Fiebrig vor Erregung, kehrte sie zu ihnen zurück.
»Ihr müßt sofort wieder abreisen«, sagte sie zum Abbé. »Ihr hättet niemals kommen noch Florimond hierherbringen dürfen.«
Die Ankunft Malbrant Schwertstreichs unterbrach den bestürzten Protest des kleinen Geistlichen.
»Nun, Florimond, was habt Ihr mit Eurem guten Degen angefangen? Seid Ihr ebenso eingerostet wie er, während Ihr albernes Zeug habt lernen müssen? Aber wir werden schon wieder in Übung kommen. Hier habe ich drei der schönsten Klingen. Ich habe sie für Euch instand gesetzt. Mir schwante, daß Ihr kommen würdet.«
»Was sagt Ihr da, Madame«, murmelte der Abbé. »Habt Ihr keine Verwendung für meine Fähigkeiten? Ich könnte Florimond Lateinstunden geben und Eurem jüngsten Sohn das Alphabet beibringen. Ich habe die Weihen empfangen und werde jeden Tag in Eurer Kapelle die Messe lesen und Euren Dienern die Beichte abnehmen .«
Er war erschreckend in seiner Ahnungslosigkeit. Die sanften Augen sprachen von der Bewunderung, die er für sie hegte, von den Tränen, die er heimlich vergossen hatte, als er sie für immer verloren glaubte, von der überwältigenden Freude, sie wiedergefunden zu haben.
Sah er nicht, wie sehr sie sich verändert hatte? Daß sie eine Gezeichnete war, vom kalten Hauch der Ungnade umweht?
Spürte er nicht die Drohung der Unruhen, die Spannung des Landes? Entging ihm die Atmosphäre der Sinnlichkeit, des Hasses, des Blutes hier im Schlosse selbst?
»Die Messe? Ihr seid verrückt! Soldaten beschmutzen meine Wohnung. Ich bin gefangen, gedemütigt ... ich bin verflucht!«
Sie hatte mit leiser Stimme gesprochen, fast ohne es zu wissen, ein wenig verstört, den Blick auf die Augen des jungen Mannes mit dem Kindergesicht gerichtet, als wolle sie sich in seine Arglosigkeit flüchten. Eine ernste Leidenschaft leuchtete auf den zarten Zügen des Abbé de Lesdiguière.
»Um so mehr Grund, die Messe zu lesen«, sagte er sanft.
Er nahm eine Hand Angéliques und drückte sie mit Inbrunst, während unendliche Nachsicht seine schönen Augen füllte.
Plötzlich schwach, wandte sie ihren Blick ab und schüttelte mehrere Male den Kopf, wie um sich aus bedrängenden Schleiern zu befreien, dann gab sie nach:
»Nun gut! Bleibt ... und lest Eure Messe, mein kleiner Abbé. Sicher wird es uns allen gut tun.«
Es war die Zeit der Rückkehrer. Zwei Tage später kam Flipot aus Italien, wo er dem Sohn des italienischen Edelmannes, von dem er in Livorno gekauft worden war, die Anfangsgründe des Gassenjargons beigebracht hatte. Auf einem Maultier reitend, hatte er sechs Monate gebraucht, um die Strecke zurückzulegen. Von seinem Dienst in einem prächtigen Palast an der adriatischen Küste brachte er die übertriebenen, geschwätzigen Allüren eines Dieners aus der Komödie mit. Und von seiner Pilgerfahrt über verschneite Alpenpässe und die staubigen Straßen der französischen Provinzen waren ihm eine sonnenverbrannte Haut und breitere Schultern geblieben. Er war ein hübscher, redegewandter Bursche mit spöttischer, verschlagener Miene geworden, der unter den Bettlern des Pont-Neuf an seinem Platze gewesen wäre.
»Wärst du nicht am liebsten nach Paris zurückgekehrt?« fragte ihn Angélique.
»Ich bin dort gewesen, um mich nach Euch zu erkundigen. Als man mir sagte, daß Ihr auf Euren Ländereien wärt, habe ich mich wieder auf die Strümpfe gemacht.«
»Warum bist du nicht in Paris geblieben?« beharrte sie. »Gewitzt, wie du bist, hättest du eine gute Stelle finden können.«
»Ich bin lieber bei Euch, Frau Marquise.«
»Bei mir ist nichts mehr sicher, Flipot. Der König hält mich in Ungnade. Du bist ein Pariser Kind, du wärst dort besser aufgehoben.«
»Wo sollte ich schon hingehen, Frau Marquise?« meinte der einstige Lehrling des Hofs der Wunder mit bekümmerter Miene. »Ihr seid meine ganze Familie. Ihr seid sozusagen meine Mutter gewesen, seitdem Ihr mich in der Tour de Nesle verteidigt habt, wenn sie mich verprügeln wollten. Ich kenne mich. Wenn ich zum Pont-Neuf zurückgehe, werde ich wieder anfangen, Börsen zu stehlen.«
»Ich hoffe, du hast diese schlechte Gewohnheit aufgegeben.«
»Das«, sagte Flipot, »ist eine andere Sache. Ich muß schon auf meine Hand aufpassen. Schließlich hab’ ich mein Meisterstück gemacht, und wovon hätte ich während der ganzen Reise leben sollen? ... Aber wenn man nur dieses Handwerk zum Leben hat, wird’s bald riskant. Am Hof der Wunder gab’s einen Alten, ich glaube, es war der Vater Hurlurot, der uns jeden Morgen sagte: >Denkt dran, Kinder, daß ihr geboren seid, um gehängt zu werden.< Mir hat’s nicht gefallen, und es gefällt mir noch immer nicht. Von Zeit zu Zeit ein kleiner Rückfall, das geht noch an, aber ich ziehe es vor, in Eurem Dienst zu bleiben.«
»Wenn es so ist, behalte ich dich gern, Flipot. Wir beide haben genug gemeinsame Erinnerungen .«
Am gleichen Abend noch erschien ein Hausierer im Schloß. Eine Dienerin benachrichtigte Angélique, daß ein Mann sie im Auftrag »ihres Bruders Gontran« zu sprechen wünsche. Sie fühlte sich erblassen und ließ sich den Namen mehrmals wiederholen. Der Mann kniete in der Küche vor seinem aufgeknüpften Bündel, das der Begehrlichkeit der Dienstboten seine Kramwaren darbot: Bänder, Nadeln, grellbunte Bilder, Medikamente. Er führte auch eine ganze Malerausrüstung mit sich.
»Habt Ihr wirklich gesagt, Ihr kämt im Auftrag meines Bruders Gontran?« fragte Angélique.
»Ja, Frau Marquise. Euer Bruder, der zu unserer Zunft gehört, hat mich beauftragt, Euch etwas zu bringen, was er mir anvertraute, als ich zu meiner Tour durch Frankreich aufbrach. Er sagte mir: >Wenn du ins Poitou kommst, geh zum Schloß Plessis-Bellière in der Gegend von Fontenay. Wende dich an die Schloßherrin und übergib ihr dies von ihrem Bruder Gontran.<«
»Wie lange habt Ihr meinen Bruder nicht gesehen?«
»Seit mehr als einem Jahr.«
Alles erklärte sich. Während er von seiner Rundreise durch die Landschaften der Bourgogne, der Provence, des Roussillon, von seinen langen Aufenthalten in den Pyrenäen und an den Ufern des meergrünen Ozeans erzählte, kramte er in einer ledernen Satteltasche und zog eine sorgfältig in öldurchtränkte Leinwand gewickelte Rolle heraus.
Angélique nahm sie. Sie mahnte ihre Leute, gut für den Hausierer zu sorgen, und versicherte ihm, daß er so lange, wie er nur wolle, unter ihrem Dach bleiben könne.
In ihrem Zimmer zog sie aus der Umhüllung eine Leinwand, die ihr, nachdem sie sie entrollt hatte, die wunderbar lebendigen Porträts ihrer drei Söhne zeigte. Im Vordergrund stand Cantor mit seiner Gitarre, in einem Kostüm, dessen Grün sich in seinen Augen wiederholte. Der Maler hatte deren besonderen, zugleich nachdenklichen und amüsierten Ausdruck wiederzugeben vermocht. Er war es, der verschollene Sohn, und solche Vitalität ging von seinem Wesen aus, daß man an seinen Tod nicht glauben wollte. »Ich werde immer leben«, schien er zu versichern.
Florimond war in Rot. Gontran hatte ihm - durch welche Voraussicht? - das Jünglingsgesicht gegeben, das ihm heute eignete: fein gemeißelt, intelligent, voller Leidenschaft. Sein schwarzes Haar setzte einen dunklen Ton in die Lebhaftigkeit der Farben dieses bezaubernden Werks und betonte die Grüns und Rots, die kindlich-rosigen Gesichter und das seidige Gold der Locken des kleinen Charles-Henri. Er befand sich zwischen seinen älteren Brüdern, ein Baby noch in langem, weißem Kleidchen, einem Engel ähnlich. Er streckte seine rundlichen Hände aus, um die Arme Cantors und Florimonds zu berühren, aber die beiden schienen es nicht zu bemerken. Die ein wenig starre Anordnung der Gestalten hatte etwas Symbolisches an sich, das Angéliques Herz zusammenzog, als ob der Maler - wer würde jemals von den unergründlichen Vorahnungen dieser Künstlerseele wissen? - die verschiedenen Herkünfte der Dargestellten hätte unterstreichen wollen: vorn die beiden Ältesten, die Söhne des Grafen de Peyrac, kühn und wie erhellt von einem Funken Leben, der Jüngste, Sohn des Marschalls Philippe du Plessis, ein wenig hinter ihnen, köstlich schön, aber allein.
Dieses Eindrucks wegen, der sie bedrückte, ließ Angélique ihren Blick auf dem Abbild des Kleinsten ruhen. »Ich weiß, wem er ähnelt«, dachte sie plötzlich. »Meiner Schwester Madelon!« Und dennoch war es das Porträt Charles-Henris. Feinheiten eines inspirierten Pinselstrichs, die einer unbewegten Vision die bewegenden Nuancen des Lebens verliehen. Die Hand, die diesen Pinsel gehalten hatte, war leblos zurückgesunken. Tod. Leben. Zerstörung und Dauer. Vergessen ... Wiederauferstehung ...
Vor diesem Bild glaubte Angélique wie im Drehen eines Prismas, wie im Ziehen der Wolken über das Land die wechselnden, düsteren und strahlenden Aspekte ihres Lebens zu sehen und zu ahnen, daß mancherlei ihr noch verborgen blieb.
Florimond hatte keine Fragen gestellt. Die Anwesenheit der Soldaten im Park und des Kapitäns in den Räumen seiner Mutter hatte er ohne jede Bemerkung hingenommen.
Seit der Nacht, in der die Leute von Plessis ihn bedroht hatten, war Montadours Verhalten zu einer Mischung von ohnmächtiger Wut, entfesselter Arroganz und düsterem Brüten geworden. Er verschwand ganze Tage, seinen Leutnant als Wachhabenden im Schloß zurücklassend, um nach Hugenotten zu jagen. Doch das Wild verschwand in den Wäldern, und zuweilen fand man Leichen von Dragonern längs der Wege. Dann hängte Montadour den ersten Bauern, der ihm in die Quere kam, auf, und oftmals stellte es sich heraus, daß es ein Katholik war. Wo er ging und stand, stieß er auf Drohungen.
Oft war er betrunken. Dann machten sich seine dunklen Ängste, dem ihn peinigend bedrängenden Verlangen eng verbunden, in wüsten, polternden Zornausbrüchen Luft, während er durch die Halle taumelte und wild mit seinem Degen auf den Marmor des Treppengeländers und das vergoldete Holz der Rahmen einschlug, aus denen die Vorfahren der Plessis-Bellière mit hochmütiger Bestürzung auf das Treiben des dickbäuchigen Trunkenbolds blickten. Seine Männer mieden ihn, wenn er sich in diesem Zustand befand. Er witterte hinter den Türspalten die lauernden Augen der Dienerschaft, und manchmal hörte er in seinem Delirium das perlende Lachen des kleinen Charles-Henri, dem Barbe das amüsante Schauspiel zeigte. Dann brach er in Verwünschungen aus. Man hatte ihn verlassen. Er war Dämonen und einer Hexe ausgeliefert. Er jammerte über sein Schicksal, bis sein Zorn wieder überhandnahm.
»Hure!« brüllte er, den vagen Blick zur Höhe der Treppe erhoben, deren unterste Stufen er vergeblich zu ersteigen suchte. »Ich weiß, daß du nachts durch den Wald streichst ... du suchst deinen Bock!«
Angélique war nur halb beruhigt. Woher wußte er, daß sie nachts in den Wald ging? Das Geschwätz des Kapitäns mündete in wirre Anklagen, in denen von einer Hirschkuh und von Zauberei die Rede war .
Als er eines Tages wieder durch die Halle schrie, spürte er einen heftigen Stich in die Kehrseite und gewahrte, herumfahrend, Florimond, der ihm ohne Umschweife seinen Degen in eine fleischige Körperpartie bohrte.
»Sollte es meine Mutter sein, an die Ihr Eure Worte richtet, Kapitän?« fragte er. »Wenn ja, werdet Ihr mir Rechenschaft geben müssen.«
Montadour fluchte und versuchte sich gegen den flinken Degen zu verteidigen. Sein umnebelter Blick vermochte nur eine dichte schwarze Mähne zu erkennen, die bald hier, bald dort vor ihm auftauchte. Das Junge der Wölfin! Er verspürte einen Schmerz an der Hand und ließ seine Waffe fallen, während er seine Leute zu Hilfe rief. Sie stürzten herbei.
Florimond entfloh, indem er ihnen eine Nase drehte.
Verbunden und ernüchtert, schwor Montadour, daß er sie alle ausrotten würde. Aber er mußte das Eintreffen weiterer Verstärkungen abwarten. Die Lage wurde kritisch für ihn. Er war von der Hauptmacht abgeschnitten, und seine Briefe an Monsieur de Marillac mußten abgefangen worden sein.
Von dieser Einmischung abgesehen, schien Flori-mond keine sehr klare Vorstellung von der Situation zu haben. Mit seinem Stallmeister und seinem Erzieher focht er endlose Duelle aus, jagte Eichhörnchen und verschwand stundenlang, ohne zu sagen, wohin. Mit Charles-Henri auf den Schultern galoppierte er durch die Flure. Es klang seltsam, dieses helle Gelächter. Er sattelte sein Pferd, nahm Charles-Henri in den Sattel und ritt davon, ohne sich um den Posten zu kümmern, der ihn aufzuhalten versuchte und schließlich passieren ließ, da er nicht recht wußte, was er gegen diesen jungen katholischen Herrn unternehmen sollte. Eines Tages überraschte Angélique Florimond in einem Winkel des Salons; Charles-Henri saß in der Haltung eines Fragen erwartenden Schülers vor ihm. Der Ältere schüttelte aus kleinen, etikettierten Tüten Pulver in die vor ihm stehenden Teller.
»Wie nennt sich diese gelbe Materie?«
»Schwefel.«
»Und diese graue?«
»Chilesalpeter in kristallinischer Form.«
»Ausgezeichnet, Monsieur. Ich sehe, daß Ihr aufpaßt. Und dieses schwarze Pulver?«
»Das ist Holzkohle, die du durch Seide gesiebt hast.«
»Sehr gut, aber Ihr dürft Euren Lehrer nicht duzen.«
Eines Abends, die Dunkelheit war schon hereingebrochen, war nahe der Freitreppe eine Detonation zu vernehmen, etwas Glänzendes schoß in die Nacht und fiel in einer sprühenden Garbe auf den Rasen zurück. Die Soldaten riefen »Alarm!« und stürzten zu ihren Waffen. Montadour war abwesend. Fenster öffneten sich. Man fand Florimond mit rußgeschwärztem Gesicht und Händen vor einem seltsamen Apparat eigener Herstellung und neben ihm Charles-Henri in langem Nachthemd, hochbegeistert über die Rakete, die seinem »Lehrer« so prächtig gelungen war.
Das Gelächter war allgemein, selbst die Soldaten beteiligten sich. Angélique lachte, wie sie seit langem nicht gelacht hatte; es erleichterte ihr das Herz und trieb ihr Tränen in die Augen.
»Ach, ihr Knirpse!« seufzte Barbe. »Man kommt in eurer Gesellschaft nicht zur Ruhe.«
Der Fluch schien vom Schloß zu weichen. Die Messen des Abbé de Lesdiguière trugen vielleicht ihren Teil dazu bei ...
Am folgenden Tag überflog ein Falke den Turm, und Florimond fing ihn als erfahrener Falkner. Vom Abbé begleitet, brachte er seiner Mutter die Botschaft, die er an der Fußkralle des Vogels befestigt gefunden hatte. Angélique errötete, als sie die Kapsel entgegennahm. Ein kurzer Schnitt ihres Federmessers ließ das Blatt aus seiner Hülle springen. Die steile Schrift Samuel de La Morinières bestimmte für die nächste Nacht den Stein der Feen als Treffpunkt ... Ihre Zähne preßten sich aufeinander. Am Stein der Feen. Der Unverschämte! Welche Verachtung mußte er für sie empfinden, um es zu wagen, ihr eine solche Weisung, einen solchen Befehl zu geben! Hielt er sie für eine Sklavin? ... Sie würde nicht gehen! Sie würde ihnen nicht mehr helfen ... Sie hätte es nur tun können, wenn sie dem Patriarchen ausgewichen wäre. Aber mit ihm allein zu sein, sie beide Rebellen unter dem Mantel des Waldes, der herbstlichen Gerüche, der steigenden Nebel des Flusses - das war unmöglich. Was täte sie, wenn er es wagte, sie wieder zu berühren? Würde ihre Furcht genügen, das seltsame Verlangen zu bezwingen, das jene Nacht in ihr zurückgelassen hatte? Vergeblich versuchte sie, sich ihm zu entziehen. Seine düstere Gestalt beugte sich über sie, während sie schlief, und sie erwachte stöhnend.
Sie wurde hin und her gerissen von der unter den Bäumen verborgenen Kraft, die nach ihr rief wie ein Hirsch in der Tiefe des herbstlichen Waldes, und der Versuchung, ganz still zu sein, nicht mehr zu handeln.
Der Herbst war gekommen, und sie hatte sich dem König nicht unterworfen. Aber seine Abgesandten, die sie arretieren sollten, würden den Ring aus Eisen und Feuer, den der Patriarch um die Provinz gelegt hatte, nicht mehr passieren können. Jenseits des Parks, in dem ihre Söhne spielten, gab es Frauen, die man schlug, Ernten, die verbrannten, Bauern, die, zu allem bereit, das Land durchstreiften.
Florimond und der Abbé de Lesdiguière beobachteten sie; wo immer sie auch ging, immer spürte sie die Frage dieser reinen Augen. Der König hatte gewußt, was er tat, als er ihr Florimond schickte. »Kinder komplizieren nur alles«, hatte die Hebamme gesagt. »Wenn man sie nicht liebt, weiß man nicht, was man mit ihnen anfangen soll. Wenn man sie liebt, machen sie einen schwach.«
Verletzlichkeit eines von zu vielen Schlägen getroffenen Herzens. Das Mittelmeer hatte Angélique verwundet. Nun, da sie sich wieder gehärtet glaubte, hatte die Empfindsamkeit ihres Geistes ihre Leidensfähigkeit verzehnfacht. Alles bereitete ihr jetzt Schmerz. Doch die entfesselten Kräfte zogen sie gegen ihren Willen weiter. Das Jagdhorn Isaac de Cam-bourgs rief sie im kupferfarbenen Abend, über das fahlrote Laubmeer hinweg. Sie hatten bestimmte Signale je nach der Wichtigkeit der Botschaft vereinbart. Das Halali bedeutete einen Hilferuf, Das Halali! ...
»Madame, Ihr müßt kommen!« bat La Violette atemlos; er war zum benachbarten Edelsitz und wieder zurück gelaufen. »Die Frauen ... die Frauen der protestantischen Dörfer der Gâtine ... die, die man vor kurzem auf die Straßen gejagt hat, ohne daß man ihnen helfen darf... sie haben sich zu Monsieur de Cambourg geflüchtet. Wenn Montadour es erfährt, sind sie verloren. Er bittet um Rat .«
Angélique schlüpfte durch den unterirdischen Gang. Durch den Wald gelangte sie zu den Gärten, die das Schloß Cambourg auf seinem Hügel umgaben. Im Hof, zu Füßen des Wehrturms, hockten die erschöpften Frauen auf der nackten Erde, ihre mageren Kinder an sich gedrückt. Ihre Blicke waren stumpf, die weißen Hauben staubig und zerknittert. Sie berichteten der Baronin de Cambourg von ihrem ziellosen Weg durch die Feindseligkeit der katholischen Dörfer, die von ihren Pfarrern zur Einhaltung der Verordnung aufgefordert wurden, ihnen keinerlei menschlichen Dienst zu erweisen. Sie hatten sich von nachts auf den Feldern gestohlenen Rüben genährt und die Tage unter den Gebüschen am Waldrand verbracht. Mit Hunden hatte man sie verjagt. Militärpatrouillen hatten sie beunruhigt, die in der Umgebung der Dörfer ihrer Religion die Durchführung der Verordnung überwachten. Sie waren mit ihren Kindern unter der unbarmherzig brennenden Sonne, unter peitschenden Gewittergüssen gegangen. Schließlich hatten sie beschlossen, sich nach La Rochelle durchzuschlagen, der alten Metropole der Protestanten, in der ihre Glaubensgenossen noch stark genug waren, um die Verordnung zu umgehen und sie aufzunehmen. Während einiger Tage hatten sie ein von den Banden de La Morinières beherrschtes Gebiet durchquert und sich in den Häusern der Reformierten wenigstens ausruhen können. Aber die Bauern waren verarmt, die Lebensmittel rar. Sie hatten weiterziehen müssen. An den Ufern der Vendée waren sie dann Montadours roten Dragonern begegnet. Entsetzt hatten sie von nun an die Straßen gemieden. Sie waren in diese von undurchdringlichem Wald umgebene Sackgasse gelangt und hatten erfahren, daß einer der schlimmsten Verfolger der Protestanten hier sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. In einer letzten Anstrengung hatten sie sich zum Schloß Cambourg geschleppt, das ihnen gewiesen worden war.
Die Cambourg-Kinder starrten mit offenen Mündern auf die Ankömmlinge. Angélique bemerkte an der Seite Nathanaëls, des Ältesten, Florimond. Die Unruhe ließ sie ihn hart anfahren: »Was machst du hier? Warum mischst du dich in die Angelegenheiten der Protestanten?«
Florimond lächelte. Seit seiner Schulzeit hatte er die aufreizende Gewohnheit angenommen, nicht mehr zu antworten, wenn man ihm einen Vorwurf machte. Die Baronin de Cambourg, die sich im siebenten Monat ihrer neunten Schwangerschaft befand, verteilte Brotstücke an die Frauen. Das Brot war alt und schwarz. Eine ihrer Töchter half ihr, indem sie den Korb trug.
»Was sollen wir tun, Madame?« fragte sie Angélique. »Wir können sie nicht bei uns aufnehmen und noch weniger ernähren.«
Der Baron de Cambourg erschien mit seinem Jagdhorn über der Schulter.
»Sie wieder auf die Straße schicken, wäre ihr Untergang. Bevor sie um den Wald herum nach Secondigny kämen, hätte Montadour sie erwischt.«
»Nein«, sagte Angélique, die schon nach einem Ausweg gesucht hatte. »Sie müssen sich zur Mühle der Ukeleis am Rand des Sumpfs durchschlagen. Von da aus werden sie Barken zum Besitz Monsieur d’Aubignes bringen, wo sie in Sicherheit sind. Auf den Kanälen werden sie dann bis in die Nähe von La Rochelle gelangen. Sie werden höchstens noch zwei oder drei Meilen zu gehen haben und den ganzen Weg abseits von belebten Straßen zurücklegen.«
»Aber wie erreichen sie die Mühle der Ukeleis?«
»In zwei bis drei Stunden Marsch geradewegs durch den Wald.«
Der Protestant verzog das Gesicht.
»Wer wird sie führen?«
Angéliques Blick glitt über die müden Gesichter, in denen die dunklen Augen der Frauen ihrer Provinz glühten.
»Ich«, sagte sie.
Als sie unter den Bäumen hervortraten, versanken ihre Füße in schwammigem Moos. Hier begannen die Sümpfe. Sie hatten die Farben der Wiesen, und man hatte es nicht gewagt, weiter zwischen den Erlen und Espen vorzudringen, wenn angekettete Barken am Ufer nicht die Nähe des Wassers verraten hätten, Angélique hatte drei kleine Lakeien mitgenommen, die beim Einschiffen helfen sollten. Als mit dem Land vertraute Jungen hatten sie sich skeptisch gezeigt.
»Man klettert nicht so einfach in die Boote, Frau Marquise. Bei der Mühle der Ukeleis wird das Ufer vom Müller überwacht. Er fordert Wegegeld von allen, die in die Sümpfe wollen, und macht den Reformierten Schwierigkeiten, weil er sie verabscheut. Er hat die Schlüssel zu den Barken. Selbst Leute aus den Weilern machen weite Umwege, um nicht an seiner Mühle vorbei zu müssen.«
»Wir haben keine Zeit. Es ist unser einziger Ausweg. Ich werde den Müller auf mich nehmen«, sagte Angélique.
Sie hatten sich lange vor der Dämmerung auf den Weg gemacht und Laternen mitgenommen, die sie anzünden wollten, wenn die Dunkelheit in den Wald einfallen würde. Die Kinder waren müde gewesen. Der Weg schien endlos. Als sie zur Mühle der Ukeleis gelangten, war die Sonne längst untergegangen. Die Rufe der Frösche und Wasservögel erfüllten das Dunkel. Die Kühle eines ungreifbaren Nebels stieg vom Boden auf und reizte die Kehlen, während die Linien der aus dem Wasser ragenden Bäume sich nach und nach in dem tiefer werdenden Blau verwischten.
Die Mühle war noch zur Linken zu erkennen; dunkel und massig, zeigte sie die Schaufeln ihres Rades am Rande eines schlummernden, von Seerosen überblühten Gewässers.
»Bleibt hier«, sagte Angélique zu den Frauen, die sich frierend zusammendrängten.
Die Kinder husteten und betrachteten die feuchte Umgebung mit unruhigen Augen.
Watend erreichte Angélique die Mühle. Sie fand die wurmstichige Brücke und gleich danach den vertrauten Steg über das Mühlgerinne. Ihre Hand tastete über die rauhe, von Winden überrankte Mauer.
Die Tür stand offen. Der Müller zählte seine Taler beim Schein einer Kerze. Es war ein Mann mit niedriger Stirn. Das dichte Haar, das ihm in Fransen bis auf die Brauen fiel, betonte noch den Eindruck beschränkten Starrsinns. Nach Art der Leute seines Berufs grau gekleidet, einen runden Kastorhut auf dem Kopfe, wirkte er einigermaßen wohlhabend. Er trug rote Strümpfe und Schuhe mit Stahlschnallen.
Man erzählte sich, daß er sehr reich, geizig und unduldsam sei.
Angélique ließ ihren Blick über die bäuerlichen, von dem alles durchdringenden Mehlstaub samtartig überzogenen Möbel wandern. In einer Ecke waren Säcke übereinandergeschichtet, und man atmete den Duft des Weizens. Die Unveränderlichkeit dieses Bildes ließ sie lächeln. Dann trat sie in die Tür und sagte:
»Ich bin’s, Valentin ... Guten Tag.«
Die Barken glitten durch den dunklen Tunnel. Weiter vorn durchdrang das gelbliche Licht der Laternen nur mühsam die von der dichten Wölbung der Baumkronen begrenzte Nacht. Die hohe Gestalt Meister Valentins mußte sich zuweilen bücken. Durch einen Ruf in der Mundart des Landes warnte er die Führer der folgenden Boote. Die Frauen verspürten keine Furcht mehr. Ihre Unruhe begann nachzulassen, und man hörte das erstickte Gelächter der Kinder. Ein seit langen Tagen unbekannter Friede drang in die Herzen der Flüchtlinge: der Friede der unverletzten Moore. Hatte der gute König Heinrich IV. nicht seiner Liebsten von den Sümpfen des Poitou geschrieben: »Dort kann man im Frieden vergnüglich und im Krieg sicher leben.« Welcher Feind würde hier seinen Gegner verfolgen? Wäre er kühn genug gewesen, es zu versuchen, hätte Montadour seine Soldaten schlammbedeckt und vor Kälte erstarrt zurückkehren sehen, nachdem sie vergeblich mit ihren Barken auf den Wasserläufen und Teichen herumgeirrt wären, an Ufern landend, die unter ihren Stiefeln versanken, sich in einem Labyrinth je nach der Jahreszeit grüner oder goldener Mauern bewegend, im Winter eingeschlossen vom Gitterwerk der kahlen Zweige, um sich endlich am Ausgangspunkt wiederzufinden. Und sie konnten froh sein, wenn sie zurückkehrten; das ungeheure Labyrinth konnte sie für immer in sein schweigsames Universum aufnehmen. Viele unbekannte Leichen schliefen auf dem Grund der toten Gewässer, unter dem grünen Samt der Kresse ...
Meister Valentin, der Müller, hatte sich erhoben, als Angélique in der Tür aufgetaucht war. Er schien nicht überrascht, sie zu sehen. In seinen plumpen Zügen fand sie das Gesicht des dickköpfigen, schweigsamen Jungen wieder, der hastig das Boot vom Ufer abgestoßen hatte, um das kleine Fräulein de Sancé in sein Sumpfreich zu entführen und eifersüchtig den Rufen des Schäfers Nicolas zu entziehen. »Angélique! ... Angélique!« Der Schäfer verfolgte sie durch die Wiesen mit seinem Hirtenstab, seinem Hund und seinen Schafen.
Im Schilfrohr versteckt, kicherten sie heimlich. Dann entfernten sie sich mehr und mehr, und die Rufe erstickten im Gewirr der Zweige: Erlen, Ulmen, Eschen, Weiden und hohe Pappeln ...
Valentin pflückte die Blätter der Angelikapflanze, des Engelwurz. Sie lutschten und rochen abwechselnd an ihnen. »Um deine Seele zu haben«, sagte Valentin.
Er war nicht gesprächig wie Nicolas. Er wurde leicht rot und verfiel in unversöhnliche Zornausbrüche. Die Protestanten waren es, die, man wußte nicht recht, warum, seinen Haß auf sich zogen. Mit Angélique lauerte er den aus der Schule kommenden hugenottischen Kindern auf und schleuderte ihnen Rosenkränze ins Gesicht, um sie »Teufelszeug!« schreien zu hören. Angélique erinnerte sich daran, während der Teppich der Wasserlinsen unter dem Bug mit dem Geräusch leise fallenden Regens zerriß.
Valentin liebte auch jetzt die Protestanten nicht, aber er war für die Goldstücke empfänglich gewesen, die ihm die Marquise du Plessis-Bellière gegeben hatte. Er hatte seine Schlüssel genommen und die Frauen und Kinder in die Barken steigen lassen.
Ein stärkerer Lufthauch verriet, daß der Tunnel sich verbreitert hatte. Das erste Boot stieß auf festen Boden. Der Mond schwamm in einem dunstigen Lichtkreis über den Bäumen. Er enthüllte den Wohnsitz der d’Aubignes, der, von Weiden umstanden, inmitten ungeschnittener Rasenflächen schlief. Das Schloß erhob sich auf einer jener unzähligen Inseln des einstigen Golfs des Poitou, deren flache Felsenufer früher vom Meer umspült worden waren. Während des Winters stieg das Gewässer noch immer bis zur untersten Stufe der großen steinernen Treppe. Es war ein Renaissancebau, von einem Baumeister errichtet, den die Spiegelung der weißen Mauern in dem unergründlichen Gewässer und vielleicht auch die Unzugänglichkeit des Ortes gereizt haben mochte. Ein besserer Unterschlupf für Verschwörer ließ sich nicht denken.
Hunde bellten .
Eine Tür öffnete sich, und Mademoiselle de Coesmes, die Kusine des alten Marquis, erschien mit einem Leuchter in der hoch erhobenen Hand. Mit verkniffenem Gesicht hörte sie zu, während Angélique von dem jammervollen Zustand der armen Frauen, Witwen zumeist, berichtete, die sie in der Hoffnung hierhergeführt habe, daß man sich ihrer annehmen und ihnen helfen werde, La Rochelle zu erreichen. Die Einmischung einer Katholikin von so zweifelhaftem Ruf in die Angelegenheiten der Reformierten gefiel Mademoiselle de Coesmes nicht. Die Zügellosigkeiten Madame du Plessis’ waren vom Versailler Hof bis hierher gedrungen. Dennoch ließ sie sie eintreten, und während die Bäuerinnen in die Küchenräume geführt wurden, musterte sie das einfache Barchentkleid, das Angélique auf ihren nächtlichen Expeditionen unter einem Mantel zu tragen pflegte, die flachen, schlammbedeckten Schuhe und das Tuch aus schwarzem Satin, mit dem sie ihr Haar zusammenhielt.
Die alte Jungfer preßte von neuem ihre schmalen Lippen zusammen, nahm die Miene einer in ihr Schicksal ergebenen Märtyrerin an und teilte ihrer Besucherin mit, daß sich der Herzog de La Morinière im Schloß aufhalte.
»Wollt Ihr ihn sehen?«
Die Eröffnung verwirrte Angélique.
Sie spürte, daß ihr das Blut in die Wangen stieg, und erklärte, daß sie den Herzog nicht stören wolle.
»Er ist über und über mit Blut bedeckt hier angekommen«, flüsterte Mademoiselle de Coesmes, die sich trotz allem von so vielen Ereignissen überaus angeregt fühlte. »Ein Gefecht mit den Dragonern des infamen Montadour . Er hat sich nicht rechtzeitig lösen können und ist in die Sümpfe geflüchtet. Sein Bruder Hugues hat sich, wie es scheint, nach Pouzanges geworfen. Monsieur de La Morinière bedauerte es sehr, Euch nicht treffen zu können.«
»Wenn er verletzt ist .«
»Laßt mich ihn benachrichtigen.«
Sie wartete zitternd, aber als sie den Schritt des hugenottischen Patriarchen auf den Stufen der Treppe vernahm, riß sie sich zusammen und empfing ihn, als er sich ihr näherte, mit unerschrockenem, hartem Blick.
Eine tiefe Wunde lief quer über seine Stirn. Die entzündeten Ränder waren noch nicht vernarbt. Der klaffende Einschnitt trug nicht dazu bei, seinen Anblick zu mildern. Sie fand ihn größer, kraftvoller und schwärzer denn je.
»Ich grüße Euch, Madame«, sagte er.
Er hielt ihr zögernd seine bloße Hand entgegen.
». Werdet Ihr unserem Bündnis treu bleiben?«
Angélique war es, die ihre Augen vor seinem Blick senkte. Sie machte eine Bewegung zu den Küchenräumen, durch deren offenstehende Türen sie den unruhigen Lichtschein des Feuers und die beruhigten Stimmen der protestantischen Frauen wahrnahmen.
»Ihr seht es.«
Sie hätte nicht geglaubt, daß der Vorfall, der sich am Stein der Feen zugetragen hatte, sich ihr in einem solchen Maße aufdrängen, sie so verwirren und lähmen könnte. Unterlag sie dem Einfluß einer Persönlichkeit, von der manche ihrer Zeitgenossen erklärten, daß sie mit Zauberkräften begabt, wenn auch unerfreulich im Umgang sei? Seine Brüder, seine Frau, die Frauen seiner Brüder, seine Töchter und Neffen, seine Diener und seine Soldaten hatten es nie vermocht, ihm den Gehorsam aufzukündigen. Er hatte nur zu erscheinen brauchen. »Obwohl nahe bei Gott, gab es in ihm etwas Diabolisches«, schrieb man von dem protestantischen Grandseigneur, der sich zu seiner Stunde kurz, aber grausam vor dem Angesicht Ludwigs XIV. drohend erhob.
Er entschuldigte sich nicht bei ihr. Hatte es seinen maßlosen Stolz beleidigt, daß sie zwei seiner Aufforderungen zu einem Zusammentreffen nicht gefolgt war?
»Pouzanges, Bressuire«, sagte er endlich. »Die Bürger nahmen uns mit offenen Armen auf. Wir plünderten die Arsenale der Garnisonen und bewaffneten die in der Umgebung ausgehobenen Banden. Die Truppen, die Monsieur de Marillac im Norden zurückgelassen hatte, zogen sich ostwärts zurück, so daß wir ihre Stellungen in der Gâtine besetzen konnten. Die Truppen Monsieur de Gormats und Montadours sind von jeder Hilfe abgeschnitten und wissen es noch nicht.«
Mit heißem, erregtem Gesicht starrte sie ihn an.
»Ist es möglich? Ich wußte es nicht.«
»Woher hättet Ihr es wissen sollen? Ihr habt auf meine Botschaften geschwiegen.«
»Dann«, murmelte Angélique, als spräche sie zu sich selbst, »kann mich der König nicht mehr erreichen .«
»In ein paar Tagen werde ich das Moor verlassen und Montadour von Euren Ländereien jagen.«
Sie hielt seinem Blick stand.
»Ich danke Euch, Monsieur de La Morinière.«
»Verziehen?«
Das Wort mußte ihn übermenschliche Anstrengungen gekostet haben, denn es zuckte in seinem Gesicht und Blutstropfen sickerten von den Rändern seiner Wunde.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie und wandte sich ab.
Während sie zur Tür ging, murmelte sie:
»Ich muß nach Plessis zurück .«
Er folgte ihr zur Treppe, die sie gemeinsam hinunterstiegen. In der Allee, die zur Landungsstelle führte, packte er mit einer krampfhaften, unwiderstehlichen Bewegung ihre Taille.
»Ich bitte Euch, seht mich an, Madame.«
»Vorsicht«, flüsterte sie mit einer Geste in die Dunkelheit, wo Meister Valentin und seine Barke warteten. Er stieß sie hinter eine Weide und nahm sie, von fallenden Blättern überrieselt, in seine knotig-muskulösen Arme.
Die gleiche Regung von Widerwillen und Verlangen ließ sie, an ihn gepreßt, erstarren. Ja, die Liebe des Patriarchen mußte schrecklich und ungewöhnlich sein. Ihr ganzer Körper verriet sie. Ihre verkrampften Hände umklammerten die Schultern des Hugenotten, ohne daß sie wußte, ob sie ihn zurückstieß oder sich auf ihn stützte wie auf einen unbezwinglichen Fels, dessen Unerschütterlichkeit ihre bedrohte Existenz brauchte.
»Warum?« keuchte sie. »Warum wollt Ihr unser Bündnis stören?«
»Weil Ihr mir gehören müßt.«
»Aber wer seid Ihr?« stöhnte sie. »Ich verstehe es nicht. Spricht man von Euch nicht als von einem Mann der Gebete und strengen Sitten? Sagt man nicht, daß Ihr die Frauen verachtet?«
»Die Frauen? Ja. Aber Ihr ... Unter dem römischen Bogen seid ihr Venus. Ich verstand ... Ah, wie ein Schleier zerriß es vor mir ... So lange warten zu müssen, ein ganzes Leben, um zu begreifen, was die Schönheit einer Frau bedeutet.«
»Was habe ich gesagt? Was habe ich an diesem Tag getan? Sprachen wir nicht von Eurem Kampf für Euren Glauben?«
»An diesem Tage ... lag die Sonne auf Euch, auf Eurer Haut, auf Eurem Haar ... Ich wußte nichts, und plötzlich verstand ich ... Die Schönheit einer Frau.«
Er hielt sie ein wenig von sich ab.
»Mache ich auch Euch Angst? Die Frauen haben mich immer gefürchtet. Ich gestehe Euch etwas, Madame, das wie eine blutende Schande in meinem Innern ist. Wenn ich bei meiner Frau eintrat, bat sie mich zuweilen mit erhobenen Händen, sie nicht zu berühren. Sie hat mir dennoch gehorsam gedient und mir drei Töchter geschenkt, aber es entging mir nicht, daß ich für sie ein Schreckbild war. Warum?«
Sie wußte es. Die Ironie des Zufalls oder der Vererbung hatte aus diesem Abkömmling eines Geschlechts, das vielleicht einen Schuß maurischen Bluts in sich aufgenommen hatte, aus diesem strengen Protestanten einen Liebhaber ungezügelter Leidenschaftlichkeit gemacht.
Der Anblick Angéliques hatte ihn wie der Blitz getroffen. Es gab also eine andere Möglichkeit des Lebens, deren Gnade auch ihm zugänglich war. Und weil sie ihm trotz ihrer Stärke und Schönheit schwach und hilflos erschienen war, hatten sich die Dämonen der Wollust aus ihren Fesseln gelost. Er nutzte die Macht, die er über sie hatte, fürchtete ihren Blick - und befahl. Es war ein erschöpfender Kampf durch die Äußersten gesteigerten Gefühle, die sich ihrer bemächtigt hatten. Die Rebellion, die sie als Komplizen zusammenführte, isolierte sie. Sie wurden zur Erfüllung ihrer beunruhigenden Leidenschaft gedrängt wie zur Notwendigkeit, die Soldaten des Königs zu vernichten und dem Herrn des Königreichs zu trotzen.
»Ihr werdet die meine sein«, wiederholte er dumpf. »Ihr werdet mir gehören .«
Die gleiche Beschwörung wie die des Königs. Dieselbe gebieterische Forderung.
»Eines Tages vielleicht ...«, stammelte sie. »Seid nicht roh.«
»Ich bin nicht roh.« Seine Stimme zitterte beinahe. »Sprecht nicht wie die andern Frauen, die sich fürchten. Ich weiß, daß Ihr keine Angst habt. Ich werde warten. Ich werde tun, was Ihr verlangt. Aber sträubt Euch nicht gegen meinen Ruf zum Stein der Feen.«
Auf dem Boden der mit Stroh ausgelegten Barke sitzend, fühlte sie sich leer und schlaff, als ob sie in Wirklichkeit die rasende Inbesitznahme erduldet hätte. Was würde geschehen, wenn sie einwilligte? ... Angélique bewegte den Kopf, um unerträgliche Bilder zu verjagen.
Eines Nachts im Wald ... der schwarze Jäger, der sie zu seiner Beute machte, sie mit seinem mächtigen, linkischen Körper ins Moos preßte. Sie wehrte sich gegen seine Hände, gegen den erstickenden Dunst seines Bartes, bis zu dem magischen Augenblick, in dem das Erwachen des Fleisches ihre Ängste verjagen und nur die Wonnen zurücklassen würde. Völliges Vergessen, Keuchen, Schreie ...
Unwillig warf sie den Kopf zurück. Die Nachtluft feuchtete ihr Haar.
Doch es regnete nicht. Für einen Moment blieb eine Furche aus schwarzem Marmor hinter dem Boot, die sich allmählich in der milchigen Stumpfheit einer dichten Schicht winziger Pflanzen verlor.
Der Mond, eine riesige, Opalen schimmernde Perle, ließ in das Dunkel unter den Zweigen nur spärliches Licht sickern, und der Umriß Meister Valentins, der im Heck stand und die Bootsstange in den Grund stieß, schien nicht weniger seltsam als die Silhouette der über den schmalen Wasserweg geneigten Erlen.
Der starke Duft der Minze verriet das nahe Ufer. Die Barke streifte es zuweilen, Zweige schabten über das Holz, aber der Müller bedurfte keiner Laterne, um sich in diesem Labyrinth zurechtzufinden. Angélique begann zu sprechen, um ihren Versuchungen zu entgehen.
»Erinnert Ihr Euch, Meister Valentin? Ihr wart schon ein Meister des Sumpfes, als Ihr mich hierherbrachtet, um Aale zu fangen.«
»Ja.«
»Besitzt Ihr noch immer die Hütte, in der wir einkehrten, um Suppe zu kochen und uns zu stärken?«
»Noch immer.«
Angélique fuhr fort, um dem Schweigen zu entrinnen:
»Einmal fiel ich ins Wasser. Ihr fischtet mich auf, ganz mit Algen bedeckt, und als ich nach Monteloup zurückkehrte, bekam ich Prügel. Man verbot mir, wieder in die Sümpfe zu gehen, und bald danach hat man mich ins Kloster geschickt. Wir sahen uns nicht wieder.«
»Doch. Bei der Hochzeit der Tochter Vater Sau-liers.«
»Ah, ja!«
Sie erinnerte sich.
»Du trugst einen schönen Tuchanzug«, sagte sie lachend. »Und eine gestickte Weste. Du gingst ganz steif und wagtest nicht zu tanzen.«
Sie sah die Scheune wieder vor sich, in der sie, von den Rundtänzen erschöpft, geschlafen hatte und in die Valentin ihr verstohlen gefolgt war. Er hatte seine Hand auf ihre schwellende Brust gelegt. Das Verlangen des großen, ein wenig einfältigen Jungen hatte als erstes die Marquise der Engel bedrängt. Die lästige Erinnerung genierte sie.
»Und danach«, sagte die träge Stimme des Müllers, als ob er dem Gang ihrer Gedanken gefolgt sei, »war ich krank. Mein Vater sagte mir: >Das wird dich lehren, um Feen herumzuscharwenzeln.< Er brachte mich zur Kirche Notre Dame de la Pitié, um Teufelsbeschwörungen über mir lesen zu lassen.«
»Meinetwegen?« fragte Angélique betroffen.
»Hatte er nicht recht? Ihr seid eine Fee.«
Sie unterdrückte ein Lächeln, aber der Ton Meister Valentins blieb ernst.
»Ich bin geheilt worden. Es hat lange gedauert. Später hab’ ich nicht geheiratet. Ich hab’ mir Dienerinnen genommen. Nicht mehr. Man erholt sich nicht so leicht von der Krankheit der Feen. Sie packt das Herz mehr als den Körper. Und die Seele bleibt vielleicht immer krank .«
Er verstummte, und das seidige Geräusch der streifenden Algen erfüllte das Schweigen, in dem plötzlich das Quaken einer Kröte erklang.
»Wir sind gleich da«, sagte der Mann.
Die Barke stieß ans Ufer. Der Geruch des Waldes und der Erde drang bis zu ihnen.
Auch die anderen, von den kleinen Lakaien geführten Barken legten nacheinander an.
»Kommt Ihr auf ein Gläschen mit zur Mühle, Frau Marquise?«
»Nein, danke, Valentin. Der Weg ist noch lang.«
Den Hut in der Hand, begleitete er sie bis zur Grenze des Waldes.
»Bei der alten Eiche dort erwartete Euch Nicolas, der Schäfer. Er hatte Walderdbeeren für Euch gesammelt und sie auf ein Blatt gelegt.«
Es war verblüffend, daß das Echo einer Stimme das Kinderherz in ihrem Frauenkörper wiederzuerwek-ken vermochte, der so verwinkelte Schicksalspfade gegangen war, und vor ihr das Bild eines kleinen Jungen mit schwarzen Locken und feurigen Augen, in der einen Hand den Hirtenstab, in der anderen duftende Früchte. So hatte er sie am Eingang seines eigenen Reiches erwartet: der Wiesen und Wälder.
Sie wischte die matt gewordene Vision beiseite:
»Nicolas«, sagte sie. »Weißt du, was aus ihm geworden ist? ... Ein Bandit. Man hat ihn auf die Galeeren des Königs geschickt. Weißt du, wie er gestorben ist? ... Ein Offizier stürzte ihn im Laufe einer Revolte, die er angeführt hatte, ins Meer .«
Und da der Mann neben ihr nichts sagte:
»Erstaunt es Euch nicht, Meister Valentin, daß ich so viel über Nicolas Merlot weiß, der seit so langem aus der Gegend verschwunden ist?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein. Wer könnte sonst die Vergangenheit und die Gegenwart kennen? Ah, man weiß recht gut, wer Ihr seid und woher Ihr kommt!«
In Plessis erschütterte Montadours Stimme die Mauern. Angélique hörte sie schon im Keller.
»Hat er meine Abwesenheit bemerkt?« fragte sie sich, während sie reglos stehenblieb und lauschte.
Vorsichtig stieg sie zur Halle hinauf.
»Schwöre ab! Schwöre ab!«
Eine zusammengekrümmte Gestalt, den Kopf in den schützenden Armen geborgen, sprang aus dem Salon und stürzte zu Angéliques Füßen nieder: ein halb bewußtloser Bauer mit angeschwollenem, blutendem Gesicht.
»Frau Marquise«, ächzte er, »Ihr seid immer gut zu den Reformierten gewesen ... Habt Mitleid! ... Mitleid!«
Sie legte ihre Hand auf sein struppiges Haar, und er begann, wie ein Kind in die Falten ihres Kleides zu schluchzen.
»Ich bringe sie alle um!« schrie Montadour, der auf der Türschwelle auftauchte. »Ich werde sie wie Wanzen zerquetschen und alle Katholiken ausrotten, die ihnen Beistand leisten.«
»Wie können solche Dinge in unserem Lande geschehen!« rief Angélique in höchster Entrüstung aus. »Schwöre ab! Schwöre ab! Man möchte meinen, in Miquenez zu sein. Ihr seid nicht besser als die fanatischen Mauren, die in der Berberei die gefangenen Christen foltern.«
Der Kapitän zuckte die Schultern. Das Schicksal der in der Berberei gefangenen Christen war ihm einerlei. Er wußte kaum, daß sie existierten.
Angélique sprach leise mit dem vor ihr liegenden Mann. Sie benutzte den Dialekt des Landes.
»Nimm deine Sense, Bauer, und geselle dich zu den Banden de La Morinières. Alle fähigen Männer sollen dir folgen. Marschiert bis zum Kreuzweg der drei Eulen. Der Herzog wird euch dorthin Befehle und Waffen schicken. Und in zwei Tagen, vielleicht schon früher, wird Montadour aus der Gegend gejagt. Ich weiß es. Die Vorbereitungen sind schon getroffen.«
»Wenn Ihr es sagt, Frau Marquise«, murmelte er neu belebt, während in seinen Augen Hoffnung glänzte.
Und mit wiedergewonnener Bauernschläue:
»Ich werd’ ihnen noch meine Abschwörung unterschreiben, um vor ihnen Ruhe zu haben ... Nur für zwei Tage ... der Herr wird’s mir in seinem Dienst schon nicht aufrechnen. Sie sollen mir ihr Credo bezahlen!«
Am übernächsten Tag - Montadour hatte mit dem größten Teil seiner Leute eine Patrouille unternommen und nur einige Soldaten zur Bewachung des Schlosses zurückgelassen - sah man einen sich mühsam im Sattel haltenden Reiter die Allee heraufkommen. Es war ein schwerverwundeter Dragoner. Bevor der Mann auf den Kies des Vorplatzes stürzte und starb, hatte er eben noch Zeit, seinen Kameraden zuzurufen: »Ein Hinterhalt! ... Die Banden kommen!«
Wirrer Lärm drang schon von den Eichen herüber. Aus ihrem Schatten tauchten der Herzog de La Morinière und sein Bruder Lancelot auf, Säbel in den Fäusten und von einer Schar bewaffneter Bauern gefolgt. Die Soldaten liefen in die Gesinderäume, um ihre Musketen zu holen; einer von ihnen zog im Laufen seine Pistole, der Schuß verfehlte den Herzog nur um ein Haar. Die Protestanten holten sie ein und brachten sie grausam um. Sie zerrten sie über den Kies bis zum Portal des Schlosses, das sie durch ihre Anwesenheit profaniert hatten, und der Herzog de La Morinière ließ ihre Leichen Angélique zu Füßen werfen.
»Ihr werdet zum König gehen!«
Molines’ Hände umklammerten ihre Handgelenke.
»Ihr werdet zum König gehen und Euch unterwerfen. Ihr allein könnt dieses Gemetzel beenden.«
»Laßt mich los, Maître Molines«, sagte Angélique sanft.
Sie rieb ihre schmerzenden Handgelenke. Die neue Stille, die über Schloß und Park gesunken war, ungestört durch das Schnauben der Dragonerpferde und die groben Stimmen ihrer Besitzer, hatte etwas Ungewöhnliches an sich. Sie besänftigte nicht das Herz.
»Man hat mich unterrichtet«, nahm der Intendant den Faden wieder auf. »Der Kriegsminister Louvois schickt Truppen ins Poitou, Die Unterdrückung des Aufruhrs wird schrecklich sein. Sobald man den Herzog de La Morinière gefangengenommen und hingerichtet hat, wird man die Rebellion zum Vorwand nehmen, um mit den Protestanten aufzuräumen ... Was Euch betrifft .«
Angélique schwieg.
Sie saß vor ihrem mit Mosaiken eingelegten Tisch, bedrängt von einem geschärften Gefühl für den bedeutungsschweren Ablauf der Zeit, die, Stunde für Stunde an diesem klaren, vom Duft der welken Blätter erfüllten Herbsttag verstrich, einem wie über dem gähnenden Abgrund zwischen zwei Schicksalsetappen, zwei nicht aufzuhaltenden Katastrophen schwebenden Tag.
»Die Banden Monsieur de La Morinières werden dezimiert werden«, fuhr Molines fort. Es wäre Unfug, auf die Erhebung des ganzen Poitou zu hoffen. Die Katholiken werden die Armeen passieren lassen, weil sie Angst haben, weil sie die Protestanten nicht lieben und ihren Besitz nicht verlieren wollen. Und wir werden - wir sind schon dabei - die Schrecken der Religionskriege wiedererleben, die in Brand gesteckten Ernten, die auf die Piken geworfenen Kinder ... die Provinz wird ausgeblutet, für lange Jahre vernichtet, vom Königreich geächtet sein ...
Ihr habt es so gewollt, wahnwitzige, in Eurem Hochmut verrannte Frau!«
Sie warf ihm einen düsteren, rätselhaften Blick zu, sagte jedoch kein Wort.
». Denn Ihr habt es gewollt«, beharrte störrisch der alte Mann. »Ein anderer Weg wäre Euch möglich gewesen, aber Ihr seid den Süchten Eurer zum Primitiven zurückgekehrten Natur gefolgt. Ihr habt Euch mit den Kräften eines Landes verbunden, dessen Inkarnation Ihr immer gewesen seid. Und es fiel Euch leicht, den Ehrgeiz der fanatischen Brüder La Morinière und die Hoffnungen der abergläubischen Bauern in die von Euch gewünschte Richtung zu lenken. Ihr braucht ja nur zu erscheinen, um sie in Begeisterung zu versetzen.«
»Ist es meine Schuld, wenn die Männer keine Frau vorbeigehen sehen können, ohne Feuer zu fangen? Ihr übertreibt, Molines. Ich habe lange Zeit diesen Besitz verwaltet, während meiner Witwenschaft nach dem Tod des Marschalls habe ich sogar hier gelebt, ohne Unruhe ins Land zu bringen.
»Damals wart Ihr eine Dame des Hofs, eine Frau wie die andern. Ihr macht Euch nicht klar, wozu Ihr heute fähig seid, was ein einziger Blick von Euch heute bewirkt. Ihr habt aus dem Orient eine Art faszinierender Kraft mitgebracht, ein Mysterium, ich weiß nicht, was . aber ich höre das Geschwätz, das unter den Strohdächern umgeht, wo man sich noch erinnert, daß Ihr einstmals ein Kobold gewesen seid, daß man Euch hier und dort sah, an mehreren Orten zu gleicher Zeit, daß dort, wo Ihr auftauchtet, die Ernten besser waren, alles nur, weil Ihr mit einer Rotte kleiner, fauler Schlingel sträunend herumzogt, die nur auf Euch schworen, und daß Ihr jetzt nach Eurer Rückkehr nachts durch die Wälder streift, um mit Euren Zauberkünsten das Poitou aus seinem Elend zu erlösen und zum Wohlstand zurückzuführen.«
»Ihr sprecht wie Valentin, der Müller.«
»Jetzt also auch der Müller«, knirschte Molines, »dieser Dummkopf und Geizhals . Noch einer von diesen Einfältigen, die Ihr zu Euren kleinen Hexenfeiern am Stein der Feen mitschlepptet, damals, als Ihr zehn Jahre alt wart. Eure Reize scheinen nichts von ihrer Anziehungskraft verloren zu haben. Wo werdet Ihr nach dem Müller Eure Liebhaber suchen, Madame du Plessis?«
»Monsieur Molines, Ihr überschreitet die Grenzen«, sagte Angélique, sich mit Würde aufrichtend.
Doch statt des Zornesausbruchs, den er erwartet hatte, sah er ihr Gesicht sich erhellen und ein Lächeln um ihre Lippen spielen.
»Nein, versucht nicht die Skrupel meines bösen Gewissens zu wecken, indem Ihr mir eine schamlose Kindervergangenheit andichtet. Ich war ein unschuldiges Kind, Molines, Ihr wißt es recht gut. Ihr habt mich als Jungfrau dem Grafen de Peyrac verkauft und ... habt damals nicht daran gezweifelt, sonst hättet Ihr den Handel nie abgeschlossen. Oh, Molines, wie glücklich wäre ich, hätte ich nur das erlebt! Die einfachen Freuden wiederzufinden mit ruhigem Körper und köstlich lebendigem Geist! Aber man kann nicht zur Kindheit zurückkehren wie in den Schoß der Familie. Sie ist das einzige Land, das uns für immer verschlossen bleibt . Die Vergißmeinnic htsträußchen, die mir Valentin pflückte, die frischen Erdbeeren Nicolas’, unsere Tänze um den Stein der Feen, während der Mond über die Bäume stieg - all das war unschuldig und von einer Schönheit ohnegleichen. Doch als ich später diesen Spuren nachging, beschmutzte ich sie mit Blut, Tod und lüsterner Gier. Bin ich närrisch gewesen? Ich glaubte, meine Erde würde mich verteidigen .«
»Die Erde ist weiblich. Sie dient denen, die sie schützen und befruchten, nicht denen, die sie dem Unheil ausliefern. Hört, mein Kind .«
»Ich bin nicht Euer Kind.«
»Doch ... ein wenig. Ihr werdet zum König gehen, und der Friede wird wiederkehren.«
»Ihr, ein Reformierter, fordert von mir, die Leute Eurer Sekte zu verraten, denen ich meine Hilfe versprochen habe?«
»Ihr sollt sie nicht verraten, sondern retten. Ihr seid hier auf Eurem Besitz, aber schon könnt Ihr die Gehängten, die im ganzen Lande von den Ästen der Eichen baumeln, nicht mehr zählen. Frauen weinen vor Schande, weil sadistische Rohlinge sie vergewaltigten. Auch die Kinder sind deren Grausamkeit ausgeliefert und werden ins Feuer geworfen.
An vielen Orten ist die Ernte des ganzen Jahres verloren. Das Fieber wächst, weil die Soldaten sich fürchten. Wenn die Verstärkungen kommen, werden sie ihre Mißhandlungen verdoppeln, um sich für die Angst zu rächen. Die Verfolgung wird um so schrecklicher sein, weil der Rest des Landes und der König selbst nichts davon wissen werden. Die gerissenen Kumpane der Gesellschaft vom Heiligen Sakrament in der Umgebung des Königs werden sie in aller Stille führen, und er wird statt ihrer blutigen Spuren nur die Namen der Bekehrten auf immer längeren Listen sehen. Nur Ihr könnt sie retten. Nur Ihr könnt mit dem König sprechen, könnt ihn davon unterrichten, was sich hier abspielt. Euch wird er hören. Euch wird er glauben. Euch allein. Weil Ihr ihm trotz Eurer Fehler, trotz Eurer Disziplinlosigkeit grenzenloses Vertrauen eingeflößt habt. Auch darum zürnt er Euch. Ihr werdet allmächtig sein ... Ihr könntet alles bei ihm erreichen .«
Er beugte sich vor.
»Ihr werdet Montadour hängen lassen und Monsieur de Marillac in Ungnade stürzen. Ihr werdet den König vom Einfluß der starrsinnigen Frömmler befreien ... und die Ruhe wird in die Provinz zurückkehren, die Gerechtigkeit, die friedliche Arbeit .«
»Molines«, stöhnte sie, »Ihr belastet mich mit einer furchtbaren Versuchung! Der schlimmsten .«
Sie sah ihn an wie damals, als er sie überzeugt hatte, daß es notwendig sei, zur Rettung der Familie einen unbekannten Edelmann zu heiraten, der ein Krüppel und mit teuflischen Fähigkeiten begabt sein sollte.
»Ihr werdet allmächtig sein«, wiederholte er eindringlich. »Denkt an die Stunde, die Eurer Unterwerfung folgen wird. Die Worte des Königs ... Ihr wißt, daß sie nicht grausam sein werden.«
Bagatellchen, mein unausstehliches, mein unvergeßliches Kind ...
Im Dämmerlicht eines Tagesanbruchs über Versailles, am Ende einer Nacht, in der ihre Lippen sich über den Schreien der Rebellion verschließen würden - vielleicht auch würden sie ihr entschlüpfen, schrill und schneidend wie die der Verbrecherin unter dem rotglühenden Eisen, das sie für immer zeichnet -, würde der König sich über sie neigen.
Sie würde noch schlummern, der gesättigte Körper
- ah, wie sie diesen feigen, wundersamen Zustand unendlicher, süßer Schwäche kannte! - vielleicht sogar in der Tiefe des Schlafs genußvoll erfüllt vom Luxus und dem neu eroberten Glanz. Unter seiner Zärtlichkeit würde sie halb erwachen, sich in den Spitzen dehnen, wollüstig, und plötzlich ihre Augen ganz weit dem Widerschein des Waldes öffnen. Sie würde ihn sehen und aufhören, sich zu wehren, und sie würde ihn endlich hören, nach so vielen Jahren der Flucht gefangen, gebändigt ... seine Stimme, gedämpft, doch wie ein Befehl, wie ein triumphierender Anruf: »Angélique ... wir beide zusammen sind un-besieglich!«
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf.
»Es ist schrecklich«, murmelte sie. »Als ob Ihr von mir verlangtet zu sterben, die letzte Hoffnung aufzugeben.«
Es schien ihr, als habe sie diese Szene mit Molines schon einmal durchlebt. Damals hatte Osman Ferradji sie zu überreden versucht, sich Moulay Ismaël hinzugeben. Aber sie hatte es nicht getan. Und man hatte alle Juden der Mellah ermordet und die Sklaven gepfählt ... Also gab es überall tyrannische Herren und unterjochte, von deren Launen gepeinigte Völker, es war das unerschütterliche Gesetz . Draußen fiel leichter Regen auf das raschelnde Laub, und plötzlich waren die Rufe Florimonds und Charles-Henris zu vernehmen, die vor dem Guß flüchteten.
Der Intendant ging zum Schreibsekretär, nahm ein Blatt Papier, eine Feder und das Tintenfaß, kehrte zurück und breitete die Utensilien vor Angélique aus.
»Schreibt ... schreibt an den König. Ich reise heute abend ab. Ich werde den Brief mitnehmen.«
»Was soll ich schreiben?«
»Die Wahrheit. Daß Ihr kommen wollt, um Euch zu unterwerfen. Nicht, weil Ihr bedauert, was Ihr getan habt, oder weil Euer Gewissen Euch drängt, sondern weil um Euch herum seine getreuesten Untertanen schuldlos gefoltert würden. Daß Ihr nicht glauben könnt, daß es auf seinen Befehl geschehe. Daß Ihr Euch erst dann nach Versailles begebt, wenn die Dragoner Monsieur de Marillacs aus dem Lande entfernt und die des Ministers Louvois zurückbeordert seien. Daß Ihr Euch aber demütig und unter den von Seiner Majestät gewünschten Bedingungen unterwerfen werdet, weil Ihr seine Gerechtigkeit, seine Güte, seine Geduld zu würdigen wißt .«
Fieberhaft begann sie zu schreiben, ganz erfüllt von ihrer Anklage gegen die Peiniger des Poitou. Sie schilderte die drückenden, grausamen Maßnahmen, die man ergriffen, beschrieb, wie ein betrunkener Landsknecht ihre Leute unter ihrem Dach gefoltert hatte, sie nannte Montadour, de Marillac, de Solignac und Louvois, gab Einzelheiten über die gegenwärtigen Standorte der königlichen Regimenter, sprach von der wachsenden und unvermeidlichen Rebellion der Bauern, forderte Mitleid für sie, und während sie schrieb, stand ihr das Gesicht des jungen Königs vor Augen, ernst und aufmerksam in der nächtlichen Stille seines Arbeitskabinetts.
»Er kann es nicht gewollt haben«, sagte sie zu Molines.
»Er kann es wollen, ohne es zu wissen. Die Bekehrung der Protestanten liegt ihm als Ausgleich für seine Sünden am Herzen. Er verschließt Augen und Ohren. Ihr werdet ihn zwingen, sie zu öffnen ... Eure Aufgabe ist wichtig.«
Als sie zu Ende gekommen war, fühlte sie sich wie zerbrochen, aber ruhig. Molines bestreute die Botschaft mit Sand und schloß sie mit Wachs.
Angélique begleitete ihn bis zu seinem Haus. Sie wußte nicht mehr, woran sie war. Das Schweigen der Felder hatte etwas Verdächtiges. Zuweilen trieb der Wind den Geruch von Rauch herüber.
»Wieder brennende oder schon zu Asche gewordene Ernten«, sagte Molines, während er sich im Sattel zurechtsetzte. »Montadour und seine Leute haben sich in die Gegend von Secondigny zurückgezogen und alles auf ihrem Wege verbrannt. Lancelot de La Morinière hält sie in Schach, aber wenn seine Truppen weichen ... Der Patriarch hat sich in die Gâtine werfen müssen, um Louvois’ Truppen aufzuhalten.«
»Werdet Ihr gefahrlos durchkommen, Molines?«
»Ich habe eine Waffe mitgenommen«, erwiderte er, den Kolben einer Pistole unter seinem Mantel enthüllend.
Sein alter Diener begleitete ihn auf einem Maultier. Sie ritten davon.
Vor dem Schloß stieß Florimond, auf einem Bein hüpfend, Kiesel vor sich her. Als er sie sah, unterbrach er sein Spiel, lief ihr entgegen und verkündete ihr mit lebhafter Miene, wie sie freudige Neuigkeiten begleitet: »Mutter, wir werden abreisen müssen.«
»Abreisen? Wohin?«
»Weit, sehr weit«, sagte der Junge mit einer unbestimmten Geste zum Horizont, »in ein anderes Land. Wir können nicht hierbleiben. Die Soldaten kommen vielleicht zurück, und wir haben nichts, um uns zu verteidigen. Ich habe die alten Feldschlangen auf den Wällen untersucht. Sie taugen kaum noch als Spielzeuge, und verrostet sind sie auch. Man kann nicht die kleinste Kugel mit ihnen schießen. Ich habe versucht, sie wieder in Ordnung zu bringen, und wäre um ein Haar in die Luft geflogen. Ihr seht also, daß wir abreisen müssen.«
»Du bist verrückt. Woher hast du solche Ideen?«
»Nun ... ich sehe mich um«, sagte das Kind und zuckte die Schultern. »Es ist eben Krieg, und ich glaube, er fängt erst an.«
»Hast du Angst vor dem Krieg?«
Er errötete, und sie entdeckte in seinen schwarzen Augen einen erstaunten und verächtlichen Ausdruck.
»Ich habe keine Angst, mich zu schlagen, wenn es das ist, was Ihr sagen wollt, Mutter. Aber ich weiß nicht, gegen wen ich mich schlagen soll. Gegen die Protestanten, die dem König nicht gehorchen und sich nicht bekehren lassen wollen? Oder gegen die Soldaten des Königs, die Euch auf Eurem eigenen Besitz beleidigen? Ich weiß es nicht. Es ist kein guter Krieg. Deshalb will ich fort von hier.«
Seit seiner Rückkehr hatte er nicht so lange mit ihr gesprochen. Sie hatte ihn unbekümmert geglaubt.
»Sei unbesorgt, Florimond«, sagte sie. »Ich denke, daß alles sich wieder einrenken wird. Würde -«, sie suchte nach Worten, »- würde es dir gefallen, wieder an den Hof zurückzukehren?«
»Bei Gott, nein!« rief das Kind spontan aus. »Es gab dort zu viele, die mir Avancen machten oder mir etwas antun wollten, weil der König Euch liebte. Und jetzt will man mir etwas antun, weil er Euch nicht mehr liebt. Ich habe genug davon! Ich möchte lieber fort. Außerdem langweile ich mich in diesem Land. Ich liebe es nicht. Ich liebe nichts hier. Ich liebe nur Charles-Henri .«
»Und ich?« hätte sie, von Schmerz ergriffen, fast aufgeschrien.
Er hatte sich für die Verletzung gerächt, die sie ihm eben zugefügt hatte, und unbewußt auch dafür, daß er von ihr auf einen Weg ohne Hoffnung geführt wor-den war.
»Gott weiß, daß ich für meine Söhne gekämpft und mich für sie geopfert habe. Eben noch habe ich mich wieder für sie geopfert.«
Ohne ein Wort zu sagen, ging sie der Freitreppe zu. Die Überwindung, die der Brief an den König sie gekostet hatte, klang noch in ihren Nerven nach. Sie hatte nicht den Mut, ihre Erregung zu mildern, um ihren Sohn wieder aufzuheitern. »Merkwürdig, wie die Kinder einem entgleiten«, dachte sie. »Man glaubt, sie endlich zu kennen, ihre Freundschaft errungen zu haben ... Aber eine Abwesenheit genügt .«
Vor Angéliques Flucht zum Mittelmeer hätte er nicht so reagiert, hätte er nicht an ihr gezweifelt. Aber er hatte nun das Alter erreicht, in dem man beginnt, sich über sein Schicksal Fragen zu stellen. Wenn die Erfahrung des Islams Angélique so tief hatte zeichnen können, war es sehr gut möglich, daß auch das vergangene, bei den Jesuiten verbrachte Jahr Florimond verändert hatte. Die Seele hat ihre Kreuzwege ... Man kann ihre Entwicklung nicht zurückdrehen.
Sie hörte Florimonds eilige Schritte hinter sich. Er legte eine Hand auf ihren Arm und wiederholte dringlich:
»Ich muß fort, Mutter!«
»Wohin willst du, mein Kind?«
»Es gibt genug Orte, wohin man gehen kann. Ich habe mit Nathanaël schon alles verabredet. Ich werde Charles-Henri mitnehmen.«
»Nathanaël de Cambourg?«
»Ja, er ist mein Freund. Wir sind immer zusammen gewesen, damals, als ich in Plessis wohnte, bevor ich meinen Dienst bei Hof antrat.«
»Du hast mir niemals etwas davon gesagt.«
Seine Augenbrauen hoben sich in einem vieldeutigen Ausdruck. Es gab noch genug andere Dinge, von denen er ihr nie erzählt hatte.
»Wenn Ihr uns nicht begleiten wollt, um so schlimmer. Aber Charles-Henri nehme ich mit.«
»Du faselst, Florimond. Charles-Henri kann diesen Besitz nicht verlassen, dessen Erbe er ist. Das Schloß, der Park, die Wälder, die Ländereien gehören ihm. Sobald er majorenn ist, fallen sie ihm zu.«
»Und ich? Was besitze ich?«
Mit bedrücktem Herzen sah sie ihn an. »Du besitzt nichts. Mein Sohn, mein schönes, stolzes Kind ...«
»Nichts gehört mir?«
Sein Ton verriet, daß er trotz allem noch hoffte. Jede Sekunde, die seine Mutter schweigend verstreichen ließ, verstärkte die Härte eines Urteilsspruchs, den er schon geahnt hatte.
»Dir wird das Geld gehören, das in meinen Handelsunternehmungen steckt.«
»Aber mein Name, meine Erbgüter, mein eigener Besitz ... wo sind sie?«
»Du weißt .«, begann sie.
Er wandte sich brüsk ab, den Blick in die Ferne gerichtet.
»Darum eben will ich fort.«
Sie legte ihm einen Arm um die Schultern, und mit langsamen Schritten kehrten sie ins Schloß zurück. »Ich werde zum König gehen«, dachte sie, »unter den spöttischen, entzückten Blicken der Höflinge werde ich schwarzgekleidet die lange Galerie durchqueren und niederknien ... Ich werde mich dem König geben ... Aber danach werde ich dir deine Titel, dein Erbe zurückerstatten lassen ... Ich habe gegen dich gesündigt, mein Sohn, als ich meine Freiheit als Frau bewahren wollte. Es gab keinen Ausweg .« Sie drückte ihn stärker an sich. Er sah verdutzt zu ihr auf, und zum erstenmal seit seiner Rückkehr lächelten sie zärtlich einander zu.
»Komm, wir werden eine Partie Schach spielen.«
Es war eine der Leidenschaften des Jungen. Sie setzten sich nahe dem Fenster vor das große Schachbrett aus schwarzem und weißem Marmor, das König Heinrich II. einem der Herren von Plessis verehrt hatte. Die Figuren waren aus Elfenbein. Florimond stellte sie auf, die Lippen vor Eifer zusammengepreßt.
Angélique betrachtete durch das Fenster den verwüsteten Rasen, die exotischen Bäume, die die Dragoner gefällt hatten, um Feuer zu machen, ein Akt puren Vandalismus’, denn nur zwei Schritte entfernt befand sich trockenes Unterholz.
Ihr Leben ähnelte diesem zerstörten Park. Sie hatte ihrer Existenz keine Ordnung zu geben vermocht. Fremde Leidenschaften hatten es verwüstet und sie schließlich unter ihr Joch gezwungen. Jetzt, angesichts dieses noch verletzlichen Sohns, den niemand beschützte, wurde sie sich ihrer Schwäche als alleinstehender, von keinem Gatten verteidigter Frau bewußt. Früher hatte sie sich imstande gefühlt, alles zu tun, um schließlich doch zu triumphieren. Heute ließ dieses »alles« einen bitteren Geschmack in ihrem Munde zurück. Sie hatte die menschlichen Eitelkeiten durchmessen. Der Islam hatte sie gelehrt, daß allein die Erfüllung des eigenen Wesens den Menschen in Einklang mit seiner Seele bringt.
Nun würde sie sich dem König geben. Ein Akt, der schlimmer war als ein Verrat ihres Selbst, ihrer Vergangenheit, des Mannes, den sie nie hatte vergessen können .
»Ihr habt zu setzen, Mutter«, sagte Florimond. »Wenn ich Euch raten darf, setzt die Königin.«
Angélique lächelte matt und setzte die Königin. Florimond grübelte über einem komplizierten Manöver und hob die Augen, nachdem er gezogen hatte.
»Ich weiß, daß es nicht allein Eure Schuld ist«, sagte er mit jener sanften Stimme, die er aus der Jesuitenschule mitgebracht hatte. »Es ist nicht leicht, mit all diesen Leuten fertig zu werden, die Euch übelwollen, weil Ihr schön seid. Aber ich glaube, daß es besser wäre fortzugehen, bevor es zu spät ist.«
»Mein Liebling, es ist wirklich nicht so einfach, wie du selbst eingestehst. Wohin sollten wir gehen? Ich habe erst eine sehr lange Reise hinter mir, Florimond. Ich bin durch schreckliche Gefahren gegangen und habe doch zurückkehren müssen, ohne das, was ich suchte, gefunden zu haben.«
»Ich ... ich würde es finden«, sagte Florimond heftig.
»Sei nicht überheblich. Es ist ein Fehler, der einen teuer zu stehen kommt.«
»Ich erkenne Euch nicht wieder«, erklärte er streng. »Seid Ihr es, die ich in den unterirdischen Gang geführt habe, als Ihr Euch entschlossen hattet, meinen Vater zu suchen?«
Angélique lachte auf.
»Oh, Florimond, ich liebe deine Kraft! Gewiß hast du Grund, mich zu schelten, aber .«
»Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich mit Euch mitgegangen, statt mich in der verdammten Schule einsperren zu lassen. Uns beiden wäre es geglückt.«
»Überheblicher«, wiederholte sie mit Zärtlichkeit.
Sie erinnerte sich des grausamen Mittelmeers, der kleinen, entmannten Sklaven, der Stürme, der Gefechte, des ewigen Handels mit menschlichem Fleisch. Gott sei Dank, daß Florimond sie nicht auf ihrer Expedition begleitet hatte. Und wie oft war sie mit sich der Sorglosigkeit wegen zu Gericht gegangen, mit der sie Cantor dem gegen die Türken sich einschiffenden Herzog de Vivonnes anvertraut hatte ...
»Du machst dir keinen Begriff von den Gefahren und Schwierigkeiten einer solchen Reise. Du bist noch zu jung. Man muß alle Tage essen, ein Dach zum Unterschlüpfen finden, frische Pferde, was weiß ich. Man braucht Geld, um all das zu bezahlen.«
»Ich habe gespart. Meine Börse ist hübsch gefüllt.«
»Ah, wirklich? Und wenn sie leer sein wird? Die Menschen sind hart, Florimond. Sie geben nichts für nichts.«
»Gut«, sagte Florimond, sichtlich erbittert, »ich habe verstanden. Ich werde Charles-Henri nicht mitnehmen, weil er wirklich noch zu jung ist, um mit solchen Schwierigkeiten fertig zu werden, und weil er überdies sein Erbe hat. Ich hatte nicht daran gedacht. Aber ich ... ich will meinen Vater und Cantor wiederfinden. Ich weiß, wo sie sind.«
Angélique starrte ihn an, eine Schachfigur in der Hand.
»Was sagst du da?«
»Ja, ich weiß es, weil ich sie diese Nacht im Traum gesehen habe. Sie sind im Land der Regenbogen. Es ist ein seltsames Land. Überall verschmelzen sich Wolken, und während sie sich verschmelzen, leuchten alle Farben des Prismas auf. Und in der Mitte dieser farbigen Nebel habe ich meinen Vater gesehen. Ich konnte ihn kaum erkennen. Wie ein Gespenst sah er aus, aber ich wußte, daß er es war. Ich wollte zu ihm laufen, aber der Nebel schloß sich um mich zusammen. Und plötzlich merkte ich, daß ich mit den Füßen im Wasser stand. Es war das Meer. Ich habe niemals das Meer gesehen, aber ich habe es an seiner Bewegung erkannt, an dem Schaum, der unaufhörlich kam und wieder davonglitt und meine Füße bespritzte. Die Wellen wurden immer höher. Endlich sah ich eine riesige Welle, und auf ihrem Kamm war Cantor. Er lachte und rief mir zu: »Komm, mach mit, Florimond! Wenn du wüßtest, wie lustig dieses Spiel ist!<«
Angélique stieß ihren Stuhl zurück und stand auf. Ein eisiger Schauer lief ihr das Rückgrat hinunter. Es war, als ob Florimonds Worte eine Gewißheit bekräftigten, die sie immer tief in ihrem Innern vor sich verschlossen hatte: den Tod! Den Tod der beiden Wesen, die sie geliebt hatte und die nun durchs Land der Schatten irrten.
»Schweig«, murmelte sie. »Du machst mich krank.«
Sie floh in ihr Zimmer und setzte sich, den Kopf in den Händen, vor ihren Sekretär.
Wenig später wurde der Knauf der Tür vorsichtig gedreht, und Florimond zeigte sich in der Öffnung.
»Ich habe darüber nachgedacht, Mutter. Ich glaube, daß ich mich auf dieses andere Meer einschiffen muß . Es gibt ein anderes Meer als das Mittelmeer. Ich habe es bei den Jesuiten gelernt. Den westlichen Ozean, man nennt ihn den Atlantik, weil er sich über dem alten Kontinent Atlantis erstreckt, der eines Tages untergegangen ist, während sich über ihm die Wasser des Nordens und des Südens begegneten. Die Araber nannten ihn das Meer der Finsternis, aber jetzt weiß man, daß er nach Westindien führt. Vielleicht werde ich dort drüben .«
»Florimond«, sagte sie, am Ende ihrer Kräfte, »ich bitte dich, wir wollen später darüber sprechen. Jetzt laß mich, sonst ... sonst werde ich gezwungen sein, dir ein paar Ohrfeigen zu geben.«
Der Junge verschwand mit mürrischer Miene und zog die Tür hart hinter sich zu.
Ein paar Augenblicke lang war Angélique nahe daran, den drängenden Tränen nachzugeben; schließlich öffnete sie ein Schubfach und nahm den Brief des Königs heraus, jenen Brief, den sie nicht hatte lesen wollen.
». mein unvergeßliches Kind, hört nicht mehr auf die Narrheiten Eures Herzens. Kommt zu mir zurück, Angélique. In der äußersten Not, in der Ihr Euch befandet, habt Ihr mich durch den R. P. de Valombreuze um Vergebung gebeten. Um die Aufrichtigkeit Eurer Reue zu erproben, möchte ich ihr Bekenntnis von Euren eigenen Lippen hören. Man könnte Euch fürchten, schöne Angélique. So viele Kräfte schlummern in Euch, die die Feinde der meinen sind. Kommt und legt Eure Hände in meine Hände. Ich bin ein einsamer König, der auf Euch wartet. Alles wird Euch zurückgegeben werden, und ich werde nicht zulassen, daß Euch irgend jemand Schaden zufügt. Ihr werdet nichts zu fürchten haben, denn ich weiß, daß Ihr eine ebenso aufrichtige Freundin wie aufrichtige Feindin sein könnt .«
Er fuhr in dieser Weise fort, und es entging ihr nicht, daß er ihr weder zu schmeicheln noch sie heimlich in eine Falle zu locken suchte. Er schrieb ihr: »Ihr werdet meine Mätresse sein, und für Euch allein ermesse ich heute die ganze Bedeutung dieses Wortes. Ich vertraue auf Eure Loyalität, vertraut auf die meine ... Sprecht zu mir, ich werde Euch hören. Gehorcht mir, ich werde Euch gehorchen .«
Sie schloß die Augen, müde und besiegt. Sie hatte richtig gehandelt, als sie Molines’ Drängen gefolgt war. Morgen würde der Kampf gegen die Ungerechtigkeit beginnen. Sie würde alle ihre Kräfte darauf verwenden ...
Florimond trieb sich verloren unter den Bäumen der großen Allee umher und versuchte, mit seiner Schleuder Eichhörnchen zu treffen. Angélique verspürte Mitleid mit ihm und lief hinunter, um ihn zu trösten. Sie würde ihm vom König erzählen, würde vor seinen Augen den Titel glitzern lassen, die man ihm zurückgeben, die Ämter, die sie für ihn erlangen würde.
Doch als sie in den Garten gelangte, war Florimond verschwunden. Sie entdeckte nur Charles-Henri, der vom Ufer des Teichs aus die Schwäne betrachtete. Der weiße Satin seines Anzugs leuchtete nicht weniger als das Federkleid der schönen Vögel, und sein Haar hatte den gleichen schimmernden Goldton wie die Blätter der Weide über seinem Kopf.
Irgend etwas in der Haltung der drei in der Nähe des Ufers wartenden Schwäne beunruhigte Angélique. Sie wußte, daß diese Tiere sehr tückisch waren und daß sie Kinder ins Wasser zogen, um sie zu ertränken. Sie lief rasch hinzu und nahm ihn bei der Hand.
»Bleib nicht so nah am Wasser, mein Liebling! Die Schwäne sind böse.«
»Böse?« fragte er, indem er seine blauen Augen zu ihr hob. »Sie sind doch so schön, so weiß .«
Seine rundliche Hand lag sanft und vertrauensvoll in der ihren. Er ging mit kleinen Schritten neben ihr her, ohne den Blick von ihr zu wenden. Sie hatte immer geglaubt, daß er nur Philippe ähnlich sähe, doch Gontran hatte recht. In dem ihr zugewandten rosigen Gesichtchen erkannte sie etwas, das sie an Cantor erinnerte, eine zarte Linie, eine Rundung des Kinns, die auch einigen der Sancé-Kindern eigen gewesen war: Josselin, zum Beispiel, Gontran, Denis, Madelon, Jean-Marie .
»Aber auch du bist mein Sohn«, dachte sie, »auch du, mein kleiner, lieber Junge.«
Sie setzte sich auf eine der Marmorbänke und zog ihn auf ihre Knie. Während sie zärtlich über sein Haar strich, fragte sie ihn, ob er brav gewesen sei, ob er mit Florimond gespielt habe und ob er schon auf einem Esel reiten könne.
Er antwortete:
»Ja, Mutter. Ja, Mutter.« Seine Stimme klang bewegt und zart wie die einer Flöte.
War er dumm? Gewiß nicht. In seinem von dichten Wimpern beschatteten Blick lag der rätselhafte, leise melancholische Ausdruck, den sie von seinem Vater kannte. War er nicht, was Philippe einstmals gewesen war: ein kleiner, einsamer Herrensohn auf dem Besitz, den er eines Tages erben sollte? Sie drückte ihn an sich. Sie dachte an Cantor, den sie sowenig verzärtelt hatte und der nun tot war. Das Leben verstrich in den machtgierigen Intrigen der Erwachsenen, und sie hatte nicht einmal Zeit ge-habt, eine gute Mutter zu sein. Früher, als sie noch arm gewesen waren, hatte sie mit Florimond und Cantor in dem kleinen Haus der Freibürger gespielt. Seitdem hatte sie sich wenig um Charles-Henri gekümmert, und das war schlimm, denn sie vermochte die Liebe nicht zu verleugnen, die sie für Philippe empfunden hatte. Eine andere Liebe als die zu ihrem ersten Mann, aber dennoch eine Liebe, in der sich die Erfüllung eines Jugendtraums, der Triumph über eine geglückte schwierige Eroberung und eine aus den Gemeinsamkeiten ihrer Kindheit, ihrer Herkunft gewachsene geschwisterliche Bindung mischten.
Sie hob sein Kinn und küßte ihn zart auf die runde Wange.
»Ich liebe dich sehr, mein Kleiner, du weißt es .«
Er rührte sich nicht mehr als ein gefangener Vogel. Ein verwundertes Lächeln öffnete die Lippen über seinen kleinen weißen Zähnen.
Florimond tauchte zwischen den Bäumen auf und näherte sich den beiden, auf einem Bein hüpfend.
»Wißt ihr, Söhne, was wir morgen anfangen werden«, sagte Angélique. »Wir werden unser ältestes Jagdzeug anziehen und alle drei in den Wald gehen, um Krebse zu angeln.«
»Bravo! Bravissimo! Evviva la mamma!« schrie Florimond, dem Flipot Italienisch beibrachte.
Es wurde ein wunderschöner Tag, an dem die Bitterkeit der Gegenwart und die Drohungen der Zukunft außer Kraft gesetzt schienen. Über ihnen schloß sich die goldgelbe Stille des Waldes. Die Sonne bewohnte ihn, widerstrahlend im Rot der Eichen, im Purpur der Blutbuchen, in dem wie zum Strauß gebündelten Kupfer der Kastanien. Die Früchte der Kastanien fielen ins Moos, aufgeplatzte Hüllen, in deren Innern es seidig-dunkel glänzte.
Charles-Henri stand staunend vor diesem Reichtum und füllte sich mit ihm die Taschen seiner Hose aus rosafarbenem Tuch. Was würde Barbe dazu sagen? ... Trotz der Mahnungen Angéliques hatte sie ihn wie zu einer Promenade in den Tuilerien angezogen. Anfangs hatte er besorgt die grünlichen Flecken betrachtet, die seinen schönen Anzug beschmutzten. Als er jedoch sah, daß Angélique sich nicht darum kümmerte, faßte er sich ein Herz und versuchte sogar auf Bäume zu klettern: ein Paradies tat sich vor ihm auf, und es waren die Hände seiner Mutter, die es bewirkt hatten. Er hatte immer gewußt, daß sie das Geheimnis des ganz großen Glücks besaß, und deshalb betrachtete er so lange des Abends ihr Porträt.
Flipot und der Abbé de Lesdiguière hatten sie begleitet. Angélique empfand einigen Stolz, sich von Florimond und den jungen Leuten beobachtet zu wissen und ihre wachsende Bewunderung zu spüren, während sie sie über kaum sichtbare Pfade führte und ihnen die Geheimnisse der Bäche enthüllte. Für sie, die sie nur bei Hof gekannt hatten, war es ein so ungewöhnlicher Aspekt ihrer Persönlichkeit, daß sie nicht wußten, was sie davon denken sollten. Vom Fieber des Fischens erfaßt, beteiligten sie sich eifrig an dem neuen Spiel, planschten in den Wasserlöchern herum und belauerten, im Moos ausgestreckt, die zögernde Annäherung der Krebse an die versenkten, mit Aas geköderten Fangkörbe. Florimond ärgerte sich, daß es ihm nicht gelang, sie mit der Hand zu fangen, wie es Angélique mehrere Male vorgemacht hatte. Sie lachte über seine enttäuschte Miene, und ihr Herz weitete sich vor Freude bei dem Gedanken, daß sie die Achtung des Sohnes wiedergewann. Als sie eine Lichtung überquerten, begegneten sie der Zauberin Melusine. Die Alte tastete mit ihren hakenförmigen Fingern über den Boden und schien nach Pilzen zu suchen. Die vom leichten Wind erfaßten Blätter einer Blutbuche umwirbelten sie in einem fast rituellen Tanz, gleichsam den bösen Geist des Waldes ehrend, der sich in dieser schwarzen, verwachsenen, von schneeweißem Haar gekrönten Gestalt verkörperte.
Angélique rief sie an:
»He, Melusine!«
Die Alte richtete sich auf, um ihnen entgegenzusehen, aber statt sich von der Gegenwart jener besänftigen zu lassen, in der sie den ihrigen verwandte Kräfte erkannte, verzerrte ein Ausdruck des Schreckens ihre Züge.
Sie hob den mageren Arm, wie um sie aufzuhalten.
»Geh! Geh! Du bist eine verfluchte Mutter!«
Dann warf sie sich in die Büsche und entfloh. Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen, und die kleine Gruppe flüchtete sich unter die schützende Platte des Steins der Feen. Im Innern des megalithi-schen Grabmonuments erlaubte es der trockene, von Fichtennadeln bedeckte Boden, sich zu setzen. In den Felsblock, der das äußerste Ende der Platte stützte, hatte ein tausendjähriger Meißel die Umrisse von Kornähren eingeritzt, Symbole des Reichtums.
Angeregt durch das nach Harz und Heidekraut duftende Halbdunkel, erklärte Florimond, daß es ihn an seine Expeditionen in Kellergewölbe und unterirdische Gange erinnere, nur daß es dort im allgemeinen weniger gut rieche.
»Ich mag unterirdische Gänge«, sagte er. »Das Geheimnis der Erde möchte ich kennen. All die Felsen, die sich bilden und schichten, ohne daß wir sie sehen können. Einmal bin ich in der Schule in die Keller hinuntergestiegen und habe mir mit der Hacke einen Gang gegraben. Ich bin auf den Fels gestoßen und habe seltene Proben gefunden .«
Er verlor sich in eine lange, ungereimte, mit allerlei lateinischen Namen und chemischen Formeln durchmengte Geschichte über diese Proben, mit denen er hatte experimentieren wollen, um explosible Gemische zu finden.
»Im Schullaboratorium sind mir wer weiß wie viele Retorten in die Luft geflogen, und ich bin deswegen bestraft worden. Aber ich versichere Euch, Mutter, daß ich um ein Haar einer wichtigen Entdeckung auf die Spur gekommen wäre, die die Wissenschaft hätte umwälzen können. Ich werd’s Euch erklären. Ihr allein könnt mich verstehen .«
»Und da behaupten nun diese Jesuiten, daß er nicht intelligent sei«, sagte Angélique, den Abbé de Lesdiguière zum Zeugen nehmend. »Man fragt sich, welchen Qualitäten sie ihren Ruf als Erzieher verdanken.«
»Florimond hat keinen Sinn für die klassischen Wissenschaften gezeigt. Das hat sie wohl enttäuscht.«
»Ist es ein Grund, eine Intelligenz zu ersticken, wenn sie nicht imstande sind, sie zu entfalten?« Sie wandte sich an Florimond. »Ich werde dich in Italien studieren lassen. An den Ufern des Mittelmeers kann man sich in allen Wissenschaften vervollkommnen. Die der Araber vor allem werden dem entsprechen, was du suchst. Das Wort >alchimie< ist arabisch. Auch in den aus China zu uns gedrungenen Geheimnissen wirst du viel entdecken.«
Und zum erstenmal erzählte sie ihnen von der Reise nach den Inseln der Levante.
Überglücklich schmiegte sich Charles-Henri an sie. Der auf die Blätter trommelnde Regen, der stoßweise kommende Wind, schafften um sie die Atmosphäre der See.
Danach sprach Angélique von ihrem Ungehorsam gegenüber dem König.
»Seine Majestät hatte mir verboten, Paris zu verlassen, und du weißt ja selbst, wie ich entwischt bin. Nun wird alles wieder in Ordnung kommen. Der König verzeiht mir. Er bittet mich, an den Hof zurückzukehren. Ich habe ihm durch Molines eine Botschaft geschickt. Bald werden die Soldaten, die uns beleidigt und gequält haben, bestraft werden, und die Ruhe wird wieder einkehren.«
Florimond hörte mit gespannter Aufmerksamkeit zu.
»Ihr seid also nicht mehr in Gefahr? Auch CharlesHenri nicht?«
»Nein«, erwiderte sie, während sie versuchte, die Trauer abzuschütteln, die trotz allem ihr Herz bedrängte. Sie würde ja ihren Söhnen die Sicherheit wiedergeben, auf die sie ein Recht hatten.
Das ist gut«, sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung.
»Hast du keine Lust mehr fortzugehen?«
»Nein, nein, da Ihr sagt, daß alles in Ordnung kommen wird.«
Sie kehrten spät zurück. Barbe hatte sich bereits beunruhigt. In dieser Jahreszeit war es nicht mehr gut, im Wald spazierenzugehen; man konnte Wölfen begegnen. Sie war schon halbtot vor Angst. Und wie sah der Anzug des Kleinen aus! Der arme Liebling hielt sich kaum mehr auf den Beinen. Er war es nicht gewohnt, so spät zu Bett zu gehen.
»Beruhige dich«, sagte Angélique. »Dein Cherub hat sich mit Brombeeren vollgestopft und sich amüsiert wie ein Prinz. Er hat noch Zeit genug zum Schlafen. Die Nacht ist noch nicht zu Ende .«
Nein. Sie war noch nicht zu Ende, die Nacht, die furchtbare Nacht von Plessis.
Während Angélique sich entkleidete, glaubte sie den Galopp eines einzelnen Pferdes in der Nähe des Schlosses zu hören. Sie hielt inne und horchte. Dann knüpfte sie von neuem das Schnürband ihrer Korsage, trat auf den Treppenabsatz hinaus, Öffnete eins der Fenster und beugte sich ins Dunkel. Das dumpfe Trommeln des Galopps entfernte sich rasch, und die Silhouette eines Reiters, den sie nicht zu erkennen vermochte, tauchte in die Finsternis der großen Allee, nachdem er den Teich umritten hatte.
»Wer kann es sein?« dachte sie.
Sie schloß das Fenster wieder, überlegte einen Augenblick und wandte sich zur Treppe, um in die Küchenräume zu gehen, wo vielleicht noch jemand von der Dienerschaft wachte.
Statt dessen stieg sie in einer plötzlichen Sinneswandlung ein paar Stufen hinauf und lief zum Zimmer Florimonds. Sie Öffnete leise die Tür um einen Spalt:
»Schläfst du?«
Vor kurzem erst hatte er ihr gute Nacht gewünscht und sie mit funkelnden Augen an sich gedrückt.
»Mutter, o Mutter! Was für ein schöner Tag! Wie liebe ich Euch!«
Mit einer bezaubernden Geste der Hingabe hatte er wie früher seinen üppigen, die Düfte des Herbstes verströmenden Schopf an ihre Schulter gelehnt, und sie hatte lachend seine von einem Kratzer gezeichnete Wange geküßt.
»Schlaf gut, mein Sohn. Du wirst sehen, alles wird in Ordnung kommen.«
Sie trat ein und ging auf Zehenspitzen zum Bett hinüber. Es war nicht aufgedeckt. Auf dem mit Spitzen gesäumten Kopfkissen fehlte das Profil des nach den Strapazen eines im Walde verbrachten Tages eingeschlafenen Jungen. Angélique sah sich um, vermißte die Kleidungsstücke, den Degen, den Mantel und war mit ein paar Schritten in der benachbarten Kammer, in der der Abbé de Lesdiguière schlief.
»Wo ist Florimond?«
Der aus den ersten Träumen gerissene junge Mann starrte sie entgeistert an.
»In seinem Zimmer.«
»Nein, da ist er nicht. Rasch, steht auf! Wir müssen ihn suchen.«
Sie weckten Lin Poiroux und seine Frau, die in einem Verschlag neben der Küche schliefen. Sie hatten nichts gesehen, nichts gehört. War Mitternacht überdies nicht längst vorüber?
Angélique warf sich einen Mantel über die Schultern und lief, von ihren notdürftig angekleideten Leuten gefolgt, zu den Ställen. Ein kleiner, struppiger Stallknecht saß trällernd im Lichtschein einer an einem Balken aufgehängten Laterne und knabberte dazu kandierte Mandeln. Vor ihm auf einem Schemel lag ein mit Mandeln gefüllter Beutel.
»Wer hat dir das gegeben?« rief Angélique, die schon begriff.
»Messire Florimond.«
»Du hast ihm dafür sein Pferd gesattelt? Er ist fortgeritten?«
»Ja, Madame.«
»Dummkopf!« schrie sie, indem sie ihm eine Ohrfeige gab. »Schnell, Herr Abbé, nehmt Euer Pferd und bringt ihn zurück!«
Der Abbé trug weder Stiefel noch Mantel. Er rannte zum Schloß zurück, während Angélique den Stallknecht antrieb, ein anderes Pferd zu satteln.
Während er noch damit beschäftigt war, trat sie auf den Hof hinaus und hastete zur großen Allee hinüber, immer wieder stehenbleibend, in der Hoffnung, den Hall eines fernen Galopps zu vernehmen. Aber der Wind strich vorbei, raschelte in den trockenen Blattern, und kein anderes Geräusch war zu hören. Sie rief:
»Florimond! Florimond!«
Ihr Ruf erstarb in der feuchten Nacht, der Wald blieb stumm.
»Beeilt Euch!« flehte sie, als der Abbé zurückkam. »Sobald Ihr den Park hinter Euch habt, legt Euer Ohr an den Boden, wenn Ihr wissen wollt, welche Richtung er eingeschlagen hat.«
Allein geblieben, fragte sie sich, ob sie nicht ihr eigenes Pferd satteln lassen solle, um Florimond in einer anderen Richtung zu suchen.
In diesem Augenblick stieg ein voller, trauriger Klang in das raunende Schweigen: das Jagdhorn Isaac de Cambourgs. Das Thema des Signals zeichnete sich ab, kupferne Töne, durch die Nacht heranschwimmend gleich Luftblasen, die sich ihren Weg durch dunkles Wasser suchen. Das Halali!
Der Ruf wiederholte sich, herzzerreißend, wiederholte sich noch einmal und zum drittenmal! Das Echo fand kaum Zeit zu verklingen. Der Wald füllte sich mit seinem klagenden Widerhall.
Angélique erstarrte. Sie dachte an Florimond, der vielleicht dort drüben zu seinem Freund Nathanaël gestoßen war.
Ein Reiter, den sie nicht hatte kommen hören, tauchte im Lichtkreis der großen schmiedeeisernen Laterne über dem Portal auf.
»Die Dragoner kommen!« stieß der Abbé atemlos hervor.
»Habt Ihr Florimond gefunden?«
»Nein. Die Soldaten haben die Straße gesperrt, und ich mußte umkehren. Es sind sehr viele. Montadour kommandiert sie. Sie rücken gegen das Schloß Cambourg vor.«
Noch immer erklang das Halali, verzweifelt, betäubend, als achte der Bläser nicht der Gefahr, daß ihm die Adern bersten könnten.
Angélique begriff, was vorging. Die eingeschlossenen Dragoner des Königs hatten offensichtlich die dünnen Linien der protestantischen Truppen durchbrochen. Sie zogen sich in das ihnen vertraute Gebiet zurück, im Bewußtsein, ihre Lage noch zu verschlimmern, da sie von Wald und Sümpfen eingeschlossen waren.
»Wir müssen hinüber«, sagte sie. »Die Cambourgs brauchen Hilfe!«
Sie dachte noch immer an Florimond, den seine närrischen Ideen in dieses Wespennest getrieben haben mußten.
Von dem jungen Geistlichen begleitet, erklomm sie den Hang, der zur Behausung der Protestanten führte. Von weitem hörte sie wirren Lärm, und Lichter begannen sich zwischen den Bäumen zu zeigen. Auf halbem Wege begegneten sie einer jammernden Gruppe. Es waren Madame de Cambourg, ihre Kinder und ihre Dienerinnen.
»Wir wollten uns zu Euch flüchten, Madame du Plessis. Die Dragoner sind mit Fackeln gekommen. Sie sind betrunken, entfesselt. Sie haben Feuer an die Gesinderäume gelegt und scheinen uns plündern zu wollen.«
»Ist Florimond nicht bei Nathanaël?«
»Florimond? Wie soll ich es wissen? Ich weiß nicht, wo Nathanaël ist.«
Sie wandte sich jammernd zu ihren Kindern: »Wo ist Nathanaël? Wo ist Rebecca? Hast du sie nicht an die Hand genommen, Joseph?«
»Ich habe Sarah an der Hand.«
»Dann ist sie oben geblieben. Ich muß zurück. Und euer Vater ...?«
Die arme Frau schwankte, die Hände auf den Leib gepreßt. Sie stand nur wenige Tage vor ihrer Niederkunft.
»Geht zu mir«, entschied Angélique. »Der Herr Abbé wird Euch führen. Ich steige hinauf, um zu sehen, was sich oben zuträgt.«
Sie gelangte zum Gipfel des Hügels, auf die Außenseite des alten Wehrturms, und blieb reglos, hinter Mauerwerk verborgen, stehen. Dem Geheul der Dragoner, die in die Burg eingedrungen waren, antworteten die schrecklichen Schreie der gefolterten Männer und die schrilleren der von den Rohlingen vergewaltigten Frauen. Das Horn war verstummt.
Schritt für Schritt schob sich Angélique längs des linken Burgflügels vor, immer darauf bedacht, sich im Schatten zu halten. Plötzlich stieß sie auf eine im Sande ausgestreckte Gestalt, die durch die Umschlingung einer wie Messing blitzenden Schlange seltsam gelähmt schien. Es war der Baron de Cambourg, das Jagdhorn noch über der Schulter. Als sie sich über ihn beugte, sah sie, daß ein Spieß ihn durchbohrte wie ein bei der Jagd verletztes Wild, dem die Pikeniere den Gnadenstoß gegeben hatten.
Nicht weit entfernt hörte sie Schritte. Angélique stürzte sich in die Deckung der Bäume.
Dragoner erschienen, gleich roten Teufeln das Ballett der Plünderer tanzend, das die Armeen belohnt und berauscht, seitdem der Mensch zum Krieger geworden ist.
Ein rauher Schrei, Zeugnis triumphierenden Genusses, stieg aus ihren Kehlen, während sie ihre langen Hellebarden gegen die Mauer richteten.
»Auf die Piken! Auf die Piken!«
Aus einem Fenster weiter oben wurde eine kleine Gestalt geschleudert, eine Puppe, die sich im Leeren drehte, Rebecca! .
Angélique verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Von Entsetzen überwältigt, ließ sie sich ins Buschwerk gleiten und kehrte nach Plessis zurück.
Die vor dem Schloß zusammengedrängte Dienerschaft blickte in Richtung des benachbarten Wehrturms, an dem Flammen hochschlugen.
»Habt Ihr Rebecca gefunden?« fragte Madame de Cambourg. »Und den Baron?«
Angélique bemühte sich, ihre Züge nichts von dem Erlebten verraten zu lassen.
»Sie sind ... in den Wald geflohen. Wir werden dasselbe tun. Schnell, ihr Burschen, nehmt eure Mäntel und packt Lebensmittel zusammen. Wo ist Barbe? Man soll sie wachrütteln. Sie soll Charles-Henri anziehen.«
»Madame«, sagte La Violette. »Seht dort hinüber.«
Er wies auf zahlreiche Lichtpünktchen, die zwischen den Bäumen des Hanges abwärtstanzten: die Fackeln der Dragoner.
»Sie kommen hierher ... von Cambourg.«
»Sie rücken schon an!« schrie die Stimme eines der kleinen Lakaien. Auch am Ende der großen Allee leuchteten Fackeln auf. Die Dragoner näherten sich ohne Eile dem Schloß. Man hörte nur ihre Stimmen, die, noch fern, einander zuzurufen schienen.
»Gehen wir ins Haus und verriegeln wir alle Tü-
ren«, entschied Angélique. »Alle, habt ihr verstanden?«
Sie selbst prüfte die Eisenstangen, die man quer vor die Innenseite des Portals legte, die Schlösser, die schweren Holzläden, mit denen die Fenster des Erdgeschosses verbarrikadiert wurden. Vor vielen von ihnen befanden sich Gitter. Nur die beiden großen Fenster zu beiden Seiten des Portals waren ohne Schutz.
»Nehmt eure Waffen zur Hand und postiert euch in der Nähe dieser Fenster.«
Der Abbé de Lesdiguière zog ruhig seinen Degen. Malbrant erschien mit einem Armvoll Musketen und mit Pistolen beladen.
»Wo habt Ihr die her?«
»Ich habe mich ein wenig versorgt, als es hier unruhig wurde.«
»Ich danke Euch, Malbrant.«
Der Stallmeister begann die Musketen an die Männer zu verteilen. Selbst den Dienerinnen gab er Pistolen, deren schwere Kolben sie mit Schrecken ergriffen.
»Wenn ihr mit dem Pulver nicht zurechtkommt, Herzchen, könnt ihr das Ding immerhin beim Lauf nehmen und tüchtig auf die Schädel klopfen.«
Madame de Cambourg, die sich mit ihren Kindern in den Salon geflüchtet hatte, folgte Angélique mit angstvollem Blick.
»Was ist meiner kleinen Rebecca geschehen? Und meinem Mann? Ihr wißt etwas, nicht wahr, Madame?«
»Bleibt ruhig, ich bitte Euch! Soll ich Euch helfen, die Kinder ein wenig zur Ruhe zu bringen? Wir dürfen sie nicht aufregen.«
Mit gefalteten Händen glitt die Baronin de Cam-bourg auf die Knie.
»Laßt uns beten, Kinder. Ich weiß nun genug. Der Tag der Heimsuchung ist gekommen, von dem der Herr gesagt hat: >Ich werde die Meinen verlassen, um ihre Herzen zu prüfen. Ich werde sie dem Bösen ausliefern.««
»Madame! Die Dragoner!«
Durch ein halbgeöffnetes Fenster spähten die Diener besorgt nach draußen. Auf dem vom Licht der Fackeln rötlich beleuchteten Vorplatz war Montadours unförmige Gestalt auf dem schweren Apfelschimmel zu sehen. Der Kapitän schien Angélique noch dicker und massiver, als sie ihn in Erinnerung hatte. Acht Tage alte rote Bartstoppeln machten sein Gesicht noch gröber. Er schien aus rotem Ton zusammengefügt, aus schlecht getrockneter Ziegelerde.
Hinter ihm hielten sich einige Reiter vor dem unschlüssig zusammengedrängten Haufen des Fußvolks, die einen mit ihren Musketen, die anderen mit Hellebarden. Sie schienen sich über den weiteren Fortgang des Unternehmens nicht klar zu sein.
Das Haus war verbarrikadiert, aber hinter den bunten, mit Blei gefaßten Scheiben ahnte man auf der Lauer liegende Schatten.
»Aufgemacht da drinnen!« schrie Montadour. »Oder ich lasse die Tür einrennen.«
Niemand rührte sich. Vom Wald her, aus der Richtung von Cambourg, trafen weitere Dragoner ein und gesellten sich zu den andern. Die Erinnerung, daß sie hier fortgejagt worden waren und daß La Morinière vor weniger als einer Woche die Leichen von vier ihrer Kameraden auf diese Schwelle hatte werfen lassen, feuerte sie an.
Auf eine Handbewegung des Kapitäns näherten sich zwei mit riesigen Äxten bewaffnete Soldaten dem Portal. Die ersten dumpfen Schläge in das geschnitzte Holz erschütterten die Mauern. Eines der Kinder de Cambourg begann zu weinen, verstummte wieder, und ein gemurmeltes Gebet war zu vernehmen, das ihre Mutter sie aufzusagen hieß.
»Malbrant«, flüsterte Angélique.
Der Stallmeister hob langsam seine Waffe und schob den Lauf in die Öffnung des Fensters. Ein Schuß dröhnte. Einer der beiden Soldaten rollte auf die Fliesen vor dem Portal, Ein zweiter Schuß. Auch der andere fiel.
Die Dragoner stießen Wutschreie aus. Drei mit Musketen bewaffnete Männer stürzten mit erhobenen Kolben vor und begannen auf die Tür einzuschlagen.
Malbrant lud seine Waffe von neuem. Vom anderen Fenster aus gab La Violette einen sorgfältig gezielten Schuß ab, dem ein zweiter folgte. Zwei der Männer brachen zusammen. Malbrant erledigte den dritten.
»Zurück, Dummköpfe!« brüllte Montadour. »Wollt ihr euch einer nach dem andern abschießen lassen?«
Die Soldaten wichen wie ausgehungerte Wölfe zurück. In sicherer Entfernung zog Montadour seine Musketenschützen nach vorn. Eine Salve prasselte. Die Fensterscheiben zersplitterten und stoben in tausend vielfarbigen Funken über die Fliesen. La Violette, der sich nicht rechtzeitig gebückt hatte, fiel. Der Abbé de Lesdiguière raffte die den Händen des Dieners entglittene Waffe auf und nahm seinen Platz an der nun leeren Fensterhöhle ein. Durch die Schwaden des Pulverdampfs waren die verzerrten Gesichter der vorrückenden Dragoner zu erkennen. Ihre Offiziere schienen jedoch noch über eine andere, weniger gefährliche Angriffsmöglichkeit als die gegen das Portal zu beraten, die sie bereits fünf Männer gekostet hatte.
Angélique kroch auf den Knien zu La Violette hinüber und zerrte ihn an den Schultern in einen Winkel der Halle. Er war an der Brust verletzt, und auf seiner in den Farben der Plessis-Bellière, blau und gelb, gehaltenen Livree begann sich ein großer Blutfleck abzuzeichnen.
Die junge Frau hastete zur Küche, um Branntwein und Scharpie zu holen. Der Anblick Aurélies, der Frau des Kochs, die am Herd vor einem Zuber stand, dessen Inhalt sie aufmerksam überwachte, hielt sie auf der Schwelle fest.
»Was treibst du da? Kochst du Suppe?«
»Aber Frau Marquise! Ich bringe Öl zum Kochen, das wir ihnen wie in den guten, alten Zeiten über die Köpfe schütten werden.«
Leider war das Schloß Plessis kaum fest genug gebaut, um wie seine Ahnen aus dem Mittelalter Angriffen trotzen zu können.
Aurélie hob plötzlich den Kopf und horchte.
»Sie sind hinter den Läden! Ich hör’ sie schon kratzen!«
Wirklich hatten die Soldaten das Haus umgangen und machten sich nun an die schweren Fensterver-schläge der Küche. Gleich darauf dröhnten die ersten Axtschläge. Einer der Diener kletterte auf den Ausguß, um festzustellen, ob man sie durch eine der oberen Luken erreichen konnte. Aber es war zu schwierig.
»Lauft in den ersten Stock«, empfahl Angélique den drei kleinen Lakaien, die Malbrant mit Pistolen ausgerüstet hatte, »und schießt durch die Fenster.«
»Ich hab’ nur meine Armbrust«, meinte der alte Antoine, »aber glaubt mir, Frau Marquise, sie ist tüchtig, wenn’s drauf ankommt. Paßt auf, ich werde die Tölpel in Nadelkissen verwandeln.«
Angélique kehrte mit Verbandszeug zu La Violette zurück. Durch die Halle schwammen Schwaden dichten Rauchs, der in den Augen brannte. Schon während sie niederkniete, sah sie, daß ihre Bemühungen vergeblich sein würden. Der Diener lag im Sterben.
»Frau Marquise«, stammelte La Violette mit von Blut halb erstickter Stimme, »ich wollte Euch sagen ... daß ich Euch in meinen Armen gehalten habe, ist die schönste Erinnerung meines Lebens.«
»Was sagst du da, armer Kerl?«
Er phantasiert, dachte sie.
»Ja, ja ... Damals, als der Herr Marschall mich schickte, um Euch zu entführen. Ich mußte Euch schon in die Arme nehmen, mußte Euch sogar ein wenig den Hals zudrücken, um zu Rande zu kommen ... Hab’ Euch angesehen, während ich Euch trug ... und darum ist es meine schönste Erinnerung, weil es eine Frau . so schön . wie Ihr .«
Seine Stimme ging in ein Flüstern über. Er schloß in einem Hauchen, das seinen Worten das Gewicht des Geheimnisses lieh:
». nicht mehr gibt.«
Sein Atem war kaum noch zu spüren. Sie nahm seine Hand:
»Ich vergebe dir, was du in jener Nacht getan hast. Soll ich den Abbé de Lesdiguière holen, damit er dich mit dem Segen der Kirche versieht?«
In letzter Abwehr raffte er seine schwindenden Kräfte noch einmal zusammen:
»Nein, nein, ich will in meiner Religion sterben.«
Richtig. Sie hatte es vergessen. Er war ja Protestant.
Sie streichelte über seine runzlige Stirn.
»Armer Kerl! Armer, gequälter Mensch. Geh, geh jetzt ... Möge Gott dich in seine Gnade aufnehmen.«
La Violette war tot. In einer Ecke stöhnte eine verwundete Dienerin. Das Gesicht Malbrant Schwertstreichs war schwarz von Pulverdampf. Die kleinen Lakaien schleppten Munition in die beiden Etagen.
»Ich muß etwas tun, muß Schluß damit machen«, dachte Angélique.
Sie stieg in den ersten Stock hinauf. Entschlossen öffnete sie eins der Fenster:
»Kapitän Montadour!«
Ihre Stimme vibrierte in der von scharfen Dämpfen gesättigten Nacht. Der Kapitän der Dragoner riß unten sein Pferd zurück, um sie besser sehen zu können. Er erkannte sie mit einer Mischung aus Furcht und Triumph. Sie war da! In der Falle gefangen! Er würde seine Rache haben.
»Mit welchem Recht wagt Ihr es, Kapitän, über eine katholische Wohnung herzufallen. Ich werde mich an den König wenden!«
»Eure katholische Wohnung ist ein Hugenottennest! Gebt uns die ketzerische Wölfin und ihren Wurf heraus, und wir werden Euch und Eure Söhne in Ruhe lassen!«
»Habt Ihr es nötig, Euch mit Frauen und Kindern zu befassen? Ihr tatet besser daran, die Banden de La Morinières zu verfolgen.«
»Eures Komplizen!« brüllte Montadour. »Glaubt Ihr, daß ich mir nicht meinen Reim gemacht habe? Ihr habt uns verraten, habt Euch dem Teufel ergeben, Zauberin! Und während ich meine Haut für unsere Religion zu Markte trug, seid Ihr in den Wald gelaufen, um uns an die Banditen zu verkaufen. Ich habe einen Eurer Galane zum Plaudern gebracht .«
»Ich werde mich an den König wenden!« rief Angélique so laut sie konnte. »Er und auch Monsieur de Marillac werden über Euer Verhalten unterrichtet werden. Denkt daran ... in den Intrigen der Großen sind die eifrigsten Diener immer diejenigen, die am ersten bestraft werden!«
Montadour zögerte eine Sekunde. Es war etwas Wahres in dem, was sie sagte. Schon jetzt konnte er sich ausmalen, daß das unerwartete Resultat, zu dem der von ihm und seinen entmutigten, mürrischen, von allen Verbindungen abgeschnittenen Soldaten unternommene Bekehrungsversuch des Poitous geführt hatte, ihm kein Wohlwollen einbringen würde. Aber seine Leute brauchten Morde und Plünderungen, um wieder Vertrauen zu sich zu fassen. Und niemals würde ihm eine zweite Gelegenheit in den Schoß fallen, sie, diese Frau, zu besitzen, deren Anblick ihn seit Monaten quälte und die ihn, Montadour, wie einen gemeinen Köter an der Nase herumgeführt hatte. Später würde er schon sehen. Aber vorher wollte er sie besitzen, sollte sie um Gnade wimmern, sich demütigen.
»Räuchert mir diesen Schlupfwinkel aus«, knurrte er mit einer großen Geste.
Und in seinen Steigbügeln stehend, das Gesicht ihr zugewandt, stieß er ein wildes, rohes Gelächter aus, in dem sein Haß und sein Verlangen mitschwangen.
Sie trat vom Fenster zurück. Durch Verhandeln war nichts bei ihm zu erreichen. Ein Geruch nach Rauch, anders als der des Pulvers, wehte von draußen herein.
Die schrille Stimme Aurélies kreischte unten: »Sie haben Feuer an den Läden gelegt!« Barbes verschlafenes Gesicht erschien in einem Türspalt:
»Was bedeutet all dieser Lärm, Madame? Man wird mir noch den Kleinen wecken.«
Die Dragoner haben es auf uns abgesehen. Schnell, nimm Charles-Henri, roll ihn in eine Decke und geh in den Keller hinunter. Ich werde auskundschaften, ob der Weg frei ist .«
Der unterirdische Gang! Er war ihre letzte Chance. Durch ihn konnte man Kinder und Frauen aus dem Schloß schaffen. Inzwischen mußte man zu Gott beten, daß alle Dragoner das kleine Wäldchen verlassen hatten, in dem sich der Ausgang des Ganges befand.
Sie flog in den Keller hinunter, aber schon, als sie zwischen den Fässern hindurchglitt, drängte sich ihr die schreckliche Gewißheit auf, daß ihnen auch dieser Ausweg verschlossen war. Von der anderen Seite des Pförtchens zum unterirdischen Gang hörte sie dröhnende Schläge und das dumpfe Gewirr von Stimmen. Sie hatten den Fluchtweg gefunden, zweifellos durch die Angaben des Mannes, den sie durch Folterungen zum Sprechen gebracht hatten.
Wie betäubt, das zitternde Nachtlicht in der Hand, starrte sie auf die halb zersplitterte Holzfüllung, die bereits unter den schweren Schlägen nachgab.
Sie stürzte die Treppe hinauf und legte die Riegel vor.
»Bleib hier«, sagte sie zu Lin Poiroux, der mit seinem Bratspieß hinzutrat, »und spicke mir all die stinkenden Tiere, die aus diesem Loch kriechen wer-den.«
»Feuer! Feuer!« schrillte die Stimme Aurélies.
Reisigbündel waren gegen die Mauer gehäuft worden, in den schweren Holzläden zeigten sich knisternd Risse, durch die beißender Rauch drang.
Die kleinen Lakaien kamen aus der ersten Etage herunter. Sie konnten die Angreifer nicht mehr erkennen, und außerdem war ihnen die Munition ausgegangen.
Sie starrten Angélique an, und in ihren Blicken wuchs allmählich das Entsetzen.
»Was sollen wir tun, Frau Marquise?«
»Wir müssen Hilfe holen«, sagte eine Stimme.
»Welche Hilfe?« schrie sie.
Ein Gesang erhob sich, ergreifend in seiner Traurigkeit:
»Empfange uns in Deinem Paradies, o Herr!
Wir haben Dir gedient all unsre Tage .«
Es waren die Hugenotten unter ihren Dienern, die sangen, auch die um ihre Mutter gedrängten Kinder de Cambourg, aus deren armen, kleinen Gesichtern die Angst nach und nach schwand, um einem heiteren Vertrauen Platz zu machen.
Angéliques Haare sträubten sich.
»Nein, nein, nein ...«, wiederholte sie.
Einmal mehr lief sie wie eine Wahnwitzige die Treppe hinauf bis nach oben, bis auf den Turm. Atemlos stützte sie sich auf der engen Plattform ge-gen die Brüstung und starrte nach allen Richtungen in das dichte, überall vom gleichen schrecklichen Scheiterhaufengestank erfüllte Dunkel der Nacht.
»Welche Hilfe? Welche Hilfe?« schrie sie wieder.
Sie wußte nicht einmal, wo sich die Truppen Samuel de La Morinières befanden.
Aus dem Innern des Schlosses drang ein dumpfer, explosionsartiger Laut herauf. Sie glaubte, eine Mauer sei zusammengestürzt, aber es war nur der gemeinsame verzweifelte Aufschrei der unglücklichen Belagerten, als sie der ersten ins Haus dringenden Dragoner ansichtig wurden.
Angélique lief hinunter, beugte sich über das Treppengeländer. Das Erdgeschoß war der Schauplatz eines furchtbaren Durcheinanders. Schreie, Schreie ... Schreie der Diener, die sich erbittert wehrten, Schreie der verfolgten Frauen, Schreie der von brutalen Händen aus der Mitte ihrer Geschwister gerissenen Kinder ... Gebrüll der Soldaten, die Aurélie mit ihrem kochenden Öl übergoß ... das Flehen der Baronin de Cambourg, die mit gefalteten Händen im Salon auf den Knien lag.
Malbrant Schwertstreich hatte einen Stuhl mit schwerer Lehne bei den Beinen gepackt und schlug mit ihm zwei der Angreifer nieder. Schreie der Vergewaltigung, Schmerzensschreie, Todesschreie ... und der Schrei der bluttrunkenen Sieger: »Auf die Piken! Auf die Piken!«
Angélique sah einen Dragoner die Stufen herauflaufen, in den ausgestreckten Armen einen der kleinen Cambourg-Jungen. Sie stürzte ihm entgegen, stieß gegen eine verlassene Muskete. Pulverladung und Feuerstahl lagen daneben. Wie in einem Zustand der Hypnose griff sie nach der Waffe und bereitete sie vor. Sie wußte nicht, wie man eine Muskete lud. Dennoch drehte sich der Soldat, als sie sie hob, zielte und auf den Abzugsbügel drückte, wie eine jäh von ihren Fäden gerissene Marionette und stürzte rückwärts die Treppe hinunter, ein schwarzes Loch anstelle seines Gesichts.
Sie nahm Deckung hinter der Balustrade und schoß weiter auf die roten Röcke, die die Treppe zu ersteigen versuchten, bis zu dem Augenblick, in dem Arme sie von hinten umschlangen und lähmten.
Drei Bilder nahmen ihre Augen noch auf. Sie sah Barbe vorbeilaufen, Charles-Henri an ihren Busen gedrückt. Sie sah das tränenüberströmte Gesicht Ber-tilles, ihrer Dienerin, die sich zwischen den Händen dreier widerlich entblößter Soldaten wand. Sie sah die in die Nacht geöffneten Fenster, durch die man Leichen stürzte. Dann schwand das Bewußtsein dessen, was um sie herum vorging, verdrängt durch die nackte Angst um ihr eigenes Los. Niemals hatte sie eine so animalische Kopflosigkeit gekannt. Selbst damals nicht, als man sie zum Auspeitschen an die Säule gebunden hatte. Damals hatte ihr Geist Leben und Tod beherrscht.
In dieser Nacht war sie nur von einem verzweifelten, blinden Trieb erfüllt, dem zu entgehen, was auf
sie zukam. Und je erbitterter sie sich wehrte, desto mehr wuchs ihre Panik vor der Erkenntnis ihrer Machtlosigkeit. Sie erinnerte sich jener Nacht, in der die Kavaliere des Wirtshauses zur Roten Maske sie über den Tisch geworfen hatten, um sie zu vergewaltigen. Damals war ihr der Hund Sorbonne zu Hilfe gekommen.
In dieser Nacht würde niemand kommen! Die Dämonen würden sich an der unbesiegbaren Frau rächen, die allzuoft ihren Fallen entwischt war. Von überall her tauchten sie auf mit ihren gehörnten Fratzen, ihren roten Höllenlivreen und haarigen Klauen. In dieser Nacht würden sie sie zerstören, sie und den geheimen Zauber, der sie bisher vor Beschmutzungen bewahrt hatte. Allzu oft war sie durch die Flammen der Sünde gegangen, ohne sich verzehren zu lassen. Sie würden aus ihr eine beschmutzte Kreatur wie die andern machen. Niemals mehr würde sie ihrer durch das Strahlen ihres Liebeszaubers spotten.
Stinkender Atem keuchte über ihren hochmütigen Mund, widerliche Mäuler preßten sich auf ihre Lippen, deren ekelhafte Vergewaltigung ihre Schreie erstickte, feuchte Schneckenfinger krochen über ihre Haut, während der Stoff ihres Kleides zerriß.
Ihre Schenkel wurden auseinandergezwungen, rohe Fäuste fesselten Arme und Beine wie mit Eisenbändern an den Boden. Das Fleisch war ihnen ausgeliefert. Obszöne Schreie gellten in ihren Ohren, während sie wie eine Ertrinkende auf dem Grunde eines schwarzen Gewässers in der Überwältigung brutaler Umarmungen erstickte.
Es war ein schlimmerer Anschlag auf sie als ein mörderischer Dolchstoß. Ihr Körper entglitt ihr und wurde zum Objekt der Schande. Unerträgliche Schmerzen durchjagten sie, unterwarfen sie einer reißenden, monotonen Qual, bis zu dem barmherzigen Augenblick, in dem sie in Bewußtlosigkeit versank.
Angélique richtete sich halb auf. Sie lag auf den Fliesen, deren Kälte sie noch auf ihrer Wange spürte. Die Nebel der Morgendämmerung vermischten sich mit den letzten Resten des Rauchs und verhüllten ihre Umgebung. Stumpf, wie betäubt, betrachtete sie ihre geschundenen, verbrannten Hände. Es mußte geschehen sein, als sie mit der Muskete geschossen hatte. Sie hatte es nicht einmal bemerkt. Die Erinnerung kehrte ihr zurück. Sie wollte sich aufrichten und stöhnte. Auf den Knien verharrend, auf beide Hände gestützt, keuchte sie in der Qual der Schmerzen. Das Haar hing ihr ins fleckige Gesicht, und ihre Haltung rief seltsam das Bild jener Frau ins Gedächtnis zurück, die sooft auf den steinigen Pfaden des Rifs gestürzt war, wenn die Kräfte sie verlassen hatten.
Ah, du glaubtest dich den Dämonen entronnen, unbesiegliche, allzu schöne Frau! Aber die Dämonen haben dich dort überwältigt, wo du am sichersten zu sein glaubtest, im Lande deiner Kindheit, unter den Deinen. Das Schlimmste erwartete dich dort. Du konntest nicht hoffen, dir für immer jenen Ausblick auf das Leben zu bewahren, der über Hindernisse lachte und die grämlichen Seelen beleidigte. Jetzt hast du das Schlimmste durchlebt. Nun wirst du dich nicht mehr erheben. Du weißt noch nicht alles. Du kennst noch nicht das ganze Ausmaß der unheilbaren Wunde, die diese Nacht dir geschlagen hat, Angélique, stolze Angélique.
Die kleinlichen Herzen können triumphieren .
Die Frau, die sich mühsam aufrichtet in der bleifarbenen Dämmerung des beginnenden Tages, die sich gegen die Mauer lehnt und entsetzt um sich blickt, wird niemals wieder dieselbe sein wie jene andere, die kämpfte und hoffte, die unaufhörlich zu neuen Aufgaben, neuen Lieben wiedererstand mit der unbekümmerten, vom leisesten Sonnenschimmer entfalteten Lebenskraft einer schönen Pflanze.
Ihre tastende Hand suchte mechanisch die zerrissenen Kleidungsstücke zusammenzuhalten.
Die Erinnerung an das, was ihr geschehen war, verursachte ihr dumpfen Ekel. Gerüche, Berührungen verfolgten sie. Ihr Körper flößte ihr Abscheu ein.
Um sie herum lagen lang hingestreckte Gestalten. Unter ihnen Dragoner in ihren roten Uniformen. Sie sah nicht, daß sie tot waren. Die Furcht, daß einer von ihnen erwachen könnte, trieb sie hastig zur Treppe. Sie begann mit steifen Gliedern hinabzusteigen. Quer über den Stufen entdeckte sie die gestürzte Barbe, das Kind noch in den Armen.
Charles-Henri schlief in den Armen der toten Barbe. Ein Ansturm wahnwitziger Freude ließ Angélique erbeben. Ihren Augen nicht trauend, beugte sie sich über ihn. Das Wunder hatte sich erfüllt. Er schlief, wie nur ein Kind inmitten einer zerstörten Welt zu schlafen vermochte, mit geschlossenen Lidern, deren lange Wimpern zarte Schatten auf seine Wangen warfen, die Lippen zu einem halben Lächeln geöffnet.
»Wach auf«, murmelte sie, »wach auf, kleiner Charles-Henri.«
Doch er wachte nicht auf.
Sie schüttelte ihn sanft - er sollte die Augen öffnen. Da glitt sein Kopf zurück wie der einer geschlachteten Taube, und sie sah, daß sich quer über den Hals eine klaffende Wunde zog, durch die sein Leben entflohen war.
Angélique löste ihr Kind nicht ohne Mühe aus den Armen der toten Dienerin und nahm es zu sich. Es so an ihrer Schulter zu fühlen, schwer und willenlos, tat ihr wohl.
Unten durchquerte sie den Schauplatz der Schlächterei, ohne etwas zu sehen, über die Leichen hinwegsteigend wie über gleichgültige Hindernisse, und trat in den Garten hinaus.
Die Sonne begann Funken über die Oberfläche des Teichs zu stäuben. Angélique ging über den Kies, ohne etwas zu fühlen, weder die Schmerzen ihres Körpers noch das Gewicht des Kindes. Sie betrachtete es.
»Das schönste der Menschenkinder .«
Sie wußte nicht mehr, wo sie diesen Satz gehört hatte.
»Das schönste .«
Mit ungläubiger Angst begann sie seine Reglosigkeit, seine Abwesenheit, die wächserne Farbe seiner runden Wange zu bemerken, ebenso lilienweiß wie das lange Hemdchen, das er trug.
»Mein Engel ... Komm, ich bring’ dich weit fort ... Wir werden zusammen fortgehen ... Das gefällt dir, nicht wahr? Ich werde mit dir spielen .«
Die Sonne glänzte auf dem Haar aus goldener Seide an ihrer Schulter, und dieses Haar lebte, vom Windhauch bewegt.
»Armer, kleiner Junge! ... Armer, kleiner Herr!«
Bauern, die sich angstvoll die große Allee herauf näherten, sahen sie auf sich zukommen.
Sie nahmen ihr ihre Bürde aus den Händen und führten sie zum Haus des Intendanten Molines. Die Dragoner hatten es geplündert, aber nicht in Brand gesteckt. Jemand trug einen Stuhl in den Hof hinaus, und man nötigte sie, sich zu setzen. Sie wollte das Haus nicht betreten. Es gelang ihnen, ihr ein wenig Branntwein einzuflößen, und sie blieb dort, stumm, die Hände auf den Knien.
Die ganze Umgebung, alles, was an Bauern in den Pachthöfen und Weilern verblieben war, fand sich in Plessis ein. Betroffen starrten sie zu der trägen Rauchwolke hinauf, die über die Baumkronen zog. Der ganze rechte Flügel, in dem die Küchenräume untergebracht waren, hatte in Flammen gestanden. Der Brand war erloschen, man wußte nicht recht, weshalb, so daß den Überlebenden ein schlimmeres Schicksal erspart geblieben war. Man zog Malbrant Schwertstreich zwischen den Möbeln hervor, hinter die er geflüchtet war und die ihn wunderbarerweise beschützt hatten; dazu fand man drei der Mägde, denen die Rohlinge nichts anderes als Gewalt angetan hatten. Sie schluchzten, die Gesichter in den Armbeugen verborgen.
»Was denn? Was gibt’s denn da zu zetern?!« schimpften die alten Frauen. »Wer hat das nicht einmal in seinem Leben durchmachen müssen? Ihr seid nicht gestorben, das ist die Hauptsache! Und für den Rest: schnell getan, schnell vergessen, so will’s die Vernunft.«
Gegen Mittag zeigte Flipot seine Eichhörnchennase. Es war ihm gelungen, mit einem der kleinen Lakaien aus einem Fenster zu entkommen und sich im Wald zu verstecken.
Ein aus einer Wunde blutender Kopf lehnte sich gegen die Knie Angéliques, unterdrücktes Schluchzen schüttelte die schwachen Schultern. Es war der Abbé de Lesdiguière, die Stirn von einem schmutzigen Verband umwunden.
»Es ist entsetzlich, Madame! Sie haben mich verletzt. Ich habe Euch nicht bis zum Ende verteidigen können ... auch den armen Kleinen nicht.«
Man hatte ihn offenbar seines geistlichen Gewandes wegen geschont. Angélique stieß ihn zurück, von einem Schauder erfaßt, der nicht ihm, sondern ihr selbst galt.
»Berührt mich nicht . um alles in der Welt, berührt mich nicht!«
Und plötzlich:
»Wo ist Florimond?«
»Ich weiß es nicht. Auch den jungen Nathanaël hat man in Cambourg nicht gefunden.«
Von neuem in ihre Betäubung zurückfallend, schien sie ihn nicht zu hören. Sie sah den lachenden Florimond und Charles-Henri vor sich, während sie Gontran zu seinem Bild Modell standen.
»Kleiner Cherub mit dem Engelslächeln - Ihr seid allerliebst.
Kleines Wichtelmännchen voller Bosheit - Ihr seid allerliebst.«
»Die arme Dame wird närrisch«, flüsterte eine der Frauen, die sich in ihrer Nähe aufhielten.
»Nein, sie betet. Sie sagt die Litaneien auf.«
»Was ist das für ein Lärm dort im Park?« fragte Angélique, aus ihrer Versunkenheit erwachend.
»Es sind die Schaufeln der Totengräber, Madame. Man bestattet die Leichen.«
»Ich will hinüber.«
Sie erhob sich mühsam. Der Abbé de Lesdiguière stützte sie. Am Rande des Waldes, nahe dem Gitter, hatte man mehrere Gräber ausgehoben und die Leichen hineingebettet. Im Grase lagen nur noch der Koch Lin Poiroux und seine Frau Aurélie, die man sich wegen ihres Leibesumfanges bis zum Schluß aufgespart hatte.
»Wir haben den kleinen Herrn dort drüben beerdigt«, murmelte einer der Bauern, auf einen abseits liegenden Mooshügel deutend. Das Grab war bereits mit Feldblumen bedeckt.
Der Mann fuhr gedämpft fort, als bedürfe ihre Eile angesichts des erstarrten Gesichtsausdrucks Angéliques einer Entschuldigung:
»Wir haben es schnell ein wenig geschmückt. Später wird man ihn mit allen Ehren in die Kapelle von Plessis überführen. Aber die Kapelle ist verbrannt .«
»Hört zu«, sagte Angélique. »Hört mich an .«
Ihre erloschene Stimme festigte sich plötzlich und erhob sich nach und nach zu leidenschaftlichem Klang:
»Hört mich an, Bauern!« rief sie. »Hört ... Die Soldaten haben den letzten der Plessis-Bellière getötet ... den Erben des Besitzes. Das Geschlecht ist tot ... ist verloren! Sie haben ihn getötet. Sie haben euern Herrn getötet. Ihr habt keinen Herrn mehr ... Es ist zu Ende ... zu Ende für immer ... Es gibt keine Herren von Plessis mehr ... Die Linie ist erloschen!«
Die Bauern stießen einen klagenden, schmerzlichen Schrei aus, und das Schluchzen der Frauen verdoppelte sich.
»Es waren die Soldaten des Königs, die dieses Verbrechen begingen. Die Armee, die bezahlt wird, um die Leute der Provinzen zu mißhandeln und ihre Ernten zu verwüsten ... Nichtsnutzige Diebe, die nur aufhängen und entehren können . Fremde, die unser Brot essen und unsere Kinder töten ... Werdet ihr ihre Verbrechen ungestraft lassen? ... Wir haben sie satt, diese Briganten, denen wir im Namen des Königs auf Gnade und Ungnade ausgeliefert sind. Der König selbst würde sie hängen lassen. Wir aber . wir werden es für ihn übernehmen . Bauern, ihr werdet sie nicht aus dem Lande entwischen lassen, nicht wahr? Ihr müßt zu euren Waffen greifen und euch auf die Suche nach ihnen machen ... und euren kleinen Herrn rächen .«
Während des ganzen Tages verfolgten sie die Dragoner Montadours. Die Spuren, die die Truppe auf ihrem Wege zurückließ, waren leicht zu bemerken, und gegen Abend erfüllte sie eine Art bitterer Freude, als sie erkannten, daß die Banditen den Fluß nicht hatten überqueren können und sich erneut ins Innere der Provinz wandten. Ahnten sie, daß sie verfolgt wurden? Zweifellos nicht. Aber sie waren auf verödete Dörfer gestoßen, und dieses schweigsam gewordene, vom Mysterium seiner Bäume eingehüllte Land begann sie zu bedrücken.
Die Nacht kam, dann der Mond. Auf der Sohle der Hohlwege zogen die Bauern dahin. Sie waren nicht müde. Ihr Instinkt sagte ihnen, daß das Ende der Jagd nahe sei. Der dichte Teppich roter Blätter erstickte das Geräusch ihrer groben Holzschuhe, und die schwerfälligen Männer bewegten sich auf eine geschmeidige, umsichtige Art, die ihre Wilddiebsvergangenheit verriet.
Angélique war die erste, die die Kinnketten der weidenden Pferde klirren hörte.
Sie gab das Zeichen zum Halten und spähte, sich auf den oberen Rand der Böschung schwingend, zwischen den entlaubten Zweigen hindurch. Auf einem vom Mondlicht erhellten freien Platz, einem sanft geneigten Feld, schliefen die aneinandergedrängten Dragoner, von der Orgie der vergangenen Nacht und einem beunruhigenden, ziellosen Marsch erschöpft. Ein Posten döste neben den Glutresten eines Feuers, von dem ein dünner Rauchfaden träge zum sternen-bedeckten Himmel aufstieg.
Martin Genêt, einer der Pächter, der die Führung der Bauern übernommen hatte, erfaßte die Situation sofort.
Geflüsterte Befehle gingen von Mund zu Mund, und ein Teil der Leute entfernte sich, ohne daß mehr als ein leises Rascheln der Blätter ihre Bewegung verraten hätte.
Bald darauf erhob sich von der Talseite her der zitternde Schrei des Käuzchens, dem ein zweiter antwortete.
Der Posten rührte sich ängstlich, lauschte und versank wieder in seine Träumereien.
Von den vier Ecken des Feldes glitten lautlos schnelle Schatten heran. Kein Schrei zerriß die Stille, nur hier und da war das dumpfe Grunzen von Männern zu hören, die erwachten und von neuem in Schlaf versanken.
Am folgenden Tag erreichte Leutnant Gormat, der die Verbindung zu Montadour herstellen wollte, mit einer Abteilung von sechzig Männern die Region. Er suchte die Dragoner. Er fand sie inmitten eines Feldes mit durchgeschnittenen Kehlen, noch in der Haltung Schlafender, Die Tat war mit Sensen und Winzermessern begangen worden. Montadour war nur an seinem Wanst zu erkennen. Sein Kopf war verschwunden.
Der Ort wurde später das Feld der Dragoner genannt. Niemals wuchs dort etwas anderes als Quek-ken und Dornen .
So begann der große Aufstand des Poitou.
Vergeblich mißbilligte der König das Verhalten Monsieur de Marillacs und ersetzte ihn als Gouverneur der Provinz durch Baville.
Der von dem alten Intendanten Molines überbrachte Fürsprachebrief - der König hatte Molines sofort selbst empfangen, als er in Versailles erschienen war - kam zu spät.
Während Seine Majestät noch Louvois, den scheinheiligen, verdrießlichen Komplizen Marillacs, zu sich rufen ließ, um sich von ihm über die genaue Lage informieren zu lassen und Anordnungen zu treffen, explodierte bereits das Poitou.
Aus der Ferne war nicht zu erkennen, daß die Tat, die diesen jähen Ausbruch auslöste, die schmutzige Ermordung eines kleinen Jungen mit goldenen Locken gewesen war. Die Situation verwirrte sich alsbald, und lange Zeit schrieb man die Zerstörung des Schlosses Plessis und das Verschwinden der Marquise und ihrer Söhne den Raubzügen der Protestanten zu. Es wäre ein leichtes gewesen, beides auf das Konto der Ketzer zu setzen. Doch die ersten Truppen, die in die Gâtine einzudringen versuchten, stießen zu ihrer Verblüffung auf Katholiken, kommandiert von einem Gordon de la Grange, Angehörigen einer alten Familie, die das Schicksal aller auf ihren Gütern lebenden Geschlechter teilte, bei Hofe schlecht angeschrieben zu sein.
Indessen nahm im Süden des Sumpfgebietes der Hugenotte Samuel de La Morinière seine Offensive von neuem auf.
Die königlichen Regimenter zogen sich auf eine von Loudun über Parthenay nach Niort führende Linie zurück, während der Winter mit seinen mal-venfarbenen Nebeln über die kahlen Wälder hereinbrach und ein erbitterter Kleinkrieg begann, grausam durch seine ungezügelte Brutalität, seine geheimnisumwitterte Verschwiegenheit, durch den eigensinnigen Charakter derer, die es zu befrieden galt. Sie waren wie Schatten. Mit wem sollte man verhandeln in diesem von Einwohnern wimmelnden Land, die man niemals sah, in diesem in sich verschlossenen Gebiet, das einer Wüste glich? Warum dieser unvermutet ausbrechende Groll? Auf wen hatten sie es abgesehen? Auf den König, die Truppen, die Steuereinnehmer? ... Warum schlugen sie sich? Für religiöse Fragen, für Angelegenheiten der Provinz, aus Lokalpatriotismus? Welche Ziele wollten diese erdigen Maulwürfe, diese ungehobelten, plötzlich wild gewordenen Junker erreichen?
Im Rat des Königs fand man es angemessen, die Arme gen Himmel zu heben und sich in den verschiedenartigsten Vermutungen zu ergehen. Im Grunde hatte niemand laut zu sagen gewagt, was man wußte, was man spürte. Niemand wäre bereit gewesen, sich einzugestehen, daß dieser Schrei, dieses dumpfe Knurren des gejagten Wildes, das verletzt in der Tiefe seines Waldes erwacht und sich entschließt, bis zum Tod zu kämpfen, das letzte Aufbäumen eines Volkes war, das sich gegen seine Versklavung wehrt.
Der Winter begann für das Poitou mit Not und Hunger. Das Bekehrungsunternehmen Monsieur de Marillacs hatte infolge der leichtfertigen Vernichtung der protestantischen Ernten eine schon durch erdrük-kende Steuern und ein vorhergegangenes schlechtes Jahr gefährlich aus dem Gleichgewicht geratene Lage in eine allgemeine Katastrophe verwandelt. Während Montadour im Umkreis protestantischer Kirchen das Getreide in Brand steckte, waren die Steuerbeamten dort, wo sich katholische Glockentürme erhoben, so weit gegangen, Häuser abreißen zu lassen, um ihr Gebälk verkaufen zu können. Um sich der Abgaben zu versichern, hatten sie Betten, Kleidungsstücke, die zur Arbeit benötigten Tiere, ja selbst die Brote beschlagnahmt, jene runden, duftenden, auf Brettergestellen für die sechs Wintermonate gestapelten Laibe. Was bedeutete schon der Ruin eines Menschen! Waren es mehrere, bedeutete es ein verlassenes Dorf, Elende auf den Straßen, wenn der Herbst kam, abgezehrte Gestalten, die sich an denen schadlos halten wollten, die sich an ihnen schadlos gehalten hatten.
Provianttransporte, die für die Armee nach Nantes abgingen, wurden unterwegs von den Bauern geplündert.
Nachdem man bei klarem Himmel und warmer Sonne vom Sommer alles hatte erwarten können, war durch die Unruhen die letzte Hoffnung vernichtet worden, und der Hunger war da.
Erst allmählich erfuhr man von der Rolle, die eine Frau in diesem jähen Aufflammen des Hasses spielte und wie es ihr geglückt war, Protestanten und Katholiken, die Adligen, die Bauern und die Bürger der kleinen Städte mit einem gemeinsamen Ziel um sich zu sammeln.
Bei Hofe lächelten nicht wenige über die Legende von dieser Frau.
Andere glaubten daran. Die Zeit der schönen Aufrührerinnen war nicht fern, und niemand in Frankreich hatte vergessen, daß es einstmals ein Weib Jehane gegeben hatte, das, aus ihrem Heimatwinkel aufgebrochen, ihren Reitern im Kampf vorangeritten war. Die jetzige war keine Bäuerin, denn der Adel hörte auf sie. Nach und nach versammelten die obskuren Krautjunker mit den glänzenden Namen, über die man sich in Versailles lustig machte, weil sie ärmer als Bettler waren, ihre Lehnsleute um sich, um sie auf eine an ein Wunder grenzende Weise zu bewaffnen.
Alle nur denkbaren Wehrzeuge tauchten auf, der Waffensammlung über dem Kamin entnommen: Musketen, Lanzen und Hellebarden, alte Armbrüste, »lansquenettes«, kurze, beidseitig geschliffene Schwerter, Erinnerungen an die deutschen Landsknechte der Religionskriege, die, bärtig, mit Federn geschmückt und in allerlei Flitterzeug gekleidet, der Schrecken der Bevölkerung gewesen waren. Ihr kriegerischer Geist ging nun in diejenigen ein, die ihre nach den Schlachten auf den Feldern aufgelesenen Schwerter trugen. Sogar Pfeil und Bogen der Wilddiebe tauchten auf, furchtbare Waffen, wenn die, die sie handhabten, unsichtbar in der dichten Krone einer Eiche über einem Hohlweg lauerten. Die Soldaten des Königs begannen sehr bald den Brustpanzern von ehedem nachzutrauern.
Man erzählte sich auch, daß diese Frau schön und jung sei, woher ihre Macht über die Anführer des Krieges rühre. Man sehe sie nur zu Pferd, als Amazone, in einen dunklen Mantel gehüllt, dessen weite Kapuze ihr blondes Haar verberge.
Angélique besuchte alle Schlösser, alle Herrensitze des Landes. Die stolzen auf den Hügeln hinter ihren mit fauligem Wasser gefüllten Gräben und die zur Verteidigung der Übergänge an den Flußläufen errichteten. Hohe Wehrtürme, die nichts mehr verteidigten und in deren Schatten sie vor Kälte erstarrte Familien an dürftigen Kaminfeuern fand. Für Festlichkeiten geschaffene Renaissanceschlösser, in denen Fluchten riesiger Salons ihrem Zerfall entgegen träumten. Nur noch Mäuse durchhuschten sie. Es war zu kalt in ihnen. Die Schloßherren waren zu arm. Oder einer ihrer Söhne war Höfling in Versailles und vergeudete das Erbe. Burgen aus mächtigen Quadern, behaglicher in ihrer bürgerlichen Einfachheit, in denen man beschieden lebte, verzehrt von Ehrgeiz, ohne es jemals weiterzubringen.
Angélique fiel es nicht schwer, die Worte zu finden, die diese Leute verstanden. Sie rief ihnen ihre Namen ins Gedächtnis zurück, den Ruhm ihrer Vorfahren und ihre gegenwärtige Erniedrigung.
Man rief die Bauern im Hof des Schlosses oder an einem abgelegenen Ort zusammen. Und wenn sie dann, eine stolz aufgerichtete, schlanke Gestalt, auf ihrem Pferd oder auf der obersten Stufe einer Treppe aus altersgrauem Stein erschien und mit klarer, ruhiger, in der frostigen Luft weithin tragender Stimme zu sprechen begann, fühlten diese primitiven Wesen in ihrem Innern ein Erbeben, das sie zu sich selbst erweckte und sie zum Zuhören zwang.
Über all das, was seit langem wie eine Wunde in ihren schweigsamen Herzen war, sprach sie zu ihnen. Sie erinnerte sie an die beiden schrecklichen Jahre 1662 und 1663, in denen sie Heu und Gras, Baumrinde, Kohlstrünke und Wurzeln gegessen hatten, in denen sie darauf verfallen waren, Nußschalen und Eicheln zu mahlen, um die letzte Handvoll Roggen oder Hafer damit zu strecken. Sie erinnerte sie an ihre toten Kinder, an ihre Auszüge in die Städte - in diesen Jahren waren Nicolas und Scharen ausgehungerter Bauern wie Wölfe in Paris eingefallen. In diesen Jahren auch hatte der große Karneval in Paris stattgefunden, und man hatte den König und seinen Bruder und die Fürsten im funkelnden Glanz ihres Geschmeides gesehen.
Im Jahr darauf war es gewesen, während sie ihre Wunden zu verbinden begannen, daß der Minister Colbert die Salzsteuer wieder eingeführt hatte, die »für Topf und Salzfaß« und die »für Eingesalzenes und Vieh«, die Verpflichtung also für alle, das unentbehrliche Gewürz zu hohen Preisen im Staatsspeicher einzukaufen ...
Indem sie an diese Dinge erinnerte, berührte sie einen empfindlichen Punkt der ganzen französischen Bauernschaft. Angesichts der Lawine der bevorstehenden Katastrophe sahen die während des Winters unbeschäftigten Bauern in ihrem Aufruf zur Rebellion zuerst die Möglichkeit, für die nächsten Monate die Zahlung der Steuern zu verweigern. Wenn man sich im Aufruhr befand, konnte man die Gerichtsvollzieher in die Brunnen werfen oder mit Mistgabeln verjagen. Und welche Erleichterung verhieß es, das wenige, was man besaß, für sich behalten zu können.
Sie sagte ihnen:
»Die Herren, die unter euch wohnen, sind eure wahren Herren. Wenn ihr hungert, hungern auch sie. Wie oft haben sie nicht den Zehnten, das Kopfgeld, die Steuer für den gemeinen Mann und seine Felder für alle auf ihrem Besitz gezahlt? Sie taten es, um euch gegen allzu räuberische Hände zu verteidigen.«
»Das ist wahr ... das ist richtig«, murmelten die Bauern.
»Folgt ihnen. Sie werden euch Wohlstand und eine neue Gerechtigkeit bringen. Es ist endlich Zeit, eurem Elend ein Ende zu setzen.«
Sie führte auch Zahlen an: die Verschwendung, die sie bei Hof mitangesehen hatte, die Bestechlichkeit der Beamten, die Maßnahmen der großen Finanziers, deren Schiebungen den Staat zwangen, jedes Jahr mehr und mehr Geld an der Quelle, das hieß: vor den Spartöpfen der Bauern abzufangen.
Und das Poitou griff zu den Waffen.
Städte wie Parthenay, Monterray, La Roche, die noch zögerten, wurden entweder durch Gewalt, durch Siege der protestantischen Truppen oder durch Überredung zu Parteigängern der Rebellion gemacht. Es gab nicht wenige Bürger, die Anlaß zur Unzufriedenheit mit dem König hatten. Angélique verstand es, mit ihnen die Sprache der Taler und Geschäfte zu sprechen. Die Vorräte der Städte wurden in Hinsicht auf das zu erwartende Hungerjahr aufgeteilt. Indessen hatten diese Maßnahmen und die Plünderungen militärischer Transporte nicht genügt, dieses Volk zu retten, das sich dem Bann des Königreichs ausgesetzt hatte, wenn die Bevölkerung der atlantischen Küste ihren Brüdern aus den Wald- und Sumpfgebieten nicht zu Hilfe gekommen wäre.
Es war ein vorwiegend protestantisches Gebiet, und es war auch das Land des Salzes, Objekt eines hitzigen, fast hundertjährigen Zanks zwischen den Einwohnern und der Krone. Ein Salzschmuggler aus Les Sables, Ponce-le-Palud, zog seine Zunft auf die Seite der Aufständischen hinüber. Und von nun an gelangten Lebensmittel über unbewohnte Küsten und verborgene, schwer zu überwachende Flüßchen ins Poitou. Gold zahlte für alles. Ein Bürger aus Fontenay-le-Comte hatte seinen Mitbürger klar gemacht, daß Gold nichts nützte, wenn man Hungers starb.
Das Königreich beobachtete das Poitou. Der Winter zog eine ebenso undurchdringliche Schutzmauer um seine Grenzen wie die Rebellion. Man wartete darauf, daß Kälte und Nebel, Eis und Schnee wichen, um in diese Bastion eindringen und die Leichen zählen zu können. Aber die Leute des Poitou starben nicht.
Während all dieser frostigen Monate blieb Angélique selten lange an ein und demselben Ort. Ihre Wohnungen waren die Hütten der Bauern. Sie suchte jeden auf, der ihr nützlich schien, ließ sich ebenso am wappengeschmückten Kamin eines alten Schlosses wie vor dem Herd einer Pächterin oder im Hinterzimmer des Ladens eines in seinem Orte einflußreichen Kaufmanns nieder. Es mißfiel ihr nicht, mit den Menschen verschiedenster Klassen zu sprechen, und das Verständnis, auf das sie überall stieß, bestärkte sie in ihrer Überzeugung. Die Saat wartete nur darauf, hochschießen zu können. Man spürte, daß etwas geschehen würde.
Doch ihre wirkliche Behausung, der Ort ihrer Wahl, blieb der Hohlweg, in dem die Hufe ihres Pferdes und der ihrer Begleiter widerhallten.
Unter ihnen befand sich der Baron du Croissec. Bei ihm hatte sie gleich nach dem Drama Gastfreundschaft gesucht und gefunden. Seitdem begleitete sie der dik-ke Mann mit einigen seiner Diener auf allen Wegen.
Die Protestanten unter Angéliques Leuten hatten sich den Truppen de La Morinières angeschlossen. Die andern hatten unter der Führung des Pächters Martin Genêt eine Art Freikorps gebildet; jeder blieb bei sich zu Hause, war aber bereit, auf das leiseste Zeichen hin bewaffnet zum Treffpunkt zu eilen.
Ständig bei Angélique blieben nur die überlebenden Diener von Plessis: Alain, der Stallknecht, der Küchengehilfe Camille, der alte Antoine mit seiner Armbrust, der Pariser Gassenjunge Flipot, der nicht gewußt hatte, was er sonst in diesen Wäldern hätte anfangen sollen, und schließlich Malbrant Schwertstreich, brummend, aber glücklich, das harte Leben eines militärischen Feldzugs wiederzufinden. Der Abbé de Lesdiguière war ihr von Anfang an nicht von der Seite gewichen. Sobald er sie nicht mehr sah, machte er sich auf die Suche nach ihr. Er hatte Angst vor dem, was sich hinter diesem glatten, wie gefrorenen Gesicht und diesem starren Blick verbarg. Die Furcht, daß sie versuchen könnte, sich das Leben zu nehmen, verfolgte ihn.
Im abendlichen Quartier verfiel sie zuweilen in ein undurchdringliches Schweigen, in dem sie ihre Umgebung zu vergessen schien. Sie saß vor dem Feuer in einem großen Saal, dessen Wände Wappen und Wandteppiche schmückten. Es war das Dekor ihrer Kindheit. Draußen heulte der Wind, rüttelte an altersschwachen Läden, und Wetterfahnen kreischten auf den spitzen Dächern einiger Türmchen. Und oft fügte sich zum Prasseln des Holzes das regelmäßige, unaufhörliche Auf und Ab der Stiefel des Herzogs de La Morinière auf den Fliesen. Er war da, marschierte hin und her, und sein riesiger Schatten glitt über die Mauern und zuckte im Spiel der Flammen. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, um ein Bündel Dornenzweige in den Kamin zu werfen. Diese Frau fror, er mußte sie erwärmen. Von neuem nahm er wie ein Tier im Käfig seinen Marsch auf. Sein Blick heftete sich auf das Profil der sitzenden, völlig abwesenden Angélique und auf die schmale Silhouette des Abbé de Lesdiguière, der sich auf einem Schemel im Hintergrund hielt und dessen Kopf zuweilen vor Müdigkeit auf die Brust sank. Er knurrte Worte ohnmächtiger Wut in seinen Bart. Es war nicht sosehr der kleine Abbé, dem er seiner Anwesenheit wegen grollte.
Das Hindernis, das sich zwischen ihm und dieser Frau erhob, die er mit immer wahnwitziger Leidenschaft begehrte, war von anderer Art und weit unbezwinglicherer Kraft als die Gegenwart eines zierlichen Pagen mit Mädchenaugen. Er hätte ihn mit einer Handbewegung beiseite wischen können, wenn da nicht etwas anderes gewesen wäre, gegen das weder sein unerbittlicher Wille noch die Leidenschaft seiner Liebe etwas vermochten.
Heute entglitt sie ihm für immer.
Als er von dem Überfall auf das Schloß Plessis erfuhr, war er in Eilmärschen dorthin zurückgekehrt. Mehrere Tage hatte er nach der verschwundenen Schloßherrin gesucht. Er hatte sie wiedergefunden. In den Zorn Samuel de La Morinières über die Verbrechen der Soldaten Montadours mischte sich ein Gefühl, das ihm bis dahin unbekannt geblieben war: Schmerz. Der Gedanke, daß man diese Frau entehrt hatte, brachte ihn zur Raserei. Während er die Umgebung nach ihr durchforscht hatte, war er mehrmals versucht gewesen, sich in sein Schwert zu stürzen, um der Qual zu entgehen, die seinen Körper und seine Seele marterte. Er hatte nicht einmal mehr den Namen des Herrn auszusprechen, noch zu ihm zu beten vermocht.
Eines Abends, auf den Stufen eines Gebetskreuzes, unter einem stürmischen, von rasch ziehenden Wolken bedeckten Himmel, schien es dem grausamen Mann, als blute es aus seinem Herzen, und er spürte Tränen auf den Wangen. Er liebte. Das Antlitz Angéliques umgab sich für ihn mit dem Strahlenkranz einer nie gekannten Entdeckung: der Liebe.
Als er sie wiederfand, war er nahe daran, vor ihr auf die Knie zu sinken und den Saum ihres Kleides zu küssen. Die dunklen Ringe um ihre ruhigen Augen schienen ihr Geheimnis noch zu verstärken. Ihre ferne, durch das Leid geläuterte Schönheit brachte ihn aus der Fassung und schürte ein Fieber, das die Träume nur noch mehr erhitzten.
Sobald er sich allein mit ihr befand, wollte er sie in seine Arme nehmen. Sie erbleichte und wich mit schreckverzerrtem Gesicht zurück.
»Rührt mich nicht an . Nähert Euch nicht .«
Ihre Angst macht ihn toll. Er wollte ihre Lippen küssen, die andere beleidigt hatten, wollte deren Spuren löschen, sie besitzen, um sie zu reinigen. Ein namenloser Rausch, in dem sich Verzweiflung, eifersüchtige Liebe und das Verlangen, sich mit ihr zu vereinigen, mischten, überwältigte ihn, und er drückte sie, sich über ihre Bitte hinwegsetzend, leidenschaftlich an sich. Als er sie zuckend, weißer noch als Marmor, mit geschlossenen Augen in seinen Armen sah, beruhigte er sich. Sie war ohnmächtig geworden. Zitternd, verstört, bettete er sie auf die Fliesen.
Der Abbé de Lesdiguière lief herzu und verwandelte sich aus einem Seraph in einen rächenden Erzengel.
»Elender! Wie konntet Ihr es wagen, sie zu berühren?«
Er löste Angélique aus den harten, behaarten Händen, kämpfte gegen den Goliath ...
»Wie konntet Ihr es wagen? ... Versteht Ihr denn nicht? Sie kann es nicht mehr ertragen ... Sie kann die Berührungen der Männer nicht mehr ertragen!«
Sie brauchten fast eine Stunde, um sie wieder zu beleben.
Der Zufall brachte es in diesen Monaten des Guerillakrieges noch gelegentlich mit sich, daß sie sich bei ihren Partisanen begegneten. Das waren dann jene endlosen Abende, während derer die unbestimmt verschreckten Gastgeber den Hugenotten und die Katholikin allein ließen. Stille, Schritte, zuckende Flammen. So verstrichen die Stunden inmitten eines unausgesprochenen, herzzerreißenden Dramas.
Im Februar kehrte Angélique in die Gegend von Plessis zurück. Sie wollte die Ruinen ihres einstigen Wohnsitzes nicht sehen und stieg im Edelhof de Guéménée du Croissec ab. Der dicke Baron schien in seiner unerschütterlichen Anhänglichkeit an die Sache Angéliques eine Rechtfertigung für seine unfruchtbare Existenz als Krautjunker und Hagestolz zu finden. Er hatte sich in diesen vier Monaten häufiger und länger aus seinem Winkel gerührt als in seinem ganzen bisherigen Leben zusammen. Er fühlte sich als sicherer Freund Angéliques, auf den sie zählen konnte, was immer auch geschehen mochte, und es traf zu, daß er sie in keiner Weise bedrängte. Auch die drei La Morinière und andere Rebellenführer trafen dort zusammen, um die Lage zu besprechen. Es ließ sich voraussehen, daß die königlichen Truppen zu Beginn des Frühlings auf allen Fronten zum Generalangriff ansetzen würden. Mit den Verteidigungsmöglichkeit en im Norden war es nicht weit her. Konnte man mit den Bretagnern rechnen, die übrigens nur zur Hälfte Bretagner waren, da sie schon diesseits der Loire wohnten?
Wenig später kam es zu heftigen Kämpfen in der Umgebung. Die Gegend um Plessis blieb der Zielpunkt der königlichen Truppen, da die Bewegung von dort ihren Ausgang genommen hatte. Man schien zu wissen, daß sich die Rebellin des Poitou dort befand. Ein Preis war auf ihren Kopf gesetzt, obwohl man ihren Namen und ihre Person nicht kannte. Das Feld der Dragoner lag nahe, und die Erinnerung daran befeuerte die Soldaten auf ihren Vorstößen. Um ein Haar wäre Angélique in einen Hinterhalt geraten. Der Müller Valentin, zu dem sie sich mit dem verwundeten Abbé de Lesdiguière flüchtete, rettete sie. Um möglichen Nachforschungen zu entgehen, brachte er sie in die Sümpfe, wohin niemand sie verfolgen konnte.
Angélique verbrachte mehrere Wochen in Valentins Unterschlupf. Die niedrige, dicht am Wasser gelegene baufällige Hütte mit ihrem Dach aus schwärzlichem, mit Schilf untermischtem Stroh, das wie eine große Pelzmütze aussah, war behaglich. Ein besonderer, nur den Sumpfleuten bekannter Verputz aus bläulicher Tonerde, Stroh und Mist überzog die Innenseiten der Mauern mit einer Art Filz, der die Feuchtigkeit ansog und vor Kälte schützte. Es war lau und trocken drinnen, und wenn die Torfstücke im Kamin mit kurzen violetten Flammen brannten, vergaß man in der angenehmen Wärme fast die sumpfige, mit Wasser vollgesogene Landschaft, die sich ringsum ausbreitete.
Im Innern gab es nur einen einzigen niedrigen Raum mit einem seitlich angebauten Schuppen, halb Stall, halb Keller, aus dem man das blecherne Klingeln des Glöckchens einer Ziege hörte, die Valentin auf seiner Barke hergebracht hatte, der täglichen Milch und des Käses wegen. Auch ein Steinbassin war da, in dem sich die für die Suppe bestimmten schwarzen Aale schlängelten, ein Vorrat von Saubohnen und Zwiebeln, ein Brett mit Broten in halber Höhe der Wand und ein Faß Rotwein. Die Möblierung war seltsam. Zwar war das aus einer mit geschichtetem Farnkraut belegten Pritsche bestehende Bett reichlich einfach, aber Meister Valentin hatte nicht vergessen, den den Herzen der Leute aus der Vendée so teuren »Altar der Jungfrau Maria« in die Einöde zu schaffen. Man erzählte sich, daß der des Müllers aus der Mühle der Ukeleie der schönste von allen sei. Es war ein merkwürdiger, von einer Glaskugel gekrönter Aufbau, unter der ringsum ein Bild der Jungfrau Blumen aus Muscheln oder Perlen, Spitzen, seidene Bänder, Gehänge aus farbigen Steinen und in Sonnenform angeordnete echte Goldstücke angebracht waren. Angélique, die den Altar von früher her kannte, empfand bei seinem Anblick ein wunderliches Gefühl der Rückkehr in die Vergangenheit. Für einen kurzen Augenblick ließ die aufgehobene Zeit die staunende Bewunderung des Kindes in ihr erwachen. Doch schon in der nächsten Minute fand sie wieder zu sich zurück, zu den Wunden ihres Körpers und ihrer Seele, zu den Qualen der gereiften Frau, die sich in ihr regten wie die Aale im Bassin. Ein höllischer Kreislauf, düster und abstoßend, das war es, worauf ihre Gedanken hinausliefen, die oftmals einen fast physischen Schwindel in ihr erregten. Dann stützte sie sich gegen die Mauer. Ein Abgrund schien sich unter ihren Füßen aufzutun. Ihr Unbewußtes warnte sie vor einer furchtbaren Gefahr, die um sie herumstrich oder in ihr lauerte. Schließlich ließ der Aufruhr nach, und eine trügerische Ruhe kehrte in sie ein.
Hier verspürte sie keine Lust, unaufhörlich vor sich selbst zu fliehen wie auf dem festen Boden, wo sie gezwungen war, immer neue Hindernisse zwischen sich und den Verfolgungen des Königs von Frankreich aufzutürmen, der für sie zu einer Schreckgestalt, zur fixen Idee geworden war. Ihr hierher zu folgen, wagten die Soldaten des Königs nicht. Sie entschloß sich, noch ein wenig zu warten. Sie würde im Frühling die Sümpfe verlassen, wenn die Offensiven begannen. Dann mußte sie da sein, um den sinkenden Mut neu zu beleben, um jedem einzelnen den Einsatz des hohen Spiels ins Gedächtnis zu rufen.
Valentin brachte ihr Neuigkeiten. Das Land war ruhig. Im Kriegszustand, aber ruhig. Man fuhr fort, Truppen auszuheben, vor allem aber, gegen den Hunger zu kämpfen. Durch die Rebellion abgeschirmt, hatte man die mageren Reserven vor den bodenlosen Schlünden der Requisitionen und Steuerforderungen bewahren können. So fand das Land seinen notdürftigen Unterhalt. Und man beglückwünschte sich. »Alles geht besser, wenn man es unter sich ausmacht.« Würde man die so notwendige Freiheit zu verteidigen wissen? Allenthalben bereitete man sich darauf vor.
Meister Valentin kam fast jeden Tag. Kehrte er dazwischen zu seiner Mühle zurück? Ging er fischen, oder jagte er im Schilf? Oft erschien er mit vollen Netzen oder mit buntfedrigen Vögeln, die mit baumelnden Köpfen von einem Stecken herabhingen.
Die Bewohner der Hütte sprachen wenig. Der kranke Abbé schlief oben im Heuschober. Seine Verletzung war dank Kräuterumschlägen geheilt. Aber er hatte oft Fieber. Er war wie ein schwächlicher, sanfter Schatten zwischen zwei anderen, gleichfalls an ihre Träume verlorenen Schatten. Drei Wesen, die durch Welten getrennt schienen: eine schöne, in Tragik verstrickte Frau, ein schweigsamer Müller mit trägem, wunderlichem Geist, ein kleiner höfischer Abbé, blaß und fröstelnd, alle drei eingeschlossen in die Stille der toten Gewässer.
Angélique schlief auf dem Lager aus Farnkräutern unter einem schweren Schafspelz. Ihr Schlaf war tief und traumlos, wie sie ihn bisher nicht gekannt hatte. Das Drama schien keinerlei Spuren in ihrer Physis zurückgelassen zu haben. Wenn sie erwachte, hörte sie draußen das Geräusch des auf die glatte Oberfläche des Sumpfes fallenden, sein leises Raunen ins Unendliche vervielfältigenden Regens. Oder auch das Quaken der Frösche, die spitzen Schreie der Wasserratten, den Ruf der Nachtvögel, das vielfältige Geflüster des sumpfigen Dschungels. Und eine Art Frieden kam über sie.
Wenn Valentin da war, sah sie auch ihn des Nachts in seinem Lehnstuhl aus Stroh und poliertem Holz. Seine Augen waren offen, und der bläuliche Widerschein der Flammen zuckte über seine groben, ausdruckslosen Züge. Zuweilen leuchtete es kurz in der Tiefe seiner Augen auf. Sie hatte den Eindruck, daß er sie beobachtete. Dann schloß sie die Lider und schlief wieder ein.
Meister Valentin bedeutete ihr nicht mehr als die Nähe eines vertrauten Menschen aus der Vergangenheit, der ihr diente. Er schnitt die Torfstücke für das Feuer zurecht, melkte die Ziege, schob die Milch zum Gerinnen in das Loch unter dem Kaminstein, bereitete Suppe und Fisch und ließ die Glut aufflammen, um die Soße nicht zu scharf werden zu lassen. Er hätte einen Koch abgegeben, würdig, unter dem großen Vatel zu dienen. Manchmal brachte er ihr ein Körbchen voller mit Käse gefüllter, aus feinstem Mehl zubereiteter kleiner Kuchen, wie man sie zu Ostern auf dem Lande aß, mit schwarzer Kruste und goldbraunem Teig. Es konnte geschehen, daß Angélique mit plötzlicher Gier über sie herfiel. Sie hatte oft Hunger. Ein Licht, gleich einem Lächeln, glomm in den undurchdringlichen Augen des Mannes auf, während er zusah, wie sie ihre weißen Zähne in den Teig grub. Unangenehm berührt hielt sie inne und trat ins Freie, um diesem Blick zu entgehen.
Als sie auf die kleine Sumpfinsel gekommen war, hatte noch der Winter regiert, und die überschwemmte Erde erinnerte an die Wattlandschaft früherer Zeiten, deren salzige Schlammwogen von Seeigeln, Mollusken und fossilen Muscheln wimmelten. Noch immer kamen bestimmte Meervögel, um in den Schilfgürteln zu nisten. Die hohen, von Holländern unter Heinrich IV. gepflanzten Pappeln veränderten den Meerescharakter der Landschaft, wie auch die Erlen, Espen und Eschen, die wie mit einer schwarz tuschenden, spitzen Feder auf die Lichtreflexe des Wassers oder auf die zarten Nebelschleier von der durchsichtigen Klarheit des Porzellans gezeichnet waren. Raben krächzten laut, wenn sie über die trost-lose Einöde dahinstrichen. Unten im Schilf verlor sich Angéliques Blick im Gewirr der Zweige, der hoch aufgeschossenen, aus ihrem Abbild auf dem Wasser wachsenden Stämme, die die unentwirrbare Struktur des Sumpfes bildeten. Diese Radierung in Schwarz und Weiß faszinierte ihr verzweifeltes Herz, und plötzlich glaubte sie in den ziehenden Nebeln Florimond, Charles-Henri und Cantor vorübergleiten zu sehen, drei kleine, verlorene, nur in ihren Umrissen erkennbare Gestalten, die einander an den Händen hielten. Sie schrie auf:
»O meine Söhne ... meine Söhne!«
Sie schrie, und ihre Stimme verlor sich in der grenzenlosen Weite, bis der Abbé de Lesdiguière durch den Schlamm gestolpert kam und ihren Arm ergriff, um sie sanft zum Haus zurückzuführen.
»Du hast deine Söhne geopfert«, raunte in ihr eine dumpfe Stimme. »Wahnsinnige! Du hättest niemals Versailles verlassen, niemals in die Länder des Orients gehen dürfen, die dich verdorben haben. Du hättest dich dem König unterwerfen müssen. Du hättest dich vom König nehmen lassen müssen .«
Und sie brach in wildes, trockenes Schluchzen aus, während sie leise nach ihnen rief und sie um Vergebung bat.
Der Frühling kam früh und überschwenglich, bedeckte die Sumpfebenen mit frischem Grün, begrub die trostlose Landschaft unter der Pracht seines Schmucks und gab den lang sich hinziehenden Kresseteppichen ihren meergrünen Schimmer wieder.
Die Seelilien mit ihrem Duft nach Wachs und Honig erblühten von neuem. Die Libellen begannen die Wasserflächen mit ihrem zarten Flug zu furchen, bevor sie sich, um sich auszuruhen, auf Vergißmeinnicht-und Minzebüscheln niederließen. In den Teichen tummelten sich wilde Enten, Wiedehopfe, dicke aschfarbene Gänse, scheue Reiher. Hinter dem Vorhang der Zweige sah man lautlose Barken vorüberziehen. Gleich dem Forst ist der Sumpf eine Landschaft, die hinter scheinbarer Verlassenheit ein vielfältiges, wimmelndes Leben verbirgt. Die Hüttenbewohner, Abkömmlinge der Colliberts, bildeten unter sich eine volkreiche, unabhängige Republik. »In den Sümpfen gibt es böse Leute, die weder dem König noch dem Bischof Steuern zahlen«, hatte einstmals die Amme erzählt .
Man war erst im März, aber das Wetter gab sich ungewöhnlich milde.
»Der Winter wird nicht allzu grausam gewesen sein«, sagte Angélique eines Abends zu Meister Valentin. »Es sieht so aus, als seien die guten Geister mit uns. Ich werde bald das Moor verlassen müssen.«
Der Müller stellte eine Kanne dampfenden Rotweins und Gläser auf den Tisch. Die Mahlzeit war beendet. Der Abbé de Lesdiguière hatte sich auf dem Heu im Schober schlafen gelegt. Es war die Stunde, in der Angélique und Valentin vor dem Kamin warmen, mit Kräutern und Zimt gewürzten Wein zu trinken pflegten. Valentin schob ihr ein Glas zu und ließ sich auf einem Schemel nieder, um schlürfend einen Schluck von dem Gebräu zu trinken. Sie betrachtete ihn, als sähe sie ihn zum erstenmal, und wunderte sich über seinen mächtigen, gebeugten Rücken unter dem bis zu den Knien reichenden Rock aus grauem Tuch und über die schweren, mit Metallspangen verzierten Schuhe. Nicht Bürger, aber auch nicht Bauer. Meister Valentin, der Müller aus der Mühle der Ukeleie. Ein Unbekannter, der immer um sie gewesen war.
Er beobachtete sie über den Rand seines Glases. Die Farbe seiner Augen war grau.
»Du wirst fortgehen?«
Er sprach Patois, und sie antwortete ihm in derselben Mundart.
»Ja, ich muß wissen, wie es mit unseren Leuten steht. Mit dem Frühling wird auch der Krieg kommen.«
Er leerte das Glas auf einen Zug, danach ein zweites.
Er atmete heftig.
Dann stellte er das Glas auf den Tisch, trat mit hängenden Armen zu Angélique und sah ohne ein Wort auf sie hinunter.
Durch seinen Blick gereizt, reichte sie ihm den Becher, den sie geleert hatte.
»Tu ihn fort.«
Er gehorchte und heftete von neuem seinen Blick auf sie. Sein Gesicht war pockennarbig und gerötet, und hinter den halb geöffneten Lippen nahm sie seine gelblichen, schlechten Zähne wahr.
Ihr einsames Beieinander, das ihr bisher gleichgültig gewesen war, begann sie zu bedrücken. Nervös umklammerte sie die Armlehnen des Lehnstuhls, in dem sie saß.
»Ich gehe schlafen«, murmelte sie.
Er tat einen Schritt auf sie zu.
»Ich habe ganz frische Farne aufgelegt, frisch im Unterholz gepflückt, damit das Bett weicher ist.«
Er beugte sich zu ihr, nahm ihre Hand in die seine und sah sie flehend an.
»Komm mit mir auf die Farne.«
Angélique zog ihre Hand zurück, als habe er sie verbrannt.
»Was fällt dir ein? Bist du verrückt?«
Sie richtete sich auf und musterte ihn angstvoll. Der Abscheu, den er ihr einflößte - den jeder Mann ihr jetzt einflößte -, hinderte sie, sich zu verteidigen, wie sie es hätte tun müssen. Das Herz schlug ihr bis in den Hals hinauf. Wenn er sie berührte, würde sie ohnmächtig werden wie in den Armen des Herzogs de La Morinière. Sie erblaßte bei der Vorstellung des entsetzlichen Krampfes, der sie damals befallen hatte, während die Erinnerung an die Nacht von Plessis sich wieder vor ihr auftat und sie mit Schrecken erfüllte. In den Augen des Müllers glomm ein Licht auf, das sie in Furcht versetzte. Ungewiß und flackernd.
»Faß mich nicht an, Valentin!«
Er beherrschte sie mit seiner wuchtigen, ein wenig vornübergeneigten Gestalt, während er mit hängender Lippe und jener törichten, stumpfen Miene vor ihr stand, die sie von früher her kannte und die sie immer zum Lachen gebracht hatte.
»Warum nicht ich?« sagte er mühsam. »Ich, der ich dich liebe ... dessen ganzes Leben von der Liebe gestohlen wurde, die du mir ins Herz gepfählt hast. Ich habe lange genug auf diese Stunde gewartet ... ich dachte, es wäre unmöglich, aber jetzt weiß ich, daß du mir gehören wirst .«
Wie Nicolas! dachte sie verwirrt. Wie Nicolas! ...
»Ich schau’ dich an, seitdem du da bist. Ich sehe dich rund werden wie ein schönes, fruchtbares Mutterschaf. Und das Glück hat mir das Herz gesprengt, weil ich begriff, daß du keine Fee bist ... daß ich dich streicheln könnte, ohne daß du mich behext.«
Sie hörte seine Stimme, ohne den Sinn der zögernden, immer wieder stockenden Worte zu verstehen, die er in seiner rauhen und trotzdem sanft klingenden Mundart murmelte.
»Komm, Liebste, Schöne ... komm auf die Farne.«
Er näherte sich ihr und zog sie an sich, zärtlich ihre Schulter streichelnd.
Es gelang ihr, ihre Schwächeanwandlung zurückzudrängen. Mit geballten Fäusten schlug sie ihm ins Gesicht, so hart sie nur konnte.
»Laß mich, Bauernlümmel!«
Valentin erbebte und wich vor der Beschimpfung zurück. Er wurde wieder zum Müller der Ukeleie, dessen grobes und jähzorniges Wesen die Gegend fürchtete.
»Wie damals«, knurrte er, »wie damals in der Scheune während der Brautnacht. Du hast dich nicht verändert, aber was tut’s. Heute abend fürcht’ ich mich nicht, du bist keine Fee. Du wirst mir’s bezahlen. In dieser Nacht gehörst du mir.«
Er sagte die letzten Worte in einem Ton schrecklicher Entschlossenheit. Dann wandte er sich um, trat mit schwerem Schritt zum Tisch und füllte sein Glas.
»Ich habe Zeit, aber denke dran, daß man Meister Valentin nicht ungestraft beleidigt. Du hast mir das Herz ausgesogen, du wirst mir’s bezahlen.«
Sie dachte, daß sie versuchen müsse, den Wütenden ein wenig zu besänftigen.
»Versteh mich, Valentin«, sagte sie mit gebrochener Stimme, »ich verachte dich nicht. Aber wärst du der König selbst, würde ich dich zurückstoßen. Ich kann’s nicht ertragen, daß ein Mann mich berührt. Es ist nun einmal so. Es ist wie eine Krankheit. Du mußt mich verstehen .«
Valentin hörte ihr aufmerksam zu, ein böses Funkeln in den Augen. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über die weinfeuchten Lippen.
»Das ist nicht wahr. Du lügst. Es gibt genug andere, in deren Armen du dich lachend wälzt. Schließlich hat dich ja der berühren müssen, dem du dein Junges im Bauch verdankst.«
Der Ausdruck stammte aus dem Südwesten, aber man benutzte ihn zuweilen auch im Norden. Angélique kannte ihn. Ein Junges! Ein Kind! ...
»Was für ein Junges?« fragte sie, so offensichtlich verständnislos, daß er aus der Fassung geriet.
»Zum Teufel! Das, das du trägst! Auf die Weise hab’ ich’s doch begriffen, daß du keine Fee bist. Die Feen, sagt man, könnten keine Kinder von Menschen haben. Ein Zauberer hat’s mir erzählt. Die echten Feen haben keine Kinder.«
»Was für ein Kind?« rief sie mit schriller, überschnappender Stimme.
Der Abgrund tat sich auf. Er gähnte vor ihr. Die Drohung erhob sich aus dem Umkreis des Unbewußten, blähte sich auf, bemächtigte sich ihrer, während sie in dem Schwindelgefühl, das sie so oft für ein vorübergehendes Unwohlsein gehalten hatte, die ersten Lebensäußerungen eines Wesens erkannte, das sich in ihr rührte.
»Du kannst nicht behaupten, daß du es nicht wußtest«, erklärte die ferne, wie durch Watte gedämpfte Stimme des Müllers. »Seit fünf oder sechs Monaten trägst du es schon.«
Fünf oder sechs Monate! ... Aber es war ja unmöglich. Seit Colin Paturel hatte sie keinen Mann geliebt, hatte sie sich keinem gegeben ...
Fünf oder sechs Monate! ... Der Herbst! ... Die rote Nacht von Plessis, Musketenschüsse, Blut, Brand, das Schluchzen verstörter Kinder, das Kreischen der Frauen, das unerträgliche Bild der widerlich entblößten Dragoner ... Kampf und Schmerz, Demütigung ohne Ende, und fünf Monate später die schreckliche Wahrheit.
Sie stieß einen herzzerreißenden Schrei aus, der wie der Schrei eines verwundeten Tieres klang:
»Nein. Nein! Nicht das!«
Während jener Monate, in denen sie kreuz und quer durch das Poitou geritten war, von einem einzigen Ziel beseelt und sich selbst ganz fern, war ihr nichts aufgefallen. Sie wollte ihren Körper vergessen und ließ gewisse Unregelmäßigkeiten unbeachtet, deren Ursache sie in dem entsetzlichen Schock und in den Mühseligkeiten ihrer Reisen vermutete.
Nun erinnerte sie sich jedoch, und der Tatbestand ließ sich nicht mehr übersehen. Die monströse Frucht hatte sich entwickelt. Sie spannte ihr Kleid unter dem Mieder. Die Taille hatte ihre Zartheit verloren.
Der verstörte Ausdruck ihres Gesichts schien selbst Valentin zu beeindrucken. In der lastenden Stille war von draußen das Plätschern zu hören, das die Sprünge eines kleinen Fischs im stehenden Wasser verursachten.
»Was kann dir das machen?« begann der Müller von neuem. »Du bist schöner als je .«
Er näherte sich ihr wieder. Sie entzog sich seinen ausgestreckten Händen, flüchtete in die dunklen Ecken, entsetzt und unfähig, einen Schrei auszustoßen. Es glückte ihm, sie zu packen und in seine Arme zu ziehen.
In diesem Augenblick erschütterte ein heftiger Schlag die Tür, der hölzerne Riegel sprang auf, und die hohe Gestalt Samuel de La Morinières beugte sich, um in die Hütte einzudringen. Er durchforschte den Raum mit einem schnellen Blick und ließ einen dumpfen Laut hören, als er das Paar entdeckte.
Seitdem Angélique verschwunden war, hatte ihn die Angst nicht mehr losgelassen. Man hatte ihm erzählt, daß sie die Gefangene des verwünschten Müllers sei, der sie durch seine Zauberkünste im Moor festhalte. Es mochte alberner Aberglaube sein, aber nichtsdestoweniger blieb dieser papistische Müller eine höchst verdächtige, gefährliche Erscheinung. Warum war diese Dame ihm gefolgt? Weshalb kehrte sie nicht zurück? Da er es nicht mehr aushielt, hatte er sich, ohne sich anzukündigen, zu ihr führen lassen.
Er erschien und fand sie in den Armen dieses rohen, beschränkten Kerls.
»Ich schneide dir die Kehle durch, Bauernlümmel!« brüllte er und zog seinen Dolch.
Meister Valentin wich seinem Stoß knapp aus. Er sprang zur Seite und floh zum anderen Ende des Raums. Wut und Enttäuschung gaben seinem Gesicht einen Ausdruck, der nicht weniger schrecklich war als der des Hugenotten.
»Ihr werdet sie nicht kriegen«, sagte er wild keuchend. »Sie gehört mir.«
»Elender Schweinehund, ich werde dir dein Maul mit deinen eigenen Eingeweiden stopfen!«
Der Müller war ebenso groß und robust gebaut wie der protestantische Herzog. Aber er war ohne Waffen. Er glitt hinter den Tisch und belauerte jede Bewegung seines Gegners, der vor wahnwitziger Eifersucht zu beben und einen Augenblick der Unachtsamkeit abzuwarten schien, um sich auf ihn zu stürzen. Das Feuer war fast niedergebrannt, und die Winkel des Raums waren in Dunkelheit getaucht.
Valentin suchte der langstieligen Holzfälleraxt habhaft zu werden, die hinter dem Fischbassin lag.
Angélique hastete die Stiege zum Speicher hinauf, fiel ins Heu und schüttelte den tief schlafenden kleinen Lesdiguière mit all ihren Kräften.
»Abbé! ... Sie schlagen sich ... sie schlagen sich um meinetwillen!« Noch halb im Schlaf, betrachtete der junge Mann beim Licht der von einem Dachsparren herabhängenden alten Laterne erstaunt die über ihn gebeugte Frau mit den schreckgeweiteten Augen im bleichen Gesicht.
Er nahm ihre Hand:
»Fürchtet nichts, Madame. Ich bin da.«
Von unten drangen ein unmenschliches Brüllen und gleich darauf der dumpfe Laut eines schweren Falls herauf.
»Hört .«
»Fürchtet nichts«, wiederholte er.
Er griff nach seinem Degen und glitt sodann hinter Angélique die Stiege hinunter. Sie bemerkten den wie von einem Blitz niedergeschmetterten Körper des hugenottischen Patriarchen, der mit dem Gesicht nach unten auf dem hartgetretenen Boden lag. Sein Schädel war gespalten, in seinem wirren Haar öffnete sich eine rote, klaffende Wunde.
Valentin stand am Tisch und schüttete mit zurückgebogenem Kopf einen Krug Wein in sich hinein. Die Axt lehnte neben ihm. Sein grauer Rock war über und über mit Blut bespritzt. Seine Augen waren die eines Irren.
Er entdeckte Angélique und stellte den Krug mit befriedigtem Grunzen auf den Tisch zurück.
»Man muß immer gegen Drachen kämpfen, wenn man die Prinzessin erobern will«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Der Drache ist gekommen, ich habe ihn umgebracht ... Das wäre erledigt. Habe ich dich jetzt verdient?«
Er kam taumelnd auf sie zu, trunken vom Wein, vom gewaltsam vergossenen Blut, von seinen hochgepeitschten Begierden. Mit einer geschmeidigen Bewegung glitt der Abbé, den er noch nicht gesehen hatte, aus dem Hintergrund und stellte sich mit erhobenem Degen vor Angélique.
»Zurück, Müller«, sagte er in ruhigem Ton.
Das Auftauchen des schwächlichen Geistlichen verschlug dem Mann die Sprache. Aber er faßte sich schnell. Das Aufbrodeln seiner Leidenschaften erlaubte es ihm nicht mehr, auf die Stimme der Vernunft zu hören.
»Schert Euch weg, Abbé«, grunzte er. »Solcherlei Dinge gehen Euch nichts an. Ihr seid ein Unschuldiger. Verschwindet.«
»Laßt diese Frau in Frieden.«
»Sie gehört mir.«
»Sie gehört Gott. Entferne dich, verlasse dieses Haus. Setze das ewige Leben deiner Seele nicht aufs Spiel.«
»Genug gepredigt, Abbé. Laßt mich vorbei.«
»In Christi und der heiligen Jungfrau Namen befehle ich dir, dich zu entfernen.«
»Ich werde Euch wie eine Wanze zerquetschen.«
Ein Abglanz des halb erloschenen Feuers ließ die erhobene Degenspitze aufglänzen.
»Keinen Schritt weiter«, murmelte der Abbé, »keinen Schritt weiter, ich beschwöre dich.«
Valentin stürzte sich auf ihn.
Angélique barg ihr Gesicht in den Händen.
Der Müller wich zurück, die Hände in die Seite gepreßt. Neben dem Kamin brach er zusammen.
Plötzlich begann er zu brüllen:
»Erteilt mir die Absolution, Abbé! . Ich werde sterben! ... Ich will nicht mit einer Todsünde hinübergehen ... Rettet mich! ... Rettet mich vor der Hölle! Ich sterbe ...«
Seine unmenschlichen Schreie erfüllten die Hütte. Nach und nach wurden sie leiser, von wirren Klagen und dem Röcheln des Todeskampfes abgelöst, in das sich die gemurmelten Gebete des neben dem Sterbenden knienden Priesters mischten.
Endlich blieb nur noch Stille.
Angélique war unfähig, sich zu bewegen. Allein mußte der Abbé die beiden Leichen nach draußen schleppen, sie in die Barke ziehen und irgendwo in einem der Kanäle ins finstere Wasser stoßen.
Als er zurückkehrte, hatte die junge Frau sich nicht gerührt. Er verriegelte sorgfältig die Tür und häuf-te im Kamin Torf und Holz auf, um die Glut zum Aufflammen zu bringen. Dann näherte er sich Angélique und nahm ihren Arm, um sie zu stützen.
»Setzt Euch, Madame«, sagte er gedämpft. »Ihr müßt Euch wärmen.«
Und als sie ein wenig erholt schien:
»Der Mann, der den Herzog hierhergeführt hat, ist geflohen. Ich hörte, wie er davonstakte. Es war ein Collibert. Er wird nicht reden.«
Ein heftiger Schauer überlief sie.
»Es ist furchtbar«, murmelte sie.
»Ja, es ist furchtbar ... diese beiden Toten .«
»Ich denke nicht an sie. Ich denke an das, was er mir vorher sagte.«
Sie hob ihren starren Blick zu ihm.
»Er sagte mir, daß ich ein Kind erwarte.«
Der junge Mann senkte errötend den Kopf.
Sie packte seine Schulter und schüttelte sie zornig.
»Ihr wußtet es und habt mir nichts gesagt?«
»Aber Madame .«, stammelte er, »ich glaubte .«
»Närrin ... Närrin, die ich war! Wie konnte es geschehen, daß es so lange dauerte, bis ich begriff?«
Sie hatte wirklich den Eindruck, daß sie den Verstand verlor. Der Abbé de Lesdiguière wollte nach ihrer Hand greifen, doch sie entzog sich ihm, weil sie die schwache Bewegung des unnennbaren Wesens in sich spürte. Es war schlimmer, als sich lebendig von einem unreinen Tier verschlungen zu fühlen.
Sie wehrte sich, raufte sich das Haar, drängte zur Tür, um sich in den Sumpf zu werfen, während er sie anflehte und zurückhielt und sie ihn von sich stieß, an eine von Schreckensbildern genährte Raserei verloren, in der sie vergeblich die ernste, sanfte Stimme zu hören suchte, die ihr von Gott sprach, von den seltsamen Wegen des Lebens, vom Beten und schließlich schluchzend Liebesworte murmelte.
Endlich ließ der Aufruhr in ihrem Innern nach, und ihre Züge fanden nach und nach die Ruhe der letzten Tage wieder. Der Abbé beobachtete sie besorgt, denn er spürte, daß sie einen unabänderlichen Entschluß gefaßt hatte, den sie hinter einem mühsamen Lächeln zu verbergen suchte.
»Geht schlafen, mein Kleiner. Ihr seid am Rande Eurer Kräfte.«
Ihre Hand streichelte mitleidig das braune Haar, das das zarte Jünglingsgesicht umrahmte, in dessen schönen Augen sie Schmerz und glühende Anbetung las.
»Alles, was Euch verletzt, Madame, trifft auch mein Herz.«
»Ich weiß, mein armer Junge.«
Sie drückte ihn gegen die Brust und fand Trost darin, ihn bei sich zu wissen, weil er rein war und weil er sie liebte und weil das alles war, was ihr in dieser Welt an Schönem blieb.
»Mein armer Schutzengel ... Geht schlafen.«
Er küßte ihr die Hand und entfernte sich zögernd, noch immer beunruhigt, aber so erschöpft, daß sie ihn auf den Sprossen der Stiege stolpern und schwer auf sein Lager fallen hörte.
Mehrere Stunden lang verharrte sie reglos wie eine Statue, doch als der erste Schein der Dämmerung den Horizont zu streifen begann, erhob sie sich lautlos, hüllte sich in ihren Mantel und trat aus der Hütte. Die Barke des Müllers war mit einer Kette an einem in die Lehmwand eingelassenen Ring festgemacht. Sie löste die Kette, ergriff das hölzerne Ruder, mit dem sie besser umzugehen verstand als mit der Stange, und stieß das Fahrzeug auf den grünen Weg des Kanals hinaus.
Das Licht war noch ungewiß. Die Barke glitt in das Zwitschern und Lärmen der erwachenden wilden Vögel.
Angélique dachte an den kleinen Abbé. Er würde die Augen öffnen, sie suchen und verzweifelt nach ihr rufen. Aber er würde sie nicht finden und daran hindern können, das zu tun, was sie vorhatte. Unter dem Schuppendach lag eine Jolle. Mit ihrer Hilfe würde es ihm möglich sein, die nächste Siedlung der Hüttenleute zu erreichen.
Die Sonne stieg über den Horizont und verwandelte den lichten, dünn ziehenden Nebel in goldene Schleier. Die Wärme nahm zu, während Angélique durch die Kanäle irrte, deren Wasser die Farbe von Absinth oder irisierendem Perlenglanz annahm. Noch am Vormittag gelangte sie auf trockenen, festen Boden.
»Du wirst es tun, Melusine. Du wirst es tun, oder ich werde dich verfluchen.«
Angélique krallte ihre Finger in die knochigen Schultern der Alten. Ihr schrecklicher Blick hielt dem der Zauberin stand. Sie waren wie zwei sich bekämpfende Unholdinnen, und wer sie im Halbdunkel der Höhle mit ihren aufgelösten Haaren und zornfunkelnden Augen bemerkt hätte, wäre entsetzt entflohen.
»Meine Verwünschung ist stärker als deine«, zischte Melusine.
»Nein. Im Tode wäre ich stärker als du. Ich würde dich um all deine Kräfte bringen, denn ich stürbe, wenn du mir das Mittel verweigerst. Ich würde mir einen Dolch in den Leib stoßen, um es zu töten.«
»Es ist gut«, brummte die Alte, plötzlich nachgebend. »Laß mich los.«
Sie schüttelte ihre alten, schmerzenden Knochen unter den Sackleinwand-Lumpen. Ein weiterer Winter in ihrem feuchten Loch hatte die mähliche Verwandlung beschleunigt, die dieses menschliche Wesen in den Bereich des Vegetativen und Animalischen zurückwarf, indem ihr Körper das Aussehen eines alten, geborstenen Baumstumpfes und ihr Haar das von holzigen Pflanzen oder Spinnweben annahm, während ihr Blick an den eines im Dickicht lauernden Fuchses erinnerte.
Sie humpelte zum Herd und beugte sich argwöhnisch über das in einem Zuber brodelnde Wasser, dann warf sie, als habe sie sich jetzt erst endgültig entschieden, eine unbestimmbare Anzahl von Kräutern, Blättern und Pülverchen hinein.
»Ich hab’s nur deinetwegen gesagt. Es ist zu spät. Du bist schon in deinem sechsten Mond. Wenn du das Mittel nimmst, riskierst du’s, zu sterben.«
»Was tut’s? Das laß meine Sorge sein.«
»Störrischer Maulesel, der du bist . Nun gut. Wenn du stirbst, wird es nicht meine Schuld sein. Du wirst mir im Jenseits nicht am Zeug flicken?«
»Ich verspreche es dir.«
»Es wäre nicht gut, wenn ich die Ursache deines Todes wäre«, murmelte die Alte, »denn es ist dir bestimmt, lange zu leben. Es ist nicht gut, das Schicksal zu zwingen, wenn es sich für das Leben und nicht für den Tod entschieden hat ... Du bist kernig und kraftvoll. Vielleicht überstehst du’s. Ich werde das Schicksal beschwören, daß es dir hilft. Wenn du getrunken hast, wirst du dich auf den Stein der Feen legen. Der Ort steht unter dem Schutz der Geister, die dir beistehen werden.«
Erst in der Dämmerung war der Trank bereit. Melusine füllte einen hölzernen Humpen mit einem schwärzlichen Absud und reichte ihn Angélique, die das Gefäß entschlossen bis zum letzten Tropfen leerte. Der Geschmack des Gebräus war nicht übel. Sie stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, trotz der Angst, die bei dem Gedanken an die kommenden Stunden in ihr aufstieg. Danach würde sie befreit sein. Das Verhängnis war von ihr genommen. Sie mußte den Mut aufbringen, die Prüfung zu bestehen. Sie erhob sich, um sich zur Lichtung des Steins der Feen zu begeben. Die Zauberin murmelte unaufhörlich Beschwörungen und schob ihr eine Art Nüsse in die Hand.
»Wenn du zu sehr leidest, knack eine oder zwei davon. Der Schmerz wird sich besänftigen. Und wenn das Kind heraus ist, läßt du es auf dem Stein der Druiden. Du wirst Misteln pflücken und es mit ihnen bedecken.«
Angélique folgte einem Pfad, auf dem das neue Gras überall durch die Schicht der toten Blätter drang, scheinbar zarte Hälmchen, deren biegsamer Kraft das Gewicht des Humus nichts anhaben konnte. Alles war grün und lebendig. Sie gelangte auf den Hügel, und vor ihr erhob sich der Dolmen, gestrandet wie ein Hai im schieferfarbenen Schatten des Abends. Ihre Füße wirbelten die raschelnden Blätter auf, und sie erkannte den Geruch der Eichen wieder, die mit ihren mächtigen, moosüberzogenen Sockeln und den starken Armen ihrer ineinander verschränkten Äste wie Ritter um die Lichtung aufgereiht waren. Sie streckte sich auf der von der Sonne durchwärmten Steinplatte aus; ihre Strahlen waren an diesem Tage so warm wie im Sommer gewesen. Ihr Körper verspürte noch keine Unruhe. Sie ließ ihre Arme zu beiden Seiten herunterhängen, und ihre Augen tranken die Schönheit des noch lichten Himmels, an dem ein winziger Stern flimmerte.
Hier, in diese Lichtung war sie immer gekommen, um mit den Kindern der Gegend zu tanzen. Sie hatten seltsame und verbotene Reime gesungen, um die Feen oder Kobolde hervorzulocken, von denen sie träumten, und sei es auch nur ein einziges Mal. Sie hörte ihre spitzen, schrillen Stimmen und das Stampfen ihrer kleinen Holzschuhe auf den herabgefallenen Eicheln und dem trockenen Heidekraut.
Dreht euch um, dreht euch um, hui, die Geister gehen um ...
Dann hatten sie aufgeregt durcheinandergeschrien: »Da, ich hab’ ihn gesehen! Einen Kobold! Er kletterte an der Eiche hoch. - Es war eine Maus! - Es war ein Kobold! .«
Die Nacht verdrängte das letzte Licht. Der Mond stieg hinter den Bäumen auf, rot zuerst, dann schweflig und gelb, um schließlich in silbriger Milde über der Lichtung zu leuchten.
Angélique wand sich auf dem grauen Stein. Der Schmerz hatte sich ihrer Eingeweide bemächtigt und ließ ihr keine Ruhe mehr.
Sie stöhnte, sich nach jeder Schmerzwoge fragend, ob sie die Kraft haben würde, einem neuen Ansturm standzuhalten.
»Es muß aufhören!« wiederholte sie sich.
Aber es hörte nicht auf. Der Schweiß rann ihr die Schläfen hinab, und das Licht des Mondes tat ihren Augen weh, die voller Tränen standen. Das Gestirn überquerte den Himmel mit unendlicher Langsamkeit. Seinen Weg begleitete eine Qual ohne Ende. Schließlich schrie sie auf, erschöpft, am Ende ihrer Kräfte, und die Bewegung der Zweige erweckte Gespenster zum Leben, die sich über sie beugten. Dieser schwarze Baumstamm war Nicolas der Bandit und jener Valentin mit seiner Axt, und der dritte, unter dessen schwerem Schritt auf dem Wege zu ihr die Äste knackend, war der schwarze, bärtige Hugenotte, dessen Augen wie zwei brennende Kerzen glühten und dessen Schädel wie ein Granatapfel aufgeplatzt war.
Diesmal sah sie die Kobolde mit verwirrender Geschwindigkeit an den Stämmen auf und nieder huschen, von schwarzen Katzen begleitet, deren Krallen leuchtende Spuren hinterließen, und Käuzchen und Fledermäuse, ihre alten Hexensabbat-Kumpane, flatterten ihr um den Kopf. Sie zitterte im Fieber. Als ein kaum noch zu ertragender Krampf sie überfiel, erinnerte sie sich der Nüsse, die ihr die Hexe gegeben und die sie in der Tasche verwahrt hatte. Sie aß eine von ihnen, und ihre Qualen ließen gleich darauf nach. Der Schmerz war noch immer da, aber gleichsam entfernt, wie erstickt. Gierig aß sie eine weitere und eine dritte, aus Furcht, sich dem nackten, grausamen Schmerz wieder ausgesetzt zu finden. Sanft ließ sie sich in einen todesähnlichen Schlaf hinübergleiten.
Bei ihrem Erwachen hatte der Wald sein drohendes Aussehen verloren. Ein Vogel sang auf der Spitze eines Astes unter einem perlgrauen, rosig überhauchten Himmel.
»Es ist zu Ende«, dachte Angélique. »Ich bin gerettet.«
Ermattet blieb sie liegen, ohne sich vorerst zu rühren. Endlich richtete sie sich auf. Ihr Körper schien ihr wie aus Blei. Sitzend und sich mit beiden Armen stützend, betrachtete sie dankbar ihre friedliche Umgebung.
»Du bist frei ... bist befreit.«
Aber nirgends waren Spuren des überstandenen Dramas zu sehen. Die Geister mußten sie beseitigt haben.
Angélique fand allmählich ihre geistige Klarheit wieder. Es war da etwas, was sie nicht verstand.
»Was ist geschehen?«
Die Antwort war eine kaum merkliche Bewegung, die sie in ihrem Innern spürte, und sie begriff, enttäuscht und wie vor den Kopf geschlagen. »Nichts ist geschehen. Ich habe vergeblich gelitten. Verwünscht! Verwünscht!«
Die Schande war ihr nicht genommen worden. Von neuem kam es wie ein Anfall von Wahnsinn über sie. Sie schlug sich mit Fäusten, stieß ihren Kopf gegen den Fels.
Dann sprang sie vom Stein und lief zur Höhle Melusines, die sie in ihrer Wut fast erwürgt hätte.
»Gib mir mehr von deinem Mittel .«
Um ihr elendes Dasein zu retten, fand die Zauberin Einwände diplomatischer Überredungskunst.
»Warum willst du deine Frucht loswerden, obwohl alle Welt schon deine Sünde gesehen hat? Warte noch zwei oder drei Monde ... Erwarte deine Stunde! ... Das Kind wird ohnehin deinen Leib verlassen, ob du willst oder nicht . und ohne daß du wie heute den Tod riskierst. Wenn es soweit ist, kommst du zu mir. Ich werde dir helfen . Danach machst du mit ihm, was du willst. Wirfst es in die Vendée, als Opfer in der Schlucht der Riesen oder legst es auf eine Türschwelle in der Stadt ...«
Angélique begann endlich auf sie zu hören.
»Ich werde nie den Mut finden, länger zu warten«, seufzte sie.
Doch sie wußte schon, daß die Zauberin recht hatte.
Sie verließ den Wald und stieß zu den beiden Brüdern des Herzogs de La Morinière. Sie fand sie im Schloß Ronçay, nahe Bressuire. Sie sagte ihnen, daß der Patriarch tot sei und daß sie sein Werk fortsetzen müßten. Es erwies sich als schwierig, sie nach den näheren Umständen dieses Todes zu fragen. Angéliques Haltung schreckte selbst die Kühnsten ab. Ihre Schwangerschaft war nun nicht mehr zu übersehen, und sie suchte sie auch nicht zu verbergen. Es war etwas in ihr, das Redereien darüber verbot.
Die beiden Brüder de La Morinière bezeigten ihr weiterhin die größte Ehrerbietung. Sie glaubten, daß es das Kind Samuel de La Morinières sei.
Auch den Abbé de Lesdiguière fand sie wieder. Sie kamen mit keinem Wort auf das Geschehene zurück, und der junge Geistliche nahm von neuem seinen Platz in der vagabundierenden Eskorte ein, die der Rebellin des Poitou folgte.
Mit dem Frühling durchlief ein Zittern die Natur und schien sich auch den Menschen mitzuteilen. Die Zeit der Kämpfe war nahe. Die Scharmützel nahmen an Zahl und Bedeutung zu, und eine blutige Ära kündigte sich an.
Eine unermüdliche Frau galoppierte, von ihren Getreuen begleitet, kreuz und quer durch die Provinz.
Man erzählte sich, daß überall, wo sie auftauche, der Sieg den Partisanen sicher sei.
Im Juli kehrte sie in das Gebiet von Nieul zurück, und dort verschwand sie für einige Tage.
Ihre Begleiter und Diener suchten sie zuerst und beunruhigten sich ihretwegen, dann schwiegen sie, denn ihnen allen kam plötzlich derselbe Gedanke, und sie verstanden, warum sie sich von ihnen getrennt und sich irgendwo verborgen hatte.
Angstvoll saßen sie um das Feuer und warteten auf ihre Rückkehr. Sie würde zweifellos blasser und verändert wieder auftauchen, doch mit demselben rätselhaften Ausdruck in der Tiefe ihrer grünen Augen. Und niemand würde es wagen, ihre plötzlich schlank gewordene Taille zu betrachten.
Die Lichtung, von der sie aufgebrochen war, verließen sie nicht. Sie sollte sie nicht lange suchen müssen. Sonst vermochten sie nichts für sie zu tun. Sie konnten nichts für ihre Schmerzen und ihren Leidenskampf im Herzen der Wälder. Sie waren Männer, und sie war eine Frau. Sie war schön und stolz und von hoher Geburt, aber der Fluch der Frauen hatte auch sie berührt. Sie wagten nicht an die Einsamen im Wald zu denken, und sie schämten sich, Männer zu sein.
Angélique war wie eine Rasende bis zu den Grenzen des Waldes von Nieul galoppiert. Sie ließ ihr Pferd in einer Meierei, deren Pächterin sie verehrte, und stieg zu den Hügeln des Waldes hinauf. Sie kam außer Atem, während sie sich an den Sträuchern hochzog, um ihr Fortkommen zu beschleunigen. Unter den Bäumen fühlte sie sich wohler, aber sie hatte noch einen langen Weg vor sich. Die Furcht ließ sie nicht los. Sie glaubte, daß es ihr niemals gelingen würde, den steilen Pfad zwischen den Felsen hinabzuklettern, der zu Melusines Behausung führte, und brach schließlich wie ein verwundetes Tier auf dem Sand der Höhle zusammen.
Mit den fahrigen Bewegungen einer aus der Fassung geratenen alten Mutter hob die Zauberin sie auf, bettete sie auf ein Lager von Farnkräutern und streichelte ihr feuchtes Haar mit ihren gekrümmten, verknöcherten Fingern.
Sie flößte ihr ein beruhigendes Getränk ein und legte Pflaster auf, die sie erleichterten. Das Kind kam schnell zur Welt. Angélique stützte sich auf, um mit Schrecken dieses durch ein Verbrechen geborene Wesen zu betrachten. Sie hatte sich darauf gefaßt gemacht, daß es verunstaltet, verkrüppelt sein würde. Ein Kind, das unter solchen Umständen empfangen worden war, konnte nicht gesund sein. Infolgedessen stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus:
»Oh, Melusine, sieh doch . Es ist ein Monstrum . Es hat kein Geschlecht .«
Die Zauberin warf ihr durch ihre weißen Strähnen einen spöttischen Blick zu.
»Ach, was! Es ist ein Mädchen .«
Angélique ließ sich zurückfallen und wurde von einem nicht zu bezähmenden krampfhaften Gelächter geschüttelt.
»Wie dumm ich bin! Ich hatte nicht daran gedacht. O nein ... ein Mädchen! Ich wäre nie darauf gekommen. Ich bin es nicht gewöhnt, verstehst du? . Nicht gewöhnt! ... Ich hab’ nur Jungen in die Welt gesetzt ... Ja, drei Jungen ... drei Söhne ... Jetzt hab’ ich keinen mehr. Keinen einzigen! ... Eine Tochter! ... Es ist zu komisch!«
Ihr Lachen ging in ein wildes Schluchzen über, das wie ein Gewitterregen über sie hereinbrach.
Tränenüberströmt sank sie alsbald in tiefen Schlaf. Ihr gelöstes, lichtes Haar umgab sie mit dem Glanz der Unschuld.
Als sie erwachte, hielt der im Schlaf empfundene Frieden an. Ein völlig körperlicher Frieden, der jedoch auch ihre gemarterte Seele betäubte.
Auf einen Ellbogen gestützt, ließ sie ihren Blick zum Eingang der Höhle hinübergleiten und sah unvermutet etwas Bezauberndes: vor der Laubwand hob sich eine grasende Hirschkuh ab, der ein Junges folgte. Die Umgebung der Höhle schien ihr vertraut zu sein, denn sie hob nicht unruhig den Kopf, wie es Tiere tun, die die Nachbarschaft der Menschen spü-ren.
Angélique beobachtete sie eine Weile mit angehaltenem Atem, und als die graziösen Tiere sich entfernt hatten, streckte sie sich von neuem mit einem Seufzer aus. Sie fühlte sich bei Melusine geborgen. Sie begriff, warum ein durch allzu viele Schläge verletztes Frauenherz seinen einzigen Trost in der Einsamkeit der Wälder fand und sich darum endgültig in ihren Frieden flüchtete. So wurde man zur Hexe der Wälder.
Gegen Abend weckte sie ein anderes Geräusch, und sie fuhr hoch, von neuem geängstigt: ein dünner, halb erstickter Schrei, der nicht von einem Tier herrühren konnte.
»Sie hat Durst«, sagte die Zauberin und humpelte in den Hintergrund der Höhle, um etwas zu holen. Sie tauchte mit einem unförmigen, in einen Fetzen roten Chiffons gehüllten Bündel wieder auf, aus dem das Plärren drang.
Angélique sah der Zauberin mit ungläubiger Bestürzung entgegen.
»Es lebt? Aber es hat doch bei seiner Geburt keinen Ton von sich gegeben!«
»Schon richtig. Jetzt schreit sie dafür um so mehr. Sie hat Durst ...«
Und Melusine hielt das Kind an die Brust der jungen Wöchnerin.
Angéliques ganzes Wesen verweigerte sich dieser Bewegung. Ihre Augen blitzten.
»Nein!« rief sie wild. »Nein, niemals ... Sie hat mein Blut, aber sie wird nicht meine Milch bekommen ... Meine Milch ist nicht für sie, nicht für einen Landsknechtsbastard. Nimm sie fort, Melusine! . Schaff sie mir aus den Augen. Gib ihr Wasser, ganz gleich was, damit sie ruhig ist, aber bring sie nicht zu mir ... Morgen werde ich sie in die Stadt mitnehmen.«
In der Nacht begann Angélique zu sprechen. Sie war noch nicht ganz eingeschlafen. Sie sprach aus einer Art Traum heraus. Sie erzählte, was sie in jener Nacht in Plessis gesehen hatte, in der sie von den Dragonern am Boden festgehalten worden war, in der die roten Teufel ihren jüngsten Sohn umgebracht hatten. Was sie gesehen hatte, als sie, ihr totes Kind ans Herz drückend, durch das zerstörte Schloß gegangen war: Visionen, die sich für immer ihrer Netzhaut eingeprägt hatten und die sie nicht vergessen konnte.
»Ja, ja, ich erinnere mich«, murmelte die dicht neben dem Feuer zusammengekauerte Hexe. »Als ich dir in der Lichtung begegnete, damals im Herbst, sah ich das Todeszeichen über dem blonden Kind .«
Am folgenden Tag erhob sie sich. Sie hatte es eilig, die letzte Etappe zu ihrer Befreiung zurückzulegen. Das unaufhörliche Geplärr des Kindes machte sie rasend.
Sie schlüpfte in ihre Schuhe, bändigte das Haar unter dem schwarzen Satintuch und warf den Mantel über ihre Schultern.
»Gib sie mir«, sagte sie mit fester Stimme.
Melusine reichte ihr das Neugeborene, das sich heiser schrie. Angélique nahm es und ging entschlossen zum Ausgang der Höhle.
Melusine begleitete sie.
»Hör zu, meine Tochter, Hör auf meinen Rat.«
Sie legte ihre braune, klauenartige Hand auf Angéliques Arm und hielt sie zurück.
»Hör mich an, Tochter . Du darfst sie nicht töten.«
»Nein«, antwortete Angélique mühsam beherrscht, »sei unbesorgt. Sie wird nicht sterben.«
»Weil sie gezeichnet ist. Schau.«
Durch ihre Beharrlichkeit zwang sie Angélique, den Blick zu senken und auf der winzigen Schulter ein braunes Mal in Form eines Sterns zu entdecken.
»Kinder, die ein solches Mal tragen, werden von den Gottheiten der Gestirne beschützt .«
Angélique schob sie mit zusammengepreßten Lippen beiseite. Melusine hielt sie noch einmal auf.
»Ich kann dir sogar den Namen dieses seltenen Zeichens sagen . es ist das Zeichen Neptuns.«
»Neptuns?«
»Der Gott des Meeres!« sagte die Hexe, während in ihre Augen ein seltsames Leuchten trat.
Die junge Frau zuckte gleichgültig mit den Schultern und machte sich los.
Trotz ihrer Schwäche gelangte sie ohne Mühe zum Gipfel des Hügels, sosehr beflügelte sie ihr Verlangen, ein Ende zu machen. Sie überquerte die Lichtung des Steins der Feen und schlug den Pfad ein, der zum Kreuzweg der Totenlaterne führte, wegen des weißen, geschnitzten Vogels auf ihrer Spitze die Taubenlaterne genannt. Die Straße nach Fontenay-le-Comte lief dort nicht weit entfernt vorüber.
Nachdem sie zwei Stunden gegangen war, mußte Angélique in der Hütte des Holzschuhmachers eine Ruhepause einlegen. Vor Erschöpfung brach ihr der Schweiß aus und befeuchtete ihre Schläfen. Der Holzschuhmacher würde sie womöglich erkennen, aber das hatte nichts zu bedeuten, da er taubstumm war und dort das ganze Jahr hindurch mit seinem gleichfalls taubstummen zehnjährigen Sohn hauste.
Angélique bat um eine Schale Milch und ein Stück Brot.
Sie tränkte ein paar Krumen mit Milch und schob sie zwischen die Lippen des Kindes, das sofort aufhörte zu schreien. Sie selbst brachte nur mit Mühe ein paar Schluck Milch hinunter.
Nachdem sie sich ausgeruht hatte, brach sie wieder auf und sah bald die Straße vor sich.
Ein Karren näherte sich, und sie bat den Kutscher, sie mitzunehmen. Er fuhr zwar nicht bis Fontenay-le-Comte, versprach aber, sie ein Meile vor der Stadt abzusetzen.
Gegen Ende der Fahrt begann das Kind von neuem zu weinen.
»Gib ihm zu trinken«, sagte der Bauer gereizt.
»Ich habe keine Milch«, antwortete sie trocken.
Er setzte sie am vereinbarten Ort ab und wies mit seiner Peitsche auf die fernen Wälle und Kirchtürme der Stadt.
Fontenay-le-Comte befand sich in den Händen der Aufständischen. Aber Angélique sorgte sich nicht, daß man in der Bäuerin, die zur Stadt gekommen war, um dort ihr Kind zu lassen, die Rebellin des Poitou erkennen könnte, deren Entscheidungen von den Großbürgern Fontenays mit dem Respekt aufgenommen worden waren, den sie allenfalls Gesetzen entgegenbrachten, als sie während der Weihnachtstage unter ihnen geweilt hatte. Sie würde auf jeden Fall den Einbruch der Nacht abwarten, bevor sie die Stadt betrat.
Der runde Kopf des Neugeborenen in ihrer Armbeuge wog schwer wie Blei. Sie kam kaum voran. Ihre Nerven waren am Ende. Es verlangte sie danach, das unaufhörliche Geplärr zu unterbrechen, dieses Leben zu beenden, das sie quälte. Zu vernichten, auszutilgen, was gewesen war.
Entsetzt über ihre Gedanken, blieb sie stehen.
»Ich müßte beten«, sagte sie sich.
Doch sie vermochte nicht zu beten. Gott war fern, und sie fragte sich zuweilen mit Schrecken, ob sie ihn nicht zu vergessen begann.
Sie nahm ihren Marsch zur Stadt wieder auf, über die die Dämmerung bläuliche Schatten warf.
Unter den Wällen zögerte sie lange und strich wie ein Tier des Waldes umher, das die Nähe menschlicher Behausungen scheut.
Als sie bemerkte, daß die Wächter sich anschickten, die Tore zu schließen, überwand sie sich und betrat durch das Korntor die Stadt. In den engen Straßen gingen die Einwohner noch ihren Beschäftigungen nach. Man fand Vergnügen daran, die aromatische Luft dieses schönen, zum Ausgleich für so viele Opfer früh gekommenen Frühlings zu atmen. Die Leute hatten es sichtlich nicht eilig, ihre engen, dumpfen Wohnungen aufzusuchen, und riefen sich von der Schwelle ihrer Häuser aus Scherzworte zu.
Angélique wußte, daß sich das Amt für hilfsbedürftige Kinder an der Place du Pilori nahe dem Rathaus befand. Die Zahl der verlassenen Kinder war so groß, daß die Klöster zu ihrer Aufnahme nicht mehr genügten und daß man schon zu Zeiten Monsieur Vincents öffentliche Institutionen für sie geschaffen hatte. Die Krippe von Fontenay war ein ehemaliger, nun für seine neue Aufgabe umgebauter Getreidespeicher aus dem Mittelalter. Seine Fachwerkfassade war mit zahlreichen hölzernen Figuren geschmückt.
Angélique wagte sich nicht zu nähern, aus Besorgnis, die Blicke der Gevatterinnen durch das Geplärr des Kindes auf sich zu ziehen. Sie irrte durch die benachbarten Gassen, um auf das tiefere Dunkel und die Verlassenheit der Nacht zu warten.