Ein strahlendblauer Himmel breitete sich über Meer und Küste, ein Himmel wie Seide. Die Küste war noch fern, ein schmaler, dunkler Streifen im Dunst des Horizonts, kaum erkennbar im flirrenden Licht, gegen das Angélique ihre an die Dämmerung der Kabine gewöhnten Augen schützen mußte. Hinter sich wußte sie die untersetzte, reglose Gestalt des Matrosen, den Monsieur de Breteuil, Gesandter des Königs von Frankreich, während der Stunden, die sie täglich an Bord verbringen durfte, um die frische Meeresbrise zu atmen und sich von der stickigen Hitze der engen Kabine zu erholen, mit ihrer Bewachung betraut hatte. Er folgte ihr wie ein Schatten, lautlos in seinen Segeltuchschuhen, schweigend und aufmerksam jede ihrer Bewegungen beobachtend, obwohl das Meer ihr keine Fluchtmöglichkeit bot.

Unter der die Augen beschattenden Hand spähte sie nach dem fernen Küstenstreifen hinüber, der sich allmählich deutlicher am Horizont abzuzeichnen begann.

Schon glaubte sie im Grün der Hügel weiße Häuser, einen Kirchturm zu erkennen, oder war es nur täuschende Vorspiegelung, Blendwerk der in der Sonnenglut zitternden Luft, wie sie es oftmals in der Wüste erlebt hatte?

Was mochte sie dort drüben, in der Heimat, erwarten? Mutlos wandte sie sich um. Was ihr an Gewißheit geblieben war, lag hinter ihr. Alles, was sie unternommen hatte, um Joffrey wiederzufinden, war vergeblich geblieben. Unbesonnen, dem Befehl des Königs zum Trotz, hatte sie sich in tödliche Gefahren gestürzt. Sie war in die gierigen Hände des Piraten d’Escrainville gefallen, hatte im Batistan von Kandia hüllenlos die lüsternen Blicke der Männer erdulden müssen, war von den Haremswächtern Moulay Ismaëls bis aufs Blut gepeitscht worden und schließlich in einer Odyssee ohnegleichen, jeden Augenblick der grausamen Vernichtung durch ihre Verfolger, reißende Tiere der Wildnis, Erschöpfung, Hunger und Durst gegenwärtig, wie durch ein Wunder in die Freiheit gelangt, die sie alsbald wieder verloren hatte. Und das alles, weil sie mit leidenschaftlicher Ungeduld einem Phantom nachgejagt war, das immer wieder vor ihren Augen Gestalt anzunehmen schien und dennoch ein Schatten blieb, ein Spukbild, trügerisch vor ihr auf gerichtet und ins Nichts zerfließend, sobald sie nach ihm zu greifen suchte.

Das war die zu schmerzender Gewißheit sich steigernde Ahnung: daß Joffrey nicht mehr lebte. Der geheimnisvolle, riesige Kontinent, der sich jenseits der Sonnenblitze sprühenden, wogenden Ebene des Meeres, jenseits des Horizonts ihrem Blick entzog, hatte ihn spurlos verschlungen. Mit einer Ungewissen, doch störrisch gehüteten Hoffnung war sie von Marseille aufgebrochen. Mit leeren Händen, leerem Herzen kehrte sie zurück ...

Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie erschrak aus ihren Gedanken auf. Der Matrose hatte sich ihr genähert.

»Eure Zeit ist um, Madame«, sagte er rauh.

Sie horchte seinen Worten nach, die unversehens eine neue Bedeutung gewannen.

Vielleicht, dachte sie. Vielleicht ...

In Marseille angelangt, ließ Monsieur de Breteuil Angélique, die er in Ceuta verhaftet hatte, im Fort der Admiralität festsetzen.

Solange man sich in dieser Stadt aufhielt, in der einstmals die Marquise du Plessis-Bellière die Polizei des Königreichs so erfolgreich an der Nase herumgeführt hatte, ließ die Sorge den Edelmann nicht los.

So geschah es, daß die einstige Gefangene der Berberesken, die unter so vielen Leiden aus dem Harem Moulay Ismaëls geflohen war, in einer düsteren, engen Zelle die Gewißheit gewann, daß sie ein Kind erwartete.

Dieser Gedanke kam ihr am Tage nach ihrer Einkerkerung in der Zitadelle, als ihr beim Erwachen bewußt wurde, daß sie von neuem wie ein Tier in der Falle gefangen saß.

Das Gefängnis der Admiralität war bar jeder Bequemlichkeit, Trotz des winzigen Stücks blauen Himmels, das durch das Eisengitter des hoch oben in die Mauer eingelassenen Fensters zu sehen war, glaubte Angélique ersticken zu müssen. Die ganze Nacht hindurch hatte sie gegen das schreckliche Gefühl angekämpft, lebendig begraben zu sein, das sie überfiel, sobald sie die Augen schloß, und bei Morgengrauen war sie mit ihrer Nervenkraft am Ende.

Ein Anfall panischer Angst warf sie gegen die Tür, ließ ihre Hände gegen das harte Holz trommeln, ohne Schrei, aber mit einer durch die Furcht entfesselten Kraft.

Der Himmel! Der Himmel! Die reine Luft! Man hatte sie in diesem Grab eingeschlossen, sie, die ihre Tage und Nächte in dem ungeheuren, magischen Raum der Wüste verbracht hatte.

Sie litt an diesem Eingeschlossensein bis zur Agonie. Und wie ein Vogel, den sein Käfig toll gemacht hat, preßte sie sich gegen das unerschütterliche Hindernis aus Holz und Eisen, schlug, schlug zu in fast lautloser Stille, Denn ihre schmalen, blassen Hände, die noch die Spuren der während ihrer Flucht erduldeten Leiden trugen, verursachten an der massiven Pforte weniger Lärm als das Schlagen der Flügel eines Vogels. Als sie den Schmerz ihrer geschundenen Hände spürte, hörte sie auf zu trommeln und wich bis zur Mauer zurück, um sich anzulehnen.

Ihre Blicke glitten von der Tür zur vergitterten Luke. Das Blau des Himmels war wie klares Wasser, nach dem sie dürstete.

Doch Osman Ferradji würde nicht kommen, um sie auf die flachen Dächer zu führen und ihre Augen mit der trügerischen Vision des endlosen Himmelsraums zu füllen.

Die, die sie umgaben, waren Fremde, deren finstere Blicke ihren Argwohn verrieten. Von Paris aus hat-te der Duc de Vivonne, um seine früheren Vergehen wiedergutzumachen, drakonische Anweisungen für ihre Überwachung gegeben. Die Admiralität von Marseille war angewiesen, Monsieur de Breteuil in jeder Weise zu unterstützen. Der Versuch, jemand für sich zu gewinnen, wäre von vornherein vergeblich gewesen, selbst wenn Angélique sich fähig gefühlt hatte, ihre Waffen zu nutzen. Ohnmächtige Müdigkeit lähmte sie, und zuweilen schien es ihr, als habe sie sich nicht einmal auf den Pfaden des Rifs so zerschlagen gefühlt.

Die Fahrt übers Meer von Ceuta nach Marseille, mit einem Aufenthalt in Cadiz, war ein Martyrium gewesen, in dessen Ablauf sie jeden Tag ein wenig mehr von ihrem Mut verloren hatte. Hatte Monsieur de Breteuil, als er sie im Namen des Königs verhaftete, die innere Feder zerbrochen, die sie hätte wieder aufrichten können .?

Sie schleppte sich bis zu ihrem Lager. Es war ein harter Strohsack auf einer Pritsche, aber darüber beklagte sich Angélique nicht. Sie schlief dort besser als auf weichen Kissen, und das einzige Lager, nach dem sie sich gesehnt hätte, um ihre müden Glieder auszuruhen, wäre ein Stück des kurzgeschorenen Rasens gewesen, irgendwo da unten unter den Zedern.

Ihr Blick kehrte zur Tür zurück. Wieviel Türen hatten sich im Laufe ihres Lebens hinter ihr geschlossen, dachte sie. Jedesmal schwerere, jedesmal blindere. War es ein Spiel, das das Schicksal mit ihr trieb, um sie dafür zu bestrafen, daß sie jenes Kind aus Monteloup gewesen war, das mit bloßen Füßen über Wiesen und Felder sprang, so leidenschaftlich verliebt in die Freiheit, daß die Bauern in ihr so etwas wie eine Fee gesehen hatten?

»Du entkommst uns nicht«, sagten die Türen. Und jedesmal, wenn es ihr gelang zu entkommen, richtete sich eine andere, undurchdringlichere vor ihr auf. Nach der Tür der Tour de Nesle die des Königs von Frankreich, die Haremsgitter Moulay Ismaëls und nun von neuem die des Königs.

Würde er der Stärkere sein?

Sie dachte an Fouquet, an den Marquis de Vardes, an den amüsanten Tollkopf Lauzun, die nicht weit entfernt in der Festung Pignerol eingekerkert waren, an alle die, die Jahre hindurch hinter Gefängnisgittern weit weniger ernste Verstöße büßten als die, die sie begangen hatte. Das Gefühl ihrer Einsamkeit und Schwäche bedrückte sie. Mit dem ersten Schritt auf französischem Boden hatte sie eine Welt betreten, in der die Menschen nur nach zwei Kriterien handelten: aus Furcht vor dem König oder aus Liebe zu ihm. Was von beiden auch immer, es galt nur das Gesetz des Herrn.

Auf diesen Gestaden waren die physische und moralische Kraft eines Colin Paturel, seine grenzenlose Güte, seine scharfe Intelligenz wertlose Dinge. Jeder Narr konnte ihn verachten, vorausgesetzt, daß er Spitzenmanschetten und Perücke trug.

Auf diesen Gestaden war Colin Paturel ohne Macht. Er war nur ein armer Seemann. Selbst die Erinnerung an ihn vermochte Angélique nicht aufzurichten. Endgültiger als durch den Tod war er aus ihrem Leben verschwunden.

Sie rief ihn mit halber Stimme:

»Colin! Colin, mein Bruder!«

Und ihre Not wurde so groß, daß sie in kalten Schweiß ausbrach und gegen eine Ohnmacht ankämpfen mußte.

In diesem Augenblick wurde die Ahnung in ihr wach, daß sie vielleicht von ihm schwanger war.

In Ceuta hatte sie das Ausbleiben gewisser natürlicher Vorgänge ihrer durch übermenschliche Anstrengungen angegriffenen Gesundheit zugeschrieben, aber nun, nach so langer Zeit, drängte sich eine andere Erklärung auf.

Sie erwartete ein Kind.

Ein Kind Colin Paturels! Ein Kind der Einöde! Reglos auf ihrem Lager ausgestreckt, ließ sie in sich den Zweifel zur Gewißheit werden, ließ sie sich von der unglaublichen Entdeckung überwältigen .

Erstaunen zuerst, dann ein seltsamer Friede und endlich Freude.

Es hätte Verdruß sein können, das Gefühl der Schande, ein Übermaß an Entmutigung.

Es war Freude.

Sie war noch zu nahe der Einöde, zu nahe dem Burnus der entflohenen Gefangenen, um schon wieder ganz in die Livree der großen Dame des Hofes hineingewachsen zu sein. Ein Teil von ihr preßte sich noch gegen das Herz des Normannen wie in jenen lichtdurchwirkten, goldflimmernden Nächten, in denen die Liebe, die sie zueinander trieb, gesättigt gewesen war vom Geschmack des Todes und der Ewigkeit.

Unter den eng geschnürten Roben nach französischer Mode, unter den bestickten Mänteln, unter dem in Ceuta wiedergefundenen Schmuck verbargen sich noch ihre rauhe Haut, die Spuren der Brandwunde an ihrem Bein, die verheilten Narben ihres gepeitschten Rückens.

Die Sohlen ihrer in eleganten Schuhen steckenden Füße trugen noch die Hornhaut, die sich auf den steinigen Pfaden des Rifs gebildet hatte. Sie dachte, freudig erregt, daß von nun an die Spur der unglaublichen Odyssee unverwischbar sein würde, durch dieses Kind, das in ihr wuchs. Es würde blond sein, stämmig und kraftvoll.

Was tat es, daß es ein Bastard war. Der Adel dessen, den sie den »König« der Gefangenen genannt hatten, verband sich mit den Tugenden der Kreuzritter, deren Blut in den Adern Angéliques de Sancé de Monteloup floß.

Ihr Sohn würde seine blauen Augen und seine Kraft besitzen. Ein kleiner, göttlicher Herkules, vom Strahlenglanz der Sonne des Mittelmeers wie von einer Aureole umgeben!

Er würde schön sein wie das erste auf Erden geborene Kind.

Sie sah ihn vor sich. Für ihn, durch ihn würde sie zu ihrer Kraft zurückfinden und kämpfen, um ihm die Freiheit zu gewinnen.

Lange lag sie so, ganz ihrer ein wenig närrischen Träumerei hingegeben, und sprach zuweilen halblaut vor sich hin.

»Du bist vergebens vor mir geflohen, Colin«, sagte sie. »Du hast mich vergebens verschmäht und zurückgestoßen. Du wirst trotzdem ein wenig bei mir bleiben, Colin, mein Kamerad, mein Freund ...«

Einige Tage später verließ eine Karosse mit vergitterten Türen und mit von schwarzen Vorhängen verhängten Fenstern Marseille und schlug die Straße nach Avignon ein. Eine stattliche Eskorte von zehn Musketieren begleitete sie.

Monsieur de Breteuil, der drinnen neben Angélique saß, drängte zur Eile.

Man hatte ihm soviel von der unglaublichen Geschicklichkeit und Bosheit Madame du Plessis-Bellières erzählt, daß er unaufhörlich darauf gefaßt war, sie sich jäh in ein Nichts auflösen zu sehen, und ihn plagte nur ein Gedanke: sich möglichst schnell seines Auftrags zu entledigen. Daß die junge Frau ihre Erschöpfung überwunden zu haben schien, beunruhigte ihn. Daß sie sich aufrecht hielt und sich zuweilen unverschämt gegen ihn benahm, ließ ihn das Schlimmste fürchten. Erwartete sie etwa Hilfe von ihren Komplizen?

Es war nicht zuviel gesagt, daß er sich während der Übernachtungen quer vor ihrer Tür ausstreckte und nur mit einem Auge schlief.

Vor der Durchquerung jedes Waldes, in dem man Gefahr lief, von zur Befreiung der Gefangenen entschlossenen Banden angegriffen zu werden, schlug er sich mit dem Gouverneur der nächstgelegenen Stadt wegen Gestellung zusätzlicher Begleitmannschaften herum. Die Kavalkade glich immer mehr einer militärischen Expedition. Müßiggänger drängten sich in den Städten um die Karosse, um herauszufinden, wer soviel Aufwand benötigte.

Monsieur de Breteuil tobte und bezahlte Gendarmen, die die Menge mit Hellebardenstößen zerstreuen mußten, was die Neugier und die Ansammlungen nur noch vermehrte.

Da er nicht mehr schlief und ständig von Unruhe gepeinigt wurde, sah Monsieur de Breteuil nur noch einen Ausweg aus seinen Qualen: Eile. Kaum, daß man nachts die Fahrt für einige Stunden in einer Herberge unterbrach, deren Gäste man ausquartierte und deren Wirtsleute man nicht aus den Augen ließ. Tagsüber wurden die abgetriebenen Pferde unaufhörlich durch neue ersetzt, die ein vorausgeschickter Kurier bestellte, um Wartezeiten auf den Poststationen zu vermeiden.

Von den Stößen des Wagens auf den holprigen Straßen durchgeschüttelt und erschöpft von der unsinnigen, unaufhörlichen Hast, protestierte Angélique:

»Wollt Ihr mich töten, Monsieur? Ich brauche ein paar Stunden Ruhe. Ich kann nicht mehr.«

»Plötzlich so zart, Madame?« spottete Monsieur de Breteuil. »Habt Ihr im Königreich Marokko nicht schlimmere Anstrengungen überstanden?«

Sie wagte ihm nicht zu sagen, daß sie schwanger war.

An die Bank oder den Türgriff geklammert, halb erstickt vom Staub, wünschte sie sich nichts anderes als endlich am Ziel dieser teuflischen Reise anzulangen.

Am Abend eines besonders aufreibenden Tages -sie nahmen eben in vollem Galopp eine Kurve auf der Kuppe eines Hügels - schien der Wagen plötzlich nur noch auf zwei Rädern zu rollen, dann schwankte er und stürzte um. Dem Kutscher, der den Unfall hatte kommen sehen, war eben noch Zeit geblieben, sein Gespann zu zügeln. Der Schock war weniger heftig als befürchtet, aber Angélique, die der Aufprall von ihrem Sitz geschleudert und zwischen Wagenwand und der losgerissenen Bank eingekeilt hatte, begriff sofort, was ihr geschehen war.

Man zog sie rasch aus der Karosse und bettete sie ins Gras zu Seiten der Straße.

Monsieur de Breteuil beugte sich mit bleichem Gesicht über sie. Wenn Madame du Plessis starb, war ihm der Zorn des Königs gewiß. In einer jähen Ahnung wurde ihm klar, daß es um seinen Kopf ging, und er glaubte schon die Schneide der Axt des Henkers kalt in seinem Nacken zu spüren.

»Es ist Euch doch nichts geschehen, Madame?« flehte er. »Der Sturz war nicht der Rede wert!«

Mit völlig veränderter, verzweifelter, verstörter Stimme schrie sie ihm zu:

»Ihr seid schuld! Ihr und Euer sinnloses Jagen! Ihr habt mir alles genommen! Ich habe alles verloren durch Eure Schuld, Elender!«

Ihre Hände schnellten vor, und ihre Fingernägel zerrissen seine Wangen.

Auf einer improvisierten Bahre wurde sie von den Soldaten ins nächste Dorf geschafft. Die bestürzten Männer sahen die Blutflecken auf ihrem Kleid und hielten sie für ernstlich verletzt. Doch der Chirurg, den man zu Rate zog, erklärte nach der Untersuchung, daß der Fall ihn nicht betreffe und daß man eine Hebamme holen solle.

Angélique lag im Hause des Bürgermeisters. Sie fühlte ihre Lebenskräfte mit jenem anderen Leben schwinden.

Ein Geruch nach Kohlsuppe durchzog die Räume des großen, bürgerlichen Hauses und steigerte ihre Übelkeit und ihren Ekel. Das rote, schwitzende, von einer bäuerlichen Haube umrahmte Gesicht der Hebamme neigte sich von Zeit zu Zeit über sie und ließ sie die Augen schließen. Die ganze Nacht kämpfte die gute Frau hartnäckig, um dieses seltsame, seiner Körperlichkeit fast schon entflohene Wesen mit dem von honigfarbenem Haar umflossenen, wunderlich gebeizten Gesicht zu retten. Der Sonnenbrand hob sich in bräunlichen Flecken von dem wachsigen Teint ab, die Augen verloren ihren Glanz, und in den Mundwinkeln sammelte sich malvenfarbener Schleim. Die Hebamme erkannte die Zeichen des Todes.

»Nicht, meine Kleine«, flüsterte sie, über die halb bewußtlose Angélique gebeugt, »Ihr dürft nicht ...«

Angélique verfolgte die Bewegungen der Schatten um ihr Lager wie etwas, das sie nicht mehr betraf.

Sie fühlte, daß jemand sie anhob, daß frische Laken unter sie gebreitet wurden, und das Kupferoval der Wärmeflasche vollführte einen lauwarmen, besänftigenden Tanz.

Sie fühlte sich besser, die Kälte, die ihre Glieder hatte erstarren lassen, wich von ihr. Man rieb sie ab und gab ihr warmen, gewürzten Wein zu trinken.

»Trinkt, meine Kleine. Ihr müßt wieder Blut in die Adern kriegen. Ihr habt schon zuviel verloren.«

Sie begann den herben Geruch des Weins wahrzunehmen, den Duft von Zimt und Ingwer ...

Oh, der Duft der Gewürze ... der Duft glücklicher Reisen! ... Mit diesen Worten war der alte Savary gestorben.

Angélique öffnete die Augen. Vor ihr ein großes Fenster zwischen schweren Vorhängen. Vor den Scheiben dichter, rauchfarbener Nebel. »Wann wird es Tag werden?« murmelte sie.

Die derbe, rotwangige Frau an ihrem Bett betrachtete sie befriedigt. »Er ist schon da«, meinte sie jovial. »Das da draußen ist nur der Nebel vom Fluß. Heute ist es frisch. Die richtige Zeit, um in den Federn zu bleiben und nicht mit der Postkutsche herumzukutschieren. Besser hattet Ihr’s gar nicht abpassen können.«

Sie schwieg, dann fügte sie vertraulich hinzu:

»Jetzt, wo Ihr aus dem Gröbsten raus seid, kann man ja sagen, daß es ein wahres Glück gewesen ist. Ihr habt es wenigstens hinter Euch.« Der wilde Blick, der ihr antwortete, überraschte sie:

»Was denn? Für eine große Dame in Eurer Lage ist ein Kind immer unwillkommen. Ich weiß, wovon ich rede. Es gibt genug, die zu mir kommen, um sich ihrs wegbringen zu lassen. Ihr braucht Euch keine Sorgen mehr zu machen. Und es war nicht einmal so schlimm, obwohl Ihr mir ganz schön Angst gemacht habt.«

Verwirrt durch das Schweigen ihrer Patientin fuhr sie fort:

»Glaubt mir, meine Kleine, man darf nichts bedauern. Kinder machen alles nur schwierig. Wenn man sie nicht liebt, weiß man nicht, was man mit ihnen anfangen soll. Wenn man sie liebt, machen sie einen schwach.«

Sie schloß mit einem Schulterzucken:

»Und wenn’s Euch wirklich so bekümmert, wird Euch, schön wie Ihr seid, die Gelegenheit nicht fehlen, ein anderes zu bekommen.«

Angélique preßte die Zähne zusammen, bis sie ihr wehtaten.

Das Kind Colin Paturels würde nicht zur Welt kommen.

Sie fühlte sich nun wirklich um alles gebracht.

Alles! Ein heftiges Gefühl, dem Haß verwandt, stieg in ihr auf und rettete sie vor der Verzweiflung. Es war wie ein reißender Strom, der noch nicht sein Ziel gewählt hatte, der aber das Verlangen nach Kampf in ihr löste. Ein rasendes Verlangen zu überleben, um sich zu rächen, zu rächen für alles.

Denn trotz allem, was sie erduldet hatte, war sie hellsichtig genug, um die Größe der Gefahr zu begreifen, die ihre Freiheit bedrohte. Bald würde sie, wie eine Verbrecherin von bewaffneten Soldaten bewacht, ihre vom Herrn des Königreichs befohlene Reise fortsetzen müssen. Welcher endgültigen Strafe, welchem Kerker würde sie entgegenfahren?

Ein zitternder Ruf stieg in die Nacht, schwebte in der Stille und erlosch wie erschöpft.

»Ein Käuzchen«, dachte Angélique. »Es jagt auf Beute ...« Wieder ließ der Vogel seinen samtenen Schrei vernehmen, zart und fern, gedämpft durch den vom Mondlicht durchwirkten Nebel.

Angélique stützte sich auf einem Ellbogen hoch. Vor sich, nahe der Stelle, wo sie auf dem Boden ausgestreckt lag, sah sie einen Ausschnitt des schwarzweiß gemusterten Marmor-Estrichs leuchten, in dem sich die Umrisse von Möbeln spiegelten.

Im Hintergrund des Raums fiel sanftes, milchiges Licht durch das offene Fenster und trug, sich ausbreitend und die Dunkelheit durchdringend, den ganzen Zauber einer Frühlingsnacht ins Zimmer. Angezogen von diesem Schein, gelang es der jungen Frau, sich aufzurichten und mit unsicheren, taumelnden Schritten das Fenster zu erreichen. Eingesponnen vom silbrigen Licht und angesichts des voll ausgerundeten Mondes, der eben aufgegangen war, überfiel sie von neuem ein Schwächeanfall, so daß sie sich auf die Fensterbank stützen mußte. Vor ihr, unter dem nächtlichen Himmel, erhob sich der Schattenwall reglos aneinandergedrängter Bäume mit dichten Kronen, deren von königlichem Blätterprunk umhüllte Äste wie Kandelaber ragten, mächtige Stämme, den dunklen Tempel tragende Säulen, die von dem durch eine Lichtung einfallenden Schimmer des Mondes aus der Nacht gehoben wurden.

»Du ...!« flüsterte sie.

Von einer nahen Eiche erhob sich von neuem der Ruf des Käuzchens, nun klar, durchdringend, und schien den Gruß der Landschaft Nieuls bis zu ihr zu tragen.

»Du«, wiederholte sie, »du! Mein Wald! Mein wilder Forst!«

Ein sanfter Wind, kaum spürbar und von unvergleichlicher Zärtlichkeit, strich in langsamen Zügen seines Atems vorbei, die sich zuweilen nur durch den intensiver werdenden Duft blühenden Weißdorns verrieten. Angélique sog die Luft ein. Ihre ausgedörrten Lungen fanden wie in einem Rausch die heilsame Feuchtigkeit wieder, die strömend zu ihr aufstieg, genetzt durch die Frische all der Quellen und den Weihrauch der steigenden Säfte.

Ihre Schwäche verließ sie, sie konnte den Halt der Fensterbank entbehren und um sich blicken. Über dem Alkoven tummelte sich in einem Rahmen aus vergoldetem Holz ein junger Gott des Olymps unter den Göttinnen. Sie war in Plessis. Es war dasselbe Zimmer, in dem sie einstmals - es war sehr lange her, sie war damals sechzehn Jahre alt gewesen, ein ungezügeltes, neugieriges Mädchen - das Liebesspiel des Fürsten Condé und der Herzogin von Beaufort beobachtet hatte.

Auf demselben Fußboden aus schwarzen und weißen Marmorfliesen, indem sich die schönen Möbel spiegelten, hatte sie wie heute gelegen, vor Schmerz gepeinigt, erschöpft und besiegt, während sich in den Korridoren des Schlosses die taumelnden Schritte des schönen Philippe, ihres zweiten Gatten, entfernten, der so grausam seine Hochzeitsnacht gefeiert hatte.

Dorthin hatte sie sich mit dem Kummer und den Widrigkeiten ihrer zweiten Witwenschaft geflüchtet, bevor sie von neuem der faszinierenden Verlockung des Hofes von Versailles gefolgt war.

Angélique kehrte zu ihrem Lager zurück, streckte sich aus, die Härte des Bodens genußvoll spürend. Mit jenem tierhaften Zusammenrollen, das ihr in der Einöde zur zweiten Natur geworden war, wik-kelte sie sich in ihre Decke wie in einem Burnus. Tiefe Zufriedenheit verdrängte die Angst, die sie im Halbbewußtsein ihres Krankheitszustandes unablässig verfolgt hatte.

»Bei mir«, dachte sie erleichtert. »Ich bin zu mir zurückgekommen ... nun ist alles möglich.«

Als sie erwachte, stand die Sonne am Himmel, und die jammernde Stimme ihrer Dienerin Barbe drang mit den gewohnten Klageliedern an ihr Ohr:

»Da, sehen Sie nur, die arme Dame ... Es ist immer dasselbe! Auf der bloßen Erde wie ein Hund! Ich kann sie abends noch so fest einwickeln, sie findet, kaum daß ich ihr den Rücken wende, immer noch genug Kraft, um sich mit ihrer Decke wie ein krankes Tier auf den Boden zu legen. >Wenn du wüßtest, wie gut es sich auf der Erde schläft, Barbe<, sagt sie zu mir, >wenn du wüßtest, wie gut es tut.< Was für ein Jammer! Sie, die so ihre Bequemlichkeit liebte, die niemals genug Federbetten über sich haben konnte, weil sie immer so fröstelig war. Kaum zu glauben, was diese Leute in der Berberei in weniger als einem Jahr aus ihr gemacht haben! Ihr müßt es dem König sagen, Messieurs! ... Oh, meine schöne, gepflegte Herrin! Ihr habt sie vor noch nicht gar so langer Zeit in Versailles gesehen, und man möchte heulen, wenn man sie heute betrachtet. Ich würde nicht glauben, daß sie es ist, wenn es nicht genauso wie früher immer nach ihrem Kopf gehen müßte, trotz allem, was man ihr sagt. Solche Wilden wie die verdienen gar nicht zu leben. Der König müßte sie bestrafen, Messieurs!«

Drei Paar Halbschuhe und ein Paar Stiefel hatten sich am Rande von Angéliques Lager aufgereiht. Sie wußte, daß die Halbschuhe mit roten Hacken und Schnallen aus vergoldetem Silber Monsieur de Breteuil gehörten, aber die andern waren ihr unbekannt.

Sie hob die Augen. Die Beine in den Stiefeln trugen eine dickbäuchige, in eine blaue Offizierskasacke gezwängte Erscheinung mit hochrotem, schnurrbärtigem Gesicht und rotem Haar.

Die Kastorschuhe mit silbernen Schnallen, schmucklos, wie es die Regel vorschrieb, in denen schwarze Beine mit mageren Waden steckten, wären auch dann ein untrügliches Zeichen der Anwesenheit eines zum Hof gehörenden Muckers gewesen, hätte Angélique in ihrem Eigentümer nicht sofort den Marquis de Solignac erkannt.

Die vierte Person, gleichfalls durch rote Hacken und zudem noch durch diamantbesetzte Schnallen ausgezeichnet, trug über einem breiten, ein wenig altmodischen Spitzenkragen das scharfgeschnittene, trockene Gesicht eines hohen Militärs, dessen Strenge noch durch einen gestutzten grauen Zwickelbart betont wurde. Diese letztere Person war es, die nach einer Verbeugung vor der zu seinen Füßen ausgestreckten jungen Frau das Wort ergriff.

»Ich habe die Ehre, mich vorzustellen, Madame. Ich bin der Marquis de Marillac, Gouverneur des Poitou und von Seiner Majestät beauftragt, Euch ihre Entschließungen zu übermitteln.«

»Könnt Ihr nicht ein wenig lauter sprechen, Monsieur«, sagte Angélique, ihre Schwäche unterstreichend. »Eure Worte gelangen kaum zu mir.«

Monsieur de Marillac blieb nichts anderes übrig als niederzuknien, um sich verständlich zu machen, und seine Begleiter mußten wohl oder übel seinem Beispiel folgen.

Angélique genoß hinter halbgeschlossenen Lidern das Vergnügen, die vier grotesken Gestalten kniend um sich versammelt zu sehen, und ihre Befriedigung wuchs noch, als sie feststellte, daß das Gesicht de Breteuils noch die roten, geschwollenen Spuren trug, die ihre Nägel hinterlassen hatten.

Währenddessen entfaltete der Gouverneur ein Pergament, nachdem er dessen Wachssiegel aufgebrochen hatte, und kratzte sich den Hals.

»An Madame du Plessis-Bellière, Unsere Untertanin, die, schuldig einer schweren Widersetzlichkeit gegen Uns, Unseren Zorn hervorgerufen hat. Wir, König von Frankreich, sind es Uns schuldig, diese Zeilen zu schreiben, um ihr Unsere Gefühle anzuzeigen, die sie vorgeben könnte nicht zu kennen, und sie zum Ausdruck ihrer Unterwerfung zu führen.

Madame,

Unser Schmerz ist groß gewesen, als Ihr vor einigen Monaten durch Undankbarkeit und Ungehorsam auf die Wohltaten geantwortet habt, mit denen Euch sowie die Euren zu überschütten es Uns gefiel. Trotz ausdrücklichen Befehls habt Ihr Paris verlassen, obwohl dieser Befehl durch den Wunsch diktiert war, Euch, deren impulsive Natur Wir kennen, vor Euch selbst und den unüberlegten Handlungen zu bewahren, die zu begehen Ihr hättet versucht sein können. Ihr habt sie begangen, habt Euch in Gefahren und Enttäuschungen gestürzt, vor denen Wir Euch schützen wollten, und seid deshalb unbarmherzig gestraft worden. Der verzweifelte Hilferuf, den Ihr Uns durch den Superiordes Redemptionistenordens, den R. P de Valombreuze, nach seiner Rückkehr aus Marokko habt zukommen lassen, hat Uns in Kenntnis der traurigen Lage gesetzt, in die Euch Eure Irrtümer gebracht hatten. Als Gefangene der Berber habt Ihr das Ausmaß Eurer Verirrungen ermessen können und Euch mit der üblichen Leichtfertigkeit Eures Geschlechts an den Souverän gewandt, den Ihr zuvor verhöhnt hattet, um seine Hilfe zu erflehen.

Mit Rücksicht auf den großen Namen, den Ihr tragt, und auf die Freundschaft, die Uns dem Marschall du Plessis verband, schließlich aus Mitleid mit Euch selbst, die Wir noch immer zu Unseren geliebten Untertanen zählen, haben Wir, um Euch nicht die ganze Schwere der Züchtigung tragen zu lassen, indem Wir Euch jenen grausamen Barbaren überließen, auf Euren Ruf geantwortet.

Ihr befindet Euch nun gesund und wohlbehalten auf dem Boden Frankreichs. Wir sind darüber erfreut.

Indessen scheint es Uns gerecht, daß Ihr Uns um Vergebung bittet. Wir hätten Euch eine Zeitspanne notwendigen Insichgehens in der Zurückgezogenheit eines Klosters auferlegen können. Der Gedanke an die Leiden, denen Ihr unterworfen wart, hat Uns diese Möglichkeit jedoch verwerfen lassen. Wir haben es vorgezogen, Euch im Bewußtsein, daß die heimatliche Umgebung die Besinnung zu fördern vermag, auf Euer Besitztum zu schicken. Ihr befindet Euch dort nicht in der Verbannung. Ihr braucht dort nur bis zu dem Tage zu bleiben, an dem Ihr aus eigenem Entschluß den Weg nach Versailles wählt, um Euch zu unterwerfen. In Erwartung dieses Tages, den Wir nahe wünschen, wird ein von Monsieur de Marillac, Gouverneur der Provinz, ausgewählter Offizier mit Eurer Überwachung beauftragt .«

Monsieur de Marillac unterbrach sich, hob die Augen und wies auf den dicken Militär: »Madame, ich stelle Euch den Kapitän Montadour vor, dem ich die Ehre Eurer Bewachung anvertraut habe.«

Der Kapitän war eben in dem Versuch begriffen, unauffällig von einem Knie aufs andere zu wechseln, um die schmerzlichen Unzuträglichkeiten einer Stellung zu mildern, an die seine umfängliche Person nicht gewöhnt war. Fast wäre er gefallen, raffte sich jedoch im letzten Augenblick hoch und versicherte mit Stentorstimme, daß er der Marquise du Plessis zu Diensten sei.

Noch immer unter ihrer Decke zusammengerollt, hielt Angélique die Lider geschlossen und schien zu schlafen.

Heroisch setzte Monsieur de Marillac das Verlesen der königlichen Botschaft fort:

»Unter folgenden Bedingungen wird die Unterwerfung Madame du Plessis-Bellières erfolgen müssen. Das Ungestüm der Mitglieder ihrer Familie, deren eines sich kürzlich sogar des Majestätsverbrechens schuldig gemacht hat, ist allzu bekannt, als daß die Unterwerfung nicht einer besonders nachhaltigen Form bedürfte, die durch beklagenswerte Beispiele auf die Bahn der Rebellion verlockte Geister zum Nachdenken veranlassen soll.

Da Madame du Plessis Uns öffentlich widersetzlich gewesen ist, hat die Sühne öffentlich zu erfolgen.

Sie wird sich in einer Kutsche mit schwarzbebänderter Peitsche nach Versailles begeben. Die Kutsche wird außerhalb des Gitters halten und nicht in den Ehrenhof einfahren dürfen.

Madame du Plessis wird bescheiden und in dunkle Farben gekleidet sein.

In Gegenwart des gesamten Hofes wird sie vor den König treten, vor ihm niederknien, seine Hand küssen und ihren Lehns- und Vasalleneid erneuern.

Darüber hinaus wird sie aufgefordert werden, der Krone eins ihrer Lehnsgüter in der Touraine zu schenken. Die Urkunden und Verträge dieser Übereignung müssen Unserem Großkämmerer als Zeichen der Huldigung und Abbitte im Laufe dieser Zeremonie überreicht werden. Von nun an wird Madame du Plessis-Bellière es sich angelegen sein lassen, ihrem Souverän mit einer Treue zu dienen, die wir Uns ohne Schatten wünschen. Sie wird in Versailles bleiben, die Titel und Ehren annehmen, mit denen sie zu belehnen Wir für richtig halten, was, wie Wir wissen, ihren Stolz härter ankommen wird als kein Amt zu empfangen. Sie wird aufs sorgfältigste ihre Amtspflichten erfüllen, kurzum, sich dem Dienst des Königs mit Ergebenheit widmen, sei es im Königreich, bei Hofe ...«

»... oder in seinem Bett«, vollendete Angélique.

Monsieur de Marillac erzitterte. Seit einigen Augenblicken war er von der Vergeblichkeit seiner Ansprache, die er an eine im Halbdämmer hoffnungsloser Krankheit vegetierende Unglückliche richtete, völlig überzeugt.

Der Einwurf Angéliques und der spöttische Blick, der durch ihre Wimpern filterte, bewiesen ihm jedoch, daß sie ausgezeichnet zugehört hatte und keineswegs so kraftlos war, wie sie vorgab. Die pergamentenen Wangen des Gouverneurs röteten sich, und er sagte trocken:

»Das steht nicht im Schreiben Seiner Majestät.«

»Gewiß, aber es ist stillschweigend darin enthalten«, erwiderte Angélique sanft.

Monsieur de Marillac kratzte sich den Hals und stotterte ein wenig, bevor er den Faden seiner Lektüre wiederfand:

». bei Hofe oder an welchem Ort auch immer, zu dem sie in seinem Dienst zu schicken es Seiner Majestät gefallen wird.«

»Könnt Ihr nicht zum Schluß kommen, Monsieur? Ich bin müde.«

»Wir auch«, bemerkte der Edelmann entrüstet. »Seht Ihr nicht, Madame, in welche Lage Ihr uns bei dieser Lektüre zwingt?«

»Ich sterbe, Monsieur.«

Ein boshafter Ausdruck glitt über das Gesicht des Grandseigneurs.

»Ich rate Euch, nicht zu lange zu sterben, Madame, denn Ihr dürft nicht glauben, daß die Nachsicht Seiner Majestät Euch gegenüber ewig währt. Mit dieser Warnung schließt in der Tat ihr Schreiben. Wißt also, Madame, daß Euch der König in seiner Güte mehrere Monate der Überlegung zubilligt, bevor er Euch endgültig als unverbesserliche Rebellin betrachtet. Ist dieser Zeitraum verstrichen, wird er unbeugsam sein. Wir sind im Mai, Madame. Der König weiß Euch krank, erschöpft. Er ist entschlossen, Geduld zu üben, aber wenn Ihr bis zu den ersten Oktobertagen die Euch auferlegten Bedingungen nicht erfüllt, um seine Verzeihung zu erlangen, wird er Eure Weigerung als offene Rebellion ansehen.«

»Was wird dann geschehen?«

Monsieur de Marillac entfaltete von neuem das Schreiben des Souveräns.

»Madame du Plessis wird arretiert und in eine Festung oder ein Kloster Unserer Wahl überführt werden. Ihre Wohnsitze werden versiegelt, ihre Schlösser, Häuser und Ländereien verkauft werden. Ihr verbleiben als Lehen und erblicher Besitz allein Schloß und Domäne du Plessis, die an Charles-Henri du Plessis, Sohn des Marschalls und Unser Patenkind, dessen Vormundschaft Wir übernehmen, fallen werden.«

»Und mein Sohn Florimond?« fragte Angélique erblassend.

»Er ist hier nicht erwähnt.«

Ein Schweigen breitete sich aus, in dem Angélique die befriedigten Blicke der Männer auf sich ruhen fühlte, die sie kaum kannte, denen sie nichts getan hatte und die dennoch sichtlich ihre Niederlage genossen, weil das Verlangen, die Schönheit am Boden und das gedemütigt zu sehen, was nicht im Staube kriechen will, zu den natürlichen Trieben des armseligen Menschen zahlt.

Für lange Zeit würde Madame du Plessis ihren kleinen, stolzen Kopf nicht mehr erheben, würde sie zwischen dem König und den Einflüssen, die andere Geister vergeblich auf ihn auszuüben versuchten, nicht mehr die Schranke ihrer smaragdenen Augen errichten. Sie würde in Versailles nur erscheinen, um sich einer schmerzlichen Prüfung zu unterwerfen, die ihren Hochmut für immer bändigen würde. Sie verlöre so ihre unbezähmbare Kraft, sie würde wie die andern werden: ein gelehriges Instrument, ausgeliefert geschickten Händen, die geschaffen waren, Seelen und Schicksale zu lenken. Hatte man es nicht schlau angefangen, dem König Unnachgiebigkeit zu empfehlen?

Monsieur de Solignac brach als erster das Schweigen mit salbungsvoller, leiser Stimme. Er hatte durch das lange Knien nicht gelitten, denn er war an endlose Gebete in der Verschwiegenheit seines Betzimmers gewöhnt, wenn er von Gott die Kraft zur Fortsetzung und Bewältigung des erschöpfenden und geheimen Werks erflehte, einer verderbten Welt sein göttliches Gesetz aufzuzwingen. Er erklärte, ihm scheine der Augenblick für Madame du Plessis-Bellière gekommen, ihre vergangenen Irrtümer zu überdenken und die Zeit, die ihr die Nachsicht des Königs ließe, zur Beibringung von Beweisen einer nachhaltigen Reue zu nützen. Würde der König ihr nicht für immer verzeihen, wenn sie ihm als Pfand die Bekehrung seiner Provinz Poitou überbrächte?

»Es ist Euch gewiß nicht entgangen, Madame, daß die sogenannte reformierte Religion in den letzten Zügen liegt. Ihre Anhänger schwören in großer Zahl ihren Irrglauben ab und kehren an den Busen der katholischen und apostolischen Mutterkirche zurück.

Allerdings gibt es noch einige Unbelehrbare, besonders in dieser abgelegenen und wilden Region, aus der Ihr stammt und in der Ihr Ländereien besitzt. Kapitän Montadour, einer unserer eifrigsten Bekehrer und zu diesem Zwecke seit mehreren Monaten hier, hat die größte Mühe, die Hugenotten Eurer Domänen dazu zu bringen, von ihren infamen Überzeugungen zu lassen. Wir hoffen, Madame, Eure Unterstützung bei diesem heiligen Werk zu finden. Ihr kennt die Bauern dieser Provinz, kennt ihre Sprache. Ihr seid ihre Lehnsherrin. Ihr habt mehr als ein Mittel, Eure hugenottischen Hörigen zum Verzicht auf ihre sträflichen Ketzereien zu zwingen. Ihr seht, Madame, welch noble Aufgabe Eurer wartet. Bedenkt, wie sehr der König, den Ihr beleidigt habt. Euch für die Hilfe beim Werk der Einigung seines Reiches, das er zum höheren Ruhme Gottes unternommen hat, Dank wissen wird .«

Was Monsieur de Marillac durch die königliche Botschaft nicht erreicht hatte, brachten die Mahnungen Monsieur de Solignacs zuwege. Angélique fühlte sich aus ihrem gespielten Dämmerzustand gerissen, setzte sich jäh auf und fixierte die Männer mit weit aufgerissenen, brennenden Augen.

»Ist die Bekehrung meiner Provinz in die Bedingungen Seiner Majestät eingeschlossen?«

Ein sarkastisches Lächeln entblößte die gelblichen Zähne Monsieur de Marillacs. »Nein, Madame«, erwiderte er, »aber sie ist stillschweigend darin enthalten.«

Gleichzeitig und mit derselben Bewegung neigten sich die Herren de Marillac, Solignac und Breteuil über sie. Montadour hätte es ihnen nachgetan, wenn ihn sein Bauch nicht daran gehindert hätte. Er beschränkte sich darauf, sich so weit vorzubeugen, wie es ihm eben möglich war. Eine andere Hoffnung als die, Angélique zu einer heiligen Mission zu bekehren, verursachte ihm heftigen Blutandrang. Er entdeckte nämlich, daß diese Halbtote, die vor ein paar Tagen, fast schon in ihr Leichentuch eingenäht, im Schloß eingetroffen war, verteufelt verführerisch aussah.

Die vier über sie geneigten Gesichter riefen Angélique die Alpträume aus den Tagen ihrer Gefangenschaft ins Gedächtnis zurück, als ihr im Schlaf befreiter Geist sie zu den noch nahen Erinnerungsbildern des Hofs von Frankreich zurückgeführt und sie die bedrückende, von Komplotten und Drohungen genährte Atmosphäre Versailles’ hatte spüren lassen, in die sich die Angst vor den in geheimen Winkeln ihre schwarzen Messen zelebrierenden Giftmischern und den weihrauchumwölkten Intrigen fanatischer Glaubensverbreiter seltsam mischte. Alles das, wovor sie geflohen war und was sie für immer verworfen hatte, gewann von neuem Gestalt und niederträchtig wirkende Kraft. »Madame«, murmelte Marillac, »gebt uns Beweise Eures Eifers, und wir werden Euch das Schlimmste ersparen. Wir werden uns bemühen, die Gnade des Königs für Euch zu erwirken. Wir könnten ihn, zum Beispiel, dazu bewegen, die Härten der Euch auferlegten Buße zu mildern. Vielleicht ließe sich die Kutsche außerhalb des Gitters vermeiden ... das schwarze Kleid ... der Vasalleneid ...«

Er war nicht ungeschickt. Er wußte, daß eine Frau wie Angélique die demütigenden Kleinigkeiten schlimmer empfinden mußte als etwa die Übereignung einer ihrer Domänen an die Krone. Sie erwarteten ihre Versprechungen und Verpflichtungen, während sie sich schon ihre Instruktionen zurechtlegten.

Doch sie entzog sich ihnen hochmütig.

»Seid Ihr zu Ende, Messieurs?«

Der Gouverneur preßte die Lippen zusammen.

»Nein, wir sind nicht zu Ende, Madame. Ich habe Euch noch eine persönliche Botschaft Seiner Majestät zu überreichen. Hier ist sie.«

Angélique löste das rote Siegel und erkannte die königliche Schrift.

»Bagatellchen, mein unausstehliches, mein unvergeßliches Kind .« Die Buchstaben tanzten vor ihren Augen. Sie wollte nicht weiterlesen und ließ den Brief sinken.

Die Abgesandten des Königs erhoben sich und zogen sich zurück. Monsieur de Marillac warf noch einen Blick auf die in ihre Decke gehüllte Gestalt, dann zuckte er die Schultern. Er würde den König wissen lassen, daß diese Frau gestörten Geistes sei. Sich auf den Fußboden zu legen, wenn man die Königin von Versailles gewesen war! Sie konnte einem leid tun. Er hatte unrecht gehabt, auf Solignac zu hören und sich in diese Angelegenheit zu mischen. Weder für den König noch für ihn oder die Gesellschaft vom Heiligen Sakrament war dabei zu profitieren. Allem Anschein nach lag sie im Sterben.

»Messieurs!«

Angélique rief sie zurück; sie verhielten an der Tür. Während sie sich von neuem aufrichtete, schuf ihr das wirre Haar eine Art fahlen Glorienscheins, der den Glanz ihres Blicks noch unterstrich.

»Messieurs, Ihr werdet dem König sagen, daß er nicht das Recht hat, gut zu mir zu sein.«

»Was soll das heißen, Madame?« fragte Marillac überrascht. »Haltet Ihr Euch der Güte Seiner Majestät für unwürdig?«

»Nein. Ich will damit sagen, daß Güte zwischen uns nichts zu suchen hat. Seine Liebe beleidigt mich. Denn wir sind Feinde, nicht wahr? Zwischen uns kann es nur eines geben: Krieg!«

Der Gouverneur verfärbte sich. Ein Schwindel erfaßte ihn bei der Vorstellung, dem König solche Worte wiederholen zu müssen.

Die drei Edelmänner entfernten sich sorgenvoll.

»Närrin! Närrin, die Ihr seid!« jammerte Barbe und stürzte zum Lager ihrer Herrin. »Welche Tollheit hat Euch nur gepackt, ihnen derlei Dinge an den Kopf zu werfen! Der König hat sie doch geschickt um alles zu arrangieren! Ah, Ihr habt eine schöne Art, Eure Verzeihung zu erkaufen!«

»Horchst du an den Türen, Barbe?«

Einmal in Schwung, fuhr Barbe, von einem heiligen Zorn besessen, fort:

»Es genügt Euch also nicht, ein Wrack, ein Unglückswurm ohne Mumm in den Knochen zu sein! Euer Leben ist wie durch ein Wunder gerettet worden, und jetzt, da Ihr es habt, fällt Euch nichts Besseres ein, es wie einen Firlefanz aufs Spiel zu setzen!«

»Barbe, du hast in meiner Abwesenheit eine bestimmende Art angenommen, die mir nicht gefällt.«

»Wie hätte ich mich sonst mit unserem kleinen Charles-Henri verteidigen sollen, bei all der Gendarmerie, die dauernd kam, diesen Teufelspolizisten, die uns ausfragten, die Papiere durchwühlten und in den Schränken herumstöberten? Hinterher hat man uns in Ruhe gelassen, und es blieb uns nur noch das Warten. Glaubt Ihr, es ist lustig, so zu warten und dabei den Rosenkranz zu beten und Euch dann eines schönen Tages magerer, zerzauster und wilder als eine sträunende Katze wieder auftauchen zu sehen? Und jetzt sind die Soldaten im Park, der dicke Kapitän befiehlt unter Eurem Dach, verschlingt die Vorräte, plagt Eure Dienerinnen. Es war wohl nötig, schreien und sich verteidigen zu lernen!«

Die Heftigkeit ihrer treuen Magd bestürzte Angélique.

»Was soll ich denn tun?« murmelte sie mit schwacher Stimme.

»Geht zum König«, flüsterte Barbe, neue Hoffnung fassend. »Alles wird dann wie früher sein. Ihr werdet wieder die Mächtigste im Königreich, Euer Haus und Eure Söhne werden überall geehrt werden. Geht zum König, Madame. Kehrt nach Versailles zurück!«

Über Angélique gebeugt, beobachtete sie auf deren Gesicht Zeichen der Niederlage. Aber unter den zitternden Lidern kehrte der unversöhnliche Glanz der grünen Augen wieder.

»Du weißt nicht, wovon du sprichst, Barbe. Zum König gehen! Für dich Harmlose kann es nichts Besseres geben als bei Hof zu leben. Aber ich weiß es besser. Habe ich nicht dort gelebt? Leben bei Hof? Welcher Hohn! Dort umkommen, ja! Vor Langeweile, vor Ekel und schließlich durch das Gift einer Rivalin.«

»Der König liebt Euch. Ihr vermögt alles über ihn.«

»Er liebt mich nicht. Er will mich. Ich werde niemals dem König gehören. Es ist unmöglich. Höre, Barbe, es gibt etwas, das du nicht weißt. Der König von Frankreich ist allmächtig, aber ich bin aus dem Harem Moulay Ismaëls entflohen ... Du kannst dir nicht vorstellen, was das bedeutet. Keiner einzigen Frau ist es vor mir geglückt. Es war unmöglich, völlig undenkbar! Warum sollte ich also nicht den König von Frankreich in Schach halten können?«

»Ist das Euer Wille?«

»Ja ... ich glaube. Ich glaube, daß mir nichts anderes übrigbleibt.«

»Ah! Närrin, Närrin! Gott möge uns schützen«, schluchzte Barbe und entfloh, das Gesicht in den Händen verborgen.

Der Kapitän Montadour schmauste im großen Speisesaal des Schlosses. Angélique beobachtete ihn von der Schwelle aus. Er aß nicht, er schlang. Mit starrem Blick und gerötetem Gesicht, dessen Färbung der rötliche Schnurrbart noch unterstrich, widmete er sich der Aufgabe, eine Schüssel voller Fettammern zu leeren, die man inmitten einer stattlichen Anzahl von Töpfen vor ihn hingestellt hatte. Mit geübter Hand ergriff er die Ammern, tunkte sie genußvoll in eine Sauciere und schob sie sich ohne viel Federlesens in den aufgerissenen Mund. Er zerbiß die Knochen, saugte sie geräuschvoll ab und wischte sich die Hände an der über seiner Brust wie ein Plastron entfalteten, mit einer Ecke in einem Knopfloch verankerten Serviette.

»Man nennt ihn Gargantua«, flüsterte die kleine Dienerin, die hinter Angélique gleichfalls das Schauspiel betrachtete.

Der Offizier erteilte den Dienern Befehle, als handelte es sich um Leute seines eigenen Hauses. Als einer von ihnen sich nicht genügend beeilte, beschimpfte er ihn und warf mit einer Schüssel nach ihm.

Angélique zog sich lautlos zurück.

Daß der König ihr unter ihrem eigenen Dach einen solchen Flegel aufgezwungen hatte, überstieg jede Zumutbarkeit. Zwar wußte er zweifellos nichts von der Auswahl, die Monsieur de Marillac nach reiflicher Überlegung getroffen hatte, aber er war nichtsdestoweniger für diese Demütigung verantwortlich. Der König hatte es seinen Kreaturen überlassen, die Marquise du Plessis zur Vernunft zu bringen.

Im gleichen Maße, in dem ihre Genesung Fortschritte gemacht hatte, war sich Angélique dieser doppelten Schlinge bewußt geworden: gleicherweise dem König wie denen, die im geheimen das Königreich zu lenken versuchten, auf Gnade und Ungnade ausgeliefert zu sein. Solange sie nur von der Stille ihres Zimmers umschlossen gewesen war, hatte sie ihre Situation nicht so klar gesehen. Sie hatte sich darauf beschränkt, sich zum Fenster zu schleppen, um aus dem Anblick des nahen Waldes neue Kräfte zu gewinnen. Sein strotzendes Wuchern, seine Frische, sein Schatten erfüllten sie jedesmal mit dankbarer Freude. Sie sagte sich, daß sie trotz allem lebte, daß ihre Knochen nicht auf irgendeiner Wegspur der Einöde bleichten, und daß sie dank einem unglaublichen Wunder ihre Heimat hatte wiedersehen dürfen. So oft hatte sie von den Schattentiefen des Waldes von Nieul geträumt, während sie mit ausgedörrten Lippen und bis aufs Blut zerschundenen Füßen Colin Paturel gefolgt war, daß ihr nun alles einfach und leicht erschien, da sie sie wiedergefunden hatte.

Nach und nach hatte sie den inständigen Bitten Barbes nachgegeben, hatte Nahrung zu sich genommen und sich bereit gefunden, in ihrem Bett zu schlafen. Eines Tages hatte sie sich ankleiden lassen.

Es war eine ihrer früheren Roben gewesen, die Barbe aus einer Truhe hervorgeholt hatte, denn die neueren waren ihr alle zu weit geworden.

Auf ihren Gängen durch das Schloß hatte Angélique dann die Kehrseite ihrer Heimkehr entdeckt. Posten bewachten die Türen. In den Gesinderäumen waren Soldaten untergebracht. Andere biwakierten im Park nahe den Toren. Überall war Montadours dröhnende Stimme zu vernehmen. Angélique, die sich mit den unsicheren Schritten des Rekonvaleszenten durch die Zimmer und Flure bewegte, wurde plötzlich von dem Gefühl überwältigt, von neuem in einen bösen Traum gestürzt zu sein. Die vertrauten Gesichter ihrer Diener schienen ihr wie aus einer anderen, versunkenen Welt aufzutauchen, Teile einer kaum vorstellbaren Realität.

Nacheinander waren sie in ihren kleinen Salon getreten, um sie zu begrüßen und ihre Zufriedenheit auszudrücken, sie wieder bei Gesundheit zu sehen: Lin Poiroux, der Koch, und seine Frau, Tourainer mit stets heiteren Gesichtern, die seit fünfzehn Jahren in Plessis dienten und noch immer untröstlich waren, unter wilden Poitou-Leuten leben zu müssen, La Violette, der einstige Diener Philippes (Hatte sie ihn nicht längst hinausgeworfen?), Joseph, der Aufseher des Hundezwingers, Janicou, der Wagenmeister, der Kutscher Hadrien, Malbrant Schwertstreich, ihr weißhaariger Stallmeister, der sich dem Landleben recht gut angepaßt zu haben schien. Er rauchte seine Pfeife, ging gelegentlich in den Stall, um die Pferde zu tätscheln, und brachte, um seine Anwesenheit zu rechtfertigen, dem kleinen Charles-Henri die Anfangsgründe der Fecht- und Reitkunst bei. »Aber der Junge ist nicht so begabt wie sein älterer Bruder«, sagte er. »Ah, warum hat man Florimond bei den Jesuiten eingesperrt, während hier gute Degen rosten!« Nur Malbrant, der Landsknecht und Ex-Musketier, der genug von der Welt gesehen hatte, schien sich wohl in seiner Haut zu fühlen. Bei allen anderen spürte sie etwas wie Unruhe, einen unbestimmten Vorwurf. Während ihrer Abwesenheit hatten sie sich grausam verlassen gefühlt. Sie beklagten sich. Die Soldaten quälten sie, spotteten über sie, behandelten sie wie Bewohner eines unterworfenen Landes. Wie ein Mann empfanden sie die ihrer Herrschaft angetane Schmach, Soldaten auf ihrem Besitz dulden zu müssen. Angélique hörte sie an, ohne ein Wort zu sagen, die grünen Augen ihnen zugewandt, ein schwaches Lächeln um die noch bleichen Lippen.

»Warum verteidigt ihr euch nicht? Habt ihr nicht eure Messer, eure Beile, eure Peitschen, eure Knüttel aus gutem Holz? Und du, Lin Poiroux, hast du nicht deine Bratspieße?«

Die Dienerschaft stand wie erstarrt. Malbrant Schwertstreich entblößte die Zähne in einer freudigen Grimasse. Janicou stotterte:

»Gewiß, Madame la Marquise, wir wagten es nur nicht ... es sind Soldaten des Königs ...«

»In der Nacht sind alle Katzen grau, sagt ein Sprichwort. Und ein Soldat des Königs läßt sich ebenso verprügeln wie ein diebischer Vagabund.«

Schweigend nickten sie mit den Köpfen, während sich Fältchen um ihre listigen Augen bildeten. Die Diener, noch nahe ihrem bäuerlichen Ursprung, verstanden diese Sprache.

»Warum nicht, Madame la Marquise«, brummte Janicou. »Wenn Ihr damit einverstanden seid, soll’s an uns nicht fehlen.«

Sie warfen einander verständnisinnige Blicke zu.

Sie hatten recht gehabt, auf ihre Dame zu vertrauen. Sie würde nicht so leicht den Mut sinken lassen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich der dicke Offizier aus dem Staube machte. Von nun an würde das Dasein für die Soldaten des Königs weniger erfreulich werden.

Wie Kindern oder einfachen Leuten, die es gewohnt sind, alles von einem einzigen Herrn zu erwarten, schien ihnen die Rückkehr der Marquise du Plessis das Ende einer beunruhigenden Ära zu bedeuten, die ihr Schicksal bedroht hatte.

Für Angélique war es weniger einfach. Ihre Zweifel unter einer heiteren Miene verbergend, suchte sie sich klarzuwerden, bevor sie handelte. Und je deutlicher sie sich der Situation bewußt wurde, desto weniger sah sie, was sie tun konnte.

In einen der Salons des Erdgeschosses zurückgezogen, der ihr besonders lieb war, ließ sie die Vergangenheit eine Ungewisse Brücke zur Gegenwart schlagen.

In diesem Salon hatte sie damals als Sechzehnjährige dem wütenden Fürsten Condé gegenübergestanden.

Der Grandseigneur war ins Poitou gekommen, um Truppen gegen Mazarin und die Mutter des Königs auszuheben und die Vergiftung des kleinen Königs und seines Bruders vorzubereiten.

Sie glaubte ihn noch zu sehen, wie er die grüne Phiole, die ihm der Mönch Exili überbracht hatte, gegen das Licht hob und die Chancen überschlug, die sich durch das Verschwinden des jungen Ludwigs XIV für seine ehrgeizigen Pläne ergeben würden.

Spiel der Fürsten! Heute schleppte Condé jeden Abend unter den Deckengemälden von Versailles seine Gicht zum Piquet-Tisch der Königin. Der kleine König war der Stärkere gewesen.

Aber durchzog der giftige Dunst der Komplotte und des Aufruhrs nicht noch immer das weiße, im Teich am Waldrand sich spiegelnde, in einer entlegenen Provinz verlorene Schloß?

Angélique blickte aus dem Fenster. Sie übersah eine Ecke des schlecht instand gehaltenen Parks. Die Pracht der Kastanien mit den rosigen, hohen Kerzen ihrer Blüten ließ die Verwüstung der Rasenflächen nicht übersehen, auf die Montadours Leute ihre Pferde zum Weiden getrieben hatten. Zur Rechten schimmerte der Teich; zwei Schwäne schwammen eilig dem Ufer zu. Offenbar hatten sie Charles-Henri bemerkt, der mit Barbe dort unten spazierenging und sich anschickte, sie mit Brot zu füttern.

Angélique schien der Liebreiz des kleinen CharlesHenri in dieser von bösen Träumen erfüllten Atmosphäre seltsam unwirklich.

Schon bald würde Barbe ihn zu ihr bringen. Er war jetzt fast fünf Jahre alt. Die ihm mit einer wahren Affenliebe ergebene Dienerin kleidete ihn stets in Seide und Satin, als ob er in der nächsten Stunde bei Hofe vorgestellt werden sollte. Er beschmutzte niemals seine Kleidung. In Gegenwart Angéliques verhielt er sich schweigsam, und vergebens versuchte sie, ihn zu ein paar Worten zu ermuntern.

»Dabei ist er ordentlich munter, wenn er nur will«, sagte die über seine beharrliche Stummheit verdrossene Barbe. »Ihr solltet ihn nur hören, wenn ich ihn abends zu Bett bringe und ihm das Medaillon mit Eurem Bild gebe. Er spricht mit ihm, er erzählt mir davon. Aber vielleicht erkennt er Euch nicht, weil Ihr Eurem Bild nicht mehr ähnlich seht.«

»Findest du mich sehr verändert?« erkundigte sich Angélique, wider ihren Willen betroffen.

»Ihr seid noch schöner als früher«, erklärte Barbe mit grollendem Unterton. »Wenn man sich’s recht überlegt, scheint es verrückt, weil es eigentlich keinen Grund dafür gibt, wenn man Euch von nahem betrachtet. Euer Haar ist in einem traurigen Zustand. Und Eure Haut ist ein wahrer Jammer! Aber trotzdem gibt’s Augenblicke, in denen Ihr wie zwanzig ausseht, man weiß nicht, warum. Und manchmal wieder sind es Eure Augen, die einen nicht loslassen. Man möchte meinen, Ihr kommt aus einer anderen Welt.«

»So unrecht hast du nicht.«

»Schöner? Ich weiß nicht recht«, wiederholte die Dienerin und schüttelte ihre weiße Haube. »Aber was ich weiß ... was ich fühle, ist, daß Ihr für die Männer noch gefährlicher als früher seid.«

»Laß die Männer aus dem Spiel«, sagte Angélique und zuckte die Schultern. Sie betrachtete ihre Hände.

»Meine Fingernägel brechen noch«, bemerkte sie. »Ich weiß nicht, wie ich sie pflegen soll, um ihnen wieder Kraft zu geben.«

Sie seufzte und streichelte die seidigen blonden Locken des Kindes. Mit seinen großen blauen Augen, seinen dichten Wimpern, seiner weißen und rosigen Haut, seinen runden, prallen Wangen wäre es ein Modell für die flämischen Maler gewesen. Seine Schönheit bedrängte ihr Herz. Ihr Anblick beschwor unweigerlich das Bild Philippes, ihres zweiten Gatten, herauf und erinnerte sie an den schrecklichen Irrtum des Schicksals, das ihr den Boten Joffrey de Peyracs in dem Augenblick zuführte, als sie wieder geheiratet hatte.

Damals hatte sie sich wie eine vom Teufel Besessene aufgeführt, um den eiskalten Philippe zu dieser Ehe zu veranlassen, so mit eigenen Händen den Graben aushebend, der sie nun für immer von ihrer ersten Liebe trennte. »Ah, warum willst du immer das Schicksal zwingen!« hatte Osman Ferradji gesagt.

Sie seufzte, wandte ihre Augen ab und verlor sich in vage Träumerei. Das Kind zog sich nach ein paar Augenblicken still zurück. Wenigstens um diesen Jungen brauchte sie nicht zu zittern. Charles-Henri du Plessis, Sohn des Marschalls, Patenkind des Königs, würde nicht der Fehler seiner Mutter wegen um sein Erbteil gebracht werden, aber der Älteste, Florimond, legitimer Erbe der prunkliebenden Grafen von Toulouse, aus noblerem Geschlecht und von größerem Reichtum als alle Herren von Plessis zusammen, ging dem bedrohten, Ungewissen Schicksal eines Bastards entgegen.

Seit ihrer Rückkehr nach Plessis hatte sie ihn zu sich rufen wollen und mühsam, mit vor Erschöpfung immer wieder versagender Stimme Maître Molines einen Brief für ihren Bruder, den R. P de Sancé, diktiert. Sie wußte nicht, daß diese Botschaft Montadour Anlaß zu erheblichem Verdacht gegeben hatte. Da seine Bildung mehr als lückenhaft war, hatte er sich deren Inhalt durch den Intendanten vorlesen und sie nach sorgfältiger Prüfung seiner Verantwortlichkeiten zunächst an Monsieur de Marillac expedieren lassen. Der Brief hatte nichtsdestoweniger seine Bestimmung erreicht, denn sie erhielt die Antwort des Jesuiten.

Sie erfuhr, daß der R. P de Sancé vom König angewiesen worden war, den jungen Florimond de Morens im Seminar zu belassen, bis Seine Majestät selbst es für gut befinden würde, ihn seiner Mutter zurückzugeben. Der R. P de Sancé hieß die Entscheidung des Souveräns gut, der sich selbst um den Jüngsten seiner Untertanen sorge. Florimond habe in der Tat nichts Gutes vom Einfluß einer Frau zu erwarten, deren Verhalten sich als ebenso undankbar wie unbesonnen erwiesen habe. Sobald sie Beweise aufrichtiger Reue gebe und vom König wieder in Gnaden aufgenommen werde, stehe dem Wiedersehen mit ihrem Sohn, dem sie fortan nicht mehr das beklagenswerte Beispiel aufrührerischer Unüberlegtheit böte, nichts mehr im Wege. Zudem sei das Seminar für einen Knaben von zwölf Jahren ohnehin ein passenderer Ort als die Umgebung einer Mutter, die sich stets seltsam unbeständig und wankelmütig gezeigt habe. Florimond trete in die Jünglingszeit ein. Sein Onkel bekannte, daß er fürs Studium zwar begabt, aber faul, trotz des Anscheins von Offenheit schwer zu durchschauen und, alles in allem, hinterhältig sei. Mit einiger Beharrlichkeit werde man aus ihm vielleicht einen guten Offizier machen können.

Raymond de Sancé schloß mit sibyllinischen Worten, die seine Bitterkeit verrieten. Er sei es müde, schrieb er, die Last der Irrtümer seiner Brüder und Schwestern auf seinen Schultern zu tragen und als einziger den Namen de Sancé de Monteloup vor der königlichen Ungnade zu bewahren. Bald würde auch er sie spüren müssen, obwohl er immer ein treuer Untertan des Königs gewesen sei und es bleiben wolle. Aber wie sollte man der Unzufriedenheit Seiner Majestät entgehen, wenn man sich jahrein, jahraus für schuldig Gewordene einsetzen müsse, deren Starrköpfigkeit nur durch ihre unglaubliche Leichtfertigkeit übertroffen werde. Hatten die harten Lektionen nicht genügt, Angélique zu zähmen? Hatte er selbst sie nicht ständig gewarnt wie auch Gontran, Denis und Albert? Was nützten also alle Vorwürfe und Ermahnungen? Ihr wildes, unbeherrschtes Blut behielt dennoch die Oberhand. Eines Tages würde er überhaupt darauf verzichten, sich noch für sie einzusetzen ...

Diese Antwort empörte Angélique mehr als alles andere. Es war unwürdig, ihr Florimond zu verweigern. Der vaterlose Florimond gehörte nur ihr. Ihr allein. Er war für sie ein Freund, ein Kamerad. Der einzige lebende Beweis ihrer verlorenen Liebe. Florimond und Cantor, ihre beiden ältesten Söhne, waren ihr während ihrer Irrfahrt durchs Mittelmeer sehr nahegekommen.

Es schien ihr, als habe sie Cantors Liebe wiedergewonnen, indem sie ihm auf seine tollkühne Odyssee gefolgt war und den geheimen Traum des kleinen Pagen geteilt hatte. Er und sie waren ein wenig zu Komplizen geworden, das tote Kind und seine Mutter in derselben Falle gefangen, und seitdem empfand sie ihn weniger fern, weniger ausgelöscht.

Aber sie brauchte Florimond, ihren Ältesten, in dessen Zügen jenes andere Bild wieder Gestalt anzunehmen begann, das die Zeit zu verwischen drohte.

Mit ohnmächtigem Zorn las sie den Brief von neuem. Dann ließen die Vorwürfe ihres Bruders sie innehalten. Warum wandte er sich diesmal gegen die ganze Familie, statt wie gewöhnlich nur sie, Angélique, allein für ihre Schwierigkeiten verantwortlich zu machen? In ihrer Kindheit war es immer Angéliques Schuld gewesen, wenn Katastrophen eintraten. Dies-mal aber sprach er in der Mehrzahl.

Sie überlegte. Ein Satz Monsieur de Marillacs kam ihr ins Gedächtnis zurück: ». Die Disziplinlosigkeit einer Familie, deren Angehörige sich schwer gegen mich vergangen haben« oder etwas dergleichen. Sie erinnerte sich nicht mehr genau der Worte, da sie in jenem Augenblick nicht sonderlich auf sie geachtet hatte. Erst der Zusammenhang dieses Satzes mit den Andeutungen Raymonds ließ sie sich fragen, ob es sich nicht um Anspielungen auf ein Ereignis handelte, von dem sie nichts wußte.

Sie war noch tief in ihren Überlegungen, als ein Diener eintrat und meldete, daß der Baron de Sancé de Monteloup sie zu sprechen wünsche.

Der Vater Angéliques, der Baron de Sancé, war im vergangenen Jahr gestorben, gegen Ende des Winters, der ihrer Abreise nach Marseilles vorausgegangen war. Sie richtete sich deshalb bei dieser Ankündigung auf ihrem Ruhebett auf, da sie ihren Ohren nicht traute. Die Gestalt in braunem Rock und derben, lehmigen Schuhen, die die Stufen der Freitreppe erstieg, erinnerte sie an ihren Vater. Sie verfolgte ihr Nahen durch die Galerie und erkannte das verschwiegene, trotzige Gesicht der Sancé-Jungen. Einer ihrer Brüder? Gontran? . Nein, Denis.

»Du bist es, Denis?«

»Guten Tag«, sagte er.

Er war Offizier in einer Garnison in der Umgebung von Paris gewesen. Nun fand sie ihn unversehens als Krautjunker aus der Provinz wieder, mit dem schwerfälligen Schritt und der sorgenvollen Miene des Barons Armand. Verlegen drehte er einen Zipfel seines Rocks zwischen den Fingern.

»Da bin ich. Monsieur de Marillac, der Gouverneur der Provinz, hat mich gebeten, dir einen Besuch abzustatten. Deshalb bin ich gekommen.«

»Offenbar handelt man nur noch auf Anweisungen anderer in dieser Familie. Wie charmant!«

»Zum Teufel! Die Situation ist schwierig genug.«

»Was ist geschehen?«

»Das fragst du, der die ganze Polizei des Königreichs auf den Fersen gewesen ist und die man wie eine Verbrecherin unter Bewachung zunickgebracht hat? Die ganze Gegend spricht davon!«

»Ich weiß. Aber was geschieht sonst?«

Denis ließ sich bedrückt nieder.

»Stimmt, du weißt es nicht, und ich werde es dir erzählen, denn dazu hat mich Monsieur de Marillac hergeschickt, weil es dich dazu veranlassen könnte, heilsame Überlegungen anzustellen. Das sind seine Worte.«

»Was gibt es also?«

»Sei nicht ungeduldig. Du wirst es früh genug erfahren. Es ist ziemlich scheußlich. Die Schande lastet auf unserer Familie. Ah, Angélique, warum bist du abgereist?«

»Man hat es doch wohl nicht gewagt, sich an meine Familie zu halten, weil es mir gefallen hat, ohne Erlaubnis des Königs eine Reise anzutreten?«

»Nein, das ist es nicht. Aber wenn du da gewesen wärst ...! Die Geschichte hat sich ein paar Monate nach deiner Abreise zugetragen. Man wußte nicht genau, warum du eigentlich abgereist warst, man erfuhr nur, daß der König fürchterlicher Laune war. Ich nahm es nicht allzu ernst, weil ich mir sagte: >Angélique hat schon anderes überstanden. Wenn sie eine Dummheit gemacht hat, ist sie schön genug, um zu wissen, wie man die Angelegenheit wieder in Ordnung bringt.< Was mich am meisten ärgerte, ich gebe es zu, war, daß ich nicht wußte, wo ich dich finden konnte, um mir Geld von dir zu leihen. Ich hatte es mir gerade in den Kopf gesetzt, eine freie Charge im Garderegiment von Versailles zu kaufen. Ich hoffte auf Unterstützung durch deinen Einfluß und ... deine Silberlinge. Da die Sache schon hübsch vorangekommen war, ging ich zu Albert, von dem ich wußte, daß er am Hofe Monsieurs seinen Weg gemacht hatte. Es erwies sich als eine gute Idee. Er hatte die Taschen voller Gold. Er sagte mir, daß Monsieur einen Narren an ihm gefressen habe und ihn mit Wohltaten überhäufe: Schenkungen, Ämtern, ja er hatte sich sogar die Einkünfte unserer großen Abtei von Nieul verleihen lassen. Eine Idee, die dieser ehrgeizige Bursche seit langem im Kopf gehabt hatte. Auf diese Weise fühlte sich der schlaue Fuchs bis ans Ende seiner Tage der Armut enthoben. Er konnte mit Leichtigkeit mir armseligem Soldaten, der weder den Kopf noch sonstige Talente hatte, seinen Vorgesetzten zu gefallen, ein paar hundert Livres vorschießen. Er ließ sich auch nicht lange bitten, und ich konnte mir meine Charge kaufen. Ich war also in Versailles. Der Dienst war glanzvoller als in Melun, aber auch schwerer. Man war immer gleichsam auf Parade, um dem König angenehm zu sein. Dafür gab es zum Ausgleich die Festivitäten, den Hof, das Spiel. Allerdings auch andere, weniger angenehme Dinge, in die wir uns für meinen Geschmack allzuoft einmischen mußten: die Unterdrückung der Unruhe unter den Maurern und Handwerkern ... Man baute damals viel in Versailles, du erinnerst dich.«

»Ich erinnere mich.«

Die eintönige Stimme des jungen Mannes ließ von neuem ein vergessenes Dekor vor ihr erstehen: die Reinheit der Steinblöcke, die unter den mächtigen Sägen knirschten, die Wirrnis der um die beiden zur Erweiterung vorgesehenen Schloßflügel errichteten Gerüste, jenes summende Geräusch der Baustellen, das niemals aufhörte und bis zu den galanten Spaziergängern in den Tiefen des Parks drang - Schreie, Hammerschläge, das Kreischen der Karrenräder, das Schürfen der Spaten ... eine wimmelnde Armee von Arbeitern.

»Man hat zu viele von ihnen mit Gewalt rekrutiert, wie für die Armee. Sie wurden an Ort und Stelle zusammengepfercht. Ihre Familien durften sie nicht besuchen, aus Furcht, daß sie nicht wiederkämen, wenn man sie gehen ließe. Viele waren deshalb unzufrieden, und es wurde schlimmer, als der König während des Sommers in der Nähe des Waldes ein Wasserbecken ausgraben ließ, genau gegenüber der großen Treppe, die die Orangerie beherrscht. Die Hitze war schrecklich ... dazu die Stechmücken der Sümpfe, das Fieber. Die Leute krepierten wie die Fliegen. Wir mußten sie einscharren. Und eines Tages ...«

Denis beschrieb das jähe Aufbegehren, das die Sklaven gegen ihre Wächter getrieben hatte. Vorarbeiter waren von den Gerüsten geworfen worden. Horden in groben Leinwandkitteln, Meißel und Hämmer in den Fäusten, überschwemmten die Rasenflächen, Schweizer wurden brutal gemordet. Zum Glück exerzierte ein Regiment auf dem Paradeplatz. Man hatte die Soldaten sofort Schlachtordnung einnehmen und zum Schloß marschieren lassen. Die Unterdrückung des Aufruhrs hatte zwei Stunden gedauert. Zwei Stunden im Gedröhn der Musketen, in der Hitze, unter den Haß- und Todesschreien. Zurückgeworfen, hatten sich die Elenden von neuem in ihren Gerüsten verbarrikadiert, von denen sie Steinblöcke herunterschleuderten, und Soldaten starben, zerquetscht wie Wanzen. Doch die Musketiere zielten gut. Leichen bedeckten den weißen Sand.

Von den nach Süden blickenden Balkons hatten Madame de Montespan und ihre Damen dem Schauspiel beigewohnt .

Schließlich hatten sich die Arbeiter ergeben. Im Morgengrauen des folgenden Tages wurden die Rädelsführer zum Waldrand eskortiert, genau gegenüber dem Schloß nahe dem Wasserbecken, wo sie gehängt werden sollten. Und dort, im selben Augenblick, in dem man ihm die Schlinge um den Hals gelegt, hatte Denis einen von ihnen erkannt: Gontran! Gontran, ihren Bruder! Mit blutiger Stirn, wilden Augen, die armselige, mit Farbe beschmierte Kleidung zerfetzt, die schwieligen Hände von Säuren gebeizt - Gontran de Sancé de Monteloup, ihr Bruder, der Handwerker!

Der junge Offizier hatte aufgeschrien: »Nicht er!« Er hatte sich vor den Älteren geworfen und ihn mit seinem Körper gedeckt. Diese Ruchlosigkeit durfte man nicht begehen: einen Sancé de Monteloup hängen!

Die Soldaten hielten ihn für verrückt.

Um die Lippen Gontrans spielte ein seltsames, spöttisch-müdes Lächeln.

Man hatte den Oberst herbeigeholt. Atemlos und unter Schwierigkeiten hatte Denis ihm zu erklären versucht, daß dieser Rebell mit den auf dem Rücken gebundenen Händen seinen Namen trage, sein Bruder sei, Bruder auch der Marquise du Plessis-Bellière. Dem berühmten Namen, verbunden mit der unübersehbaren Ähnlichkeit der beiden Brüder, vielleicht auch der arroganten, hochmütigen Haltung des Verurteilten - der Haltung eines Noblen - war es gelungen, den Oberst zu überzeugen und einen Aufschub der Exekution zu bewirken. Allerdings konnte man nicht allzu lange den Befehlen zuwiderhandeln, die besagten, daß vor Sonnenuntergang alle Aufrührer ihre unsinnige Tat gebüßt haben müßten. Denis hatte bis zum Abend Zeit, die Gnade des Königs zu erlangen.

Wie sollte er, der unbekannte Offizier, bis zum König vordringen? Er kannte niemand.

»Wenn du nur dagewesen wärst, Angélique! Zwei Monate vorher warst du noch bei Hof, der König sah nur durch deine Augen, du hättest nur ein Wort zu sagen brauchen. Warum hattest du dich davongemacht, mitten in deinem Aufstieg, mitten aus deinem Ruhm? Ah, wenn du dagewesen wärst!«

Wieder hatte Denis an Albert gedacht, dessen Glück zur Stunde am gesichertsten schien. Den Jesuiten Raymond aufzusuchen, hätte zuviel Zeit gekostet, und außerdem liebten es die Jesuiten nicht, improvisiert zu handeln, wenn ihre Macht auch groß war. Der Oberst hatte jedoch gesagt: bis Sonnenuntergang. Also war Denis mit verhängten Zügeln nach Saint-Cloud galoppiert. Monsieur befand sich auf der Jagd, natürlich von seinem Favoriten begleitet ... Denis war der Jagdgesellschaft gefolgt. Als er Albert erreichte, war es Mittag. Zudem hatte er noch einige Zeit darauf verwenden müssen, Monsieur von der Notwendigkeit zu überzeugen, ein paar Stunden ohne seinen Begleiter auszukommen.

»Er hat es gern, wenn Albert lächelt und schäkert, schlimmer als eine Frau. Ich sah sie Blicke wechseln und mit ihren Spitzenmanschetten spielen, und ich dachte an Gontran unter seinem Baum. Albert widert mich an, aber man muß ihm zugestehen, daß er nicht feige gewesen ist. Alles, was man machen konnte, hat er getan. In Versailles, wo wir am späten Nachmittag ankamen, hat er an alle Türen geklopft. Alle Welt hat er mit unserer Sache behelligt. Es war ihm gleich, ob er ungelegen kam, ob er bitten und schmeicheln mußte oder barsch abgewiesen wurde. Aber wir mußten überall antichambrieren, warten und immer wieder warten. Ich sah vor den Fenstern die Sonne sinken ... Endlich empfing uns Monsieur de Brienne. Er entfernte sich für einen Moment, kehrte zurück und sagte uns, daß wir vielleicht die Möglichkeit hatten, den König beim Verlassen seines Kabinetts anzusprechen, wo er heute die Vorsteher der Schöffen von Paris empfange. Wir warteten mit den Hofschranzen im Salon des Krieges, ganz am Ende der großen Galerie ... du kennst ihn?«

»Ich kenne ihn.«

Der König war ernst und majestätisch erschienen, während bei seinem Anblick die Gespräche verstummten, die Köpfe sich neigten, die Damen seidenknisternd in tiefem Hofknicks versanken.

Albert hatte sich bleich und dramatisch vor ihm auf die Knie geworfen: »Erbarmen, Sire! Erbarmen für meinen Bruder Gontran de Sancé!« Der Blick des Königs ruhte schwer auf ihm. Er weiß schon, wer die beiden jungen Männer sind und warum sie als Bittsteller erscheinen. Dennoch fragt er:

»Was hat er getan?«

Sie senken die Köpfe.

»Sire, er befand sich unter den Männern, die gestern rebellierten und während einiger Stunden Euer Palais mit Unruhe erfüllten.«

Der König lächelt ironisch.

»Ein Sancé de Monteloup, ein Edelmann aus alter Familie unter Maurern? Was erzählt Ihr mir da?«

»Es ist wahr, Sire! Unser Bruder ist immer seltsamen Ideen nachgegangen. Um malen zu können, ist er trotz des Zorns unseres Vaters, der ihn enterbte, Handwerker geworden.«

»Eine seltsame Idee, in der Tat.«

»Wir hatten ihn aus den Augen verloren. Erst als man ihn hängen wollte, hat mein Bruder ihn wiedererkannt.«

»Und Ihr habt den Exekutionsbefehl mißachtet?«

Der König hat sich dem Offizier zugewandt.

»Sire ... es war mein Bruder!«

Der König bleibt eisig. Jedermann weiß, welches Phantom zwischen den Akteuren dieses Dramas aufgetaucht ist, ein Name, den man nicht aussprechen wird, die zarte und hochmütige Silhouette einer Frau, eine Zierde Versailles’, die verschwunden ist, entflohen, und den König niedergeschmettert und im Innersten verletzt zurückgelassen hat. Er kann nicht verzeihen. Als er endlich spricht, klingt seine Stimme unerbittlich:

»Messieurs, Ihr gehört zu einer aufsässigen und starrköpfigen Familie, die unter unseren Untertanen zu zählen uns keine Freude bereitet. In Euren Adern fließt das Blut großer Feudalherren, die mehr als einmal unser Königreich erschütterten. Ihr gehört zu denen, die sich allzuoft fragen, ob sie den Befehlen des Königs gehorchen sollen oder nicht und die sich dann für das Nein entscheiden. Wir kennen den Mann, um dessen Absolution Ihr bittet. Ein gefährlicher, gottloser Mensch, der sich zu den einfachen Geistern herabließ, um sie desto leichter ins Verderben zu führen. Wir haben Erkundigungen über ihn eingezogen. Unsere Betroffenheit war groß, als wir seinen Namen und seine Abstammung erfuhren. Ein Sancé de Monteloup, sagt Ihr? Wie hat er es bewiesen? Hat er in unseren Armeen gedient? Hat er den Blutzoll entrichtet, den jeder Abkömmling einer noblen Familie dem Königreich schuldet? Nein, er hat den Degen mißachtet, um den Pinsel des Malers, den Stichel des Handwerkers zu ergreifen, sich zu erniedrigen, die Verantwortlichkeiten zu verwerfen, die sein Name von ihm verlangte, und seine Vorfahren zu verleugnen, indem er das gemeine Volk seiner eigenen Kaste vorzog. Denn hat er nicht erklärt, daß er sich lieber mit einem Maurer als mit einem Fürsten unterhalte? Wir gaben uns der Vermutung hin, daß dieser in ein unerklärliches Geschick verstrickte Mensch ein Kranker sei, ein unverantwortliches Wesen, von seinen Mängeln zu Exzessen getrieben ... Derlei geschieht in den besten Familien. Aber nein ... Wir wollten ihn hören, wir haben ihn gehört. Er schien uns intelligent, eigenwillig, von einem seltsamen Haß beseelt. Wir erkannten die hochmütige, von Groll erfüllte, dem König trotzende Sprache .«

Ludwig XIV unterbrach sich. Trotz seiner Beherrschung war in seinem Ton etwas Undefinierbares, Furcht Einflößendes. Ein bohrender Schmerz. Die grauen Augen Albert de Sancés, in deren Klarheit zuweilen ein Grün aufleuchtete, erinnerten ihn an einen anderen Blick. Er sagte mit stumpfer Stimme:

»Er hat wie ein Narr gehandelt, er muß seine Narrheit bezahlen. Er möge durch die den Elenden vorbehaltene schimpfliche Strafe sterben. Gehängt! Träumte er nicht davon, seine Frechheit so weit zu treiben, sich vor dem Parlament hören und uns das Scherbengericht der Tagelöhner aufzwingen zu lassen, wie einstmals Etienne Marcel durch Gewalt und Empörung das der Zünfte unserem Ahnen Karl V! aufzwang?«

Das war für die Schöffen von Paris bestimmt, die Forderungen des Volkes überbracht hatten, denen der König nicht nachgeben wollte. Die Hand auf dem goldenen Knopf seines Ebenholzstocks, setzte der König seinen Weg fort.

Dem jungen Albert de Sancé wurde eine Erleuchtung zuteil.

»Sire«, hatte er gerufen, »erhebt Eure Augen. Ihr seht an der Decke das Meisterwerk meines Bruders. Er hat es zu Eurem Ruhm gemalt!« Ein rötlicher Strahl der sinkenden Sonne fiel durch eines der hohen Fenster und umgab Gott Mars in seinem von Wölfen gezogenen Wagen mit einer leuchtenden Gloriole.

Der König schien nachdenklich. Der Ausdruck der Schönheit, die er liebte, schien ihn für einen Augenblick dem Aufrührer mit den schwieligen Händen nahezubringen, schien ihm in einer flüchtigen Sekunde den Ausblick auf eine Welt zu öffnen, in der der Adel des Menschen andere Perspektiven gewann. Und dann warf sein praktischer Geist ihm plötzlich vor, daß er einen solcher Wunder fähigen Arbeiter hatte verschwinden lassen wollen. Wahre Künstler, die das Maß des Üblichen sprengten, waren selten. Warum hatte Monsieur Pennaut, der Verantwortliche für die Bauten von Versailles, ihn nicht auf das Talent des Mannes aufmerksam gemacht, den man ohne Verhandlung verurteilt hatte? Noch unter dem Schock des Aufruhrs stehend, angesichts des königlichen Zorns, hatte es niemand gewagt, sich für den Aufwiegler einzusetzen. Der König sagte brüsk: »Die Exekution ist aufzuschieben. Wir wollen den Fall dieses Menschen prüfen.« Er wandte sich an Monsieur de Brienne, um ihm den Aufschubbefehl zu diktieren. Noch immer kniend, hörten die beiden Brüder ihn sagen: »Man soll ihn in den Ateliers Monsieur Le Bruns arbeiten lassen.« Die beiden Brüder liefen quer durch die schon dunklen Gärten zum Wasserbecken, zum Saum des Waldes, wo die Gehängten baumelten. Sie kamen zu spät. Gontran de Sancé de Monteloup war am Ast einer Eiche gestorben, angesichts des Schlosses von Versailles, das wie eine weiße Klippe in die dichte Dämmerung ragte.

Die Brüder hatten die Leiche abgenommen. Albert hatte eine Kutsche, seinen Diener und seinen Kutscher aufgetrieben. Im Morgengrauen hatte der Wagen die Straße nach dem Poitou eingeschlagen. Sie galoppierten ohne anzuhalten unter der flammenden Sommersonne, durch die blaue Klarheit der Nächte, verzehrt von der Ungeduld, diesen großen, dem Leben entrissenen Körper mit den nun leblosen und nutzlos gewordenen Händen in die Erde ihrer Ahnen zu betten, als ob allein die Erde der Heimat seine Wunden heilten und die Bitterkeit besänftigen könne, die sein aufgeschwollenes Gesicht noch immer zeichnete. Gontran, der Handwerker! Gontran, der Maler! Der Kobolde in den Kupferkesseln von Monteloup sah, der rote Schildläuse und gelbe Tonerde zerdrückte, um damit Mauern zu bemalen, und der trunken wurde vom Grün der Blätter wie von einem berauschenden Elixier. Gontran und seine wilde, insgeheim prunkliebende Seele.

Weinend wie Kinder, hatten ihn Albert und Denis nahe der Dorfkirche von Monteloup in der Grabstätte der Familie beerdigt.

»Danach kam ich ins Schloß«, sagte Denis. »Kein Laut mehr im Haus, kein Kind. Nur in der Küche fand ich die Amme Fantine mit ihren Glutaugen und Tante Marthe, fett wie immer, verwachsen, vor ihrer ewigen Stickerei. Zwei alte Feen, die murmelnd Erbsen verlasen.

Ich bin geblieben. Du weißt, unser Vater hat in seinem Testament bestimmt, die Erbschaft falle dem Sohn zu, der sich wieder der Erde zuwende. Ich habe die Maultierzucht aufgenommen, ich bin zu den Pächtern gegangen, ich habe geheiratet ... Thérèse de La Mailleraie. Keine Mitgift, aber ein guter Ruf und ein hübsches, braves Mädchen, Zur Apfelernte werden wir ein Kind haben.

Das wär’s«, schloß der neue Baron de Monteloup, »was ich dir im Auftrag Monsieur de Marillacs sagen sollte. Natürlich nicht die Heiratsgeschichte, sondern die Sache mit Gontran. Damit du überlegst und besser begreifst, was du dem König nach all den Kränkungen, die du und die Familie ihm zugefügt haben, schuldest. Aber mir scheint .«

Er beobachtete das Gesicht seiner Schwester, vor der er, der Jüngere, immer ein wenig Furcht gehabt hatte: vor ihrer Schönheit, ihrer Kühnheit und vor dem Mysterium ihres immer erneuten Verschwindens. Auch jetzt war sie wiedergekehrt und wieder eine andere, eine Fremde. Die feinen Konturen ihres Kiefers erschienen unter den zarten Flächen ihrer Wangen. Sie war bleich und starr, ins Herz getroffen durch den Bericht, den sie gehört hatte. Denis verspürte Freude und zitterte zugleich.

Angélique würde sich nicht ändern, dachte er. Aber es würden keine Tage des Friedens sein, die vor ihr lagen.

»Monsieur de Marillac kennt dich schlecht«, murmelte er. »Mir scheint, wenn er dich Gehorsam lehren wollte, hat er einen Fehler begangen, indem er dich wissen ließ, daß ein Monteloup im Namen des Königs gehängt worden ist.«

Molines, der Intendant des Schloßgutes, suchte sie seit ihrer Rückkehr jeden Tag auf. Der alte Mann kam langsam, die Rechnungsbücher unter dem Arm, die große Allee entlang, die von seinem aus Ziegelsteinen errichteten, schiefergedeckten Haus zum Schloß führte.

Unabhängig, gleichsam sein eigener Herr wie früher schon, Bürger mit Vermögen und eigenen Geschäften, blieb Maître Molines trotzdem der ergebene Diener der Plessis-Bellière. Es war sein Lebenszweck, neben dem er im Laufe eines langen, tätigen Daseins seinen eigenen Handel betrieben hatte. Angélique und mehr noch dem Marquis Philippe waren Art und Ausmaß der Unternehmungen Maître Molines’ immer unbekannt geblieben. Sie wußten nur eines; daß er stets zur Stelle war, wenn man ihn brauchte. In Paris, wenn die Schloßherrschaft sich bei Hof aufhielt, in Plessis, wenn Zufälle oder Mißgeschicke sie dorthin verschlagen hatten.

So war auch das ernste, strenge Gesicht des Intendanten Molines, dem die Jahre nach und nach einen Ausdruck von Altersweisheit verliehen, eins der ersten gewesen, die sich über die bleiche Gestalt gebeugt hatten, nachdem sie von zwei Musketieren aus der Kutsche in ihr Schlafzimmer geschafft worden war, während Monsieur de Breteuil den herbeigeeilten Dienern zugerufen hatte:

»Ich bringe Madame du Plessis. Sie liegt im Sterben. Sie hat nur noch ein paar Tage zu leben.«

Molines’ Gesicht hatte keinerlei Bewegung gezeigt. Er hatte Angélique mit demselben Gleichmut begrüßt, den er zur Schau trug, wenn sie zur Zeit der Pachtgeldzahlungen für einen kurzen Aufenthalt aus Versailles kam, um zur Begleichung ihrer Spielschulden Holzeinschläge oder den Verkauf eines Stück Landes in die Wege zu leiten. Und es war im gleichen Augenblick, in dem sie ihn mit Würde über die Trostlosigkeit der Ernten dieses Jahres berichten hörte, daß sie ganz zu begreifen begann, wo sie sich befand, daß sie spürte, wie die Sicherheit der heimatlichen Erde und ihrer Vergangenheit ihre erschöpften Glieder durchdrang.

Er hatte ihr weder Vorwürfe gemacht noch Fragen gestellt, obwohl die weit zurückreichenden Beziehungen, die sie verbanden, und die besondere Rolle, die er bei der Erziehung der Kinder von Monteloup einstmals gespielt hatte, ihn dazu berechtigt hätten.

Er sagte nichts. Er machte weder Anspielungen auf die Ärgernisse und Sorgen, die Angéliques Abreise ihm verursacht hatte, noch auf die unermüdlich von ihm unternommenen Schritte, ihre vom Sturm des Unheils bedrohten Geschäfte zu retten. Hatte der kalte Atem der Ungnade nicht den Beginn des Ruins angekündigt? Die Ratten, die Raben, die wimmelnden Würmer, die sich von der Unbeständigkeit des Glücks nähren, versammelten sich bereits. Molines hatte Ordnung hineingebracht, hatte Versicherungen gegeben, war Verpflichtungen eingegangen. Madame du Plessis befinde sich auf Reisen, erklärte er. Sie würde zurückkehren. Von Auflösung ihres Besitzes sei keine Rede.

Aber der König? wurde gefragt. Der Zorn des Königs ...? Jedermann wußte davon. Würde Madame du Plessis nicht verhaftet und eingekerkert werden?

Molines hob die Schultern und ließ vernehmen, daß er die Seinen schon erkennen würde, und da er oft genug Beweise seiner Vergeltung und seiner Geschicklichkeit im Ränkeschmieden gegeben hatte, war die Ruhe wieder eingekehrt. Man war bereit zu warten. Während des ganzen langen Jahrs der quälenden Ungewißheit über Angéliques Geschick hatte der Intendant auf diese Weise mit eiserner Hand die gesellschaftliche und finanzielle Basis verteidigt, auf der der Reichtum der flüchtigen Marquise und ihres Erben, des kleinen Charles-Henri, beruhte. Dank ihm war die Dienerschaft im Schloß Plessis wie auch in den Stadthäusern der Rue du Beautreillis und des Faubourg Saint-Antoine zu Paris geblieben.

Nun schickte Molines Botschaften in alle vier Himmelsrichtungen, die die Rückkehr der Schloßherrin meldeten. Er verschwieg die Bewachung, unter der sie stand, erinnerte nur an die Freundschaft, die sie mit dem König verband, und kündigte an, daß sie sich binnen kurzem selbst mit jenem sachkundigen Verständnis um ihre Angelegenheiten kümmern werde, das ihr die Achtung Monsieur Colberts eingetragen habe. Das letztere war vor allem für die Pariser Kaufleute und die Reeder aus Le Havre bestimmt, an deren Geschäften Angélique beteiligt war.

Auf dem Gut fuhr Molines mit seinen Rundgängen fort. Mit derselben Pünktlichkeit wie früher stellte er sich auf den Pachthöfen und Meiereien ein, forderte Einblick in die Rechnungsführung, überwachte die Bestellung der Felder. Die Protestanten hatten dasselbe Recht auf seine Besuche wie die Katholiken. Man zeigte ihm dabei die Soldaten in den Häusern, die die Vorräte der Speisekammern verzehrten und ihre Pferde im jungen Hafer weiden ließen. Es waren die »Bekehrer« Monsieur de Marillacs. Maître Molines äußerte sich nicht dazu. Er beschränkte sich darauf, den Pächtern die fälligen Zinszahlungen ins Gedächtnis zu rufen, und notierte die Summen in seinen Büchern.

»Was sollen wir tun, Maître Molines? Gehört Ihr nicht wie wir zur Konfession Calvins?« fragten die hugenottischen Bauern, die mit dunklen, fanatischen Augen, die großen schwarzen Hüte zwischen ihren Fingern drehend, vor ihm standen. »Sollen wir abschwören, um unseren Besitz zu bewahren, oder uns ruinieren lassen?«

»Habt Geduld«, erwiderte er.

Auch bei ihm waren die Dragoner gewesen, hatten seine behagliche Behausung geplündert, hundert Pfund Kerzen verbrannt und während zweier Tage und Nächte auf seine Kasserollen getrommelt, um ihn am Ausruhen zu hindern: »Schwöre ab, alter Fuchs, schwöre ab!«

Das hatte sich vor Angéliques Rückkehr zugetragen. Seitdem Montadour Bewohner des Schlosses und Hüter einer der schönsten Frauen des Königreichs geworden war, die nicht der reformierten Religion angehörte, hatte Marillac es für geschickter gehalten, ihre Leute in Ruhe zu lassen.

Von seinen Quälern befreit, war Molines pünktlich im Schloß erschienen, und Montadour, der ihn seines Einflusses auf die Bauern wegen für einen der schlimmsten Hugenotten der Gegend hielt, schrie ihm zu:

»Wann werden wir dein Credo hören, alter Ketzer?«

Als er Angélique zum erstenmal im Salon des Fürsten Condé sitzend antraf und auf ihren Wangen endlich die Farben der wiederkehrenden Gesundheit entdeckte, seufzte er auf. Seine bleichen Lider senkten sich, und es schien ihr für einen kurzen Augenblick, als dankte er Gott. Es paßte so wenig zu seiner sonstigen Haltung, daß sie statt Rührung etwas wie eine unbestimmte Sorge empfand.

An diesem Tage berichtete ihr Molines zum erstenmal von Unruhen und Hungersnot, die die Region bedrohten, seitdem sich Monsieur de Marillac an die Bekehrung des Poitou gemacht hatte.

»Unsere Provinz soll den Bekehrern als Probefall dienen, Madame. Wenn sich die angewandte Methode, mit den Protestanten aufzuräumen, als schnell und wirksam erweist, wird man sich ihrer im ganzen Königreich bedienen. Trotz des Edikts von Nantes wird der Protestantismus in Frankreich ausgelöscht werden.«

»Was geht’s mich an«, murmelte Angélique, aus dem offenen Fenster blickend.

»Mehr als Ihr glaubt«, erwiderte Molines trocken.

Er öffnete einmal mehr seine Rechnungsbücher und bewies ihr ohne Mühe, daß ihre Pachtgüter, die sich zum größten Teil in den fähigen Händen von Protestanten befanden, bereits schwere Schäden erlitten hatten. Man hinderte die Leute, auf die Felder zu gehen und das Vieh zu versorgen. Mit Zahlen gelang es ihm, ihre Teilnahme zu wecken. »Man muß sich beklagen. Können Eure Gemeindevorstände nicht höheren Orts an die Vereinbarungen des Edikts erinnern?«

»An wen sollen sie sich wenden? Der Gouverneur der Provinz ist selbst der Anstifter dieser Übergriffe. Und was den König anbelangt ... Der König hört auf den, der ihm rät, der ihn überzeugt. Ich habe Eure Rückkehr erwartet, Madame, weil Ihr in dieser Hinsicht vieles tun könnt. Ihr geht zum König, Madame. Das ist der einzige Weg, der Euch, die Provinz und, wer weiß, vielleicht auch das Königreich retten kann.«

Das war es also, worauf er hinaus wollte.

Angélique richtete ihre von Trauer erfüllten Augen auf Molines. Sie war so voll von Worten, die sich in ihr drängten, die sie nicht aussprechen konnte, daß ihre geschlossenen Lippen zitterten. Er beeilte sich, ihrer Antwort mit einer eigenen zuvorzukommen, denn seit mehreren Tagen schon hatte er, über ihr leidendes Gesicht gebeugt, ein stummes und herzzerreißendes Zwiegespräch geführt.

So gut kannte er diese seltsame Tochter des Poitou, an deren kindlichgraziösen Gang er sich noch erinnerte - sie hatte ihm bei jeder ihrer Begegnungen einen zugleich kühnen und scheuen Blick zugeworfen -, und dennoch war sie ihm niemals so fern und fremd vorgekommen wie seit ihrer Rückkehr. Er war nicht sicher, ob er sich ihr verständlich machen konnte. Deshalb sprach er hart, kurz, wie an jenem Tage, an dem sie zu ihm gekommen war, um zu erfahren, ob sie den Grafen de Peyrac heiraten müsse.

Heute sagte er ihr: »Geht zum König.«

Aber alle Gründe, die er vorbrachte, hatte Angélique längst erwogen, und sie schüttelte verneinend den Kopf.

»Ich kenne Euren Stolz«, beharrte der Intendant, »aber auch Euren gesunden Menschenverstand. Vergeßt Euren Groll. Habt Ihr nicht den König angerufen, als Ihr bei den Berberesken gefangen gewesen seid, und ist er Eurem Ruf nicht gefolgt? Ihr vermögt noch alles, wenn Ihr geschickt seid. Sogar Eure Macht über jenen Mann zurückzugewinnen, dem Ihr getrotzt habt.«

Angélique ließ sich nicht überzeugen. Sie sah wieder Mezzo Morte vor sich, den Admiral von Algier in seinem Mantel aus golddurchwebtem Damast, sie hörte sein weibisches Invertiertenlachen, nachdem er ihr zugerufen hatte: »Der Mann, den man Jaff-el-Khaldoum nannte, ist vor drei Jahren an der Pest gestorben«, und sie begriff, daß sie in diesem Augenblick begonnen hatte, alle Hoffnung zu verlieren. Sie sah auch die Leiche eines Gehängten, die sich in der Dämmerung von Versailles im Winde drehte. Und, ihr zugewandt, melancholisch und prächtig, ihren zweiten Gatten Philippe du Plessis-Bellière mit jenem Ausdruck in den Augen, den sie am letzten Abend gehabt hatten, bevor er sich aus freien Stücken den feindlichen Kanonen entgegenwarf

Leb wohl, mein Herz, leb wohl, mein Lieb, du meine Augenweide.

Da wir dem König Untertan, laß scheiden uns denn beide .

Der König hatte ihr alles genommen.

Sie schüttelte erneut den Kopf, und ihr rebellisches Haar, das sich nur mühsam in eine Frisur fügte, ließ sie trotz des edel gemeißelten Königinnengesichts dem Kinde des Waldes nahe erscheinen, das einstmals die Fragen des Intendanten Molines mit hochmütigem Schweigen beantwortet hatte.

Endlich vermochte sie zu sprechen. Sie berichtete, was es mit dieser Reise, mit dieser Flucht aus Paris auf sich hatte. Sie verschwieg ihre Gründe, aber im Laufe des Berichtes sprach sie von »ihm«.

»Ich habe ihn nicht gefunden, versteht Ihr, Molines.

Vielleicht ist er jetzt auch wirklich tot ... gestorben an der Pest oder etwas anderem ... Der Tod ist so leicht im Mittelmeer .«

Sie schien zu überlegen, senkte den Kopf und fuhr leiser fort:

»Die Wiederauferstehung auch! Was tut’s? Ich bin gescheitert . eine Gefangene.«

Ihre noch durchscheinende Hand, an der die zu weit gewordenen Ringe fehlten, glitt vor ihren Augen vorbei, wie um eine hartnäckige Vision zu vertreiben.

»Ich werde den Islam nie vergessen. Alles, was ich durchlebt habe, taucht immer von neuem vor mir auf wie das Muster eines jener großen, vielfarbigen Orientteppiche, auf denen es sich so gut mit nackten Füßen gehen läßt. Kann ich tun, was der König von mir verlangt? Nein. Kann ich nach Versailles zurückkehren? Nein. Es ekelt mich an, wenn ich nur davon träume. Wieder auf das Niveau der HinterhofSchwatzereien, der Intrigen und Komplotte hinabsteigen? Ihr wißt nicht, was Ihr von mir fordert, Molines. Es gibt keine Verbindung mehr zwischen dem, was ich bin, was ich fühle, und dem Dasein, in das Ihr mich zurückstoßen wollt.«

»Aber Ihr habt nur die Wahl zwischen Unterwerfung und Rebellion.«

»Ich will mich nicht unterwerfen.«

»Dann also Rebellion«, sagte er ironisch. »Wo sind Eure Truppen, wo Eure Waffen?«

Angélique schien von seinem Spott nicht berührt.

»Es gibt Dinge, die selbst der allmächtige König fürchtet: die Rivalität der Großen, die Feindschaft der Provinzen.«

»Derlei Dinge belästigen die Könige erst, wenn viel Blut geflossen ist. Ich kenne Eure Absichten nicht, aber sollte Euer Aufenthalt bei den Berbern Euch gelehrt haben, das menschliche Leben zu verachten?«

»Im Gegenteil. Mir scheint, als ob ich dort erst seinen wahren Wert begriffen hätte.«

Eine Erinnerung brachte sie zum Lachen.

»Moulay Ismaël pflegte jeden Morgen zwei oder drei Köpfe abzuschlagen, um sich Appetit zu machen. Leben und Tod waren so eng verbunden, daß man sich täglich von neuem fragte, was nun eigentlich wichtig sei: leben oder sterben. Auf diese Art lernt man sich kennen.«

Der alte Intendant schüttelte mehrmals den Kopf. Ja, sie kannte sich nun, und gerade das brachte ihn zur Verzweiflung. Solange eine Frau an sich zweifelte, konnte man ihr noch immer Vernunft beibringen. Wenn sie ihre Reife erreicht, wenn sie sich fest in der Hand hatte, mußte man das Schlimmste befürchten. War es einmal soweit, gehorchte sie nur noch ihren eigenen Gesetzen.

Er hatte immer gespürt, daß Angéliques Persönlichkeit zahllose Aspekte besaß, die sich wie einander folgende Wellen zeigen würden, eine nach der anderen durch die sich unablässig erneuernden Erschütterungen ihres Lebens in Bewegung gesetzt. Gern hatte er das Strömen des Schicksals aufgehalten, den eigensinnigen Elan, der ihre Existenz immer weiter von ihrem Ursprung entfernte und dem sich Angélique zu seinem Kummer mit der Geschmeidigkeit der Frauen hingab, die sich nicht so sehr zu erklären suchen, sondern sich jeden Tag in neuer Gestalt begreifen.

Hätte sie nicht in Versailles bleiben können, fragte er sich ärgerlich, dort, wo sie sich alles erobert hatte? In dieser Spanne ihres Lebens war sie zugänglich und doch unangetastet gewesen. Sie hatte Freude an ihrem Besitz gehabt, hatte von den Früchten der Macht, des Reichtums und des Vergnügens gekostet. Die Welle ihrer mysteriösen Odyssee hatte sie nun über den Schein hinausgetragen. Sie würde sich nicht mehr mit Illusionen begnügen. Ihre Stärke kam aus ihrer Absonderung, aber ihre Schwäche würde aus ihrer Unfähigkeit wachsen, sich nicht mehr mit der gierigen materiellen Gesellschaft verschmelzen zu können, die der König von Frankreich unter seiner Zuchtrute schuf.

»Wie gut Ihr mich kennt, Molines«, murmelte sie, seine Gedanken mit einer Sicherheit erratend, die ihn erzittern ließ. »Gott allein weiß, welche hellsichtige Kraft sie in diesen wilden und seltsamen Ländern erworben hat«, sagte er bei sich, unruhiger denn je.

»Es ist wahr. Ich hätte Paris nicht verlassen sollen. Alles wäre viel einfacher gewesen, und ich würde weiter mit verbundenen Augen bei Hofe leben. Der Hof! Bei Hof tut man alles, was man will, ausgenommen leben. Vielleicht liegt es am Älterwerden, aber ich könnte mich nicht mehr mit diesem glänzenden Firlefanz zufriedengeben, der so viele Marionetten in Bewegung setzt. Ah, das Recht auf einen Schemel in Gegenwart des Königs besitzen ... Welch Triumph! Am Tisch der Königin Karten spielen ... Welch Genuß! Fruchtlose, kümmerliche Leidenschaften, die einen dennoch in ihrem Bann halten und wie Schlangen erwürgen ... das Spiel, der Wein, die Juwelen, die Ehren. Vielleicht habe ich nur den Tanz und die Schönheit der Gärten geliebt, aber ich mußte diese Liebe zu teuer bezahlen: mit feigen Kompromissen, mit der Begehrlichkeit der Einfaltspinsel, denen man schließlich sein Fleisch überließ, mit Langeweile, mit immer neuem Lächeln, das man wandelnden Krebsgeschwüren schenken mußte ... Glauben Sie wirklich, Monsieur Molines, daß ich das Wunder des mir unter so vielen Schmerzen wiedergeschenkten Lebens nur erfuhr, um mich von neuem so tief zu erniedrigen? Nein! Nein! Dann hätte die Wüste mich nichts gelehrt!«

Während er das schöne Antlitz vor ihm betrachtete, über dem noch die Spur ihres Martyriums wie ein Schleier lag, der nur die geläuterten Züge durchscheinen ließ, überkamen den harten Molines zugleich Respekt und Entmutigung. Die Urteilsfähigkeit Angéliques war trotz der über sie verhängten Prüfungen unfehlbar geblieben, aber es war zu bedauern, daß ihr Blick für die Schändlichkeiten der Epoche sie hart und unnachgiebig machte. Molines konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. In der Auseinandersetzung mit ihr suchte er sie weniger zu überzeugen als zu retten.

Eine Katastrophe ohne Beispiel stand unmittelbar bevor, in deren Verlauf alles zusammenstürzen würde, was er als sein Lebenswerk ansah. Nicht allein sein Vermögen, dessen Quellen, wie er hoffte, verborgen und verzweigt genug waren, um wenigstens einen Teil davon retten zu können, sondern andere Dinge, die ihm vor allem am Herzen lagen: der Glanz und die Größe der Plessis-Bellière, der Reichtum der Provinz, die mit jedem Jahr gefestigtere Situation der Reformierten, denen die Erde ihre arbeitsamsten und fähigsten Bauern verdankte.

Durch den Einfluß, den sie auf den allmächtigen König ausgeübt hatte, war Angélique zu dem zerbrechlichen Pfeiler geworden, auf dem das geduldig ausbalancierte Gleichgewicht der Kräfte ruhte. Ihre Weigerung mußte ihn zum Einsturz bringen.

»Und Eure Söhne?« fragte er.

Die junge Frau zuckte zusammen und wandte wie so oft ihren Blick zum Fenster, als wollte sie aus der Vision des Waldes Hilfe und eine Antwort auf ihre Besorgnisse schöpfen. Ihre umschatteten Lider zitterten nervös, während ihre Gedanken nicht ohne Mühe Molines’ Argument zurückwiesen. »Ich weiß ... meine Söhne. Sie zwingen mich zur Unterwerfung. Die Last ihrer jungen Leben lähmt mich.«

Sie warf ihm einen ironischen Blick zu.

»Was für ein Widersinn, Molines, wenn man bedenkt, daß sich die Tugend meiner Kinder bedient, um mich ins Bett des Königs zu stoßen. Aber so ist es nun einmal in den Zeiten, die wir durchleben.«

Der hugenottische Intendant protestierte nicht. Er konnte den Scharfblick ihres Zynismus nicht leugnen.

»Gott weiß, daß ich für meine Söhne gekämpft habe, als sie klein und wehrlos waren«, fuhr sie fort, »aber heute ist es anders. Das Mittelmeer hat mir Cantor geraubt, der König und die Jesuiten haben mir Florimond genommen, und zudem ist er zwölf und steht in dem Alter, in dem ein Adliger allein sein Schicksal zu gestalten beginnt. Das Erbe der Plessis-Bellière fällt an Charles-Henri, Der König wird ihm seinen Besitz niemals nehmen. Steht es mir also nicht frei, über meine Person zu verfügen?«

Das pergamentene Gesicht des Intendanten rötete sich vor Zorn. Mit beiden Händen schlug er auf seine mageren Knie. Wenn sie zur Rechtfertigung ihrer Narrheit dieselbe unerschütterliche Logik anwandte wie früher, würde er bei ihr nie zum Ziele kommen.

»Ihr verleugnet Eure Verantwortlichkeit für Eure Söhne, um Eure eigene Existenz zerstören zu können!« rief er.

»Falsch. Um mich nicht verabscheuungswürdigen Trugbildern opfern zu müssen.«

Er wechselte die Taktik.

»Madame, Ihr scheint das Opfer Eurer Tugend für unausweichlich zu halten. Aber was verlangt man tatsächlich von Euch? Nichts weiter als Eure öffentliche Unterwerfung in Gegenwart des Hofs, da Eure Rückkehr in die königliche Gnade sonst als ein Akt der Schwäche seitens des Souveräns angesehen werden könnte. Ist sein Prestige auf diese Weise gewahrt, sollte eine Frau - und eine Frau wie Ihr, Madame

- über genügend Schliche und Listen verfügen, um weiteres zu vermeiden .«

»Mit dem König?« murmelte sie, von einem plötzlichen Schauder ergriffen. »Unmöglich. So, wie wir miteinander stehen, wird er mir nichts erlassen, und ich selbst .«

Ihre Hände bewegten sich wie im Fieber, verkrampften sich ineinander und lösten sich wieder. Er dachte, daß sie unruhevoller geworden sei als je. Und, auf einer anderen Ebene, heiterer und überlegener. Verletzlicher, doch unangreifbarer.

Angélique versuchte sich die lange Galerie vorzustellen, in der sie sich schwarzgekleidet unter den spitzen, spöttischen Blicken der Höflinge dem sie stehend und mit jener einschüchternd-majestätischen Miene erwartenden König nähern würde, die seinem marmornen Antlitz, seinen düsteren Augen so natürlich war. Der Kniefall, die Worte des Vasalleneides, der Kuß der Unterwerfung . Danach, wenn sie allein vor ihm stehen und er ihr wie einer Feindin begegnen würde - was hatte sie ihm in diesem Duell entgegenzusetzen, das mit allen Mitteln zu gewinnen er entschlossen war?

Sie würde nicht einmal mehr den dummen Stolz der Jugend besitzen, jene aus Unwissenheit geschmiedete Rüstung, die zuweilen gegen den Angriff der Sinne Schutz zu bieten vermag.

Sie hatte zu viele fleischliche Erfahrungen hinter sich, um nicht die geheimen Übereinstimmungen im erotischen Bereich mit allen Abwandlungen zu kennen, und sie wußte, daß sie dem schwebenden Einklang erliegen würde, der die nach dem Joch der Unterwerfung verlangende Frau dem Mann, der sie besiegt, in die Arme treibt.

Zahllose Männerzärtlichkeiten, zahllose Wünsche und Kämpfe um ihren schönen Körper hatten sie bis ins Mark zum Weibe gemacht.

In einem Maße, das sie befähigte, selbst eine köstliche Demütigung zu genießen.

Ludwig XIV., dieser Taktiker des Geistes, mußte sich darüber im klaren sein. Um seine glanzvolle Rebellin an sich zu fesseln, würde er sie mit seinem glühenden Siegel zeichnen, wie man den Parias des Königreichs die königliche Linie einbrannte.

Aus Scham verschwieg sie Molines die Visionen, die sie bedrängten.

»Der König ist kein Dummkopf«, sagte sie mit einem ernüchternden Lachen. »Es läßt sich nur schwer erklären, Molines. Aber ich kann dem König nicht begegnen, ohne daß etwas zwischen uns geschähe ... und das darf nicht sein. Ihr wißt, warum, Molines ... Der Mann, den ich liebte, der mich als Dame seines Herzens erwählte, war der, für den ich bestimmt war. An seiner Seite wäre mein Leben keine Folge von Tagen des Schmerzes und der vergeblichen Erwartung, der an der Wurzel vernichteten Freude, der Angst und schließlich, nach einer kindischen und gefährlichen Illusion, der bitteren Erkenntnis gewesen, daß es Dinge gibt, die sich nicht mehr wiedergutmachen lassen. Ob er tot ist oder lebt - er hat eine andere Straße als die meine eingeschlagen. Er hat andere Frauen geliebt, wie ich andere Männer geliebt habe. Wir haben uns verraten. Unser gemeinsames Leben, kaum begonnen, wurde auf immer zerstört

- durch die Hand des Königs, Ich kann nicht verzeihen. Ich kann nicht vergessen . Ich darf nicht, es wäre der schlimmste Verrat, der mir auch die letzten Hoffnungen nähme.«

»Welche Hoffnungen?« fragte er schneidend.

Sie fuhr sich verwirrt mit der Hand über die Stirn.

»Ich weiß nicht ... Eine Hoffnung trotz allem, die nicht sterben will. Übrigens .«

Lebhaft fuhr sie fort: ». übrigens habt Ihr von meinem Vorteil gesprochen ... Glaubt Ihr, er bestehe darin, zurückzukehren und meinen Becher den Giften der Montespan hinzuhalten? Ihr wißt doch, daß sie versuchte, mich und auch Florimond ermorden zu lassen?«

»Ihr seid stark und geschickt genug, Madame, um ihr Trotz zu bieten. Man sagt bereits, daß ihr Einfluß erschüttert sei. Der König ist ihrer Boshaftigkeit müde. Man hört, daß er sich in langen Unterhaltungen mit Madame Scarron, einer anderen gefährlichen Intrigantin, gefällt, leider einer einstigen Reformierten. Mit dem Eifer des Konvertiten ermuntert sie ihn, einen dummen und fruchtlosen Kampf gegen ihre einstigen Glaubensgenossen zu führen.«

»Madame Scarron?« rief Angélique verdutzt. »Ist sie nicht die Erzieherin seiner Kinder?«

»Gewiß. Der König interessiert sich nichtsdestoweniger für ihre Unterhaltung, die ihre Reize haben muß.«

Angélique zuckte die Schultern. Dann erinnerte sie sich, daß die arme Françoise zur angesehenen Familie der Aubigne gehörte und daß die vornehmen Herren, die vergebens auf ihre Not spekuliert hatten, um ihre Gunst zu erlangen, sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Groll »die schöne Indianerin« nannten ... Sie erinnerte sich auch, daß sie Maître Molines selten bei leerem Geschwätz erwischt hatte. Mit Nachdruck fügte er hinzu:

»Ich sage das, um Euch begreiflich zu machen, daß Madame de Montespan nicht mehr so fest im Sattel sitzt, wie man glauben könnte. Ihr hieltet sie schon in Schach, als sie in ihrem Zenit stand. Sie gänzlich zu stürzen, wäre heute ein Kinderspiel .«

»Sich verkaufen«, murmelte Angélique, »kaufen, jenen unerbittlichen, unterirdischen Kampf führen, den ich nur allzugut kenne . Ah, ich ziehe einen anderen vor«, rief sie, während es in ihren Augen plötzlich zu funkeln begann. »Wenn es unbedingt nötig ist zu kämpfen, dann am hellen Tag, auf meinem Land . Nur dieses eine scheint mir wirklich in all dem Chaos: hier zu sein. Es tut mir wohl und weh zugleich. Weh, weil ich daran ermessen kann, daß ich gescheitert bin. Wohl, weil ich mich unendlich danach gesehnt habe, meine Heimat wiederzusehen.

Ja, ich habe sie wiedersehen müssen. Es ist seltsam, aber mir scheint, daß es mir schon an dem Tage, an dem ich zum erstenmal Monteloup verließ - Ihr erinnert Euch, Molines, ich war siebzehn, und die Wagen des Grafen de Peyrac entführten mich gen Süden -, bestimmt war, nach einem langen Umweg ins Land meiner Kindheit zurückzukehren, um dort meine letzte Karte auszuspielen .«

Die Worte, die sie ausgesprochen hatte, ließen sie von neuem bestürzt und unruhig innehalten, und sie verließ Molines, um langsam die Treppe zum Turm hinaufzusteigen, von dessen Höhe sich ihr Blick im Dunst des Horizonts verlieren konnte, während sie ihre Pläne überdachte. Bildete der dickwanstige Montadour, dessen schwerfällige Gestalt sie unten auf dem sandigen Vorplatz bemerkte, sich etwa ein, daß sie während des Frühlings und Sommers hinter den Schloßmauern bleiben und geduldig auf den Herbst und die Leute des Königs warten würde, die sie verhaften und in ein anderes Gefängnis schaffen sollten?

Wenn sie es heute nicht wagte, in ihren eigenen Garten hinabzusteigen, dann nur, weil sie wußte, daß sie zu gegebener Zeit nach ihrem Belieben in den Wald laufen konnte, ohne daß der dicke Wächter mit dem feuerfarbenen Schnurrbart jemals davon erfahren würde. Er würde weiter wichtigtuerisch über das verzauberte Schloß herrschen, aus dem die Prinzessin entflohen war.

Dummkopf, der nichts vom Leben der Felder kannte und der nicht wußte, daß ein Dachsbau immer zwei Ausgänge hatte. Wenn der Tag gekommen war und kein anderer Ausweg blieb, würde sie sich in die Wildnis flüchten.

Aber bevor sie sich in eine Verfolgte verwandelte, die sich mit Laub tarnte, um sich den Augen des Jägers zu verbergen, würde sie alles in die Waagschale werfen müssen.

»Meine letzte Karte .«

Diesmal ihre Freiheit zu erobern, würde noch schwieriger sein als dem Harem Moulay Ismaëls zu entfliehen. Damals hatte ihr ihre Weiblichkeit gute Dienste geleistet. In die Schatten zu entkommen, der Nacht, der Stille Vertrauen zu schenken, die Verteidigungsmittel der wehrlosen Tiere zu übernehmen, die in ihren Verstecken mit der Farbe der Erde verschmelzen, den Beistand der Natur für sich zu fordern - das waren Listen, die diesmal nicht zum Ziel führen würden.

Eine so dicht gewobene, solide Macht wie die des Königs von Frankreich zu brechen, erforderte den Eklat, den Lärm, den Trotz der offenen Herausforderung, eine männliche, zu allem entschlossene Kraft.

Die Trompeten von Jericho würden nicht genügen. Wo in diesem einem einzigen Herrn unterworfenen Königreich war der zu finden, der das Schwert der Rebellion erhob?

Ihrer Welt, ihrem Rang, ihren Standesgenossen wiedergegeben, wurde es Madame du Plessis-Bel-lière klar, daß sie keine Freunde besaß. Keinerlei Bereitwilligkeit zur Beteiligung, die Freundschaft, Leidenschaft oder zumindest doch gemeinsamer Ehrgeiz hätte bewirken können, war zu erhoffen. Mit welcher Geschicklichkeit hatte es dieser junge König verstanden, die Ehrerbietung aller auf sich zu ziehen! Nicht einer der stolzen Herrn, der sich nicht vor ihm neigte. Sie rief sich ihre Namen wie die von Gespenstern ins Gedächtnis: Brienne, Cavois, Louvois, Saint-Aignan ... Lauzun war im Gefängnis. Er würde noch Jahre dort bleiben, würde es gealtert und freudlos verlassen .

Auf der schmalen, von einer Brüstung aus weißem Stein umrundeten Plattform stehend, befragte Angélique den Horizont.

»Wirst du mich behüten, mein Land?«

Der Schiefer der spitzen Türmchen glänzte unter der sengenden Sonne wie spiegelndes Metall. Aber der von den Sümpfen her wehende Wind trug feuchten Hauch herauf und ließ die Wetterfahnen knarren. Im reinen Himmel zog ein Falke mit weit ausgebreiteten Flügeln seine Kreise.

Der Wald begann hinter Plessis, Davor breitete sich das Grün des Parks und der Felder, und zur Linken, sehr fern, wie schwebend zwischen Himmel und Erde, halb Wolke, halb Traum, erstreckten sich die Sümpfe des Poitou.

Von ihrem Turm aus vermochte Angélique kein Lebenszeichen zu erkennen. Denn diese Wildnis mit ihren im Schatten der Baume sich verbergenden Feldern bot dem sie betrachtenden Auge den stetigen Anblick wogender, lichtglänzender Laubkronen, der auch den Wald kennzeichnete. Dort, wo das ländliche Leben sich am tätigsten regte - in den von Kastanien überwölbten Meiereien und den verlorenen Dörfern, deren Glockengeläut die dichte Wand der Bäume nicht zu durchdringen vermochte -, sah man nur eine grüne, von schwarzen Furchen durchzogene Wildnis, die die felsigen Schrunde verrieten, durch die sich die eisigen Wasser der Vienne, Vendée und Sèvre ergossen.

Steile, rosige Felswände, klaffende Wunden im Fleisch der Erde, durchzogen von Grotten, in denen das Licht der Fackeln unter der Salpeterschicht ok-kerfarbene oder schwarze Umrisse enthüllte, die, wie man sagte, von Geistern gezeichnet worden waren. Das Kind Gontran hatte sie damals gesehen. Seine Schwester Angélique, Fee dieser Zauberhöhlen, hatte sie ihm gezeigt. Aber da er sie allein betrachten wollte, verjagte er das kleine Mädchen, und Angélique hatte rachsüchtig andere Entdeckungen für sich behalten.

Aus der unsichtbaren Ebene, der Domäne des Getreides, dem Einfallstor der Invasionen, wand sich die alte römische Straße. Ihre graue, mit großen Steinplatten geschuppte Schlange drang in die Wildnisfestung ein, die einstmals die gallische Heimat der Pikten geschützt und den Legionen Cäsars lange Zeit widerstanden hatte.

Im Norden schlossen sich an den Forst von Nieul die Wälder von Fontevrault, Scevolle, Lancloître, Châ-tellerault und, zwischen Vienne und Creuse, die von La Guerche und Chantemerle. Im Osten und Süden dehnten sich die Sümpfe des Nebels, die Sümpfe der Charente, Einsamkeit der Heide, unzugängliches Gestrüpp, feuchte, schlammige Erde ...

Für welchen Einsatz hatte sie das Schicksal in die vertraute Landschaft der Bäume und des Wassers zurückgeführt, die ihre Seele geformt hatte?

Welche Lektion sollte sie lernen, die zu begreifen sie sich weigerte?

Welche Wahrheit sollte sie entdecken, die dieses alte, von den einander folgenden Wogen der Zivilisationen überflutete Land seit ihrer Kindheit vor ihr verborgen hatte?

Dolmen, jene geheimnisvollen antiken Steinmonumente, erhoben sich in den Tiefen der Wälder, Menhirs reihten sich in den Heiden, düstere, wie Reliquienschreine verzierte Kapellen standen zu Ehren örtlicher Heiliger an allen Kreuzwegen, in friedlicher Nachbarschaft mit den Ruinen römischer Tempel, deren Götter zu bekämpfen sie errichtet worden waren.

Diese beiden Undurchdringlichen, Wald und Sumpf, waren es gewesen, die sich im Jahre 732 den entfalteten Bannern der arabischen Horden und während des Hundertjährigen Kriegs den Einfallen der hungrigen Engländer entgegengestellt hatten.

Land, starrend von den von Zauberinnen oder Rittern erbauten düsteren Wehrtürmen der Abteien, aus denen man die bösen Geister hatte austreiben müssen.

Land der Religionskriege. Die verfluchte Stätte von La Châtaigneraie war nicht fern, wo katholische Truppen 1562 an die hundert zum Gebet versammelte Männer, Frauen und Kinder umgebracht hatten, und in der Gegend von Parthenay erinnerte man sich noch heute des protestantischen Reiters Puyvault, dessen Lieblingsgericht Frikassee aus Mönchsohren gewesen war.

Land der Aufstände und Räubereien: unter Richelieu hatten die »Barfüßler« die Steuereinnehmer massakriert, und unter Mazarin waren die »wie Aale durch die Wasserläufe flitzenden« Sumpfleute vergeblich von den Soldaten des Königs verfolgt worden.

Als Angélique noch ein Kind gewesen war, schien es ihr, daß alle, die von außerhalb kamen, Fremde, ja Feinde seien. Sie hatte ihnen argwöhnisches Mißtrauen entgegengebracht. Sie hatte ihr Eindringen gefürchtet und die durch sie verursachte Störung der geheimen, köstlichen, nur ihr und den ihren bekannten Ordnung des Landes ihrer Kindheit.

Heute drängte sich ihr dasselbe Gefühl auf. Der vor ihren Augen ausgebreitete Horizont konnte sie nicht so verraten, daß er die mit ihrer Verhaftung beauftragten Sendboten des Königs von Frankreich passieren ließ.

Die Soldaten, die am Fuße des Schlosses Wache hielten, waren wenig zahlreich. Das Poitou würde schon dafür sorgen, daß sie verschwanden, wenn das Signal dazu gegeben würde, ebenso wie die Rotten, die durchs Land zogen, um die Protestanten zu quälen. Man hatte bereits Erstochene in den Gräben gefunden, und die Frauen der Dörfer Morvay und Melles hatten sie mit glühender Asche empfangen, als sie zur Messe geschleppt werden sollten. Geblendet hatten sich die Soldaten zurückziehen müssen und waren jämmerlich wieder in ihrem Quartier in Plessis erschienen.

Der Herzog Samuel de La Morinière und seine Brüder Hugues und Lancelot, hugenottische Grandseigneurs, waren in die Grotten der Furt von Santis geflüchtet, nachdem sie den Dragonerleutnant getötet hatten, der ihr Schloß besetzen sollte.

So begannen die unvermeidlichen Schlußsätze der Erzählungen ihrer Amme Fantine mit gegenwärtigen Bildern lebendig zu werden; »Da die Soldaten großen Schaden anrichteten, flüchteten sich die Landleute in die Wälder ...« Oder auch: »Der arme Ritter, der der Rache des Königs entfliehen wollte, zog sich in die Sümpfe zurück, wo er sich zwei Jahre lang von Aalen und Enten nährte .«

Sobald die Dämmerung sank, würde der Ruf eines Horns über die Wildnis hallen. Nicht, um das Ende einer Jagd anzuzeigen, sondern um geheimnisvolle Botschaften zwischen den gejagten Hugenotten und ihren Glaubensbrüdern zu vermitteln. Einer von ihnen, der Baron Isaac de Cambremont, bewohnte nicht fern von Plessis ein altes, verfallenes Schloß, dessen schwarzer Donjon sich gegen den roten Himmel abhob. Von fern her kam Antwort auf seine Signale, und zuweilen hörte man unten Montadour beunruhigt fluchen. Seitdem der verdammte ketzerische Patriarch La Morinière in die Wälder gegangen war, war es mit den Bekehrungen nicht mehr weit her. Zwar waren die Tempel verriegelt und versiegelt, aber es bestand nicht der leiseste Zweifel, daß sich diese vermaledeiten Nachtschmetterlinge an unzugänglichen Orten verkrochen, um ihre Choräle zu singen.

Um sie zu überraschen, wollte er mit seinen Leuten einen Vorstoß in den Forst unternehmen, doch sie hatten Angst vor dem düsteren Labyrinth. Vergebens suchte er katholische Jäger zu überreden, ihm als Führer zu dienen.

Eine Vision verfolgte Angélique. Daß ein Reiter in vollem Galopp erschien und an das Tor des Schlosses klopfte: der König. Und daß er sie in seine Arme nahm, um ihr zuzuflüstern, was er keiner anderen Frau schrieb: »Meine Unvergeßliche ...«

Zum Glück war die Zeit vorbei, in der der König von Frankreich sich auf ein Pferd werfen und mit verhängten Zügeln zu seiner Geliebten ritt wie damals, als er noch in Marie Mancini verliebt gewesen war.

Ein Gefangener der Umstände auch er, mußte er warten, daß sie sich unterwarf, und vergeblich suchte er bei Monsieur de Breteuil einen Anlaß zur Hoffnung.

»Wird sie kommen, Monsieur?«

Der Höfling verneigte sich und suchte ein spöttisches Lächeln zu verbergen.

»Sire, Madame du Plessis ist noch mitgenommen von den schrecklichen Mühsalen ihrer Reise.«

»Hätte sie Euch nicht eine Botschaft anvertrauen können? Nährt sie noch gegen unsere Person blinden Groll?«

»Ich fürchte es, Sire.«

Der König unterdrückte einen Seufzer, sein Blick verlor sich in der spiegelnden Ferne der großen Galerie.

Würde er sie eines Tages reuig, gebrochen dort vor sich sehen?

Er zweifelte. Eine Ahnung warf ihm das Bild seiner schönen Gefangenen zurück, auf der Höhe eines Turms, behütet von schwarzen Bäumen und schlafenden Wassern.

Angélique lief zwischen den Bäumen dahin. Sie hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen, und das Moos tat ihren nackten Füßen wohl. Dann hielt sie inne, um aufmerksam und erregt zu lauschen. In einem Blitz der Erinnerung erkannte sie den Pfad, dem sie folgen mußte, und setzte sich von neuem in Bewegung. Rausch der Freiheit! Sie lachte leise. Es war so leicht gewesen, in den Keller des Schlosses hinabzusteigen und zwischen den Weinfässern die kleine Pforte wiederzufinden, Ausgangspunkt des unterirdischen Ganges, den jeder herrschaftliche Wohnsitz in seinem Innern zu bergen sich schuldig ist.

Der unterirdische Gang von Plessis hatte nichts gemein mit dem erstaunlichen Tunnel des Hôtels du Beautreillis in Paris, durch dessen mit den Abflußkanälen des antiken Lutetia verbundene Wölbungen man bis zur Vorstadt Vincennes gelangen konnte. In Plessis gab es nur ein stinkendes, feuchtes Loch, durch das sie sich auf allen vieren hatte schieben müssen. Im Buschwerk draußen auftauchend, hatte sie zwischen den Zweigen hindurch das Schloß und die Soldaten in roten Röcken bemerkt, die ihre Wachrunden gingen. Sie war jedoch ihren Blicken entzogen, und die Posten konnten nicht ahnen, daß die, über die sie zu wachen hatten, sie aus ein paar Schritten Entfernung beobachtete und dann, vorsichtig die Zweige des Gebüschs auseinanderbiegend, davonschlich.

Jenseits des dichten Gestrüpps von Baumtrieben und Buschwerk, Himbeersträuchern und wilden Rosen, das die Grenze des Waldes bildete, weitete sich dieser zu einer riesigen grünen Kathedrale mit Eichen- und Kastaniensäulen.

Angéliques Herzklopfen ließ nach, und entzückt durch das Gelingen ihres Ausbruchs begann sie zu laufen. Sie fand ihre Kräfte wieder. Die harte Lehrzeit, die sie auf den Pfaden Marokkos hinter sich gebracht hatte, ließ sie das Erklettern moosiger Felsen, den Abstieg über steile Hänge zu plätschernd dahinfließenden, von schwärzlichen Blättern halb verschütteten Rinnsalen kindisch leicht empfinden. Bald senkte sich der Wald in Schluchten, die in lichtere Täler mündeten, bald hob er sich zu mit Heidekraut überwucherten Plateaus. Angélique bewegte sich sicher in diesem Durcheinander von Licht und Schatten, Trockenheit und Feuchtigkeit, modrigen Gerüchen, die aus den Tiefen der Schluchten stiegen, und dem lebendigen, fast mittelmeerischen Hauch, der auf den Höhen zu spüren war, dort, wo die Knochenstruktur der Erde mit scharfen Felskanten die dünne, blühende Erdschicht durchbrach.

Angélique hielt von neuem inne. Vor ihr erhob sich der Fels der Feen in seiner von druidischen Eichen umstandenen Lichtung gleich einer gewaltigen Kultstätte mit einer mächtigen steinernen Platte, deren vier Träger die Jahrhunderte tief ins Erdreich hatten einsinken lassen.

Sie umschritt ihn, um sich zu orientieren. Jetzt war sie sicher, sich nicht mehr zu verirren. Dieser Teil des Waldes mit dem Fels der Feen, der Schlucht der Wölfe, der Quelle von Troussepoil, dem Kreuzweg der drei Eulen, an dem sich eine Totenlaterne erhob, war während ihrer Kindheit der Schauplatz ihrer Abenteuer gewesen. Wenn sie die Ohren spitzte, konnte sie, herangeweht durch den Wind, die schweren Schläge der Holzfäller des Weilers Gerbier vernehmen, die sich für den Sommer mit ihren langen Äxten unter den Bäumen einquartierten. Weiter östlich hausten Kohlenbrenner in ihren geschwärzten Hütten, bei denen sie zuweilen Käse gegessen und lange Holzkohlenstücke für Gontran erbettelt hatte.

Aber damals war sie von Monteloup aus hierhergekommen. Die Pfade von Plessis waren ihr weniger vertraut, obwohl sie oft genug das weiße Traumschloß samt seinem Teich umschlichen hatte, dessen Herrin sie jetzt war.

Mit der gleichen Geste wie damals am gleichen Ort schüttelte sie ihren Barchentrock, in den sich Zweigstückchen verhakt hatten, glättete sie ihr vom schnellen Laufen in Unordnung geratenes Haar, breitete es über die Schultern und lächelte darüber, daß sie diesen Riten, die sie damals um nichts in der Welt unterlassen hätte, noch immer die gleiche Wichtigkeit beimaß. Dann verließ sie mit vorsichtigen, langsamen Schritten die Lichtung und begann, eine in den Fels gehauene, mit Humus und Laub bedeckte Treppe hinabzusteigen. Der Besuch, den sie vorhatte, erforderte eine gewisse Feierlichkeit. Angélique hatte niemals ihre nackten Wildlingsfüße auf diese Treppenstufen setzen können, ohne von einer scheuen Schüchternheit befallen zu werden, die kaum in Einklang mit ihrem Charakter stand. Tante Pulchérie hätte sie nicht wiedererkannt. Allein den dunklen Geistern des Waldes bot sie das vollkommene Bild des braven kleinen Mädchens.

Der Pfad fiel rasch zwischen graugrünen Schrunden ab. Kleine Rinnsale liefen an der Flanke des Berges herab, begleitet von hohen purpurnen Fingerhüten. Auch sie verloren sich. Aus dem dicken, schlammig zersetzten Blätterteppich brachen noch Schwammpilze, deren klebrige, orangefarbene oder prächtig violette Kuppeln im Unterholz beunruhigend und geheimnisvoll leuchteten. Alles war da: die Angst, die unheilige Unruhe vermischt mit Abscheu, die Neugier und die Gewißheit, Zutritt zur anderen Welt, der Welt der Hexerei zu erlangen, die Macht und Herrschaft verlieh.

Angélique mußte sich jetzt an den Bäumen halten, so steil fiel der Abhang ab. Haarsträhnen fielen ihr in die Augen. Sie strich sie ungeduldig beiseite. Sie erinnerte sich nicht, daß dieser Ort so fern und unzugänglich gewesen war; dann seufzte sie erleichtert auf, da sie den ersten Schimmer des Lichts entdeckte, das die Sonne jenseits des Felsens durch die grüne Transparenz des Laubwerks warf. Ihre Hand tastete durch das Moos nach einem festen Stützpunkt im Gestein, und sie ließ sich auf eine winzige Plattform über dem Flußlauf gleiten, dessen Murmeln von un-ten heraufdrang.

Sich am Fels festklammernd, beugte sie sich vor, hob mit einer Hand den Efeuvorhang und entdeckte den Eingang zur Grotte. Das Wort, das man damals hatte sprechen müssen, fiel ihr nicht ein; vergeblich suchte sie sich zu erinnern. Doch schon rührte es sich im Innern. Ein schleppender Schritt, eine entfleischte Hand glitt über den Stein, und das Gesicht einer sehr alten Frau erschien im Dämmerlicht.

Braun und runzlig, erinnerte es an eine eingeschrumpfte Mispelfrucht, umstanden von schneeweißem, vollem Haar in Büscheln toter Strähnen.

Ihre Augen blinzelten, während sie die Besucherin musterten.

Angélique fragte im Dialekt der Gegend:

»Bist du die Zauberin Melusine?«

»Ich bin’s. Was willst du, Mädchen?«

»Dir dieses bringen.«

Sie reichte der Alten ein Bündel, das Schnupftabak, ein Stück Schinken, einen kleinen Beutel Salz, einen weiteren mit Zucker, Schweineschmalz und eine mit Goldstücken gefüllte Börse enthielt.

Die Alte prüfte aufmerksam die Gaben, dann kehrte sie ihr den runden Rücken zu, der an den einer schwindsüchtigen Katze erinnerte, und verschwand in der Grotte.

Angélique folgte ihr.

Sie gelangte in einen runden, durch eine in der Decke befindliche, von Dornsträuchern geschützte Öffnung schwach erhellten Raum, dessen Fußboden mit Sand bedeckt war. Durch die Öffnung entwich der Rauch eines kleinen Feuers, über dessen Glut ein eiserner Kessel stand.

Die junge Frau setzte sich auf einen flachen Stein und wartete. Genauso war es gewesen, als sie damals die Zauberin Melusine um Rat gefragt hatte. Es war nicht dieselbe wie heute. Sie war noch älter und schwärzer gewesen, und sie war am Ast einer Eiche gestorben, von Bauern gehängt, die sie beschuldigten, ihre Kinder geopfert zu haben. Als man erfuhr, daß sich eine neue Zauberin in den Grotten von Hauts-de-Mère eingenistet habe, hatte man sie aus Gewohnheit Melusine genannt.

Woher kommen die Zauberinnen der Wälder? Welche Wege des Unheils und der Verwünschungen führen sie zu denselben Orten, wo sie sich mit dem Mond und den Pflanzen verbünden? Man behauptete, diese sei die in der geheimen Wissenschaft Erfahrenste und Gefährlichste, die jemals in diese Gegend verschlagen worden sei. Man erzählte auch, daß sie das Fieber durch Schlangensud, die Gicht durch die Salze der Asseln, die Taubheit mit Hilfe von Ameisenöl kuriere und daß sie gleichermaßen imstande sei, einen Dämon der ersten Legion Satans in eine Haselnuß zu bannen. Gab man sie einem Feind zu knacken, durfte man sich daran erfreuen, ihn bis zur Decke springen zu sehen, und wer sich solchem Verhängnis entziehen wollte, mußte wenigstens zur Kirche Notre Dame de la Pitié von Gâtines pilgern, deren Reliquienschrein ein Haar und einen Zehennagel der Jungfrau barg.

Junge Mädchen, die gesündigt hatten, kannten den Weg zu ihrem Schlupfwinkel genausogut wie Leute, denen das Warten auf den natürlichen Tod eines alten Erbonkels zu lange dauerte.

Angélique, die von solchen und anderen Mären gehört hatte, beobachtete interessiert das seltsame Wesen.

»Was willst du, Tochter?« fragte endlich die Alte mit ernster, wie geborsten klingender Stimme. »Willst du, daß ich dir dein Schicksal verrate? Willst du, daß ich dir helfe, Liebe zu gewinnen? Willst du, daß ich dir Tränke bereite, die dir deine durch lange Reisen erschütterte Gesundheit wiedergeben?«

»Was weißt du von meinen langen Reisen?« murmelte Angélique.

»Ich sehe Weite um dich und brennende Sonne. Gib mir deine Hand, ich will deine Zukunft lesen.«

Die junge Frau weigerte sich.

»Ich bin aus anderem Anlaß zu dir gekommen. Du, die alle Bewohner des Waldes kennt, wirst mir sagen können, wo sich die Männer verbergen, die zuweilen mit den Bauern der Weiler zusammentreffen, um ihre Kirchenlieder zu singen. Sie sind in Gefahr. Ich möchte sie warnen, aber ich kenne ihren Treffpunkt nicht.«

Die Zauberin richtete sich auf und bewegte erregt ihre knochigen Arme.

»Warum willst du die Gefahr von diesen Männern der Finsternis abwenden, du, die Tochter des Lichts? Laß nur die Raben über ihnen kreisen.«

»Du weißt also, wo sie sich verstecken?«

»Und ob ich es weiß! Wie sollte ich es nicht wissen, da sie die Zweige zerbrechen, meine Schlingen zerstören und meine Pflanzen zertreten? Wenn es so weiter geht, werden mir bald die Kräuter für meine Tränke fehlen. Es werden ihrer immer mehr. Sie schleichen wie die Wölfe, und wenn sie beisammen sind, machen sie sich ans Singen. Die Tiere haben Angst, die Vögel schweigen, und ich muß fliehen, weil ihre Lieder mich krank machen. Warum kommen diese Männer in den Wald?«

»Die Soldaten des Königs verfolgen sie.«

»Sie haben drei Anführer. Drei Jäger. Der Älteste ist auch der schwärzeste, und er ist hart wie Erz. Er ist der Anführer von allen. Er spricht wenig, aber wenn er spricht, mochte man meinen, er durchschnitte die Gurgel einer Hirschkuh mit seinem Dolch. Er spricht immer von Blut und vom Ewigen. Hör zu ...«

Sie beugte sich vor, so daß ihr Atem Angéliques Gesicht streifte.

»Hör zu, Kleine. Eines Abends beobachtete ich aus einem Versteck die versammelten Leute. Ich wollte sehen, verstehen, was sie da taten. Der Anführer stand unter einer Eiche und sprach. Er wandte den Blick in meine Richtung. Ich weiß nicht, ob er mich sah. Aber ich merkte, daß seine Augen aus Feuer waren, denn die meinen begannen zu brennen, und ich mußte fliehen, ich, die dem Wildschwein und dem Wolf ins Gesicht sieht. Da hast du seine Macht. Da siehst du, warum die andern nach seiner Pfeife tanzen. Er trägt einen großen Bart. Er ähnelt dem Bären Troussepoil, der in der Quelle sein blutiges Fell wusch, nachdem er die jungen Mädchen zerrissen hatte.«

»Das ist der Herzog de La Morinière«, sagte Angélique, ein Lächeln unterdrückend, »ein protestantischer Grandseigneur.«

Der Name schien Melusine nichts zu sagen. Sie blieb bei ihrem Troussepoil. Doch nach und nach hellte sich ihre Stimmung auf, ein Lächeln rührte sich um ihre grauen Lippen und entblößte schließlich das fast zahnlose Fleisch ihrer Kiefer. Die wenigen ihr verbliebenen Zähne waren kräftig und ziemlich weiß, als sei es ihre Gewohnheit, sie zu pflegen. Sie verliehen ihr einen seltsamen Ausdruck.

»Warum sollte ich dich nicht zu ihm führen«, meinte sie plötzlich. »Dich wird er nicht dazu bringen, deine Augen zu senken. Du bist schön, und er .«

Sie kicherte.

»Mann ist er, und Mann bleibt er«, murmelte sie spöttisch.

Angélique war weit entfernt davon, den rauhen Herzog de La Morinière, den man auch den Patriarchen nannte, auf die Wege der Verdammnis locken zu wollen. Ihre Erwartungen waren anderer Art. Und es war nötig, schnell zu handeln.

»Ich werd’ schon hingehen«, murmelte Melusine, die heiter schien. »Ich werd’ dich führen. Kleine, dein Schicksal ist schrecklich, gewaltsam und doch so schön . Gib mir deine Hand.«

Was las sie in ihren Linien? ... Sie stieß Angéliques Hand von sich, als traue sie ihren Augen nicht, in deren Staunen dennoch etwas wie ein Funkeln brennender Arglist verblieb.

»Du bist zu mir gekommen, du ... Du hast mir Salz und Tabak gebracht. Du bist meine Schwester, meine Tochter. Ah, deine Macht ist groß!«

Auch die einstige Zauberin hatte so zu dem Kind Angélique gesprochen, das ein wenig furchtsam auf dem gleichen Platz gesessen hatte; sie hatte die gleichen Worte benutzt, um ihre Verblüffung vor den Dingen auszudrücken, die um dieses junge Haupt geschrieben standen. Das Erschrecken und die Teilnahme der Zauberinnen hatten Angélique stets mit naivem Stolz erfüllt. Damals hatte sie die Gewißheit daraus gewonnen, daß sie eines Tages alles besitzen würde, was man sich nur wünschen konnte: Glück, Schönheit, Reichtum ... Und heute? Was erweckte dieses Versprechen der Macht heute in ihr, da sie längst wußte, daß man alles besitzen und dennoch nicht erfüllt sein konnte?

Sie betrachtete ihre Hand.

»Sag mir, sag mir noch, Melusine, werde ich über den König triumphieren? Werde ich seiner Verfolgung entkommen? Sag mir, werde ich meine Liebe wiederfinden?«

Diesmal war es die Zauberin, die sich entzog.

»Was könnte ich sagen, das du nicht schon im Grund deines Herzens weißt?«

»Willst du mir nicht verraten, was du gesehen hast, um mir nicht den Mut zu nehmen?«

»Komm, komm. Der Mann mit dem schwarzen Bart wird schon warten«, kicherte die andere.

Bevor sie aus der Grotte glitt, kramte sie ein Säckchen hervor und reichte es Angélique.

»Es sind Pflanzen. Weiche sie jeden Abend in heißem Wasser, setze sie den Mond aus und trinke davon bei Sonnenaufgang. Du wirst die Kraft deiner Glieder und deines Fleisches zurückgewinnen, und deine Brüste werden schwellen wie im Steigen der Milch. Aber es wird nicht die Milch sein, die sie spannen wird, sondern das Blut deiner Jugend .«

Sie gingen hintereinander, nachdem sie der Schlucht entstiegen waren. Die Zauberin folgte keinem Pfad. Sie erkannte die Fährten an unsichtbaren Zeichen.

Über den Zweigen verdüsterte sich der Himmel.

Angélique dachte an ihren Wächter Montadour. Würde er ihre Abwesenheit bemerken? Es war wenig wahrscheinlich. Er bestand darauf, sie jeden Morgen zu begrüßen, eine Maßnahme, die ihm die Herren de Marillac und de Solignac empfohlen hatten. Die Gefangene sollte nicht belästigt, aber auch nicht aus der täglichen Wachsamkeit entlassen werden. Der dik-ke Kapitän hätte offensichtlich nichts lieber getan, als dieser Verpflichtung häufiger nachzukommen, aber Angéliques stolze Haltung verwirrte ihn. Ihr eisiger Blick erstickte jeden Versuch zur Konversation oder zu Späßen schon im Keim. Sie sah ihn seine schwerfälligen Komplimente unterdrücken, verlegen an seinem roten Schnurrbart kauen und sich schließlich abwenden, indem er sagte, er werde sich nun an seine zweite Aufgabe, die Ketzerjagd, machen. Jeden Nachmittag kletterte er auf seinen stämmigen Apfelschimmel und galoppierte davon, von einer Schar Reiter begleitet, um einigen Bekehrungen in den umliegenden Dörfern beizuwohnen. Zuweilen brachte er einen besonders widerspenstigen Reformierten mit, um ihn sich selber vorzunehmen, und dann hallten die Gesinderäume des Schlosses von Stockschlägen und heiseren Schreien wider: »Schwöre ab! Schwöre ab!«

Wenn er hoffte, durch seinen Eifer für die Sache Gottes die Bewunderung der Marquise du Plessis zu erzwingen, täuschte sich der Kapitän Montadour schwer. Er begann ihr Abscheu einzuflößen. Vergeblich versuchte er, sie für seine Aufgabe zu interessieren. Aber als sie ihn an diesem Morgen von einem gewissen, aus Genf gekommenen Pastor hatte sprechen hören, den er dank seiner Spione am gleichen Abend im Schloß Grandhier würde festnehmen können, hatte sie doch aufgehorcht.

»Ein Pastor, der aus Genf gekommen ist? Wozu?«

»Um diese Gottlosen zum Widerstand aufzuhetzen. Zum Glück bin ich benachrichtigt worden. Heute abend wird er den Wald verlassen, wo er mit diesem verdammten La Morinière zusammengetroffen ist. Ich werde beim Schloß von Grandhier auf ihn lauern. Falls ihn der Herzog begleitet, wird er gleichfalls verhaftet. Ah, Monsieur de Marillac war gut beraten, als er mich mit der Führung dieses Unternehmens betraute. Glaubt mir, Madame, im nächsten Jahr wird es keinen Protestanten mehr im Poitou geben.«

Sie hatte La Violette, den einstigen Diener Philip-pes, kommen lassen.

»Du gehörst zur reformierten Religion und wirst daher wissen, wo sich der Herzog de La Morinière und seine Brüder verbergen. Sie müssen gewarnt werden, daß ein Hinterhalt auf sie wartet.«

Der Diener wußte nichts. Nach einigem Zögern bekannte er nur, daß ihm der Herzog gelegentlich durch einen zum Überbringen von Botschaften abgerichteten Falken Anweisungen schicke. Er selbst leitete an die protestantischen Rebellen Nachrichten weiter, die er von den Soldaten erfuhr. Aber es gab nicht viel weiterzuleiten. Montadour war nicht so dumm, wie er aussah, und sprach trotz seiner sonstigen Geschwätzigkeit nicht von wichtigen Dingen.

»Diese Geschichte mit dem protestantischen Pastor, zum Beispiel, über die Ihr auf dem laufenden seid, Madame - ich möchte meine Hand dafür ins Feuer legen, daß die Soldaten nichts davon wissen. Sie erfahren es erst im letzten Moment. Er ist mißtrauisch und tückisch.«

Angélique hatte La Violette nach Grandhier geschickt, um die Schloßherren zu benachrichtigen. Aber auch sie kannten den Treffpunkt im Walde nicht. Die Verfolgten wechselten häufig ihren Aufenthaltsort. Monsieur de Grandhier hatte versucht, zum Waid zu gelangen, war aber von Dragonern, die wie zufällig in der Umgebung des Schlosses patrouillierten, aufgehalten worden.

In dieser Lage hatte Angélique an die Hexe Melusine gedacht.

»Ich werde sie finden.«

So lange schon plante sie diesen Ausbruch unter Montadours Bart. Den Strick verlängern, der sie mit dem Pflock verband ... Das Unternehmen schien zu glücken.

Die Zauberin blieb stehen, hob ihren knochigen Zeigefinger.

»Horch!«

Über einen düsteren Felsgrat, durch dichtes Gestrüpp drang ein Geräusch, das man mit dem Brausen des Windes hatte verwechseln können, das sich aber mit jedem sich nähernden Schritt immer deutlicher als der monotone Klang düsterer Melodien, langer Anrufungen bekundete: Der Gesang der Psalmen.

Die Protestanten waren dicht am Ufer der Vendée zusammengedrängt, auf dem Grunde jenes Felsschlundes, den man den Schlund des Riesen nannte, weil Gargantua dort mit einem Schulterstoß die riesigen, runden Felsen ins Wanken gebracht haben soll, die ihn fast völlig verschütteten.

Das rötliche Licht eines Feuers durchdrang die Schatten der Dämmerung, die den Engpaß verhüllten. Man unterschied kaum die weißen Hauben der Frauen zwischen den riesigen schwarzen Filzhüten der hugenottischen Bauern.

Dann trat ein Mann in den Lichtschein der Flammen. Nach der Beschreibung, die die Zauberin gegeben hatte, erkannte Angélique ohne Mühe den Herzog Samuel. Seine bärtige Jägergestalt war eindrucksvoll. Sie hatte Ludwig XIV mißfallen, als der Herzog mit der Absicht nach Versailles gekommen war, in den Kabalen des Hofes den Platz einzunehmen, den der Admiral de Coligny im vergangenen Jahrhundert innegehabt hatte. In Ungnade gefallen, lebte er seither auf seinen Ländereien.

Mit seinen bis zur Hälfte der Schenkel reichenden Stiefeln, seinem Wams aus schwarzem Tuch, das ein breiter Gürtel mit Dolch und Degengehänge umspannte, einem jener altmodischen, flachen, federgeschmückten Hüte, die die Hugenotten der Provinzen mit Vorliebe trugen und die sie je nach Leibesfülle Calvin oder Luther ähneln ließen, flößte der Herzog Samuel de La Morinière Furcht ein. Er schien nicht aus dieser Zeit, Überlebender einer Epoche rauher Sitten, unbeschränkter Gewalttätigkeiten, feindlich jeder Verfeinerung. Sein Platz war in diesem wilden Doktor von Fels und Nacht, und als sich seine Stimme erhob, hallte sie noch tiefer zwischen den Wanden der Schlucht, eine bronzene Stimme, schwer und hart, die Angélique erzittern ließ.

»Brüder, Söhne, es naht der Tag, an dem wir aus dem Schweigen das Haupt von neuem erheben und verstehen müssen, daß der Dienst an Gott von uns Taten fordert ... Öffnet das Buch der Bücher. Was findet ihr dort? . Der Ewige schreitet voran wie ein Held. Er feuert seinen Eifer an wie ein Kriegsmann. Er erhebt die Stimme. Er stößt seinen Ruf aus. Er offenbart den Feinden seine Stärke. Ich bin lange stumm gewesen sagt er. Ich habe geschwiegen, ich habe mich zurückgehalten ... Jetzt aber werde ich Berge und Hügel verwüsten und ihr Grün versengen ... Sie werden zurückweichen, und die, die sich den aus Stein gehauenen Götzen anvertrauen, die den eisernen Götzen sagen: >Ihr seid unsere Götter<, werden bestürzt sein .«

Seine Stimme grollte. Angélique überlief ein Schauer. Sie wandte sich zu der Zauberin und entdeckte, daß sie sich lautlos davongemacht hatte.

Zwischen den Wipfeln der Bäume war der Himmel noch wie aus weißem Perlmutt, aber im Schlunde des Riesen herrschte ein Dunkel, das ein heftiges Gefühl des Zorns durchbebte.

Eine Stimme rief:

»Was vermögen wir gegen die Soldaten des Königs?«

»Alles. Wir sind zahlreicher als die Soldaten des Königs, und Gott hilft uns.«

»Der König ist allmächtig.«

»Der König ist fern, und was vermag er gegen eine Provinz, die zur Verteidigung entschlossen ist?«

»Die Katholischen werden uns verraten.«

»Auch die Katholischen fürchten die Dragoner. Die Steuern drücken sie nieder und, noch einmal sei es gesagt, sie sind weniger zahlreich als wir. In unseren Händen ist der fruchtbarste Boden .«

Eine Eule kreischte zweimal sehr nah. Angélique erschrak. Totenstille breitete sich auf dem Grund des Schlundes aus.

Plötzlich fand sie den Blick des hugenottischen Edelmannes ihr zugewandt. Die Flammen verliehen den tief unter schwarzen Brauen versteckten Augen ihr rötliches Leuchten. »Sein Feuerblick«, hatte die Zauberin gesagt. »Du kannst ihn ertragen.«

Der Ruf der Eule erhob sich, samten und unheilvoll, von neuem. War es ein Alarmzeichen? Eine Warnung vor einer gefährlichen Annäherung? ... Angélique biß sich auf die Lippen. »Es muß sein«, sagte sie sich. »Meine letzte Karte!«

Sie klammerte sich an dornige Zweige, während sie zu den versammelten Hugenotten hinabstieg.

Als sie sich auf den Weg zum Schlund des Riesen gemacht hatte, um den Genfer Pastor zu retten, war es Angélique klar gewesen, daß sie ihr Ziel bestimmt hatte und daß es nicht leicht sein würde, wieder umzukehren.

Samuel de La Morinière, der Patriarch, war der einzige, der den Königsglauben in den Herzen der getreuen protestantischen Untertanen ausrotten konnte.

La Morinière, der Patriarch, hatte die Fünfzig überschritten. Witwer und Vater dreier Töchter

- was ihn bitter ankam - saß er mit seinen Brüdern Hugues und Lancelot, die ebenfalls verheiratet und Väter einer zahlreichen Nachkommenschaft waren, auf seinen Gütern. Der ganze Stamm duckte sich unter die harte Zuchtrute des Patriarchen und teilte seine Zeit zwischen Gebet und Jagd. Die Feste, die man einstmals in den prächtigen Sälen gefeiert hatte, waren verklungen. In La Morinière sprachen die Frauen leise und hatten das Lächeln verlernt. Die Kinder wurden von frühester Jugend an durch zahlreiche Erzieher zum Studium des Griechischen, des Lateinischen und der Heiligen Schrift angehalten. Den Jungen wurde die Handhabung des Spießes und des Dolchs beigebracht. War sich La Morinière, als er zum erstenmal Angélique begegnete - dieser aus der Dämmerung getretenen Frau mit dem Goldhaar unter der Hirtinnenkapuze, den nackten Füßen und der kultivierten Sprache der großen Dame -, ihrer noch unklaren Leidenschaft, ihres Grolls bewußt, der danach verlangte, sich in Taten zu verwandeln, und der sie seinen Einflüsterungen fügsam machen würde?

Der Mann, der abends das Horn blies, entging für den Augenblick Montadours Verfolgung. Da der Edelsitz von Cambourg Plessis nahe lag, begnügte sich der Kapitän vielleicht mit der Gewißheit, daß er, wann er nur wollte, seine schwere Pranke auf diesen bleichen, zitternden Hugenotten niedersausen lassen konnte, der seine Rolle als Verfolgter nicht ohne Verzweiflung übernommen hatte.

In ihrer Jugend hatten sich Angélique und ihre Schwestern oft über den mageren, ungeschickten Jungen mit dem vorstehenden Adamsapfel mokiert, dem sie bei Dorfversammlungen oder auf den Märkten der umliegenden Städtchen begegneten. Mit den Jahren hatte sich der Baron de Cambourg einen langen, trübseligen Schnurrbart, eine immer schwangere Frau und einen Schwarm kleiner, blasser, an seinen Rockschößen hängender Hugenotten angeschafft. Im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Glaubensgenossen war er sehr arm. Die Leute der Gegend sagten, auf seiner Familie laste seit neun Generationen ein Fluch, weil ein Ritter seines Hauses in einem Schloß am Ufer der Sèvre eine schlafende Fee zu umarmen versucht habe. Der Fluch hatte sich, wie zu erwarten war, noch verschärft, als die Cambourgs die Religion Calvins annahmen. Isaac, der letzte dieses Namens, vegetierte im Schatten seines von Efeu überwucherten Turms, und sein einziges Talent wie seine einzige Aufgabe bestand darin, das Horn zu blasen. Es war erstaunlich, welche Atemkraft dieser magere Körper barg. Die ganze Umgebung lud ihn zur Teilnahme an Jagden ein, bei denen er mit seinen weitklingenden, kraftvollen Signalen Jäger, Meute und Wild in Angst und Schrecken zu versetzen wußte.

Seit dem letzten Jahr jedoch waren solche Gelegenheiten selten geworden. Katholische wie protestantische Krautjunker verkrochen sich in ihre Winkel, das Ende der von den Soldaten verursachten Unruhen erwartend. Der Baron de Cambourg hatte der Aufforderung des Herzogs de La Morinière nachkommen müssen. Es war schwierig, dessen Wünschen zu widerstehen.

Angélique begriff es, als sie den Anführer der Hugenotten auf sich zukommen sah, von seinem windgeblähten, schwarzen Mantel umflattert. Hier, gegen den blaugoldenen Hintergrund des Himmels, wirkte er noch eindrucksvoller als in der Düsternis des Schlundes des Riesen. Seine Brüder begleiteten ihn.

An der Grenze des Waldes, auf der Höhe einer jäh abfallenden Felswand gelegen, beherrschte der Ort ihrer Begegnung die Landschaft. Auf diesem mit Ginster bestandenen Stück Erde hatte sich einstmals ein römisches Lager befunden. Der kleine, halb zerfallene, von Asphodelen überblühte Venustempel erinnerte noch daran.

Hatten die zwischen Meer und gallischem Wald kampierenden Römer die Göttin um Erhaltung ihrer Männlichkeit gebeten, da ihre Gegner, die wilden Pikten, im Rufe standen, ihren eigenen Göttern schreckliche Trophäen darzubieten? Nur die Ruinen waren geblieben, ein steinernes, auf zwei Säulen ruhendes Deckenstück, dessen Gesims mit lateinischen Inschriften bedeckt war. In seinem Schatten ließ Angélique sich nieder.

Der Herzog nahm vor ihr auf einem viereckig behauenen Steinblock Platz. Die beiden Brüder hielten sich abseits. Das römische Lager war einer ihrer Treffpunkte. Die hugenottischen Bauern pflegten im Tempel Lebensmittel und Waffen für die Verfolgten zu verstecken. Von hier aus konnte man die Landschaft überblicken und brauchte keinen Angriff zu befürchten.

Der Herzog begann zu sprechen. Er dankte ihr noch einmal für das, was sie für den Genfer Pastor getan hatte. Ihre Geste beweise, daß die Barriere der Glaubensunterschiede durchbrochen werden könne, wenn sich durch Ungerechtigkeit beleidigte Geister verbündeten, um die Macht tyrannischer Herrscher in Schach zu halten. Er wisse, daß sie durch den König viel gelitten habe. Ließ man sie nicht wie eine Gefangene bewachen? Wie war es Madame du Plessis gelungen, sich zu ihnen zu schlagen? Sie erklärte, daß sie einen unterirdischen Gang benutze. Montadour hege keinen Verdacht.

Es war schwierig, dem Herzog nicht zu antworten, wenn er eine Frage stellte. Sein gebietender Ton ließ dem Gesprächspartner keine Möglichkeit auszuweichen. Seine tiefliegenden Augen fixierten sie aufmerksam. Ihr stechendes Funkeln begann sie zu ermüden. Sie wandte den Blick ab und dachte an die Zauberin, die diesen düsteren Diener des Herrn fürchtete.

Für diese Begegnung hatte sie sich in eine ihres Ranges würdige Robe aus dunklem, schwerem Satin gekleidet, und es war gar nicht leicht gewesen, sich mit dem die Taille einschnürenden Korsett und den schweren Falten der drei Röcke durch den engen Gang zu winden. Der Diener La Violette hatte sie begleitet, um ihren Mantel zu tragen. Er hielt sich einige Schritte entfernt, unbeweglich und respektvoll. Es lag in Angéliques Absicht, diese Begegnung mit einiger Förmlichkeit zu umgeben, um mit dem Herzog auf gleichen Fuße sprechen zu können.

Sie saß unter dem von den Jahrhunderten patinier-ten römischen Bogen, unter dem Saum des pflaumenfarbigen Kleids ein wenig vom roten Leder ihrer Schuhe zeigend, während der Wind ihr streng frisiertes Haar nach und nach sanft löste. Sie hörte seine tiefe Stimme. Sie hörte sie mit klopfendem Herzen, von ihr angezogen und dennoch beunruhigt. Es schien ihr, als öffne sich ein Abgrund zu ihren Füßen. Sie mußte mit einem Satz hinunterspringen.

»Was wollt Ihr von mir, Monsieur?«

»Daß wir ein Bündnis schließen. Ihr seid katholisch, ich bin reformiert, doch wir können uns verbünden. Ein Bündnis der Verfolgten, der freien Geister ... Montadour lebt unter Eurem Dach. Spioniert ihn aus, unterrichtet Euch ... Und dann, Eure katholischen Bauern .«

Er beugt sich vor und dämpfte seine Stimme, um sie desto besser mit seinem gebieterischen Willen durchdringen zu können.

»Macht ihnen verständlich, daß sie auf der Seite unserer Bauern stehen, im Poitou geboren wie sie, daß der Soldat des Königs, der ihre Ernten stiehlt, ihr gemeinsamer Feind ist . Erinnert sie an die Steuereinnehmer, die Sonderbesteuerung des gemeinen Mannes, das Kopfgeld. Lebten sie nicht besser unter der Gerichtsbarkeit ihrer eigenen Herren, statt für einen fernen König zu schuften, der sie belohnt, indem er ihnen Armeen von Ausländern schickt, die sie ernähren müssen?«

Seine in ledernen Handschuhen - Falknerhandschuhen - steckenden Hände stützten sich auf seine massiven Schenkel, während er vorgebeugt zu ihr sprach und ihren Blick in den seinen zwang. Er flößte ihr seinen tiefen Glauben an ein verzweifeltes Abenteuer ein, das wie das letzte Aufbäumen eines geknebelten Riesen gegen seine Fesseln war. Sie sah das große Bauernvolk, aus dem auch sie hervorgegangen war, sich in übermenschlicher Anstrengung erheben, um der tödlichen Lähmung der Unterjochung durch jenen Herrn zu entrinnen, der einstmals nur die Ile de France beherrscht hatte. Die letzten, in den Felsschründen des Forstes verborgenen Vorräte verschlungen von der Vergnügungssucht Versailles’, von endlosen Kriegen an den Grenzen Lothringens oder der Pikardie, die großen Herren des Poitou gezähmt, dem König Hemd oder Leuchter reichend, während ihre Güter unehrlichen Verwaltern überlassen blieben und andere verarmt auf ihren Ländereien lebten, die ihnen der Fiskus Stück für Stück entriß, verächtlich auf ihre Besitzer herabsehend, die es nicht verstanden, ihrem Herrn zu gefallen. Und heute der Ruin, der Hunger, lautlos gleitend wie eine Natter, bewirkt durch den gierigen Zugriff einer gegen alle Gerechtigkeit und Vernunft ins Land geschickten Armee, die diejenigen zur Verzweiflung trieb, die den Weizen wachsen ließen, über die Weiden wachten und die Frucht ernteten, die Bauern mit den schwieligen Händen und breitkrempigen, dunklen Hüten, ob sie nun hugenottisch waren oder katholisch .

All das war ihr bekannt. Sie lauschte angespannt. Der Wind war kühler geworden. Sie zitterte, während sie eine Strähne beiseite schob, die ihr immer wieder in die Stirn wehte. La Violette trat näher und reichte ihr den Mantel. Sie hüllte sich mit einer leidenschaftlichen Bewegung in ihn. Plötzlich hob sie den Kopf und rief mit einem gequälten Blick auf Samuel de La Morinière: »Ja, ich werde Euch helfen. Aber dann ... dann muß Euer Krieg offen und schrecklich sein. Was erhofft Ihr Euch vom Beten in den Schluchten? Ihr müßt Städte erobern, Straßen sperren, Ihr müßt aus der Provinz eine Festung machen, bevor sie noch Zeit finden, Verstärkungen zu schicken. Von Süden nach Norden müßt Ihr reiten, um alle Ausgänge zu schließen. Auch die Nachbarprovinzen müssen angesteckt werden: Normandie, Bretagne, Saintonge, Berri ...

Eines Tages muß der König mit Euch wie mit einem anderen König verhandeln, Ihr müßt ihn zwingen, Eure Bedingungen anzunehmen .«

Der Herzog de La Morinière fühlte sich von ihrer Heftigkeit durchschüttelt. Er richtete sich auf. Sein Gesicht färbte sich dunkel, und seine Augen schossen Blitze. Er war es nicht gewohnt, eine Frau in diesem Ton zu ihm sprechen zu hören. Aber er bezwang sich. Er blieb einen Augenblick stumm, zerrte nur an den Spitzen seines Bartes. Er hatte soeben entdeckt, daß er auf die ungezügelte Kraft dieses Geschöpfes zählen konnte, das ihm bisher unbedeutend wie alle Frauen erschienen war. Aber er erinnerte sich der Maximen eines seiner Onkel, der in der Umgebung Richelieus gedient und mitangesehen hatte, wie raffiniert der Kardinal Frauen in den verschiedensten Angelegenheiten der Spionage und der Politik benutzte. »Die Kraft einer Frau ist doppelt so groß wie die eines Mannes, wenn es darum geht, die Fundamente einer Stadt zu unterminieren ... Auch wenn sie noch so laut beteuern, besiegt zu sein, geben sich Frauen niemals geschlagen. Man braucht feste Handschuhe, um die List einer Frau, die schneidendste aller Waffen, zu führen .« Das hatte Richelieu gesagt.

Er sog tief die Luft ein.

»Ihr habt recht, Madame. Nur um dieses Ziel geht es. Wenn wir nicht entschlossen sind, es zu erreichen, wäre es besser, die Waffen auf der Stelle niederzulegen. Habt Geduld und helft uns. Eines Tages wird es sein, wie Ihr sagt. Ich verbürge mich dafür!«

Es war wie ein Ausbruch von Gewalttaten und blutigen Überfällen, und der Haß auf die roten Dragoner verbreitete sich im Land wie die tausend Verästelungen einer Quelle im Gras einer Wiese. Es begann mit der Entdeckung vier gehängter Dragoner am Kreuzweg der drei Eulen. Jeder trug eine Tafel um den Hals, auf der zu lesen war: Brandstifter - Plünderer - Hunger

- Ruin. Ihre Kameraden wagten es nicht, hinzugehen und sie abzunehmen, weil sich der Ort in der Nähe des Waldes befand, wo sich, wie man nun wußte, die protestantischen Banden verbargen. Die unheimlichen Schreckgestalten drehten sich lange an den Zweigen und erinnerten die Vorübergehenden an die Bedrohungen, die sie über die Provinz gebracht hatten: Brand, Plünderung, Hunger, Ruin ... Das dichte Blätterwerk des Sommers schuf ihnen einen smaragdenen Tempel, eine prunkvolle Kapelle, in deren Rahmen sie noch abschreckender wirkten.

Montadour schäumte vor Wut und plante einen großen Schlag. Er folterte einen Protestanten, um aus ihm den Zufluchtsort der La Morinière herauszubekommen, und drang mit seinen entschlossensten Männern in den Wald.

Nach einigen Marschstunden hatten die Stille, die Düsternis, das dichte Laubwerk, der mächtige Wuchs der Stämme, die ein Geflecht knotiger Zweige auf sie herabsenkten und unter ihren Stiefeln ein Netz tükkischer Wurzeln spannten, ihren Mut zermürbt.

Das Gekrächz eines jäh erwachten Käuzchens vollendete ihre Niederlage.

»Ihr Signal, Kapitän. Sie stecken da zwischen den Bäumen. Sie werden uns auf den Hals kommen .«

In völliger Unordnung zogen sich die Dragoner zurück. Auf der Suche nach einer Lichtung, einem Stück freien Himmels, einem ausgetretenen Weg verstrickten sie sich im Unterholz, verirrten sich, und als sie in der Dämmerung endlich die Baumgrenze erreichten und bebaute Felder entdeckten, war ihre Erleichterung so groß, daß einige von ihnen auf die Knie fielen und der nächstbesten Kirche eine Kerze versprachen.

Wären sie ans Ziel ihrer Expedition gelangt, hätten sie unverrichteter Sache wieder umkehren müssen. Die hugenottischen Anführer waren gewarnt worden.

Montadour vermochte keinen Zusammenhang zwischen seinen Niederlagen und der neu erblühten Liebenswürdigkeit festzustellen, die seine Gefangene ihm bezeigte. Sie, die so hochmütig und gleichsam unsichtbar gewesen war, richtete jetzt das Wort an ihn, und er hatte es gewagt, sie an »seine« Tafel zu bitten. Es schien ihm, daß sie sich langweile und daß sein weithin bekannter Charme und die Galanterie, mit der er sie bisher umgeben hatte, endlich ihre Früchte trugen. Er verdoppelte seine Zuvorkommenheit. Große Damen wie sie nahm man nicht im Handumdrehen. Man mußte sich schon Mühe geben.

Er begann den Zauber einer lang sich hinziehenden Eroberung zu entdecken und fühlte sich zum Dichter werden. Wenn nur nicht diese verdammten Spitzköpfe von Calvinisten gewesen wären, die ihm immer wieder die Laune verdarben. Er schrieb an Monsieur de Marillac und forderte Verstärkung an. Es sei unmöglich, die Verantwortung für die Bewachung der Marquise du Plessis-Bellière zu tragen und gleichzeitig das Bekehrungswerk fortzuführen, das mit jedem Tag größeren Umfang annehme. Man schickte ihm ein weiteres Regiment, das in der Umgebung von Saint-Maixent stationiert werden sollte. Der Offizier, der es kommandierte, Monsieur de Ronce, benachrichtigte ihn durch Boten, daß er in den vorgesehenen Orten nicht habe Quartier nehmen können, weil bewaffnete Hugenotten ein die Straße und die Sève beherrschendes altes Schloß besetzt hielten. Sollte er das Schloß attackieren?

Montadour fluchte ausgiebig. War es zu glauben? Wollten sich die Protestanten etwa nicht länger terrorisieren lassen? Dieser Ronce sah vermutlich Gespenster. Montadour würde nur zu erscheinen brauchen .

»Wollt Ihr mich schon verlassen, Kapitän?« fragte Angélique mit einem bezaubernden Lächeln.

Sie saß ihm gegenüber.

Man hatte ihr ein Körbchen mit Frühkirschen gebracht, die sie mit Genuß verspeiste. Ihre weißen Zähne hoben sich mit schönem Emailglanz gegen das Rot der Früchte ab.

Montadour entschied, daß Monsieur de Ronce allein mit der Lage fertig werden und sich notfalls ein wenig weiter nördlich in die Gegend von Parthenay begeben müsse. Er selbst hatte angesichts der allgemeinen Feindseligkeit der Bevölkerung genug hier zu tun. Schon streute man Nägel unter die Hufe seiner Pferde. Die Lumpenkerle waren alle gleich, ob hugenottisch oder katholisch. Sie hatten Terrinen voller Taler in ihren Vorratskellern vergraben, fühlten sich aber deswegen durchaus nicht beruhigt. Überall sahen sie die Augen ihrer drei Urfeinde glänzen: des Wolfs, des Soldaten und des Steuereinnehmers.

Da die Flammen einer in Brand gesteckten protestantischen Ernte zuweilen auf katholische Felder übersprangen, hatte die Panik auch die Rechtgläubigen gepackt. Nicht einer dieser Schufte war bereit, auch nur drei Ähren für den Triumph seiner Religion zu opfern. Sie gehörten alle in denselben Sack, diese Poitou-Leute mit den Araberaugen, die ihnen hinter den Rücken mit Fäusten drohten.

»Schickt mir die Übeltäter«, sagte Angélique. »Ich werde ihnen die Leviten lesen.«

Montadours Einverständnis führte zu einem regeren Leben im Schloß. Angélique empfing auch einige ihrer Nachbarn von katholischen Gütern. Monsieur du Croissec, der noch mehr Fett angesetzt hatte und nicht lange zögerte, sich an ihren Plänen zu beteiligen und Anweisungen von ihr entgegenzunehmen, da sie aus einem Munde kamen, den er insgeheim seit Jahren anbetete; Monsieur und Madame de Faymoron, die Mermenaults, die Saint-Aubins, die Mazières. Ein trügerisches Bild geselligen Lebens entwickelte sich zwischen der Verstoßenen und den Einsiedlern der Wildnis von Nieul. Montadour beobachtete diese Besuche mit gerührtem Blick. Er schrieb Monsieur de Marillac, daß Madame du Plessis ihm bei seiner schweren Aufgabe eifrig Beistand leiste, und die Herren vom Heiligen Sakrament rieben sich im stillen die Hände.

Der Kapitän empfand es immer mühevoller, sich der Ausstrahlung einer Gegenwart zu entziehen, deren Reize er täglich neu entdeckte. Schön, in eleganten Roben, mit denen sich zu schmücken ihr von neuem Vergnügen bereitete, begann Angélique wieder über ihr Schloß zu herrschen.

Verdankte sie den frischen Glanz ihrer Haut und ihres Haars dem mysteriösen Gebräu der Zauberin? Eine lichte Kraft durchströmte nun ihren Körper, eine Leidenschaft erfüllte ihre Seele. Wie so oft früher, wenn sie vor einer schwierigen Aufgabe gestanden hatte, wuchs in ihr das berauschende Gefühl, un-besieglich zu sein. Gewiß, dieses Gefühl hatte oftmals getrogen. Der Boden unter ihren Füßen schwankte, das Fieber stieg, das Gewitter bereitete sich vor wie im Juli, wenn sich die Wetterwolken im überhitzten Blau des Himmels türmten.

Der Sommer regierte. Man brachte die Heuernte ein. Allzuoft mußte die Arbeit im Stich gelassen werden. »Dragoner zerrten die Frauen an den Haaren zur Messe, wenn sie sich weigerten, freiwillig zu kom-men. Man versengte ihnen die Fußsohlen, und die Soldaten machten sich über sie her .«

Aber oftmals empfingen auch die mit ihren Dreschflegeln bewaffneten Bauern die Plünderer und Bekehrer.

Die Erregung wuchs.

Der Herzog de La Morinière korrespondierte mit Angélique durch einen abgerichteten Falken, den La Violette auf seiner Faust empfing.

Der Vogel trug stets eine Botschaft. Das Treffen war für die gleiche Nacht im römischen Lager oder am Wiesenstein, an einem Kreuzweg, in der Nähe einer Totenlaterne oder Quelle, in einer Höhle festgesetzt .

Angélique ging immer allein. Weit entfernt, sie zu schrecken, machten die nächtlichen Spaziergänge ihr Vergnügen. Hätte Montadour in dieser in Barchentröcken steckenden Frau, die bei Aufgehen des Mondes aus dem unterirdischen Gang zwischen die Büsche glitt, seine elegante Gefangene wiedererkannt?

Während kurzer Zeit, der Dauer des Weges, kostete Angélique das Glück dieses Ganges durch das Halbdunkel aus. Diamanten funkelten an den Blättern der Buchen, rieselten über das Gefieder der Kastanien, die Eichen schienen wie mit silbernen Fäden gestickt.

Niemals berührte sie die Furcht, wilden Tieren zu begegnen, Wildschweinen, Wölfen oder gar Baren, denen der Wald noch als Zuflucht diente. Der Wald machte ihr weniger Angst als die Gesellschaft der Menschen, die in ihren Herzen tiefe Wunden tragen, und es schien ihr, als finde sie in seinem Schatten wieder zu jener Unschuld, die sie in der Wüste gekannt hatte und nach der sie sich sehnte.

Sobald sie zum Treffpunkt gelangte, verließ sie ihre Euphorie. In einer Mischung aus Ungeduld und Furcht erwartete sie das Eintreffen der Hugenotten. Ihre Schritte waren in der vom Raunen der Blätter erfüllten Stille fernhin zu vernehmen, und sie sah schon von weitem die rötlichen Flammen der Fackeln zwischen den Bäumen leuchten.

Zuerst war der Herzog stets von seinen Brüdern begleitet gewesen; nun kam er immer häufiger allein, was sie beunruhigte.

Wenn er allein war, kam er ohne Fackel. Auch er schien in der Nacht zu sehen und die geheimsten Steige des Waldes zu kennen. Und wenn er aus dem Dunkel hervortrat und - schwarz, mit seinen hohen Stiefeln die dürren Zweige zertretend - das bleiche Mondlicht einer Lichtung durchquerte, konnte sie sich eines Schauers nicht erwehren, über dessen Natur sie ungewiß war. Die Stimme des Patriarchen klang barsch und sehr tief, seine brennenden Augen durchforschten sie bis in die Seele. Sie las arrogante Verachtung in ihnen. Irgend etwas an diesem Manne stieß sie ab. Moulay Ismaël war ihr weniger furcht-einflößend erschienen. Er war bedenkenlos und unbeherrscht gewesen, aber als Frau hatte sie ihn nicht gefürchtet.

Moulay Ismaël liebte die Frauen und scheute keine Mühe, sie zu zähmen. Er war empfänglich für ihre Waffen: Schönheit, List und Verführung. Eine kleine, geschickte Hand konnte diesen Löwen der Wüste lenken ...

Der Herzog de La Morinière dagegen teilte die Frauen in zwei Kategorien: die Sünderinnen und die Tugendsamen. Die Bannflüche, die er in Versailles gegen die schönen Versucherinnen geschleudert hatte, blieben berühmt, und man fragte sich, ob er jemals die muffige Häßlichkeit seiner Frau bemerkt habe. Nach ihrem Tode hatte er nicht wieder geheiratet. Halfen ihm sein strenges Leben, die Jagden, die Bußübungen, die Begierden seines Blutes zu überwinden? Er verachtete die Frau, das unreine Wesen, und mußte es beklagen, daß sie im Werk des Schöpfers eine Rolle spielte.

Angéliques Empfindsamkeit entging seine Einstellung nicht. Sie empörte sie. Doch sie bedurfte dieser Kraft, auf die sie sich gegen den König stützen konnte. Er würde bis zum Ende gehen. Trotzdem fühlte sie sich dieses Bündnisses mit dem Hugenotten angesichts Gottes und der Jungfrau schuldig.

Ihre Gegensätzlichkeit brach eines Nachts auf, als sie einem Kammweg folgten, um zu den Sümpfen zu gelangen. Ein zu Schiff durch die Kanäle aus Niort gekommener Pastor erwartete den Herzog, und Angélique hatte sich erboten, ihn zu führen. Der Wald schien sich zu lichten, der intensive, bleiche Schein des Mondes stürzte zwischen den weit auseinanderstehenden Stämmen hindurch, und in der jähen Helligkeit sahen sie unter sich amethystfarbene Dächer, durchscheinende Glockentürmchen leuch-ten.

Zu ihren Füßen erhob sich ein aus purem Silber ziselierter Reliquienschrein: Bauwerk aus Schatten und Licht, schwarzsamtene Bogen eines Kreuzgangs um das weiße Viereck eines Hofs, dessen Mitte ein verzierter Brunnen bezeichnete. Die Abtei von Nieul.

Angélique stockte der Atem. Das Wunder! ... Heiter, schweigend, die murmelnden Gebete der Mönche in sich verschließend. Und Angélique erinnerte sich einer Nacht, die sie als Kind in der Abtei verbracht, erinnerte sich jenes Bruders Jean, der sie vor den zweifelhaften Absichten des dicken Bruders Thomas bewahrt hatte. Er hatte sie in seine Zelle gebracht, um sie in Sicherheit zu wissen. Sein Blick war von lichter Zärtlichkeit erfüllt gewesen: »Ihr nennt Euch Angélique ... Angélique, Tochter der Engel!« Und er hatte ihr auf seinem Fleisch die bläulichen Spuren von Schlägen gezeigt: »Seht, was Satan mir getan hat!«

Die Verzauberung dieser mystischen Nacht kehrte in ihr Herz zurück.

Die Stimme des Herzogs de La Morinière erhob sich haßvoll.

»Verflucht seien die geilen, ihren Götzen dienenden Mönche! Eines Tages wird das Feuer des Himmels auf diese Mauern herabfallen, und kein Stein wird auf dem andern bleiben, und die Erde wird gereinigt sein!«

Außer sich, wandte ihm Angélique ihr Gesicht zu.

»Schweigt, Ketzer! Ketzer! Ah, ich hasse Eure infa-me Sekte!«

Das Echo warf ihren Aufschrei zurück, und plötzlich fühlte sie sich verlassen, die Nerven vor Angst und ohnmächtigem Zorn verkrampft. Der Herzog hatte sich ihr genähert. Sie hörte sein schweres Atmen. Seine harte Hand fiel auf ihre Schulter und packte sie mit ihren Lederfingern. Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie wollte das Joch abschütteln und vermochte es nicht. Er war ihr gefährlich nahe, verstellte ihr das Licht. Keiner Regung fähig, blieb sie unbeweglich stehen und sog, fast schon betäubt, seinen Geruch ein: den Geruch eines Kriegers und Jägers.

»Was sagt Ihr?« murmelte er. »Ihr haßt uns? Was tut’s? Ihr werdet uns dennoch weiter helfen.«

Er beharrte darauf.

»Ihr werdet uns nicht verraten!«

»Ich habe niemals jemand verraten«, sagte sie stolz, ihre Tränen hinunterschluckend. Ihre Beine zitterten. Sie fürchtete, schwach zu werden und gegen ihn zu sinken. Sie straffte sich, um der Hand zu entgehen, die sie peinigte.

»Laßt mich«, sagte sie mit schwacher Stimme. »Ihr macht mir Angst.«

Der Schraubstock seiner Finger löste sich, und er zog langsam seine Hand zurück.

Angélique setzte sich wieder in Bewegung. Ihr Herz schlug. Sie hatte sich gefürchtet. Vor ihm, aber auch vor sich selbst. Gefürchtet, in jenen Schatten ohne Namen zu gleiten, den das Gehege des Waldes der Begierde öffnet. Bei Morgengrauen, das sich zuerst grau, dann rostfarben zwischen den Bäumen zeigte, gelangten sie zum Lager der Köhler. Angélique fror und zog ihren Umhang fröstelig um sich.

»Holla, ihr Burschen«, rief der Herzog, »habt ihr Brühe, Brot, Käse?«

In der geschwärzten Hütte eines von ihnen setzten sie sich auf wacklige Schemel vor einen Tisch, auf den die Frau eine Schüssel Milch stellte. Sie fügte einen Teller heißgemachter, mit Speck und Zwiebeln garnierter Bohnen hinzu. Die halbnackten und bis zu den Augen schwarzen Kinder beobachteten erstaunt die beiden schweigend essenden Besucher. Den Mann mit dem schwarzen Bart, die Frau mit dem goldenen, taufeuchten, auf die Schultern fallender Haar, die sie wie Spukgestalten der Nacht aus den Nebeln der Dämmerung hatten auftauchen und das Aschenfeld überqueren sehen.

Angélique streifte den Herzog mit einem verstohlenen Blick. Zweifellos fühlte sie sich von ihm angezogen, weil etwas an seiner kraftvollen, breitschultrigen Gestalt sie an Colin Paturel erinnerte. Aber Colin Paturel war Adam, der Mann des verlorenen Paradieses. Dieser da war der Mann des Sündenfalls, ein Verdammter der Hölle.

»Er ist bis zu Eurer Kammertür gekommen«, flüsterte ihr Bertille, die kleine Dienerin, zu, als sie nach Plessis zurückkehrte.

»Wer?«

»Gargantua! Er hat gekratzt, geklopft, gerufen ...

Aber Ihr habt nicht geantwortet.«

»Aus guten Gründen«, dachte sie.

Kapitän Montadour kam auch in der folgenden Nacht. Er rief:

»Marquise! Marquise!«

Seine Hände irrten über die Füllung der Tür, und sie hörte die Knöpfe, die seinen Uniformrock über dem Bauch zusammenhielten, über das Holz kratzen.

Sie lauschte, halb aufgerichtet, auf einen Ellbogen gestützt. Die keuchende Gier Montadours vor ihrer Tür verursachte ihr weniger Angst als Unruhe.

Er war es im Grunde, der Angst zu verspüren begann. Immerhin lauerte zuweilen des Nachts ein seltsames Schweigen hinter jener Tür, und es fehlte nicht viel, daß er an die Geschichten der Dienerschaft glaubte, in denen es hieß, ihre Herrin verwandele sich bei aufgehendem Mond in eine Hirschkuh, um die Wälder zu durchstreifen .

Die Äpfel röteten sich auf den Bäumen. Und plötzlich galoppierten die drei Brüder La Morinière durch die Provinz. Und von Tiffanges im Norden bis Mon-contour im Osten nahm die Verteidigungsbewegung der Protestanten unerwarteten Umfang an.

»Bleibt, wo Ihr seid«, schrieb Marillac dem Kapitän Montadour. »Die Region, in der Ihr Euch befindet, ist ohne Zweifel als Herd des Aufruhrs anzusehen. Versucht, die Anführer der Banden in Eure Hand zu bekommen.«

Und als Postscriptum fügte er hinzu:

»Überwacht genauestens die Person, die in Eurer Obhut steht. Die Unruhe wächst ständig, und sie ist möglicherweise nicht ganz unbeteiligt.«

Sodann stellte sich der Gouverneur der Provinz an die Spitze seiner Pikeniere. Vier protestantische Dörfer im Norden des Poitou, die lange einer regelrechten Belagerung durch die zu ihrer Besetzung kommandierten Soldaten widerstanden hatten, wurden in Brand gesteckt. Die Männer, die man ergriff, wurden gehängt. Die andern hatten sich davongemacht, um die von La Morinière rekrutierten Truppen zu verstärken. Frauen und Kinder trieb man auf die Straßen, nachdem eine sie betreffende Verordnung erlassen worden war: »Es ist verboten, die ketzerischen Frauen der Dörfer Noireterre, Pierrefitte, Quingé und Arbec mit Rat und Hilfe zu unterstützen. Weder dürfen sie aufgenommen noch verpflegt, noch darf ihnen Wasser oder Feuer gegeben noch sonst ein menschlicher Dienst erwiesen werden.«

Danach drangen die Truppen des Gouverneurs ins Innere des Poitou, um dort die protestantischen Banden zu verfolgen. Da sie wußten, daß es den drei Brüdern de La Morinière gelungen war, bedeutende Kräfte um sich zu sammeln, forderten sie die Unterstützung der Miliz von Bressuire. Diese vorwiegend protestantische Stadt stellte jedoch nur wenige Männer. Monsieur de Marillac erfuhr alsbald, daß sich die kleine Armee de La Morinières in das seiner Verteidiger entblößte Bressuire geworfen und die Waffenarsenale geplündert hatte.

Der Gouverneur hielt es für unter seiner Würde, die Stadt wieder einzunehmen. Er mochte sich noch nicht eingestehen, daß diese blutigen Scharmützel allmählich den Charakter eines Religionskriegs, wenn nicht gar eines Bürgerkriegs annahmen. Er kam nach Plessis, um Montadour zu konsultieren.

In den Ausläufern des Waldes von Nieul verborgen, konnten die Hugenotten die graue Schlange der Armee mit den dichten Gattern ihrer Piken über die römische Straße ziehen sehen.

Doch schon am folgenden Tage zogen sich die Truppen wieder zurück, nachdem sie den Dragonern Montadours einige Verstärkungen dagelassen hatten. Die Feindseligkeit selbst der katholischen Bevölkerung, die den Soldaten Brot und Wein verweigert und sie mit Steinwürfen empfangen hatte, beunruhigte den Gouverneur. Es schien unmöglich, die ganze Truppe in der Umgebung zu halten, ohne größere Unruhen zu riskieren. Infolgedessen führte er seine Soldaten bis hinter Poitiers zurück und reiste nach Paris, um mit dem Minister Louvois über die zu treffenden Maßnahmen zu sprechen.

Wie eine Wahnwitzige brach Angélique durch das Buschwerk, wütend an ihrem Umhang zerrend, um sich, ohne auf die ihr ins Gesicht peitschenden Zweige zu achten, aus der Verstrickung zu lösen.

»Ihr habt unsere Vereinbarungen gebrochen!« rief sie dem Herzog zu, sobald sie seiner ansichtig wurde.

Düster neben dem Stein der Feen stehend, schien er ihr hassenswert, die Verkörperung des Bösen. Und je mehr er ihr Angst einflößte, desto heftiger gab sie sich.

»Ihr habt mich getäuscht! Ihr habt das Bündnis mit den Katholiken gefordert, um sie desto leichter vernichten zu können. Ihr seid ein Mensch ohne Ehre.«

Sie verstummte, gelähmt, wie betäubt, und der runde Mond, der über den Wipfeln der Eichen am Rande der Lichtung schwamm, schien wie in wilden Sprüngen zu tanzen. Die Berührung mit dem Stein brachte sie wieder zu sich.

»Ihr habt mich geschlagen«, hauchte sie erstickt.

Er hatte seinen Handschuh ausgezogen und sie mit der nackten Hand ins Gesicht geschlagen.

»Ihr habt mich geschlagen!«

Ein grimmiges Lächeln erhellte die dunklen Züge des Patriarchen.

»So geht man mit unverschämten Frauen um. Niemals hat eine von ihnen gewagt, in solchem Ton mit mir zu sprechen.«

Die Demütigung ließ Angélique den einzigen Pfeil finden, der imstande war, die Selbstgerechtigkeit dieses Fanatikers zu durchdringen.

»Die Frauen? ... Glaubt mir, sie würden die Huldigungen Satans den Euren vorziehen!«

Sie bedauerte ihre Worte, als er sie brutal bei den Armen packte und heftig zu schütteln begann.

»Meine Huldigungen! ... Wer spricht von Huldigungen, gemeines Geschöpf der Sünde, unheilvolle Kreatur!«

Er preßte sie unbeherrscht an sich, und sein glühender Atem fegte über ihr Gesicht. Sie wußte nun, warum sie ihn immer gefürchtet hatte. Unbewußt hatte sie vorausgeahnt, daß er sie töten, daß sie von seiner Hand sterben würde. Er würde sie erwürgen oder erdolchen. Es würde ihm leichtfallen in diesem abgelegenen Winkel des Waldes, und der Opferstein war nahe.

Verzweifelt wehrte sie sich gegen seine Umarmung. Doch allmählich überwältigte sie die Kraft ihres Gegners, und ihre Furcht verlor sich in der aufquellenden Woge eines anderen Gefühls, aus dem das animalische Verlangen des Fleisches, blind und gierig, nicht ausgeschlossen war. Das erotische Fieber, das sich des Mannes bemächtigt zu haben schien, lähmte ihren Widerstand, unterminierte ihren Willen, ihm zu entkommen.

Sie lag auf dem Boden, die Kehle schmerzend vom keuchenden Atmen, die Augen vom Licht des Mondes geblendet, das voll auf ihrem Gesicht lag.

Ihre Bewegungen wurden matt und ziellos.

Sie hatte vergessen, was er war ... wer er war. Ihr Kopf sank zurück, und sie fühlte die Frische der Erde unter ihren nackten Lenden.

Aber während sie sich schon aufgab, weckte ihr jäh von wahnwitzigen Visionen heimgesuchtes Gehirn Halluzinationen in ihr, in denen sich die Hexereien des druidischen Opferplatzes und die Weissagungen der Zauberin mischten.

Sie schrie auf. Mit wildem Aufbäumen entwand sie sich seiner Umklammerung, schnellte über den Boden, sprang auf und warf sich zwischen die Büsche.

Sie lief lange, von ihrem Schrecken vorwärtsgetrieben. Ihr Instinkt ließ sie die dunklen Pfade finden, über die sie während der letzten Monate so oft gegangen war. Sie verirrte sich nicht. Manchmal hielt sie inne, um vor Erschöpfung zu weinen, die Stirn gegen einen Baumstamm gedrückt. Sie war nahe daran, den Wald zu hassen, der unerschütterlich und gleichgültig die Gebete der Mönche, den Psalmengesang der verfolgten Hugenotten, die Untaten der Wilderer, die Paarung der Wölfe und die gottlosen Riten der Zauberinnen in sich verschloß.

Sie war verwundet wie ein Kind, das keine Zuflucht mehr auf dieser Welt besitzt, verwundet durch den Schmerz des Lebens. Die Nacht war noch tief, als sie in die Nähe des Schlosses Plessis gelangte.

Sie stieß zweimal den Ruf des Käuzchens aus, ihre Hände wie selbstverständlich vor den Mund wölbend. Die Diener wachten. Die Antwort kam von der Höhe des Turms.

Malbrant Schwertstreich wartete, einen Lichtstumpf in der Hand, im Keller neben der Pforte des unterirdischen Ganges.

»Ihr könnt es nicht mehr lange so treiben, Madame«, mahnte er. »Nachts den Wald zu durchstreifen - was für ein Wahnsinn! Das nächste Mal werde ich Euch begleiten.«

Der alte Stallmeister mußte die Unordnung ihrer Kleidung und ihres Haars und die kaum verwischten Spuren der Tränen auf ihren Wangen bemerkt haben. Sie nahm sich zusammen und setzte ihr gewohntes Gesicht auf, während sie in ihrem Mantel nach einem Taschentuch suchte.

»Ja, das nächste Mal begleitet Ihr mich, Ihr oder besser La Violette, denn der Wald ist zu feucht für Eure Schmerzen. Obwohl ich nicht allzuviel Vertrauen zu ihm habe«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu. »Aber wem kann man überhaupt vertrauen?«

Aus dem Keller traten sie in die schweigenden Räume des Schlosses. Sie zwang sich zu einem leichten Lächeln.

»Schläft das andere Untier?« fragte sie mit einer Geste in Richtung der Räume, in denen Kapitän Montadour kampierte.

In ihrem Zimmer streifte sie ihre zerrissene Kleidung ab und wusch sich lange. Es schien ihr, als ob die Arme des hugenottischen Anführers noch immer auf ihrem Rücken brannten, als ob seine rauhen, heißen Hände noch immer ihre Haut berührten.

Sie nahm den Krug mit frischem Wasser und übergoß ihren nackten Körper. Dann hüllte sie sich in einen Pudermantel und kämmte die Überbleibsel des Waldbodens aus ihrem Haar.

Auch jetzt fühlte sie sich noch wie zerschlagen. Der Gedanke an das, was ihr in dieser Nacht im Wald geschehen war, verließ sie nicht. Es rief ihr die bittere Erfahrung ins Gedächtnis zurück, die sie dem hysterischen Narren Escrainville verdankte. »Ich glaubte, das Schlimmste erlebt zu haben«, sagte sie sich. Sie kehrte aus dem Waschkabinett in ihr Zimmer zurück und stellte die Kerze vor den Spiegel.

Sich zu ihm neigend, prüfte sie ihr Gesicht und las in ihm die Verwandlung, die die letzten Wochen bewirkt hatten. Ihre Wangen hatten ihr glattes Oval wiedergefunden. Ihre Augen lagen nicht mehr so tief, ihre Lippen waren rosig und frisch wie das Fleisch wilder Erdbeeren.

Nur unter den Backenknochen lag ein Schatten, den das Leid zurückgelassen hatte und der diesem Gesicht, das lange Zeit einem sehr jungen Mädchen zu gehören schien, die stolze Maske der Reife verlieh.

Nicht mehr Favoritin. Königin.

»Und wenn das Schlimmste darin bestände weiterzuleben?«

Sie wollte dämpfen, was es in seinem Ausdruck an Ungebändigtem gab. Wie würde dieses neue Gesicht unter der Schminke von Versailles aussehen?

Sie öffnete ihren Toilettentisch und entnahm ihm ihre Crèmes und Puder, die sie in Onyxtöpfchen verwahrte. Daneben stand ein Kästchen aus perlmutterverziertem Sandelholz, das sie näher zog und mechanisch öffnete, um aus den in ihm versammelten Reliquien die Phasen ihres Ungewissen Lebens wiederauferstehen zu sehen: eine Feder des Schmutzpoeten, der Dolch Rodogones des Ägypters, das Holzei des kleinen Cantor, der Halsschmuck der Frauen der Plessis-Bellière, den sie nicht tragen konnten, »ohne sofort an Krieg oder Aufruhr zu denken« ... Zwei Türkise Seite an Seite, der des Fürsten Bachtiari Bey und der Osman Ferradjis ... »Fürchte nichts, Firouzé, denn die Sterne erzählen . die schönste Geschichte der Welt .« Nur der goldene Ring ihrer ersten Ehe fehlte, den sie am Hof der Wunder verloren hatte. Vermutlich hatte der Bettler Nicolas ihn ihr eines Nachts gestohlen, während sie schlief.

Es war ein harter Weg für sie gewesen, über Höhen und durch Abgründe, seitdem der Wille des Königs sie in eine Witwe ohne Namen, ohne Recht und Zuflucht verwandelt hatte. Sie war damals erst zwanzig gewesen. Später, nach ihrer Heirat mit Philippe bis zu ihrer Abreise nach Kandia, hatte die im Strahlenglanz des Hofes verlebten Jahre eine Zeit des Friedens für sie gebracht. War es wirklich Friede gewesen? Ja, wenn man das triumphale, über das Maß hinaus erfüllte Dasein der von Fest zu Fest eilenden großen Dame betrachtete. Nein, wenn sie sich der Intrigen erinnerte, in die man sie verstrickt, der Fußangeln, die man ihr gelegt hatte. Aber damals war sie wenigstens der herkömmlichen Regel gefolgt, hatte sie zu den Mächtigen dieser Welt gehört.

Der Bruch mit dem König hatte sie in das Chaos zurückgeschleudert. Was hatte der große Magier Osman Ferradji ihr noch gesagt?

»Die Kraft, die der Schöpfer in dich gelegt hat, wird es nicht zulassen, daß du innehältst, bevor du den Ort erreicht hast, der dir bestimmt ist.«

»Welcher Ort ist es, Osman Bey?«

»Ich weiß es nicht. Aber solange du ihn nicht erreicht hast, wirst du alles auf deinem Wege verwüsten, sogar dein eigenes Leben .«

Sie würde Samuel de La Morinière wiedersehen. Es war nicht zu umgehen. Sie begann sich Vorwürfe zu machen, gereizt durch die ungesunde Verwirrung, die nicht von ihr wich und die sie in seiner Gegenwart von neuem beherrschen würde. Dieser Mensch war wenigstens zwanzig Jahre älter als sie, ein Ketzer ohne Geist, düster und grausam. Aber er bedrängte sie, und sie fragte sich neugierig, ob er wirklich jene anomale Kraft besaß, die sie so sehr erschreckt hatte. Wenn sie an gewisse Momente ihres Kampfes dachte, schnürte sich ihr die Kehle zu.

Mit den Fingerspitzen entnahm sie einem Töpfchen rosigen Crème und begann, leicht ihre Schläfen zu massieren. Der Spiegel sandte ihr, klar wie ein Waldsee, das Leuchten ihres Haars zurück. Aus ihm wuchs eine Ungewisse, schwankende Form, drohend wie ein Alptraum, in deren Mitte nach und nach ein rotes Licht aufglomm: der Schnurrbart des Kapitäns Montadour.

Er war zu ihrem Zimmer geschlichen, hatte den Knauf ihrer Tür gedreht und zu seiner Überraschung keinen Widerstand gefunden. Erschrocken nach einem ersten Aufwallen des Triumphs, ein wenig keuchend, hatte er sich vorgeneigt, um das Halbdunkel zu durchforschen, in dem nur eine einzige Kerze brannte. Er hatte Angélique vor ihrem Spiegel entdeckt.

War sie dabei, sich in eine Hirschkuh zu verwandeln?

Der durchsichtige Pudermantel enthüllte ihre vollkommenen Formen. Ihr gelöstes Haar wellte sich auf den Schultern zu einem von warmen Reflexen überspielten Gehäuse. Sie neigte ein wenig den Kopf, und ihre Finger ließen auf ihren Wangen köstliche rosige Blumen erblühen.

Er hatte sich ihr genähert.

Versteinert wandte sie sich um. »Ihr?«

»Habt Ihr nicht die Güte gehabt, Eure Tür offen zu lassen, meine Schöne?«

Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn, und sein um Jovialität bemühtes Lächeln ließ seine Augen fast hinter den roten Kugeln seiner Wangen verschwinden. Er roch nach Wein, und seine ausgestreckten Hände zitterten.

»Ihr habt mich doch genug schmachten lassen, meine Hübsche. Euch selbst muß ja die Zeit schon lang geworden sein, jung und schön, wie Ihr seid.

Könnten wir beide uns nicht die Zeit ein bißchen angenehm vertreiben?«

Er war nicht geschickt und wußte es. Aber seine teigige Zunge stolperte über die galanten Komplimente, die er hatte drechseln wollen, und das Resultat waren unverzeihliche Gemeinheiten. Um sich durch brillanteres Handeln zu retten, zwang er die junge Frau in seine Arme. Die sie bedrängende weiche Fülle seines Wanstes verursachte ihr Übelkeit, sie warf sich zurück und stieß dabei einen der Onyxtiegel um, der auf den Fliesen zerbrach.

Männerarme, überall Männerarme, die sie zu umschlingen versuchten: der König, der Landsknecht, der Hugenotte, andere noch, immer Arme von Männern, Männerkörper gegen den ihren ...

Sie griff hinter sich in das Kästchen und riß mit einer schnellen Bewegung, die sie von der Polackin gelernt hatte, den schmalen Dolch Rodogones des Ägypters zu ihrer Verteidigung nach vorn.

»Verschwindet ... oder ich steche Euch ab wie ein Schwein!«

Der Kapitän fuhr zwei Schritte zurück, die Augen weit aufgerissen vor diesem unglaublichen Schauspiel.

»Wahr ... wahrhaftig«, stammelte er, »sie brächte es fertig!«

Sein ungläubiger Blick glitt von der funkelnden Klinge zu den nicht weniger funkelnden Augen derer, die sie gegen ihn zückte.

»Nun, nun ... wir haben uns also nicht verstanden.«

Er drehte sich um und bemerkte die Dienstboten, die sich im Dunkel des Zimmers drängten und ihm den Weg zur Tür verstellten. Malbrant mit seinem Degen, die Lakaien, die Knechte mit Knüppeln und Messern, sogar Lin Poiroux, der Koch, mit der weißen Mütze und seinen Küchenjungen, alle bewaffnet mit ihren Bratenwendern und Spicknadeln.

»Steht etwas zu Euren Diensten, Herr Kapitän?« fragte der Stallmeister in einem Ton, der die Drohung durchklingen ließ.

Montadour warf einen Blick zum offenen Fenster, dann zur Tür. Was wollten sie hier alle mit ihren wilden Augen?

»Schert euch fort!« knurrte er.

»Wir nehmen nur von unserer Dame Befehle entgegen«, erwiderte Malbrant ironisch.

La Violette glitt leise zum Fenster und schloß es. Montadour konnte nicht mehr rufen. Er begriff, daß nichts sie hindern würde, ihn mit ein paar Rapieroder Spicknadelstößen zu ermorden. Seine Männer biwakierten draußen, und zudem befanden sich nur vier von ihnen auf dem Besitz, da er die andern zu einem Dorf geschickt hatte, in dessen Umgebung sich protestantische Banden aufhalten sollten.

Kalter Schweiß feuchtete ihm die Schläfen und rann ihm in den Kragen hinunter. Ein militärischer Reflex ließ ihn zum Degen greifen, entschlossen, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen.

»Laßt ihn vorbei«, befahl Angélique ihren Leuten. Sie fügte mit eisigem Lächeln hinzu:

»Kapitän Montadour ist mein Gast . Solange er sich höflich benimmt, wird ihm unter meinem Dach nichts geschehen.«

Mißtrauisch und verwirrt ging er hinaus. Er rief Soldaten ins Schloß. Er fühlte sich in diesem verlorenen Winkel nicht mehr sicher. Ein Brigantennest unter dem Befehl eines gefährlichen Weibsbildes, das war das Wespennest, in das er hineingetappt war!

Die Stille des Parks, durch den die Käuzchen huschten, ließ sein Herz erstarren. Ein Soldat mußte sich vor der Tür seiner Kammer postieren.

Zwei jünglingshafte Silhouetten zeichneten sich schmal und schwarzgekleidet gegen das Sonnenlicht der Türöffnung ab.

»Florimond!« sagte Angélique.

Sie wiederholte versteinert:

». Florimond! Der Abbé de Lesdiguière!«

Sie näherten sich ihr lächelnd.

Florimond beugte das Knie und küßte die Hand seiner Mutter. Der Abbé folgte seinem Beispiel.

»Aber wieso .? Wer .? Wie ist das möglich? Dein Onkel hatte mir geschrieben .«

Fragen drängten sich auf ihren Lippen. Ihrer Überraschung folgte Betroffenheit.

Der Abbé erklärte, daß er von der Rückkehr Madame du Plessis’ nach Frankreich zu spät erfahren habe. Er habe noch einige Verpflichtungen gegen den Marschall de la Force zu erfüllen gehabt, bei dem er nach ihrer Abreise als Hilfs-Almosenier in Dienst getreten sei. Sobald als möglich habe er sich dann auf den Weg gemacht und seine Reise in Clermond unterbrochen, um in der Jesuitenschule nach Florimond zu sehen. Pater Raymond de Sancé habe sich beeilt, ihm den einstigen Schüler erneut anzuvertrauen, glücklich, wie er sagte, für seinen Neffen einen Reisebegleiter gefunden zu haben, da dieser eben im Begriff gewesen sei, allein ins Poitou zurückzukehren.

»Aber wieso ... wieso?« wiederholte Angélique. »Mein Bruder hatte mir geschrieben, daß .«

Der Abbé de Lesdiguière senkte verwirrt seine langen Wimpern.

»Ich glaubte zu verstehen, daß Florimonds Eifer nicht befriedigt hat«, murmelte er, »daß man ihn zurückschicken wollte.«

Angéliques Blick glitt von dem liebenswürdigen Gesicht des jungen Abbé zu dem ihres Sohns.

Sie hatte Mühe, ihn wiederzuerkennen.

Dennoch war er es. Aber in die Höhe geschossen und unter der schwarzen Jacke des Kollegienschülers mager wie ein Nagel. Seine Taille, von einem Gürtel umschlossen, an dem ein Tintenhorn und ein Federetui hingen, war zierlich wie die einer Frau. Zwölf Jahre! Er würde ihr bald bis zur Schulter reichen. Die Bewegung, mit der er eine Locke seines langen Haars zurückwarf, die ihn störte - eine ungezwungene Bewegung, die keinerlei Zerknirschung verriet -, ließ sie begreifen, weshalb sie sein Anblick aus der Fassung brachte: er begann mehr und mehr seinem Vater zu ähneln. Seine kindlichen Züge ließen schon das klare Profil erkennen, die Linien der leicht eingefallenen Wangen, die vollen, spöttischen Lippen - das Gesicht Joffrey de Peyracs ohne das verunstaltende Mal der Narbe. Auch schien Florimond dichtes, tiefschwarzes Haar noch an Fülle gewonnen zu haben, und in seinen Augen glitzerte eine muntere Ironie, die seine gesittete Haltung widerlegte.

Was war geschehen? Sie hatte ihn nicht umarmt, hatte ihn nicht an ihr Herz gedrückt. Aber auch er war ihr nicht wie früher um den Hals gefallen.

»Ihr seid noch staubig von der Reise«, sagte sie. »Ihr müßt müde sein.«

»Sagen wir: erschöpft«, erwiderte der Abbé. »Wir haben uns verirrt und mußten wenigstens zwanzig Meilen mehr zurücklegen. Wir wollten den bewaffneten Banden aus dem Wege gehen, die das Land durchstreifen. In der Gegend von Champdeniers wurden wir von Hugenotten angehalten. Mein geistliches Gewand gefiel ihnen nicht. Florimond beruhigte sie, indem er Euren Namen nannte, worauf sie uns passieren ließen. Danach fielen Barfüßler über uns her, die es ganz schlicht auf unsere Börsen abgesehen hatten. Zum Glück hatte ich meinen Degen zur Hand ...

- Die Provinz schien mir sehr unruhig .«

»Kommt zum Essen«, mahnte sie, ein wenig ihre Fassung zurückgewinnend.

Die Diener beeilten sich, glücklich, den Jungen, der mit seinem Bruder Cantor so lange in Plessis gewohnt hatte, wieder in ihrer Mitte zu wissen. Früchte und Milchspeisen wurden gebracht.

»Vielleicht seid Ihr erstaunt, mich den Degen tragen zu sehen«, nahm der Abbé, dessen gepflegte, sanfte Stimme ihr fast ein wenig unwirklich schien, das Gespräch wieder auf, »aber Monsieur de la Force konnte es nicht ertragen, einen Edelmann, auch wenn er Priester war, ohne Degen zu sehen. Er erhielt vom Erzbischof von Paris das Recht, seine adligen Almoseniere den Degen tragen zu lassen.«

Auf feine Manier mit dem Löffel aus vergoldetem Silber hantierend, berichtete er weiter, daß der Marschall auch während der Feldzüge täglich die Messe mit dem gleichen Pomp wie in seiner Schloßkapelle habe hören wollen. Das habe zuweilen pittoreske Situationen ergeben, wenn der Almosenier unter den Mauern einer belagerten Stadt Gottesdienst hielt und die Weihrauchwolken sich mit dem Pulverdampf der ersten Kanonenschüsse mischten. »Die Bundeslade unter den Mauern Jerichos«, pflegte der Marschall entzückt zu sagen. Das also war der Herr gewesen, dem der Abbé de Lesdiguière in Abwesenheit derjenigen gedient hatte, von der er sich für immer getrennt glaubte und die er nun mit einem Glücksgefühl, das er nicht auszudrücken vermochte, wiederfand.

Während die beiden Ankömmlinge sich stärkten, trat Angélique in die Fensternische, um die Botschaft Pater de Sancés zu lesen, die ihr der Erzieher ihres Sohns überbracht hatte. Der Jesuit schrieb in ihr von Florimond. Der Junge sei auf ihre Bemühungen nicht eingegangen, behauptete er. Geistige Arbeit liebe er nicht, und ihm fehle es im Grunde vielleicht an der nötigen Intelligenz. Er habe die beklagenswerte Gewohnheit gezeigt, sich während der Fechtstunden zu verstecken, um sich mit Globen und astronomischen Instrumenten zu beschäftigen, oder zu Pferd zu verschwinden, wenn der Mathematiklehrer in der Klasse erschienen sei. Kurz, er habe die elementarste schulische Disziplin vermissen lassen und scheine, was das Entmutigendste sei, nicht einmal davon berührt. Die Botschaft endete ohne weitere Erklärungen mit dieser pessimistischen Feststellung. Angélique dachte: »Ich weiß, was es besagen soll«, und die Augen hebend, bemerkte sie, daß das Laub des Parks sich zu verfärben begann und ein Dickicht von Vogelkirschen in wenigen Tagen den dunklen Ton des Blutes angenommen hatte.

Der Herbst war da.

Alle diese Worte dienten nur einem Vorwand. Ohne Erlaubnis des Königs hätte Florimond die Jesuitenschule nicht verlassen dürfen.

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