14. Kapitel Endzeit

Für Hresh war es eine erregende Zeit, und sie brachte ihm die Erfüllung vieler Träume und vieles, das er nie zu erlangen gehofft hätte.

Taniane war seine Tvinnr-Partnerin und auch seine Kopulationsgefährtin geworden. Nun, da alle Schranken zwischen ihnen gefallen waren, hatte er erkannt, daß sie während der ganzen gemeinsamen Kindheit und frühen Erwachsenenjahre mit unablässiger verlangender Liebe auf ihn geschaut hatte. Während er hingegen dafür blind war, in seine Studien der Chroniken vergraben und später mit der Erforschung der vengiboneezischen Ruinen beschäftigt, und ganz und gar nicht begriffen hatte, welcher Art ihre Gefühle für ihn waren — oder auch seine für sie.

Haniman war für Taniane nur ein Zeitvertreib gewesen. Ein Reservegeliebter, wenn sie sich langweilte, und vielleicht auch in der Absicht gewählt, Hresh eifersüchtig zu machen. Und Hresh hatte die Beziehung zwischen den beiden arg falsch interpretiert, was allesamt zu spüren bekommen hatten.

Doch dies alles war nun bereinigt. Nacht um Nacht lagen nun Taniane und Hresh die ganze Nacht beisammen, Brust an Brust, Sensororgan an Sensororgan geschmiegt, in einer Vereinigung ihrer Körper und Seelen, die dermaßen intensiv war, daß Hresh angesichts dieses Wunderbaren oft ganz schwindelig wurde. Er war fest entschlossen, Koshmar um die Erlaubnis zu bitten, Taniane als eheliche Gefährtin nehmen zu dürfen, sobald er nur den Mut dazu aufbringen würde. Zwar hatte er in den Chroniken dafür noch keinen Präzedenzfall entdecken können, daß der Alte Mann des Stammes sich eine eheliche Gefährtin genommen hätte, aber andererseits stand da auch nichts, was dem zuwidergelaufen wäre. Torlyri hatte das mit Lakkamai getan; und wenn die Opferfrau das tun durfte, jetzt in der Neuen Zeit, dann warum nicht auch der Chronist?

Hresh wußte auch von Tanianes brennendem Ehrgeiz und daß sie Koshmar für alt, ausgebrannt und am Ende betrachtete und an ihrer Stelle Häuptling zu werden wünschte.

Taniane unternahm nicht den Versuch, ihre Visionen der Stammeszukunft vor ihm zu verbergen. „Wir werden gemeinsam herrschen, du und ich! Ich werde Häuptling sein, du der Alte Mann; und sobald wir Kinder haben, werden wir sie so aufziehen, daß sie nach uns herrschen können. Wie könnte auch jemand ein gemeinsames Kind von uns übertreffen? Ein Kind, das deine Klugheit und Weisheit und Hartnäckigkeit besitzt und dazu meine Kraft und Energie? Ach, Hresh, Hresh, wie wundersam sich doch alles für uns gefügt hat!“

„Noch ist Koshmar Häuptling“, mahnte er sie ernüchternd. „Und wir zwei sind noch nicht einmal verehelicht. Und es gibt eine Menge Arbeit hier in Vengiboneeza.“

Zwar hatte Koshmar seine Behauptung zornig verworfen, daß der Stamm die Stadt verlassen müsse, und das Thema auch nicht wieder aufgegriffen, aber Hresh wußte, daß ihre Auswanderung unvermeidlich war. Früher oder später würde Koshmar einsehen, daß das Volk in Vengiboneeza in trübe Trägheit versank und daß außerdem auf jeden Fall die Beng die Lage für den Stamm untragbar machten. Und dann würde Koshmar ohne Vorwarnung (o ja, er kannte sie!) den Befehl erteilen, daß man alles zusammenpacken und die Stadt aufgeben müsse. Deshalb war es für ihn von allerhöchster Wichtigkeit, die Ruinen nach möglicherweise weiteren nützlichen Dingen zu durchstöbern, solange er noch Zeit dazu hatte.

Aus Furcht vor Begegnungen mit Beng-Patrouillen zog er in jüngster Zeit nur noch nachts auf Streifzüge aus. Wenn die Dunkelheit über die Siedlung hereinbrach und alles still wurde, erhoben sich Taniane und er und zogen Hand in Hand nach Vengiboneeza, wobei sie auf Zehenspitzen schlichen. Sie schliefen jetzt kaum noch, und ihre Augen glänzten vor Übermüdung. Aber ihr aufregendes Vorhaben hielt sie in Trab.

Dreimal versuchte er das unterirdische Versteck zu erreichen, wo er die Reparaturmaschinen an der Arbeit gesehen hatte, aber jedesmal erspähte er dort Beng-Posten in der Nähe und konnte darum nicht näher herangelangen. Stumm verfluchte er sein Mißgeschick. Er malte sich aus, daß die Beng dort herumschnüffelten und die Relikte selbst plünderten, daß sie Sachen von höchster Wichtigkeit in die Finger bekämen, und er verspürte einen scharfen stechenden Schmerz, der ihm wie ein Messer durch die Seele fuhr. Doch es gab noch unendlich viele andere Stellen zu erforschen. Unter Benutzung des Schatzplanes mit den aneinanderstoßenden Kreisen und der roten Lichter als Wegweiser, liefen sie hastig durch Korridore und Kellergewölbe, Galerien, unterirdische Kammern und Gänge und suchten atemlos hastig bis zum Morgengrauen, wo sie dann manchmal erschöpft einer in des anderen Armen für ein zwei Stunden schliefen, ehe sie in die Siedlung heimkehrten.

Sie machten zahlreiche Entdeckungen. Doch kaum etwas davon schien von unmittelbarem oder auch nur potentiellem Wert zu sein.

In einer mächtigen Kammer mit Kalksteinwänden in dem als Mueri Torlyri bekannten Stadtviertel stießen sie auf eine einzeln dastehende Maschine, die zehnmal so hoch war wie einer vom Volk, in perfektem Erhaltungszustand, ein kuppelförmiges schimmerndes Ding aus perlweißem Metall mit eingelegten farbigen Steinbändern und zuckenden Ovalen von grünem und rotem Licht, und mit rundlichen Armen, die aussahen, als könnten sie auf Knopfdruck sich in vielerlei Richtungen bewegen. Sie wirkte beinahe wie ein riesenhaftes Götzenbild, diese Maschine. Doch wozu diente sie?

Eine weitere Kaverne, die auf allen Seiten von Inschriften in einer verwirrenden gewundenen Lineatur bedeckt war, der zu folgen den Augen weh tat, enthielt glänzende Glasbehälter mit dunklen Metallwürfeln, aus denen auf den Klang einer Stimme hin schimmernde Lichtwellen ausgingen. Diese Würfel waren klein, nicht breiter, als wenn Hresh beide Hände nebeneinander legte, doch als er eines der Behältnisse öffnete und einen Kubus herauszuholen versuchte, ließ dieser sich nicht bewegen. Das Metall, aus dem der Würfel bestand, war anscheinend so dicht, daß es zu heben seine Kräfte überstieg.

Eine lange vornehme Galerie, die teilweise durch das Eindringen eines unterirdischen Wasserlaufs zerstört worden war, wies noch immer — wenn auch durch mineralische Sedimente stark verkrustet — eine Art langen Spiegel auf drei scharfdornigen Beinen auf. Taniane trat darauf zu und stieß einen erstaunten bestürzten Schrei aus.

„Was hast du entdeckt?“ rief Hresh ihr zu.

Sie zeigte auf den Spiegel. „Da in der Mitte ist mein Spiegel. Aber auf dieser Seite — schau nur, das bin ich als Kind. Und auf der rechten Seite da, diese krumme vertrocknete Alte — oh, Hresh, soll ich so aussehen, wenn ich einmal alt bin?“

Noch während sie sprach, brach aus dem Spiegel ein prasselnder tumulthafter Lärm hervor, den sie nach kurzem als ihre eigene Stimme erkannte — oder doch zu erkennen glaubte, nur eben verzerrt und verstärkt; aber sie redete in einer ihr unbekannten Zunge, vielleicht jener der Saphiräugigen. Und kurz darauf wurde der Spiegel trüb, und der Lärm hörte auf, und Brandgeruch stieg ihnen in die Nasenlöcher. Also zogen sie achselzuckend weiter.

Später in derselben Nacht stieß Hresh auf eine silberne Kugel, die klein genug war und bequem in eine Hand paßte. Als er einen erhabenen Knopf an der Oberseite berührte, erwachte der Ball zum Leben, stieß ein scharfes durchdringendes Geheul aus und pulsierte gleichmäßig grünes Licht. Kühn näherte er ein Auge der winzigen Öffnung, aus der das Licht strömte, und vor ihm tat sich eine lebendige Szene aus den Tagen der Großen Welt auf.

Er sah ein Halbdutzend Saphiräugige auf einer hellen Plattform aus weißem Stein stehen. Es war in einem Bezirk der Stadt, den er nicht erkannte. Der Himmel wirkte seltsam öde und bleiern, und wütend wallende Spiralwolken wehten darüber hin, als tobte ein entsetzlicher Sturm heran; aber die Saphiräugigen drehten sich ruhig einer dem anderen zu und verneigten sich gemessen in einer Art gelassenem Ritual.

Der Apparat schien in viel kleinerem Maßstab die Abbilder aus der Großen Welt zu replizieren, wie sie ihm jene riesige Maschine mit den Knöpfen und Hebeln auf dem Platz der Sechsunddreißig Türme gezeigt hatte. Hresh verstaute die Kugel, um sie später genauer zu untersuchen, in seinem Gürtel.

In der folgenden Nacht arbeiteten sie auf der genau entgegengesetzten Seite der Stadt in einem von Trümmern erfüllten Gewölbe, wo sich das Terrain langsam zu den Vorbergen hob, und diesmal war es Taniane, die eine außergewöhnliche Entdeckung machte: in einer dumpfigen schimmelbedeckten Zisterne, fünf Etagen unter dem Straßenniveau. Sie stolperte auf höchst wortwörtliche Weise darüber, indem sie an einem Steinblock ausrutschte, der durch ihren Stoß beiseiteschwang und eine Geheimkammer freigab.

„Hresh!“ rief sie. „Hierher! Schnell!“

Im Augenblick, da die Tür aufging, war der verborgene Raum zu schimmerndem goldenem Leuchten erwacht. In seiner Mitte stand _ auf einem Jadepodest ein metallener Tubus mit runder kappenförmiger Öffnung an der Spitze, aus der verwirrende farbige Bilder stoßartig und flackernd entströmten. Taniane wollte darauf zugehen, doch Hresh packte sie grob am Handgelenk und hielt sie zurück.

„Warte“, sagte er. „Dieses Ding ist gefährlich.“

„Du weißt Hso, was es ist?“

„Ich hab so was schon mal gesehen — in meinen Visionen“, beschied er sie. „Ich hab gesehen, wie die Saphiräugigen sie benutzten.“

„Wofür?“

„Um sich selbst das Leben zu nehmen.“

Taniane stieß ein Keuchen aus, als habe er sie geschlagen.

„Um sich das Leben zu nehmen? Warum sollten sie so etwas tun wollen?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, warum. Aber ich habe gesehen, wie sie es taten. Diese glühende Öffnung oben — sie kann alles aufsaugen, was ihr nahekommt, egal wie groß es ist. Und im Innern ist eine Art Schwärze, die so was wie eine Schleuse anderswohin ist, oder vielleicht auch nirgendwohin. Die Saphiräugigen sind zu dem Ding gegangen und haben praktisch direkt die Nase da hineingesteckt, und plötzlich hat es sie verschlungen. Ich habe keine Ahnung, wie, aber plötzlich waren sie weg. Es ist ein unheimliches Ding, aber sehr verführerisch. In meiner Vision bin ich zu einem hingegangen, und das hätte auch mich erwischt, nur daß ich es ja eben nur in einer Vision erlebte. Aber das da ist echt.“

Er gab ihren Arm frei und ging langsam auf die Maschine zu.

„Hresh — nein, mach das nicht.“

Er lachte. „Ich wollte es bloß mal testen.“

Er hob ein Fragment eines Bildwerks vom Boden auf, schwang es ein paarmal hin und her und warf es sodann aus der flachen Hand auf die Schlitzhaube zu. Das Steinstück schwebte kurz wie aufgehängt knapp außerhalb des Bandes von flackerndem zischendem Licht, dann verschwand es. Hresh stand erwartungsvoll da, lauschte auf den Aufprall des Steinchens auf dem Boden. Aber es geschah nichts.

„Es funktioniert! Es funktioniert immer noch!“

„Versuch es noch einmal!“

„Klar doch!“ Er nahm ein weiteres Steinstück, ein schmales, so lang wie sein Arm, und hielt es behutsam an die Öffnung der Maschine. Er fühlte ein Brennen in der Hand und dem Unterarm, und plötzlich hielt er nichts mehr in der Hand. Er starrte seine Finger an.

Er trat näher heran.

Was passiert, wenn ich meine Hand hineinstecke? überlegte er.

Er verharrte auf demselben Fleck vor der Metallsäule, wippte auf den Fußballen nach vorn, runzelte die Stirn, überlegte. Die Versuchung war erstaunlich stark. Diese Maschine war heimtückisch. Er gedachte jener riesigen röhrenden Maulköpfe vor langer Zeit, damals auf der großen Sandebene, wie die ihn zu sich hingezogen hatten mit ihrem unerbittlichen Trommelgedröhn. Hier war es ähnlich. Er konnte fühlen, wie das Ding ihn in sich hineinzuziehen suchte. Halb war er bereit, dies geschehen zu lassen. Mehr als nur halb, vielleicht. Das Ding würde ihm. vielleicht. Frieden schenken. Vielleicht.

Taniane mußte wohl erraten haben, was ihm durch den Kopf ging, denn sie trat hastig zu ihm, packte ihn bei den Schultern und zog ihn zurück.

„Was hast du grad eben gedacht?“ fragte sie.

Hresh schauderte zusammen. „Ich war bloß neugierig. — Vielleicht — zu neugierig.“

„Hresh, laß uns von hier verschwinden. Irgendwann mal wirst du dermaßen neugierig werden, daß es dir leid tun wird.“

„Warte“, bat er. „Ich möchte nur noch etwas überprüfen.“

„Hresh, das Zeug ist todbringend!“

„Das weiß ich. Warte. So warte doch.“

„Hresh!“

„Ich werde diesmal vorsichtiger sein.“

Er schob sich, halb in der Hocke, etwas näher, wandte die Augen von der hellen Lichtzone an der Spitze weg. Dann neigte er sich nach vorn und legte den Arm um die Mitte des Metalltubus, und wie er es irgendwie beinahe erwartet hatte, konnte er ihn mühelos von seinem Postament aus Grünstein heben. Die Röhre fühlte sich warm an, und sie war hohl; wahrscheinlich hätte er sie mit leichtem Zudrücken seines Armes zerquetschen können. Und ohne Schwierigkeiten trug er das Ding dann durch den Raum und stellte es gegen eine Wand ab. Die Flackerlichter der Haube, die erloschen waren, als er das Ding hochhob, setzten sofort wieder ein.

„Hresh? Was machst du denn da?“

„Es ist beweglich, siehst du? Wir können es mit uns nehmen.“

„Nein! Laß es in Ruhe, Hresh! Es jagt mir Angst ein.“

„Mir auch. Aber ich will mehr darüber rausfinden.“

„Du willst immer mehr über alle Dinge herausfinden. Aber das da wird dich umbringen. Laß es hier, Hresh!“

„Nein, das lasse ich nicht da. Es ist vielleicht das einzige seiner Art auf der ganzen Welt, das es noch gibt. Willst du denn, daß es den Beng in die Hände fällt?“

„Also — wenn es sie auffrißt, wie es den Stein verschluckt hat, den du ihm gegeben hast, dann wäre das womöglich gar keine so schlechte Idee.“

„Aber wenn sie verhindern, daß es ihnen schadet, und wenn sie einen Verwendungszweck dafür entdeckten?“

„Es dient zu nichts, Hresh, außer dem Zerstören. Wenn du dir Sorgen machst, daß sie es kriegen könnten, dann schmeiß doch einen schweren Stein drauf, vielleicht geht es dann kaputt. Aber laß uns jetzt hier verschwinden!“

Er blickte sie lange fragend an.

„Ich verspreche dir, Taniane, daß ich mit dem Ding vorsichtig umgehen werde. Aber ich beabsichtige, es mitzunehmen.“

Sie seufzte.

„Hresh...“, sagte sie und schüttelte resignierend den Kopf. „Ach, Hresh. Ach, du.“

Harruel lag in Entzückungstaumelträumen gefangen. Die Welt war von einem Teppich von Blumen in hundert sanften Farben bedeckt, und ihre weichen Düfte erfüllten die Luft wie Musik. Er lag in einem glatten Steinzuber, Weiawala im einen, Thaloin im anderen Arm, und warmer goldener Süßwein bedeckte sie alle drei und schwappte ihm gegen das Kinn. Und rings um ihn her standen die Söhne seines Fleisches, ein ganzes Dutzend, hochgewachsene prachtvolle Krieger, ihm gleich an Gesicht und Heldentugend, und sangen mit schmetternden Stimmen ein Preislied auf Harruel.

„Harruel!“ brüllten sie. „Harruel, Harruel, Harruel!“

Und dann mischte sich auf einmal ein Mißklang in das alles, und jemand sang mit brüchiger, verrosteter, kreischender Stimme.

„Harruel! Harruel!“

„Nein, du nicht“, stammelte er mit schwerer Zunge. „Du machst alles kaputt. Wer bist du überhaupt? Kein Sohn von mir, mit so einer Stimme! Geh fort! Geh weg!“ „Harruel, wach auf!“

„Hör auf, mich zu belästigen. Ich bin der König.“ „Harruel!“

Eine Hand legte sich ihm an den Hals, Finger gruben sich tief ins Fleisch. Er fuhr sogleich empor, stieß ein rasendes Röhren aus, während sein Traum in Trümmern um ihn zerscherbte. Weiawala — fort Thaloin — fort. Der lustvoll-fröhliche Chor seiner Söhne — alles dahin und fort, fort, fort! Eine graue knirschende Weintresterschicht lag auf seinem Hirn und erstickte seine Seele. Er hatte Schmerzen an zehn verschiedenen Körperstellen, und jemand hatte es gewagt, mit seinem Mund Kotbrocken zu essen. Minbain ragte über ihm auf. Und sie hatte ihn nicht an der Kehle gepackt, sondern seitlich im Nacken. Er konnte den Griff ihrer Finger noch spüren. Sie sah ganz wild aus und ganz durcheinander, als hätte sie etwas Wichtiges zu melden.

Zornig grollte er: „Wie kannst du es wagen, mich zu stören, wenn.“

„Harruel, die Stadt wird angegriffen.“

„.ich versuche ein wenig Ruhe zu finden nach.“ Er holte schnaufend Luft. „Was? Angegriffen? Wer? Koshmar? Ich bring sie um! Ich werd sie auf dem Feuer braten und fressen!“ Harruel rappelte sich auf die Beine und röhrte: „Wo ist sie? Bringt mir meinen Speer! Ruft Konya! Salaman!“

„Sie sind bereits draußen.“ Minbain rang ärgerlich die Hände. „Und es ist nicht Koshmar. Da Harruel, dein Speer, dein Schild. Es sind die Hjjk-Leute, Harruel! Die greifen uns an. Die Hjjk!“

Er stand ganz auf und taumelte auf die Tür zu. Von draußen drang Waffengetöse und stach störend durch sein nebeldumpfes Wahrnehmungsvermögen.

Was? Hjjk-Leute? Hier?

Salaman, der hatte doch neulich irgendwas gesagt, daß er einen Angriff von einem Heer von Hjjk befürchtete. Irgendeine Vision, die er gehabt hatte, oder ein wüster Traum. Harruel hatte wenig damit anfangen können, aber er glaubte sich dunkel zu erinnern, daß Salaman gesagt hätte, die Eindringlinge seien noch weit weg, sie würden erst in vielen, vielen Monden eintreffen. Das hat er jetzt davon, wenn er sich auf seine Visionen verläßt, dachte Harruel.

Der Kopf schmerzte ihn. Die Lage erforderte klares Denken. Er hielt an der Tür inne, packte die Schüssel voll Wein, die dort immer bereitstand, und hob sie an die Lippen. Sie war noch mehr als zur Hälfte gefüllt, doch er leerte sie in vier heftigen Schlucken.

Besser. Viel besser jetzt.

Er trat hinaus.

Draußen herrschte das Chaos. Momentan fiel es ihm schwer, seine Augen scharf einzustellen. Dann begann der Wein zu wirken, und er begriff, daß die Stadt in höchster Gefahr war. Ein Haus brannte bereits. Die Tiere der Koppel waren frei und stoben in sämtliche Richtungen davon, wiehernd und blökend. Er hörte Rufe, Kreischen, das Weinen von Kindern. Dicht am Rand der gerodeten Siedlungszone befand sich ein Schwarm der Hjjk, zehn, fünfzehn, zwei Dutzend, mit Waffen, die zu kurz für Schwerter waren, zu ang, als daß es Messer hätten sein können. Jeder der großen, kantigen vielarmigen Hjjk-Männer hatte mindestens zwei Klingen, manche auch drei oder sogar vier, mit denen sie in bedrohlichen stoßenden Bewegungen durch die Luft fuhren. Sie tanzten herum und herum und stießen dieses trockene raschelnde Zischen aus, von denen sie ihren Namen hatten. Harruel sah ein getötetes Kind als armseliges Häufchen daliegen, daneben blutbedeckte Tiere, überall Hab und Gut des Stammes wild verstreut.

„Harruel!“ brüllte er und stürzte sich mitten in das Getümmel. „Harruel! Harruel! Harruel!“

Salaman, Konya und Lakkamai waren bereits tapfer am Werk und stachen und spießten mit ihren Langspeeren auf die Feinde ein. Bruikkos hatte sich irgendwie zwei Hjjcklingen verschafft, hielt in jeder Hand eine und stand mitten unter den Angreifern, sprang und drehte sich wie ein Irrsinniger und schlitzte die orangeroten Atemröhren auf, die an den Seiten der Köpfe der Hjjk verliefen. Auch Nittin kämpfte, und sogar die Frauen wuchteten wild und wütend Knüppel, Sicheln, Feldhacken, was immer ihnen in die Hände kam.

Das plötzliche Erscheinen Harruels in ihrer Mitte feuerte sie alle an. Er spürte eine Erregung, eine wilde Kampfeswut unter den Verteidigern.

Er entdeckte seinen Sohn, Samnibolon, in der vordersten Linie. Obgleich kaum mehr als ein Kind, schwang er einen Asthaken und hieb damit erbarmungslos auf die starren, vielgelenkigen Beine der Hjjk ein. Harruel stieß einen Freudenschrei hervor bei diesem Beweis für die heldenhafte Natur seines Sohnes und einen zweiten Schrei, als Samnibolon einen der Feinde zum Taumeln brachte. Galihine schmetterte dem verwundeten Hjjk eine kugelköpfige Keule in den Rücken, und Bruikkos machte eine beiläufige Wendung und versetzte ihm mit einem seiner beiden Messer den Todesstoß.

Stolz und Wein ließen in Harruel die Kampfeslust hoch auflodern. Mit wütender Freude hieb und stach er um sich. Während er sich an Salamans Seite vorankämpfte, setzte er seine gewaltige Größe und sein Gewicht bestmöglich ein und stieß und stach die Hjjk an, um sie aus dem Gleichgewicht zu werfen und stürzte sie auf ihre zahlreichen Knie, ehe er sie mit dem Speer erledigte. Die beste Stelle für den Todesstoß war, wie er entdeckte, die Stelle, wo die Beine an den harten Panzerleib stießen; dort drang der Speer leicht ein, und so stieß er und stieß immer wieder mit guter Zielgenauigkeit und tödlicher Wirkung.

Dann war er neben Salaman, und gemeinsam rückten sie auf eine Gruppe von drei Hjjks vor, die Rücken an Rücken dastanden und ihre kleinen Schwerter schwangen, als wären es Stichel.

„Wo sind die hergekommen?“ fragte Harruel. „Sind die aus der Vision, die du gehabt hast?“

„Nein“, sagte Salaman. „Was ich sah, das war eine gewaltige Herde von Zinnobären — und ein Riesenheer von Insektenleuten.“

„Und wieviele sind denn die da?“

„Zwanzig, vielleicht. Kaum mehr. Ein Spähtrupp, glaube ich, vor dem Hauptheer ausgeschickt. Lakkamai und Bruikkos sind per Zufall im Wald auf sie gestoßen, und sie kamen sofort auf die Stadt losgestürmt.“

„Wir werden sie töten, Mann um Mann“, sagte Harruel.

Und er sah auch bereits acht oder zehn der Insekten-Wesen tot auf der Erde liegen, vielleicht auch mehr.

Er sprang vorwärts und rammte seinen Speer in die Dreiergruppe der Hjjks, sprengte sie auseinander. Salaman nahm sich zur gleichen Zeit den Linksäußeren vor, streckte ihn zu Boden mit kräftigen Stößen seiner Waffe. Harruel drehte sich um und trieb seinen Speer in den schwarzgelben Schildpanzer des Geschöpfes, das da unten lag, und er fühlte dabei befriedigt, wie es knackte.

Ehe er jedoch seine Waffe zurückziehen konnte, rannte der zweite Hjjk auf ihn zu und zeichnete eine feurige Linie über den Arm, und zwar mit seinem Schnabel, wie Harruel sah, nicht mit seiner Klinge. Harruel zuckte zusammen und knurrte. Er hob sein Bein und versetzte dem Hjjk einen furchtbaren Stoß, der ihm den Kiefer zertrümmerte. Nittin tauchte von irgendwoher auf und zerschnitt ihm die Atemschläuche. Tot sank der Hjjk in sich zusammen.

Zwischen Speerstößen keuchte Salaman: „Wir schaffen es! Es können nicht mehr als sechs, sieben von denen übrig sein. Sie sind gemein, aber sie haben wirklich keine Ahnung, wie man kämpft, was?“

„Sie kämpfen immer nur in Schwärmen“, sagte Nittin. „Zehn von ihnen auf einen von den Gegnern, so mögen die’s, wie Hresh mir gesagt hat. Aber diesmal haben sie nicht genug Männer geschickt. Hinter dir, Harruel!“

Harruel wuchtete sich herum und sah zwei Hjjks ihn gleichzeitig angehen. Er mähte beide mit einem weiten Schwung seines Speers zu Boden, dann trieb er das Stumpfende der Waffe in eine schmale freiliegende, empfindliche Halsgrube. Salaman tötete den zweiten Angreifer.

Harruel grinste. Nun konnte er das Ende des Kampfes bereits absehen, und er begann sich bereits auf den Wein zu freuen, der seiner beim Siegesfest harrte.

Lakkamai hetzte einen panisch fliehenden Hjjk den Pfad zum Kraterrand hinauf. Konya und Galihine hatten einen weiteren Feind in der Ecke bei Nittins Haus in der Zange. Ein dritter war in diesen Höllengraben von Salaman gestürzt, und zwei der Frauen vom Stamm droschen auf seine Klauen ein, als er versuchte herauszuklettern.

Harruel stützte sich müde auf seinen Speer. Alles ist vorbei, erkannte er mit einem freudigen Gefühl.

Doch war dieser freudige Aufschwung nur von kurzer Dauer. Erschöpfung und Schmerz überwältigten ihn. In seiner Brust war ein schreckliches Gehämmer, und die Wunde an seinem Arm zuckte und blutete stark. Der Wein, der ihn im Kampfestaumel getragen hatte, hatte seine Kraft verloren, und Harruel war nun nichts weiter als mürrisch und müde.

Als er nun zur Stadt zurückblickte, sah er, daß das Feuer im Palast wütete. Die Tiere waren alle entwichen. Er vermochte nicht zu sagen, wessen Kind dort tot lag, doch nun sah er, daß auch eine der Frauen tot oder doch schwer verwundet war. Also war der Sieg doch nicht so überwältigend, wie es den Anschein gehabt hatte.

Trübnis überwältigte ihn.

Dies ist die Strafe der Götter, die über mich gekommen ist, dachte er.

Für alle meine Missetaten. Für die Notzucht an Kreun. Und für alle meine übrigen Grausamkeiten und Rasereien, und für jeden niedrigen unwürdigen Gedanken, und für meine überhebliche Anmaßung. Dafür, daß ich die Hand _ wider Minbain erhob. Und dafür, daß ich mir den Kopf mit einem Übermaß des Weins verneble. Die Hjjk sind gekommen, um diese Stadt zu vernichten, die ich errichtet habe und die mein Denkmal werden sollte. Wir haben zwar diese wenigen getötet, aber was ist mit dem riesigen Heer, das Salaman in seiner Vision geschaut hat? Wie wollen wir diese Massen abwehren? Wie sollen wir gegen diese ungeheuerlichen Zinnobären kämpfen, wenn sie durch unsere Straßen gedonnert kommen? Wie sollen wir denn überhaupt überleben, wenn das Hauptheer anrückt?

Wieder war die Nacht warm, und die Luft hing schwer und erstickend. Es war nunmehr beständig warm. Blasse Erinnerung war nur noch die Zeit der rauhen Kälte direkt nach dem Ende des Langen Winters. Doch trotz der klebrigen Wärme des Abends fühlte Koshmar ein Frösteln aus ihren Knochen heraufsteigen und sich nach außen ausbreiten über ihren ganzen Leib und in Schaudern zwischen ihrem Pelz und ihrer Haut dahinlaufen. Dieses Frösteln wich in jüngster Zeit nie mehr von ihr.

Ruhelos durchstreifte sie die Siedlung. Sie schlief beinahe nicht mehr, sondern wanderte weit in die Nacht hinaus, trieb mit verwirrtem Kopf von einem Haus zum anderen. Manchmal stellte sie sich vor, sie sei ihr eigenes Gespenst und schwebe gewichtslos, schwerelos, unsichtbar und stumm dahin. Doch der Schmerz blieb ihr stets getreulich nahe und mahnte sie an die Bürden ihres Fleisches.

Sie hatte zu keinem ein weiteres Wort über einen Auszug aus Vengiboneeza gesagt. Es war ja auch nur eine List gewesen, um Torlyri die Wahrheit zu entlocken, ob sie denn mitgehen oder bleiben würde; und da Koshmar nun diese Wahrheit erfahren hatte — denn sie war sicher, daß Torlyri ihren Behelmten niemals aufgeben würde —, brachte sie es nicht über sich, den Befehl zum Auszug zu erteilen. Hresh hatte das Thema ihr gegenüber nicht wieder angeschnitten, auch Torlyri nicht. Der Plan ruhte in nebliger Schwebe. Macht mein Kranksein mich so unfähig schwach, die Organisation unseres Auszugs anzugehen? fragte sie sich. Oder liegt es einzig daran, daß ich weiß, er bedeutet das Ende für meine Liebe zu Torlyri, und ich bringe das nicht über mich?

Sie vermochte nicht zu sagen, was von beidem zutraf. Ihre persönliche kummervolle Depression war hoffnungslos verstrickt in ihre öffentlichen Pflichten. Sie war so müde, müde, müde, so zutiefst beunruhigt, so tief verwirrt. Sie konnte nichts weiter tun, als abwarten und hoffen, die Zeit werde alles so oder so wenden. Vielleicht wich diese Krankheit von ihr, und ihre Kraft würde wiederkehren. Oder Torlyri mochte ihrer betörten Liebe zu diesem Beng überdrüssig werden. Die Zeit ist meine einzige Verbündete.

Plötzlich stach ihr Helle ins Auge. Ein vereinzelter Lichtstrahl drang aus einem der unbenutzten Gebäude am gegenüberliegenden Ende des Platzes am Südrand der Siedlung. Dann war auf einmal wieder alles dunkel, als sei hastig eine Blende geschlossen worden. Koshmar runzelte die Stirn. Dort drüben hatte keiner etwas zu suchen, schon gar nicht zu dieser nächtlichen Stunde. Das ganze Volk lag im Schlaf, außer Barnak, der Wachdienst hatte, und ihn hatte Koshmar gerade vor einer kurzen Weile den Nordrand der Siedlung kontrollieren sehen.

Sie machte sich auf, um die Sache zu untersuchen; vielleicht hatte sich ein Trupp von Bengspionen eingeschlichen und verbarg sich hier mitten im Gebiet des Volkes. Was waren diese Beng doch für ärgerliche Störenfriede! Sie hatte ihnen nie vertraut, trotz all ihres Lächelns und all ihrer Feste. Sie hatten ihr Torlyri gestohlen. Bald würde ihnen auch Vengiboneeza gehören. Dawinno lasse ihnen die Hoden verdorren!

Das Gebäude war einstöckig und hatte fünf Seiten und war aus leicht rosigem Stein, der so glatt war wie Metall, oder vielleicht handelte es sich um ein Metall mit der Textur von glattem Stein. In jede der fünf Fronten war ein dreieckiges Fenster geschnitten, das von musselinfeinen Gazeplanen verdeckt war, die jedoch fest wie Holz waren. Koshmar drückte sacht gegen eine von ihnen. Sie gab nicht nach. Sie trat an ein anderes Fenster und drückte kräftiger. Die Markise gab nur einen kleinen Spalt breit nach, aber genug, einen gelben Lichtstrahl durchzulassen. Sie hielt den Atem an und öffnete die Blende etwas weiter, dann beugte sie sich vor und spähte hinein.

Sie blickte in einen vertieften Raum, dessen Boden unterhalb des Niveaus des Platzes lag. Das blakende Licht von Talglampen stellte die einzige Beleuchtung dar. In der Raummitte stand eine aus weiß em Stein gehauene Statue, eine hohe langgliedrige, kantige, schlanke Gestalt mit einem hohen Kuppelschädel, jedoch ganz ohne Sensororgan: allem Anschein nach war es ein Abbild von Ryyig, dem Träumeträumer. Um die Statue waren belaubte Baumzweige angeordnet, aufgehäufte Früchte, einige kleine Tiere in Flechtkörben. Neben diesen Opfergaben kauerten mit gesenkten Köpfen fünf Angehörige des Volkes und flüsterten leise vor sich hin. In dem trüben Licht konnte Koshmar Haniman erkennen, Kreun, Cheysz und Delim. Und die dort, mit dem Rücken zum Fenster, war das Preyne? Nein, Jalmud war es, ja Jalmud.

Mit wachsender Bestürzung betrachtete Koshmar die Szene, und bald überkamen sie Schock und Abscheu. Sie vermochte nicht zu hören, was dort drin gesagt wurde, die Stimmen waren zu leise, doch schienen sie irgendwelche Gebete zu murmeln. Ab und zu schob einer der Kauernden ein Zweigbündel oder Früchte näher auf die Statue des Träumeträumers zu. Cheysz hatte den Kopf fest auf den nackten Boden des Gemachs gepreßt; auch Kreun kauerte tiefgebückt, während Haniman in einer schaukelnden Bewegung vor und zurückwippte, die einen beinahe hypnotischen Rhythmus besaß. Er schien der Anführer zu sein, der Vorbeter: er sprach, und die anderen wiederholten seine Worte.

Als sie sich endlich loszureißen vermochte, rannte Koshmar zum Tempel zurück. Mit wild pochendem Herzen stürzte sie zu Hreshs Gemach und hämmerte gegen seine Tür.

„Hresh! Hresh! Wach auf! Ich bin’s, Koshmar!“

Er spähte durch den Türspalt. „Ich arbeite über den Chroniken.“

„Die können warten. Komm sofort mit mir! Da ist etwas, das du unbedingt sehen mußt.“

Gemeinsam eilten sie über den Platz. Barnak, dem schließlich Koshmars hastiges Gerenne doch aufgefallen war, tauchte von irgendwoher auf und unternahm halbherzig Nachforschungen, doch sie wies ihn mit einer heftigen Handbewegung zurück. Je weniger aus dem Volk diese Sache zu Gesicht bekamen, desto besser. Dann führte sie Hresh an den fünfseitigen Bau, bedeutete ihm, er solle schweigen, und zog ihn an das Fenster, dessen Sichtschirm sie spaltbreit geöffnet hatte. Er spähte angestrengt hinein; nach einem Augenblick packte er in plötzlicher Erregung den Sims, zog sich höher und schob den Kopf fast durch das Fenster hinein. Als er wenig später wieder zurücktrat, waren seine Augen vor Erstaunen weit aufgerissen und sein Atem ging heftig und stoßweise.

„Nun? Was glaubst du, was die da drin treiben?“

„Mir scheint, es handelt sich um eine Art religiöses Ritual.“

Koshmar nickte kräftig zustimmend. „Genau! Ganz richtig! Aber welchen Gott verehren die da drinnen?“

„Gar keinen Gott“, sagte Hresh. „Die Statue da ist das Abbild eines Menschen — eines Träumeträumers.“

„Eines Träumeträumers, genau. Sie erweisen einem Träumeträumer göttliche Ehren, Hresh! Was soll das denn? Was für eine neue Religion ist da erwachsen?“

Wie in Trance sprach Hresh: „Sie halten die Menschlichen für Götter — sie beten zu den Menschen.“

„Den Träumeträumern. Wir sind die Menschen, Hresh.“

Hresh zuckte die Achseln. „Wie du willst. Aber ich glaube, diese fünf da drin denken etwas anders darüber.“

„Ja“, sagte Koshmar. „Sie sind bereit, sich in Affen zu verwandeln, genau wie es bei dir der Fall zu sein scheint. Und sie wollen niederknien und dieses uralte Stück Stein anbeten.“ Plötzlich tat Koshmar ein paar Schritte beiseite, setzte sich nieder und ließ verzweifelt den Kopf auf die gekreuzten Arme sinken. „Ach, Hresh, Hresh, wie unrecht tat ich, nicht auf dich zu hören! Wir verlieren unsere Menschenhaftigkeit hier in Vengiboneeza. Wir verlieren uns selbst, Hresh. Wir verkommen zu Tieren. Ich zweifle nun nicht mehr daran, daß du recht hattest. Wir müssen diesen Ort sofort verlassen.“

„Koshmar.“

„Sofort! Ich werde es am Morgen verkünden. Wir packen zusammen und ziehen fort, in zwei Wochen, oder auch weniger. Ehe sich dieses Gift noch weiter unter uns ausbreiten kann.“ Unsicher erhob sie sich. Und mit so fester Stimme, wie es ihr möglich war, setzte sie hinzu: „Und schweige über das, was du gesehen hast, allen gegenüber!“

Es war das, was Hresh sich gewünscht hatte, und seine Seele hätte eigentlich in überschwenglicher Freude über Koshmars Entschluß jauchzen müssen. Denn jetzt lag ja die erwachende Welt mitsamt all ihres Glanzes und ihrer Wunder vor ihm offen da, und es drängte ihn, auszuziehen und ihre unerschöpflichen Geheimnisse zu enträtseln.

Zugleich jedoch lastete ein Gefühl wie von einem herben Verlust auf ihm und tiefe Traurigkeit. Seine Arbeit in Vengiboneeza war noch nicht beendet. Koshmars Entscheidung schnitt wie ein Messer durch ihn hindurch und drohte ihn von allem n der Stadt zu trennen, das es noch auszugraben und zu retten gab. Und alle Überreste aus der Großen Welt, das wußte er, die sie zurückließen, würden schließlich den Beng in die Hände fallen.

Die Siedlung brodelte von heftiger Geschäftigkeit. Das Vieh mußte zusammengetrieben und marschbereit gemacht werden; Feldfrüchte waren abzuernten; aller Besitz, die bewegliche Habe des Stammes mußte verpackt werden. Es gab kaum genug Zeit, sich ein wenig auszuruhen, nun da das Aufbruchsdatum nur wenige Tage entfernt lag. Hin und wieder stellten sich einige Beng in der Siedlung ein und betrachteten verwirrt, was sich da ereignete. Koshmar eilte von einer Aufgabe zur nächsten, und sie wirkte dermaßen abgehetzt und ausgelaugt, daß man allgemein über ihren Zustand tuschelte. Torlyri bekam man derzeit nur selten zu Gesicht, und wenn jemand Trost und Linderung nötig hatte, wandte er sich an Boldirinthe, die sich an Torlyris Stelle dazu bereitgefunden hatte. Und wenn Torlyri wirklich einmal auftauchte, sah auch sie ungewohnt düster und verkrampft aus.

Hresh hörte, wie einige im Stamm wetteten, daß der Auszug einfach nicht bis zu dem von Koshmar gesetzten Zeitpunkt zu bewerkstelligen sein werde, daß er um eine Woche, einen Mond, drei Monde verschoben werden würde. Die hektische Arbeit jedoch ging weiter, und es wurde kein Aufschub verkündet.

Hresh sagte zu Taniane: „Das ist unsere letzte Chance. Wir müssen die Sucher zusammentrommeln und soviel Schätze aufraffen, wie wir finden und mitnehmen können.“

„Aber Koshmar will doch, daß wir alles liegenlassen und uns nur auf den Abmarsch vorbereiten.“

„Koshmar begreift das nicht.“ Hresh blickte finster drein. „Ich glaube, sie lebt immer noch so halb in der Vergangenheit, im Kokon.“

Obschon ihr nicht recht behaglich war bei der Vorstellung, sich dem Befehl Koshmars zu widersetzen, gab Taniane schließlich dem Drängen Hreshs nach. Doch erwies es sich als schwierig, das alte Sucher-Team zusammenzubekommen. Konya war mit Harruel davongezogen; Shatalgit und Praheurt hatten bereits ein Kleinkind auf dem Hals und erwarteten in Kürze ein weiteres, also konnten sie die Extrazeit für die Suche nicht aufbringen; die überängstliche Sinistine berief sich auf Koshmars Anordnung, alle laufenden Projekte einzustellen und sich auf den Aufbruch zu konzentrieren, und davon ließ sie sich nicht abbringen.

Es blieben also nur Orbin und Haniman übrig. Haniman eröffnete ihnen brüsk, er sei an gemeinsamen Unternehmungen mit ihnen nicht interessiert, und wollte sich auch keinerlei weitere Argumente anhören. Orbin folgte dem Beispiel Sinistines und erklärte, er werde Koshmars Edikt gehorchen.

„Aber wir brauchen dich“, sagte Hresh. „Es gibt Stellen, wo die Wände eingestürzt sind, wo schwere Balken uns den Weg versperren. An solch schwer zugänglichen Stellen könnten die besten Funde liegen. Deine Kraft wäre uns so nützlich dabei, Orbin.“

Orbin sagte achselzuckend: „Die Siedlung muß abgebrochen werden. Dabei ist meine Kraft ebenfalls nützlich. Und Koshmar sagt.“

„Ja. Ich weiß, was sie sagt. Aber das da ist wichtiger.“

„Für dich.“

„Ich flehe dich an, Orbin. Wir waren doch einst Freunde.“ „Waren wir das?“ fragte Orbin teilnahmslos.

Der Hieb war tief und schmerzte. Spielkameraden in der Kindheit, gewiß, das waren sie gewesen; doch war dies Jahre her, und was hatte ihm Orbin schon bedeutet — oder er Orbin —, seit jenen Tagen? Jetzt waren sie einander fremd. Hresh war der gewitzte Weise, der Alte Mann des Stammes, Orbin nichts weiter als ein schlichter Krieger, brauchbar möglicherweise wegen seiner Muskeln, aber sonst ein Nichts. Hresh gab weitere Versuche auf. Er würde mit Taniane die abschließenden Erkundungen eben allein durchführen müssen.

Und wieder schlichen sie sich unter dem Schutze der Dunkelheit davon. Und wieder zog es Hresh zu der Stelle, an der er die Reparateure, die Künstlichen, bei der Arbeit beobachtet hatte; und diesmal trug er den Barak Dayir bei sich.

„Dort schau mal!“ rief Taniane. „Ein Beng auf der Mauer!“

„Ja, ich hab ihn gesehen.“

„Vielleicht dringen wir hier unerlaubt ein?“

„Unerlaubt?“ erwiderte er hitzig. „Wer war zuerst hier in Vengiboneeza, wir oder die Beng?“

„Aber wir sind früher immer umgekehrt, wenn wir auf Beng-Zeichen gestoßen sind.“

„Diesmal eben nicht“, sagte Hresh.

Sie gingen weiter. Die große Trümmerpyramide aus zerborstenen Säulen kam in Sicht. Von der Fassade des zertrümmerten Tempels gegenüber baumelten Beng-Fähnchen. Zwei der künstlichen Reparateure zogen vorbei, schenkten Hresh und Taniane jedoch keine Aufmerksamkeit, sondern widmeten sich gänzlich ihrer ernsten Aufgabe, in dem Schutt herumzustochern und schwankende Wände abzustützen.

„Dort drüben“, sagte Taniane leise.

Er warf einen Blick nach links. Auf einem weißen Steingebäude zeichneten sich im Mondlicht die schrecklichen Schatten zweier Benghelme ab wie scheußliche Schmutzflecken. Die zwei bulligen Bengkrieger waren von ihrem gemeinsamen Reittier, einem Zinnobären, gestiegen, standen nun neben diesem und sprachen ruhig miteinander.

„Sie sehen uns nicht“, sagte Taniane.

„Ich weiß.“

„Können wir uns irgendwie an ihnen vorbeischleichen?“

Hresh schüttelte den Kopf. „Wir lassen uns sehen.“

„Was?“

„Wir müssen.“ Er zog den Wunderstein heraus und hielt ihn ein Weilchen in der Handfläche. Taniane starrte ihn in einer Mischung von Furcht und Faszination an, wie auf ihrem Gesicht abzulesen war. Plötzlich verspürte auch Hresh selbst Furcht: nicht vor dem Anblick des Barak Dayir, sondern wegen des riskanten komplizierten Gebrauchs, den er von ihm zu machen gedachte.

Er senkte die Hand und ergriff mit seinem Sensororgan den Talisman. Die Musik des Wundersteins begann in seiner Seele zu erklingen. Sie besänftigte ihn und seine Befürchtungen ein wenig. Er winkte Taniane, sie solle ihm folgen, und trat ins Freie und schritt direkt auf die beiden Beng zu, die ihm überrascht und mißbilligend entgegenblickten.

Und jetzt — die Kontrolle über sie erlangen, ohne ihnen Schaden zuzufügen, ganz besonders, sie nicht zu töten.

Leicht berührte Hresh ihre Seelen mit der seinen. Er fühlte, wie die zwei Beng zurückzuckten, fühlte sie zornig gegen ihn ankämpfen, um sich zu befreien von der Besitzergreifung durch Hresh. Zitternd hielt Hresh den Kontakt aufrecht, ließ ihn nicht abreißen. Er konnte nicht jenen ersten Behelmten von vor so langer Zeit vergessen, der lieber gestorben war, als daß er einen andern so in sich eindringen lassen wollte. Vielleicht war mein Zugriff damals zu grob, dachte Hresh. Ich darf diese beiden nicht umbringen. Vor allem darf ich sie auf keinen Fall töten. Aber der Barak Dayir lenkt mich ja jetzt.

Die Beng wanden sich und wehrten sich, und dann gaben sie nach und wurden schlaff und standen da und glotzten ihn an wie dumme Dschungeltiere. Hresh stieß endlich den lang gestauten Atem aus. Es funktionierte! Er hatte die zwei gefangen!

„Ich bin gekommen, um diesen Ort zu erforschen“, beschied er sie.

Die Augen der Beng blitzten vor Anspannung. Aber sie konnten sich seinem Zugriff nicht entwinden. Erst nickte ihm der eine zu, dann auch der zweite.

„Ihr werdet mir jegliche Hilfe leisten, die ich von euch verlange“, sagte Hresh. „Ist das klar?“

„Ja.“ Eine rauhe, zornige, widerwillig geflüsterte Zusage.

Ein Strom der Erleichterung sprudelte durch Hresh. Er hielt sie fest wie in einem Zuggeschirr. Aber es würde ihnen kein Harm geschehen.

Taniane schaute ihn voll Staunen an. Er hob lächelnd einen Finger an die Lippen.

Dann blickte er zu einem der Künstlichen, der in der Nähe Reparaturen ausführte und rief ihn zu sich. Sein kleines mechanisches Hirn reagierte sofort und ohne Zögern, er drehte sich um seine Achse und eilte dann rasch auf den roten steinernen Türeingang im Straßenpflaster zu, den Hrehs seinerzeit gesehen hatte. Einer der Metallarme wickelte sich ab und berührte die Tür, die sogleich auf ihren Gleitschienen beiseiteglitt.

„Komm!“ sagte Hresh zu Taniane.

Sie stiegen in die hellerleuchtete unterirdische Kammer hinab, die offen vor ihm dalag. Eine Unmenge komplizierter feiner schwieriger Maschinen stand perfekt gewartet schimmernd vor ihnen. Ein Dutzend oder mehr der Reparaturknirpse hasteten durch die Reihen der Apparate, um anscheinend kleinere Wartungsarbeiten durchzuführen; und am anderen Ende des gewaltig großen Saales sah Hresh einen dieser Reparateure an einem seinesgleichen arbeiten, der völlig still dastand. Auf diese Weise also hatten diese Dinger so viele tausend Jahre überdauert! Der eine Künstliche repariert den anderen, dachte Hresh. Da können die ja ewig halten!

Dem Apparat, der ihm den Zugang geöffnet hatte, befahl Hresh: „Erkläre mir die Funktionen dieser Geräte!“

Anstelle einer Antwort öffnete der Apparat eine Nische in der Wand, zog einen goldbronzenen Ball hervor, klein genug, daß Hresh ihn in der Hand halten konnte. Die metallene Außenhaut war durchscheinend, und Hresh konnte darunter eine kleinere Kugel aus blitzendem unvergänglichem Quecksilber sich drehen sehen. Es gab keinen Steuerknopf noch sonst irgendein sichtbares Bedienungsinstrument. Doch als er sie mit seinem durch den Barak Dayir verstärkten Bewußtsein berührte, öffnete sich die Seele der kleinen Kugel für ihn, als klappte sie an Scharnieren auf, und er tauchte in verwirrende neue Wissensgebiete ein.

„Hresh?“ fragte Taniane. „Hresh, alles in Ordnung?“

Er nickte. Er fühlte sich benommen, verblüfft und ehrfurchtsvoll. In einem betrunken machenden Datenschwall informierte ihn die Kugel blitzschnell über die Verwendungszwecke der Dinge, die er vor sich sah. Dieses Gerät da: das war ein Mauerbauer. Das andere: es pflasterte Straßen. Dieses maß die Tiefe und Stabilität von Fundamenten. Dieses errichtete Säulen. Das andere zerschnitt Stein und Fels. Dieses schaffte Schutt weg. Und dies. und das. und dies.

Er hatte Apparate wie diese vor langer Zeit bereits einmal gesehen, als er zum erstenmal zur Erforschung der Ruinen aufgebrochen war. Er erinnerte sich nun, wie sie damals Amok gelaufen waren, als er versucht hatte, sie in Gang zu setzen, wie sie ganz irre Wände errichtet und Brücken gebaut und Gruben ausgehoben und Gebäude eingerissen hatten, als handelten sie einzig nach eigener Lust und Laune. Er hatte damals diese Maschinen verstecken müssen, denn sie waren schlimmer als nutzlos: sie waren gefährlich, sie waren zerstörerisch, sie waren unkontrollierbar.

Dieser kleine Goldball mit dem Quecksilberkern da in seiner Hand, erkannte Hresh, das mußte das Hauptkontrollgerät sein, dem alle übrigen zu gehorchen hatten. Mit seiner und der Hilfe dieser Maschinen würde er ein ganzes Vengiboneeza erbauen können! Ein zielstrebiges Gehirn, gesammelt im Brennpunkt dieser Kugel, konnte die Heerscharen der Städtebaumaschinen auf jede nötige Aufgabe lenken. Keine Brücken mehr aus dem Nichts ins Nichts, keine Mauern mehr, die verrückt mitten durch breite Boulevards wuchsen. nur noch ordentliche Konstruktionen gemäß seinem Plan, wie immer er ihn gestalten wollte. Er würde der Baumeister sein, diese Kugel sein Polier und die anderen Maschinen die Bauarbeiter.

„Was hast du da, Hresh? Was soll das Ganze?“

„Wunder und Wunderdinge“, sagte er mit gedämpfter Stimme. „Wunder und Wunderdinge.“

Er deutete auf die beiden Beng, die durch den Eingang wie betäubt hereinglotzten. Zwar kämpften sie noch immer gegen seine Kontrolle an, vermochten sie aber nicht zu brechen.

„Ihr da!“ rief er. „Hier herein! Tragt all das da hinaus und ladet es auf euren Zinnobären!“

Sie gingen ein dutzendmal her und hin, ehe alles, was Hresh als wichtig erschien in die Siedlung des Volkes geschafft war. Kurz vor dem Morgengrauen ließ er die Behelmten mit seinem wärmsten Dankeschön ihrer Wege ziehen — nachdem er alles aus ihrem Bewußtsein getilgt hatte, was sie in dieser Nacht getan hatten.

Im Tempel verpackte Torlyri bei flackerndem Kerzenschein mit wildem Eifer sämtliche heiligen Gegenstände für die Reise, die sie vor sich hatten. Ab und zu hielt sie inne und lehnte sich gegen die kühle Steinwand und holte tief seufzend Luft. Manchmal begann sie auch unkontrollierbar zu zittern. Es waren nur noch wenige Tage bis zum Aufbruch aus Vengiboneeza.

Hresh würde sich um die Chroniken und alles, was dazugehörte, kümmern. Das übrige, all das, was der Stamm im Verlauf seiner vieltausendjährigen Existenz in Abgeschlossenheit des Kokons angesammelt hatte, fiel in ihre Kompetenz und Verantwortung. Kleine geschnitzte Amulette, und Schüsseln und Statuetten, diesem oder jenem Gott heilig, und Stäbe, die bei der Heilung von Krankheiten Anwendung fanden, und helle polierte Steinchen, deren Herkunft und Zweck in Vergessenheit geraten waren, die jedoch von einer Opferfrau zur nächsten als geschätzte Talismane weitergereicht wurden.

Während der vergangenen zwei Nächte hatte Boldirinthe ihr packen geholfen. Doch tags zuvor hatte sie sich bei der Arbeit plötzlich zu Torlyri gewandt und gefragt: „Weinst du, Torlyri?“

„Weine ich?“

„Ich sehe die Tränen auf deinen Wangen.“

„Das ist nur Müdigkeit, Boldirinthe. Weiter nichts als Übermüdung.“

„Es macht dich traurig, was, wenn du daran denkst, daß wir von hier fortgehen? Wir waren glücklich in Vengiboneeza, nicht wahr?“

„Die Götter fügen unsere Geschicke. Die Götter geben.“

„Wenn ich dir irgendwie Trost bieten kann.“

„Der Trösterin Trost spenden? Nein, Boldirinthe. Bitte.“ Torlyri lachte. „Du mißverstehst, was du hier siehst. In mir ist keine Traurigkeit. Ich bin nur sehr müde, weiter nichts.“

An diesem Abend arbeitete sie allein. Sie spürte die Tränen schwer an die Lider herandrängen, und sie wußte, beim kleinsten Reiz würden sie fließen; und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, Gegenstand des Mitleids für Boldirinthe oder sonst jemanden zu werden. Nein, wenn sie zusammenbrechen sollte, dann mußte sie dabei allein sein.

Mit bebenden Fingern wickelte sie die geheiligten Dinge in Fellstücke oder legte sie in gewebte Behältnisse und verstaute sie in die Körbe, die der Stamm mit auf die Reise nehmen sollte. Hin und wieder küßte sie einen Gegenstand, ehe sie ihn wegtat. Es waren die Dinge, die ihr Handwerkszeug während ihres ganzen Lebens gewesen waren, durch die sie die fortgesetzte Güte und das dauernde Wohlwollen der Götter sichergestellt hatte. Es waren nichts weiter als kleine Stücke aus Stein oder Knochen oder Holz oder Metall, doch es wohnte göttliche Kraft in ihnen und Macht. Und mehr noch, sie hatte sie mit ihrer Liebe überhäuft. Sie waren ihr so vertraut wie ihre eigenen Hände. Und jetzt verschwanden sie eines nach dem anderen in ihren Körben.

Je mehr sich die Borde leerten, desto heftiger spürte Torlyri, wie das Schicksal direkt auf sie zugeeilt kam. Ihre Zeit wurde sehr knapp.

Sie vernahm Schritte vor dem Allerheiligsten. Stirnrunzelnd blickte sie auf.

„Torlyri?“

Boldirinthes Stimme. Sie ist also trotzdem gekommen, dachte Torlyri verärgert. Sie ging zur Tür, steckte den Kopf hindurch und sagte: „Ich habe dir doch erklärt, daß ich heute nacht allein arbeiten muß. Einige dieser Talismane dürfen nur meine Augen sehen, Boldirinthe.“

„Das weiß ich“, sagte Boldirinthe sanft. „Es ist auch nicht mein Wunsch, dich in deiner Arbeit zu stören, Torlyri. Doch bringe ich dir eine Nachricht, und ich dachte mir, du würdest sie gern hören.“

„Von wem?“

„Von deinem Behelmten. Er ist hier und wünscht mit dir zu sprechen.“

„Hier?“

„Direkt vor dem Tempel. Im Schatten.“

„Kein Beng darf dieses Haus betreten“, sagte Torlyri, die ganz aufgeregt wurde. „Sag ihm, er soll warten. Ich werde zu ihm hinauskommen. Nein. Nein. Ich will nicht, daß uns heute nacht jemand zusammen sieht.“ Sie rang die Hände und befeuchtete sich die Lippen. „Du kennst das Lagerhaus, ist hinter dem Bau hier, dort wo Hresh die Sachen untergebracht hat, die er in der Stadt ausgegraben hat? Geh und sieh zu, ob sich dort jetzt jemand aufhält, und wenn es leer ist, dann führe ihn dorthin. Dann kehre zu mir zurück und sage es mir.“

Boldirinthe nickte und verschwand.

Torlyri versuchte wieder an die Arbeit zu gehen, doch es war hoffnungslos, sie warf Dinge um, ließ sie beinahe fallen, sie konnte sich nicht mehr an die Bannsegen erinnern, die sie zu sprechen hatte, wenn sie das Gerät von seiner Stelle hob. Nach ein paar Minuten gab sie es ganz auf. Sie kniete an ihrem kleinen Altar, die Ellbogen auf der Kante, den Kopf gesenkt, und sie betete um Seelenruhe.

„Er wartet dort auf dich“, sagte Boldirinthe leise hinter ihr.

Torlyri verschloß den Schrein mit den Heiligtümern und löschte die Kerze. Im Finstern hielt sie kurz inne, umarmte Boldirinthe zärtlich, gab ihr einen flüchtigen Kuß und flüsterte ihr Dank. Dann durchschritt sie den Gang und die Pforte, die auf den Tempelplatz führten, bog um das vieleckige Gebäude und ging auf Hreshs Lagerhaus zu.

Die Nacht war warm und mild, kein Lüftchen regte sich, hellgeränderte Streifenwolken überlagerten den Mond. Trotzdem fröstelte Torlyri. Sie spürte wie sich ihr Leib verkrampfte.

Trei Husathirn hielt ein einzelnes Glühbeerzweiglein in der Hand und lief in dem Schein wie ein Tier im Käfig in dem Lagerhaus auf und ab, als Torlyri eintrat. Er trug seinen Helm, und er erschien ihr größer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sie hatte ihn mehrere Tage lang nicht mehr getroffen; sie hatte einfach in der Siedlung zu viel Arbeit zu tun gehabt. Er stapfte umher, steckte hier und dort neugierig die Nase in die Sammlung von Gerätschaften und Apparaten, die Hresh und seine Sammler hier angehäuft hatten. Als er Torlyri kommen hörte, wirbelte er herum und warf wie zum Schutz die Arme hoch.

„Ich bin’s doch bloß“, sagte sie und lächelte.

Sie stürzten aufeinander zu. Seine Arme umfingen sie, und er preßte sie so fest an sich, daß er ihr fast die Luft aus den Lungen drückte. Sie fühlte seinen Körper beben und zucken. Nach einer Weile trennten sie sich. Sein Gesicht sah erschöpft und zugleich verkrampft aus.

„Was sind dies für Maschinen?“ fragte er.

Achselzuckend sagte Torlyri: „Das müßtest du schon den Hresh fragen. Er hat sie überall in der ganzen Stadt gefunden. Es sind Sachen aus der Großen Welt.“

„Und sie funktionieren?“

„Woher soll ich das wissen?“

„Und wenn ihr fortzieht, wird er sie mitnehmen?“

„So viele, wie er kann, wie ich unseren Hresh kenne.“ Plötzlich überlegte sie sich, ob es vielleicht ein Fehler war, Trei Husathirn hier hereingelassen zu haben. Vielleicht durfte er diese Dinge gar nicht sehen. Gewiß, er war ihr Gefährte und Geliebter, so etwas wie ihr ehelicher Genosse, aber trotzdem blieb er ein Beng, und diese Dinge hier waren Stammesgeheimnisse.

Auch seine harte, eifrige Stimme beunruhigte sie. Er wirkte beinahe furchtsam.

Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest.

„Weißt du, wie ich mich nach dir gesehnt habe?“ fragte sie.

„Du hättest zu mir kommen können!“

„Nein, nein. Das war unmöglich. Alles muß sorgfältig und richtig verpackt werden — Segen und Gebete müssen gesprochen werden —, eigentlich dauert das Wochen und Wochen. Ich sehe nicht, wie ich damit je rechtzeitig zu Ende kommen soll. Du hättest heute nacht nicht kommen sollen, Trei Husathirn.“

„Ich mußte aber mit dir sprechen.“

Das klang falsch. Er hätte sagen sollen: Ich habe dich sehen müssen, ich wollte dich sehen, ich habe es fern von dir nicht mehr ausgehalten. Aber er mußte mit ihr sprechen? Worüber?

Sie ließ seine Hand los und trat etwas zurück. Sie fühlte sich unsicher und unbehaglich.

„Was ist denn?“ fragte sie.

Er antwortete zunächst nicht. Dann sagte er: „Hat sich am Tag des Auszugs irgend etwas geändert?“

„Nichts.“

„Also sind es nur noch ganz wenige Tage.“

„Ja“, sagte Torlyri.

„Was sollen wir denn tun?“

Sie wollte die Augen abwenden, doch sie zwang sich, ihn weiter fest anzublicken. „Was willst du tun, Trei Husathirn?“

„Du weißt doch, was ich will. Mit dir gehen.“

„Aber wie sollte das möglich sein?“

„Ja“, sagte er. „Wie sollte mir das möglich sein? Was weiß ich denn schon von euren Bräuchen, euren Göttern, eurer Sprache, von irgendwas? Alles was ich von eurem Volk kenne und weiß, bist du. Ich würde mich nie einfügen können.“

„Mit der Zeit vielleicht doch“, sagte sie.

„Glaubst du wirklich?“

Und nun wandte sie wirklich den Blick ab.

„Nein.“ Sie brachte das kleine Wort kaum über die Lippen.

„Zu dem gleichen Schluß komme auch ich, nachdem ich mir das Problem tausendmal hin- und herüberlegt habe. In Koshmars Stamm ist kein Platz für mich. Immer würde ich der Außenseiter bleiben, der Fremde. Sogar der Feind.“

„Gewiß doch kein Feind.“

„Doch, für Koshmar und die anderen, glaube ich.“ Plötzlich zerquetschte er die Glühbeerendolde in der Hand und schleuderte sie zu Boden. In der Finsternis fürchtete sich Torlyri auf einmal vor ihm. Was hatte er vor? Wollte er sie beide wegen ihrer unmöglich gemachten Liebe töten? Doch er nahm nur ihre beiden Hände in die seinen und zog sie wieder an sich und hielt sie wieder fest umschlungen. Dann sprach er mit einer leeren Stimme, wie von weit her: „Auch müßte ich dann meine Helmbrüder verlassen, meinen Häuptling, meine Götter und ihnen treulos werden. Und ich müßte Nakhaba abschwören!“ Er zitterte. „Ich würde alles aufgeben und zurücklassen. Und ich wüßte nicht mehr, wer ich selber bin. Ich wäre verloren.“

Ihre Hand fuhr streichelnd über sein Ohr, seine Wange, die haarlose vernarbte Stelle an seiner Schulter. In einem flüchtigen Lichtschimmer sah sie sein Gesicht und die glitzernde Tränenspur darauf. Dieser Anblick, glaubte sie zunächst, werde auch ihre Tränenflut auslösen, doch nein, nein, sie hatte keine Tränen mehr.

„Was sollen wir tun?“ fragte er noch einmal.

Torlyri ergriff seine Hand und drückte sie auf ihre Brust. „Da. Komm, leg dich hier zu mir nieder! Auf dem blanken Boden. Inmitten all dieser widerwärtigen Maschinen. Das wollen wir tun. Komm, bette dich zu mir. Hier, Trei Husathirn. Hier, zu mir, zu mir.“

Der Morgen war da. Hresh schaute voll Liebe auf Taniane hinab, die in tiefem Erschöpfungsschlaf nach der anstrengenden nächtlichen Sammelaktion vor ihm lag. Leise trat er aus dem Zimmer ins Freie. Überall Stille. Es hing ein schwerer süßer Duft in der Luft, so als habe sich vor kurzem eine nachtblühende Blume entfaltet.

Es war eine Nacht voller Wunder gewesen. Die letzten Hindernisse für den Auszug aus Vengiboneeza waren gefallen. Seine kleine Kugel aus Goldbronze bot die Garantie dafür.

Jetzt aber hielt Hresh eine andere Kugel in der einen Hand: den Silberball, den sie ein paar Nächte zuvor gefunden hatten. Bislang hatte er noch nicht die Zeit gefunden, ihn eingehend zu untersuchen, doch nun in der dunstigen Dämmerung, nach einer Nacht ohne Schlaf, einer Nacht, in der an Schlafen nicht zu denken gewesen wäre, einer Nacht voller heroischer Bemühung, lastete ihm das ungelöste Geheimnis der kleinen Kugel schwer auf dem Herzen. Sie schien ihn geradezu herauszufordern. Er blickte sich um, aber es war niemand in der Nähe. Alle in der Siedlung schliefen noch. Hresh versteckte sich zwischen zwei gewaltigen Alabasterstatuen von Saphiräugigen, die ihre Schädel verloren hatten, und berührten den Knopf, der die Kugel aktivierte.

Einen Augenblick lang geschah gar nichts. Hatte er beim ersten Versuch die Kugel leergebrannt? Oder hatte er diesmal den Stift nicht stark genug gedrückt? Er schloß die Hand um das Ding und überlegte. Doch dann stieß sie wieder diesen hohen scharfen Ton aus wie vordem, und wieder pulsierten kühle grüne Lichtstrahlen aus dem Instrument.

Hastig drückte er ein Auge an das winzige Guckloch, und wieder ward ihm die Große Welt sichtbar.

Diesmal war da auch Musik, nicht nur Bilder. Aus dem Nirgendwo drang eine langsame schwere Melodie aus drei ineinander verwobenen Klangsträngen, einer von trübgrauer Tonalität, einer der seine Seele als tiefblau berührte, und ein dritter in einem grellen aggressiven Orange. Die Musik klang wie ein Klagegesang. Hresh begriff: es war die passende Musik für die Letzten Tage der Großen Welt.

Und er entdeckte, daß er durch das winzige Guckloch Zugang fand zu einem breiten wechselnden Panorama der Stadt.

Ganz Vengiboneeza lag vor ihm ausgebreitet, während es seine letzten Stunden erlebte. Und der Anblick war furchtbar.

Der Himmel über der Stadt ist schwarz, und schreckliche schwarze Winde fegen über das Firmament und bilden Turbulenzströme, Schwarz auf Schwarz. Eine Staubdecke erstickend in der Luft. Schwächliche Strahlen der Sonne tanzen da und dort herein und sinken zu Boden, anstatt aufzutreffen. Dünne Frostränder beginnen sich an den Pflanzenspitzen, dem Saum von Teichen und Tümpeln, den Fenstern und in der Luft selbst auszuformen.

Hresh weiß: Ein Todesstern ist vor kurzem niedergestürzt. Es war einer der ersten, vielleicht gar der allererste.

Mit einem Aufprall, der die ganze Welt erschütterte, ist der Todesstern irgendwo in der Nähe von Vengiboneeza herabgefallen — oder vielleicht auch gar nicht da, sondern möglicherweise genau auf der anderen Seite der Welt —, und eine gewaltige Schuttwolke hat sich aufgetürmt, höher als die höchsten Berge. Die Luft ist dicht geschwängert davon. Alle Wärme der Sonne wird ferngehalten. Das einzige Licht, das hereinsickert, hat einen dünnen fahlen Winterschimmer. Die Welt beginnt einzufrieren.

Und dies ist nur der Anfang. Nacheinander werden die Todessterne niederstürzen, alle fünfzig, alle fünfhundert Jahre, wer weiß schon, wie oft, und ein jeder von ihnen bringt neues Unheil in der langen, unendlich langen Zeit des Langen Winters, der hereinbricht.

Doch für die Große Welt wird der erste Einschlag der entscheidende, der tödliche sein. Die Saphiräugigen und die Vegetalischen und die Seeherren und die übrigen sind Bewohner einer Welt mit einem milden gemäßigten Klima, in das der Winter niemals kommt. Winter, das ist hier nur eine schwache Erinnerung aus unendlich ferner Vorzeit, nichts weiter als ein von den Ahnen ererbter Traum. Und nun kehrt der Winter wieder; und von den Sechs Völkern der Welt werden ihn nur die Hjjk und die Mechanischen ohne besondere Schutzmaßnahmen überstehen können, obschon die Mechanischen — und dies kann Hresh nicht verstehen, aus welchem Grund? — es bevorzugen zugrunde zu gehen.

Denn die Zeit der Großen Welt ist die Endzeit aller Zeiten.

Ein scharfer Wind weht. In der Luft tanzen ein paar verstreute weiße Flocken. Die frische Kälte hat bereits dazu geführt, daß wilde Tiere in Panik in den Schutz fliehen, den Vengiboneeza gewährt. Hresh sieht sie überall, Hufe und Gehörn und Greifarme und Fänge, eine Masse angstblitzender Augen, keuchender Mäuler, schweißbedeckter Kiefer.

Die scharfen Winde spielen eine machtvolle Trommel in den Lüften und schlagen einen feierlichen Takt, der den Tieren zwingend befiehlt, hier Zuflucht zu suchen. Unter der Wut des schrecklichen Sturmes rennen und rennen und rennen sie immer weiter und weiter. Sie drängen sich dicht in den Straßen der Stadt, sie stieben her und hin, als werde wilde Bewegung allein genügen, ihre Leiber warm genug für das Überleben zu halten. Die wundervollen weißen Villen Vengiboneezas sind umzingelt. Wo immer Hreshs Vision ihn schauen läßt, übersteigen tausenderlei Tiere Mauern, gleiten sie über Türschwellen, schlüpfen in Schlafgemächer und besteigen die Betten. Gewaltige schnaufende Herden massiger Vierfüßler trampeln in wilder Panik über die Boulevards. Das rauhe Brüllen und Kreischen der vierbeinigen Eindringlinge unterstreicht brutal die gelassen-heitere Musik, die aus der Silberkugel strömt.

Und doch, und doch, und dennoch.

Die Saphiräugigen.

Hresh sieht, wie sie unbeirrt durch den Wirrwarr des Wahnsinns gehen und ihre Geschäfte erledigen. Die riesenhaften Krokodilwesen bleiben ruhig, entsetzlich ruhig. Es ist, als sei weiter nichts Ernstliches im Gange als ein leichtes Sommergewitter, das losbricht.

Ringsherum die brodelnde Masse vor Furcht wahnsinnig gewordener wilder Tiere, stampfend, sich aufbäumend, springend. und ruhig, gelassen, ohne das geringste Anzeichen von Furcht oder Bestürzung verstauen die Saphiräugigen ihre Schätze, diktieren Anweisungen, wie sie zu behandeln sein sollen, vollziehen die regulären Opfer für ihre Götter, die in diesem Augenblick ihnen den Untergang bescheren.

Hresh sieht, wie sie sich zu gemütlichen Grüppchen versammeln, um Musik zu hören, um die Farbenspiele auf riesigen Kristallen in den Häuserwänden zu betrachten, oder um sich unerregten vernünftigen Diskussionen über abstruse Themen hinzugeben. Ihr normales Leben geht in allen Stücken unverändert weiter. Ein paar, aber nur wenige, treten an die Maschinen mit den Lichthauben und werden aufgesogen; doch vielleicht ist auch dies die Normalität und ist ohne Bezug zu der nahenden Katastrophe.

Und doch wissen sie, daß der Untergang gekommen ist. Sie müssen es wissen! Sie können es doch nicht nicht erkennen! Nein, es berührt sie ganz einfach nur nicht.

Die Kälte wächst. Der Sturm wird wilder. Der Himmel ist sternenlos, ohne Mond, von einer überwältigenden tiefen Schwärze. Ein kalter Regen hat zu fallen begonnen, und er verwandelt sich in Schnee und dann zu harten Eisstückchen, _ ehe er den Boden erreicht. Ein tödlicher glitzernder durchsichtiger Überzug bedeckt jeden Baum, jedes Haus. Die Welt hat sich das Flitterkleid des Todes übergestreift.

Die anderen Völker reagieren nun, jedes auf seine eigene Weise, auf die Verwüstung.

Die Hjjks verlassen die Stadt. Sie haben sich in einer endlosen Doppelreihe aufgestellt, gelb und schwarz, gelb und schwarz, und ziehen durch das Südliche Tor davon. Sie zeigen keine Eile, sind vollkommen diszipliniert, ihre Evakuierung verläuft auf monströse Art in vollkommener Ordnung.

Auch die Seeherren ziehen davon. Und auch sie zeigen keine Panik, während sie sich ans Ufer begeben und im Wasser davongleiten. Doch das Wasser beginnt zu gefrieren, während sie hineintauchen, und es kann keinen Zweifel geben, daß sie in den Tod gehen. Sie müssen dies doch wissen.

Auch die Mechanischen verlassen die Stadt, über die prächtige Avenue, die sich durch die Vorberge hinauf zu der Bergkette und über sie hinweg gen Osten windet. Die blitzenden kuppelschädligen Maschinen bewegen sich hastig und ruckhaft voran. Vielleicht streben sie dem Treffpunkt auf den fernen Ebenen zu, wo Hresh und sein Stamm auf sie stoßen werden: tot und vom Rost der Jahrtausende bedeckt. Einmal, an einem Tag in sehr, sehr ferner Zukunft.

Für die Vegetalischen gibt es keinen Exodus. Sie liegen bereits im Sterben. Sie brechen in sich zusammen, wo sie stehen; verbrannte Blütenkelche, schlanke Stengel und Gliedmaßen, alles wird schwarz, die zerknitterten Blütenblätter rollen sich in sich selber. Und wenn sie umsinken, erscheinen Mechanische, die die Stadt noch nicht verlassen haben, und fegen sie zusammen. Die Stadt wird gewartet werden bis zum letzten Augenblick.

Von den Sechs Völkern fehlen einzig die Menschlichen; man sieht keine Spur von ihnen. Hresh sucht die ganze Stadt ab nach den bleichen länglichen Geschöpfen mit den düsteren Augen und den hochgewölbten Schädeln, doch nein, nein, kein einziger ist zu entdecken. Anscheinend sind sie bereits fortgegangen: die ahnungsvollen Schlauköpfe, bereits unterwegs — wohin? In die Sicherheit? Zu einem stillen Sterben anderwärts, wie es die Seeherren und die Mechanischen tun werden? Hresh vermag es nicht zu sagen. Er ist verwirrt und benommen von seiner Vision vom Ende Vengiboneezas. Er ist wie gebannt von diesen schwarzen Winden, die durch den schwarzen Himmel fegen, hypnotisiert von der feierlichen Todesmusik, von der Auswanderung der Geschöpfe der Großen Welt aus der Stadt und dem Einzug der wilden Waldbewohner in sie. Und er ist wie gelähmt durch diese unbegreifliche Hinnahme und Gleichmut, welche die Saphiräugigen einhellig zeigen, während die Endzeit über sie hereinbricht.

Und er schaut, bis er nicht länger zusehen kann. Doch bis zum Schluß beweisen die Saphiräugigen ihrem eigenen Untergang gegenüber Gleichgültigkeit.

Schließlich drückt Hresh mit zitterndem Finger den Schaltstift, und die Vision bricht ab, die Musik erstirbt. Und er sinkt, überwältigt und betäubt, auf die Knie nieder.

Er wußte, daß er gar nichts von dem begriff, was er soeben gesehen hatte.

Wie nie zuvor mahlte und brodelte es in seiner Seele von Fragen, und er hatte keine Antworten. Nicht eine einzige Antwort. Nichts. Gar nichts.

Als Koshmar sich am Morgen von ihrem Lager zu erheben versuchte, preßte sich ihr eine unsichtbare gewaltige Faust zwischen die Brüste und schleuderte sie wieder rücklings nieder. Sie war allein. Torlyri war die Nacht zuvor wieder in den Tempel gegangen, um mit dem Verpacken der Heiligtümer fortzufahren, und sie war gar nicht zurückgekommen. Ist sicher zu ihrem Beng abgehauen, dachte Koshmar. Eine Weile lag sie still da, keuchend, zuckend, rieb sich das Brustbein, unternahm aber nicht den Versuch, sich erneut zu erheben. Irgendein Feuer brannte in ihrer Brust. Mein Herz steht in Flammen, dachte sie. Oder es könnten auch die Lungen sein. Ich werde von innen her von einem Feuer verzehrt.

Vorsichtig mühte sie sich erneut, sich aufzusetzen. Diesmal stieß keine Faust sie zurück, doch ging es langsam und mühsam vonstatten, sie fröstelte und zitterte ziemlich stark und benötigte mehrere lange Pausen, in denen sie sich mit den Fingerspitzen abstützte und sich mühte, nicht wieder zurückzurutschen. Ihr war sehr kalt. Und sie war dankbar, daß Torlyri nicht hier war, sie nicht in ihrer Schwäche, ihrer Krankheit, ihrem Schmerz sehen konnte. Niemand durfte dies sehen; vor allem aber nicht Torlyri!

Vermittels des Zweiten Gesichts tastete sie sich vor ihr Haus und bemerkte dort Threyne, die mit ihrem Knaben, Thaggoran, vorbeiging. Mit brüchiger Stimme rief Koshmar sie an und stellte sich in der Tür auf, klammerte sich an den Pfosten, drückte die Schultern zurück, kämpfte darum, den Anschein zu erwecken, alles sei zum Besten bei ihr.

„Du hast mich gerufen?“ sagte Threyne.

„Ja.“ Koshmars Stimme klang rauh und zittrig, selbst für ihre eigenen Ohren. „Ich muß mit Hresh sprechen. Kannst du ihn für mich suchen und ihn mir schicken?“

„Aber gewiß, Koshmar.“

Doch Threyne zögerte und ging nicht sogleich um Koshmars Gebot auszuführen. Ihre Augen wirkten bedrückt und waren verschleiert. Sie sieht es, daß ich krank bin, dachte Koshmar. Aber sie wagt nicht, mich zu fragen, was es ist.

Koshmar blickte zu dem jungen Thaggoran. Er war ein kräftiger Knabe, langgliedrig, mit wachen Augen, aber schüchtern. Obwohl er bereits über sieben Jahre alt war, hielt er sich halb hinter seiner Mutter versteckt und lugte von dort verstohlen zu der Stammesführerin empor. Koshmar lächelte ihm zu.

„Wie groß er geworden ist, Threyne!“ rief sie mit soviel Herzlichkeit, wie sie nur konnte. „Ich erinnere mich an den Tag seiner Geburt. Wir waren damals kurz vor Vengiboneeza, nahe dem Ort des Wasserläufers, als deine Zeit über dich kam. Und wir errichteten eine Laubhütte für dich und ein Lager, und Torlyri half dir durch die Stunden der Entbindung, und Hresh kam und verlieh dem Kind seinen Geburtsnamen. Du erinnerst dich doch daran, nicht wahr?“

Threyne warf Koshmar einen seltsamen Blick zu, und diese verspürte erneut einen schmerzhaften Stich in der Brust.

Sie muß ja denken, mein Hirn ist zu Brei geworden, sagte sich Koshmar, daß ich sie fragen kann, ob sie sich an den Tag erinnert, an dem ihr Erstgeborener zur Welt kam. Sie streckte die Hand aus — und mußte sich stark anstrengen, das Zittern in ihr zu unterdrücken — und strich dem Knaben leicht über die Wange. Er zuckte vor der Berührung zurück.

„Also, dann geh“, sagte Koshmar. „Schick mir Hresh!“

Hresh kam erstaunlich lange nicht. Vielleicht buddelt er zum letztenmal in den alten Ruinen herum, dachte Koshmar. Versucht verzweifelt zu erwischen, soviel er kann, ehe der Stamm aus Vengiboneeza wegzieht. Dann fiel ihr ein, daß Hresh ja inzwischen partnerlich verehelicht war — oder doch beinahe; vielleicht also war er gerade eifrig damit beschäftigt, mit Taniane zu kopulieren oder zu tvinnern, und wollte sich einfach bei diesem Geschäft nicht gern stören lassen. Die Vorstellung von einem partnerlich verbandelten Hresh erschien ihr als seltsam, oder daß er tvinnern sollte oder all dies tun, was eben zu derlei Aktivitäten gehörte. Für Koshmar würde er immer das wilde Kerlchen bleiben, das einst versucht hatte, sich heimlich aus dem Kokon zu schleichen, an einem lang vergangenen Morgen, um sich das Flußtal anzuschauen.

Endlich kam er. Seine Augen wirkten entzündet, er sah erschöpft aus wie jemand, der überhaupt nicht geschlafen hat. Doch sobald er Koshmars ansichtig wurde, holte er tief Luft und war plötzlich hellwach, als habe ihn ihr Anblick schockiert und vollkommen munter gemacht.

„Was ist dir geschehen?“ fragte er sofort dringlich.

„Nichts. Es ist nichts. Komm herein!“

„Bist du krank?“

„Nein. Aber nicht doch!“ Koshmar schwankte und wäre fast gefallen. „Ja“, sagte sie dann, halb flüsternd. Und da sie wieder taumelte, packte Hresh sie am Arm und führte sie zu einer mit Fellen bedeckten Steinbank. Dort saß sie lange, den Kopf vornübergeneigt, und Schmerz und Fieber schoß in Wellen durch sie hindurch. Nach einiger Zeit sagte sie dann sehr ruhig: „Ich sterbe.“

„Das kann nicht sein.“

„Komm kurz in meine Seele und spüre, was ich spüre, dann weißt du die Wahrheit.“

Erregt sagte Hresh: „Laß mir Torlyri holen!“

„Nein! Nicht Torlyri!“

„Aber sie ist im Besitz der Heilkünste.“

„Als ob ich das nicht nur zu gut wüßte, Junge. Aber mir liegt nicht daran, daß sie ihre Künste an mir versucht.“

Hresh kauerte sich vor sie hin und versuchte ihr ins Gesicht zu blicken, aber sie wich seinen Augen aus.

„Koshmar, nein! Nein! Du bist noch immer stark und kräftig. Dir kann Heilung werden, wenn du es nur erlauben.“

„Nein.“

„Weiß Torlyri, wie krank du bist?“

Koshmar zuckte die Achseln. „Woher soll ich wissen, was Torlyri weiß oder nicht weiß? Sie ist eine Weise Frau. Ich habe noch zu keinem darüber gesprochen. Und ganz gewiß nicht zu ihr.“

„Wie lang schon bist du so krank?“

„Schon einige Zeit“, sagte Koshmar. „Es kam langsam über mich.“ Und nun hob sie den Kopf und gewann ein wenig von ihrer einstigen Kraft zurück. Mit lauterer Stimme sprach sie: „Doch ich habe dich nicht rufen lassen, um mit dir über meine Gesundheit zu sprechen.“

Zornig schüttelte Hresh den Kopf. „Ich kenne mich sebst auch ein wenig in den Heilkünsten aus. Wenn du nicht willst, daß Torlyri etwas davon erfährt, gut. Sie braucht überhaupt nichts davon zu wissen. Aber erlaube mir, dieses Ungesunde von dir zu treiben. Laß mich Mueri anrufen und Friit und tun, was für dich getan werden muß.“

„Nein.“

„Nein?“

„Meine Zeit ist gekommen, Hresh. So laß es denn an dem sein, wie es kommen muß. Ich werde nicht mitziehen, wenn der Stamm Vengiboneeza verläßt.“

„Aber gewiß wirst du mit uns ziehen, Koshmar.“

„Ich befehle dir zu unterlassen, mir zu sagen, was ich tun werde und was nicht!“

„Aber wie könnten wir dich zurücklassen?“

„Ich werde tot sein“, sagte Koshmar. „Oder doch beinahe. Du wirst die Worte für die Toten über mir sprechen und wirst mich an einen friedvollen Ort bringen, und dann werdet ihr alle fortziehen. Ist der Befehl verstanden, Hresh? Es ist mein letzter Befehl, daß der Stamm hinwegziehe aus dieser Stadt. Doch ich erteile diesen Befehl, wissend, daß ich nicht bei euch sein werde, wenn ihr fortzieht. Hresh, du hast es dir dein Leben lang zur Aufgabe gemacht gehabt, meinen Anordnungen nicht zu gehorchen, aber vielleicht willst du mir dieses eine Mal das Recht zugestehen und meinem Wunsch folgen und ihn erfüllen. Ich wünsche keine Trauer, und ich wünsche nicht, daß man meinetwegen ein großes Getöse veranstaltet. Ich habe das Grenzalter erreicht; mein Sterbetag ist da.“

„Wenn du mir doch nur sagen würdest, was dich bedrückt, dann könnte ich eine Heilungs.“

„Was mich bedrückt, Hresh? Daß ich noch lebe. Und dafür wird mir bald die Heilung werden. Und noch ein einziges derartiges Wort von dir, und ich entlasse dich aus deinem Amt, solang ich noch Häuptling bin. Wirst du nun endlich still sein? Es gibt wichtige Dinge, die ich dir sagen muß, ehe mich die Kraft verläßt.“

„Sprich!“ sagte Hresh.

„Die Reise, auf die der Stamm sich begibt, wird eine sehr lange sein. Dies sehe ich voraus in meiner Todesweisheit: Daß euch die Reise führen wird an die entfernten Orte der Welt. Ihr könnt eine solche Fahrt nicht unternehmen, indem ihr alles auf dem Rücken mit euch tragt, wie wir es taten, als wir aus dem Kokon auszogen. Geh du also zu den Beng, Hresh, und bitt sie um vier oder fünf junge Zinnobären als Trag- und Lasttiere für uns. Wenn sie unsere Freunde sind, wie sie dies so lautstark immer betonen, dann werden sie uns dies nicht abschlagen. Wollen sie sie dir aber nicht geben, dann bitte Torlyri, sie solle ihren. ihren Beng-Geliebten dazu bringen, ein paar Tiere zu stehlen, wenn es denn so sein muß. Achtet darauf, daß die Tiere, die ihr erhaltet, Männchen und Weibchen sind, so daß wir in künftigen Zeiten selbst Nachwuchs von ihnen erhalten können.“

Hresh nickte. „Das sollte nicht allzu schwierig sein.“

„Nein. Nicht für dich. Nächster Punkt. Es muß eine neue Führerin gewählt werden. Du und Torlyri werdet sie aussuchen. Ihr solltet eine ziemlich junge Frau wählen, jemand mit starkem Willen, aber auch mit starkem Körper. Sie wird den Stamm in vielen schwierigen Jahren führen müssen.“

„Gibt es eine, die du vorschlagen möchtest, Koshmar?“

Koshmar brachte ein Lächeln zustande. „Ach, Hresh, Hresh, mein Schlaukopf, bis zum Schluß! Wie respektvoll bittest du die sterbende Koshmar, ihre Wahl zu treffen, wo ich doch weiß, daß die Wahl längst entschieden ist!“

„Ich bat dich ganz ehrenhaft, Koshmar.“

„Tatest du das? Nun, dann will ich dir ehrenhaft antworten, wie du fragtest, und ich will dir sagen, was du bereits weißt. Es gibt im Stamm nur eine Frau, die das angemessene Alter hat und über die erforderliche innere geistige Stärke verfügt. Taniane soll meine Nachfolgerin sein.“

Und wieder atmete Hresh tief durch, biß sich auf die Lippe und wandte den Blick ab.

„Mißfällt dir die Wahl?“

„Nein. Ganz und gar nicht. Aber es macht alles, was geschieht, so viel wirklicher. Ich sehe klarer, als mir lieb sein kann, daß du nicht länger unser Häuptling sein wirst, daß eine andere, daß Taniane.“

„Alles unterliegt dem Wandel, Hresh. Die Saphiräugigen herrschen nicht mehr über die Welt. Und nun noch ein Drittes: Werdet ihr, du und Taniane, ehelich verbunden sein?“

„Ich habe in den Chroniken geforscht nach Präzedenzfällen, die es dem Alten Mann des Stammes erlauben würden, sich eine feste Gefährtin zu nehmen.“

„Dazu besteht keine weitere Notwendigkeit. Du brauchst nicht weiter nach einem Präzedenzfall zu suchen, Hresh. Du bist der Präzedenzfall. Und sie ist deine Gefährtin.“

„Ist sie das, wirklich?“

„Führe sie zu mir, sobald du von der Beng-Siedlung wieder zurückgekehrt bist, dann will ich die nötigen Worte sprechen.“

„Koshmar, Koshmar.“

„Aber sprich ihr noch nicht von ihrer Führerschaft. Noch gebührt sie ihr nicht, erst dann hat sie sie, wenn du und Torlyri sie ihr übertragen. Derlei Dinge müssen auf anständige, ordentliche Weise getan werden. Es kann keine neue Führerin geben, solange die alte noch am Leben ist.“

„Laß mich versuchen dich zu heilen, Koshmar!“

„Du erregst meinen Ärger. Geh du zu den Beng und erbitte von ihnen einige ihrer Zinnobären, Junge!“

Er blieb stehen.

„So geh schon!“

„Dann erlaube mir wenigstens, dies eine für dich zu tun.“ Mit flatternden Fingern löste Hresh einen kleinen Gegenstand, den er am Hals hängen hatte, und drückte ihn ihr in die Hand. „Das ist ein Amulett“, sagte er, „das ich von Thaggorans Leichnam löste, am Tag, als uns die Rattenwölfe angriffen. Es ist sehr, sehr alt, und gewiß verfügt es über irgendwelche große Kraft, auch wenn es mir nie gelungen ist, herauszufinden, was für welche. Aber wenn ich das Bedürfnis verspüre, Thaggoran bei mir zu haben, dann greife ich zu dem Amulett, und ich fühle seine Nähe. Halte es du in deiner Hand, Koshmar, und laß Thaggoran zu dir kommen und dich hinübergeleiten in die Anderwelt.“ Er legte es ihr in die Hand und schloß ihre Finger um das Amulett. Es fühlte sich scharfkantig an in ihrer Handfläche — und warm. „Er liebte und achtete dich männiglich“, fuhr Hresh fort. „Er sagte es mir oft.“

Koshmar lächelte. „Ich danke dir für diesen Schutzzauber, und ich will ihn bei mir tragen bis zum Ende. Aber dann wirst du ihn wieder an dich nehmen. Du wirst ihn nicht allzu lange entbehren müssen, glaube ich.“ Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. „Aber nun geh! Geh zu den Beng und bitte sie um einige ihrer Tiere! Geh, geh, Hresh!“ Und dann wich die Schroffheit von ihr, und sie strich ihm mit der Hand über die Wange. „Mein Alter Mann. mein Chronist.“

Wie es schien, hatte Noum om Beng ihn erwartet. Zumindest zeigte er kein Erstaunen, als Hresh, atemlos und verschwitzt nach dem schnellen Trab auf der ganzen Strecke zwischen seiner Stammessiedlung und dem Beng-Dorf in Dawinno Galihine, vor ihn hintrat. Der alte Behelmte befand sich in seinem nüchternen schmucklos kahlen Gemach und saß mit dem Gesicht der Tür zugewandt, als erwarte er einen Besucher. Unter Hreshs Schädeldecke hämmerte es erbarmungslos. Seine Seele schmerzte von der zu heftigen Turbulenz in einem zu kleinen Behältnis. Der Kopf wirbelte ihm von alledem, was während dieser letzten paar hektischen Tage sich ereignet hatte. Und nun oblag es ihm auch noch, vor den alten Noum om Beng hinzutreten, und es war wohl die allerletzte Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, und es gab noch dermaßen viel von ihm zu lernen. Die Fragen türmten sich in immer höherer Zahl in seinem Hirn; aber die Antworten entzogen sich ihm nur immer mehr.

„Setz dich!“ sagte Noum om Beng und wies auf die Steinbank, auf der er selber saß. „Und ruhe. Komm erst einmal wieder zu Atem. Sauge die Luft tief in dich hinein! Tief!“

„Vater.“

„Ruh dich aus!“ sagte Noum om Beng streng. Hresh dachte schon, er werde ihm einen Backenstreich versetzen, wie er dies so oft in den Anfangstagen ihres Tutoriums getan hatte. Aber der Alte Mann blieb vollkommen bewegungslos. Nur seine Augen zuckten und geboten Hresh mit einem stahlharten Funkeln, er solle stillsitzen.

Langsam holte Hresh die Luft in sich herein, hielt sie in den Lungen, entließ sie, atmete erneut tief. Nach einer kleinen Weile wurde das Pochen in seinem Herzen schwächer, der Sturm in seinem Hirn schien sich zu mindern. Noum om Beng nickte zufrieden. Ruhig fragte er: „Wann verlaßt ihr diese Stadt, Knabe?“

„In ein, zwei Tagen.“

„Also habt ihr hier alles herausgefunden, was zu wissen euch not tut?“

„Ich habe nichts herausgefunden“, sagte Hresh. „Nichts, gar nichts.

Ich schaufle Informationen in mich hinein, aber je mehr ich an Wissen ansammle, desto weniger verstehe ich.“

„Und so geht es mir auch“, sagte Noum om Beng sanft und leise.

„Aber, Vater, wie kannst du so etwas sagen? Du weißt doch alles, was es zu wissen geben kann!“

„Glaubst du das wirklich?“

„So will mir scheinen.“

„In Wahrheit, Junge, weiß ich sehr wenig. Nur das, was in den Chroniken meines Stammes auf mich gekommen ist und das, was ich selbst zu lernen imstande war, sowohl in meinen Irrungen und Irrwanderungen wie durch den Einsatz meines Denkens. Und es genügt nicht. Es genügt einfach nicht. Es wird nie genug sein können.“

„Vater, dies ist das letztemal, daß wir beisammen sind.“

„Ich weiß es. Ja.“

„Du hast mir so viele Dinge beigebracht. Aber alles stets umweglich, immer nur das, was hinter den Dingen, in den Dingen verschlossen liegt. Vielleicht wird die Bedeutung der Dinge in meinem Hirn knospen und aufbrechen, wenn ich älter geworden bin und über alles nachdenke, was du mir hier gesagt hast. Aber dürften wir heute, bitte, ganz direkt über jene großen Probleme sprechen, die mich verwirren? Ich flehe dich an.“

„Wir haben stets und immer sehr direkt und zielgerichtet miteinander gesprochen, Kind.“

„Mir kommt es aber nicht so vor, Vater.“

In früheren Tagen hätte dieser platte Widerspruch Hresh eine schmerzhafte Ohrfeige eingetragen. Er wartete nun auf sie, ja sie wäre ihm sogar willkommen gewesen. Doch Noum om Beng blieb weiterhin völlig bewegungslos. Nach langem, lastendem Schweigen sprach der Alte, und es klang, als rede er von einem fernen, hohen Berg herab: „Dann sage du mir, Hresh, was sind diese Dinge, die dich in Verwirrung stürzen?“

Hresh konnte sich nicht an ein einziges anderes Mal erinnern, bei dem ihn Noum om Beng bei seinem Namen genannt hätte.

Aus den Myriaden Fragen, die in seinem Denken heraufstiegen, versuchte Hresh eine auszuwählen, die wichtigste, ehe das Angebot wieder zurückgenommen werden konnte. Aber die Wahl war ihm unmöglich. Aber dann erblickte Hresh im Geiste eine graue gestaltlose See, die sich bis zum Horizont und darüber hinaus erstreckte bis hinauf zu den Sternen, eine Meeresflut, die das gesamte Universum bedeckte, eine See, die inmitten äußerster Finsternis in ihrem eigenen perlenden Licht schimmerte. Plötzlich flammte ein heller Funke über der Wasserfläche auf.

Hresh schaute Noum om Beng starr an.

„Sag du mir also, wer uns erschaffen hat, Vater.“

„Ja, aber natürlich der Schöpfer.“ „Nakhaba — ist er es, den du meinst?“

Noum om Beng lachte. Es war dieses seltsame kratzende, trockene Lachen, wie es Hresh nur ein-, oder zweimal vordem von ihm gehört hatte. „Nakhaba? Nein, Nakhaba ist ebensowenig der Schöpfer wie du oder ich. Nakhaba ist nur der Vermittler. Habe ich dir das nicht klar genug verdeutlicht?“

Hresh schüttelte den Kopf. Vermittler? Was sollte dies bedeuten?

„Nakhaba ist der größte und höchste Gott, den wir kennen können“, sagte Noum om Beng. „Aber er ist nicht der Höchste Gott von allen. Der Höchste Gott, der Schöpfer-Gott, bleibt unbekannt und ein Geheimnis, und er muß dies immer sein. Und nur die Götter kennen diesen Gott.“

„Ach so, ja, ach so“, sagte Hresh. „Und Nakhaba? Wer und was ist denn dann er?“

„Nakhaba ist der Gott, der zwischen uns und die Menschlichen tritt, der mit ihnen spricht und für uns eintritt, wenn wir den Anforderungen unseres Schicksals einmal nicht entsprochen haben.“

Hresh hatte das Gefühl, als verlöre er sich in immer fernere Unbegreiflichkeiten.

Verzweiflung, Unglaube, Verwirrung drohten ihn zu überwältigen.

„Ein Gott, der die Mittlerrolle erfüllt zwischen uns und den Menschlichen? Ja, aber dann sind die Menschlichen ja etwas Höheres als die Götter?“

„Größer als unsere Götter, Kind. Größer als Nakhaba und größer als eure Fünf. Aber nicht größer als der Schöpfer, der sie geschaffen hat, genau wie uns und wie alles andere. Begreifst du die Hierarchie, die Heilige Herrschaftsstruktur?“ Mit der Fingerspitze zeichnete Noum om Beng weite Gebilde in die Luft: Da, an der allerhöchsten Spitze den Schöpfer, dann die Großen Sechs, über die Hresh einst sich Spekulationen hingegeben hatte; und hier die Menschen, etwas weiter darunter; und dann erst Nakhaba, und hier die fünf; und da, noch tiefer, wenn auch immer noch über den wilden Tieren, endlich: die gemeine Bevölkerung der Welt, die Kokonvölker, die Behaarten und Pelzigen.

Hresh starrte stamm und ungläubig. Er hatte um Aufklärung und Erleuchtung gebeten, und Noum om Beng hatte sie ihm in großmütiger Weise zuteil werden lassen. Doch er vermochte das nicht in sich aufzunehmen, er konnte es nicht verdauen.

Er rettete sich in einen vertrauten Winkel und fragte: „Also laßt ihr auch die Fünf gelten? Sie sind Götter für euch, genau wie für uns?“

„Aber gewiß sind sie das. Wir benennen sie zwar mit anderen Namen, aber wir lassen sie gelten; und wie könnten wir auch anders? Es muß doch einen Gott geben, der die Leute beschützt, und einen, der sie erhält, und einen, der sie zerstört. Und einen, der heilt und einen, der Trost bringt. Und natürlich einen, der vermittelt und ausgleicht.“

„Ein vermittelnder, ausgleichender Gott? Ja, das ist sinnvoll.“

„Und dies ist der eine Gott, den ihr vergessen habt. Er steht über den anderen Fünfen, und er reicht in weit höhere Regionen hinauf und spricht dort zu unserm Wohl mit Jenen.“

„Also sind die Menschlichen Götter?“

„Nein. Nein, das glaube ich eigentlich nicht“, sagte Noum om Beng. „Doch wer könnte das genau sagen? Nur Nakhaba hat jemals einen Menschen gesehen.“

„Oh, ich glaube, ich auch“, sagte Hresh.

Noum om Beng gab wieder dieses rauhe Kichern von sich. „Das ist wohl ziemlich verrückt, mein Kleiner.“

„Nein. Es gab da in unserm Kokon in den Tagen des Langen Winters einen, der immer schlief, der ganz allein in einer Wiege, einer Krippe, in der Hauptkammer lag. Man nannte ihn Ryyig, den Träumeträumer. Er war sehr lang und sehr blaß und rosa, und er hatte überhaupt kein Fell auf dem Leib, und sein Kopf stieg hoch über seiner Stirn empor, und seine Augen waren purpurblau und leuchteten seltsam. Sie sagten, er habe stets unter uns gelebt, und daß er am ersten Tag des Langen Winter zu uns in den Kokon gekommen sei, als die tödlichen Sterne niederzufallen begannen, und daß er schlafen werde, bis zum Ende des Winters; dann sollte er erwachen und seine Augen auftun und uns die Weissagung erteilen, daß wir nun hinausziehen müßten in die weite Welt. Und dann würde er sterben. So ward es geweissagt, vor langer Zeit, und so steht es geschrieben in den Büchern unserer Chronik. Und alles dies hat sich wahrlich dann so ereignet, Vater. Ich habe ihn gesehen. Ich war zugegen am Tag, an dem er erwachte.“

Noum om Beng starrte ihn mit seltsam saugendem-haftendem Blick an. Sein Gesicht war ganz erstarrt, die roten Augen leuchteten. Der harte Atem des alten Mannes schien immer lauter und lauter zu gehen, bis er klang wie das Schnaufen eines herannahenden Tieres.

Hresh sagte: „Ich glaube, unser Träumeträumer war ein Menschlicher. Ein Mensch. Daß er zu uns gesandt war, um mit uns zu leben und über uns zu wachen während der ganzen Zeit des Langen Winters. Und daß dann, als der Winter vorbei war, seine Aufgabe erfüllt war und er zu den Seinen berufen wurde.“

„Ja“, sagte Noum om Beng. Er bebte, wie eine überstraff gespannte Bogensehne. „So muß es geschehen sein, und wieso habe ich es nicht erkannt? Junge, soll ich dir etwas sagen? Auch wir hatten in unserem Kokon einen Träumeträumer. Wir waren uns nicht im geringsten bewußt, was für ein Geschöpf er sein mochte, aber wir hatten so einen bei uns, genau wie ihr. Das war vor langer Zeit, ehe ich geboren war, falls du dir eine so lange Zeit vorstellen kannst. Und wir hatten auch das, was du deinen Barak Dayir nennst. Es gibt in unseren Geschichtsbüchern Berichte davon. Doch unser Träumeträumer erwachte zu früh, während noch das Eis die Welt umklammert hielt. Und er führte uns aus dem Kokon, und er ging dabei zugrunde, und unser Barak Dayir wurde uns von den Hjjk geraubt. Nakhaba führte und leitete uns gut, und wir gelangten zu Größe, trotz unseres Verlustes, und Größeres sollte noch folgen: Denn, Junge, soviel erkenne ich mit Klarsicht, die ganze Welt wird bengisch sein. Jedoch unser Los und unsere Aufgabe war um so vieles schwerer, weil wir in den letzten Jahren ohne einen Barak Dayir auskommen mußten. Während euer Volk — während du, mein Sohn — dieses magische Ding besitzt.“

Noum om Bengs Stimme versank in ein Flüstern. Er blickte starr zu Boden.

„Ja? Und? Was ist die Bestimmung meines Volkes?“

„Wer weiß das schon?“ sagte der alte Behelmte. Er klang auf einmal sehr erschöpft. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich weiß es nicht einmal Nakhaba. Wer vermag schon im Buch des Schicksals zu lesen? Ich. ich sehe unser eigenes Geschick — das eure ist mir nicht deutlich.“ Er schüttelte den Kopf. „Nie hätte ich gedacht, daß unser Träumeträumer einer von den Menschlichen hätte sein können, doch jetzt erkenne ich, daß deine Vermutung recht überzeugend klingt und viel für sich hat. Ja, das war er wohl, ein Menschlicher.“

„Ich weiß, daß er ein Mensch war, Vater.“

„Woher könntest du dies sicher wissen?“

„Durch eine Vision, die mir wurde, als ich eine Maschine benutzte, die ich in Vengiboneeza fand und die mir die Große Welt zeigte. Sie ließ mich sehen die Saphiräugigen und Vegetalischen und alle die übrigen Rassen. Und sie zeigte mir auch die Menschlichen — die Menschen, wie sie hier durch eben diese Straßen schritten. und sie sahen genauso aus wie unser Träumeträumer, der Ryyig hieß.“

„Wenn dem so ist, dann verstehe ich nun viele Dinge, die mir bisher unerklärlich waren“, sagte Noum om Beng.

Dies aber verblüffte Hresh, daß er es sein sollte, dem Noum om Beng Wissen zu vermitteln, und nicht umgekehrt. Jedoch, er blieb weiterhin verwirrt und saß stumm und zitternd da.

Noum om Beng sprach: „Hüte deinen Stein gut, Junge! Wenn du in Gefahr gerätst, verschlucke ihn. Er ist unendlich wichtig. Wir mußten doppelt so schwer ringen, wenn nicht mehr, um unsere Größe zu erlangen, weil wir mit unserem Stein sorglos umgingen.“

„Aber was ist der Barak Dayir dann? Ich vernahm, er sei etwas, das in den Sternen gemacht wurde.“

„Nein. Er ist ein Menschending“, sagte Noum om Beng. „Mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Etwas, viel älter als sogar die Große Welt. Ein Ding, das die Menschen gemacht haben, so erkenne ich nunmehr, und das sie uns schenkten, damit wir es auf vielfältige Art benutzen. Aber, auf welche Art, das habe ich niemals herausgefunden, und du beginnst gerade erst, dies herauszufinden zu versuchen.“

Hresh griff nach dem Amulett des Thaggoran an seinem Hals, denn er fühlte sich von gewaltiger Spannung und Furcht bedrückt. Doch dann erinnerte er sich, daß er den Talisman ja Koshmar geschenkt hatte, damit sie leichter durch ihre Sterbesrunden gleiten möge.

Er sagte: „Ach, Vater, ich wünschte, wir würden nicht so früh aus Vengiboneeza fortziehen.“

„Warum? Die Welt steht wartend für euch offen.“

„Ich möchte aber hierbleiben, bei dir, und ich möchte alles von dir lernen, was du mich lehren kannst.“

Und wieder lachte Noum om Beng. Ohne Warnung hob sich der stengeldürre Arm, und er versetzte Hresh mit der flachen Hand einen Schlag, der ihm die Lippe aufriß und die Wange taub werden ließ.

„Dies ist alles, was ich dir beibringen kann, mein Kind!“

Hresh leckte einen süßlichen Blutstropfen an der Unterlippe fort. Leise fragte er: „So soll ich denn jetzt von dir gehen? Ist dies dein Wunsch?“

„Ach, du kannst gern bleiben, solange du magst.“

„Aber du wirst mir keine Fragen mehr beantworten?“

„Ah, du hast also noch weitere Fragen?“

Hresh nickte, sagte aber nichts.

„Also, dann zögere nicht, frage!“

„Ich ermüde dich vielleicht, Vater.“

„So frag schon. Frag! Was du willst, mein Kleiner.“

Zögernd sprach Hresh: „Du hast mir einmal gesagt, daß die Götter all unser Mühen damit belohnen, daß sie die Todessterne über uns herabsenden, so daß also alles ganz ohne Sinn ist. Ich nannte dies einen Schwachpunkt, einen Makel im Universum, du aber sagtest: nein, nein, das Universum ist vollkommen — vielmehr sind wir es, die voll Makel und Fehler sind. Aber mir will immer noch scheinen, daß das ein Makel im Universum ist. Und du sagtest auch, daß wir uns trotzdem strebend weiter bemühen müßten, auch wenn du nicht sagen könntest, warum. Du sagtest, ich müßte das selbst herausfinden und wenn ich es getan hätte, sollte ich zu dir kommen und dir berichten, was ich erfahren hätte. Weißt du noch, Vater?“

„Ja, mein Sohn.“

„Vor nicht langer Zeit erfuhr ich eine weitere Vision der Großen Welt. Ich benutzte dafür ein anderes Gerät als das, welches mir die Menschlichen gezeigt hatten. Und diese neue Vision, Vater, die war erst heute nacht. Was ich schaute, war der letzte Tag der Großen Welt, als der erste der Todessterne kam und der Himmel sich schwarz verfinsterte, und als die Luft eisig wurde. Die Menschlichen waren bereits fort — ich könnte dir nicht sagen, wohin sie gezogen sind; und die Hjjks strebten den Bergen zu; und die Vegetalischen starben vor sich hin; und die Seeherren standen kurz vor dem Tod; und die Mechanischen machten sich auf und zogen irgendwohin, um dort zu sterben. Aber die Saphiräugigen — obwohl sie genau wußten, daß das Ende ihrer Zeit gekommen war — blieben ganz unbeeindruckt von alledem, was rings um sie sich ereignete. Sie zeigten weder Furcht noch Kummer. Und sie unternahmen auch nicht den leisesten Versuch, die niederstürzenden Todessterne von der Welt abzulenken, obwohl dies doch sicherlich in ihrer Macht gelegen hätte. Und das begreife ich nicht, Vater, ich kann es nicht verstehen! Wenn ich verstehen könnte, warum die Saphiräugigen ihre Vernichtung in scheinbarer Sorglosigkeit und so gleichmütig hinnahmen, dann könnte ich vielleicht auch sagen, warum wir ewiglich vorwärtsstreben müssen, auch wenn die Götter eines Tages alles vernichten werden, was wir aufgebaut haben.“

Noum om Beng sagte: „Wie lautete noch der Name, den ihr eurem Gott gebt, welcher der Zerstörer ist?“

Hresh blinzelte überrascht. „Dawinno.“

„Dawinno. Nun, und was verstehst du unter Dawinno? Glaubst du, er ist ein böser Gott?“

„Wie könnte ein Gott böse sein, Vater?“

„Du hast deine eigene Frage beantwortet, Sohn.“

Hresh fand nicht, daß er dies getan habe. Immer noch blinzelnd, hockte er da und wartete auf weitere Erleuchtung. Doch es ward ihm keine. Noum om Beng lächelte ihn freundlich und beinahe selbstgefällig an, als sei er sicher, Hresh die Lösung für alle seine drückenden Probleme an die Hand gegeben zu haben.

Doch unter dem Lächeln war das Gesicht des alten Behelmten aschgrau vor Erschöpfung; und Hresh selbst spürte, daß seine Hirnkapazität bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit angespannt war. Er wagte es nicht, nach weiteren Erklärungen zu fragen. Nein, hier mach ich Schluß, sagte er sich. Schon jetzt hatte er sich dermaßen viel auf die Seele geladen, daß er Jahre brauchen würde, um dies alles zu begreifen. So schien es ihm jedenfalls.

Er erhob sich, um zu gehen. „Ich sollte mich jetzt entfernen, Vater, und dich ruhen lassen.“

„Ich werde dich nie wiedersehen“, sagte Noum om Beng.

„Nein, ich glaube nicht.“

„Wir haben eine gute Arbeit geleistet, wir beide, mein Sohn. Unser beider Denken fügte sich gut zusammen.“

„Ja“, sagte Hresh. Noum om Bengs Stimme klang irgendwie so endgültig, daß Hresh sich fragte, wie lang dem alten Mann wohl noch an Lebenszeit beschieden sein mochte. Es strahlte von ihm ein derart starkes Todesbewußtsein und zugleich auch eine solch tiefe Ergebung darein aus, daß er so gelassen und gleichmütig wirkte wie irgendeiner von den Saphiräugigen, die gemächlich zuschauten, wie ihr Himmel vom Staubregen schwarz wurde, nachdem der Todesstern niedergefallen war. Und Hresh, der erst am selben Morgen Koshmar so ungeschminkt über ihren nahenden Tod hatte reden hören, fühlte sich ringsum von Sterben und Verfall und Tod umgeben. Wie machten sie das nur, daß sie es so gelassen hinnahmen, diese Sterbenden? Wie konnten sie nur so achselzuckend dem Nichts und dem Vergessensein entgegensehen?

Unentschlossen bewegte sich Hresh auf die Tür zu.

Eigentlich wollte er wirklich nicht so rasch Abschied nehmen, wußte aber, daß er es müsse.

Noum om Beng sagte: „Gab es da nicht noch etwas anderes, warum du an diesem Morgen zu mir kamst? Doch wohl nicht nur, um mit mir zu diskutieren?“

Yissou! Die Zinnobären!

Hreshs Gesicht wurde dunkel vor Scham. „Ja. Doch. Da war noch etwas“, sagte er schleppend. „Koshmar bat mich — unser Häuptling — sie meinte, ob. also, ob wir vielleicht. ob es möglicherweise möglich wäre, daß ihr.“

„Ja“, sagte Noum om Beng. „Wir haben dies vorausbedacht, daß ihr sie brauchen werdet. Es ist bereits geregelt. Vier Jung-Zinnobären sollen euch gehören, zwei männliche, zwei weibliche. Unser Abschiedsgeschenk. Trei Husathirn bringt sie euch in einer Stunde hinüber, und er wird deinen Leuten zeigen, wie man sie lenkt. und wie man sie züchtet. Das war dann doch alles, weswegen du kamst, nicht wahr, mein Sohn?“

„Ja, Vater.“

„Komm zu mir, Hresh!“

Hresh trat wieder näher und kniete vor dem alten Behelmten nieder. Noum om Beng erhob seine Hand, wie wenn er ihm einen allerletzten Schlag verabreichen wollte; dann aber lächelte er, schwächte den Schwung seines Armes ab und strich Hresh mit der Hand sanft und zärtlich über die Wange. Es war eine unmißverständliche Geste tiefster Zuneigung und Liebe. Dann bedeutete er ihm mit einem kaum merklichen Kopfnicken, daß er nun gehen dürfe. Es fiel zwischen den beiden weiter kein Wort. Aber dann, an der Tür, blieb Hresh stehen, und seine Augen trafen auf die roten Augen des Noum om Beng, doch ihm schien es, daß Noum om Beng ihn schon lange nicht mehr sehe und auch nicht mehr wisse, wer Hresh sei.

Als Hresh wieder in der Siedlung anlangte, war es bereits Mittag. Die Sonne schwebte in einem wolkenlosen Himmel. Hresh spürte, wie sich die Mittagsschwere heiß auf ihn niedersenkte wie ein schweres Tuch. Die winterliche Zeit voll Frost und Eiswinden lag weit zurück, in einer unendlich fernen Vergangenheit. Sein Fell war von Schweiß und Staub verklebt nach seinem Kuriergang zwischen der Siedlung und Dem Bezirk Dawinno Galihine. Sein Kopf hämmerte und tobte, die Augen schmerzten. Es kam ihm so vor, als hätte er seit einem Mond nicht mehr geschlafen.

Auf der Plaza herrschte hektisches Treiben, denn die Auflösung der Niederlassung näherte sich dem Höhepunkt. Aus den Behausungen wurden große Packballen gezerrt, Kisten wurden zugenagelt, die Räder der jüngst erst gebauten Wagen wurden geölt. Hresh sah Orbin unter drei ungeheuren Packen dahinschwanken; er sah Haniman hämmern wie ein hirnrissiger Halbidiot; Thrrouk brach eine Bresche in die Wand eines Hauses, das so alt sein mußte wie die halbe Ewigkeit, um ein Gepäckstück hindurchzuhieven, das für die Tür zu wuchtig ausgefallen war. Zwar hatte es einige brummige Widerworte gegen den Auszug gegeben — Haniman schien der Hauptvertreter der Opposition zu sein, er und noch ein paar andere, die Hresh damals nachts vor der Statue des Träumeträumers hatte knien sehen. aber trotzdem entzog sich nicht einer seiner Pflicht, bei den Vorbereitungen für den Aufbruch, für die Wanderschaft mitzuwirken. Die instinktive Kooperationsbereitschaft des Volkes war viel zu tief verwurzelt.

Taniane kam aus Koshmars Haus gestürzt und winkte ihm von der Schwelle her zu.

„Hresh! Hresh, hier bin ich!“

Und er ging zu ihr. Sie stand merkwürdig schief da, als hätte sie sich am Rücken verletzt; die Schultern waren ganz hochgezogen, die Ellbogen eng an die Flanken gepreßt. Ihre Lippen zitterten. Sie trug eine blutrote Leibbinde, die er nie zuvor an ihr gesehen hatte.

„Was ist denn?“ fragte Hresh. „Was ist passiert?“

„Koshmar.

„Ja, ich weiß. Es geht ihr sehr schlecht.“

„Sie stirbt. Wenn sie nicht schon tot ist. Torlyri ist bei ihr da drin. Aber sie will auch dich bei sich haben.“

„Bei dir alles in Ordnung, Taniane?“

„Das macht mir angst. Aber es geht schon. Bist du in Ordnung?“

„Ich hab nicht geschlafen. Und ich war bei den Beng, um sie zu bitten, uns ein paar Zinnobären abzugeben. Trei Husathirn wird sie bald rüberbringen.“

„Wer?“

„Torlyris Mann. Wir gehen besser hinein.“

Sie hielt ihn einen Augenblick lang fest. Ihre Hände schoben sich unter seine Arme, faßten ihn an den Ellbogen. So flüchtig die Berührung war, sie ließ einen stark geladenen Energiestrom zwischen ihnen fließen. Hresh fühlte die Stärke ihrer Liebe, und sie war ihm eine Stütze in seiner Erschöpfung. Dann trat Taniane beiseite, und er ging in die kleine Behausung der Stammesführerin.

Torlyri saß neben Koshmar. Die Opferpriesterin hatte den Kopf gesenkt, und sie hob ihn auch nicht, als Hresh hinter sie trat. Koshmars Augen waren geschlossen; die Arme lagen über den Brüsten gekreuzt; in den festgeschlossenen Fingern umklammerte sie immer noch Thaggorans Amulett. Noch schien sie zu atmen. Hresh legte Torlyri sacht die Hand auf die Schulter.

Die Opferpriesterin sagte: „Das ist alles meine Schuld und mein Fehl. Ich hatte einfach keine Ahnung, daß sie so krank ist.“

„Ich glaube, das Unheil überkam sie sehr rasch.“

„Nein. Sie muß es schon lange Zeit mit sich getragen haben. Es frißt sie von innen heraus auf. Und ich wußte nichts davon, nichts, bis zum heutigen Tag! Wie konnte es nur geschehen, daß ich es nicht gesehen habe? Nicht einmal, wenn wir tvinnerten? Wie konnte ich sie dermaßen vernachlässigen?“

„Torlyri — das sind in diesem Augenblick Fragen, die zu nichts führen.“

„Gerade in der letzten Stunde verlor sie das Bewußtsein. Heute morgen war sie doch noch völlig klar und da.“

„Ich weiß“, sagte Hresh. „Ich war bei ihr, und wir haben heute früh miteinander gesprochen. Sie sah krank aus, aber sie war keineswegs in diesem Zustand.“

„Du hättest mich suchen lassen sollen, damit ich es wußte.“

„Sie befahl, daß keiner etwas davon wissen sollte, Torlyri. Und ganz besonders du solltest nichts davon erfahren.“

Daraufhin hob Torlyri den Kopf. Ihre Augen blickten wild und wie irre; sie sah aus, daß Hresh sie kaum als die ruhige, sanfte Torlyri erkannte, die er sein Leben lang gekannt hatte. Zornig fuhr sie ihn an: „Und du, du hast getan, was sie dir befahl!“

„Sollte ich meinem Häuptling nicht gehorchen? Besonders da es ihr letzter Sterbenswunsch war?“

„Sie wird nicht sterben!“ sagte Torlyri hartnäckig. „Wir werden sie heilen, du und ich. Du kennst dich in den Künsten aus. Du wirst dein Können mit dem meinigen verbinden. Geh! Geh und hole den Barak Dayir! Er muß doch eine Verwendung haben, die auch hier nützlich ist und die uns helfen kann, sie zu retten!“

„Wir werden ihr nicht mehr helfen können“, sagte Hresh so sanft, wie er nur konnte.

„Nein! Hol den Wunderstein!“

„Torlyri.“

Sie funkelte ihn wild an. Auf einmal lösten sich die Schärfe und die Entschlossenheit von ihr, und sie begann zu schluchzen. Hresh kauerte sich neben sie und legte ihr den Arm über die Schultern. Koshmar gab einen leisen, weit entfernten Seufzer von sich. Vielle icht verhaucht sie mit diesem murmelnden Ton ihr Leben, dachte Hresh. Er hoffte, es möge so sein. Koshmar hatte genug gelitten.

Ohne ihn anzusehen, sagte Torlyri: „Ich kam heute morgen zu ihr, und ich sah, daß sie krank war, und ich bot ihr an, eine Heilung mit ihr vorzunehmen, und sie hat abgestritten, daß ihr irgendwas fehle. Sie war so schwach, daß sie nicht auf den Beinen stehen konnte, und sie sagte zu mir, es ist weiter nichts, und geh doch weg und schau, ob sonst jemand deine Hilfe braucht! Ich versuchte mit ihr vernünftig zu reden. Ich hab mich mit ihr gestritten. Sie angebrüllt. Ich habe ihr gesagt, es ist noch nicht ihre Zeit, um zu sterben, daß sie noch viele Jahre lang leben könnte. Aber sie, nein, sie wollte nichts davon hören. Sie befahl mir, mir, wegzugehen! Ich konnte sie nicht überreden. Schließlich, sie ist Koshmar: eine nicht zu bremsende Kraft, und sie wird immer erreichen, was sie erreichen will, und wie sie es will. Selbst wenn das, was sie will, der Tod ist.“ Torlyri hob den Kopf und schaute mit qualvollen Augen Hresh an.

„Warum nur will sie denn sterben?“

„Vielleicht weil sie sehr müde ist“, sagte Hresh behutsam.

„Ich konnte gegen ihren Willen keine Heilung versuchen, jedenfalls nicht, solange sie bei Bewußtsein war. Doch jetzt kann sie sich nicht mehr dagegen wehren, und wenn wir beide zusammenarbeiten — hol den Wunderstein, Hresh, hol ihn!“

Kosmars geballte Faust öffnete sich, und Thaggorans Amulett glitt auf den Boden.

Hresh schüttelte den Kopf. „Du willst ein Wunder haben, Torlyri.“

„Sie kann noch immer gerettet werden!“

„So schau doch!“ sagte er. „Atmet sie noch?“

„Sehr schwach, aber ja, ja, sie.“

„Nein, Torlyri. Sieh genauer hin! Oder setz dein Zweites Gesicht ein.“

Torlyri blickte starr auf Koshmar nieder. Dann legte sie ihr kurz die Hand auf die Brust. Dann faßte sie Koshmar an beiden Schultern und preßte die Wange dorthin, wo ihre Hand gelegen hatte, und rief immer und immer wieder den Namen der toten Stammesführerin. Hresh wich zurück. Er dachte daran, sich zu entfernen, fürchtete dann aber das Übermaß von Torlyris Gram. Nach einer Weile trat er wieder hinzu und zog sie behutsam von Koshmars Leichnam empor und hielt sie in seinen Armen und ließ sie schluchzen.

Die Opferpriesterin gewann ihre Ruhe rascher wieder, als Hresh erwartet hätte. Ihr stoßweises Schluchzen brach ab, und ihr Atem wurde wieder regelmäßig. Sie hob den Kopf, nickte Hresh dankend zu und lächelte.

„Ist Taniane draußen?“ fragte sie.

„Vorher war sie es. Ich glaube, ja, sie ist wohl noch da.“

„Hol sie herein!“ sagte Torlyri.

Sie wartete noch immer auf der Veranda, und sie stand noch immer so seltsam in sich verkrochen da. „Es ist vorüber“, sagte er.

„Ihr Götter!“

„Komm rein! Torlyri will mit dir sprechen.“

Gemeinsam traten sie ins Haus. Torlyri stand an der Wand mit den Masken der Häuptlinge. Sie hatte Koshmars Maske herabgenommen; sie war aus einem schimmernden grauen Holz geschnitzt, die Augenschlitze dunkelrot umrandet. Torlyri hielt sie in der linken Hand. In ihrer Rechten war Koshmars Amtsstab.

„Wir haben heute viel zu tun“, sprach Torlyri. „Wir müssen einen neuen Ritus ausarbeiten, denn dies ist das erstemal seit Menschengedenken, daß ein Häuptling auf andere Art gestorben ist, als durch die Erreichung ihres Grenzalters, und wir werden dafür neue Worte brauchen, um sie auf dem Weg in die andere Welt zu begleiten. Darum werde ich mich kümmern. Auch müssen wir einen neuen Häuptling einkleiden. Taniane, dieses Zepter gehört dir. Nimm es, Mädchen! Nimm es!“

Taniane sah ganz benommen aus. „Sollte. müßte es da nicht eine Wahl geben, vorher?“

„Du bist bereits gewählt. Koshmar selbst hat dich als ihre Nachfolgerin bestimmt und uns dies kundgetan. Dies ist dein Krönungstag. Hier, nimm Koshmars Maske und setz sie auf! Da, nimm sie! Und den Stab. Und nun müssen wir alle drei hinaustreten, damit alle wissen, was geschah und was als nächstes geschehen wird. Kommt! Jetzt gleich!“

Torlyri warf einen raschen Blick auf Koshmar. Dann schob sie die eine Hand in Tanianes, die andere in Hreshs Armbeuge und zog die beiden aus dem Sterbezimmer. Sie bewegte sich rasch und mit einer festen Sicherheit, wie sie Hresh lange nicht mehr an ihr erlebt hatte. Sie traten in die helle Mittagssonne hinaus, und sogleich hörte jegliche Arbeit auf und aller Augen richteten sich auf sie. Es herrschte eine gespenstische Stille auf dem Platz.

Und dann kamen die Leute vom Stamm angelaufen. Threyne und Shatalgit und Orbin, Haniman und Staip, Kreun und Bonlai, Tramassilu, Praheurt, Thhrouk, Threyne und Thaggoran, Delim, Kalide, Cheysz, Hignord, Moarn, Jalmud, Sinsitine, Boldirinthe — alle, alle, die ältesten und die jüngsten, manche hielten Werkzeuge in Händen, andere trugen Kleinkinder, andere hielten ihr Mittagsbrot umklammert, und allesamt warfen sie sich nieder vor Taniane und riefen ihren Namen, als sie ihren Amtsstab in die Höhe reckte. Torlyri aber lockerte den Griff um Taniane und Hresh nicht. Sie klammerte sich vielmehr mit ganzer Kraft an sie, und ihr Griff war schmerzhaft. Hresh fragte sich, ob sie sich deshalb so fest an ihn klammere, weil sie sonst zu Boden stürzen würde.

Doch nach einiger Zeit ließ Torlyri sie los und schob Taniane nach vorn, damit sie sich unter das Stammesvolk begebe.

Taniane glühte.

„Heute abend wird eine feierliche Zeremonie abgehalten werden“, sprach Torlyri mit fester klarer Stimme. „Inzwischen aber nimmt euer neuer Häuptling eure Ergebenheit und Treuegelöbnis entgegen und dankt euch für eure Liebe. Sie wird noch mit jedem einzelnen unter euch sprechen, einem nach dem anderen.“ Zu Hresh sprach sie ein wenig leiser: „Laß uns jetzt wieder hineingehen“, und zog ihn an sich. Sie traten in das Häuschen zurück. Koshmar schien zu schlafen. Torlyri bückte sich und hob das herabgefallene Amulett Thaggorans auf und legte es in Hreshs Hände. Es war kaum ein paar Stunden lang nicht in seinem Besitz gewesen.

„Hier“, sagte sie. „Du wirst dies auf der Reise brauchen.“

„Wir sollten den Auszug verschieben“, sagte Hresh. „Bis das Ritual erfüllt und Koshmar gebührlich zur Ruhe gebettet ist.“

„Dies alles wird heute abend erledigt werden. Es darf keinen Aufschub geben.“ Torlyri brach ab. „Ich habe Boldirinthe soviel wie möglich in die Aufgaben und Pflichten der Opferfrau eingeführt. Morgen werde ich sie die höheren Mysterien, die Geheimnisse, lehren. Und dann müßt ihr fortziehen.“

„Was sagst du mir da, Torlyri?“

„Daß ich hierzubleiben beabsichtige und meine künftigen Geschicke mit denen der Beng verbinde. Mit Trei Husathirn.“

Hresh Mund ging auf, aber da gab es nichts, was er hätte sagen können.

„Wäre Koshmar am Leben geblieben, vielleicht wäre ich mit euch gezogen. Aber sie ist dahin, und so bin ich frei, verstehst du? Und darum will ich hier bleiben. Der Behelmte kann sein Volk nicht verlassen, darum werde ich eine von ihnen werden. Aber ich werde auch weiterhin die Morgengebete für euch sprechen, ganz so, als machte ich die Fahrt mit euch. Wo immer ihr hingelangt, ihr werdet wissen, daß ich euch behüte, dich, Hresh, dich und den ganzen Stamm.“

„Torlyri.“

„Nicht. Alles ist sehr klar und einfach — für mich.“

„Ja. Ja, ich verstehe schon. Aber es wird schwer werden, ohne dich.“

„Glaubst du, es wird für mich leicht sein, ohne euch alle?“ Sie lächelte und winkte ihn zu sich, und er kam in ihre Arme. Sie umarmten einander wie Mutter und Sohn — oder vielleicht gar wie Liebende — und hielten sich lange eng umschlungen. Sie begann wieder zu schluchzen, brach aber wieder ab, gerade rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick hätte auch Hresh zu weinen begonnen.

Sie ließ ihn los und bat: „Laß mich jetzt eine Weile mit Koshmar allein. Dann müssen wir uns zusammensetzen und das nötige Ritual ausarbeiten. Im Tempel, in zwei Stunden. Du wirst dort sein?“

„Im Tempel, ja. In zwei Stunden.“

Wieder verließ er das Häuschen. Weit drüben am anderen Ende des Platzes stand Taniane inmitten einer Gruppe von fünfzehn, zwanzig Stammesangehörigen. Sie standen dicht um sie geschart und dennoch gleichzeitig in achtungsvoller Distanz, als scheuten sie vor der Glut zurück, die durch ihre plötzliche Erhöhung von Taniane ausging. Sie trug noch immer Koshmars Maske. Der ganze Platz war nun von scharfem starkem Mittagslicht besonnt, das sämtliche Schatten schluckte, und die Hitze schien noch wachsen zu wollen. Hinter ihm lag Koshmar auf ihrem Totenbett, und Torlyri kniete bei ihr, vom Gram niedergedrückt. Hresh spähte nach links und sah vier Zinnobären über die Straße auf die Siedlung zustapfen; Trei Husathirn ritt auf dem vordersten männlichen Tier. Morgen werden wir hier fortziehen, dachte Hresh, und ich werde Koshmar niemals wiedersehen, und niemals mehr Torlyri, oder Noum om Beng, oder die Türme von Vengiboneeza. Doch irgendwie schien ihm dies alles richtig zu sein. Er war über seine Erschöpfung hinweg zu einem Zustand äußerster Ruhe und Gelassenheit vorgestoßen.

Er begab sich in sein Zimmer. Dort nahm er den Barak Dayir aus dem Beutel, streichelte ihn und liebkoste ihn und flehte ihn an, er möge ihm Stärke verleihen. Ein Menschending, das war der Wunderstein also. Kein Ding von den Sternen. Das hatte Noum om Beng gesagt. Und älter als die Große Welt war der Stein.

Hresh betrachtete ihn eindringlich. Er versuchte die Zeichen für sein gewaltiges Alter aus dem Schimmern herauszulesen, aus dem Muster der komplizierten verschlungenen eingekerbten Linien, aus dem warmen Glühen des ihm innewohnenden Lichtes. Er legte sein Sensororgan daran, und die Musik des Steines wuchs um ihn herum empor wie eine Säule. Leicht und geschmeidig trug sie sein Bewußtsein aufwärts und hinauf und er konnte alles schauen, was rings um Vengiboneeza lag. Und er blickte hierhin und blickte dorthin, und zuerst war ihm alles ein Wunder und wundersames Rätsel, doch lernte er rasch, seine Verwunderung zu beherrschen, indem er nur immer auf einen Teilbereich des wunderbaren überwältigenden Ganzen blickte; daraufhin nämlich gelang es ihm, eine Bedeutung in dem Geschauten zu erkennen. Er blickte gen Süden und sah den Rand eines vollkommenen Kreises auf einer weiten Grasebene sich erheben, und in diesem Rund erblickte er eine kleine Siedlung. Er sah Harruel in dieser Siedlung und seine Mutter, Minbain, und Samnibolon, der sein Halbbruder war, und er sah auch alle die anderen, die am Tage der Spaltung mit Harruel gezogen waren. Und dies war ihre Siedlung, die sie Yissou City genannt hatten. Dies alles wußte Hresh, indem er mit der Hilfe des Barak Dayir schaute. Sodann blickte Hresh in die andere Richtung, weit gen Norden hinauf, zu jenem Ort, von dem er wußte, dort müsse er spähen, um zu erkennen, was zu sehen ihm bestimmt war, und wahrlich, er schaute eine gewaltige Herde von Zinnobären in Bewegung, nach Süden drängend, und sie ließen die Erde erbeben, als rüttelten die Götter an ihren Festen; und bei den Zinnobären waren Leute vom Hjjk-Volk, eine unzählbare große Heerschar von ihnen, die gleichfalls südwärts zogen, und zwar auf einem Treck, der sie unweigerlich zu dem Ort und der Stelle von Yissou City führen mußte. Hresh nickte. Natürlich, dachte er, die Götter, die über uns herrschen, haben beschlossen, daß dieses so kommen soll, und wer dürfte hoffen, den Willen der Götter zu begreifen? Die Hjjk sind auf dem Marsch, und Harruels Siedlung liegt auf ihrem Weg. Schön und gut. Jaja. Damit war eigentlich nur zu rechnen gewesen.

Er stieg von den Höhen wieder herab und nahm sein Sensororgan von dem Barak Dayir; und dann saß er nur still eine Weile da und dachte bei sich, was für ein langer Tag dies doch sei, und daß er noch kaum seine Mitte überschritten habe. Dann schloß Hresh die Augen, und der Schlaf traf ihn scharf wie ein niederfallendes Schwert.

In so vielen Visionen hatte Salaman inzwischen den Überfall auf Yissou City gesehen, daß das tatsächliche Ereignis, als es dann wirklich über die Stadt hereinbrach, ihm als übermäßig bekannt erschien und zunächst in seiner Brust kaum Gefühle auslöste. Seit dem plötzlichen Überfall jener kleinen Hjjk-Vorhut, jener unseligen Bande von Kundschaftern, waren einige Wochen verstrichen; und Salaman war seit jenem Kampftag regelmäßig, Tag um Tag, mit Weiawala und Thaloin auf den Hochkamm hinaufgestiegen, um dort mit ihnen zu tvinnern und sein Bewußtsein auszuschicken, so daß er sich über das Vorrücken der heranziehenden Heerscharen unterrichten könne. Und nun waren sie fast schon da; und jetzt konnte man sie auch ohne die Hilfe des Zweiten Gesichtes sehen.

Bruikkos erspähte sie als erster — denn in letzter Zeit hatte Harruel Posten auf dem Kraterrand aufgestellt, die Tag und Nacht Ausschau hielten.

„Hjjks!“ schrie Bruikkos und kam kopfüber auf dem Kraterpfad in die Stadt gestürzt. „Da kommen sie! Es sind Millionen!“

Salaman nickte. Es war ihm, als brenne ein eisiger Stein in seiner Brust. Aber eigentlich fühlte er nichts: keine Furcht, keine Kampfeslust, keinen Stolz, daß seine Prophezeiung sich erfüllt habe. Nichts, einfach nur nichts. Er hatte diesen Augenblick schon viel zu viele Male vorher durchlebt.

Weiawala klammerte sich zitternd an ihn und klagte: „Was wird mit uns sein? Werden wir allesamt sterben müssen, Salaman?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, Liebste. Jeder von uns wird zehntausendmal tausend Hjjks töten, und die Stadt wird gerettet werden.“ Seine Stimme klang gleichgültig und gefühllos. „Wo ist mein Speer? Und schenke mir Wein ein, süße Weiawala. Wein bewirkt, daß Harruel besser kämpft; vielleicht wirkt er auch auf mich so.“

„Die Hjjks!“ kam von draußen heiseres Gebrüll. Bruikkos schlug gegen Türen und hämmerte gegen Wände. „Die Hjjk nahen! Sie sind da! Sie sind schon da!“

Salaman trank einen mächtigen Schluck des dunklen kühlen Weines, umgürtete seine Lenden mit seinem Schwert und griff nach seinem Speer. Auch Weiawala bewaffnete sich: es gab an diesem Tag keinen, der nicht kämpfen würde — außer den ganz kleinen Kindern, die man an einen Ort abseits gebracht hatte, wo sie aufeinander achthaben sollten. Seite an Seite verließen Salaman und Weiawala ihr kleines Haus.

Es war ein Tag mit einem kalten Hauch in der Luft, der erste solche, nach einer langen Periode mit feuchtwarmem Wetter. Aus dem Norden blies ein kräftiger Wind. Er trug einen Geruch von trockener Schärfe mit sich, den Hjjk-Geruch, beklemmend und aufdringlich, einen Geruch nach altem Wachs und rostendem Metall und toten zerbröselnden Blättern; und unter diesem stechenden Geruch lagerte ein weiterer, üppig, schwer und voll, der satte Moschusduft von Zinnobären, in den der Hjjk-Geruch verwoben war, wie scharfe scharlachrote Metallfäden grell in eine schwere Wolldecke gewirkt.

Harruel kam in voller Wehr und Rüstung aus seinem halbniedergebrannten Palast gehumpelt. Seit dem ersten Hjjk-Überfall hatte Harruel es sich angelegen sein lassen, stets und überall hin in dieser klobigunbeholfenen Manier eines im Kampf verwundeten Helden zu wanken; soweit allerdings Salaman wußte, war die einzige Verwundung, die Harruel abbekommen hatte, an seinem Oberarm gewesen. Und die Wunde war schlimm genug gewesen; doch Minbain hatte sie mit Kräutern und heißen Breiumschlägen gut behandelt, so daß die Wunde inzwischen zu einer gezackten roten Narbe in Harruels dichtem Pelz verheilt war.

Salaman fragte sich allerdings, ob Harruel an jenem Tag vielleicht eine andere Wunde davongetragen habe, eine viel tiefere Verletzung, vielleicht seines Herzens, die ihn dermaßen gelähmt und verkrüppelt hatte. Eines stand jedenfalls fest, seit damals war er noch düsterer geworden, noch grimmiger als sonst, und er bewegte sich auf diese merkwürdige neue ruckartige Weise voran, als verfügte er nicht länger über genügend Seelenstärke und Willenskraft, um seine Hüftbeine gerade zu halten.

Doch als er jetzt Salamans ansichtig wurde, verzog Harruel das Gesicht zu einem breiten Grinsen und winkte ihm beinahe fröhlichherablassend zu. „Mann, riechste den Gestank? Bei Yissou, ehe die Nacht hereinbricht, werden wir die Luft davon wieder befreit haben, Salaman!“

Die Aussicht auf einen Kampf schien Harruels Seele heiterer gestimmt zu haben. Salaman nickte ihm beipflichtend zu und hob seinen Speer zu einer halbherzigen Solidaritätsbekundung.

Harruel schien Salamans Gleichgültigkeit bemerkt zu haben. Denn der König humpelte zu ihm herüber und schlug ihn herzhaft auf den Rücken; es war ein Schlag von derart knochenerschütternder Heftigkeit, daß Salamans Augen vor Zorn blitzten und er den Hieb beinahe mit gleicher Wucht zurückgegeben hätte. Aber Harruel beabsichtigte weiter nichts, als ihn zum Kampf zu ermuntern. Er lachte. Sein Gesicht war vor Erregtheit ganz rot angelaufen und hing hoch über dem Salamans.

„Wir werden sie alle umbringen, alter Junge! Wie? Was! Dawinno soll sie holen, wir werden diese Kakerlaken millionenweise zerquetschen! Meinste nicht auch, Salaman? Du hast das schon lang kommen sehen, wie? Also, dein Zweites Gesicht, ehrlich, die reinste Zauberei! Sag mal, siehste vielleicht auch unseren Sieg schon?“ Harruel wuchtete sich um seine Achse und gestikulierte zu Minbain hinüber, sie sich am Säulenportal ihres Hauses herumdrückte. „Wein herbei, Weib! Bring mir Wein, und spute dich! Wir wollen auf den Sieg trinken!“

Weiawala sagte flüsternd zu Salaman: „Wozu will er noch mehr Wein saufen? Er ist doch jetzt schon betrunken!“

„Da bin ich gar nicht so sicher. Ich glaube, es ist eher die Erregung, daß er wieder in den Kampf zieht, die ihn trunken macht.“

„Die Euphorie des Sterbens, meinst du“, sagte Weiawala. „Denn wie könnten wir denn diesen Tag überleben? Irgendeiner unter uns?“

Und da begann auch Salaman klarzuwerden, daß er endlich erwachte, endlich zu begreifen begönne, was nun auf sie alle zukommen werde. Seine gleichgültige Erstarrtheit fiel von ihm ab. Ja, er war bereit zu kämpfen, und gut zu kämpfen, und er war bereit, tapfer zu sterben, sollte es nötig sein. Salaman spürte auf einmal, wie seine Seele in ihm sich plötzlich aufschwang und weitete, und er begriff, was in Harruels Herzen vorgehen mochte, jedenfalls begriff er es zum Teil.

Für Harruel muß das erste Eindringen der Hjjk eine brutale und bittere Störung, ein Stachel gewesen sein. Seine absolute Herrschaft als König, ja seine Mannheit als solche waren in Gefahr gebracht worden. Das Kind Therista war getötet worden; die Frau Galihine war dermaßen schwer verletzt worden, daß es besser gewesen wäre, sie wäre gestorben; der Palast war in Brand gesteckt worden; die meisten der Fleischtiere waren aus der Koppel freigekommen, und es hatte ewig gedauert, bis man sie wieder eingefangen hatte. Und auch wenn der Feind mit einer vernichtenden Niederlage zurückgeschlagen worden war, so wußte doch jedermann, daß ein viel mächtigeres Heer im Anmarsch war, dem die Stadt auf gar keinen Fall würde standhalten können. Harruels kleine geschlossene Welt war von außen her angegriffen worden, und bald würde sie vernichtet sein.

Während der letzten paar Wochen war der König wahrlich in düsterer Stimmung gewesen. Er hatte sich dermaßen dem Trunk ergeben, daß die Weinvorräte der Stadt allein dank Harruels Sauflust nahezu erschöpft waren. Nacht um Nacht war er allein und humpelnd im Krater umhergestreift und hatte die Luft mit seinem trunkenen wütenden Grölen erfüllt. Mit Konya, seinem getreuesten und liebsten Gefolgsmann, hatte er sich auf einen Faustkampf eingelassen, bei dem Blut floß. Er hatte jede einzelne Frau des Stammes zu sich auf sein Lager befohlen, zuweilen ihrer sogar dreie auf einmal, und doch — so wurde berichtet — gelang ihm nicht mit einer von ihnen die Kopulation. In den kurzen Augenblicken relativer Nüchternheit hatte er mürrisch düstere Andeutungen über seine Sünden und Fehltaten gemacht, die er begangen habe, und von der Strafe gesprochen, die er verdiene und die ihm bald von Hjjk zuteil werden müsse. Was allerdings Salaman bestürzt veranlaßte, sich zu überlegen, was das denn für Sünden wären, die er, Salaman, begangen hätte, oder Weiawala. oder das Kleinkind Chham; denn sterben würden sie allesamt, wenn die Hjjk Yissou City überrollten: Gerechte und Sünder, ohne Unterschied würden sie alle sterben.

Dennoch hatten sie alles ihnen Mögliche getan und sich auf den hoffnungslosen Kampf vorbereitet, der ihnen bevorstand. Die Zeit hatte nicht gereicht, um die Palisade auf dem Kraterrand ganz zu schließen, doch sie hatten eine kleinere Wehr errichtet: aus zugespitzten Pfählen, verbunden und gefestigt von Flechtwerk aus Reben, die den bewohnten Bereich der Stadt vollkommen einschloß. Dicht hinter dieser zweiten Palisade befand sich ein breiter und tiefer Graben, den Bretterstege überspannten, die man zurückziehen konnte, sobald die Eindringlinge sich näherten. Vom südlichsten Rand der Siedlung hatte man durch das dichte Unterholz einen schmalen Pfad gerodet bis in das verfilzteste Waldgebiet an einer der Kraterseiten; sollte alles andere fehlschlagen, so konnte die Bevölkerung noch immer einzeln oder zu zweit sich davonstehlen und sich im Wald zu verbergen suchen, bis die Hjjk-Armee der Suche nach ihnen überdrüssig würde und weiterzöge.

Aber mehr konnten die Verteidiger nicht tun. Sie waren nur zu elft, davon fünf Frauen, von denen eine verwundet war, und dazu eine Handvoll halbwüchsiger Kinder. Salaman hatte sich darauf eingestellt, daß dies der letzte Tag seines Lebens sein werde, und er hegte keinen Zweifel daran, daß die hochgemute Stimmung und Kraftprotzerei Harruels aus einem ähnlichen Erwartungszustand entspringen müsse. Doch obwohl Harruel ganz offensichtlich lebensüberdrüssig geworden war, bei Salaman war dies keineswegs der Fall. Mehr als einmal im Verlauf der jüngsten Tage hatte Salaman daran gedacht, Weiawala und Chham zu nehmen und mit ihnen sich nach Vengiboneeza und in die Sicherheit davonzuschleichen, ehe die Hjjk einträfen. Aber dies wäre Feigheit gewesen; und außerdem war es wahrscheinlich auch zum Scheitern verurteilt, denn es war ein Marsch von vielen Wochen bis Vengiboneeza, vorausgesetzt, er würde überhaupt dorthin finden können, und was gab es in dieser ausgedehnten wilden Wüstenei zwischen hier und dort für einen einzelnen Mann und ein Weib und ein kleines Kind schon für Hoffnung, den zahlreichen wilden Tieren zu entrinnen?

Also: Ausharren und kämpfen — Kämpfen und Sterben. Es gab keine andere Wahl!

Salaman bezweifelte zwar, daß die Hjjk ihnen wirklich gezielt Böses antun wollten. Nach seiner einmaligen frühen Begegnung mit dem Insekten-Volk, damals vor langer Zeit auf der Grasebene, kurz nach dem Auszug des Stammes aus dem Kokon, hatte er eigentlich die Überzeugung gewonnen, daß die Hjjk ziemlich abweisende, in sich gekehrte, leidenschaftslose Geschöpfe seien, unfähig zu derart komplexen irrationalen Gefühlsregungen wie Haß und Habgier, Raffsucht und Rache. Jene, die vordem Yissou City angegriffen hatten, kämpften auf seltsam unpersönliche, desinteressierte Weise und schienen keinen besonderen Wert auf das eigene Leben zu legen, wodurch Salamans Ansicht über sie nur noch bestätigt worden war. Den Hjjk lag an nichts anderem als daran, die Kontrolle nicht zu verlieren. Und hier und jetzt, in dem sich nahenden Fall, waren sie anscheinend nur auf einer großen Wanderung, und die Siedlung Yissou City lag dabei zufällig auf ihrem Wege und bedeutete somit eine unbekannte, jedoch klare Bedrohung für den Supremat der Hjjk; also würden sie diesen Störfaktor als ein Ärgernis ausradieren. Mehr steckte nicht dahinter. Wahrscheinlich würden die Hjjk heute gewaltige Verluste erleiden. Da ihrer aber dermaßen viele waren, würden sie den Sieg davontragen.

Harruels Verteidigungsplan sah vor, daß alle — außer den Kleinkindern und der verwundeten Galihine — den Feind oben am Kraterrand erwarten sollten. Wenn die Eindringlinge sich zu nahe heranschöben, würden die Verteidiger sich in die Waldzone dicht unterhalb des Kraterrandes zurückziehen und mit ihrer Hauptstreitmacht jeden Hjjk zu töten versuchen, dem es gelang, über die hastig aufgestellte Hilfsbarrikade aus Gestrüpp und kräftigen Schlingpflanzen zu klettern, mit welcher der Stamm seinen Krater umgeben hatte. Sollten zu viele Hjjk durchdringen, würde man sich mehr und mehr auf die innere Wehrpalisade zurückziehen; und sollte die Lage sich noch gefährlicher entwickeln, würde man sich entweder innerhalb der Stadt eingraben und der Hjjk-Belagerung zu widerstehen versuchen, oder aber sich über den Südpfad in die dichten Wälder absetzen, wo man verstreut und versteckt abzuwarten gedachte, bis man gefahrlos wieder herauskommen könnte.

Salaman erschienen diese listenreichen Taktikpläne allesamt absurd und sinnlos. Jedoch ihm selbst fiel auch nichts Erfolgversprechenderes ein.

„Alle Mann an den Rand!“ brüllte Harruel mit gewaltiger Stimme. „Yissou! Yissou! Die Götter mögen uns schützen!“

„Also komm, Liebste!“ sagte Salaman. „Gehn wir auf unsern Posten!“

Er hatte sich die Stelle erbeten, und sie war ihm gewährt worden, die am Kraterrand seinem persönlichen Ausguck am nächsten lag, jenem Hochsitz, von dem aus er die Visionen der hereinbrechenden Horden gehabt hatte. Er fühlte sich dieser Stelle zutiefst verbunden, und da er ziemlich gewiß war, daß er heute sterben würde, und zwar schon beim ersten Ansturm der Hjjk, wie alle anderen aus der Stadt, hatte er sich diese Stelle des Kraterrandes ausgesucht, um hier den Tod zu finden. Stumm kletterte er nun mit Weiawala dort hinauf.

Als sie den Rand erreicht hatten, hielten sie inne, denn dicht dahinter lag die Dornenbarriere, das Gestrüpp, das sie während der letzten Tage so mühsam aufgeschichtet hatten, um das Vordringen der Hjjk zu bremsen. Doch dann überkam ihn plötzlich ein merkwürdiger Anfall von Neugier, ein abrupter überwältigender Hreshianischer Drang, sich dem Unerwarteten zu stellen, und er sprang über den Rand und begann sich durch das Dornengestrüpp einen Weg zu bahnen.

„Waaas machst du denn da?“ schrie Weiawala. „Du sollst doch nicht da draußen sein, Salaman!“

„Ich muß sehen — einen letzten Blick.“

Sie rief ihm noch etwas zu, aber der Wind riß ihre Stimme mit sich fort. Er hatte die Barrikade nun hinter sich gelassen und lief auf seinen Hochsitz zu. Atemlos, stolpernd hastete er hinauf.

Von hier aus lag alles gut sichtbar unter ihm.

Im Süden lagen die rundbuckeligen grünen Berge. Im Westen lag fern die See, ein goldener Streifen in der frühnachmittäglichen Sonne. Und im Norden, wo sich ein weites Hochplateau unendlich bis zum Horizont erstreckte, sah er die Invasoren. Sie waren wohl immer noch eine, vielleicht auch zwei Marschstunden entfernt, aber über ihre Zielrichtung konnte es keinen Zweifel geben: sie strebten schnurgerade auf das weite Weideland zu, in dessen Mitte der Krater lag. Und es war eine unzählbare Masse. Zinnobären und Hjjk, Hjjk und Zinnobären, aus dem Norden ergoß sich eine erstaunliche, eine erschreckende Prozession von solcher Länge, daß Salaman ihr Ende nicht zu erkennen vermochte. Es gab da eine zentrale Marschkolonne von Zinnobären in dichter Formation, die Nasen der einen dicht am Schwanz derer vor ihnen; eine breitgefächerte flankierende Marschkolonne von Hjjks zu beiden Seiten der Tiere; und zwei weitere Zinnobären-Formationen am äußeren Rand der heranziehenden Streitmacht. Sowohl die Insekten-Wesen wie die riesigen Zotteltiere bewegten sich in straffer Ordnung und in stetigem Rhythmus vorwärts.

Salaman richtete sein Sensororgan auf und tastete vermittels des Zweiten Gesichts hinaus, um den Umfang seiner Wahrnehmungen über die nahende Streitmacht zu erweitern. Sofort bekam er die bedrückende bedrohliche Macht und Gewalt des nahenden Feindes in ganzer Stärke zu spüren: das unendliche lastende Gewicht der Überzahl.

Aber — was war denn das? Nun spürte er etwas Unerwartetes, etwas, das dem Klang der massiven Ausstrahlung zuwidertönte, die von der Invasorenarmee ausging. Er runzelte die Stirn. Er spähte nach rechts, in den dichten Urwald, der diesen Landstrich von jenem trennte, in dem Vengiboneeza lag.

Jemand kam aus dieser Richtung näher.

Er strengte sich stark an, um die Reichweite seines Zweiten Gesichts zu vergrößern. Verwirrt, bestürzt tastete er nach dem Ursprung der unerwarteten Sinneswahrnehmung. Er tastete sich weiter vor. weiter. weiter.

Berührte etwas, das strahlend war und mächtig und das er als die Seele des Hresh-Antwortfinders erkannte.

Er berührte Taniane. Berührte Orbin. Berührte Staip. Berührte Haniman. Berührte Boldirinthe. Praheurt. Moarn. Kreun.

Götter! Ja, waren sie denn allesamt dort? Der ganze Stamm? Aus Vengiboneeza kommend? Heute? Im Anmarsch auf Yissou City? Aber — Torlyri konnte er nicht ausmachen. Und er fand keine Spur von Koshmar, und dies verwirrte ihn sehr; doch nun fühlte er auch die übrigen, Dutzende, alle, die aus dem Kokon zusammen mit ihm ausgezogen waren beim Großen Aufbruch. Sie waren alle da, kamen alle immer näher.

Es war unglaublich! Sie kommen gerade rechtzeitig, dachte er, um mit uns zusammen von den Hjjk ausgelöscht zu werden. Wir sind alle gemeinsam in die Welt aufgebrochen — nun sollen wir also alle zusammen sterben.

Ihr Götter! Warum nur waren sie gekommen? Und warum mußte es ausgerechnet heute sein?

Der Tag des Aufbruchs aus Vengiboneeza war endlich gekommen — Wochen, nachdem der Beschluß dazu offiziell verkündet worden war —, und es war wie ein Donnerschlag gewesen, der lang nach einem verheerenden Blitz erst krachte. Nach all den Wochen voller auslaugender mühsamer Schufterei, als es schon beinahe so aussah, als werde der Abbruch der Siedlung endlos immer und immer weitergehen, war der Auszugstermin endlich greifbar nahe, der Tag war da; was unerledigt war, mußte nun für ewig unerledigt bleiben; denn wieder einmal, zum zweitenmal, würde das Volk zu einem großen Exodus aufbrechen.

Taniane trug die Maske, die der kundige Künstler und Bildwerker Striinin gefertigt hatte: die Maske der Koshmar, mit starken Kinnbacken, schweren Lippen, gewaltig ausschwingenden Wangenbeinen, mit dunkelschimmernder Oberfläche aus poliertem Ebenholz — nicht eine Porträtmaske der dahingegangenen ehemaligen Stammesführerin, sondern das Bild ihrer unbezwingbaren Seele, durch die die düsteren durchdringenden Augen Tanianes glühten wie Fenster, die sich zu weiteren Fensterfluchten öffnen. In ihrer Linken hielt Taniane den Stab des Aufbruchs, den Boldirinthe unter den Reliquien aus der Zeit des Auszugs aus dem Kokon ausgegraben hatte; in der rechten Hand hielt sie Koshmars Speer mit der Obsidianspitze. Sie wandte sich Hresh zu.

„Wie lange noch, bis die Sonne aufgeht?“

„Nur noch ein paar Minuten.“

„Sobald wir das Licht sehen, will ich den Stab erheben. Und wenn jemand zaudert, so schickt Orbin hin, er soll ihm einen Schubs geben.“

„Der steht bereits da hinten bereit und überprüft sie alle.“

„Wo ist Haniman?“

„Bei Orbin“, sagte Hresh.

„Er soll zu mir kommen.“

Hresh gab das Signal durch das Glied nach hinten bis zu Orbin, wies auf Haniman und nickte. Die beiden Krieger wechselten ein paar kurze Worte; dann kam Haniman in seiner seltsam schwerfüßigen Bewegungsart nach vorn gelaufen.

„Du willst mir was sagen, Hresh?“

„Nur einen Augenblick, ja?“ Hresh senkte die Augen in die Hanimans und hielt seinen Blick fest. „Es ist mir klar, daß du nicht gerade begeistert davon bist, mit uns fortzuziehen.“

„Hresh, nie.“

„Aber, ich bitte dich, nein, Haniman! Es ist doch kein Geheimnis für mich, daß du über den Auszug maulst und brummst, seit Koshmar ihn verkündete.“

Haniman wirkte verlegen und unsicher. „Aber habe ich jemals gesagt, daß ich nicht mitgehen will?“

„Gesagt hast du es nicht, das stimmt. Aber was dir auf dem Herzen liegt, war ja schließlich auch für keinen ein Geheimnis! Wir können auf dem Langen Marsch keine unzufriedenen Störenfriede brauchen, Haniman. Ich will dir also sagen, wenn du hierbleiben willst, dann bleibe.“

„Um unter den Beng zu leben?“ „Um unter den Beng zu leben, ja.“

„Mach dich nicht lächerlich, Hresh. Wohin das Volk geht, da will auch ich hingehen.“

„Bereitwillig? Guten Willens?“

Haniman zögerte. „Aus ganzem Herzen“, sagte er dann.

Hresh streckte ihm die Hand entgegen. „Wir brauchen dich nämlich, weißt du. Dich und den Orbin und Staip — ihr seid unsere Stärke von nun an. Und vor uns liegen Berge von Mühsal. Wir schicken uns an, eine Welt zu erbauen, Haniman.“

„Wieder zu erbauen, meinst du.“

„Nein. Wir bauen alles neu und von Anfang an. Neu. Alles beginnt neu! Von der alten Welt ist nichts übrig, außer Trümmern. Aber Menschen haben seit Millionen Jahren immer wieder neue Welten errichtet — über den Ruinen der alten. Und genau das werden wir tun müssen, wenn wir uns für Menschen halten wollen.“

„Wenn wir uns für — Menschen halten wollen?“

„Menschen, genau“, sagte Hresh.

Über den Spitzen der Gebirgswand tauchte plötzlich das erste rötliche Morgenglühen auf.

„Achtung! Marschbereit!“ rief Taniane. „In Reih und Glied! Abstand einhalten! Alle bereit?“

Haniman trabte an seinen Platz zurück. Taniane und Hresh übernahmen die Spitze, dahinter folgten die Krieger, dann die Arbeiter und die Kinder, und ganz am Schluß der Train, die Wagen, schwerbeladen, welche die riesigen sanften Zinnobären ziehen sollten. Hresh warf einen Blick zurück zu den hohen dunstumwehten Türmen Vengiboneezas und auf die breiten Flanken des Bergmassivs hinter ihnen. Am Rande der Siedlung standen einige Benge und schauten ihnen schweigend zu. Torlyri stand bei ihnen. Auf dem Kopf trug sie einen kleinen eleganten, spiegelblank blitzenden Helm aus Rotmetall. Was für ein seltsamer Anblick — Torlyri unter einem Helm! Hresh sah, wie sie die Hände hob und die heiligen Zeichen in die Luft schrieb: den Mueri-Segen, den Friit-Segen, den Emakkis-Segen. Den Segen Yissous. Er wartete, und als sie dann das letzte Segenszeichen schlug, das des Dawinno, trafen sich ihrer beider Augen, und sie sandte ihm ein warmes liebevolles Lächeln. Und dann sah er, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten, und sie wandte sich ab, trat hinter die behelmten Beng und entschwand seinen Blicken.

„Singt!“ rief Taniane. „Singt alle! Auf geht’s! Singt!“

Dies war vor Wochen gewesen. Das ruhmreiche Vengiboneeza schien nur mehr ein verblassender Traum, eine dünne Erinnerung zu sein, und Hresh bedauerte nicht mehr, daß er die dortigen wundersamen Schätze hatte zurücklassen müssen. Nicht ganz so glatt war er mit dem schweren Doppelverlust von Koshmar und Torlyri fertig geworden. Torlyris sanfte Wärme und Koshmars wilde Stärke — verloren gegangen wie durch eine furchtbare Amputation, und an der Stelle, die sie einst im Stamm eingenommen hatten, gähnte eine tiefe Leere. Immer noch fühlte Hresh Torlyris gütige Nähe schwach über dem Stamm schweben, während sie in süd- und westlicher Richtung von Vengiboneeza davonzogen, aber Koshmars Geist war fort, ganz und gar verschwunden, und dies zu ertragen, das war sehr schwer.

Keiner machte Taniane die Führung streitig, keiner zog seine eigene Stellung in Zweifel. Sie schritten an der Spitze des Stammes einher. Taniane erteilte die Befehle, doch sie beriet sich häufig mit Hresh, der an jedem Tag die Marschrichtung wählte. Es fiel ihm leicht genug, die Route aufzuspüren, denn wenn auch mehr als vier ganze Jahreszyklen verstrichen waren, seit Harruels kleine Horde hier dahingezogen war, so hing doch der Widerhall ihrer Seelen noch immer in den Wäldern, und mit ganz minimaler Unterstützung durch den Barak Dayir konnte Hresh sie mühelos hören und ihren Signalen folgen. Und nun, da sie das Waldland hinter sich ließen, benötigte er den Wunderstein gar nicht mehr, um Harruel zu finden. Das umdüsterte Herz des Königs dort drunten im Grasland strahlte eine grelle unüberhörbare Musik aus.

„Nur noch ein kleines Stück“, sagte Hresh. „Ich fühle ihre Nähe rings um mich herum.“

„Die der Hjjk?“ fragte Taniane. „Oder die Harruels und seiner Leute?“

„Beide. Die Hjjk in unendlicher Zahl, nördlich von uns. Und Harruels Stadt direkt vor uns, unterhalb von uns, dort in jener runden Vertiefung im Grasland. Genau in der Mitte, wo es dunkel ist von Vegetation.“

Taniane starrte vor sich hin wie blind. Nach einiger Zeit sagte sie: „Besteht überhaupt Hoffnung auf Erfolg, Hresh? Oder sollen wir alle von diesen Insektenmillionen verschlungen werden?“

„Die Götter werden uns schützen.“

„Ach ja? Werden sie es wollen?“

Hresh lächelte. „Ich habe sie alle einzeln befragt. Sogar Nakhaba.“

„Nakhaba!“

„Ich würde sogar den Gott der Hjjk anflehen, uns freundlich gesonnen zu sein, wenn ich seinen Namen wüßte. Und den Gott der Zinnobären. Den Gott der Wasserläufer, Taniane. Die Götter der Großen Welt. Den unbekannten, unenträtselbaren Allerschaffer, den Schöpfergott. Man kann gar nicht genug Götter auf seiner Seite haben.“ Er ergriff sie an ihrem weichen Oberarm und zog sie eng an sich, so daß sie die Überzeugung erkennen konnte, die in seinen Augen glomm. Mit leiser Stimme sagte er dann: „Alle die Götter werden uns heute beschützen, denn was wir tun, tun wir auf ihr Geheiß. Aber seinen ganz besonderen Schutz wird uns Dawinno zuteil werden lassen, der eine ganze Welt entvölkert und vernichtet hat, auf daß wir sie als Erbe übernehmen können.“

„Du scheinst dir da dermaßen sicher zu sein, Hresh. Ich wollte, ich könnte dies ebenfalls.“

Sicher? Einen wilden Augenblick lang fühlte er sich von Zweifeln überwältigt und fragte sich, ob er wirklich auch nur ein Wort von dem glaube, was er da gesagt hatte. Die Wirklichkeit ihres Unterfangens, das sie sich da aufgeladen hatten, schien ihm auf einmal voll bewußt zu werden, und seine Willenskraft, die ihn bis hierher getragen hatte, schien zu erlahmen. Vielleicht kam dies von den Ausstrahlungen jener unzähligen Hjjk in weiter Ferne, die auf seine Seele niederprasselten. Oder aber es war einfach die plötzliche Erkenntnis, welch eine nie endenwollende Arbeit ihm bevorstehe, wenn er alles das leisten wollte, was zu erschaffen er sich erhoffte.

Er schüttelte sich den Kopf frei. Nein, sie würden am heutigen Tage obsiegen — und an allen künftigen Tagen. Er dachte an seine Mutter, Minbain, dort unten in dem Grasland, und er dachte an Samnibolon, seinen Bruder, Harruels Sohn, der den Namen von Hreshs lange totem Vater in eine neue Ära hinübertragen sollte. Nein, er würde nicht zulassen, daß sie alle heute stürben.

„Hier sollten wir das Lager aufschlagen“, beschied er Taniane. „Dann werden wir zwei allein weiter vorstoßen und die Verteidigungsmaßnahmen aufbauen.“

„Aber wenn uns Feinde entdecken, und wir gehen zugrunde, während wir dort draußen alleine sind, wer wird dann den Stamm führen?“

„Der Stamm hatte schon Anführer vor uns. Der Stamm wird auch nach unserem Tod Anführer finden können. Und außerdem, nichts wird uns an Übel geschehen, während wir tun, was wir tun müssen.“ Hresh ergriff sie an beiden Armen, genau wie sie ihn am Todestag Koshmars gehalten hatte, und verströmte Kraft in sie hinüber. Tanianes Schultern strafften sich, ihre Brust hob sich heftiger mit ihrem volleren Atem. Dann lächelte sie und nickte. Sie wandte sich um und gab das Zeichen, das Volk möge anhalten und hier für die Nacht lagern.

Es dauerte eine Stunde, ehe alles zur Ruhe kam.

Dann übertrugen sie Boldirinthe und Staip das Kommando, und dann schlichen sich Hresh und Taniane ein Stückchen weit in westliche Richtung davon, bogen dann rechts ab und zogen in nördlicher Richtung weiter auf das schaufeiförmige Flachplateau zu, das zwischen den Heerscharen der Hjjk und der von Harruel gegründeten Siedlung lag. Die Schatten wuchsen bereits länger, ehe Hresh den Ort erreichte, der ihm als am günstigsten erschien, um in den kreisrunden wallumzingelten Ort hinabzuschauen, den Harruel sich als Wohnsitz gewählt hatte. Aus dieser geringeren Entfernung erkannte Hresh, daß die geologische Rundformation eine Art Krater oder Trichter sein müsse, höchstwahrscheinlich hervorgerufen durch den Aufprall einer aus gewaltiger Höhe herabstürzenden Masse. Ja, höchstwahrscheinlich war hier ein Ort, auf den ein Todesstern niedergegangen war. Hresh bedachte dies eine Weile bei sich und überlegte, ob die Materie des Todessternes vielleicht dort noch immer begraben liegen könnte. Aber im Augenblick hatte er nicht die Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen.

Sie hatten mit sich gebracht ein Instrument aus der Zeit der Großen Welt. Hresh hatte es an einem Ende getragen. Taniane am anderen: diesen metallenen Hohlzylinder, an dessen einer Seite diese seltsame Haubenkappe war, in der ein Bereich unbegreiflicher Schwärze gefangenlag, und an deren Öffnung ein grelles Licht zischelte und knisterte. Hresh trug das Haubenende, Taniane den Fuß. Das Metall fühlte sich warm an, und Hresh fragte sich, was für Zauberwerk in dem Ding eingesperrt sein mochte, und wie er dem jemals auf die Schliche kommen könne, ohne in seinem Forscherdrang hinweggeführt zu werden, wohin immer die Rohre jene katapultierte, die ihr zu nahe kamen.

„Hier, meinst du nicht auch?“ fragte Hresh.

„Noch etwas näher an die Siedlung heran“, sagte Taniane. „Wenn dein Plan funktioniert und die Hjjk in Verwirrung gestürzt werden, können wir von der einen Seite über sie hereinbrechen und Harruel und seine Krieger von der anderen.“

„Gut“, sagte Hresh. „Wir gehen ein bißchen näher ran. Und, Taniane, mein Plan wird Erfolg haben. Ich weiß es!“

Also gingen sie ein Stück näher heran. Inzwischen senkte sich allmählich Dunkelheit über das Land. Taniane wies auf eine etwas erhöhte Stelle mit einer flachen Felsplatte, auf der sie den Tubus aufbauen konnten, und es lagen auch weitere Gesteinsbrocken umher, mit denen sie das Gerät abstützen konnten. Hresh brachte es in Position. Sobald es senkrecht stand, erwachte das Instrument zum Leben und knisterte von rätselhaften Lichterfunken. Und wieder verspürte er diese heimtückische Verführungskraft, die von dem Ding ausging, fühlte seine raffinierte Verlockung. Aber er war bereit und gewappnet dagegen und streifte den Sog von sich ab. Er trat zurück und prüfte die Funktionsbereitschaft des Apparates, indem er einen Stein auf die Haube zu schleuderte. Der Lichtring blitzte bläulich auf und rot und in heftigem Purpurrot, und der Stein verschwand mitten in der Luft.

Hresh murmelte einen Dankspruch an die Adresse Dawinnos. Er war dem Gott zwar sehr verbunden für die von ihm gewährten Gunstbeweise, doch inzwischen schwoll in ihm auch mehr und mehr eine leise Selbstzufriedenheit an. Der Plan würde funktionieren.

„Aber wie willst du die Hjjk heranlocken?“ fragte Taniane.

„Das überlaß ruhig mir“, sagte Hresh.

Harruel begriff nicht, konnte nicht begreifen, was los war. Die ganze Nacht hindurch hatten er und sein Volk wartend am Kraterrand ausgeharrt und gesehen, wie die Hjjk immer näher und näher herangerückt kamen, dann bei Sonnenuntergang haltgemacht hatten, und zwar in der offensichtlichen Absicht, erst bei Anbruch des nächsten Morgens auf den Krater vorzustoßen. Er hatte sich darauf eingestellt gehabt, heute, an diesem Tage, zu sterben, wenn das Hjjk-Volk in voller Wucht zum Angriff auf Yissou City ansetzte, und — um die Wahrheit zu gestehen — er war nicht nur zum Sterben bereit, sondern er sehnte sich geradezu danach, denn alle Lebenslust und alle Freude waren ihm vergällt. Und nun war die Morgendämmerung gekommen, und mit ihr der Angriff, sozusagen. Jedoch hatte er angenommen — und auch Salaman und Konya hatten es erwartet —, daß die Hjjk stumpfsinnig-brutal in planmäßiger Schlachtordnung angreifen würden, wie blindwütige Ameisen; denn etwas anderes waren sie ja m Grunde nicht, eine Art von Ameisen, wenn auch von vergrößerter Körpergestalt und mit weit höherer Intelligenz ausgestattet.

Statt dessen aber sah es so aus, als hätte die Hjjk ein kollektiver Wahnsinn befallen.

Ihre Stoßrichtung mußte sie direkt ins Zentrum des Kraters bringen. Aber während Harruel nun benommen und ungläubig zusah, löste sich ihre Schlachtreihe auf. Die Kampfkolonnen zerstreuten sich und schwärmten wirr und ungeordnet umher. Benommen stierte Harruel hinaus auf die Hjjk, die wirr in alle möglichen Richtungen über die Ebene rannten, kleine Grüppchen bildeten, die sofort wieder auseinanderbrachen und sich neu formierten und wieder auseinanderstoben. Alle schienen ziellos und kopflos um einen festen Kampfkern herumzuirren, der anscheinend standzuhalten schien inmitten der ganzen brodelnden, wogenden Masse.

War das eine List? Aber zu welchem Zweck?

Aber auch die Zinnobären schienen vom Wahnsinn befallen worden zu sein. Im ersten Frühlicht war Salaman mit der bestürzenden und verwirrenden Meldung zu Harruel gekommen, daß er gesehen habe, wie diese Riesentiere allesamt gen Westen davongedonnert und in den unwirtlichen Schluchten und Moränen verschwunden seien, die dort lagen. Doch wenig später erwies es sich deutlich, daß nur etwa die Hälfte der Zinnobären dorthin geflüchtet war. Die übrigen waren ausgebrochen und wanderten nun zu zweit oder dritt, oder auch ganz allein, überall auf dem Plateau im Norden umher. Aber ringsum herrschte völlige Verwirrung. Und natürlich war es noch immer eine Gefahr, derart viele Tiere dieser Größenordnung irgendwo in der Nähe der Stadt umherstreunen zu lassen. Eines jedenfalls schien sicher zu sein: Die Hjjk würden nicht mehr in der Lage sein, ihre Monster in geordneter Kampfformation auf den Krater zu und in ihn hinein als Kampfmaschinen einzusetzen. Die Hjjk hatten die Kontrolle über ihre Zinnobären völlig verloren. Und — wie es den Anschein hatte — auch über sich selbst.

Harruel schüttelte den Kopf. „Was kann sie bloß soweit bringen?“ fragte er Salaman.

„Hresh — glaube ich.“

„Hresh?“

„Ja. Er ist irgendwo in der Nähe.“

„Ja, bist du denn auch schon verrückt geworden?“ brüllte Harruel.

„Ich hab ihn in der vergangenen Nacht gespürt“, sagte Salaman. „Als ich oben auf meinen Hochsitz saß, wo ich die allererste Vision bekam von diesen Heerscharen, die nun rings um uns herumtoben. Ich sandte mein Zweites Gesicht aus und fühlte, daß Hresh ganz in meiner Nähe sei. Und andere von Koshmars Stamm ebenfalls, fast alle. Nur Koshmar selber nicht — und Torlyri. Sie sind unserer Spur durch den Wald gefolgt, und sie befanden sich direkt östlich von der Stadt.“

„Du bist so wahnsinnig wie die Hjjk da draußen“, knurrte Harruel. „Hresh sollte hier sein? Und das Volk?“

„Da, schau doch mal dort hinaus!“ sagte Salaman. „Wer hätte so etwas bei den Hjjk und ihren Zinnobären bewirken können? Wer, außer Hresh? Meine allererste Vision hat mich nicht getrogen, Harruel. Also vertraue mir auch hierin!“

„Hresh!“ brummte Harruel. „Und der sollte herkommen und uns unseren Krieg auskämpfen? Ja, wie denn, wo denn, was denn? Wie könnte so was geschehen? Wie?“

Und dann stand er da und glotzte vor sich hin, und während die Sonne höher heraufstieg, versuchte er in dem, was da im Norden geschah, irgendwie einen Sinn zu entdecken, so unbegreiflich es ihm auch erscheinen mochte. Das von Osten nun gewaltig heranströmende Licht erhellte mittlerweile die Hälfte des Plateaus. Ja, in dem Wirrwarr gab es tatsächlich einen festen Kern: die Hjjk schienen allesamt eifrig darum bemüht zu sein, an eine etwas erhöhtere Stelle als die andern zu gelangen, über dem gigantischen chaotischen Massenbrei von Insektenähnlichen, der sich da bereits angesammelt hatte. Harruel bemühte sich, Hresh irgendwo zu erspähen, doch von dem war nirgendwo etwas zu sehen. Salaman muß ihn sich erträumt haben, dachte er.

Thaloin kam vom Ostrand des Kraters angerannt. Sie fuchtelte wild mit den Armen. „Harruel! Harruel! Hjjks an der Ostflanke. Konya wehrt sie ab, aber komm! Komm schnell!“

„Wie viele?“

„Nur ein paar. Ich glaube nicht mehr als etwa hundert.“

Salaman lachte. „Hundert — das sind nur ein paar, ja?“

„Wenig genug, verglichen mit dem, was da draußen auf dem Feld steht.“ Harruel packte Salaman grob an der Schulter und rüttelte ihn. „Komm mit, Mann, wir müssen Konya raushelfen! Thaloin, gib die Parole weiter über den Festungsring, daß die Hjjk von Osten her durchzubrechen versuchen!“ Er machte kehrt und stürzte auf die Kampfzone zu.

Harruel entdeckte, daß Thaloins zahlenmäßige Schätzung um etliches falsch war. An die dreihundert Hjjkkämpfer — eine Splittergruppe, die sich von dem in Auflösung begriffenen Hauptheer abgesetzt hatte — waren auf den Kraterwall zugestoßen und kamen nun heraufgeklettert. Sie hatten ein paar Zinnobären bei sich, nicht viele, doch genügend, um die Brustwehr aus Dornengestrüpp niederzutrampeln, die man zur Abwehr von Eindringlingen an der äußeren Kraterkammseite errichtet hatte. Konya wirkte riesenhaft und warf einen langen Schatten, wie er da den Kamm auf und ab stampfte und auf schwarzgelbe Soldaten mit gewaltigen Kneifkiefern eindrosch, die an allen möglichen Stellen über dem Rand auftauchten. Nittin war bei ihm und, zu Harruels Erstaunen, auch Minbain mit ihrem gemeinsamen Sohn, Samnibolon. Allesamt wehrten sie mit kräftigen Stößen die Eindringlinge ab.

Der König sog heftig die Luft in seine Lungen und stürzte sich dann mit seinem Kampfruf mitten ins Getümmel: „Harruel! Harruel!“

Ein Hjjk bäumte sich vor ihm auf und wackelte mit seinen glitzernden Gelenkbeinen. Harruel hieb ihm einen Arm ab, mit einem einzigen raschen Streich seiner Klinge, und legte den Speer ein und stieß den Hjjk rücklings den Hang hinab. An seiner Stelle tauchte ein neuer auf, und auch diesen zerschmetterte Harruel. Ein dritter fiel Salaman zum Opfer, der dicht bei ihm kämpfte. Harruel blickte zur Seite und sah, wie Samnibolon tapfer draufloshackte. Und wieder einmal kämpfte sein Sohn herrlich und heldenhaft und nicht wie ein Kind, mit einer Flinkheit und Geschicklichkeit, die seine Jahre weit überstiegen.

„Harruel!“ grölte der König, der volle hitzige Kampfeswahnsinn hatte ihn nun gepackt. „Harruel! Harruel!“

Er blickte über den Kraterhang hinab. Überall an den Wallflanken krabbelten die Hjjk umher, Hunderte von ihnen. Doch sie gingen planlos vor und bewegten sich wirr und ziellos. Nein, einen nach dem anderen, oder nötigenfalls auch zwei gleichzeitig, oder drei, wie damals bei jener ersten Schlacht.

Die anderen Hjjk, das Gros, die überwältigende massive Mehrzahl von ihnen, strebte noch immer auf jenen erhöhten Punkt auf dem Plateau zu. Sie wirbelten dort inzwischen herum, als wäre es ein Ameisenhaufen. Einen Augenblick lang brach der wahnwitzige Wirbel auf, und Harruel erhaschte einen Blick auf etwas metallisch Blitzendes, das sich inmitten des Gedränges befand, und er sah ein vielfarbiges scharfes Lichterblitzen; und dann drängten und rollten die Hjjk wieder zusammen, und was immer dort in der Mitte ihres Schwarmdrängens sich befinden mochte, war seinem Blick entzogen. Ferner gewann er den Eindruck, daß andere Hjjk, die sich in weiterer Entfernung befanden, mittlerweile vom Kampfplatz wegstrebten — nach Norden zurückeilten, oder nach Osten in den Wald, oder in weitem Bogen um den Krater herum auswichen und südwärts strebten — irgendwohin, solange es nur nicht in eben diese Richtung, auf den Krater zu, war, solange sie nur aus diesem wahnwitzigen Schauspiel entrinnen konnten, das für ihr auf Disziplin und Ordnung getrimmtes Denkvermögen so widerwärtig wirken mußte.

Es gab also doch Hoffnung. Wenn die Verteidiger der Stadt den Krater gegen diese relativ kleine Handvoll Hjjkkrieger zu halten vermochten, bestanden gute Chancen, daß sie diesen Tag lebend überstehen würden!

Harruel grinste, während er zwei weitere Hjjk niedermachte, die wie Gespenster vor ihm auftauchten.

Dann klopfte ihm Salaman auf den Arm. „Siehst du das dort? Nein, dort, Harruel! Am Waldrand?“

Harruel kehrte sich nach Osten und starrte in die Richtung, die Salaman ihm wies. Zunächst sah er gar nichts, denn er starrte direkt in den Feuerglast der Morgensonne. Dann aber fiel ihm ein, er könne sich die Augen mit der Hand beschirmen, und er versuchte es mit dem Zweiten Gesicht, und ja doch — aber ja.

Dort waren Leute. Vertraute Gestalten. Orbin. Thhrouk. Haniman. Staip. Praheurt. alles Krieger! Und Hresh. Taniane. Das Volk! Sie kamen aus dem Wald hervor, kamen heraus und näherten sich dem Krater! Sie kämpften sich den Weg zu seiner Stadt frei, zerschmetterten und schlugen die Hjjk nieder, wo sie sich ihnen in den Weg stellten. Verbündete! Verstärkung!

Aus Harruels Kehle drang ein gewaltiger Schrei.

Die Götter hatten ihn nicht verlassen! Nein. Sie hatten ihm an diesem Tag der Not und Gefahr seine Freunde zu Hilfe gesandt! Ihm waren alle seine Fehltaten vergeben. Er war aus der Schuld erlöst. Er sollte verschont sein!

„Yissou!“ grölte er. „Dawinno! “

„Links von dir, Harruel!“ sagte Salaman plötzlich.

Er blickte dorthin. Fünf Hjjk und ein Zinnobär, hochragend wie ein Berg. Harruel stürzte sich wütend mitten unter sie und hieb wild nach allen Seiten um sich. Und dann war Salaman bei ihm, und auch Konya nahte.

Etwas fuhr ihm brennend wie Feuer über den bereits einmal verwundeten Arm. Er wirbelte herum, sah, wie der Hjjk erneut ausholte, um ihm das Fleisch zu zerfetzen, und so zersäbelte er ihm die Gurgel querdurch. Dann bekam er einen Stoß in den Rücken. Sie waren jetzt überall um ihn herum, sie wucherten den Hang herauf wie Unkraut! Salaman rief seinen Namen, und Harruel wandte sich erneut um und schlug noch in der Bewegung zu. Umsonst. Umsonst. Die waren ja überall. Die Zinnobärbestie bäumte sich schnaubend auf. Als die gewaltigen Beine niederfuhren, quetschten sie einen Hjjk platt. Harruel lachte. Wieder und wieder und wieder stieß und schlug er zu. Es war zu früh, die Hoffnung sinken zu lassen. Und wir werden sie töten — einen nach dem anderen, jawohl! Aber dann zerschnitt ihm etwas Scharfgezahntes den Rücken, und etwas genauso Scharfes stach ihn in den Schenkel. Von dem Schock begann er zu zittern und zu zucken. Er hörte Stimmen, Salamans Stimme, die von Konya — und Samnibolons kindliche Stimme. Sein Name, immer wieder. Er schwankte, stürzte beinahe, fing sich wieder, machte noch ein paar taumelnde Schritte. Er schwang seine Klinge und durchschnitt nur Luft. Aber er gedachte weiterzukämpfen, bis er zu Boden ging. Er konnte ja doch nichts sonst als kämpfen. Und seine Stadt würde leben, auch wenn er selbst nicht überlebte. Ihm war verziehen, er war erlöst. „Dawinno!“ brüllte er. „Yissou! Harruel!“ Blut strömte ihm über die Stirn. Und nun rief er nicht mehr Yissou an, sondern Friit-Heiler; und dann Mueri, die Trösterin. Aber immer noch kämpfte er weiter und hackte und stieß und säbelte. „Mueri!“ brüllte er, und noch einmal: „Mueri!“ Das zweitemal war es etwas leiser. Es waren der Feinde zu viele. Das war die einzige Schwierigkeit: Es — waren — einfach — zu — viele.

Aber die Götter hatten ihm seine Fehltaten vergeben.

Niemals zuvor hatte Hresh sich so seiner selbst sicher gefühlt wie in diesem Augenblick, da sich die Dämmerung zur Nacht verdichtete und die Schlacht bevorstand. Er war mit Taniane allein auf diesem weiten Grasfeld. Er hatte den Barak Dayir aus dem Sammetbeutel geholt — Taniane quollen fast die Augen aus dem Kopf vor Furcht und brennender Neugier, wie sie dies jedesmal so glühend-begierig getan hatte, wenn er den Wunderstein vor ihren Augen enthüllt hatte —, und dann hatte er ihn in die Biegung seines Sensororgans gelegt.

„Und jetzt sei mal still, während ich das da mache!“ befahl er ihr.

Er schloß die Augen. Er griff hinüber in das Heer der Hjjk — ihr Götter, da waren ja Myriaden und Abermyriaden von ihnen! — und suchte geduldig zwischen ihnen herum, wählte aus und sortierte ihre dürren, unangenehmen Seelen, bis er fand, wonach er gesucht hatte: ein Paar, das sich von der Marschkolonne abgesondert hatte, um dem Kopulationstrieb nachgeben zu können. Denn schließlich mußte es ja in diesen Unmassen wenigstens einige wenige geben, die auch mal eine Pause einlegten und sich dieses Vergnügen gönnten. Wie sich herausstellte, entdeckte Hresh mehr als nur ein paar.

Eine Partnerkombination insbesondere hatte sich tief in den Akt und die Aktivität verstrickt — sozusagen mit Herz und Hand, mit Seele und Schnabel, mit Bauch und Beinen und Brustschild und Bauchschwingung — und war konvulsivisch mit Umarmungen beschäftigt. Hresh konstatierte es mit Schaudern. Das Weibchen war wuchtiger als das Männchen und hielt den Sexualpartner mit einem dermaßen seltsamen Würgegriff gefangen, als beabsichtige sie nicht etwa die Kopulation mit ihm, sondern als wollte sie ihn vielmehr auffressen. Aus dessen Leib waren rasch kleine Organe ausgetreten, die sich dann in bestürzender nervöser Hektik über die unteren Leibespartien des Weibchens bewegten. Es war recht scheußlich-fremdartig als Akt. Und dennoch, während Hresh dem zusah, empfand er es immer weniger als befremdlich. Die Körpergestalt, die Gliedmaßen und die Organe dieser Hjjk waren sehr anders als alles ihm sonst Bekannte, gewiß, doch der Trieb, der Drang, der Zwang, der diese zwei Geschöpfe zueinander hinzog, war nun wirklich nicht dermaßen anders als das, was ihm Taniane als begehrenswert erscheinen ließ, oder ihn für sie attraktiv machte. Diese zwei Hjjk strahlten ein starkes Verlangen nach Vereinigung aus; wahrscheinlich das hjjkische Äquivalent zu unserer Lust, dachte Hresh. Und dann eine zweite Ausstrahlung, die anscheinend die hjjkische Variante von Leidenschaft und Erfüllung der Lust darstellte.

Schön. Sehr gut. Genau so etwas hatte er zu finden gehofft.

Von diesen zwei kopulierenden Insekten hatte Hresh den Extrakt ihrer lustvollen und leidenschaftlichen Sexualemanationen gewonnen und mit Hilfe des Barak Dayir tief in sein Eigenbewußtsein aufgesogen. Und sobald er es sich verinnerlicht hatte, erschien ihm dieses fremde Lustverhalten in keiner Weise mehr als absonderlich und abstoßend; er verstand es jetzt, und er respektierte es. Ja, in diesem einen Augenblick hätte er auch gut und gern ein Hjjk sein können.

Aber er behielt diese Wesensextrakte nicht lange in sich. Er ließ sie weiterkreisen, er verwob sie zu einer wirbelnden Kraftsäule, die sich wie ein gewaltiger Turm bis in die Himmel erhob; und diesen Kraftturm plazierte er genau über dem Metalltubus, den er aus Vengiboneeza mitgeschleppt hatte.

Und dann sandte er seine Sucher ein zweitesmal ins Lager der Eindringlinge und ertastete dort ein Zinnobär-Weibchen, das an eben diesem Tag in ihre Brunftperiode gekommen war. Die Zinnobärin stand mit dem Hinterteil dicht an einem hohen Baum und stieß ein gräßliches gurgelndes Grölen und Schnauben von Liebesseufzern aus, und sie trampelte mit ihren schwarz-zehigen Beinen, und ihre gewaltigen Segelohren flatterten wie zum Trocknen aufgehängte Laken im Wind. Drei, vier riesenhafte scharlachrote Männchen trabten aufgeregt um sie herum. Hresh drängte sich zwischen sie und holte sich von dem Weibchen die Essenz ihrer Brunft, internalisierte sich dies gleichfalls und intensivierte sie auf das Fünfzigfache. Auch daraus konstruierte er eine Säule und plazierte sie weit nach Westen, wo das Plateau abbrach und in ein Trümmerfeld von Steinen und Felsbrocken und Gebirgsbächen überging.

„So“, sagte Hresh zu Taniane. „Jetzt ist alles bereit. Ich hab getan, was ich konnte. Das übrige liegt jetzt bei den Kriegern.“

Das war erst vor wenigen Stunden gewesen, in stockdunkler Nacht. Dann war das Morgengrauen heraufgezogen und mit ihm die Schlacht. Und nun war alles vorbei.

Hresh wanderte über das Schlachtfeld, Taniane neben ihm, auch Salaman und Minbain waren dabei. Keiner sprach. Ein Schleier von Tod und Verwirrung hatte sich über alles gebreitet — und eine große Stille. Worte schienen unangemessen.

Die Hjjk waren fort. Hresh hätte nicht sagen können, wie viele von ihnen in die seltsame Lichtröhre mit ihrer noch seltsameren Dunkelheit im Innern verschwunden waren, doch waren es wohl Tausende gewesen, vielleicht sogar viele Tausende. Sie waren in schrecklicher wütender Hast auf das Instrument zugestürzt und von überall her darauf zugeeilt, doch es hatte sie mit unersättlicher Gier verschlungen, sobald sie in den Kraftkreis gerieten, und sie waren verschwunden. Die übrigen, jene, die von dem Apparat nicht angezogen wurden oder in Panik von ihm fortgehetzt waren, waren gleichfalls fort und in alle Winkel der Erde geflohen. Und die wenigen, die den Kraterrand zu ersteigen versucht hatten, waren von Tanianes Kriegern niedergemacht worden, als sie vorbeikamen, oder von Harruels Verteidigern getötet, die auf der Krone auf sie warteten.

Auch die Zinnobären waren in alle Winde zerstreut. Von der ganzen erstaunlichen Riesenherde sah man etwa nur noch ein Dutzend Tiere ziellos da und dort über das Plateau umhertaumeln. Fein, die konnte man umzingeln und einfangen und sie zähmen und so dem Gemeinwohl des Stammes nutzbar machen. Wie es schien, waren die übrigen Männchen ausnahmslos in das westliche Hinterland gerast, auf der Suche nach dem brunftigen Weibchen, das sie dort zu finden hofften, und die anderen Weibchen waren, vielleicht verwirrt oder verärgert durch diese aberwitzige Stampede, ebenfalls davongezogen, zurück in die Wildnis, aus der die Hjjk sie geholt hatten. Jedenfalls waren sie nicht mehr da.

Hresh lächelte. Es hatte so gut geklappt! Es hatte perfekt funktioniert!

Und die kleine Stadt — Yissou City nannten sie sie —, die kleine Siedlung war gerettet.

Er schaute sich um. Haniman saß still an einen rosenroten Felsblock gelehnt und betupfte sich ab und zu eine Schnittwunde an der Stirn.

Seine Augen waren ganz glasig vor Übermüdung. Er hatte gekämpft wie ein Dämon, ja, das hatte der Haniman. Hresh hätte nicht geglaubt, daß in ihm dermaßen viel Ausdauer stecken könnte. Etwas weiter weg lag Orbin und schlief tief und fest. Mit einer Hand hielt er ein abgesäbeltes Hjjk-Bein fest, eine scheußliche Trophäe. Auch Konya schlief. Und Staip. Es war ein Tag voll schrecklichen Kampfes und voller Widersprüchlichkeiten gewesen.

Hresh wandte sich an Salaman. Der stille Krieger, den er in alten Zeiten kaum gekannt hatte, wirkte nun ganz verwandelt, rundum gewachsen: ein Mann voller Kraft und Kundigkeit und Können, ein Gigant.

„Wirst du nun König sein?“ fragte Hresh ihn. „Oder dir sonst einen anderen Titel zulegen?“

„König, das will ich sein“, sagte Salaman ruhig. „Über ein Volk, das sich an den Fingern zweier Hände abzählen läßt. Doch ich denke, ich werde König sein. Er klingt gut, der Name ‚König‘. Wir halten etwas von Königen in dieser Stadt und achten sie. Und wir werden die Stadt umbenennen — werden sie ‚Harruel‘ nennen, zu seinen Ehren, der König war vor mir, obgleich ich hoffen möchte, daß Yissou auch weiterhin ihr Beschützer bleiben wird.“

„Harruel ist der einzige Gefallene?“ fragte Hresh.

„Der einzige. Er stürzte sich unter die Hjjks, wo das Getümmel am dichtesten war, und schlug sie, als zerquetschte er Fliegen, bis es auf einmal zu viele für ihn wurden. Wir konnten nicht rechtzeitig zu ihm vorstoßen, um ihm zu Hilfe zu kommen. Aber er starb als Held!“

„Er wollte sterben“, sagte Minbain.

Hresh wandte sich seiner Mutter zu. „Das glaubst du?“

„Die Götter gönnten ihm keinen Frieden mehr. Er lebte in beständiger Pein.“

„Aber in seiner letzten Stunde strahlte er“, sagte Salaman. „Ich habe sein Gesicht gesehen. Es ging ein Leuchten von ihm aus. Was immer an Schmerz ihn gequält haben mochte, es war von ihm genommen in seinem letzten Augenblick.“

„Mueri mache es seiner Seele leicht“, murmelte Hresh.

Salaman zeigte auf die Stadt. „Werdet ihr eine Weile bei uns bleiben?“

„Ich glaube, nein“, antwortete Hresh. „Wir wollen heute abend mit euch ein Fest feiern. Doch danach wollen wir weiterwandern. Hier ist eure Stadt und Stätte. Wir dürfen euch hier nicht lange zur Last fallen. Taniane führt uns gen Süden, und wir werden uns dort einen eigenen Platz suchen, bis wir wissen, wohin die Götter uns als nächstes bringen wollen.“

„Also ist Taniane euer Häuptling“, sagte Salaman erstaunt. „Nun, das war ja wohl immer ihr Traum. Wie ist Koshmar gestorben?“

„Sie starb an ihrer Trauer, glaube ich. Und an Überdruß. Aber sie starb auch, weil sie erkannt hatte, daß ihre Aufgabe erfüllt war. Koshmar lebte als eine Edelin, und sie starb als eine Edle. Sie führte uns aus dem Kokon nach Vengiboneeza, und sie sandte uns von dort weiter zu unserem neuen Ziel, wie die Götter es ihr bestimmt hatten. Sie war ihnen eine getreue Dienerin. Ihnen und dem Volk.“

„Und Torlyri? Ist etwa auch sie tot?“

„Die Götter mögen es verhüten!“ sagte Hresh. „Sie blieb aus freien Stücken zurück, um unter den Beng zu leben. Sie ist nun eine Beng, sagte sie. Als ich sie zuletzt sah, hatte sie einen Helm auf, kannst du dir so was vorstellen? Die Liebe hat sie völlig verändert.“ Er lachte. „Ich glaube, sie wird sogar noch rote Augen bekommen — wie die Beng.“

Minbain trat nahe an ihn heran. „Und du, Hresh — was wirst du tun? Wenn du tun wolltest, was mir Freude macht, dann bleibst auch du zurück. Lebe hier unter uns. Willst du das tun? Hier ist ein guter Ort.“

„Und meinen Stamm im Stich lassen, Mutter?“

„Nein. Ihr allesamt sollt bleiben! Das Volk soll wiedervereint sein!“

Hresh schüttelte den Kopf. „Nein, Mutter. Die Stämme dürfen nicht wieder zusammengefügt werden. Ihr alle seid nun Harruels Volk und habt euer eigenes Schicksal. Was dies sein wird, vermag ich nicht zu sagen. Ich aber werde Taniane folgen, und wir werden gen Süden ziehen. Auf uns warten große Aufgaben. Die ganze Welt wartet dort auf uns, damit wir sie entdecken und erobern. Und außerdem gibt es noch sehr vieles, was ich erlernen will.“

„Ach, mein Hresh-voller-Fragen!“

„Immer, Mutter. Und immer dein.“

„Aber dann werde ich dich niemals mehr wiedersehen?“

„Wir haben doch schon einmal geglaubt, wir hätten uns für immer getrennt, und siehe, hier stehen wir beieinander. Ich glaube, Mutter, ich werde dich noch einmal wiedersehen. Auch meinen Bruder, Samnibolon. Doch wer kann wissen, wann das geschehen wird? Einzig die Götter.“

Dann entzog sich Hresh ihnen und wanderte beiseite, um eine Weile für sich zu sein, ehe das Festen und Schmausen begann.

Dies war ein merkwürdiger, ein des Merkens würdiger Tag, dachte er; aber schließlich war ja jeder Tag seltsam und merkwürdig — seit jenem ersten seltsamen Tag vor langer Zeit, als ich es mir in den Kopf setzte, aus dem Kokon zu schlüpfen. als die Eisfresser sich unter unserer Höhle erhoben. als der Träumeträumer erwachte und laut schrie. Und nun ist Harruel tot, und Koshmar ist tot, und Torlyri ist eine Beng geworden, und Taniane ist Häuptling, und Salaman ist ein König. und ich bin Hresh-der-Fragesack, der zugleich auch Hresh-der-Antwortwisser ist und der ‚Alte Mann‘ unseres Stammes. Aber ich will mein Suchen und Vorwärtsstreben fortsetzen bis ans Ende und den Rand der Erde, und Dawinno soll mein Beschützer und Leitstern sein.

Der kühle Hochlandwind blies erfrischend um ihn. Sein Denken war klar und frei und friedlich. Eine Vision tauchte in ihm auf, wie er da so für sich stand, eine Vision der Großen Welt, und ganz ohne die Hilfe irgendeiner der Maschinen, wie er sie aus Vengiboneeza mitgeführt hatte. Er sah diese Welt ganz einfach vor sich, wie wenn er durch einen Zauber in sie hinübergetragen worden wäre. Und wieder war es die Große Welt an ihrem Letzten Tag, und die Luft von Dunkelheit erfüllt, und die schwarzen Winde wehten, und Frost und Eiseskälte breiteten sich überallhin; aber diesmal war er nicht Beobachter der Szenen, sondern selbst ein Bewohner dieser verlorenen Welt. er war — ein Saphir-äugiger. Er fühlte das Gewicht seiner gewaltigen Kinnbacken, die Schwere seiner mächtigen Schenkel und des Schwanzes. Und er wußte, dies war der Letzte Tag der Großen Welt. der Saphiräugige, der Hresh-voller-Fragen war, wußte es. Keiner der Saphiräugigen würde den sich nahenden Untergang überleben. Die Götter hatten den Tod über ihre Welt gesandt.

Und Hresh-als-Hresh erkannte, daß es Dawinno-der-Zerstörer war, dessen Tag gekommen war, während Hresh als Saphiräugiger friedfertig auf seinen Tod wartete. Die Kälte, die auf seinen Leib eindrang, würde nach innen weiterziehen, bis sie sein Leben auslöschte. Ja, es war Dawinno. Der Gott, der Tod und Veränderung bringt, aber auch Erneuerung und Neugeburt. Und endlich verstand Hresh, was Noum om Beng ihm hatte sagen wollen. Daß es ein sündhaftes Vergehen gegen Dawinno gewesen wäre, hätte man die Todessterne, die auf jene Welt herabzustürzen drohten, abzuwenden versucht. Und die Saphiräugigen hatten dies gewußt. Und sie hatten sich dem Gesetz und Gebot der Götter gefügt. Sie hatten keinen Versuch zu ihrer eigenen Rettung unternommen, weil sie wußten, daß alle Zyklen ihren Gang nehmen müssen und daß sie selbst aus dieser Welt verschwinden müßten, um Platz zu machen für jene, die nach ihnen kommen sollten.

Ja. Ja, natürlich, dachte Hresh. Das hätte mir doch eigentlich einleuchten müssen, ohne daß Noum om Beng mir dermaßen viele Hiebe versetzen mußte. Sehr gescheit, der Bursche, hat der Alte von mir gedacht, aber — manchmal bin ich auch sehr langsam von Begriff. Thaggoran, der hätte mir gewiß alle diese Sachen erklären können, wäre er nur am Leben geblieben. Aber dann rief Dawinno auch den Thaggoran zu sich. also mußte ich das alles ganz alleine lernen.

Dann lächelte Hresh. Eine andere Vision wurde in seiner Seele lebendig: eine schimmernde, leuchtende Stadt auf einem fernen hügeligen Hang, glühend in sämtlichen Farben des Universums, leuchtend in einem so feurigen Licht, daß es einem die Seele betäubte, sie anzuschauen. Keine Stadt der Großen Welt war diese hier, sondern eine neue Stadt, eine Stadt der künftigen Welt, jener Welt, die Hresh errichten würde. Aus dem Erdgrund stieg eine dunkle anschwellende Musik und umfing ihn ganz. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß Taniane an seine Seite getreten sei.

„Schau da!“ sagte er. „Diese großartige Stadt.“

„Eine von den Städten der Saphiräugigen?“

„Nein. Eine Menschenstadt. Und wir werden sie erbauen, zum Beweis dafür, daß auch wir Menschen sind!“

Taniane nickte. „Ja, jetzt sind wir die Menschlichen.“

„Nein, wir werden Menschen sein!“ sagte Hresh.

Er dachte an die goldene Quecksilberkugel und an alle die Maschinen, die sie kontrollierte. Wunder, gewiß. Aber nicht unsere Wunder. Doch wir werden sie benutzen und uns unser eigenes Wunder schmieden. Für uns, dachte er, wird es ein unentwegtes endloses Weitergehen, ein immerwährender Aufbruch sein. Und jetzt hebt unsere Zeit der Pflicht an, der Kampf gegen die Vernichtung, um den Sieg, um die Beherrschung alter Künste und Fertigkeiten und neuer Techniken. der lange mühsame Aufstieg. Und ich werde den Weg weisen. Ich werde den anderen sagen: „Folgt mir dorthin!“ Und sie werden mir folgen.

Hresh blickte gen Süden. Auf einem der nächstgelegenen Berghänge machte er eine Störung aus. Er sah, daß dort etwas Riesenhaftes sich schwerfällig aus dem Bauch der Erde hervorquälte. Es sah fast so aus, als ob ein Eisfresser sich aus dem tiefen Innern hervorwühlte. Aber — war das denn möglich? Ein Eisfresser? Ja, genau dies war es. Ein Eisfresser, vielleicht ein Spätling, der letzte, den die frohe Kunde endlich erreicht hatte, daß der Neue Frühling nun wahrhaftig gekommen sei. Und nun brach sich das monströse Geschöpf die Bahn an die Oberfläche frei und verwarf Bäume und Erdreich und gewaltige Felsplatten hierhin und dahin. Hresh erkannte das blinde Gesicht, den schwarzbe stachelten Leib. Und nun war die Kreatur durchgestoßen; und nun lag sie keuchend im Licht der Sonne und starb. Hresh schaute gebannt zu, und wie er so schaute, platzte der Leib der unterirdischen Kreatur auf, und winzige andere Kreaturen — oder zumindest auf diese Entfernung winzig aussehende Geschöpfe — krochen dutzendweise, hundertfach daraus hervor: kleine schimmernde Wesen, die sich ringelten und eifrig schlängelten, eine Heerschar kleiner Schlänglein, geboren aus dem gewaltigen toten Urzeitgeschöpf der vorherigen Welt. Die Jungen des Eisfressers, ja. Nicht häßlich-monströs wie der Koloß, der sie ins Leben geworfen hatte, nein, fein und befremdlich schön, helle schimmernde Geschöpfe, blau und leuchtend grün und samtschwarz, die wie Lichterspuren glitzernd dahinzogen. Davonstürzten in den sonnenhellen Tag. in das Leben, das sich ihnen nun am Ende des Winters auftat. Erneuerung und Wiedergeburt, ja. Oberall die Ablösung des Alten und Neugeburt.

Also würden sogar die Eisfresser überleben, gewissermaßen, in dieser Neuen Welt. In den Prophezeiungen hatte es geheißen, daß sie sterben müßten, wenn der Lange Winter endete, doch die Weissagungen hatten sich als zumindest fehlerhaft erwiesen. Aussterben würden sie nicht. Sie würden nur einfach verwandelt werden, in einen neuen Zustand übergehen. Aus der kahlen, kalten eisigen Verwesung des Winters, der Eiszeit, konnte neues Leben, neue Schönheit entspringen. Hresh sandte diesem neuen Leben seinen Segen entgegen: den Dawinno-Segen.

Wie heftig wünschte er sich, daß er dies alles nun Thaggoran sagen könnte!

Dann lachte er und nahm Thaggorans Amulett in die Hand.

„Ach, Thaggoran, mein Thaggoran, wenn ich damit beginnen wollte, dir all dies zu berichten, was ich erfahren und gelernt habe seit der Nacht, in der die Rattenwölfe kamen, ich würde ebenso viele Jahre brauchen, es dir zu sagen, wie ich brauchte, um es zu erleben“, sprach er laut. „Verstehst du? Da, die Eisfresser, das wird aus ihnen, wenn sie kalben. Und die Große Welt — ach, Thaggoran, ich habe sie gesehen, und ich weiß auch, warum sie so kampflos und friedfertig dem eigenen Tod entgegensah. Und die Beng — laß mich dir von den Beng erzählen, Thaggoran. und von Vengiboneeza und von.“ Er umklammerte das Amulett fest mit der Hand. „Ich hab es doch gar nicht so schlecht gemacht, Thaggoran, nicht wahr? Ich hab doch die eine oder andere Sache gelernt, was? Und eines Tages — das verspreche ich dir! — werde ich dir das alles genau erzählen. Eines Tages, ja. Aber noch nicht sehr bald, Thaggoran, ja? Aber dann werden wir beisammensitzen und reden wie in den alten Zeiten. Aber noch nicht ganz so schnell, ja?!“

Hresh machte kehrt und wanderte wieder nach Yissou City zurück. Das Festgelage mußte bald beginnen. Er würde dasitzen, Taniane zu seiner Rechten und Minbain zu seiner Linken, und wenn diese Harruel-leute noch Wein in ihrer Stadt auftreiben konnten, dann würde er davon soviel trinken, wie er nur trinken konnte — und darüber hinaus, denn dies würde eine Nacht und ein Siegesfest werden, wie man sie kaum jemals gesehen hatte. Ja, wahrlich! Er schritt rascher aus, dann begann er zu traben, und dann rannte er.

Und weit hinter ihm schlüpften die tausendmal tausend neugeborenen Eisfresser, glitzernd vor Lebenslust, davon und begannen ihrerseits das Fest ihres Eintritts in den Neuen Frühling der Welt zu feiern.

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