Am Nachmittag des Tages des Wasserschreiters kam Threyne mit in die Flanken gepreßten Händen zu Torlyri und verkündete, daß ihre Zeit gekommen sei. Und Torlyri konnte erkennen, daß dem so war: Das Ungeborene stieß eifrig gegen den hochgewölbten Bauch der jungen Frau, und es gab auch andere Anzeichen dafür, daß die Geburt unmittelbar bevorstehe.
„Wir können nicht so rasch weiterziehen“, beschied Torlyri Koshmar. „Threynes Zeit ist gekommen.“
Ganz kurz blitzte Verdruß in Koshmars Augen auf. Torlyri wußte, daß Koshmar danach fieberte, eilends nach Vengiboneeza zu gelangen, nun, wo sie erfahren hatte, daß die große Stadt so nahe lag. Doch sie würde warten müssen. Die Geburt eines Kindes besaß Vorrang vor allem anderen. Man mußte Threyne versorgen; das Kind mußte heil geboren werden.
In den Tagen im Kokon war die Geburt jedes neuen Kindes nicht nur von Freude, sondern auch von einem versteckten dunkleren Gefühl begleitet gewesen, denn man gestattete nur dann einem neuen Leben den Eintritt in die Welt, wenn ein anderes sich dem Zeitpunkt näherte, an dem es sie zwangsläufig verlassen mußte. Innerhalb des Kokons war kein Platz für Zuwachs und Erhöhung der Zahl, und so war Geburt unlösbar mit dem Tod verschlungen. Deswegen hatte man das Grenzalter oder die Altersgrenze eingeführt, auf daß das Volk wählen müsse zwischen einer Existenz in unerträglicher bedrückender Enge und dem praktischen Verbot neuer Geburten. Aber hier draußen, wo so vieles für den Stamm völlig neu war, brauchte man eine Übervölkerung nicht zu fürchten. Ganz im Gegenteil: Das Volk hatte jedes Neugeborene dringend nötig, das man produzieren konnte. Aber das war nicht alles: Keiner würde mehr sterben müssen, um Platz zu schaffen für die Nachkommenschaft. Alle mit der Befähigung zum Kindertragen, dachte Torlyri, sind es dem Stamm schuldig, ein Ungeborenes auszutragen. Und sie begann auch für sich selbst mit dieser Vorstellung zu spielen.
Sie zogen so weit wie möglich von dem Sumpf und dem schwarzen See weg. Niemand wollte, daß der Wasserschreiter wieder auftauche und die Luft mit seinem entsetzlichen Lachen erfülle, während Threyne ihr Kind gebar.
Ein paar Männer schnitten Schößlinge, um ihr eine Laubhütte zu errichten. Minbain und Galihine und ein paar weitere ältere Frauen wuschen sie und hielten ihr die Hände, als ihre Wehen heftig wurden.
Preyne, der Kindesvater, kauerte eine Weile an ihrer Seite und berührte mit dem Sensororgan das ihre, um ihr einen Teil der Beschwernis abzunehmen, wie es seine Pflicht und sein Privileg war. Torlyri bereitete das Geburtsopfer vor für Mueri in ihrer Verkörperung als Trösterin und für Yissou, den Beschützer, und auch für Friit, den Heiler, für nach der Geburt. Die Wehen dauerten lang, und Threyne stöhnte stärker, als die meisten Frauen sonst es taten. Die Mühen des Trecks machen es ihr so schmerzlich, dachte Torlyri.
Koshmar, die den ganzen Nachmittag über gereizt umhergestapft war, kam zu der Hütte, als die Sonne untergehen wollte, und blickte starr auf Threynes pralle Leibesmitte herab. Zu Torlyri sagte sie nur: „Also? Läuft alles, wie es sein soll?“
Torlyri winkte Koshmar beiseite, wo Threyne sie nicht hören konnte, und sprach: „Es dauert zu lange. Und sie hat große Schmerzen.“
„So soll doch Preyne ihr die Schmerzen nehmen.“
„Er gibt sich alle Mühe.“
„Wird sie sterben?“
„Nein, das glaube ich nicht“, sagte Torlyri. „Aber sie leidet sehr. Und wenn sie es überlebt, wird sie über Tage hin noch sehr schwach sein.“
„Was sagst du da, Torlyri?“
„Wir werden eine Weile nicht weiterziehen können.“
„Aber Vengiboneeza.“
„. hat siebenmal hunderttausend Jahre auf uns gewartet“, unterbrach Torlyri. „Es kann gut noch ein paar Wochen länger warten. Wir dürfen nicht wegen deiner Ungeduld Threynes Leben aufs Spiel setzen. Und Nettins Kind ist ebenfalls bald fällig, in zwei, drei Tagen. Also bleiben wir am besten hier, bis die zwei wieder kräftig genug sind weiterzuziehen. Sonst aber teile den Stamm und sende Harruel und ein paar der Männer voraus und laß sie ausspähen nach der Stadt, und wir rasten hier und versorgen die Kindsmütter.“
Koshmar blickte verärgert drein. „Wenn Threyne etwas geschähe, ich würde es mir niemals verzeihen. Aber kannst du nicht begreifen, wie mir zumute ist, wo die Stadt so nahe vor uns liegt?“
Sanft legte Torlyri Koshmar die Hände auf die Schultern und drückte sie kurz an sich. Leise sagte sie: „Ich weiß. Du hast so schwer gekämpft, um uns bis hierher zu führen.“
Aus Threynes Hütte drang in diesem Augenblick ein neuer Laut, ein schriller, schärferer.
„Es ist soweit“, sagte Torlyri. „Ich muß zu ihr. Wir ziehen bald wieder weiter. Ich verspreche es dir.“
Koshmar nickte und stapfte davon. Kopfschüttelnd blickte Torlyri ihr nach. Es erstaunte sie, daß sie der sonst so klar und abwägend denkenden Koshmar hatte sagen müssen, daß man hier für eine Weile würde haltmachen müssen, und daß Koshmar vielleicht sogar jetzt noch Mühe hatte, die Notwendigkeit zu akzeptieren. Andererseits fehlte es Koshmar aber auch an jeglicher Einsicht und Fähigkeit für solche Frauensachen. Nie hatte sie einem Mann erlaubt, ihre Schenkel mit Händen zu berühren; sie hatte niemals auch nur kurz daran gedacht, ein Kind zu tragen; sie hatte sich von Kindheit an nur auf ein Ziel ausgerichtet, auf die Führerschaft und nichts sonst, und das schloß in ihren Augen jeden Gedanken an Mutterschaft aus. Führer hatten keine Kinder, so war es der Brauch. Aber, dachte Torlyri, das war doch bestimmt nur deshalb so, weil man die Volkszahl im Kokon so strikt beschränken mußte. Alle möglichen festen Bräuche bezüglich des Verbots und der Erlaubnis, Kinder zu haben, waren im Verlauf der Jahrhunderte entstanden, aber ihnen lag doch stets die Furcht zugrunde, daß die unbeschränkte Fortpflanzung den Kokon ersticken und den Stamm vor der richtigen Zeit in die grausame Unbill des Winters treiben müßte.
Minbain rief nach ihr. Das Kind wollte kommen.
Torlyri eilte gerade noch rechtzeitig zur Hütte zurück. Zwischen Threynes Schenkeln zeigte sich bereits das winzige Köpfchen. Torlyri lächelte. Koshmar hatte es noch nie ertragen können, bei der Geburt eines Kindes dabei zu sein, doch für Torlyri war es ein Moment der Schönheit. Sie kniete am Fuß des Lagers und umfaßte Threynes Fußknöchel mit festen Händen, während sie die Gebete zu Mueri-der-Mutter sprach.
„Ein Knabe!“ verkündete Minbain.
Er war sehr klein, sehr laut, sehr verhutzelt und sehr rosig am ganzen Leib, mit dünnen fahlgrauen Pelzbüscheln, die mit der Zeit über den ganzen Körper wachsen würden. Das kleine Sensororgan bewegte sich steif hin und her und zuckte durch die Luft: ein gutes Anzeichen, ein Zeichen von Kraft und Leidenschaft. Torlyri erinnerte sich, wie sie vor neun Jahren Minbain bei deren Entbindung geholfen hatte, als Minbain den Hresh geboren hatte, und wie damals Hresh mit seinem Sensororgan wütend die Luft gepeitscht hatte. Und der hatte doch wahrlich das Omen voll bestätigt, dieser Hresh.
„Wo ist der Alte Mann!“ sagte eine der Frauen. „Wir brauchen den Alten Mann hier, damit er den Geburtsnamen verleiht.“
Minbain gab ein unterdrücktes Geräusch von sich, ein ersticktes Lachen. Ein paar andere Frauen lachten gleichfalls.
„Der Alte Mann!“ sagte Galihine. „Wer hätte je von einem Alten Mann gehört, der ein Kind war!“
„Oder davon, daß ein Kind die Geburtszeremonie leitet“, sagte Preyne.
„Sei dem wie immer“, sagte Torlyri mit fester Stimme. „Wir brauchen ihn für das, was getan werden muß.“
Sie wandte sich einem Mädchen namens Kailii zu, fast schon einer für die Mutterschaft reifen jungen Frau, die der Entbindung fasziniert zugeschaut hatte, und sandte sie aus, um Hresh zu holen.
Er kam sogleich. Torlyri sah, wie seine scharfen kleinen Augen mehrmals die Szene rasch abtasteten: die dicht um das Laublager gescharten Frauen, die erschöpfte Threyne und die Blutspuren im Fell ihrer Schenkel, das kleine runzelige Neugeborene, das mehr wie eine Wurzel aussah als wie ein Mensch. Hresh wirkte unsicher; vielleicht weil seine Mutter anwesend war, oder vielleicht auch, weil er wußte, daß in der Regel Knaben nicht Zeuge solcher Begebnisse sein durften.
„Wie du siehst, wurde uns ein Kind geboren“, sagt Torlyri. „Es muß einen Namen verliehen bekommen, und es ist deines Amtes, das zu tun.“
Sogleich schien die Unsicherheit von Hresh abzufallen. Er reckte sich hoch auf — ach, wie lächerlich klein er doch noch ist! fuhr es Torlyri durch den Kopf — und umhüllte sich sozusagen mit der Majestät seiner Stellung.
Feierlich schlug er die Zeichen Yissous, dann das Zeichen von Emakkis-des-Ernährers, dann das der Mueri-Mutter und dann das Zeichen Friits-des-Heilers. Und schließlich, ganz zuletzt, das Zeichen Dawinnos-des-Zerstörers, des undurchschaubarsten, vieldeutigsten Gottes.
Torlyri fühlte Freude und stolzes Entzücken in sich aufsteigen. Hresh vollzog das Ritual korrekt und genau in der rechten Reihenfolge! Der alte Thaggoran hätte es nicht besser gekonnt. Und dabei war Hresh noch nie bei der Zeremonie der Namensgebung dabei gewesen. Bestimmt hatte er das Ritual in den Büchern nachgelesen. Dieser gescheite Knirps. was für ein bemerkenswertes Kind er doch war!
„Ein männliches Kind ist uns geboren“, sprach Hresh mit volltönender Stimme. „Durch Preyne, aus Threyne — ein Sohn, uns allen geschenkt. Und so benenne ich ihn mit dem Namen des Großen, der uns so grausam entrissen wurde. Er soll Thaggoran heißen und sein.“
„Thaggoran!“ rief Preyne. „Thaggoran Preyne-Sohn, Thaggoran Threyne-Sohn!“
„Thaggoran!“ schrillten die Frauen in der Laubhütte. „Thaggoran.“, stammelte Threyne mit schwacher Stimme.
Hresh streckte seine Hände der Mutter, dem Vater und Torlyri entgegen, genau wie das Ritual es verlangte. Dann trat er zu einer jeden der anwesenden Frauen, zu einer nach der andern, sogar vor seiner Mutter, Minbain, und berührte sie mit einer segnenden Geste an beiden Wangen. Das allerdings hatte Torlyri noch nie zuvor gesehen; Hresh mußte es selbst erfunden haben, oder aber er hatte einen uralten Ritus Wiederaufleben lassen, von dem er Beschreibungen in seinen Büchern gelesen hatte. Vor Torlyri trat er zuletzt und berührte auch ihre Wangen in gleicher Weise. Seine Augen leuchteten. Was muß das für ein großartiger Augenblick für ihn sein, dachte sie. Unser kindhafter Chronist, unser seltsamer kleiner Hresh-Fragesack, der auf einmal zugleich Mann war und Kind, ein Mann im Körper eines Kindes. Und sie dachte an jenen Tag im Kokon zurück, als sie ihn an der Luke gepackt hatte, ehe er fliehen konnte, und sie erinnerte sich wieder an das Entsetzen in seinen Augen, als sie ihm sagte, daß er vor Koshmar gebracht und gerichtet werden mußte. Und wie grundlegend hatte sich seit damals alles für sie alle verändert! Da stand dieser Hresh (derselbe Hresh?) und verkündete der Welt, in einem Land, das weit, weit vom Kokon entfernt lag, die Geburt eines neuen Thaggoran — und mit dem gleichen feierlichen Ernst, wie ihn der alte Chronist besessen hatte.
Hinterher zog Hresh sie beiseite und fragte: „Hab ich es gut hingekriegt? Habe ich alles richtig gemacht?“
„Du warst großartig, hinreißend“, sagte sie zu ihm. Und in einer Gefühlsaufwallung riß sie ihn in ihre Arme, hob ihn hoch und preßte ihn an die Brust, und küßte ihn trotz der strampelnden Beine zweimal.
Der Vorfall schien ihn zu verwirren. Als sie ihn wieder zu Boden setzte, warf er ihr einen merkwürdigen Blick zu und begann sogleich mit dem unübersehbaren Ausdruck verletzter Würde sein Fell zu glätten. Aber als sie ihm dann lächelnd und mit einer ihm anscheinend willkommeneren Zärtlichkeit die Arme auf die Schultern legte, verlor sich der verstörte Ausdruck der Abwehr allmählich. Niemand konnte schließlich Torlyri gegenüber lange grollen.
„Da ist noch eine Zeremonie, die wir bald schon durchführen müssen“, sagte Hresh.
„Das Kind von Nettin?“
„Ja, das auch. Aber ich spreche eigentlich von mir.“
„Und was ist das?“ fragte Torlyri.
„Mein eigener Namenstag“, sagte er. „Ich werde bald neun sein, weißt du.“
Sie kämpfte gegen das Lachen an, vermochte es nicht zu unterdrücken und lachte schließlich schallend los.
Hresh starrte sie von neuem erzürnt an.
„Hab ich was Komisches gesagt?“
„Nein, das ist nichts Komisches, Hresh, gar nicht — nur. nur.“ Sie mußte wieder lachen. „Verzeih. Es ist nicht richtig von mir.“
„Ich verstehe dich nicht“, sagte Hresh.
„Dein Namenstag. Du bist der Alte Mann des Stammes, und du hast gerade selbst einem Kind einen Namen gegeben. Und du hast noch nicht einmal deinen eigenen Namenstag gehabt! Ach, Hresh, Hresh, wir leben wahrlich in seltsamen Zeiten!“
„Trotzdem, es ist meine Zeit“, sagte er.
Sie nickte. „Stimmt. Du hast absolut recht, Hresh. Ich will heute nachmittag mit Koshmar darüber sprechen. An welchem Tag soll es sein, weißt du das?“
Trübselig sagte er: „Ich bin mit der Zählung durcheinander, Torlyri. Bei all den Wochen und Monden der Wanderung ist der Tag möglicherweise schon vorbei. Seit ein paar Tagen.“
„Na ja, das spielt weiter keine Rolle. Ich rede jedenfalls mit Koshmar“, versprach sie ihm.
Wie die passende Verfahrensweise beim Tag der Namensgebung in diesen neuen Lebensumständen sein sollte, das war sowohl für Torlyri wie auch für Koshmar ein Rätsel. Denn seit dem Auszug aus dem Kokon hatte sich kein Anlaß für eine solche Zeremonie geboten.
In den Zeiten des Kokons war der Tag der Namensgebung der Tag, mit dem ein Kind offiziell in den Erwachsenenstatus eintrat, und es war einer der drei geheiligten Tage gewesen, an denen ein Stammesangehöriger über die Schwelle treten und sich kurz in der Äußeren Welt aufhalten durfte. Einzig von der Opferfrau begleitet, stolperte dabei das zitternde neunjährige Kind durch die Schleusenluke, rief den Namen, den er oder sie von nun an zu tragen beschlossen hatte, und dann folgten — obwohl völlig benommen vom Anblick des Kliffs und des Flusses und der offenen Himmelsschale, von den angehäuften ausgebleichten alten Gebeinen und wie betrunken von der scharfen kalten Luft — die Kleinen der Tradition und boten den Großen Fünf die erheischten Opfer dar. Einige Jahre später kam der zweite Ritualschritt, der Tvinnr-Tag, der die formelle Anerkenntnis der seelischen Reife darstellte. Und die nächste Gelegenheit, bei der die meisten Stammesangehörigen ins Freie gelangten, war am Tag ihres Todes, wo sie — sofern sie noch kräftig genug waren zu gehen — von der Opferpriesterin, dem Stammeshäuptling oder manchmal auch von dem ältesten Krieger zur Tür geleitet wurden oder — wenn sie zu gebrechlich waren — einfach von der Opferfrau hinausgeschleift und dort abgesetzt wurden, damit Wind und Regen sich ihrer bemächtigten.
Aber wie hätte Hresh für das Ritual seines Namenstages aus dem Kokon treten sollen, wo er doch längst schon draußen war?
Der alte Ritus war sinnlos geworden. Der Tag der Namensgebung allerdings war wichtig. Und wieder einmal begriff Torlyri, daß es an ihr lag, ein neues Ritual zu erfinden. Es war irgendwie seltsam und auch ein wenig beunruhigend, diese Aufgabe: einfach ein neues Ritual zu erfinden. Waren denn auch alle die alten Riten auf diese Weise entstanden? fragte sie sich. Von Priesterinnen jeweils für den Notfall erfunden? Oder vom Alten Mann? Um einem plötzlich auftretenden Bedürfnis zu genügen? Und waren sie überhaupt in keiner Weise göttliche Fügung?
Aber der Gott — so beruhigte sie sich — spricht durch den Geist der Opferfrau.
Nun, so sei es denn. Sie erbat Urlaub von Koshmar und ging für sich allein zurück zu dem See des Wasserschreiters und kniete dort nieder vor Dawinno und erflehte von ihm Weisung. Und Dawinno schenkte ihr ein neues Ritual. Und es sprang hell und quellenklar in ihrer Seele auf.
Während sie da so kniete, erschien der Wasserschreiter wieder. Sie blickte furchtlos zu ihm hin, während er sein gewaltiges spilleriges Selbst entfaltete. Sie lächelte. Du könntest mir nichts antun, auch wenn du es wolltest, dachte sie. Aber auch wenn du es wirklich vermöchtest, so würde ich dich einfach anlächeln, und du würdest mir nicht ein Haar krümmen wollen. Der Wasserschreiter betrachtete sie düster und leicht schwankend aus seiner großen Höhe. Und dann hatte sie den Eindruck, als lächle er ihr zu, als sei ihm ihre Anwesenheit hier durchaus angenehm.
Sie nickte ihm grüßend zu.
„Mögen die Fünf dir nahe und hold sein, Freund“, sagte sie. Und der Schreiter lachte; aber sein Gelächter wirkte irgendwie freundlicher als beim erstenmal.
Als Torlyri ins Lager zurückkehrte, sah sie droben einen Schwarm jener Geschöpfe kreisen, die Thaggoran ‚Blutvögel‘ genannt hatte und die den Stamm weit drüben in den Flachländern mehr als einmal belästigt hatten, wo sie das wandernde Volk mit ihren Schnäbeln aufzuspießen versucht hatten. Sie erinnerte sich an das schreckliche Herabstoßen, an das schrille Kreischen, an die Wunden, die sie geschlagen hatten. Aber diesmal fühlte sie, daß kein Anlaß zu Panik bestehe. Sie blickte den Blutvögeln ebenso furchtlos entgegen, wie sie es bei dem Wasserschreiter getan hatte, und sie hielten sich weit entfernt und hoch droben und kreisten, ohne herabzustoßen.
Ja, das ist der rechte Weg, so müssen wir an diesem Ort hier leben, dachte sie. Tritt den Geschöpfen ohne Furcht entgegen, begegne ihnen — wenn du kannst — mit Liebe. dann werden sie dir nichts Böses antun.
„Also“, erklärte sie Koshmar, „das neue Ritual ist folgendermaßen: Ich werde mit ihm fortgehen ins Gehölz, weit fort vom Stammeslager, an einen Ort, wo wir ganz allein sind und wo uns nur die Geschöpfe des Waldes umgeben. Das wird dann so sein wie in den alten Tagen das Heraustreten aus dem Kokon. Und dort wird er die Opfer vornehmen für die Fünf Erhabenen, und dann muß er hintreten vor irgendein Geschöpf der Wildnis, es ist nicht weiter wichtig, was für eins es ist, eine Schlange, ein Vogel, ein Wasserschreiter, irgendein Wesen, solang es nur uns Menschen unähnlich ist. und er wird hin treten vor dieses Geschöpf in friedlicher Weise und wird ihm seinen neuen Namen sagen.“
Koshmar blickte verwirrt drein. „Und wozu soll das gut sein?“
„Es bedeutet, daß wir ein Volk sind in der Welt und zu der Welt gehören und daß wir uns wieder in das Leben der Geschöpfe der Welt eingliedern. Daß wir in Liebe und ohne Furcht auf sie zutreten und nun, da der Winter vergangen ist, gern ihre Welt mit ihnen teilen möchten.“
„Aha!“ sagte Koshmar. „Ich verstehe.“ Aber Torlyri erriet aus der Art, wie sie es sagte, daß Koshmar nicht überzeugt war.
Jedenfalls, es war an der Zeit, daß Hresh seinen Namenstag habe, es gab keinen Kokon, aus dem er hätte hervortreten können, und dies war der neue Ritus, den Torlyri sich ausgedacht hatte, und immerhin war sie die einzige Opferfrau, die das Volk zur Verfügung hatte. Also, wer hätte sagen können, das neue Ritual sei irrig oder falsch? Und so unterrichtete Torlyri Hresh, was er zu tun habe, und sie machten sich gemeinsam und nur zu zweit in der Dämmerung auf den Weg. Hresh trug eine Opferschale in der Hand, und während sie dahinzogen, sammelte er Blüten und Beeren als Gaben für die Götter.
„Sag mir, wenn wir am rechten Ort sind“, bat er.
„Nein, du mußt es mir sagen“, antwortete Torlyri.
Seine Augen glühten vor Lebenslust und Lebenskraft. Torlyri hatte das Gefühl, niemals zuvor einem Wesen begegnet zu sein, das dermaßen voller Leben war, wie dieses Kind, dieser Knabe es war, und das Herz quoll ihr über, so voll Liebe war sie für ihn. Ganz gewiß, es strömte die Kraft von den Göttern durch seine Adern!
„Hier ist es“, sagte Hresh.
Es war düster an dem Ort, den Hresh gewählt hatte, denn die Wipfel der Bäume droben waren durch Geflechte von Schlingpflanzen, von Reben, dicker als ein Mannsarm, zusammengeheftet. Der Boden war feucht und weich. Sie hätten sehr wohl die einzigen Menschen in der Welt sein können.
Hresh kniete nieder und begann sein Opfer.
„Und nun will ich meinen Neuen Namen annehmen“, sagte er.
Dann begab er sich auf die Suche nach einem Geschöpf, das sein Namenstier sein sollte; und nach einiger Zeit kam ein Wesen von anständigen Ausmaßen auf die Lichtung getrabt; ein Tier, etwa von der Größe eines Rattenwolfs, aber bei weitem hübscher anzusehen. Es hatte leuchtende Augen, einen länglichen zugespitzten Schädel und zwei schaufelartige goldene Stoßzähne neben der Schnauze, und dazu noch eine Reihe hellgelber Streifen entlang des bräunlichgelben Rückens. Die Beine waren schlank und endeten in je drei scharfkralligen Zehen: Höchstwahrscheinlich ein im Erdreich grabendes Tier, eines, das sich von Insekten ernährte. Es schaute ihn an, als habe es noch zuvor so etwas wie ihn erblickt.
Er trat nahe heran.
„Dein Name ist Goldzahn“, sagte Hresh.
Das Tier starrte angstlos, vielleicht neugierig zurück.
„Und ich“, fuhr Hresh fort, „ich bin Hresh-der-voller-Fragen-steckt, und heute ist mein Namenstag, und ich habe dich als mein Namenstier erwählt. Und so sage ich dir hiermit feierlich, Goldzahn, daß ich den Namen wähle — und er lautet Hresh! Hresh-der-Antwortfinder!“
Torlyri atmete heftig ein. Was für eine Keckheit von dem Knaben!
Hin und wieder geschah es zwar, daß jemand seinen Geburtsnamen auch als Erwachsenennamen beibehielt, aber es war selten, ja es war beinahe unerhört, und wer so etwas wagte, der verriet damit eine innere Zuversicht, ein Selbstvertrauen, die fast an bedenkenlose Kühnheit grenzte. Hresh, der sich den Namen Hresh wählt! Hatte es je einen Menschen gegeben wie dieses Kind Hresh?
Und doch — und dennoch. war es denn wirklich der selbe Name? Vor dem Hresh-voller-Fragen, und das war der Name, den andere ihm angehängt hatten, und nun Hresh-der-Antwortfinder. und diesen Namen hatte er sich selbst gewählt.
Er redete mit dem Goldzahn, stand ganz dicht bei ihm, streichelte und tätschelte das Tier. Dann klopfte er ihm auf den Schenkel, und das Tier trabte davon und verschwand im Unterholz. Er wandte sich Torlyri zu.
„Also?“ fragte er. „Habe ich nun meinen rechtmäßigen Namen?“
„Du hast deinen rechtmäßigen Namen, ja.“ Sie zog ihn ganz fest an sich und umschlang ihn. ‚,Hresh-Antwortfinder... das ist dein Name.“ Er ließ sich die körperliche Nähe ein wenig zögernd, ein wenig steif gefallen, als bereite ihm ihre heftige Zuneigung Unbehagen. Sie gab ihn frei und sagte: „Komm jetzt! Wir müssen zum Lager zurück und den anderen sagen, was du dir erwählt hast. Und dann wird es auch allmählich Zeit, daß wir uns auf die Suche nach dem berühmten Vengiboneeza machen.“
Doch sie konnten nicht sogleich nach Vengiboneeza weiterziehen. Denn nun war Nettin im Kindbett, und diesmal war es ein Mädchen, und Hresh leitete erneut die Namensgebung und nannte das Kind Tramassilu, nach dem Mädchen, das von dem rotgeschnäbelten Hüpfer aufgespießt worden war. Er plante, alle Neugeborenen nach den während des Trecks Gestorbenen zu benennen, zum Zeichen dafür, daß die Verluste wettgemacht waren. Also brauchte man noch einen neuen Hignord und eine neue Valmud; danach konnte man dann bei neuen Geburten andere Namen verwenden. Jalmud, dessen Partnerin von den Rattenwölfen getötet worden war, hatte bereits um die Erlaubnis nachgesucht, das Mädchen Sinistine zur Paarungspartnerin nehmen zu dürfen, und Hresh nahm an, daß sich bald neue Paarungen bilden würden, da es inzwischen allen bewußt geworden war, daß man die Zeugung neuen Lebens nicht fürchten, sondern im Gegenteil als geheiligte Pflicht erkennen lernen müsse.
So lagerte der Stamm noch einige Tage länger unweit des Teichs des Wasserschreiters, bis Threyne und Nettin wieder kräftig genug für den Weitermarsch waren. Für Koshmar, die sich so stark nach dem Anblick von Vengiboneeza sehnte, war das eine schwere Prüfung. Auch Hresh litt ungeduldig. Mehr als irgend jemand sonst besaß er eine deutlichere Vorstellung davon, was sie in Vengiboneeza erwartete, und er brannte vor Ungeduld.
Und dann war er auch tatsächlich der erste von allen, der vier Tage nach Wiederaufnahme der Wanderung einen Blick auf die Türme der Stadt warf. Im Westen trafen sie auf einen See von solch tiefem Blau, daß das Wasser fast schwarz wirkte, und danach auf einen weiteren, genau wie der Wasserschreiter es gesagt hatte; und dann stießen sie an einen Fluß, und dies hieß, das Vengiboneeza ganz nahe sein müsse. Es war kein besonders breiter Fluß, aber er schoß kalt und rasch dahin, und überall ragten reißende Felszähne empor. Die Übersetzung mit dem Train war schwierig und dauerte viele Stunden, so daß sogar Koshmar es für das Klügste hielt, am anderen Ufer erst einmal das Lager aufzuschlagen und zu rasten. Hresh aber konnte nicht warten. Nach der Überquerung schlich er sich, von keinem beobachtet, heimlich davon und rannte rasch durch die Bäume, bis ihn die Überraschung plötzlich zum Innehalten zwang.
Vor ihm ragten die schimmernden Türme einer prachtvollen großen Stadt empor wie hochgerichtete gewaltige Platten aus Schimmerstein über einem Dschungel, und es waren mehr Türme, als er zu zählen vermochte, Kette um Kette hintereinander — hier einer in schillerndem Violett, dort einer in feurigem Gold, da einer scharlachrot mit mitternachtsblauen Balkonen, dort einer in tiefstem Gagatschwarz. Manche waren von erstickenden Reben umrankt, genau wie das Waldgeschöpf gesagt hatte, doch die meisten lagen frei.
Mit pochendem Herzen raste er sodann zum Lager zurück und brüllte: „Vengiboneeza! Ich habe Vengiboneeza gefunden!“
Aber er hatte kaum die Hälfte der Strecke bis zum Lager durchmessen, als etwas Dickes, Pelziges, unglaublich Kräftiges seinen Hals umschlang und ihn zu Boden riß.
Verzweifelt rang Hresh nach Luft. Er erstickte fast. Die Augen quollen ihm aus den Höhlen. Alles war ganz verschwommen. Er konnte kaum seine Angreifer erkennen. Anscheinend waren sie zu dritt. Zwei hüpften auf und ab, der dritte hielt ihn mit seinem langen seilartigen Sensororgan gefangen. Also, wenn die menschlich sind, dachte Hresh, dann gehören sie aber zu einem ganz anderen Stamm. Ihre Arme und Beine waren außerordentlich lang, die Körper schmal und kompakt, die Köpfe klein, die Augen groß, hart und schimmernd, aber ohne einen Schimmer von Intelligenz darin. Alle drei waren vom Schädel bis zu den schlanken schwarzen Zehen von einem dichten graugrünen Fell einer fremdartigen Stofflichkeit bedeckt.
„Ich. krieg. keine Luft.“, japste Hresh. „Bitte!“
Er hörte ein rauhes höhnisches Lachen und ein wildes Gebrabbel von Lauten in einer unbekannten Sprache, schrill und aufgeregt. Verzweifelt zerrte er an dem peitschenartigen Sensororgan, das ihn würgte. Er bohrte fest die Fingerspitzen hinein. Seltsamerweise bewirkte das keine Reaktion, es sei denn, daß der Würgegriff noch enger wurde. Hresh war noch nie einem dermaßen unsensiblen Sensororgan begegnet. Der andere schien kaum etwas zu spüren.
„Bitte. bitte.“, flehte er schwach mit seinem allerletzten Atem. Dann wurde um ihn herum alles schwarz.
Ein plötzliches wildes Kreischen. Der Druck an seiner Kehle löste sich etwas, er rollte davon und war frei und rang keuchend und würgend zusammengekrümmt nach Luft. Sein Kopf wirbelte kreisend. Die Erde drehte sich wild unter ihm. Zunächst konnte er überhaupt nicht klar sehen, sondern hatte nur Flecken und Wirbel vor Augen. Nach einer Weile erholte er sich allmählich und blickte hoch.
Harruel und Konya standen über ihm. Sie hatten zwei der drei Fremden mit den Speeren durchbohrt und die blutigen Leiber wie Unrat beiseitegeworfen; der dritte Angreifer war geflohen, hinauf in die Bäume, und dort hing er nun an seinem Sensororgan und kreischte wild zu ihnen herab.
„Bist du unverletzt?“ fragte Harruel.
„Ich glaub schon. Bloß. Luft. ein. bißchen knapp.“ Er richtete sich kniend auf, rieb sich die schmerzende Kehle und füllte seine Lungen so tief er atmen konnte. „Noch ein Augenblick, und für mich wäre alles zu Ende gewesen.“ Er blickte zu den zwei zerknautschten toten Körpern hinüber und schauderte. „Aber ihr habt mich gerettet. Und dort — schaut doch, seht ihr sie? Die Stadt! Die Stadt!“ Hresh streckte zitternd die Hand aus. „Vengiboneeza!“
Vengiboneeza, ja. Die beiden Krieger blickten flüchtig zu den Türmen hinüber, deren Spitzen von dort aus kaum zu sehen waren. Konya stieß ein überraschtes Grunzen aus, sank in die Knie und schlug das Zeichen des Beschützers. Harruel stützte sich nur stumm auf seinen Speer und schüttelte langsam und erstaunt den Kopf.
Dann kam Koshmar angerannt, und Torlyri, und hinter ihnen auch noch fast alle anderen. Hresh war zwar noch ziemlich wackelig und unsicher auf den Beinen, aber er führte sie durch das Dickicht von Ranken und sägezähnigen Gräsern an die Stelle, von der aus er die leuchtenden Türme in den Himmel hatte aufragen sehen. Doch die Angehörigen des schnatternden graugrünen Volks waren überall, wurlten zu Dutzenden in den Bäumen umher, baumelten von ihren Sensororganen, sprangen von Ast zu Ast, keckernd, lachend, schmetternde höhnische Herausforderungen kreischend. Sie haben mich also schon die ganze Zeit beobachtet, erkannte Hresh.
„Was ist das für ein Stamm?“ fragte Torlyri.
„Ein äußerst dummer, glaube ich“, sagte Hresh.
„Sie sehen uns aber irgendwie ein bißchen ähnlich“, sagte Torlyri.
„Also doch wohl kaum!“ erwiderte Koshmar entrüstet.
„Aber sie sind schnell“, sagte Hresh.
„Nicht so schnell, daß wir sie nicht abmurksen könnten, wenn sie uns stören“, sagte Koshmar. „Ihr Götter! Das ist doch kein Volk! Das sind keine menschlichen Wesen! Das sind weiter nichts als Tiere. Ungeziefer! Da, schaut: die Stadt! Vengiboneeza wird uns gehören. Alle Mann an die Speere! Fackeln! Auf nach Vengiboneeza!“
Ungeziefer mochte das fremde Volk ja sein, und möglicherweise auch ziemlich dumm, aber es entpuppte sich als eine lästige Plage. Die Wesen weigerten sich nämlich, von den _ Bäumen herabzusteigen, und bewarfen Koshmars Volk vielmehr mit Ästen und Früchten und sogar mit ihrer grünen Scheiße, wobei sie unablässig unverständliche Beleidigungen brüllten. Galihine wurde von einer schweren blauroten Frucht zwischen die Schultern getroffen und niedergestreckt, und Haniman wurde Ziel einer gewaltigen grauen papierartigen Kugel, die sich als das Nest eines Schwarmes von halbfingerlangen wütenden stechenden Insekten herausstellte.
Koshmar und ihre Krieger jedoch rückten stetig weiter voran, sie setzten die Speere ein, Wurfstöcke, Wurfpfeile und alle anderen Arten von Waffen, die sie hatten; und nach und nach zog sich der fremde Stamm zurück. Hresh, der die Gefechte aus sicherer Entfernung beobachtete, war von diesen Waldleuten angewidert und entsetzt. Wie häßlich sie waren, wie niederträchtig, wie — nichtmenschlich! Sie besaßen die Gestalt von Menschen (oder doch fast), aber sie handelten und betrugen sich wie Tiere. Die Fackeln jagten ihnen Entsetzen ein, als hätten sie nie zuvor Feuer gesehen. Ihr Sensororgan benutzten sie ausschließlich als Greiforgan, ganz wie irgendein banales wildes Wesen, als besitze dieses Organ keinerlei andere Kraft und Funktion, als sich mit seiner Hilfe durch die Bäume zu schwingen.
Trotzdem, dachte Hresh, so übermäßig anders als wir sehen sie eigentlich doch wieder nicht aus. Und das ist am schlimmsten dabei. Wir sind menschlich, sie sind tierisch — und trotzdem sind sie gar nicht so viel anders als wir! Und ohne die Gnade der Götter wären wir genauso wie sie!
Nach einer halben Stunde war die Schlacht beendet. Die Waldschnatterer waren verschwunden, und der Weg nach Vengiboneeza lag frei.
„Laß mich zuerst gehen“, flehte Hresh. „Ich hab es gefunden. Ich will der Erste sein.“
Koshmar gluckste, nickte aber huldvoll. „Noch immer unser Hresh-der-Fragesack, was? Na, schön. Geh!“
Die Gewährung seiner Bitte, vor allem weil sie so rasch und leicht erfolgte, bestürzte ihn ein wenig, aber er wandte sich ohne Zögern um und glitt durch das massive aus drei schweren grünen Steinsäulen bestehende Tor, das sich an der Schwelle zu Vengiboneeza auftat.
Zu seinem Erstaunen erwarteten ihn direkt dahinter drei Gestalten, in denen er Angehörige der saphiräugigen Rasse erkannte. Ihresgleichen hatte er viele Male gesehen, wenn er die Hände über die Seiten der Chronikbücher gleiten ließ: massige, auf gewaltigen dickschenkligen Beinen aufrechtstehende Wesen, die sich auf mächtige Sensororgane stützten — oder vielleicht waren es ja auch nur Schwänze? Die kleinen Unterarme waren in einer Haltung ausgestreckt, die deutlich einladend war. Die riesigen schwerlidrigen Augen, von einem so tiefdunklen Blau, daß sie nicht wie Augen, sondern wie Meere wirkten, strahlten Weisheit und Macht aus.
Bestürzt wich Hresh zurück. Zweimal hatten diese Wesen über die Welt geherrscht: einmal in der allerurältesten Zeit, lang bevor es überhaupt Menschliches gab, in einer lang verwehten Zivilisation, die von einem früheren Überfall der Todessterne vernichtet worden war; und sodann noch einmal während der Zeit der Menschen, in der die wenigen Überlebenden des Imperiums der Saphiräugigen ein zweitesmal zu Größe und Macht — aufgestiegen waren. Der Abstammung nach kriechende Reptilien der Krokodilart, Abkömmlinge von Geschöpfen, die seit langem sich damit zufrieden gaben, träge im Schlamm tropischer Flüsse zu ruhen, gelang ihnen ein Aufschwung hoch über diese Stufe hinaus; doch die Wiederkehr der Todessterne hatte das Reich der Saphiräugigen erneut zerschlagen, und diesmal hatte es die neue schreckliche Kälte bewirkt, daß es keine Überlebenden gab. So jedenfalls hatten die Chroniktexte in ihrer komplizierten Nebelhaftigkeit behauptet, und so hatte Thaggoran es gelehrt.
„Nein“, flüsterte Hresh. „Euch kann es ja gar nicht geben. Ihr seid doch alle mitsamt der Großen Welt ausgestorben!“
Der Saphiräugige zur Linken hob fragend einen seiner kleinen Unterarme.
„Wie hätten wir denn sterben können, du kleiner Affe, wenn wir doch niemals lebendig waren?“ Die Sprache klang gestelzt und antiquiert, sie war merkwürdig, aber verständlich.
„Niemals lebendig?“
„Wir sind Maschinen“, sagte der zur Rechten.
„Hier aufgestellt, um beim Winterende Menschliche in der Stadt unserer Herren und Meister willkommen zu heißen, nach deren Bildnis wir geschaffen wurden“, sagte der Saphiräugige in der Mitte.
„Maschinen“, sagte Hresh, das Wort prüfend und sich zu eigen machend. „Geschaffen nach dem Bild eurer Herren. Die im Langen Winter starben. Aha, ich verstehe. Ich begreife.“ Er trat so nahe an sie heran, wie er es wagte, legte den Kopf in den Nacken und starrte in die geheimnisvollen Tiefen der leuchtenden Augen. „Wir können also die Stadt betreten? Und ihr werdet uns alles zeigen, was sie enthält?“
Er bebte vor ehrfürchtigem Schrecken. Noch nie hatte er etwas so Majestätisches erblickt wie diese drei Gestalten. Zugleich jedoch empfand er ein undeutliches Gefühl der Enttäuschung. Sie waren nichts weiter als irgendwelche kluge Künstliche. Nicht lebendig, nicht wirklich. Er hätte sich gewünscht, daß sie echte Vertreter des Saphiraugen-Volks wären, die auf wundersame Weise die Zeit der Kälte überdauert hätten. Doch das war unmöglich. Er schob diese Hoffnung beiseite.
Nach einer Weile sprach er dann: „Warum habt ihr mich ‚kleiner Affe‘ genannt? Könnt ihr ein menschliches Wesen nicht erkennen, wenn ihr eines seht?“
Die drei Saphiräugigen gaben seltsame Zischlaute von sich, die nach Hreshs Empfinden so etwas wie ein Lachen sein mußten. Hinter sich hörte er andere Laute: leises Keuchen, verblüfftes Seufzen. Hastig blickte er sich um und sah Koshmar und Torlyri und die übrigen mit weit aufgerissenen Mäulern da stehen.
„Aber du bist ja ein kleiner Affe“, sagte der mittlere Saphiräugige. „Und die da hinter dir, das sind größere Affen. Und es waren Affen einer anderen und dümmeren Art, die euch im Wald angegriffen haben.“
„Ja, vielleicht waren die Affen. Wir jedenfalls sind menschliche Wesen“, erklärte Hresh mit Festigkeit.
„Aber, nicht doch“, sagte der linke Saphiräugige und gab wieder den leisen Zischlaut von sich. „Keine Menschlichen, nein. Die Menschen sind schon lange dahin und fort, schon mit dem Anbruch des Langen Winters.“
„Dahin? Wohin?“
„Sie sind fort, ja. Ihr seid bloß ihre entfernten Vettern, verstehst du? Ihr, aber auch die Waldleute, die in den Baumkronen schnattern.“
Hresh spürte, wie vor Bestürzung und Ärger sein Gesicht sich rötete.
„Ich glaub kein Wort davon.“
„Aber es ist so. Ihr und die Waldleute.“
„Ich verbiete dir, von denen und uns in einem Atemzug zu sprechen!“
„Aber sie sind eure Verwandten, kleiner Affe.“
„Nein! Nein!“
„Oh, eure Gattung ist weit überlegen, was den Verstand betrifft, das gebe ich gern zu. Aber ihr dürft euch niemals mit den Menschlichen verwechseln, Kind. Ihr seid nicht aus menschlichem Stoff, sondern aus einem anderen, etwas ähnlich vielleicht, vielleicht aus einer anderen Abstammungslinie von einem und demselben uralten Vorfahren der Menschen und der Affen: ein zweiter Versuch, vielleicht, das zu bewirken, was die Götter mit den Menschen erreicht haben.“
Hresh starrte stumm. Verwirrung und Zorn erstickten ihm die Kehle. Das sind böswillige Lügen, dachte er. Darauf abzielend, ihn zu demütigen und zu betrüben, weil er so keck gewesen war, in die äonenalte Einsamkeit dieser drei mißgünstigen Künstlichen einzudringen.
„Ihr seid den Menschlichen in gewissen Stücken ähnlich“, sagte der linke Saphiräugige, „aber nicht übermäßig. Das versichere ich dir. Sie trugen kein Fell, die Menschen, und sie hatten keine Schwänze, und.“
„Das ist kein Schwanz!“ rief Hresh empört. „Es ist ein Sensororgan!“
„Gewiß, ein modifizierter Schwanz“, fuhr der Saphiräugige unerbittlich fort. „Und er ist ziemlich gut, ja effektiv geradezu wirklich bemerkenswert. Aber ihr seid trotzdem keine Menschen. Es gibt hier keine Menschen mehr. Was ihr seid — ihr seid Affen — oder aber die Kinder von Affen. Die Menschen haben die Erde verlassen.“
Diese unglaublichen Worte waren niederschmetternd. Es mußte eine Lüge sein, die Künstlichen spielten gewiß nur mit ihm, versuchten ihn zu quälen und zu demütigen mit dieser abscheulichen, unmöglichen Schmachrede. Aber er konnte es dennoch nicht mit der gebührenden Verachtung abschütteln. Er spürte, wie sein Grimm der Verzweiflung wich.
„Nicht menschlich?“ stammelte Hresh, den Tränen nahe und mit einem Gefühl von Winzigkeit und Häßlichkeit. „Nicht — menschlich? Nein. Nein. Das kann nicht sein.“
„Was soll das?“ mischte sich Koshmar endlich ein. „Was sind das für Geschöpfe da? Saphiräugige, oder? Und sie sind noch am Leben?“
„Nein“, sagte Hresh, der sich allmählich wieder fing. „Es sind Künstliche in der Gestalt von Saphiräugigen. Nur die Torwächter von Vengiboneeza. Aber hast du gehört, was sie sagten, Koshmar? Ganz verrücktes Zeug? Daß wir keine Menschlichen seien. Daß wir Affen seien, oder Abkömmlinge von Affen, daß unsere Sensororgane nichts weiter seien als Affenschwänze, und daß die wirklichen Menschen von hier fortgezogen...“
Koshmar blickte bestürzt drein. „Was ist denn das für ein Unsinn?“
„Sie sagen.“
„Ja, ich hab gehört, was sie sagen.“ Sie wandte sich Torlyri zu. „Was hältst du davon?“
Die Opferfrau war sichtlich verwirrt, sie blinzelte, lächelte nervös, runzelte die Stirn. „Das sind sehr alte Geschöpfe. Vielleicht verfügen sie über Wissen, das.“
„Das ist absurd“, sagte Koshmar grob. Sie machte eine Bewegung zu Hresh hin. „Du da! Chronist! Du hast die Vergangenheit studiert. Sind wir Menschliche oder nicht?“
„Ich weiß es nicht. Die ganz frühen Chroniken sind sehr kompliziert. Die Menschen sind fort, sagen diese Künstlichen hier“, murmelte Hresh. Er fröstelte trotz der Wärme. Die Augen waren ihm heiß und wie geschwollen; jeden Augenblick konnten die Tränen hervorbrechen.
Koshmar schien sich vor Zorn zu blähen. „Und was wären dann Menschliche, wenn wir keine sind?“
„Die Künstlichen sagen, sie haben keinen Schwanz — keine Sensororgane. und daß sie keinen Pelz haben.“
„Dabei handelt es sich um eine andere Art von Menschlichen“, sagte Koshmar und erledigte mit einer wegwerfenden Handbewegung dieses Thema. „Ein anderer Stamm, längst schon verschwunden, falls es ihn je gegeben hat. Woher sollen wir wissen, daß sie je gelebt haben? Wir haben nichts als das Wort dieser — dieser Dinger da, dieser Künstlichen. Mögen sie sagen, was immer sie wollen. Wir wissen, wer wir sind.“
Hresh sagte nichts. Er mühte sich, das aus den Chroniken erlangte Wissen zu Rate zu ziehen, aber in seinem Kopf stiegen nur nebelhaft vieldeutige Bruchstücke herauf.
„Wir sind die Kinder des Herrn Fanigole und der Herrin Theel, die uns in den Kokon führten“, sagte Koshmar heftig. „Sie waren menschlich und wir sind menschlich. Und so ist es und so bleibt es. Basta!“
Von den saphiräugigen Künstlichen ertönte wieder das zischende Gelächter.
Koshmar fuhr wild zu ihnen herum. Sie vollführte eine zornige weitausholende Armbewegung, als schöbe sie Spinnengewebe beiseite, die ihr vor dem Gesicht in der Luft hingen. „Wir sind Menschliche“, wiederholte sie, und sie sagte es schrecklich und furchtbar. „Und möge kein Geschöpf — sei es lebendig oder künstlich — dies leugnen!“
Hresh hing zwischen leidenschaftlicher Zustimmung und betäubtem Unglauben in der Schwebe. Ihm war, als flattere seine Seele unsicher auf und ab. Nicht menschlich? Keine Menschen? Was bedeutete dies? Wie konnte das sein? Ein Affe, nichts weiter als ein Affe, eine etwas höhere Affenart? Nein. Nein. Nein. Er blickte zu Torlyri, flehte um Beistand, und die Opferpriesterin nahm seine Hand in ihre Hände. „Koshmar hat recht“, flüsterte sie. „Die Saphiraugen wollen uns nur beirren. Koshmar spricht die Wahrheit.“
„Ja“, schrie Koshmar, die sie gehört hatte. „So lautet die Wahrheit. Wenn es jemals hier Menschliches gegeben haben sollte, die kein Fell hatten und keine Sensororgane, nun, dann waren sie Bastarde und Mißgeburten, ein Irrtum der Götter, und sie sind jetzt verschwunden. Wir aber, wir sind hier. Und wir sind menschlich, gemäß dem Recht des Blutes, gemäß dem Gesetz der Generationenfolge. So lautet die Wahrheit. Bei Yissou, es ist die Wahrheit!“ Und sie trat vor und stellte sich vor den drei mächtigen Reptilien mitten im Tor auf. „Was habt ihr dazu zu sagen, ihr Saphiräugigen? Ihr sagt uns, wir seien keine Menschlichen? Aber sind wir denn nicht jetzt die einzigen Menschlichen? Menschen von einer anderen Art als jene, die ihr gekannt zu haben vorgebt, das vielleicht, aber auch Menschliche von einer besseren Art: Denn sie sind dahin, falls sie denn überhaupt jemals gelebt haben, und wir, wir sind hier. Wir haben ausgeharrt, während sie es nicht taten. Wir haben bis zum Ende des Winters überlebt, und nun werden wir die Welt wieder von dem Hjjk-Volk zurückerobern, oder von wem immer, der sich ihrer vielleicht in den Zeiten der Kälte bemächtigt hatte. Was sagt ihr dazu, ihr Saphiräugigen? Sind wir etwa keine Menschen? Und dürfen wir nicht in das Große Vengiboneeza einziehen? Was sagt ihr?“
Es trat ein langes qualvolles Schweigen ein.
„Ich sage es euch noch einmal“, verkündete Koshmar unerschütterlich. „Wenn wir nicht die Menschlichen sind, wie ihr sie gekannt habt, so sind wir doch jetzt die Menschen. Gesteht es zu! Gesteht! Menschen gemäß dem Recht der Nachfolge. Es ist unser schicksalhaftes ererbtes Recht, diese Stadt zu besitzen. Denn wo sind sie, jene, die ihr die echten Menschlichen nennt? Wo? Wo? Wir aber sind hier! Und so sage ich euch denn: Wir sind jetzt die Menschen.“
Immer noch Schweigen, gewaltig und tief. Hresh dachte bei sich, daß er Koshmar nie zuvor so majestätisch erlebt hatte.
Der mittlere Saphiräugige, der bisher zum fernen Horizont gestarrt hatte, wandte sich nun Koshmar zu. Lange betrachtete er sie mit reserviertem Interesse.
„So sei es denn“, sagte das Kunstgeschöpf schließlich, und genau in dem Augenblick, als werde die Luft selbst unter der Spannung krachend auseinanderbersten. „Ihr seid von nun an die Menschen.“ Und das Ding schien irgendwie zu lächeln.
Sodann verneigten sich die Reptiliengestalten und gaben den Weg frei.
Sie haben uns nachgegeben, dachte Hresh, von Freude und Staunen überwältigt. Sie sind uns gewichen!
Und Koshmar, die Führerin, reckte ihr Sensororgan hoch empor wie ein Zepter und führte ihre kleine Horde von Menschen durch das Tor und auf die leuchtenden Türme Vengiboneezas zu.