in etwa 35 Minuten. Die fragliche Maschine ist in ihrer Manövrierfähigkeit behindert und wird auf Landebahn Drei-Null niedergehen, wenn sie offen ist. Wenn nicht, verwenden wir Rollbahn Zwei-Fünf.«

Soweit es möglich war, vermieden die Kontroller der Flughäfen über Funk eine Fluggesellschaft zu nennen, die in einen Unfall oder in einen möglichen Unfall verwickelt war. Die Formel »fragliche Maschine« wurde als Tarnung verwendet. Fluggesellschaften waren in diesen Dingen empfindlich und vertraten den Standpunkt, je seltener ihr Name in einem solchen Zusammenhang genannt wurde, desto besser sei es.

Trotzdem sah Mel voraus: Was heute nacht geschah, würde große Beachtung in der Öffentlichkeit finden, höchstwahrscheinlich in der ganzen Welt.

»City fünfundzwanzig an Bodenkontrolle. Fordert der Pilot Schaum auf der Landebahn an?«

»Keinen Schaum, wiederhole: keinen Schaum.«

Keinen Schaum bedeutete, daß das Flugzeug ein einsatzfähiges Fahrwerk hatte und keine Bauchlandung vornehmen mußte.

Alle Einsatzfahrzeuge — Löschwagen, Werkzeugwagen und Krankenwagen — folgten, wie Mel wußte, dem Leiter der Feuerwehr, der eine eigene Funkfrequenz hatte, um mit jedem einzelnen sprechen zu können. Wenn eine Notlandung angekündigt wurde, wartete niemand. Man befolgte das Prinzip: Besser zu früh bereit als zu spät. Die Fahrzeuge des Notdienstes würden jetzt Posten zwischen den beiden Landebahnen beziehen und bereitstehen, zur einen oder anderen zu fahren, ganz wie es erforderlich sein würde. Dieses Verfahren hatte nichts mit Improvisation zu tun. Jeder Schritt in Situationen dieser Art war in allen Einzelheiten in einem grundlegenden Einsatzplan für Notfälle auf dem Flughafen ausgearbeitet.

Als eine Pause im Funksprechverkehr eintrat, drückte Mel auf den Schaltknopf seines eigenen Mikrofons. »An Bodenkontrolle von Mobil eins.«

»Mobil eins, kommen.«

»Ist Joe Patroni bei dem festgefahrenen Flugzeug auf Landebahn Drei-Null über den neuen Notstand unterrichtet worden?«

»Jawohl. Wir stehen in Funkverbindung.«

»Was berichtet Patroni über seinen Stand?«

»Er rechnet damit, die festgefahrene Maschine in zwanzig Minuten von der Stelle bewegen zu können.«

»Ist er dessen sicher?«

»Nein.«

Mel Bakersfeld ließ den Schaltknopf wieder los. Zum zweitenmal in dieser Nacht fuhr er über das Flugfeld, eine Hand am Steuer, in der anderen das Mikrofon. Er fuhr so schnell, wie er es bei dem fortgesetzten Schneetreiben und der beschränkten Sicht wagen konnte. Die Lichter der Taxiwege und Startbahnen wiesen ihm den Weg durch die Dunkelheit und huschten vorbei. Auf den Vordersitzen des Wagens neben ihm saßen Tanya Livingston und der Reporter Tomlinson von der Tribune.

Vor wenigen Minuten hatte Mel sich, nachdem Tanya ihm die Meldung über die Explosion an Bord von Flug Zwei und den Versuch der Maschine, Lincoln International wieder zu erreichen, überbracht hatte, sofort von den versammelten Einwohnern Meado-woods freigemacht. Mit Tanya an seiner Seite eilte er zu den Fahrstühlen, die ihn zwei Stockwerke tiefer zu der Garage und seinem Dienstwagen im Keller bringen sollten. Jetzt war Mels Platz auf Landebahn Drei-Null, um selbst das Kommando zu übernehmen, falls es notwendig werden sollte. Er drängte sich durch die Menschenmenge in der Haupthalle, als er den Reporter der Tribune erblickte und knapp sagte: »Kommen Sie mit.« Er war Tomlinson als Gegenleistung für den Tip über Elliott Freemantle — das Formular für die Bevollmächtigung sowohl als die späteren lügenhaften Behauptungen des Rechtsanwalts, die Mel dann widerlegen konnte — eine Gefälligkeit schuldig. Als Tomlinson zögerte, schnauzte Mel: »Ich habe keine Zeit zu vergeuden, aber ich gebe Ihnen eine Chance, und wenn Sie die nicht wahrnehmen, werden Sie es später vielleicht bereuen.« Ohne weitere Fragen schloß Tomlinson sich ihm an.

Während sie jetzt fuhren, überholte Mel, sobald sich eine Gelegenheit bot, die zum Start rollenden Flugzeuge. Tanya wiederholte das Wesentliche der Nachrichten über Flug Zwei.

»Ich möchte das ganz genau verstehen«, sagte Tomlinson. »Nur eine Landebahn ist lang genug und führt in der notwendigen Richtung?«

Mel bestätigte grimmig: »Genauso ist es, obwohl wir zwei haben müßten.« Erbittert erinnerte er sich an die Vorschläge, die er in drei aufeinanderfolgenden Jahren für eine zusätzliche Landebahn parallel zu Drei-Null gemacht hatte. Der Flughafen brauchte sie. Die Verkehrsdichte und die Sicherheit der Flugzeuge schrien nach einer Verwirklichung von Mels Vorschlägen, insbesondere da es zwei Jahre dauern würde, die Landebahn zu bauen. Aber andere Einflüsse erwiesen sich als stärker. Es war kein Geld dafür dagewesen, die neue Landebahn war nicht gebaut worden. Und trotz Mels weiteren Vorstellungen war der Bau noch nicht einmal genehmigt worden.

Bei einer ganzen Reihe von Projekten war es Mel gelungen, den Verwaltungsrat des Flughafens auf seine Seite zu bringen. Im Fall der vorgeschlagenen neuen Landebahn hatte sich Mel jedes Mitglied des Verwaltungsrats einzeln vorgenommen und ihm war Unterstützung versprochen worden; später wurden diese Versprechungen aber wieder zurückgezogen. Theoretisch war der Verwaltungsrat des Flughafens von jedem politischen Druck unabhängig, praktisch aber verdankten sie ihre Berufung dem Bürgermeister und waren in den meisten Fällen selbst politisch gebunden. Wenn der Bürgermeister unter Druck gesetzt wurde, die Ausgabe einer Anleihe für den Flughafen zugunsten anderer Projekte, die ähnlich finanziert werden mußten, aber vermutlich mehr Wählerstimmen gewinnen würden, hinauszuschieben, setzte sich der Druck durch. Bei der vorgeschlagenen neuen Landebahn setzte er sich nicht nur durch, sondern erwies sich dreimal als erfolgreich. Es lag eine Ironie darin, daß der dreistöckige Ausbau der Parkplätze des Flughafens, der zwar nicht so notwendig, aber spektakulärer war, nicht zurückgestellt wurde.

Kurz und in klaren Worten, die er sich bisher für ein vertrauliches Gespräch aufbewahrt hatte, schilderte Mel die Situation samt ihren politischen Hintergründen.

»Ich möchte das alles verwenden, was ich da von Ihnen höre.« In Tomlinsons Stimme lag die beherrschte Erregung eines Reporters, der weiß, daß er einem guten Bericht auf der Spur ist. »Darf ich das?«

Wenn das gedruckt erschien, würde der Teufel los sein, das war Mel klar. Er konnte sich schon die empörten Anrufe vom Rathaus am Montagmorgen vorstellen. Aber jemand mußte es einmal sagen. Die Öffentlichkeit mußte erfahren, wie ernst die Lage war.

»Machen Sie es ruhig«, antwortete Mel. »Wahrscheinlich bin ich heute in der Laune, mal auszupacken.«

»Den Eindruck habe ich auch.« Der Reporter sah Mel von der anderen Seite des Wagens her forschend an. »Wenn ich das sagen darf: Sie waren heute abend groß in Form. Gerade eben, und mit dem Rechtsanwalt und diesen Leuten aus Meadowood. Viel ähnlicher Ihrem alten Selbst. So habe ich Sie schon lange nicht mehr reden hören.«

Mel hielt seinen Blick auf die Taxibahn vor sich gerichtet und wartete darauf, an einer DC-8 der Eastern vorbeizukommen, die nach links abbog. Aber er dachte: War sein Auftreten während der letzten ein oder zwei Jahre, das Fehlen seines alten Kampfgeistes, so offenkundig gewesen, daß es auch andere bemerkt hatten?

Neben ihm, dicht genug, daß er ihre Nähe und ihre Wärme spürte, sagte Tanya leise: »Die ganze Zeit über, während wir hier reden

— über Landebahnen, die öffentliche Meinung, Meadowood und so weiter — ich denke ständig an die Leute in Flug Zwei, was sie wohl empfinden mögen — ob sie Angst haben.«

»Die haben bestimmt Angst«, antwortete Mel, »wenn sie einigermaßen bei Vernunft sind und wenn sie wissen, was vorgeht. Ich hätte auch Angst.«

Er erinnerte sich seiner Angst, als er vor vielen Jahren in dem sinkenden Militärflugzeug eingeklemmt gewesen war. Wie durch die Erinnerung ausgelöst spürte er einen scharfen Schmerz in der alten Verwundung an seinem Fuß. In der Aufregung der letzten Stunden war es ihm gelungen, die Beschwerden zu vergessen, aber wie immer bei Ermüdung und Überanstrengung setzten sie sich am Ende doch durch. Mel preßte die Lippen fest zusammen und hoffte, der Schmerzanfall würde nachlassen oder vorübergehen.

Er hatte auf eine weitere Pause im Wechsel der Funksprüche zwischen den Bodenstellen gewartet, und als jetzt eine eintrat, drückte er wieder auf den Schaltknopf des Mikrofons.

»Mobil eins an Bodenkontrolle. Haben Sie eine Meldung von der sich in Not befindenden Maschine, wie dringend sie Landebahn Drei-Null braucht?«

»Mobil eins, nach den vorliegenden Meldungen sehr dringend. Spricht dort Mr. Bakersfeld?«

»Ja, ich bin es selbst.«

Mel fuhr weiter und näherte sich jetzt Landebahn Drei-Null, während er auf Antwort wartete. Was jetzt kam, würde darüber entscheiden, ob er zu den drastischen Maßnahmen greifen mußte, die er bereits erwog.

»Bodenkontrolle an Mobil eins. Folgende Nachricht erhielten wir gerade von der betreffenden Maschine. Anfang der Meldung: >Ein gerader Anflugkurs genügt nicht, wenn er auf Landebahn Zwei-Fünf führt. Maschine ist schwer überladen. Wir werden mit hoher Geschwindigkeit landen . . .< «

Die drei in dem Wagen hörten gespannt Vernon Demerests Nachricht an. Bei den Worten: »Wenn wir auf Zwei-Fünf runtergebracht werden, gibt es ein zerschelltes Flugzeug und Tote«, hörte Mel, wie Tanya scharf einatmete, und spürte ihr Schaudern.

Er wollte schon den Empfang der Durchgabe bestätigen, als die Bodenkontrolle weitersprach.

»Mobil eins — Mr. Bakersfeld, zu dieser Meldung liegt ein Zusatz vor, persönlich an Sie gerichtet, von Ihrem Schwager. Können Sie irgendwo ein Telefon erreichen?«

»Ausgeschlossen« antwortete Mel. »Lesen Sie den Text ruhig gleich vor.

»Mobil eins . . .« Er spürte, daß der Kontroller zögerte. »Die Ausdrücke sind sehr persönlich.«

Dem Kontroller war wie Mel bekannt, daß viele Ohren auf dem ganzen Flughafen zuhören würden.

»Bezieht es sich auf die gegenwärtige Situation?«

»Ja.«

»Dann lesen Sie.«

»Jawohl, Sir. Die Mitteilung beginnt mit: >Du Schuft bist an dieser Schweinerei mit schuld, weil du wegen der Flugversicherungen auf Flughäfen nicht auf mich gehört hast . . .< «

Mel preßte die Lippen zusammen, wartete aber, bis die Durchsage beendet war, und bestätigte dann kommentarlos: »Verstanden. Ende.« Er war überzeugt, daß es Vernon das größte Vergnügen bereitet hatte — soweit gegenwärtig an Bord von Flug Zwei irgend etwas Vergnügen machen konnte — und daß er sich noch mehr amüsieren würde, wenn er erfuhr, auf welchem Weg sie an ihn weitergeleitet worden war.

Allerdings war dieser Zusatz überflüssig, denn Mel hatte seine Entscheidung schon auf Grund der ersten Nachricht getroffen.

Sein Wagen fuhr jetzt schnell die Landebahn Drei-Null entlang.

Der Kreis der Scheinwerfer und Hilfsfahrzeuge um die festgefahrene Düsenmaschine der Aereo Mexican kamen jetzt in Sicht. Befriedigt stellte Mel fest, daß auf der Landebahn nur eine dünne Schneedecke lag. Obwohl ein Teil der Bahn blockiert war, war die übrige Bahn freigefegt worden.

Er schaltete sein Funkgerät auf die Frequenz des Wartungsdienstes des Flughafens.

»Mobil eins an Schneekontrolle.«

»Hier Schneekontrolle.« Danny Farrows Stimme klang müde, was nicht überraschen konnte. »Sprechen Sie.«

»Danny, lösen Sie die Conga-Kette auf. Schicken Sie die Osh-kosh-Pflüge und die schweren Schleudern nach Landebahn DreiNull herüber. Sie sollen zu der Stelle, wo die festgefahrene Maschine steckt, und dort auf weitere Anweisungen warten. Schicken Sie sie gleich los, und rufen Sie mich sofort zurück.«

»Verstanden, sofort.« Danny schien noch eine Frage stellen zu wollen, überlegte es sich aber offensichtlich. Einen Augenblick später hörten die drei in dem Wagen auf der gleichen Frequenz, wie er dem Führer der Conga-Kette Befehle erteilte.

Der Reporter der Tribune beugte sich über Tanya vor. »Ich versuche immer noch, mir ein klares Bild zu machen«, sagte er. »Diese Sache mit der Flugversicherung ... Ihr Schwager ist doch ein wichtiger Mann im Pilotenverband, nicht wahr?«

»Ja.« Mel stoppte den Wagen auf der Landebahn, wenige Schritte vor dem Lichtkreis um das große feststeckende Flugzeug. Es herrschte emsige Tätigkeit, wie er sehen konnte. Unter dem Rumpf der Maschine und auf beiden Seiten waren Männer fieberhaft am Graben. Die untersetzte Gestalt von Joe Patroni war sichtbar, der die Arbeiten überwachte. Gleich, wenn Danny Farrow von der Schneekontrolle zurückgerufen hatte, wollte Mel zu ihm gehen.

Nachdenklich sagte der Reporter: »Ich erinnere mich dunkel, daß ich vor einiger Zeit etwas läuten gehört habe. Hat Ihr Schwager nicht eine große Schau veranstaltet, um den Abschluß von Flugversicherungen hier verbieten zu lassen — so, wie der Pilotenverband das will —, und Sie haben ihm das Spiel verdorben?«

»Nicht ich habe seinen Vorschlag abgelehnt, sondern der Verwaltungsrat des Flughafens, obwohl ich dieser Entscheidung zustimme.«

»Falls diese Frage nicht unfair ist: Haben Sie nach dem, was heute nacht geschehen ist, Ihre Ansicht in dieser Frage geändert?«

Tanya protestierte. »Ich finde, jetzt ist nicht der richtige Augenblick . . .«

»Ich will darauf antworten«, unterbrach Mel. »Ich habe meine Ansicht nicht geändert, jedenfalls noch nicht. Aber ich denke darüber nach.«

Mel überlegte: Jetzt, in der hohen Gefühlserregung und im Gefolge der Tragödie, war nicht der geeignete Zeitpunkt, den Standpunkt hinsichtlich der Flugversicherung zu korrigieren, falls es dazu kommen sollte. In ein oder zwei Tagen würde man die Ereignisse dieser Nacht besser überblicken können. Dann sollte Mels eigene Entscheidung erfolgen, ob er bei dem Verwaltungsrat darauf drängen sollte, seine Politik in dieser Frage zu überprüfen, oder nicht. Inzwischen allerdings konnte niemand bestreiten, daß die Ereignisse dieser Nacht den Argumenten Vernon Demerests und des Pilotenverbandes zusätzliches Gesicht verliehen hatte.

Möglicherweise ließ sich ein Kompromiß finden, überlegte Mel. Ein Sprecher des Pilotenverbandes hatte ihm einmal anvertraut, daß die Piloten nicht damit rechneten ihren Feldzug gegen Flugversicherungen auf Flughäfen vollkommen oder schnell zu gewinnen; es würde Jahre dauern, bis sie Erfolg hätten, und er würde »nach der Salamitaktik erfolgen — Scheibchen für Scheibchen«. Auf Lin-coln International mochte eines dieser Scheibchen das Verbot der unüberwachten Automaten sein, wie es auf einigen Flughäfen bereits erfolgt war. Ein Staat — Colorado — hatte die Automaten schon durch ein gesetzliches Verbot abgeschafft. Mel wußte, daß in anderen Staaten ähnliche Gesetze erwogen wurden. Allerdings gab es nichts, was die Flughäfen daran hindern konnte, inzwischen schon aus eigener Initiative zu handeln.

Das System der Versicherungsautomaten mochte Mel am wenigsten, obwohl D. O. Guerreros hohe Versicherungspolice heute nacht nicht auf diesem Weg abgeschlossen worden war. Wenn dann der Abschluß von Versicherungen an Schaltern blieb — für wenige Jahre noch, bis die öffentliche Meinung entsprechend beeinflußt worden war —, mußten größere Sicherungsvorkehrungen getroffen werden . . .

Wenn Mel sich auch entschlossen hatte, noch keine endgültige Entscheidung zu treffen, so war doch schon deutlich zu erkennen, in welche Richtung sich seine Überlegungen bewegten.

Das immer noch auf die Frequenz der Flughafenwartung eingestellte Funkgerät hatte ununterbrochen Sprüche zwischen den verschiedensten Fahrzeugen widergegeben. Jetzt rief es: »Schneekontrolle an Mobil eins.«

Mel antwortete sofort: »Sprechen Sie, Danny.«

»Vier Pflüge und drei Schleudern sind mit dem Leiter des Konvois auf dem Weg nach Landebahn Drei-Null, wie angefordert. Welche weiteren Befehle bitte?«

Mel wählte seine Worte sorgfältig, weil er wußte, daß sie irgendwo in dem elektronischen Irrgarten unter dem Kontrollturm auf Band festgehalten wurden. Vielleicht mußte er sich später dafür rechtfertigen. Er wollte aber auch sichergehen, daß es nicht zu einem Mißverständnis kam.

»Mobil eins an Schneekontrolle. Alle Pflüge und Schleudern halten unter dem Befehl des Konvoiführers in der Nähe der festgefahrenen Maschine der Aereo Mexican, die die Landebahn Drei-Null blockiert, einsatzbereit. Die Fahrzeuge dürfen nicht — wiederhole: nicht — das Flugzeug behindern, das in wenigen Minuten versuchen wird, unter eigener Kraft freizukommen. Falls der Versuch aber versagt, erhalten Pflüge und Schleudern den Auftrag, das Flugzeug seitlich fortzuschieben und die Landebahn zu räumen. Das muß und wird um jeden Preis und in aller Schnelligkeit geschehen. Landebahn Drei-Null muß in etwa dreißig Minuten einsatzbereit sein. Bis dahin muß sie von dem blockierenden Flugzeug und sämtlichen anderen Fahrzeugen frei sein. Ich werde in Übereinstimmung mit der Flugsicherung entscheiden, wann die Pflüge Befehl zum Einsatz erhalten, falls es notwendig wird. Bestätigen Sie Empfang und daß diese Anordnungen verstanden wurden.«

Der Reporter Tomlinson in Mels Wagen stieß einen leisen Pfiff aus. Tanya wandte sich Mel zu und betrachtete ängstlich forschend sein Gesicht.

Das Funkgerät blieb einige Sekunden lang stumm, ehe Danny Farrows Stimme sich meldete. »Ich glaube, ich habe verstanden, aber ich will mich lieber vergewissern.« Er wiederholte den Inhalt der Durchsage, und Mel konnte sich vorstellen, daß er wieder schwitzte, wie er es schon am Abend getan hatte.

»In Ordnung«, bestätigte Mel. »Aber eines muß völlig klar sein: Wann die Pflüge und Schleudern eingesetzt werden, befehle ich und niemand anderes.«

»Das ist klar«, bestätigte Danny. »Und lieber Sie als ich. Ich nehme an, Sie haben eine Vorstellung davon, was unsere Fahrzeuge mit der 707 anrichten.«

»Sie werden sie auf die Seite schieben«, antwortete Mel schroff, »und im Augenblick ist das das einzig Wichtige.« Er meldete sich ab und legte das Mikrofon zurück.

Tomlinson sagte ungläubig: »Schiebt sie auf die Seite! Ein Flugzeug im Wert von sechs Millionen Dollar, von Schneepflügen auf die Seite geschoben! Mein Gott, sie zerreißen es in Fetzen. Und die Besitzer und Versicherungen werden mit Ihnen das gleiche machen.«

»Das sollte mich nicht wundern«, antwortete Mel. »Selbstverständlich ist das Ganze eine Frage des Standpunkts. Wenn die Besitzer und die Versicherungen in der beschädigten Maschine säßen, würden sie jubeln.«

»Na ja«, räumte der Reporter ein, »ich gestehe Ihnen zu, daß manche Entscheidungen eine Menge Mut verlangen.«

Tanyas Hand suchte nach der Mels. Leise sagte sie, voller Gefühl: »Ich jubele — über das, was Sie jetzt tun. Was später auch kommen wird — ich werde es nie vergessen.«

Die Pflüge und Schleudern, die Mel herbeordert hatte, kamen in Sicht. Sie fuhren in schnellem Tempo über die Landebahn. Die Warnleuchten auf ihren Führerhäusern blinkten grell.

»Vielleicht kommt es gar nicht so weit.« Mel drückte Tanyas Hand, ehe er sie losließ und die Wagentür öffnete. »Wir haben zwanzig Minuten Zeit zu hoffen, daß es nicht dazu kommt.«

Als Mel Bakersfeld auf ihn zukam, stampfte Joe Patroni mit den Füßen auf den Boden, um sie zu wärmen, trotz der pelzgefütterten Stiefel und dem dicken Anorak, die der Wartungschef der TWA trug, ohne sonderlichen Erfolg. Von den kurzen Augenblicken abgesehen, die Patroni im Cockpit des Flugzeugs verbracht hatte, als der Kapitän der Aereo Mexican und sein Erster Offizier das Feld räumten, hatte er die ganze Zeit seit seiner Ankunft vor drei Stunden ununterbrochen draußen im Schneesturm gestanden. Außer der Kälte und der körperlichen Erschöpfung von den verschiedenen Anstrengungen bei Tag und bei Nacht hatte auch sein bisheriges Versagen, die festgefahrene Düsenmaschine von der Stelle zu bewegen, seine Geduld bis an den Rand des Ausbruchs erschöpft.

Als er von Mels Absichten hörte, war es beinahe soweit.

Mit jedem anderen hätte Joe Patroni getobt und geflucht. Da Mel aber ein guter Freund war, nahm er nur die nichtbrennende Zigarre, auf der er herumkaute, aus dem Mund und sah Mel ungläubig an. »Ein unbeschädigtes Flugzeug von Schneepflügen wegschieben lassen? Hast du den Verstand verloren?«

»Nein«, antwortete Mel, »mir fehlen Landebahnen.«

Bei dem Gedanken, daß kein anderer in einer verantwortlichen Position, außer ihm selbst, die dringende Notwendigkeit verstand, Landebahn Drei-Null um jeden Preis freizubekommen, überfiel Mel für einen Augenblick eine Depression. Wenn er seine Absicht ausführte, würde es zweifellos einige geben, die später sein Vorgehen verteidigten. Andererseits hatte Mel nicht den geringsten Zweifel, daß sich morgen eine Menge Leute melden würden, die es nachträglich besser wußten — darunter auch die Vertreter der Aereo Mexican — und behaupten würden, er hätte dieses oder jenes tun sollen, oder Flug Zwei hätte ja wohl letzten Endes doch auf Landebahn Zwei-Fünf landen können. Zweifellos war es ein einsamer Entschluß, vor dem er da stand. Das änderte nichts an Mels Überzeugung, daß er gefaßt werden mußte.

Beim Anblick der aufgefahrenen Pflüge und Schleudern, die jetzt rechts von ihnen in einer Reihe auf der Landebahn standen, warf Patroni seine Zigarre endgültig fort. Als er eine frische aus der Tasche zog, grollte er: »Ich werde dich von deiner Wahnsinnstat bewahren. Halte mir deine kleinen Spielzeuge da vom Leib und in gehörigem Abstand von der Maschine. In fünfzehn Minuten, vielleicht schon früher, fahre ich sie hier heraus.«

Mel mußte schreien, um sich durch das Tosen des Windes und das Dröhnen der Fahrzeuge ringsherum verständlich zu machen. »Joe, über eines wollen wir uns klar sein. Wenn der Turm uns sagt, daß wir keine Zeit mehr zu verlieren haben, dann ist es soweit. Dann gibt es keinen Widerspruch mehr. Bei dem ankommenden Flugzeug geht es um Menschenleben. Wenn du die Motoren laufen hast, müssen sie sofort abgestellt werden. Gleichzeitig müssen alle Fahrzeuge und alle Leute hier sofort verschwinden. Sorge dafür, daß das allen deinen Leuten völlig klar ist. Die Pflüge werden auf meinen Befehl eingesetzt. Falls und wenn es dazu kommt, wird keine Zeit mehr verloren.«

Patroni nickte düster. Trotz seines Ausbruchs fand Mel, daß die übliche, etwas anmaßende Selbstsicherheit des Wartungschefs gedämpft zu sein schien.

Mel kehrte zu seinem Wagen zurück. Tanya und der Reporter standen in ihre Mäntel gehüllt daneben und verfolgten die Grabarbeiten um das Flugzeug. Sie stiegen mit ihm wieder ein, dankbar für die Wärme im Inneren des Wagens.

Wieder rief Mel über Funk die Bodenkontrolle an und verlangte diesmal den Dienstleiter im Kontrollturm. Nach einer kurzen Pause meldete sich dessen Stimme am Apparat.

Mit wenigen Worten erklärte Mel ihm seine Absichten. Was er jetzt von der Flugsicherung erbat, war eine Schätzung, wie lange er warten konnte, ehe er den Pflügen und Schleudern den Befehl zum Einsatz geben mußte. Sobald das geschah, dauerte es nur Minuten, bis das die Landebahn blockierende Flugzeug aus dem Weg geräumt war.

»So, wie es jetzt aussieht«, antwortete der Dienstleiter, »wird die fragliche Maschine früher hier sein, als wir glaubten. Chicago Center rechnet damit, sie in zwölf Minuten an unsere Anflugkontrolle zu übergeben. Danach werden wir den Flug für acht bis zehn Minuten vor der Landung kontrollieren. Danach müßte der Zeitpunkt für sein Aufsetzen spätestens 01.28 Uhr sein.«

Mel sah im gedämpften Licht des Armaturenbretts auf seine Uhr. Sie zeigte 01.01 Uhr.

»Die Entscheidung, auf welcher Landebahn die Maschine heruntergeht«, fuhr der Dienstleiter fort, »kann nicht später als fünf Minuten vor der Landung erfolgen. Danach liegt alles fest. Wir können sie dann nicht mehr umdirigieren.«

Das bedeutete also, rechnete Mel nach, daß seine eigene endgültige Entscheidung in siebzehn Minuten erfolgen mußte, vielleicht früher, je nachdem, wann Chicago Center die ankommende Maschine der Anflugkontrolle übergab. Sie hatten sogar noch weniger Zeit, als er Joe Patroni gesagt hatte.

Mel stellte fest, daß auch er zu schwitzen begann.

Sollte er Patroni noch einmal warnen? Ihn unterrichten, daß seine Zeit kürzer war? Mel entschied sich dagegen. Der Wartungschef führte seine Maßnahmen ohnehin im schnellstmöglichen Tempo durch. Wenn man ihn noch weiter bedrängte, war damit nichts zu gewinnen.

»Mobil eins an Bodenkontrolle«, sagte Mel in sein Funkgerät. »Ich muß über den genauen Status des ankommenden Fluges laufend informiert bleiben. Können wir diese Frequenz dafür freihalten?«

»Wird gemacht«, bestätigte der Dienstleiter. »Wir haben den regulären Sprechverkehr schon auf eine andere Frequenz gelegt.« Mel bestätigte und schaltete ab.

Tanya fragte neben ihm: »Was geschieht jetzt?«

»Wir warten.« Mel blickte wieder auf seine Uhr.

Eine Minute verging. Zwei.

Draußen konnten sie Männer unermüdlich arbeiten sehen, immer noch dicht vor und auf beiden Seiten des versackten Flugzeugs fieberhaft schaufelnd. Mit blendenden Scheinwerfern traf ein weiterer Lastwagen ein. Männer sprangen von ihm herab und nahmen schnell auch die Arbeit auf. Joe Patronis untersetzte Gestalt war dauernd in Bewegung, gab Anweisungen und trieb an.

Die Pflüge und Schleudern standen abwartend in einer Linie. Wie Aasgeier, dachte Mel.

Der Reporter Tomlinson brach das Schweigen im Wagen. »Ich habe gerade nachgedacht. Als ich noch ein Kind war, was noch gar nicht allzu lange her ist, bestand der größte Teil dieser Gegend hier aus Feldern. Im Sommer sah man Kühe und Mais und Gerste. Es gab auch einen mit Gras bewachsenen Flugplatz. Er war klein. Niemand maß ihm viel Bedeutung bei. Wenn jemand per Luft reiste, benutzte er den Flugplatz in der Stadt.«

»So ist die Luftfahrt«, sagte Tanya. Es bereitete ihr im Augenblick Erleichterung, daß sie von etwas anderem sprachen und an etwas anderes denken konnten, als das, worauf sie warteten. Sie fuhr fort: »Jemand hat mir mal gesagt, hier scheint einem das Leben länger zu sein, weil sich alles so oft und so schnell ändert.«

»Nicht alles geht schnell«, widersprach Tomlinson. »Bei den Flughäfen gehen die Veränderungen nicht schnell genug. Stimmt es nicht, Mr. Bakersfeld, daß wir in drei bis vier Jahren ein Chaos haben werden?«

»Chaos ist immer etwas Relatives«, entgegnete Mel. Seine Gedanken waren noch auf die Szene gerichtet, die er durch die Windschutzscheibe vor sich sah. »Auf vielen Gebieten bringen wir es fertig, damit zu leben.«

»Weichen Sie damit meiner Frage nicht aus?«

»Ja«, gab Mel zu. »Das mag wohl sein.«

Das war kaum überraschend, dachte Mel. Ihn beschäftigten in diesem Augenblick weniger die grundlegenden Probleme der Luftfahrt als das, was draußen unmittelbar vorging. Doch er spürte, daß es für Tanya notwendig war, ihre Spannung zu mildern, selbst durch Illusionen. Sein Verständnis für ihre Empfindungen war ein Teil des wachsenden Einfühlungsvermögens, das sie füreinander hatten. Er dachte auch daran, daß es ein Flug der Trans America war, auf den sie warteten und der hoffentlich sicher landen würde, vielleicht aber auch nicht. Tanya war ein Teil der Trans America, hatte bei der Abfertigung der Maschine mitgearbeitet. In einem ganz nüchternen Sinn war sie von ihnen drei am unmittelbarsten beteiligt.

Er bemühte sich, sich auf das zu konzentrieren, was Tomlinson gesagt hatte.

»Es war bei der Luftfahrt schon immer so«, erklärte Mel, »daß die Entwicklung in der Luft der Entwicklung auf dem Boden vorausgeeilt ist. Wir glauben manchmal, daß wir aufholen, und in der Mitte der sechziger Jahre ist es uns beinahe gelungen. Aber im großen ganzen schaffen wir es nie. Das beste, was uns gelingen kann, ist anscheinend, nicht zu weit hinterher zu hinken.«

Eindringlich fragte der Reporter: »Was sollte für die Flughäfen geschehen? Was können wir tun?«

»Zunächst einmal können wir unabhängiger denken, mit mehr Phantasie. Wir sollten uns von unseren Bahnhofvorstellungen befreien.«

»Glauben Sie, daß wir daran immer noch kleben?«

Mel nickte. »Unglücklicherweise an sehr vielen Stellen. Die ersten Flughäfen waren alle Imitationen von Bahnhöfen, weil die Erbauer sich auf irgendwelche Erfahrungen stützen mußten; die einzigen Erfahrungen, die sie hatten, waren eben mit Eisenbahnen. Nachher wurde das zur Gewohnheit. Das ist auch der Grund, warum wir heute so viele >gradlinige< Flughäfen haben, bei denen sich das Empfangsgebäude endlos hinzieht und die Passagiere meilenweit laufen müssen.«

»Ändert sich daran nicht schon einiges?« fragte Tomlinson.

»Langsam und erst an wenigen Orten.« Wie immer wurde Mel trotz der drückenden augenblicklichen Sorgen bei diesem Thema warm. »Ein paar Flughäfen wurden kreisförmig angelegt, wie Zuk-kerkringel. Die Autoparkplätze liegen in der Mitte statt, irgendwo außerhalb; die Leute haben nur Mindestentfernungen zu Fuß zu gehen; mit Hilfsmitteln, wie mit hoher Geschwindigkeit laufenden Transportbändern; mit Flugzeugen, die dicht an die Passagiere herangebracht werden statt umgekehrt. Das bedeutet, daß endlich an Flughäfen als an etwas Besonderes und Bestimmtes gedacht wird sowie als an Einheiten statt getrennter Komponenten. Man hört auf schöpferische Ideen, selbst wenn sie aus dem Ausland kommen. Los Angeles erwägt einen großen Seeflughafen vor der Küste, Chicago eine von Menschenhand geschaffene Flughafeninsel im Michigansee, und niemand schreit Hohn und Spott. American Airlines haben einen Plan für ein riesiges hydraulisches Hebewerk, mit dem sie Flugzeuge zum Be- und Entladen übereinander aufstellen können. Aber die Änderungen kommen zu langsam; sie sind nicht koordiniert. Wir bauen Flughäfen wie einen phantasielosen Flickenteppich. So als ob Fernsprechteilnehmer ihre eigenen Telefone entwerfen und bauen würden, und sie dann an ein weltweites Fernsprechnetz anschlössen.«

Das Funkgerät schnitt Mel abrupt das Wort ab. »Bodenkontrolle an Mobil eins und City fünfundzwanzig. Chicago Center schätzt Übergabezeit für fraglichen Flug an Lincoln Anflugkontrolle auf 01.17 Uhr.

Mels Uhr zeigte 01.06 Uhr. Die Nachricht bedeutete, daß Flug Zwei bereits eine Minute früher war, als der Dienstleiter im Kon-trollturm vorausgesagt hatte. Eine Minute weniger für Joe Patroni. Nur noch elf Minuten bis Mel seine Entscheidung treffen mußte.

»Mobil eins. Hat sich am Zustand von Landebahn Drei-Null etwas geändert?«

»Nein, keine Änderung.«

Mel fragte sich: Nahm er es nicht allzu genau? Er war versucht, den Schneepflügen und Schleudern zu befehlen, auf der Stelle loszufahren, bezwang sich dann aber. Verantwortung war eine Straße, die in zwei Richtungen führte, besonders wenn es darum ging, einen Befehl zu geben, der bedeutete, daß ein Flugzeug im Wert von sechs Millionen auf dem Boden zerstört wurde. Noch bestand die Chance, daß Joe Patroni es schaffte, obwohl die Aussichten mit jeder Sekunde geringer wurden. Mel konnte wahrnehmen, daß vor der feststeckenden 707 Scheinwerfer und anderes Gerät beiseite geschafft wurden. Aber die Motoren des Flugzeugs waren noch nicht angelassen worden.

»Diese schöpferischen Leute«, drängte Tomlinson, »die Leute, von denen Sie sprachen: Wer sind sie?«

Nur halb mit seinen Gedanken bei der Frage, erwiderte Mel: »Eine Liste aufzustellen ist da sehr schwer.«

Er beobachtete, was draußen vorging. Auch die übrigen Fahrzeuge und alle Geräte waren vor der Maschine der Aereo Mexi-can fortgeschafft worden, und Joe Patronis untersetzte, schneebedeckte Gestalt stieg jetzt die Einstiegrampe hinauf, die dicht bei der Nase der Maschine stand. Fast oben, blieb Patroni stehen, drehte sich um und gestikulierte; er schien den Leuten unter sich etwas zuzurufen. Dann öffnete Patroni die Tür zum Flugzeugrumpf und ging hinein. Sofort danach stieg eine andere, schlankere Gestalt die Stufen der Rampe hinauf und folgte ihm. Die Tür des Flugzeugs fiel zu. Andere unten schoben die Rampe zurück.

Wieder fragte der Reporter in dem Wagen: »Mr. Bakersfeld, könnten Sie mir ein paar dieser Leute namentlich nennen — der Leute mit der größten Phantasie über Flughäfen und die Zukunft?«

»Ja«, fiel Tanya ein, »könnten Sie das nicht?«

Mel überlegte. Das war genauso wie ein Gesellschaftsspiel im Salon, während über ihnen das Haus brannte. Also gut, dachte er, wenn Tanya es von ihm erwartete, würde er mitspielen.

»Ein paar kann ich Ihnen nennen«, antwortete Mel. »Fox in Los Angeles, Joseph Fester in Houston, jetzt bei der ATA of America. Alan Boyd bei der Regierung, und Thomas Sullivan bei der Flughafenbehörde von New York. Von den Fluggesellschaften: Halaby bei der Pan Am, Herb Oodfrey von der United. In Kanada John C. Parkin. In Europa Pierre Cot bei der Air France, Graf Castell in Deutschland. Aber es gibt noch mehr.«

»Wie zum Beispiel Mel Bakersfeld«, warf Tanya dazwischen. »Haben Sie den nicht vergessen?«

Tomlinson, der sich Notizen gemacht hatte, brummte: »Den habe ich bereits notiert. Das brauchte nicht gesagt zu werden.«

Mel lächelte. Aber brauchte es wirklich nicht gesagt zu werden? fragte er sich. Vor einiger Zeit, es war noch gar nicht sehr lange her, wäre die Behauptung wahr gewesen, aber er wußte, daß er von der großen Bühne verschwunden war. Wenn das passiert, wenn man, aus welchem Grund auch immer, vom Schauplatz abtritt, geschieht es nur zu leicht, daß man bald vergessen wird; und später gelang es einem manchmal nicht, wieder aufzutreten, selbst wenn man sich noch so sehr darum bemühte. Dabei ging es nicht darum, daß er auf Lincoln International Airport eine weniger wichtige Stellung innehatte oder sie weniger gut ausfüllte. Als Generaldirektor eines Flughafens war Mel so gut wie eh und je, wahrscheinlich besser, das wußte er, aber der große Beitrag, der einmal von ihm zu erwarten gewesen war, schien nicht mehr in Sicht zu sein. Er bemerkte, daß er diesem Gedanken zum zweitenmal in dieser Nacht nachhing. Spielte das eine Rolle? Lag ihm etwas daran? Ja, entschied er, ihm lag daran.

»Sehen Sie doch!« rief Tanya. »Sie lassen die Motoren an!«

Der Reporter hob den Kopf. Mel spürte, wie seine eigene Erregung wuchs.

Hinter Motor drei der Aereo Mexican 707 erschien eine weißgraue Qualmwolke. Sie wurde kurz dichter, dann wurde sie fortgewirbelt, als der Motor ansprang und lief. Jetzt strömte Schnee im Rückstoß des Düsenmotors nach hinten.

Eine zweite Qualmwolke erschien hinter Motor Nummer vier, um einen Augenblick später von Schnee gefolgt, weggefegt zu werden.

»Bodenkontrolle an Mobil eins und City fünfundzwanzig.« Die Stimme über Funk erklang so unerwartet im Inneren des Wagens, daß Mel spürte, wie Tanya neben ihm erschrocken zusammenfuhr. »Chicago Center meldet berichtigte Zeit für Übergabe des fraglichen Flugs mit 01.16 Uhr — das ist in sieben Minuten.«

Flug Zwei kam noch schneller als erwartet, erkannte Mel. Das bedeutete, daß sie eine weitere Minute verloren hatten. Noch eine Minute weniger für Joe Patronis Versuch, die Düsenmaschine der Aereo Mexican unter eigener Kraft von der Stelle zu bewegen. Nur noch sieben Minuten bis zu Mels Entscheidung, ob er brutale Gewalt einsetzen und einen unbeschädigten Luftkreuzer zerstören sollte, um die Landebahn freizumachen.

Wieder hielt Mel seine Uhr in das schwache Licht des Armaturenbretts.

Auf dem weichen Boden, auf der anderen Seite der Landebahn von ihrem Wagen aus, hatte Joe Patroni jetzt Motor Nummer zwei angelassen. Nummer eins folgte. Mel sagte mit gedämpfter Stimme: »Sie könnten es noch schaffen.« Dann erinnerte er sich, daß schon zweimal am Abend sämtliche Motoren angelassen worden waren, um zu versuchen, die festsitzende Maschine aus dem Schlamm zu befreien, und beide Versuche gescheitert waren.

Jetzt erschien vor der versackten Maschine eine einzelne Gestalt mit leuchtenden Signaltafeln und ging weiter vor, damit sie aus dem Cockpit des Flugzeugs gesehen werden konnte. Der Mann hielt sie beide hoch über seinem Kopf, um damit anzuzeigen: »Alles klar«. Mel hörte und spürte die laufenden Düsenmotoren, erkannte aber, daß sie noch nicht mit voller Kraft liefen.

Noch sechs Minuten. Warum hatte Patroni die Motoren nicht voll aufgedreht?

Tanya sagte gepreßt: »Ich kann das Warten nicht mehr ertragen.«

Der Reporter bewegte sich unruhig auf seinem Sitz. »Jetzt fange ich auch an zu schwitzen.«

JoePatronigab Gas!Jetztkam es! Mel hörte und spürte das alles überwältigende, stärker werdende Dröhnen der Motoren. Hinter der versackten Düsenmaschine wurden riesige Schneewolken wild in die Dunkelheit hinter der Landebahnbefeuerung hinausgeschleudert.

»Mobil eins«, forderte eine Stimme im Funkgerät scharf, »hier Bodenkontrolle. Hat sich am Zustand von Landebahn Drei-Null etwas geändert?«

Patroni hatte noch drei Minuten, rechnete Mel nach dem Stand seiner Uhr nach.

»Das Flugzeug sitzt noch fest.« Tanya spähte angespannt durch die Windschutzscheibe des Wagens. »Sie haben alle Motoren laufen, aber es bewegt sich nicht.«

Es drängte allerdings nach vorn, soviel konnte Mel selbst bei dem Schneetreiben erkennen. Aber Tanya hatte recht. Das Flugzeug rührte sich nicht von der Stelle.

Die Schneepflüge und Schneeschleudern waren dichter zusammengerückt. Ihre Warnzeichen funkelten hell.

»Achtung«, sagte Mel in das Mikrofon. »Achtung! Dirigieren Sie die Maschine nicht zum Anflug auf Landebahn Zwei-Fünf. Landebahn Drei-Null wird so oder so jetzt jeden Augenblick geräumt sein.«

Er schaltete das Funkgerät in seinem Wagen auf die Frequenz der Schneekontrolle um, bereit, den Schneepflügen seinen Einsatzbefehl zu geben.

14

Im allgemeinen ließ der Hochdruck in der Flugsicherung nach Mitternacht etwas nach. Heute war das nicht der Fall. Wegen des herrschenden Schneesturms wurden von allen Fluggesellschaften weiterhin ankommende und abgehende Flüge mit stundenlanger Verspätung abgefertigt, und bei den meisten wurden die Verspätungen infolge der allgemeinen Behinderung auf den überbeanspruchten Start- und Landebahnen und auf den nach wie vor verstopften Taxiwegen noch vergrößert.

Die meisten Teilnehmer der vorausgegangenen Schicht in der Flugsicherung hatten ihren Dienst um Mitternacht beendet und waren erschöpft nach Hause gegangen. Eine neue Schicht hatte ihre Plätze eingenommen. Einige der Kontroller waren einer längeren, überlappenden Schicht zugeteilt worden, die bis zwei Uhr dauerte, weil Personalmangel herrschte und Ausfälle infolge von Krankheit ausgeglichen werden mußten. Zu ihnen gehörte der Dienstleiter im Kontrollraum, der Radarinspektor Tevis und Keith Bakersfeld.

Seit der aufwühlenden Begegnung mit seinem Bruder, die vor anderthalb Stunden unvermittelt und ergebnislos abgebrochen worden war, hatte Keith Ablenkung von seinen Gedanken in der Arbeit gesucht und sich intensiv auf den Radarschirm konzentriert. Wenn er diese Konzentration aufrechterhalten konnte, würde die restliche Zeit — die letzte, die er noch auszufüllen hatte — schnell vergehen. Keith nahm weiterhin aus Osten kommende Flüge in Empfang und arbeitete gemeinsam mit einem jungen Assistenten, der links von ihm saß. Wayne Tevis war noch diensthabender Inspektor, ritt auf seinem mit Rollen versehenen Stuhl im Kontrollraum herum, wobei er sich mit seinen Texasstiefeln weiterschob, wenn auch weniger energiegeladen als vorher, da sich auch seine Schicht dem Ende näherte.

In gewisser Weise war es Keith gelungen, sich völlig auf seine Arbeit zu konzentrieren, auf eine andere merkwürdige Weise aber auch nicht. Fast schien es, als ob sein Bewußtsein gespalten wäre und auf zwei Ebenen existierte, wie bei einer Verdoppelung; er war jedoch fähig auf beiden gleichzeitig anwesend zu sein. Auf der einen Ebene dirigierte er den aus Osten kommenden Flugverkehr, der im Augenblick keine Schwierigkeiten bot. Auf der anderen hing er sehr persönlichen, auf sich selbst gerichteten Gedanken nach. Dieser Zustand konnte nicht sehr lange anhalten, aber vielleicht, dachte Keith, verhielt sein Verstand sich wie eine Glühlampe, die kurz vor dem Durchbrennen steht und während der letzten wenigen Minuten am hellsten leuchtet.

Die persönliche Seite seiner Gedanken war jetzt leidenschaftsloser und ruhiger als vorher. Womöglich war das eine Folge seines Gesprächs mit Mel, wenn nicht gar mehr. Alles schien festgelegt und geklärt zu sein. Keiths Schicht würde enden, er würde diesen Ort verlassen, bald darauf würde alles Warten und alle Qual vorüber sein. Er war der Überzeugung, daß sein Leben von dem anderer bereits abgeschnitten war, er gehörte nicht mehr zu Natalie oder Mel oder Brian oder Theo — noch gehörten sie zu ihm. Er gehörte zu den bereits Toten — zu den Redferns, die gemeinsam in dem Wrack ihrer Beechcraft Bonanza gestorben waren, zu der kleinen Valerie — zu ihrer Familie. Das war es! Warum hatte er daran bisher noch nie gedacht? Warum nicht erkannt, daß sein eigener Tod eine Sühne war, die er den Redferns schuldete? Unverändert leidenschaftslos fragte Keith sich, ob er geisteskrank sei. Leuten, die sich zum Selbstmord entschlossen, wurde das nachgesagt, aber es spielte so oder so keine Rolle. Für ihn stand Qual oder Friede zur Wahl, und noch ehe das Licht des Morgens erschiene, würde der Friede kommen. Wieder griff seine Hand, wie schon so häufig während der vergangenen letzten Stunden, in seine Tasche nach dem Schlüssel zu Zimmer 224 in der O'Hagan Inn.

Die ganze Zeit über fertigte er auf der anderen Ebene die aus Osten eintreffenden Flüge ab und zeigte dabei Spuren seiner alten Meisterschaft.

Die Krise, die Trans America Flug Zwei befallen hatte, kam Keith erst nach und nach zu Bewußtsein.

Die Flugsicherung auf Lincoln International war über Kapitän Anson Harris' Entschluß, dorthin zurückzukehren, schon vor fast einer Stunde unterrichtet worden, wenige Sekunden, nachdem Kapitän Harris seine Absicht bekanntgegeben hatte. Die Mitteilung war über einen »heißen Draht« erfolgt, eine direkte Telefonverbindung vom Inspektor im Chicago Center mit dem Dienstleiter im Kontrollturm, nachdem die gleiche Nachricht von den Zentren Cleveland und Toronto eingetroffen war. Zunächst konnte man auf Lincoln International Airport wenig tun, außer die Flughafenleitung über die Schneeräumstelle von der Forderung des Kapitäns, auf Landebahn Drei-Null zu landen, zu benachrichtigen.

Später, als Flug Zwei durch Chicago Center von Cleveland übernommen worden war, hatten spezifischere Vorbereitungen begonnen.

Der Radarinspektor Wayne Tevis wurde vom Dienstleiter des Kontrollturms benachrichtigt, der persönlich in den Radarraum kam, um Tevis über den Zustand der Maschine zu unterrichten, die geschätzte Ankunftszeit und die Zweifel, die noch bestanden, auf welcher Landebahn — Zwei-Fünf oder Drei-Null — die Maschine landen werde.

Zur gleichen Zeit alarmierte die Bodenkontrolle den Notdienst des Flughafens, sich einsatzbereit zu halten und bald danach mit seinen Fahrzeugen auf dem Flugfeld Position zu beziehen. Ein Bodenkontroller rief über Sprechfunk Patroni an, um nachzuprüfen, ob Patroni informiert worden sei, daß Landebahn Drei-Null dringend benötigt wurde. Das war geschehen.

Danach wurde über eine in Reserve gehaltene Funkfrequenz zwischen dem Kontrollturm und der Pilotenkanzel der Düsenmaschine der Aereo Mexican, die Landebahn Drei-Null blockierte, Verbindung hergestellt. Diese Vorkehrung wurde getroffen, um eine sofortige Verständigung in beiden Richtungen zu gewährleisten, wenn Patroni den Platz am Steuer des Flugzeugs einnahm.

Wayne Tevis' erste Reaktion war, sich im Radarraum nach Keith umzusehen, als er die Nachricht vom Dienstleiter des Kon-trollturms hörte. Falls die Arbeitsverteilung nicht geändert wurde, würde Keith, der den Abschnitt der aus Osten eintreffenden Maschinen bearbeitete, Flug Zwei vom Chicago Center übernehmen und die Maschine zur Landung einweisen.

Leise fragte Tevis den Dienstleiter: »Sollen wir Keith ablösen? Einen anderen an seinen Platz setzen?«

Der Dienstleiter, der ältere der beiden, zögerte. Er erinnerte sich des ersten Notstands, der sich bereits an diesem Abend mit der KC-135 der Air Force ergeben hätte. In diesem Fall hatte er Keith unter einem Vorwand ablösen lassen und sich nachher gefragt, ob er nicht voreilig gehandelt hatte. Wenn ein Mensch zwischen Selbstsicherheit und deren Verlust hin- und herschwankte, konnte man zu leicht, ohne es zu wollen, das Gewicht auf die falsche Waagschale fallen lassen. Auch hatte der Dienstleiter ein unbehagliches Gefühl, weil er in ein privates, vertrauliches Gespräch zwischen Keith und Mel Bakersfeld hineingeplatzt war, als die beiden sich draußen im Gang vor einiger Zeit unterhalten hatten. Er hätte sie ruhig ein paar Minuten länger ungestört reden lassen können, hatte es aber nicht getan.

Der Dienstleiter war selbst müde, nicht nur von der anstrengenden Schicht des heutigen Abends, sondern auch von vorhergegangenen. Er erinnerte sich, kürzlich irgendwo gelesen zu haben, daß neue Systeme für die Flugsicherung für die Mitte der siebziger Jahre vorbereitet wurden, die die Arbeitslast der Kontroller halbierten und damit die berufliche Überbelastung und Nervenzusammenbrüche verringerten. Der Dienstleiter stand dem skeptisch gegenüber. Er bezweifelte, ob die Anforderungen des Dienstes in der Flugsicherung geringer werden würden. Wenn sie auf der einen Seite nachließen, würden sie auf einer anderen stärker werden. Deshalb hatte er Verständnis und Mitgefühl für Leute wie Keith — der hager, blaß und angespannt an seinem Platz saß —, die Opfer dieses Systems waren.

Mit gedämpfter Stimme wiederholte Wayne Tevis seine Frage: »Soll ich ihn ablösen oder nicht?«

Der Dienstleiter schüttelte den Kopf. »Wir wollen nichts überstürzen. Lassen Sie Keith an seinem Platz, aber passen Sie gut auf.«

Das war der Augenblick, in dem Keith, der die beiden die Köpfe zusammenstecken sah, erkannte, daß eine kritische Situation bevorstand. Er war schließlich ein alter Hase und mit den Vorzeichen, die Schwierigkeiten ankündigten, vertraut.

Sein Instinkt sagte ihm auch, daß sich die Unterhaltung der bei- den Vorgesetzten zum Teil um ihn selbst gedreht hatte. Er konnte verstehen, warum. Keith zweifelte nicht daran, daß er in wenigen Minuten vom weiteren Dienst befreit oder auf eine weniger entscheidende Position im Radarraum versetzt werden würde. Zu seiner Verwunderung war es ihm gleichgültig.

Deshalb überraschte es ihn, als Tevis, ohne vorher die Arbeitsplätze neu aufzuteilen, alle beobachtenden Positionen über die bevorstehende Notlandung von Flug Zwei der Trans America und ihre bevorzugte Behandlung gegenüber allen anderen Maschinen in der Luft unterrichtete. Die Abflugkontrolle wurde angewiesen, alle abfliegenden Maschinen auf Kurse zu leiten, die in weitem Abstand von der vermutlichen Anflugroute von Flug Zwei lagen.

Tevis erklärte Keith das besondere Problem mit den Landebahnen, die Ungewißheit, welche Landebahn eingesetzt werden konnte, und die Notwendigkeit, die Entscheidung bis zum letztmöglichen Augenblick hinauszuschieben.

»Arbeiten Sie sich selbst einen Plan aus, alter Junge«, wies Tevis ihn in seiner nasalen, schleppenden texanischen Sprechweise an.

»Und halten Sie sich nur an diese Maschine, nachdem sie uns übergeben worden ist. Wir nehmen Ihnen alles andere ab.«

Zunächst hatte Keith zustimmend genickt, in keiner Weise beunruhigter als vorher. Automatisch begann er den Flugplan zu berechnen, den er befolgen würde. Solche Pläne wurden immer im Kopf aufgestellt, da niemals genügend Zeit blieb, sie schriftlich zu fixieren. Außerdem ergab sich meistens, daß man später doch improvisieren mußte.

Sobald er die Maschine von Chicago Center übernahm, überlegte Keith, würde er sie in die allgemeine Richtung auf Landebahn DreiNull dirigieren, ihr aber genügend Spielraum lassen, daß sie nach links abbiegen konnte — allerdings ohne daß sie gezwungen wurde, in niedriger Höhe in eine scharfe Kurve zu gehen —, falls man letzten Endes doch gezwungen war, sie auf Landebahn Zwei-Fünf landen zu lassen.

Er rechnete: Ungefähr zehn Minuten lang würde er das Flugzeug unter Anflugkontrolle haben. Tevis hatte ihn bereits unterrichtet, daß sie wahrscheinlich erst in den letzten fünf Minuten zuverlässig erfahren würden, wie es mit den Landebahnen stand. Es mußte unglaublich fein eingefädelt werden, und nicht nur oben im Flugzeug, sondern auch unten im Radarraum würden die Leute in Schweiß ausbrechen. Aber es konnte geschafft werden, wenn auch gerade eben noch. Noch einmal ging Keith in Gedanken den geplanten Flugkurs und die Kompaßrichtungen durch.

Inzwischen begannen inoffiziell genauere Berichte zum Kontroll-turm durchzudringen. Die Kontroller gaben die Informationen in Pausen, wenn die Arbeit es erlaubte, untereinander weiter . . . In der Maschine hatte sich während des Flugs in großer Höhe eine Explosion ereignet — sie kam mit strukturellen Schäden und Verletzten an Bord angeschlagen zurück . . . Die Manövrierfähigkeit des Flugzeugs war fragwürdig. Die Piloten brauchten die längste vorhandene Landebahn — die vielleicht nicht einsatzfähig sein würde . . . Kapitän Demerests Warnung wurde wiederholt — auf Zwei-Fünf ein zerschmettertes Flugzeug und Tote . . . Der Kapitän hatte an den Flughafendirektor einen wilden Funkspruch geschickt. Jetzt war der Direktor draußen auf Landebahn Drei-Null und versuchte sie freizubekommen . . . Die noch verfügbare Zeit wurde immer kürzer . . .

Selbst die Kontroller, für die Anspannung etwas so Alltägliches war wie der Flugverkehr, fingen jetzt an, die allgemeine Nervosität zu teilen.

Keiths Assistent am Radargerät, der links von ihm saß, gab die Neuigkeiten in Bruchstücken weiter, wie er sie erhielt. Mit ihnen steigerte sich bei Keith die Nervenanspannung und seine Befürchtungen. Er wollte das alles nicht! Er wollte nichts damit zu tun haben! Es gab für ihn nichts, was er beweisen wollte oder beweisen mußte. Für ihn war hier nichts zu gewinnen, selbst wenn er die Lage vorbildlich meisterte. Und wenn ihm das nicht gelang, wenn er etwas verpatzte, konnte er ein Flugzeug voll mit Menschen in den Tod schicken, wie er es schon einmal getan hatte.

Auf der anderen Seite des Radarraums nahm Tevis an einem direktgeschalteten Telefon einen Anruf des Dienstleiters entgegen. Vor wenigen Minuten war der Dienstleiter ein Stockwerk höher in die höchste Etage des Turms gegangen, um an der Seite des Bodenkontrollers zu bleiben.

Tevis hängte ein und rollte mit seinem Sitz neben Keith. »Der Alte hat gerade Nachricht vom Center erhalten. Die Übergabe von Trans America Flug Zwei erfolgt in drei Minuten.«

Der Inspektor rollte sich weiter zur Abflugkontrolle und überprüfte, ob der gesamte abgehende Flugverkehr weitab von der Route der anfliegenden Maschine gehalten wurde.

Der Mann an Keiths linker Seite berichtete, draußen auf dem Flugfeld versuchten sie immer noch verzweifelt, die festgefahrene Düsenmaschine freizubekommen, die Landebahn Drei-Null blok-kierte. Sie hätten die Motoren angelassen, aber die Maschine rühre sich nicht von der Stelle. Keiths Bruder, so sagte der Assistent links von ihm, habe den Befehl übernommen, und wenn die Maschine nicht aus eigener Kraft herauskomme, wolle er sie in Stücke schlagen lassen, um die Landebahn freizuräumen. Aber jeder fragte sich: Reicht die Zeit noch aus?

Wenn Mel das meint, dachte Keith, reichte sie wahrscheinlich. Mel wurde mit den Dingen fertig, er schaffte es. Er hatte es immer geschafft. Keith konnte nicht mit den Dingen fertig werden — zumindest nicht immer und niemals so wie Mel. Das war der Unterschied zwischen ihnen.

Fast zwei Minuten waren vergangen.

Der Assistent neben Keith sagte ruhig: »Sie kommen auf den Schirm.« Am Rand des Radarschirms sah Keith die Doppelblüte des Radarnotsignals auftauchen — unverkennbar Flug Zwei der Trans America.

Keith wollte fort! Er konnte es nicht! Ein anderer mußte übernehmen. Wayne Tevis selbst konnte es machen. Noch war es Zeit.

Keith wandte sich vom Radarschirm ab und suchte Tevis. Der Inspektor befand sich bei der Abflugkontrolle und drehte Keith den Rücken zu.

Keith öffnete den Mund, um ihm zu rufen. Zu seinem Entsetzen brachte er kein Wort heraus. Er versuchte es noch einmal — das gleiche.

Er erkannte: Das war wie in diesem Traum, in seinem Alptraum. Seine Stimme versagte . . . Aber das hier war kein Traum, dies war Wirklichkeit! Oder etwa nicht? . . . Während er darum kämpfte, seine Stimme wiederzufinden, überkam ihn Panik.

An einer Schalttafel über dem Radarschirm zeigte ein aufleuchtendes weißes Licht an, daß Chicago Center anrief. Der Assistent nahm den Hörer der direktgeschalteten Leitung ab und meldete sich. »Sprechen Sie, Center.« Er drehte einen Knopf, schaltete einen Lautsprecher ein, damit Keith mithören konnte.

»Lincoln, Trans America Zwei befindet sich dreißig Meilen Südost des Flughafens. Flugrichtung zwei-fünf-null.«

»Verstanden, Center. Wir haben Radarkontakt mit der Maschine. Veranlassen Sie die Maschine, unsere Frequenz einzuschalten.« Der Assistent legte den Hörer zurück.

Chicago Center wies die Maschine jetzt an, ihre Funkfrequenz zu ändern, und wünschte ihr vermutlich viel Glück. Das geschah im allgemeinen, wenn sich eine Maschine in Gefahr befand. Es war das Geringste, was man aus der behaglichen Sicherheit am Boden heraus tun konnte. In dem abgeschlossenen, angenehm warmen Raum mit seinen gedämpften Geräuschen konnte man sich nur schwer vorstellen, daß irgendwo draußen, hoch oben in Nacht und Dunkelheit, vom Sturm geschüttelt und mit fragwürdigen Chancen zu überleben, ein verkrüppelter Luftkreuzer sich den Weg nach Hause erkämpfte.

Die Frequenz für die aus Osten anfliegenden Maschinen erwachte zum Leben: Eine schroffe Stimme, unverkennbar die von Ver-non Demerest. Bis zu diesem Augenblick hatte Keith nicht daran gedacht. »Lincoln Anflugkontrolle. Hier ist Trans America Zwei. Halten sechstausend Fuß Höhe, Kurs zwei-fünf-null.«

Der Assistent wartete ungeduldig ab. Jetzt war Keith an der Reihe, den Funkspruch zu bestätigen, das Einweisen zu übernehmen. Aber Keith wollte aus der Sache heraus! Wayne Tevis hielt ihn immer noch den Rücken zugekehrt! Keith fand immer noch nicht seine Sprache wieder.

»Lincoln Anflugkontrolle«, schnarrte die Stimme von Trans America Flug Zwei wieder. »Wo zum Teufel, bleiben Sie?«

Warum dreht Tevis sich denn nicht um?

Keith kochte plötzlich vor Wut. Verfluchter Tevis! Verfluchte Flugsicherung! Sein verfluchter toter Vater, der seine Söhne in Berufe hineingehetzt hatte, die Keith sich nie gewünscht hatte! Verfluchter Mel mit seiner rasendmachenden selbstgenügsamen Tüchtigkeit! Verfluchtes Hier und Jetzt! Alles verflucht!. . .

Der Assistent sah Keith erwartungsvoll an. Jeden Augenblick mußte Trans America Zwei wieder rufen. Keith wußte, daß er in einer Falle saß. Besorgt, ob ihm seine Stimme gehorchen würde, schaltete er sein Mikrofon ein.

»Trans America Zwei«, begann Keith. »Hier Lincoln Anflugkontrolle. Bedaure die Verzögerung. Wir hoffen noch auf Landebahn Drei-Null. In drei bis fünf Minuten werden wir genau Bescheid wissen.«

Darauf die geknurrte Bestätigung: »Verstanden, Lincoln. Halten Sie uns informiert.«

Jetzt konzentrierte Keith sich. Die zweite Ebene seines Bewußtseins war verschwunden. Er vergaß Tevis, seinen Vater, Mel, sich selbst. Alles, bis auf das Problem Flug Zwei, war ausgeschaltet.

Klar und ruhig gab er seinen Funkspruch durch: »Trans America Zwei. Sie sind jetzt fünfundzwanzig Meilen von der Flughafengrenze entfernt. Fangen Sie an, in der gleichen Richtung tiefer zu gehen. Setzen Sie zu einer Rechtskurve auf Kurs zwei-sechs-null an . . .«

Ein Stockwerk über Keith, in der glasverkleideten obersten Etage des Kontrollturms, hatte die Bodenkontrolle Mel Bakersfeld unterrichtet, daß die Übernahme von Flug Zwei vom Chicago Center erfolgt war.

Mel funkte zurück: »Schneepflüge und Schleudern haben Befehl, die Maschine der Aereo Mexican von der Landebahn zu schieben. Befehlen Sie Patroni, alle Motoren sofort abzustellen. Sagen Sie ihm, er soll sich selbst in Sicherheit bringen, wenn er noch kann. Wenn nicht, soll er sich gut festhalten. Halten Sie sich für die Meldung bereit, daß die Landebahn frei ist.«

Der Dienstleiter selbst benachrichtigte bereits auf einer anderen Frequenz Patroni.

15

Noch ehe es soweit kam, wußte Joe Patroni, daß ihm die Zeit knapp wurde.

Er hatte die Motoren der 707 der Aereo Mexican absichtlich erst im letzten Augenblick anwerfen lassen, weil er wollte, daß die Grabarbeiten um und unter der Maschine, um sie freizuschaufeln, solange wie möglich fortgesetzt wurden.

Als Patroni erkannte, daß er nicht länger warten konnte, machte er den letzten Rundgang. Was er sah, verursachte ihm ernste Bedenken.

Das Fahrgestell war immer noch nicht von der umgebenden Erde, dem Schlamm und dem Schnee so weit befreit, wie es sein sollte. Auch waren weder die von der gegenwärtigen Höhe aufwärtsführenden Gräben der Haupträder zur festen Oberfläche des nahegelegenen Taxiwegs so breit noch so tief, wie er es gewünscht hatte. Mit weiteren fünfzehn Minuten wäre es zu schaffen gewesen.

Patroni wußte, daß er diese Zeit nicht hatte.

Zögernd nur stieg er die Einstiegtreppe hinauf, um zum zweitenmal zu versuchen, die versackte Maschine herauszubekommen, diesmal mit ihm selbst am Steuer. Dem Wartungsleiter der Aereo Me-xican, Ingram, rief er zu: »Schaffen Sie alles aus dem Weg. Wir lassen die Motoren an.«

Die Gestalten unter dem Flugzeug zogen sich zurück.

Es schneite immer noch, aber dünner als vorher.

Wieder rief Joe Patroni von der Einstiegsrampe herunter: »Ich brauche jemand bei mir im Cockpit, aber wir wollen das Gewicht leichthalten. Schicken Sie mir einen mageren Burschen, der im Cockpit sitzen darf.«

Er öffnete die vordere Tür des Flugzeugs.

Von innen konnte Patroni durch das Fenster der Pilotenkanzel Mel Bakersfelds Dienstwagen sehen, dessen leuchtendgelbe Lackierung selbst bei der Dunkelheit reflektiert wurde. Der Wagen stand auf der linken Seite der Landebahn. Dicht dabei war die Reihe der Schneepflüge und Schleudern aufgebaut — eine Mahnung, falls er eine gebraucht hätte, daß ihm nur noch wenige Minuten blieben.

Der Wartungschef war tief schockiert und ungläubig gewesen, als Mel ihm seine Absicht bekanntgab, das Flugzeug der Aereo Mexican einfach gewaltsam von der Landebahn Drei-Null zu schieben, wenn das notwendig werden sollte. Diese Reaktion war natürlich, beruhte aber nicht auf Gleichgültigkeit gegenüber der Sicherheit der Menschen an Bord von Flug Zwei der Trans America. Joe Patroni war von der Vorstellung verkehrssicherer Flugzeuge besessen. Das war das Ziel seiner täglichen Arbeit. Allein die Idee, eine unbeschädigte Maschine in einen Schrotthaufen zu verwandeln, oder etwas, das dem nahekam, war für ihn nahezu unverständlich. In Patronis Augen stellte ein Flugzeug — jedes Flugzeug — Hingabe, Können, technisches Wissen, stundenlange Arbeit und manchmal Liebe dar. Nahezu alles war besser, als eines vorsätzlich zu zerstören. Nahezu alles. Patroni beabsichtigte das Flugzeug zu retten, falls er es konnte.

Hinter ihm wurde die Einstiegstür geöffnet und wieder zugeschlagen.

Ein junger Mechaniker, klein und dünn, kam in die Pilotenkanzel und schüttelte den Schnee von sich ab. Joe Patroni hatte seinen Anorak schon ausgezogen und schnallte sich auf dem linken Sitz an.

»Wie heißen Sie, mein Junge?« »Roller, Sir.«

Patroni lachte verhalten. »Das wollen wir ja aus dieser Maschine machen. Vielleicht sind Sie ein gutes Vorzeichen.«

Während der Mechaniker seinen Anorak abstreifte und sich in den rechten Sitz gleiten ließ, sah Patroni über die linke Schulter hinweg zum Fenster hinaus. Draußen wurde gerade die Einstiegleiter fortgeschoben.

Das Telefon klingelte, und Patroni antwortete. Ingram rief von draußen an. »Wir können anfangen, wenn Sie wollen.«

Patroni blickte zur Seite. »Alles klar, mein Junge?«

Der Mechaniker nickte.

»Startschalter für Nummer drei — Bodenstart.«

Der Mechaniker drehte einen Schalter. Patroni befahl über das Bordtelefon: »Motor unter Druck setzen.«

Von dem Kompressorwagen unten strömte jaulend Druckluft herauf. Der Wartungschef stellte einen Starthebel auf »Leerlauf«. Der junge Mechaniker, der die Instrumente beobachtete, meldete: »Nummer drei zündet.« Der Lärm des Motors wurde zu einem stetigen Dröhnen.

In glatter Folge sprangen die Motoren vier, zwei und eins an.

Über das Bordtelefon war Ingrams Stimme durch das Heulen des Winds und das Dröhnen der Düsentriebwerke gedämpft zu hören. »Kompressorwagen abgeschaltet, alles andere hier unten klar.«

»Okay«, schrie Patroni zurück. »Lösen Sie die Telefonverbindung, und verschwinden Sie selbst schnell.«

Seinem Gefährten im Cockpit sagte er: »Halten Sie sich fest, mein Junge, und passen Sie auf.« Der Wartungschef verschob seine Zigarre, die er entgegen den Vorschriften vor wenigen Minuten angezündet hatte, so daß sie jetzt aus seinem Mundwinkel baumelte. Dann schob er mit gespreizten plumpen Fingern die vier Treibstoffhebel vor. Als die Motoren halbe Kraft hatten, wuchs ihr Dröhnen.

Vor dem Flugzeug konnte er im Schnee einen Mann vom Bodenpersonal mit erhobenen leuchtenden Signaltafeln sehen. Patroni grinste. »Hoffentlich kann der Bursche schnell rennen, falls wir plötzlich losrasen.«

Alle Bremsen waren gelöst, die Startklappen leicht gesenkt, um den Auftrieb zu verstärken. Der Mechaniker hielt die Steuersäule zurückgezogen. Patroni betätigte das Seitensteuer abwechselnd nach beiden Seiten, in der Hoffnung, der seitliche Druck würde dem Flugzeug vorwärts verhelfen.

Als er nach links blickte, sah er Mel Bakersfeld noch an der alten Stelle. Aus einer früheren Berechnung wußte Patroni, daß ihm nur noch Minuten — vielleicht weniger als eine — geblieben waren. Die Motoren liefen jetzt mit mehr als drei Viertel ihrer Kraft. An ihrem hohen Ton konnte er erkennen, daß es mehr Kraft war, als der Kapitän der Aereo Mexican, bei dem früheren Versuch freizukommen, gegeben hatte. Die Vibration verriet, warum. Normalerweise würde das Flugzeug bei dieser Stellung unbehindert schnell über die Startbahn rollen. Da es das nicht konnte, bebte es stark mit jedem Teil im oberen Bereich vorwärts, wogegen die verankernde Wirkung auf seine Räder unten Widerstand leistete. Die Tendenz des Flugzeugs, sich auf die Schnauze zu stellen, war unverkennbar. Der Mechaniker blickte Patroni unbehaglich von der Seite an.

Patroni bemerkte den Blick und knurrte: »Wenn Sie jetzt nicht herauskommt, ist sie eine tote Ente.«

Aber das Flugzeug rührte sich nicht. Widerspenstig wie seit Stunden und bei zwei früheren Versuchen blieb es sitzen.

In der Hoffnung, die Räder freizuschütteln, verringerte Patroni die Leistung der Motoren und steigerte sie wieder.

Das Flugzeug bewegte sich trotzdem nicht.

Joe Patronis Zigarre, vom vorhergegangenen Kauen naß, war ausgegangen. Angewidert warf er sie weg und griff nach einer frischen. Seine Brusttasche war leer. Diese Zigarre war seine letzte gewesen.

Er fluchte und legte seine rechte Hand wieder auf die Treibstoffhebel. Er schob sie noch weiter vor und knirschte: »Komm raus, du verdammtes Dreckbiest, komm raus!«

»Mr. Patroni«, warnte der Mechaniker, »mehr verträgt sie nicht.«

Unvermittelt wurde der Lautsprecher über ihm lebendig. Der Dienstleiter im Kontrollturm meldete sich: »Joe Patroni an Bord der Aereo Mexican. Hier ist die Bodenkontrolle. Wir haben eine Meldung von Mr. Bakersfeld: >Keine Zeit mehr. Alle Motoren abstellen. Wiederhole: Alle Motoren abstellen.«

Patroni blickte hinaus und sah die Schneepflüge und Schleudern bereits im Anrollen. Er wußte, daß sie erst gegen das Flugzeug drücken würden, wenn die Motoren abgestellt waren. Er erinnerte sich aber auch an Mels Warnung: »Wenn der Turm sagt, daß wir keine Zeit mehr haben, gibt es keinen Widerspruch.«

Er dachte: Wer widerspricht denn?

Wieder drängte die Stimme über Funk: »Joe Patroni, haben Sie verstanden? Bestätigen Sie.«

»Mr. Patroni«, schrie der Mechaniker, »haben Sie nicht gehört? Wir müssen die Motoren abstellen.«

Patroni schrie zurück: »Ich höre überhaupt nichts, Junge. Wahrscheinlich ist es hier zu laut.«

Wie jeder erfahrene Wartungsmann wußte, hatte man immer eine Minute länger Zeit, als die zur Panik neigenden Typen in den Büros vorn behaupteten.

Am dringendsten brauchte er allerdings eine Zigarre. Plötzlich erinnerte sich Joe Patroni: Vor Stunden hatte Mel Bakersfeld mit ihm um eine Kiste Zigarren gewettet, daß er dieses Flugzeug heute nacht nicht freibekommen würde.

Er rief durch das Cockpit: »Ich habe hier auch einen Einsatz drin — lassen wir es darauf ankommen.« Mit einer einzigen schnellen Bewegung stieß er die Treibstoffhebel zum Anschlag vor.

Schon vorher schien der Lärm und die Vibration ungeheuerlich gewesen zu sein. Jetzt wurden sie überwältigend. Das Flugzeug bebte, als ob es auseinanderbrechen wolle. Joe Patroni trat wieder hart auf die Steuerpedale.

Ringsherum im Cockpit leuchteten Warnsignale auf. Später beschrieb der Mechaniker die Wirkung als »wie bei einem Spielautomaten in Las Vegas«.

Jetzt schrie er in alarmiertem Ton: »Auspuffgas-Temperatur siebenhundert.«

Der Lautsprecher spie immer noch Befehle aus, darunter einige, die besagten, Patroni solle aussteigen. Er nahm selbst an, es sei an der Zeit. Seine Hand hing zögernd über den Treibstoffhebeln.

Plötzlich rollte das Flugzeug vorwärts. Zunächst bewegte es sich langsam. Dann raste es mit überraschender Schnelligkeit auf die Taxibahn zu. Der Mechaniker schrie eine Warnung. Während Pa-troni alle vier Treibstoffhebel zurückriß, befahl er: »Bremsklappen ausfahren!« Beide nahmen sie unter und vor sich nur verschwommen davonrennende Leute wahr.

Fünfzig Fuß vor dem Taxiweg rollten sie immer noch schnell. Wenn sie nicht sofort abdrehten, würde das Flugzeug die feste Decke überqueren und in den Schnee auf der anderen Seite rasen. Als er spürte, daß die Räder festen Boden unter sich hatten, trat Patroni hart auf die linke Bremse und riß die Treibstoffhebel für die beiden Steuerbordmotoren auf. Bremsen und Motoren reagierten, und das Flugzeug schwang in einem Winkel von neunzig Grad scharf nach links. Nach der halben Drehung schob er die beiden Treibstoffhebel zurück und betätigte alle Bremsen zusammen. Die 707 der Aereo Mexican rollte ein kurzes Stück weiter, verringerte dann das Tempo und hielt an.

Joe Patroni grinste. Sie hatten die Maschine sauber in der Mitte der Taxibahn geparkt, die parallel zu Landebahn Drei-Null verlief.

Die Landebahn, zweihundert Fuß entfernt, war nicht mehr blok-kiert.

In Mel Bakersfelds Wagen auf der Landebahn schrie Tanya: »Er hat es geschafft! Er hat es geschafft!«

Mel Bakersfeld neben ihr hatte an die Schneekontrolle über Funk bereits den Befehl durchgegeben, daß die Schneepflüge und Schleudern verschwinden sollten.

Vor Sekunden noch hatte Mel wütend den Kontrollturm angerufen und zum drittenmal gefordert, daß Joe Patroni die Motoren sofort abstellen solle. Mel war versichert worden, daß sein Befehl weitergegeben, von Patroni aber ignoriert worden sei. Noch brannte in Mel der Ärger. Selbst jetzt konnte er Joe Patroni noch ernstliche Schwierigkeiten bereiten, weil er den eindringlichen Befehl der Flughafenleitung in einer Frage der Verkehrssicherheit weder beachtet noch auch nur bestätigt hatte. Aber Mel wußte, daß er das nicht tun würde. Patroni hatte es geschafft, und kein vernünftiger Mensch würde ihm seinen Erfolg streitig machen. Mel wußte aber auch, daß es nach dieser Nacht eine weitere Legende zum Ruhm Patronis geben würde.

Die Pflüge und Schneeschleudern rollten bereits ab.

Mel schaltete sein Funkgerät auf die Frequenz des Kontroll-turms.

»Mobil eins an Bodenkontrolle. Blockierendes Flugzeug von Landebahn Drei-Null entfernt. Fahrzeuge folgen. Ich inspiziere auf Hindernisse.«

Mel ließ den Suchscheinwerfer seines Wagens über die Oberfläche der Startbahn sehweifen. Tanya und der Reporter Tomlinson spähten mit ihm hinaus. Manchmal ließen nach Vorfällen wie dem heutigen die Arbeitstrupps Werkzeuge oder Trümmer zurück — eine Gefährdung für jedes startende oder landende Flugzeug. Über die unebene Schneefläche hinaus war in dem Lichtschein keine Erhebung zu sehen.

Der letzte Schneepflug bog an der nächsten Kreuzung ab. Mel setzte seinen Wagen in Bewegung und folgte. Die drei in dem Wagen waren physisch und psychisch von der Spannung der letzten Minuten erschöpft, wußten aber, daß ihnen eine noch größere Nervenbelastung bevorstand.

Als sie hinter den Pflügen nach links abbogen, meldete Mel: »Landebahn Drei-Null frei und offen.«

16

Trans America Flug Zwei, The Golden Argosy, war noch zehn Meilen entfernt und befand sich in den Wolken in fünfzehnhundert Fuß Höhe.

Nach einer weiteren kurzen Ruhepause hatte Anson Harris das Steuer wieder übernommen.

Der Anflugkontroller auf Lincoln International — mit einer Stimme, die Vernon Demerest dunkel vertraut war, aber er machte sich nicht die Mühe, jetzt darüber nachzudenken —, hatte sie bis dahin über eine Kursfolge mit sanften Richtungskorrekturen, während sie ständig tiefer gingen, eingewiesen.

Beide Piloten erkannten, daß sie mit großer Kunst herangebracht worden waren und sich jetzt in einer Position befanden, da die endgültige Entscheidung, welche der beiden möglichen Landebahnen sie ansteuern sollten, ohne umständliche Flugmanöver erfolgen konnte. Diese Entscheidung mußte jetzt aber jeden Augenblick getroffen werden.

Je näher dieser Augenblick kam, um so höher steigerte sich die Spannung der beiden Piloten.

Vor wenigen Minuten war der Zweite Offizier Cy Jordan auf Demerests Befehl in die Pilotenkanzel zurückgekehrt, um eine Schätzung über ihr Gesamtgewicht bei der Landung aufzustellen, wobei der verbrauchte Treibstoff und der noch übrige zu berücksichtigen waren. Nachdem er alles andere Notwendige in seiner Funktion als Flugingenieur erledigt hatte, war er auf seinen Einsatzposten für die Notlandung in der vorderen Passagierkabine zurückgegangen.

Mit Hilfe von Demerest hatte Anson Harris die Nottrimmprozedur als Vorbereitung für die Landung mit verklemmtem Höhenruder durchprobiert. Als sie damit fertig waren, tauchte Dr. Com-pagno kurz hinter ihnen auf. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, daß Ihre Stewardess, Miss Meighen, sich tapfer hält. Wenn sie bald in ein Krankenhaus kommt, bin ich ziemlich sicher, daß wir sie durchbringen.«

Demerest, dem es schwerfiel, seine plötzlich aufwallenden Gefühle zu verbergen, zog es vor zu schweigen. Deshalb war es An-son Harris, der sich auf seinem Platz halb umwendete. »Vielen Dank, Doktor. Wir haben nur noch ein paar Minuten.«

In beiden Passagierkabinen waren alle Vorsichtsmaßnahmen, die getroffen werden konnten, abgeschlossen. Die Verletzten saßen, mit Ausnahme von Gwen Meighen, auf Sitzen angeschnallt. Zwei der Ärzte hatten zu beiden Seiten von Gwen Stellung bezogen, bereit sie zu stützen und zu halten, wenn die Maschine aufsetzte. Anderen Passagieren war gezeigt worden, wie sie sich festhalten und gegen das Aufsetzen abstützen sollten, das sich als außergewöhnlich hart und mit noch nicht abzusehenden Konsequenzen erweisen konnte.

Der blinde Passagier in der Maschine, die alte Mrs. Quonsett, hatte zuletzt doch etwas Angst bekommen. Sie klammerte sich fest an die Hand ihres Freundes, des Oboisten. Auch überkam sie jetzt die Erschöpfung von den Anstrengungen eines ungewöhnlich ereignisreichen Tages.

Vor kurzem erst war ihre Laune zu einem strahlenden Höhepunkt geweckt worden, als ihr eine der Stewardessen eine kurze Mitteilung von Kapitän Demerest überbracht hatte. Der Kapitän bedanke sich bei ihr, sagte die Stewardess. Sie habe alles in ihren Kräften Stehende getan, um zu helfen, und da Mrs. Quonsett ihrerseits das getroffene Abkommen gehalten habe, würde Kapitän De-merest, nachdem sie gelandet seien, das Abkommen auch seinerseits halten und für ihre Weiterbeförderung nach New York sorgen. Wie wundervoll von diesem gütigen Mann, dachte Ada Quonsett, sich daran zu erinnern, während er doch an so vieles andere zu denken hatte . . . Aber jetzt fragte sie sich: Würde sie überhaupt noch dazu kommen, diese Reise zu machen?

Judy, die Nichte von Zollinspektor Standish, hatte wieder einmal das Baby gehalten, dessen Eltern auf den Plätzen neben ihr saßen. Jetzt reichte sie das Kind der Mutter zurück. Das Baby, das sich die wenigsten Sorgen machte, schlief.

In der Pilotenkanzel saß Vernon Demerest auf dem rechten Sitz und überprüfte die Gewichtschätzung, die der Zweite Offizier ihm vorgelegt hatte, und verglich sie mit der Tabelle über Gewichte und Geschwindigkeit am Instrumentenbrett der Piloten. Mit gepreßter Stimme verkündete er: »Anfluggeschwindigkeit 150 Knoten.«

Das war die Geschwindigkeit, mit der sie aus Rücksicht auf ihr Gewicht und das verklemmte Höhensteuer die Grenze des Flughafens überqueren mußten.

Harris nickte. Mit düsterem Gesicht streckte er die Hand aus, um eine Warnmarkierung an seinem Fluggeschwindigkeitsmesser einzustellen. Demerest tat das gleiche.

Selbst auf der längsten Landebahn würde ihre Landung gefahrvoll und riskant werden.

Die Geschwindigkeit — über 170 Knoten in der Stunde — war teuflisch hoch für eine Landung. Beide Piloten wußten, daß es ein außergewöhnlich langes Ausrollen nach dem Aufsetzen mit langsamer Verringerung der Geschwindigkeit infolge ihres hohen Gewichts bedeutete. Dadurch wurde ihr Gewicht zu einer doppelten Gefährdung. Doch mit einer geringeren Geschwindigkeit anzufliegen als der, die Demerest gerade berechnet hatte, würde selbstmörderisch sein. Das Flugzeug würde durchsacken und unhaltbar zur Erde stürzen.

Demerest griff nach dem Funkmikrofon.

Noch ehe er einen Funkspruch durchgeben konnte, verkündete die Stimme von Keith Bakersfeld: »Achtung, Trans America Zwei, nach rechts auf Kurs zwei-acht-fünf abdrehen. Landebahn DreiNull ist offen.«

»Mein Gott!« sagte Demerest. »Es wurde auch Zeit!«

Er schaltete sein Mikrofon ein und bestätigte.

Gemeinsam gingen sie die Prüfungsliste vor der Landung durch.

Als ihr Fahrwerk ausfuhr, ging ein Poltern durch die Maschine.

»Ich fliege ganz tief an«, sagte Harris, »und wir werden frühzeitig aufsetzen. Wir brauchen trotzdem jedes Stückchen Gelände, das sie da unten haben.«

Demerest grunzte zustimmend. Er spähte nach vorn, bemühte sich, die Wolken und die Dunkelheit zu durchdringen, um einen Schein der Flughafenlichter zu entdecken, die bald sichtbar werden mußten. Seine Gedanken beschäftigten sich trotz seiner äußeren Ruhe mit den Beschädigungen an dem Flugzeug. Sie wußten immer noch nicht, wie schwer sie waren, oder wie sehr sie sich während des stürmischen Rückflugs verschlimmert hatten. Das Loch war jedenfalls verdammt groß, und dann kam die harte schnelle Landung . . . Mein Gott! Das ganze Leitwerk konnte abbrechen . . . Wenn das passiert, dachte Demerest, bei hundertfünfzig Knoten, dann sind wir dran . . . Dieser verfluchte Schweinehund, der die Bombe losgelassen hatte. Ein Jammer, daß er tot war! Demerest hätte ihn jetzt gern in den Händen gehabt, um persönlich seinem stinkigen Leben ein Ende zu machen . . .

Anson Harris neben ihm machte den Anflug nach dem Instru-mentenlandesystem, steigerte ihre Abstiegrate von siebenhundert auf achthundert Fuß in der Minute.

Demerest wünschte sich verzweifelt, er könnte selbst fliegen. Bei jedem anderen als Harris — bei einem jüngeren Kapitän oder einem mit weniger Dienstjahren — hätte Demerest jetzt das volle Kommando übernommen. Aber wie die Dinge nun einmal standen, konnte er Harris nicht den geringsten Tadel aussprechen — er hoffte, daß sich von der Landung das gleiche sagen lassen würde . . .

Seine Gedanken wanderten zur Passagierkabine zurück. Gwen, wir sind beinahe da! Bleib am Leben! Seine Überzeugung, daß es mit dem Kind gutgehen, daß er und Gwen und Sarah eine Lösung finden würden, war unvermindert fest.

Über Funk meldete Keith Bakersfelds Stimme: »Trans America Zwei, Ihr Kurs und Anflug sind ausgezeichnet. Auf der Landebahn liegt eine mittlere bis leichte Schneedecke. Wind Nord-West, dreißig Knoten. Sie landen als erste.«

Sekunden später tauchten sie durch die Wolken auf und sahen die Lichter der Landebahn direkt in gerader Linie vor sich.

»Lincoln Anflugkontrolle«, gab Demerest durch. »Wir haben die Landebahn in Sicht.«

»Verstanden, Flug Zwei.« Die Erleichterung in der Stimme des Kontrollers war unverkennbar. »Der Turm gibt Ihnen die Landung frei; sie geben Ihnen die Frequenz durch, sobald sie übernommen haben. Viel Glück und Ende.«

Vernon Demerest knipste zweimal an dem Schalter zu seinem Mikrofon, eine Kurzform für »danke« in der Sprache der Flieger.

Anson Harris befahl kurz: »Landelichter einschalten. Bremsklappen auf fünfzig Grad ausfahren.«

Demerest kam dem Befehl nach.

Sie sanken schnell tiefer.

Harris warnte: »Vielleicht brauche ich Hilfe beim Seitensteuer.«

»Gewiß.« Demerest setzte seine Füße auf die Ruderpedale. Wenn die Geschwindigkeit nachließ, konnte das Ruder infolge des zerstörten Servomechanismus steif wie die defekte Servolenkung eines Wagens werden, nur in noch stärkerem Maß. Nach dem Aufsetzen mußten beide Piloten vielleicht zusammen ihre volle Kraft einsetzen, um die Steuerung der Richtung in der Gewalt zu behalten.

Sie rasten über den Rand des Flughafens dahin; die Lichter der Landebahn erstreckten sich vor ihnen wie zusammenlaufende Perlenketten. Zu beiden Seiten waren Schneewälle aufgehäuft, dahinter lag Dunkelheit. Harris hatte seinen Anflug so tief angesetzt, wie er es nur wagen konnte. Die Nähe am Boden enthüllte die ungewöhnliche Schnelligkeit, mit der sie noch flogen. Beiden Piloten war die eindreiviertel Meilen lange Landebahn vor ihnen nie kürzer erschienen.

Harris fuhr die Landeklappen voll aus, brachte das Flugzeug in die Waagerechte und schloß alle vier Treibstoffhebel. Das Dröhnen der Düsentriebwerke ließ nach; ein drängender heulender Wind trat an seine Stelle. Als sie die Schwelle der Landebahn kreuzten, nahm Demerest verschwommen eine Ansammlung von Rettungsfahrzeugen wahr, die ihnen die Landebahn entlang folgen würden, wie er wußte. Er dachte: Wir können sie vielleicht verdammt gut gebrauchen! Halte durch, Gwen!

Sie schwebten immer noch, mit kaum verminderter Geschwindigkeit.

Dann setzte die Maschine auf. Hart. Bewegte sich immer noch mit hohem Tempo.

Schnell richtete Harris die Bremsklappen an den Tragflächen senkrecht auf und stieß den Hebel zur Schubumkehr nach vorn. Mit einem Aufdröhnen der Motoren wurde die Schubwirkung in entgegengesetzter Richtung wirksam, sie wurde jetzt zur Bremse, stemmte sich der Richtung, in der das Flugzeug rollte, entgegen.

Sie hatten drei Viertel der Landebahn hinter sich und wurden langsamer, aber nicht schnell genug.

Harris rief: »Ruder rechts!« Das Flugzeug schwankte nach links. Mit vereinten Kräften hielten Demerest und Harris die gerade Richtung bei. Aber das vor ihnen liegende Ende — mit aufgehäuftem Schnee und einer Höhle der Dunkelheit dahinter — kam schnell näher.

Anson Harris trat hart auf die Fußbremse. Metall knirschte unter der Anspannung. Gummi kreischte. Die Dunkelheit kam immer noch näher. Dann wurden sie langsamer — mehr und mehr — noch mehr . . .

Drei Fuß vom Ende der Landebahn entfernt kam Flug Zwei zum Stehen.

17

Auf der Uhr im Radarraum konnte Keith Bakersfeld sehen, daß seine Schicht noch eine halbe Stunde dauerte. Es war ihm gleichgültig.

Er schob seinen Stuhl vom Radarpult zurück, zog die Stöpsel zu seinem Kopfhörer heraus und stand auf. Er sah sich in dem Raum um und wußte, daß es zum letztenmal war.

»He!« rief Wayne Tevis ihn an. »Was ist los?«

»Hier«, antwortete ihm Keith. »Nehmen Sie das. Vielleicht braucht jemand anderes es noch.« Er drückte Tevis den Kopfhörer in die Hände und ging hinaus.

Keith wußte, daß er das schon vor Jahren hätte tun sollen.

Er spürte eine seltsame Leichtigkeit in seinem Kopf, fast so etwas wie Erlösung. Draußen im Gang fragte er sich verwundert, warum.

Es kam nicht davon, daß er Flug Zwei hereingeleitet hatte. Darüber machte er sich keine Illusionen. Keith hatte gute Arbeit geleistet, aber jeder andere in der Schicht hätte es ebensogut gekonnt, oder besser. Auch konnte nichts — wie er im voraus gewußt hatte —, nichts, was in dieser Nacht geschehen war, das, was sich vorher ereignet hatte, auslöschen oder ein Gegengewicht dazu bilden.

Es spielte auch keine Rolle, daß er sein geistiges Aussetzen von vor zehn Minuten überwunden hatte. In diesem Augenblick war Keith alles gleichgültig gewesen. Er wollte nur hinaus. Nichts, was seither geschehen war, konnte seine Absicht ändern.

Vielleicht war sein plötzlicher Wutanfall von vor einigen Minuten eine Katharsis gewesen, in dem Eingeständnis, das er sich nicht einmal selbst gegenüber in seinen geheimsten Gedanken gemacht hatte, wie sehr er die Luftfahrt haßte und immer gehaßt hatte. Jetzt, fünfzehn Jahre zu spät, wünschte er, er hätte sich diese Tatsache früher eingestanden.

Er trat in den Garderobenraum der Kontroller mit den hölzernen Bänken und dem überladenen Anschlagbrett. Keith öffnete seinen Spind und zog Jacke und Mantel an. Im Fach des Spinds befanden sich ein paar persönliche Dinge. Er ignorierte sie. Er wollte nur die Farbaufnahme von Natalie. Behutsam löste er sie von der Innen- seite der Metalltür . . . Natalie in einem Bikini, lachend, ihr freches, koboldhaftes Gesicht und ihre Sommersprossen, ihr im Wind wehendes Haar . . . Als er das Bild betrachtete, hätte er am liebsten geweint. Hinter dem Foto steckte der Zettel von ihr, den er gehütet hatte:

»Ich bin froh darüber, daß wir unseren Anteil noch mit Liebe und Leidenschaft bekommen haben.«

Keith steckte beides ein. Das übrige konnte jemand anderes ausräumen. Er wollte nichts, was ihn an diesen Ort erinnerte, je wiedersehen.

Er hielt inne.

Er stand da und erkannte, daß er ohne jede Absicht zu einem neuen Entschluß gekommen war. Er war sich nicht sicher, was dieser Entschluß alles mit sich brachte oder wie er ihm morgen erscheinen würde oder auch nur, ob er darüber hinaus mit diesem Entschluß leben konnte. Wenn er nicht damit leben konnte, blieb immer noch ein Fluchtweg; ein Weg, der hinausführte: die Pillenschachtel in seiner Tasche.

Denn heute nacht war die Hauptsache: Er ging nicht in die O'Hagan Inn. Er ging nach Hause.

Dennoch wußte er eines. Wenn es für ihn eine Zukunft geben sollte, mußte sie von der Luftfahrt weit weg sein. Wie andere, die vor ihm die Arbeit in der Flugsicherung aufgegeben hatten, feststellen mußten, konnte sich das als das Allerschwerste von allem erweisen.

Und selbst wenn diese Schwierigkeit überwunden werden konnte sei dir jetzt darüber klar, sagte Keith zu sich selbst — würde es Gelegenheiten geben, bei denen er an die Vergangenheit erinnert wurde. An Lincoln International erinnert, an Leesburg, an das, was an beiden Orten geschehen war. Und konnte man auch sonst allem entkommen, wenn man einen gesunden Verstand besaß — es gab kein Entrinnen vor der Erinnerung. Die Erinnerung an die Familie Redfern, die gestorben war — an die kleine Valerie Redfern —, würde ihn nie verlassen.

Aber das Gedächtnis konnte sich anpassen — oder etwa nicht? — an die Zeit, an die Umstände, an die Realität, daß man hier und jetzt lebte. Die Redferns waren tot. In der Bibel hieß es: »Laßt die Toten ihre Toten begraben.« Was geschehen war, war geschehen.

Keith fragte sich, ob er — von jetzt an — mit Trauer an die Redferns denken, aber sich auch das Leben — Natalie, seine eigenen Kinder — zur ersten Aufgabe setzen könne.

Er war nicht sicher, ob es ihm gelingen würde. Er war nicht sicher, ob er die moralische oder die physische Kraft dazu besaß. Aber er konnte es versuchen.

Er nahm den Fahrstuhl im Kontrollturm nach unten.

Draußen blieb er auf dem Weg zum Parkplatz für das Flughafenpersonal stehen. Er folgte einem plötzlichen Impuls, wußte, daß er es später vielleicht bedauern würde, und nahm die Pillenschachtel aus der Tasche und leerte ihren Inhalt in den Schnee.

18

Mel Bakersfeld konnte aus seinem Wagen, mit dem er auf dem nahen Taxiweg parkte, nachdem er Landebahn Drei-Null verlassen hatte, sehen, daß die Piloten von Flug Zwei der Trans America keine Zeit verschwendeten und direkt zum Flughafengebäude rollten. Die Lichter des Flugzeugs, das jetzt das Flugfeld halb hinter sich hatte, waren noch sichtbar und bewegten sich schnell. Über sein auf die Bodenkontrolle eingestelltes Funkgerät konnte er hören, daß andere Flüge auf Taxibahnen und vor den Kreuzungen zu der Landebahn angehalten worden waren, um die beschädigte Maschine vorbeizulassen. Noch waren Verletzte an Bord. Flug Zwei war angewiesen worden, sofort zu Ausgang siebenundvierzig zu rollen, wo ärztliche Hilfe, Krankenwagen und Personal der Fluggesellschaft warteten.

Mel sah die Lichter der Maschine schwächer werden und im Strahlenglanz der vielen Lampen des dahinterliegenden Flughafens untergehen.

Die Rettungsfahrzeuge des Flughafens, die schließlich doch nicht benötigt worden waren, zerstreuten sich aus dem Gebiet der Landebahn.

Tanya und der Reporter Tomlinson von der Tribune waren auf dem Weg zurück zum Flughafengebäude. Sie fuhren mit Joe Patroni, der die 707 der Aereo Mexican jemand anders übergeben hatte, um sie zu den Hangars zu rollen.

Tanya wollte zum Aussteigen der Passagiere von Flug Zwei an Ausgang siebenundvierzig sein. Wahrscheinlich würde sie gebraucht werden.

Ehe sie gegangen war, hatte sie Mel leise gefragt: »Kommen Sie noch nach Hause?«

»Wenn es nicht zu spät ist, gern«, hatte er geantwortet.

Er sah Tanya an, die sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Sie hatte ihn mit ihren offenen, klaren Augen angeblickt und gelächelt. »Es ist nicht zu spät.«

Sie vereinbarten, sich in einer dreiviertel Stunde am Haupteingang des Flughafengebäudes zu treffen.

Tomlinson beabsichtigte, Joe Patroni und danach die Besatzung von Flug Zwei der Trans America zu interviewen. Die Besatzung und zweifellos auch Patroni würden innerhalb weniger Stunden Helden sein. Mel nahm an, daß die dramatische Geschichte der Gefährdung und der Erhaltung des Flugzeugs seine eigenen Bekundungen über die nüchternen Probleme und Mängel des Flughafens überschatten würden.

Vielleicht allerdings nicht völlig. Tomlinson, dem Mel seine Ansichten anvertraut hatte, war ein ernsthafter und intelligenter Reporter, der womöglich das gegenwärtige dramatische Ereignis mit den nicht weniger ernsten bevorstehenden Problemen in Verbindung brachte.

Die 707 der Aereo Mexican wurde jetzt fortgeschafft. Anscheinend war die Maschine unbeschädigt, würde aber zweifellos gründlich inspiziert und überprüft werden, ehe sie zu ihrem abgebrochenen Flug nach Acapulco wieder starten durfte. Die verschiedenen Hilfsfahrzeuge, die der Maschine während ihrer Hilflosigkeit im Schlamm beigestanden hatten, folgten ihr.

Für Mel bestand kein Grund, nicht auch zurückzufahren. In ein oder zwei Minuten würde er das tun. Doch zum zweitenmal heute nacht empfand er die Einsamkeit des Flugfelds, seine Nähe zu einem elementaren Teil der Luftfahrt, als anregend für seine Gedanken.

Vor wenigen Stunden hatte ihn hier sein Instinkt, eine Vorahnung, gewarnt, wie Mel sich erinnerte, daß die Geschehnisse einem katastrophalen Ende zustrebten. Nun ja, in gewisser Weise war das geschehen. Die Katastrophe war eingetreten, wenn sie auch glücklicherweise weder vollständig noch unmittelbar auf die Anlagen des Flughafens oder deren Mängel zurückzuführen war.

Aber der Flughafen hätte an der Katastrophe mitschuldig sein können, und der Flughafen seinerseits hätte die Vollendung der Katastrophe verursachen können, durch Unzulänglichkeiten, die Mel vorausgesehen und die zu beheben er sich vergeblich eingesetzt hatte.

Denn Lincoln International war veraltet.

Veraltet, trotz seiner guten Leitung, wie Mel wußte, und seinem glänzenden Glas und Chrom. Trotz seiner Flugverkehrsdichte. Trotz seiner Rekordzahl an Passagieren. Trotz seines Niagara an Luftfracht. Trotz seiner Erwartung, noch mehr von allem zu bekommen, und trotz seines prahlerischen Titels »Luftkreuz der Welt«.

Der Flughafen war veraltet, weil die Fortschritte in der Luft jede Voraussage übertroffen hatten, wie es so oft in den sieben Jahrzehnten in der Geschichte der Luftfahrt geschehen war. Wieder einmal hatten sich die Prognosen der Fachleute als falsch, die Visionen der Träumer als richtig erwiesen.

Und was hier galt, galt auch anderswo.

Auf dem gesamten Kontinent, in der ganzen Welt — überall war es das gleiche. Über das Wachstum des Luftverkehrs, seine Bedürfnisse, bevorstehende Entwicklungen in der Luft, durch die für Menschen und Güter die niedrigsten Transportkosten in der Geschichte der Menschheit entstehen würden, die Chance, die er den Völkern der Welt bot, sich in Frieden besser kennenzulernen und freien Handel zu treiben, wurde viel geredet. Aber im Verhältnis zur Größe des Problems war auf dem Boden wenig geschehen.

Nun, eine Stimme allein würde nicht alles ändern, aber jede Stimme, die sachverständig und mit Überzeugung sprach, war eine Hilfe. Während der letzten Stunden war Mel bewußt geworden — er war sich nicht sicher, warum oder wie —, daß er so wie heute abend weitersprechen würde, so, wie er es lange nicht mehr getan hatte.

Morgen — oder richtiger, später am heutigen Tage — würde er damit anfangen, daß er für Montag vormittag eine dringende Sondersitzung des Verwaltungsrates einberief. Auf der Sitzung würde er auf den sofortigen Beschluß drängen, eine neue Landebahn parallel zu Drei-Null zu bauen.

Die Erfahrung der heutigen Nacht hatte, wie nichts anderes, die Argumente für eine Steigerung der Kapazität an Landebahnen unterstützt, die Mel schon vor langer Zeit vorgebracht hatte. Doch diesmal war er entschlossen, dafür zu kämpfen, mit offenen, deutlichen Worten, vor Katastrophen zu warnen, die drohten, solange der allgemeinen Sicherheit nur Lippendienste erwiesen und lebenswichtige Bedürfnisse ignoriert oder zurückgestellt wurden. Er würde dafür sorgen, daß die Presse und die öffentliche Meinung auf seiner Seite marschierten, den Druck ausübten, den die Politiker in der Stadt, die die Ausgabe von Anleihen kontrollierten, verstanden.

Nach neuen Landebahnen mußte auf andere Projekte gedrängt werden, über die man bisher nur geredet und auf die man gehofft hatte. Dazu gehörten ein völlig neues Hauptgebäude und ein neuer Komplex von Taxibahnen, mit größerem Verständnis geplante Wege für den Fluß der Fußgänger und der Fracht, kleine Satellitenfelder für Senkrechtstarter und Flugzeuge mit kurzem Start- und Landeweg, mit denen bald zu rechnen war.

Lincoln International Airport gehörte entweder ins Düsenzeitalter oder nicht; wenn aber ja, dann mußte er mit der Entwicklung weit besser Schritt halten als bisher.

Flughäfen sind ja gar keine wirtschaftlichen Belastungen oder teurer Luxus, dachte Mel. Fast alle tragen sich selbst, schaffen Wohlstand und Stellungen für zahllose Arbeitskräfte.

Doch nicht alle Schlachten um den Fortschritt auf der Erde wie in der Luft konnten gewonnen werden. Das gab es nirgendwo. Manche aber doch, und ein Teil dessen, was hier gesagt und getan wurde, konnte dank Mels Ansehen als Fachmann für Fragen der Flughafenverwaltung auf das ganze Land und sogar international als Vorbild wirken.

Wenn es dazu kam, um so besser! Der englische Dichter John Donne fiel Mel ein, der einmal geschrieben hatte: »Kein Mensch ist eine Insel, völlig auf sich selbst gestellt; jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen.« Auch ein Flughafen war keine Insel, und solche, die sich selbst als international bezeich-neten, sollten sich einer Art des Denkens befleißigen, die diesen Namen rechtfertigte. Vielleicht konnte Mel in gemeinsamer Arbeit mit anderen aufzeigen helfen, wie.

Die Leute, die eine Zeitlang nichts mehr von Mel Bakersfeld gehört hatten, würden bald erfahren, daß er noch da war.

Und intensive Arbeit, die Wiederaufnahme seiner alten, den gesamten Bereich der Luftfahrt umfassenden Interessen mochte vielleicht auch bei seinen persönlichen Problemen hilfreich sein, indem sie ihn beschäftigten. Jedenfalls hoffte Mel darauf. Der Gedanke erinnerte ihn unvermittelt daran, daß er bald — vielleicht morgen schon — Cindy anrufen und mit ihr verabreden mußte, wann er seine Kleider und seinen privaten Besitz abholen würde. Das würde eine unerfreuliche Arbeit werden, und er hoffte, dabei nicht den Kindern, Roberta und Libby, zu begegnen. Zunächst, nahm Mel an, würde er in ein Hotel ziehen, bis er Zeit fand, nach einem Apartment für sich zu suchen.

Doch besser als je erkannte er, daß Cindys und seine Entscheidung, sich scheiden zu lassen, unvermeidlich gewesen war. Das hatten sie beide gewußt. Heute nacht hatten sie nur beschlossen, eine Fassade einzureißen, hinter der nichts mehr existierte. Weder für sie selbst noch für die Kinder konnte durch weiteres Hinauszögern irgend etwas gewonnen werden.

Trotzdem würde es seine Zeit dauern, bis er sich damit abgefunden hatte.

Und Tanya? Mel war sich nicht sicher, was die Zukunft ihnen gemeinsam zu bieten hatte, falls sie überhaupt etwas zu bieten hatte. Er meinte, es könne eine ganze Menge sein, aber die Zeit zu einer Bindung — falls es je dazu kommen sollte — war noch nicht da. Er wußte nur: Heute nacht, ehe dieser lange und schwierige Arbeitstag endete, sehnte er sich nach Gesellschaft, nach Wärme, nach Zärtlichkeit. Und von allen Freunden, die er hatte, besaß Tanya diese drei Eigenschaften im höchsten Maß.

Zu was diese Gaben zwischen ihm und Tanya sonst noch führen mochten, mußte die Zeit lehren.

Mel schaltete den Gang seines Wagens ein und lenkte ihn zur Verbindungsstraße, über die er zum Flughafengebäude kommen würde. Landebahn Drei-Null lag jetzt rechts von ihm.

Nachdem die Landebahn jetzt frei war, begannen auch andere Flugzeuge sie zu benutzen. Trotz der späten Stunde trafen sie in einem stetigen Strom ein. Eine Convair 880 der TWA fegte vorbei und landete. Hinter ihr, eine halbe Meile weit entfernt, waren die Landelichter des nächsten anfliegenden Flugzeugs zu sehen. Dahinter ein zweites, ein drittes schwenkte gerade ein.

Die Tatsache, daß er die Lichter der dritten Maschine erkennen konnte, brachte ihm zu Bewußtsein, daß die Wolkendecke sich gehoben hatte. Plötzlich fiel ihm auf, daß es nicht mehr schneite. An einigen Stellen im Süden tauchte klarer Himmel auf. Erleichtert erkannte er, daß der Schneesturm weitergezogen war.

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