So entdeckte sie an der Rückseite des Gebäudes das, was sie suchte: die »Drehlade«.
Die öffentliche Fürsorge hatte sie in einem dunklen, wenig begangenen Gäßchen angebracht, damit die Unglücklichen, die sich ihr näherten, ihre Schande verbergen konnten. Es gab dort keine andere Beleuchtung als eine kleine Ölfunzel neben eine Statuette des Jesuskindes, die die »Lade« krönte. Im Innern fand sich ein wenig Stroh. Angélique legte das Kind darauf.
Dann zog sie an der Kette einer Glocke, die ein langes, schepperndes Geläute ertönen ließ.
Sie wich zur anderen Seite des Gäßchens zurück, in den Schutz der tiefen Schatten der Häuser. Sie zitterte wie Espenlaub. Es schien ihr, als müßte das Geschrei des Kindes die ganze Nachbarschaft auf die Beine bringen.
Endlich rührte sich drüben etwas. Die »Lade« setzte sich knarrend in Bewegung, und nach und nach wurde das Plärren des Neugeborenen leiser und verstummte. Angélique ließ sich gegen die Mauer sinken. Sie war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Was sie verspürte, war vor allem unsagbare Erleichterung, aber auch eine unermeßliche Trauer, die sie viele Jahre zurückversetzte. Das trübe, düstere Bild des Hofs der Wunder tauchte wieder vor ihr auf, dem sie für immer zu entgehen sich geschworen hatte. War das Leben denn nichts als ein infernalischer Kreislauf, in dem man immer wieder zum selben Punkt gelangte?
Sie verließ das Gäßchen mit langsamen Schritten. Sie bemühte sich, aufrecht, mit erhobenem Kopf zu gehen. Sie mußte vergessen, mußte der Einsamkeit der von ihrer Sünde gepeinigten Frauen in die Straßen der Stadt entkommen, mußte der Namenlosigkeit entfliehen, zu der sie sie verurteilte.
Sie peitschte ihren Stolz: »Du bist Angélique du Plessis-Bellière, du bist die, die den Aufruhr der Provinz gegen den König anführt.«
Die zur Ermutigung der Reisenden errichtete Kapelle Saint-Honoré war das genaue Abbild des Ortes, den sie hütete: finster wie eine Höhle, massiv wie eine Eiche, überwuchert vom Gewimmel der die Fassade schmückenden Statuen, auf der unter wie Dornsträu-cher mit Stacheln bestückten Glockentürmchen Gestalten mit langen Bärten und vorquellenden Schnek-kenaugen zu sehen waren, die apokalyptische Ungeheuer erwürgten.
Man stieß auf sie auf dem Gipfelpunkt einer endlos und beunruhigend durch Brandheide führenden einsamen Straße im Grenzgebiet der Gâtine und der Sumpfwildnis.
Dort war es, wo Angélique die wichtigsten Anführer der Aufständischen zusammenrief, um sich mit ihnen über die Richtlinien und Maßnahmen des bevorstehenden Sommerfeldzugs zu einigen. Einmal mehr glückte es ihr, Katholiken und Protestanten zu überreden, ihre dogmatischen Streitigkeiten über einem höheren Ziel zu vergessen. Der Sieg war nur zu erringen, wenn sie zusammenstanden.
Sie blieben drei Tage auf den Höhen der Gâtine, zündeten des Abends rund um die Kapelle Feuer an und schliefen unter den Eichen in der knisternden Wärme des Sommers. Saint-Honoré, seinen Kopf in den Händen tragend, schien sie zu segnen, und die Katholiken sahen in seinem Schutz ein glückliches Vorzeichen für die zu erwartenden Kämpfe.
Saint-Honoré war im 13. Jahrhundert ein wackerer Viehhändler gewesen, den Diebe an dieser Stelle ermordet hatten. Das Bern, woher er stammte, und das Poitou, wo er umgebracht worden war, hatten sich lange um seine Reliquien gestritten. Dem Poitou war es schließlich geglückt, das Haupt des heiligen Handelsmannes für sich zu erlangen.
Die Männer tauchten ihre Waffen in das geweihte Wasser der Quelle, die unter einem Felsen hervorsprudelte und von einem Steintrog aufgefangen wurde.
Verstohlen feuchtete auch Angélique ihren Schleier an, um ihre glühende Stirn zu kühlen. Das Fieber hämmerte in ihren Schläfen und verlieh ihrem Blick unnatürlichen Glanz. Trotz der Kräutertränke der Hexe erholte sie sich nur langsam von ihrer heimlichen Niederkunft.
Kaum aus Fontenay-le-Comte zurückgekehrt, hatte sie sich in die Gâtine begeben wollen. Sie wollte vor sich verleugnen, was geschehen war, aber die Natur erinnerte sie an den Evasfluch, mit dem Gott ihren Körper gezeichnet hatte.
Sie litt vor allem nachts. In der Hingabe an den Schlaf verließ sie die übersteigerte Erregung des Kriegs und der Rache, und aus den tieferen Schichten ihres Wesens stieg ein trostloses Unbehagen, und sie hörte wieder das Plärren des neugeborenen Kindes.
Eines Nachts erschien ihr Saint-Honoré, den Kopf in den Händen: »Was hast du mit dem Kind getan?«
fragte er sie. »Nimm es zu dir, bevor es stirbt ...«
Angélique erwachte im Heidekraut, Saint-Honoré war noch immer da, neben dem Portal der Kapelle. Die Dämmerung stieg über den Horizont. Es war kalt, und dennoch fühlte sie Schweiß an ihrem Körper. Ihre Glieder schmerzten. Sie raffte sich auf, um zur Quelle zu gehen, zu trinken und sich zu erfrischen.
»Wenn ich keine Milch mehr habe, werde ich aufhören, an das Kind zu denken«, sagte sie sich.
Um die Mitte des Vormittags meldeten die Posten eine Kutsche auf der sich zur Höhe windenden Straße. Bisher hatten sie nur einen Reiter passieren sehen, zweifellos einen Kaufmann, der, erschreckt durch den wüsten Ort, eilig davongaloppiert war, als er zwischen den Baumstämmen verdächtige Gestalten entdeckt hatte.
Die Partisanen zerstreuten sich unter den Bäumen, aber die Spuren ihres Lagers waren allzu offensichtlich, und Angélique schickte Martin Genêt und einige Bauern aus, die das Fuhrwerk anhalten sollten, sobald es auf die Höhe der Steigung gelangt war. Man mußte Reisenden mißtrauen, die auf ihrer Fahrt von einer Region in die andere keinen Grund zu Skrupeln hatten, die Bewegungen der Rebellen gegen hohe Belohnung den in der Umgebung stationierten königlichen Soldaten zu verraten.
Das Gelächter der Männer drang von dem angehaltenen Fuhrwerk herüber, und da die Diskussion sich in die Länge zog, trat sie hinzu, um sich zu informieren.
Es war eine erbärmliche, von einer nicht minder jämmerlichen Schindmähre gezogene Halbkutsche. Der Kutscher, ein alter, zahnloser Bursche, zitterte dermaßen vor Schreck, daß er kein Wort hervorbrachte.
Unter der zusammengeflickten Plane hockten drei dicke, schwitzende Weiber mit roten Gesichtern in einer übelriechenden Dunstwolke, von einer Ansammlung von Säuglingen umgeben, die wie ein Wurf Kaninchen über das schmutzige Stroh krochen.
»Werte Herren Räuber, tut uns nichts Böses«, flehten die auf die Knie gesunkenen Gevatterinnen.
»Wohin wollt ihr?«
»Nach Poitiers ... Wir wollten über Parthenay, weil man uns sagte, daß es in der Umgebung von Saint-Maixent von Soldaten wimmelt. Da wir armen Frauen Angst vor diesen Lüstlingen haben, wählten wir einen Umweg über eine ruhigere Straße ... Wenn wir gewußt hätten .«
»Woher kommt ihr?« fragte Angélique.
»Aus Fontenay-le-Comte.«
Und beruhigt durch die Anwesenheit einer Frau, erklärte die Dickste mundfertig:
»Wir sind Ammen der Krippe von Fontenay und sollen die Würmer da nach Poitiers bringen, weil es bei uns zu viele davon gibt. Wir sind ehrsame Frauenzimmer, Madame ... vereidigt ... jawohl, Madame .«
»Laßt sie passieren«, sagte Malbrant Schwertstreich. »Sie haben nur ihre Milch zu geben, und wenn ich mir das Gewimmel da ansehe, möchte ich meinen, daß sie nicht einmal genug für alle haben.«
»Das kann man wohl sagen, mein guter Herr!« rief die Amme und brach in schallendes Gelächter aus. »Ich möchte wissen, was sie sich gedacht haben, als sie nur drei von uns mit zwanzig Kälbchen zusammentaten. Wenigstens die Hälfte müssen wir auf Katzenart nähren.«
Sie wies auf einen Krug, in dem Brot in mit Wein gemischtem Wasser schwamm.
». Nicht gerechnet die, die auf der Strecke bleiben. Eins von ihnen ist schon beinah tot. Im nächsten Dorf werden wir anhalten müssen, um es dem Pfarrer zum Beerdigen zu geben.«
Sie hielt ihnen ein Bündel unter die Nasen, das wie ein abgehäutetes, lebloses, in ein Stück roten Chiffons gewickeltes Kaninchen aussah.
»Wenn das kein Elend ist! Seht euch das an, meine guten Herren!«
Ihre Mienen drückten Widerwillen aus.
»Es ist gut. Ihr könnt weiterfahren. Aber versteht den Mund zu halten, wenn ihr wieder in der Ebene seid. Behaltet für euch, was ihr in den Bergen gesehen habt.«
Gemeinsam ergingen sie sich in jammernden Beteuerungen.
»Gib ihm die Peitsche, Kutscher!« schrie Malbrant, den knochigen Rücken des trübseligen Gauls klopfend.
»Nein, wartet.«
Aus Angéliques Gesicht war das Blut gewichen; von dem Augenblick an, in dem die Frau gesagt hatte: »Wir kommen aus Fontenay-le-Comte«, hatte sie gewußt, warum ihr in der vergangenen Nacht Saint-Honoré erschienen war.
Doch sie war wie gelähmt, und ihre Bewegungen vollzogen sich mit alptraumhafter Langsamkeit.
Dennoch beugte sie sich vor und nahm das in den roten Fetzen gehüllte Kind, das die Amme ihr zureichte.
»Geht jetzt.«
»Was wollt Ihr mit ihm anfangen, meine Schöne. Wenn ich Euch doch sage, daß es so gut wie tot ist.«
»Geht«, wiederholte sie mit einem so harten Blick, daß die guten Frauen zurückwichen und sich still verhielten.
Steif aufgerichtet, entfernte sich Angélique. Nahe der Quelle versagten ihr die Beine, und sie mußte sich auf den Steinrand setzen.
Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Zwei dunkle Augen voll glühenden Ernstes suchten die ihren. Der Abbé de Lesdiguière war ihr gefolgt. Er neigte sich zu ihr, stützte sie, umgab sie mit seinem leidenschaftlichen Mitgefühl. Er versuchte in ihrem Blick zu lesen.
»Es ist Euer Kind, nicht wahr?«
Sie gab ein kaum merkliches Zeichen, widerwillig, doch bejahend.
»Seid Ihr sicher?«
»Ich habe es an dem Mal auf seiner Schulter wiedererkannt ... und an diesem roten Chiffon.«
»Habt Ihr es getauft, bevor Ihr es ... verließet?«
»Nein.«
»Haben sie es in der Krippe getan? . Es gibt so viel Gleichgültigkeit, so viele gottlose Herzen in unseren Tagen. Madame, es muß getauft werden.«
»Es ist schon tot .«
»Noch nicht. Wie wollt Ihr es nennen?«
»Es ist mir gleich.«
Er sah sich um.
»Saint-Honoré hat es Euch zurückgegeben. Wir werden es Honorine nennen.«
Er tauchte seine Hand in die Quelle, um Wasser zu schöpfen, das er auf die Stirn des Kindes rinnen ließ, während er die rituellen Worte und Gebete dabei murmelte. Und weil diese Worte dem elenden Geschöpf galten, das sie in Schande gezeugt hatte, trafen sie sie mit einer das Dunkel um sie zerreißenden Heftigkeit, und sie blieb wie versteinert.
»Sei ein Licht, Honorine, in dieser Welt der Finsternis, in der zu leben du gerufen bist ... Mögen deine Augen sich allem Schönen, allem Guten öffnen .«
»Nein, nein«, schrie sie, »ich bin nicht ihre Mutter! Niemand kann das von mir verlangen!«
Sie warf dem über sie geneigten Abbé einen verzweifelten Blick zu und las ihr Urteil in seinen klaren Augen.
»Mißachtet nicht das Leben, das der Schöpfer Euch anvertraut hat.«
»Verlangt nicht das von mir.«
»Nur Ihr könnt sie retten. Ihr seid ihre Mutter.«
»Nein, nicht das.« Sie sah ihren eigenen Schmerz sich in den braunen Augen spiegeln, die sie beschworen.
»O Gott!« rief er. »Warum hast du die Welt erschaffen?«
Er verließ sie, um auf der Schwelle der Kapelle niederzuknien, und sie hörte ihn, die Stirn an das Holz der Tür gedrückt, mit lauter Stimme beten.
Das Kind in Angéliques Armen bewegte sich. Sacht zog sie es an ihre Brust.
Die Pferde schnoben unter den Bäumen am Ausgang des Hohlwegs. Welke Blätter raschelten unter ihren Hufen. Sie wichen den Lachen aus, die sich wie Schaum auf dem Grunde des Wegeinschnitts dahinzogen. Zwischen den entlaubten Ästen zeigte sich ein grüngrauer Himmel. Die letzten Blätter fielen langsam zur Erde.
Angélique fing auf ihrem Mantel einen orangefarbenen Stern, der sie gestreift hatte, und betrachtete träumerisch das kleine, zart gerippte Meisterwerk der Natur. Wieder ein neuer Herbst. Ein neuer Winter kündigte sich an. Die laue Wärme der Sonne vermochte nicht darüber hinwegzutäuschen. Der vernebelte Horizont, dessen Gold- und Safrantöne den bräunlichen und grauen Farben des Novembers wichen, prophezeite scharfe Nordwinde.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Abbé de Lesdiguière zu, der neben ihr ritt, und hob spöttisch die Schultern.
»Hat man je etwas so Lächerliches gesehen, Abbé? Ein Feldherr spielt Amme, und der Feldgeistliche singt Wiegenlieder.«
Der junge Mann lachte hell auf und warf ihr einen warmen Blick zu:
»Was tut’s? Ihr habt deswegen Eure Truppen nicht weniger zum Sieg geführt, Madame. So sehr, daß man glauben könnte, das Kind habe uns Glück gebracht.«
Er sah stolz auf Honorine hinunter, die im Schutz des schwarzen Mantels seiner Amtstracht in seinen Armen schlummerte. Eine andere Wiege hatte Honorine nie gekannt. Der Sattel eines Pferdes und die Arme von Männern, die sie sich einander zureichten, bis sich ihre Mutter im abendlichen Quartier mit ihr zurückzog, um sie zu nähren. Mit ihrer Milch hatte Angélique sie dem Leben zurückgegeben. Ihr Gewissen war beruhigt. Doch das Opfer blieb darum nicht weniger grausam, und die Demütigung empfand sie jedesmal gleich bitter.
So überließ sie den Leuten ihrer Eskorte die Sorge für das kleine Wesen, von dem sie das Schicksal nicht hatte befreien wollen. Vom Pferde des Abbé de Lesdiguière zu dem Malbrant Schwertstreichs über die Gäule Flipots und des alten Antoine hatte Honorine alle Gangarten ausprobiert. Selbst der wackere, dicke Baron du Croissec bot ihr zuweilen die Behaglichkeit seines geräumigen Schoßes. Aber wo auch immer sie sich befand - sobald die Nacht hereinbrach, begann sie zu weinen und beruhigte sich erst in den Armen Angéliques. So war sie gezwungen, das Kind immer mit sich zu führen.
»Lächerlich«, wiederholte sie. »Ich frage mich zuweilen, wie es unter solchen Umstanden möglich war, daß unsere Partisanen weiter auf mich hörten.«
»Euer Einfluß auf alle ist groß, Madame. Und die errungenen Erfolge haben sie in ihrem Vertrauen zu Euch nur bestätigen können.«
»Erfolge? Sieg? Wir dürfen uns nicht zu früh be-glückwünschen. Noch ist nichts entschieden. Die königlichen Truppen sind bisher zwar an unseren Verteidigungslinien gescheitert, aber man belagert uns nach wie vor. Und nun kündigt sich der Winter an. Die meisten Äcker sind unbestellt, die Ernten ungenügend. Der Hunger wird sie mutlos machen. Das ist es, worauf der König rechnet.«
»Macht ihnen begreiflich, daß unsere Sache gerettet ist, wenn wir bis zum nächsten Sommer durchhalten. Auch der König kann nicht ewig mit einer rebellierenden Provinz in seinem Rücken leben. Die Wirtschaft des ganzen Landes ist schon erschüttert. Er wird verhandeln oder den Aufstand in Blut ersticken müssen. Aber die Wälder schützen uns. Die Soldaten wagen es nicht, in sie einzudringen.«
»Ihr sprecht wie ein Stratege, mein kleiner Abbé, und Ihr beeindruckt mich nicht wenig. Was würden wohl Eure geistlichen Oberen sagen, wenn sie Euch hörten?«
»Sie würden sich erinnern, daß ich meinen Adern das Blut des alten Lesdiguière, des großen dauphini-schen Hugenotten, fließt, der sich so lange gegen die königliche Autorität auflehnte. Trotz der Bekehrung meiner Familie konnten die Lehrer nicht umhin, meinen Namen mit Argwohn auszusprechen, während ich mich im Seminar aufhielt. Vielleicht hatten sie nicht einmal so unrecht.«
Er lachte von neuem fröhlich auf. Der Wind ließ seine Locken auf seinen gebräunten Wangen tanzen. Sein Mantel, sein mit einer Silberschnalle verzierter Hut, sein Kragen, sein Rock, alles war durch den Staub und die Unbilden des Wetters bis auf den Faden abgenützt.
Durch eine Baumwurzel erschreckt, machte sein Pferd einen Satz und gewann einen Vorsprung. Angélique betrachtete ihn einen Moment, dann schloß sie wieder zu ihm auf.
»Herr Abbé«, sagte sie ernst, »hört mich an. Ihr dürft nicht bei mir bleiben. Es ist nicht recht von mir, Euch in ein Abenteuer hineinzuziehen, das weder zu Eurer Berufung noch zu Eurem Rang paßt. Kehrt zu den Euren zurück. Der Bischof von Dondom beschützt Euch und hält viel von Euren Fähigkeiten. Er wird bei Hof einen besseren Posten für Euch finden, wenn Monsieur de la Force Euch nicht wieder zu sich nimmt. Noch weiß man nicht, daß Ihr mir gefolgt seid . und Ihr werdet nicht darüber sprechen .«
Die Heftigkeit seines Gefühls verwirrte den jungen Mann.
»Jagt Ihr mich fort, Madame?«
»Nein, mein Kind ... Ihr wißt es recht gut. Aber das, was wir tun, ist strafbar ... und Euer Platz ist nicht unter den Verstoßenen.«
»Warum sollte er dort nicht sein?« murmelte er, »Wenn Eure Skrupel Euch etwa einflüstern, daß allein meine Ergebenheit für Eure Person mich bei Euch hält, kann ich Euch beruhigen. Wohl ... gehört mein Leben Euch, aber da ist noch etwas anderes. Ich fühle ... ich fühle, daß Ihr es seid, die recht hat, Madame. Auch ich habe bei Hof gelebt. Wie könnten heute die, die nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, Euch nicht hören? Ich erinnere mich, und mein Herz sagt mir wieder und wieder, daß Ihr es seid, die recht hat.«
Angélique preßte die Zähne aufeinander, und ihre Finger krampften sich um die Zügel ihres Pferdes.
»Sucht keine Entschuldigungen für das, was ich getan habe«, sagte sie hart. »Es ist nichts in mir, das entschuldbar wäre. Ich bin nichts weiter als eine hassende, unglückliche Frau. Und wer keinen Ausweg für seinen Haß findet .«
Er hob seine großen, entsetzten Augen zu ihr.
»Fürchtet Ihr nicht, verdammt zu werden?«
»Solche Worte haben keinen Sinn mehr für mich. Ich weiß nur eins: daß ich ohne das große Feuer des Abscheus, das in meinem Herzen brennt, das Dasein nicht mehr ertragen könnte. Von Kampf und ihrer Niederlage träumen, das allein gibt mir den Mut zum Weiterleben, das allein schenkt mir zuweilen sogar Freude.«
Und da sie seinen schmerzlichen Ausdruck bemerkte:
»Warum macht Ihr Euch um mein Schicksal Sorgen, Abbé? Unter den Stuckdecken von Versailles, von Glanz und Ehren umgeben - das hat weit weniger zu mir gepaßt. Ich bin immer ein unbelehrbares, wildes Geschöpf gewesen mit einer Vorliebe für nackte Füße und ungebahnte Pfade. Als ich noch Kind war, hat mein Bruder Gontran - der, den der König gehängt hat - ein Bild von mir als Räuberhauptmann gemalt. Er hat immer solche Vorahnungen gehabt . Schon in Paris habe ich unter Mördern und Dieben gelebt. Habt Ihr niemals zugehört, wenn unser Flipot von den Zeiten sprach, in denen ich dem Großen Coesre, dem König der Bettler, begegnete? ... Ich bin auf allen Straßen, allen Wegen gegangen, ich habe alle Entbehrungen, alle Gefängnisse kennengelernt. Auf Knien, wund und geschunden, in Lumpen habe ich mich über die Pfade des Rifs geschleppt ... Mein Schicksal ist nun einmal so, und ich habe nicht gern ein Dach über meinem Kopf. Nichts wird mich retten, ich weiß es jetzt ... Seid nicht traurig, mein kleiner Abbé. Und verlaßt mich .«
Sehr leise fügte sie hinzu:
». Ich bringe allen Unglück, die mich lieben.«
Er antwortete nicht.
Sie sah das schnelle Flattern seiner langen Wimpern, das Zittern seiner Lippen.
Die Pferde folgten einem steinigen Weg, der an der Flanke eines kahlen Hügels abwärtsführte.
Das Schloß der Gordon de La Grange tauchte, von vier Türmen flankiert, im goldkäferfarbenen Schmuckkästchen seines Parkes auf.
Die Ankömmlinge brauchten ihr Nähern nicht durch Zeichen anzukündigen. In diesem abgelegenen, im Herzen der Wildnis verlorenen Winkel war kein Hinterhalt möglich.
Hier konnte man die vom Krieg verheerten Gebiete, die in Brand gesteckten Dörfer, die erbitterten Gefechte der weiten Ebenen und die noch furchtbareren Überfälle auf dem Grunde enger Schluchten vergessen. Kämpfe ohne Gnade. Die Dörfer in den Grenzbereichen der Provinz waren verödet. Im Innern hatten die Bauern den Sommer mit einer Hand auf dem Pflugsterz, mit der andern an der Muskete verbracht. Gegen Ende September war ein Regiment königlicher Truppen weit ins Innere vorgestoßen und hatte auf seinem Wege alles verwüstet. Die Einwohner schienen sich vor ihnen in Luft aufzulösen. Sie hatten nicht viele Gelegenheiten zum Hängen gefunden, aber alles verbrannt, Weiler, Dörfer, Ernten, und schon sprach man in Versailles vom unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch der eingeschüchterten Lumpenkerle, als die bis in die Gegend von Pouzanges gelangte Truppe spurlos verschwand. Keine Nachricht drang mehr zurück. Das Land hatte sich wie eine riesige Zange über den Soldaten geschlossen.
Ein paar Überlebende, denen es gelang, von Dickicht zu Dickicht kriechend die Loire zu erreichen und zu überqueren, berichteten mit Schrecken von den Schatten, die sie nachts überfallen hatten, von Irrlichtern, die sie in den Tod führten, von ganzen Trauben von Gestalten, die im unerwartetsten Augenblick von den Ästen purzelten und ihnen nadelscharfe Hirschfänger zwischen die Schulterblätter stießen, bevor sie noch Zeit fanden, einen Schrei auszustoßen. Trotz ihrer Waffen und Offiziere waren alle niedergemacht worden. Das Poitou hatte sie einen nach dem anderen unerbittlich verschlungen.
Die Bestürzung war allgemein. Infolge dieser höchst unglückselig verlaufenen Unternehmung verhielten sich Truppen und Oberkommando zunächst abwartend. Angesichts des bevorstehenden Winters war es vergeblich, die Militärs zu weiteren Expeditionen zu ermuntern. Man zog sich in seine Quartiere zurück.
Angélique blieb drei Monate im Schloß de La Grange. Sie empfing dort gewisse Aufständischenführer, desgleichen die Bürgermeister mehrerer Städte, die ihr ihre Sorgen anvertrauten. Jeder mußte sich mit seinem bescheidenen Anteil an Lebensmitteln begnügen. Zum Glück verlief der Winter nicht allzu streng.
Im März nahm Angélique ihre Ritte durch die Provinz wieder auf. Sie hatte aufgehört, ihr Kind zu nähren, und wollte es im Schloß zurücklassen. Eine der Mägde hatte sich ihm besonders angeschlossen. Der Abbé de Lesdiguière brachte sie jedoch davon ab:
»Verlaß sie nicht, Madame. Fern von Euch wird sie sterben.«
»Ich werde sie später holen, wenn die Ereignisse .«
»Nein«, sagte er, ihr in die Augen sehend, »Ihr werdet sie nie holen.«
»Ist es denn ein Leben für ein so kleines Kind, unaufhörlich über Berg und Tal zu ziehen?«
»Es bekommt ihr, weil Ihr bei ihr seid, ihre Mutter .«
Er selbst wickelte Honorine in eine warme Decke und stieg in den Sattel, sie eifersüchtig an sein Herz drückend.
Es war um diese Zeit, daß Angélique Zweifel zu fühlen begann, wenn sie ihre Tochter betrachtete. Etwas wie Furcht vor einer noch unausgesprochenen Drohung, eine Frage, die Angst vor einem Verdacht, der allmählich zur Gewißheit wurde.
Sie hielten sich in einem gefährdeten Gebiet auf, in das die königlichen Truppen zuweilen Einfalle unternahmen. Um nicht in einen Hinterhalt zu geraten, flüchteten sich Angélique und ihre Begleiter jede Nacht in die Höhlen, die in den Hängen des Tals der Sèvre tausend Schlupfwinkel bildeten. Die Bäuerinnen der benachbarten Weiler pflegten dort zusammenzukommen, um zu spinnen und zu stricken. Sie suchten diese Verstecke wegen der in ihnen herrschenden milden Temperatur auf, die sie der Mühe enthob, Feuer zu entzünden. Nach dem Abendessen begaben sie sich dorthin, den mit Werg und Hanf umwundenen Spinnrocken in der Hand und einen beim Aufbruch noch glühenden Fußwärmer unter dem Arm.
Sie wiesen Angélique die geräumigste der unterirdischen Kammern an, in der die kleine Schar sich zur Ruhe begab, vor der noch kühlen Frische der ersten Frühlingsnächte geschützt.
Eine primitive Funzel, aus dem mit Nußöl durchtränkten Schaft einer Königskerze bestehend, den man auf einem in die Wand der Höhle gerammten Holzarm befestigt hatte, verbreitete sanftes, beruhigendes Licht. Angélique betrachtete das Kind, das auf dem Boden lag und sich kriechend fortzubewegen versuchte. Es war zehn Monate alt und schien durchaus kräftig. War es das rötliche Licht der Funzel, das seinen sprossenden Löckchen einen kupfernen Ton verlieh? . Im Kontrast dazu hatte es schwarze, schmale Augen, die schräg zu den Schläfen hinauf verliefen, wenn es lachte. Sie verschwanden dann fast völlig hinter den Bäckchen, und sein Ausdruck . sein Ausdruck schien Angélique nicht unbekannt, rief ihr eine andere, zur Karikatur verzerrte, abscheuliche Physiognomie ins Gedächtnis.
Sie fuhr so heftig zurück, daß ihr Schädel gegen die Felswand stieß und ein Gefühl der Betäubung zurückblieb.
Montadour! Sein widerliches Vollmondgesicht! ...
Der Schweiß perlte ihr auf den Schläfen.
Es war nicht möglich .
Der Abscheu einer Mutter für ihr Bastardkind ist oft nichts anderes als der Abglanz des Hasses, den sie für den empfindet, der es gezeugt hat. Den Verbrecher mit seinem Namen benennen zu können, schien Angélique schlimmer als das Unbekannte. Colin Paturels Kind hätte sie geliebt. Aber der Gedanke, daß sie, Angélique de Sancé, die Verantwortung für ein menschliches Wesen mit einem Landsknecht der schlimmsten Sorte teilte, schuf ihr den Eindruck eines klebrigen, unerträglichen Ekels, einer Entwürdigung, die das Schicksal über sie verhängte.
Niemals würde sie sich damit abfinden können.
Auf ihren Schrei lief der Abbé de Lesdiguière her-bei.
»Nehmt sie fort«, keuchte Angélique. »Ich will sie nicht mehr sehen. Ich wäre imstande, sie zu töten .«
Um Mitternacht hallte die Höhle noch immer von Honorines Geplärr wider.
Auf ihrem Heulager ausgestreckt, drehte sich Angélique gereizt von einer Seite zur anderen:
»Natürlich, >sie< haben vergessen, ihr das Farnkraut zu geben.«
Honorine konnte nicht einschlafen, ohne ihr Lieblingsspielzeug, eine Farnstaude, in der Hand zu halten, deren zarte Zäckchen sie zu entzücken schienen.
Schließlich hielt es Angélique nicht mehr aus. Sie ging in den Hauptraum hinüber, wo rings um das Feuer der Abbé, der Stallmeister, die Diener und der Baron bereits ihr ganzes Repertoire erschöpft hatten. Mit einem Blick vernichtender Verachtung nahm sie ihr Baby an sich, das alsbald wie durch ein Wunder schwieg, und brachte es in ihre eigene Höhle zurück. Natürlich, die Kleine war durchnäßt, durchfroren, und niemand hatte ihr die Nase geputzt. Angélique versorgte sie mit geübten, energischen Griffen, wik-kelte sie in ihren Wollschal und bettete sie bis über die Ohren ins Heu. Dann ging sie hinaus, um am Waldrand ein Farnkraut zu pflücken, dessen untere Wedel sie abriß. Honorine ergriff es mit gebieterischer Hand und betrachtete entzückt den riesigen, einem prähistorischen Untier ähnelnden Schatten, den die vielfach gezackte Pflanze an die Höhlenwand malte. Besänftigt steckte sie ihren Daumen in den Mund und warf Angélique aus den Winkeln ihrer kleinen, geschlitzten Augen einen Blick höchster Zufriedenheit zu.
»Du, du kennst mich«, schien sie zu sagen. »Bei dir bin ich ruhig .«
»Ja, ich kenne dich«, murmelte Angélique. »Wir können ja nichts dafür . du nicht und ich nicht, nicht wahr?«
Auf einen Ellbogen gestützt, eine Wange in die Hand gelegt, beobachtete sie das Kind mit angespannter Aufmerksamkeit. Die Glückseligkeit, die sein Gesicht ausdrückte, löste die schmerzhafte Klammer um ihr Herz.
Weder Vergangenheit noch Zukunft. Schweigsame Stunden am Herzen der Erde. Und in ihr Bilder mehr als Worte, die gleich sanften, flüchtigen Schatten aufstiegen und sie beruhigten.
». Du bist niemandes Kind ... das kleine Mädchen aus dem Wald ... nur das kleine Mädchen aus dem Wald. Das Haar rot wie Herbstblätter . schwarze Augen wie Maulbeeren ... die Haut weiß und perlmuttschimmernd wie der Sand der Höhlen . du bist die Inkarnation des Waldes ... ein Irrlicht ... ein Kobold, nichts sonst. Du bist niemandes Kind ... Schlafe ... schlaf in Frieden .«
Der Abbé de Lesdiguière trat aus dem Dickicht, die Hände voller Pilze.
»Für dich, Honorine. Etwas Feines.«
Sie kam ihm auf schwankenden Beinchen entgegen. Sie war im Sommer ein Jahr alt geworden, als die Soldaten des Königs eben die Meierei umzingelt hatten, die zum Zufluchtsort Angéliques und der ihren geworden war.
Eingeschlossen wie Hasen in ihrer Grube, waren sie schon drauf und dran gewesen, sich zu ergeben, als Hugues de La Morinière und seine Protestanten sie befreit hatten. Angélique hatte beim Verlassen der Meierei über Leichen hinwegsteigen müssen. Honorine hustete von all dem eingeatmeten Rauch. Der Geruch des Pulvers und der Brände war im gleichen Maße Teil ihrer Existenz geworden wie das Krachen der Musketenschüsse, Blut und Schweiß auf den Gesichtern der Gehängten, Fluchten auf galoppierenden Pferden und finstere Nächte in der Tiefe der Wälder.
Ihre ersten Schritte hatte sie in Parthenay an dem Tage getan, an dem die Sturmglocke über der belagerten kleinen Stadt gedröhnt hatte. Die Angreifer waren abgewiesen worden und hatten sich zurückgezogen, aber die von allzu vielen Entbehrungen erschöpfte Stadt war für lange Zeit entkräftet geblieben. Angélique hatte Honorine nicht in dem Zimmer vorgefunden, in dem sie auf einem Stühlchen zurückgeblieben war. Sie war auf der Straße. So erfuhr ihre Mutter, daß sie gehen, ja sogar Treppen hinabsteigen konnte.
Ihr erstes Wort hatte sie an dem Tage gesagt, an dem Lancelot de La Morinière im Laufe eines hitzigen Gefechts in der Heide von Machecoul gefallen war. Und dieses erste Wort Honorines hatte Angélique wie eine Kugel ins Herz getroffen.
Sie hatte, vor einer roten Mohnblume stehend, »Blut« gesagt. Und ihr Gesichtchen war zu einer komisch wirkenden Leidensgrimasse verzogen, wie sie es bei Verwundeten gesehen hatte.
Auf die Blume deutend, wiederholte sie stolz: »Blut ... Blut.« Sie hatte das Wort an diesem Abend noch oft wiederholt. Bis Angélique wütend geworden war.
Die Härte der Sommerkämpfe hatte eine tiefe Müdigkeit in ihr zurückgelassen, und Furcht begann in sie einzusickern. Der König hatte nicht kapituliert, aber das Poitou wankte. Der seiner beiden Brüder beraubte Hugues de La Morinière war wie ein Körper ohne Kopf. Er war niemals imstande gewesen, selbständig zu denken. Nachdem Lancelot, der ihm seinen Glauben an Angélique eingeflößt hatte, tot war, gewann sein puritanisches Mißtrauen gegen die Frauen wieder die Oberhand. Und Samuel war nicht mehr da, um den Stolz des sich gegen den König erhebenden Vasallen in ihm zu stärken.
Das nahe Ende des Sommers würde vermutlich die drohende Katastrophe verhindern. Getäuscht durch den hartnäckigen Widerstand, war sich das militärische Kommando über die zu treffenden Maßnahmen noch im unklaren. Der König war dafür, die Rebellen an ihrer eigenen Kampfmüdigkeit, an Hunger, Not und Munitionsmangel scheitern zu lassen. Seine Minister schlugen dagegen den Einsatz erdrückender Kräfte vor. Der König selbst sollte seine Truppen zu blutiger Niederwerfung des Aufstandes führen, um alle anderen Provinzen abzuschrecken. Man durfte nicht vergessen, daß es sich auch in Aquitanien, in der Provence und der Bretagne rührte, und daß man der letzten Eroberungen, der Picardie und des Roussillon, nicht sicher sein konnte.
Angélique hatte von diesem Aufschub keine Ahnung. Sie konnte dergleichen vermuten, aber es fiel ihr schwer, ihre niedergeschlagenen Truppen ohne Beweise davon zu überzeugen. Dennoch war sie die einzige, die sie immer wieder daran erinnerte, daß es für sie keine Wahl mehr zwischen Kampf und Knechtschaft gab. Nach den Zuckungen des Sommers im Fieber glühendheißer Tage hatte sie sich darum mit de La Grange und seinen Männern in die Tiefe der Schluchten von Mervent geflüchtet. Sie kampierten in einem hundertjährigen Wald, der den Forst von Nieul in nördlicher Richtung verlängerte. Sie sammelten neue Kräfte und verbanden ihre Wunden ...
Der Abbé de Lesdiguière hatte einen Haufen dürrer Zweige zusammengetragen, steckte ihn mit seinem Feuerzeug an und machte sich daran, die für Honorine gesammelten Pilze zu kochen. Seine Muskete, die er fast ständig bei sich trug, hatte er neben sich ins Gras gelegt, und er schärfte dem Kind ein, sie nicht anzufassen. Honorine machte eine Grimasse, die bewies, daß sie es seit langem gelernt hatte, diesen rauchenden und knallenden Gegenständen zu mißtrauen.
Angélique saß einige Schritte entfernt auf einem moosüberzogenen Fels und beobachtete sie.
Der Abbé trug eine grobe Lammfellweste. Den runden Hut mit der Silberschnalle hatte er durch die unförmige, verwaschene Kopfbedeckung der Bauern der Gegend ersetzt. Der Kragen seines zerlumpten Hemdes öffnete sich über der jungen, gebräunten Brust, auf der ein an verschossenem Band hängendes goldenes Kreuz glänzte. Aus dem kleinen, zarten, gesitteten, bis in die Fingerspitzen kultivierten Präzeptor hatte sie also diesen Mann der Wildnis gemacht. Es war undenkbar, ihn mit dem Jüngling von Versailles oder Saint-Cloud zu vergleichen, der mit rührender Artigkeit die Spöttereien und herausfordernden Blicke der Damen des Hofs ertragen und mit Grazie seinen Diener gemacht hatte, um die verderbten großen Herren zu begrüßen. Seine Schultern waren breiter geworden, so daß seine schlanke Taille besser zur Geltung kam. Seine Zartheit hatte sich verloren. In seinem von Wind und Wetter gegerbten Gesicht hatte sich nur der sanfte Rehblick nicht verändert. Wie alt mochte er sein? Zwanzig Jahre? Zweiundzwanzig? ...
Sie rief ihn plötzlich, und er näherte sich ihr mit der gewohnten Bereitwilligkeit und Ehrerbietung, die den Luxus ihres einstigen Hauses mit seiner zahlreichen Dienerschaft wieder vor ihr erstehen ließ.
»Madame? .«
»Herr Abbé, ich habe Euch oft genug gebeten, uns zu verlassen. Jetzt muß es sein. Wir sind Gejagte. Ich weiß nicht, welcher Katastrophe wir entgegengehen. Kehrt zu den Euren zurück . Ich bitte Euch, tut es um meinetwillen. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, Schuld an Eurem Untergang zu sein.«
Wie immer, wenn sie auf dieses Thema kam, erblaßte er und legte die Hand aufs Herz.
»Es ist unmöglich, Madame. Ich kann nicht fern von Euch, getrennt von Euch leben.«
»Aber warum?«
Er starrte sie mit brennenden Augen an. Sein Blick war beredter als alle Worte. Er verletzte sie nicht, aber er bewegte sie bis zu Tränen. Angstvoll wandte sie die Augen ab.
»Nein, mein liebes Kind«, flehte sie leise, »nein, Ihr dürft nicht ... ich bin .«
Er unterbrach sie durch eine Geste.
»Ich weiß, wer Ihr seid ... Ihr seid die, die ich anbete . die, die mir eine Liebe einflößt, die mich hat begreifen lassen, daß man ... Gott über den Lippen einer Frau vergessen könnte.«
»Ihr dürft nicht so sprechen.«
Und als sie ihre Hand ausstreckte, nahm er sie in die seine. Sie wagte es nicht, sie ihm zu entziehen, so sehr überraschte sie die Berührung dieser Hand durch ihre Frische und Männlichkeit.
»Erlaubt, daß ich mich Euch . ein einziges Mal ... bekenne«, sagte er mit erstickter Stimme. »Ihr habt mein Dasein mit einem irdischen, lebendigen Gefühl erfüllt, das ich nicht zu bedauern vermag. Euer Anblick hat mich entzückt, jedes Eurer Worte .«
»Und doch kennt Ihr meine Fehler.«
»Sie haben Euch mir noch teurer gemacht, weil ich Euch schwächer, menschlicher sah. Ach, ich hätte Euch gern in meine Arme genommen und gegen Eure Feinde und gegen Euch selbst verteidigt ... Euch geschützt mit all meiner Kraft.«
Diese Kraft, die er für sich in Anspruch nahm, strömte von ihm aus, federnd im Schatten der Dämmerung, mit der gebieterischen Heftigkeit seiner Jugend. Und zum erstenmal seit langen Monaten war sie empfänglich für diesen dichten, durchdringenden Lebensstrom, der sie aus ihrer Verzweiflung herausreißen zu wollen schien.
Sie wußte, daß er sich abends in die Wälder entfernte, um auf die Knie zu sinken und heimlich zu beten. Aber wie lange noch würden sich die Liebe zu Gott und die, die er einer zur Verdammnis verurteilten Frau darbot, in sein Herz teilen können? ...
Unfähig zu sprechen, zog Angélique ihre Hand zurück und hüllte sich fröstelnd enger in ihren Mantel.
»Fürchtet nichts von mir«, sagte er sanft. »Ich hätte Euch angebetet ... wenn Ihr nur geruht hättet, einen Blick auf mich zu werfen. Auf das leiseste Zeichen von Euch hätte ich mich an Euch verloren . mit unsäglicher Wonne, wenn meine Worte Euch nicht beleidigen, Madame. Ich bin Euer sehr ergebener Diener ... Ich weiß, daß die Schranke, die mich von Euch trennt, ein unübersteigliches Hindernis ist.«
»Eure Berufung?«
»Nein ... Ihr selbst. Jenes Entsetzen, das Ihr vor den Männern und ihrem Verlangen empfindet, seitdem . nicht ich bin es in meiner Unwissenheit, der dieses Hindernis überwinden könnte.«
»Schweigt. Ihr wißt nicht, was Ihr sagt.«
»Ich weiß es .«
Der Schmerz prägte seinem Gesicht harte, männliche Züge ein.
». Man hat Euch zerstört, indem man Euch zuviel Leid antat. Und die Krankheit Eurer Seele hat sich Eurem Körper mitgeteilt ... Wenn es anders gewesen wäre, hätte ich mich Euch zu Füßen geworfen und Euch angefleht, mich zu lieben . Laßt mich es Euch sagen, ich bitte Euch. In den Jahren, in denen ich Euch auf allen Wegen gefolgt bin, ist mir Eure Nähe unentbehrlicher geworden als die Luft, die ich atme ... Wenn Ihr nicht so ... unberührbar geworden wärt, hätte es anders sein können .«
Er schwieg.
». Es ist nicht anders«, begann er leise von neuem. »Und es ist vielleicht besser so. Dieses Hindernisses wegen bin ich gezwungen, auf Seiten Gottes zu bleiben. Ich werde niemals Euer Liebhaber sein . Dieser Traum .«
Mit übermenschlicher Anstrengung überwand er sich:
»Wenigstens werde ich Euch retten .«
Das gläubige Leuchten kehrte in seine Augen zurück.
»Ich werde Euch retten ... ich werde mehr für Euch tun als alle die, die Euch in ihren Armen gehalten haben. Ich werde Euch wiedergeben, was Ihr verlort: Eure Seele, Euer Herz, Eure Weiblichkeit, alles, was man Euch nahm ... Noch kann ich nichts tun, aber ich werde für Euch sterben, und an jenem Tag ... an jenem Tag, an dem Gottes Licht mich umhüllen wird, wird mir die Gnade gewährt werden, Euch zu retten. Am Tage meines Todes ... oh, wenn er nur käme!«
Inbrünstig faltete er die Hände vor seiner Brust. »O Tod, beeile dich! Du allein erlaubst mir, sie zu befreien!«
Sie hatten den Ruf des Käuzchens überhört. Plötzlich erschien in der Öffnung zur Schlucht ein Reiter mit großem Spitzenkragen und im Winde flatterndem Helmbusch. Hinter ihm drängten sich mit Lanzen bewaffnete Männer in roten Röcken.
Angélique riß Honorine in ihre Arme. Der Abbé packte seine Muskete und deckte ihren Rückzug, während sie sich zwischen die Bäume warf und, mit dem ihren Hals umklammernden Kind auf dem Rücken, den Abhang hinaufkletterte. Herunterrollende Steine verrieten die Flucht der Partisanen, die sich so hoch wie möglich in der schlüpfrigen Schluchtwand verteilten.
Der Offizier faßte sich als erster.
»Da sind sie!« schrie er. »Wir sind in ihren Schlupfwinkel gefallen. Auf zur Wolfsjagd, Kinder!«
Die Soldaten sprangen aus den Sätteln und setzten zur Erstürmung des Abhangs an.
Angélique und ihre atemlosen Begleiter beobachteten die Annäherung der Rotröcke.
»Sie kommen ...«
»Wartet noch einen Augenblick ... Steigen wir noch ein wenig höher.«
Als die Soldaten die steilste Stelle des Abhangs dicht unter dem Kamm erreicht hatten, rief sie:
»Die Steine! Die Felsen! .«
Dumpfes Gedröhn erfüllte den dunklen Engpaß. Von den Bauern in Bewegung gesetzt, rollten riesige Steine, ganze Felsblöcke in die Tiefe und rissen auf ihrem Weg die in unsicheren Stellungen an den Steilhang gekauerten Soldaten mit. An Kopf oder Brust getroffen, verloren sie den Halt, stürzten und purzelten in wildem Durcheinander zu Tal.
Mit ihren Schultern stemmten die Bauern die mächtigen Granitblöcke, die seit Jahrhunderten über den Abgrund hingen, aus ihren Lagerungen. Schwerfällig polterten sie abwärts, rollten schneller und schneller, gegen die Baumstämme krachend, die ihnen den Weg verstellten, von neuem abspringend, um schließlich die am Fuße des Hanges versammelten Soldaten wie Ungeziefer zu zerquetschen.
Der Offizier ließ zum Sammeln blasen, und die Reiter begannen sich unter Zurücklassung der Toten mit ihren verwundeten Kameraden zurückzuziehen.
Noch im Sinken warf die Sonne purpurnes Licht über die Uniformen. Angélique beobachtete sie, zwischen den Zweigen hindurchspähend.
Sie erkannte den Offizier. Es war Monsieur de Brienne, einer jener Herren, die ihr in Versailles galant den Hof gemacht hatten. Ihn hier zu sehen, ließ sie die Weite des Weges ermessen, den sie seit den Tagen ihres flüchtigen Ruhms zurückgelegt hatte, ließ sie erkennen, welcher Abgrund, tiefer noch als diese Schlucht, sie für immer von jener Welt trennte.
Weit vorgebeugt, rief sie mit spöttischer Stimme, die lange zwischen den Schluchtwänden widerhallte:
»Ich grüße Euch, Monsieur de Brienne. Bestellt Seiner Majestät einen schönen Gruß von Bagatell-chen!«
Der König erblaßte, als er von diesem Auftrag erfuhr. Er riegelte sich in seinem Arbeitskabinett ein und blieb dort mehrere Stunden allein, das Gesicht in den Händen vergraben.
Dann ließ er den Kriegsminister kommen und befahl ihm, alles ins Werk zu setzen, um den Aufstand des Poitou noch vor dem folgenden Frühling zu unterdrücken.
Unter den Regimentern, die der König 1673 ins Poitou entsandte, befanden sich das 1. Regiment der Auvergne, befehligt von Monsieur de Riom, und fünf der ruhmreichsten Kompanien aus den Ardennen. Der König hatte von der abergläubischen Furcht der Soldaten vor den heimtückischen Fallen der Wildnis des Poitou gehört. Diejenigen, die er nun schickte, Söhne der Wälder der Auvergne und der Ardennen, waren seit ihrer Kindheit an die unheilkündende Dämmerung unter den Bäumen, an Wildschweine, Wölfe und Felsen gewöhnt und verstanden es, unsichtbaren Fährten zu folgen. Ihre Väter waren Holzschuhmacher, Holzfäller oder Kohlenbrenner. Sie waren nicht mehr in Rot gekleidet wie die Dragoner, sondern in Schwarz, und ihre Uniformen, ihre stählernen Helme mit hohem, scharfem Stutz und ihre engen, bis zur Höhe der Schenkel reichenden Stiefel erinnerten an die schrecklichen Spanier. Sie führten Jagdhunde mit sich, muskulöse, blutdürstige Doggen. Das abgehackte, atemlose Gedröhn ihrer hohen Trommeln erhob sich über das verödete, schreckerstarrte Land.
Mit ihnen drang das Grauen ins Poitou.
Dreitausend Infanteristen, eintausendfünfhundert Reiter, zweitausend Pferdeknechte, Verwaltungspersonal und Artilleristen. Kanonen für die Städte ...
Der König hatte gesagt: Vor dem Frühling.
Der Winter würde den Krieg diesmal nicht zum Stillstand bringen.
Im Frühling war nur noch eine letzte unbe-zwungene Bastion übriggeblieben. Die, von der die Revolte ausgegangen war, das Gebiet zwischen La Châtaigneraie und den Sümpfen, in der sich die letzten Verschworenen gesammelt hatten.
Grausamer Frühling!
Die Kälte hielt an, und noch gegen Ende März war die Erde gefroren und keine Milde zu spüren.
Durch das schmale Fenster der Meierei spähte Angélique nach dem zurückkehrenden Flipot aus. Er trat ein, mager, ausgemergelt, zerlumpt wie ein Vagabund. Hunger, Kälte, das Dasein eines gejagten Tiers - nichts konnte seiner guten Laune etwas anhaben.
»Es ist mir gelungen, sie zu finden«, sagte er. »Man hielt Euch für tot oder gefangen. Ich habe ihnen erzählt, wie Ihr mitten in der Nacht aus dem Schloß von Fougeroux entwischt seid. Niemand wäre auf die Idee gekommen, daß sie Euch dort suchen könnten. Bestimmt sind wir verraten worden. Verräter gibt’s jetzt überall.«
Er warf einen verstohlenen Blick auf die Bäuerin und ihren alten Vater, die vor dem Herd saßen, wischte sich die gerötete Nase mit seinem Ärmel und fuhr mit gedämpfter Stimme fort:
»Ich habe den Abbé, Malbrant Schwertstreich, den Herrn Baron und Martin Genêt gesehen. Sie sind alle derselben Meinung. Wir müssen schleunigst das Land verlassen. Was jetzt vor sich geht, ist eine Jagd auf Menschen oder vielmehr auf eine Frau. Auf Euch, Frau Marquise. Man hat einen Preis auf Euren Kopf gesetzt. Sie sind überzeugt, für fünfhundert Livres jemand zu finden, der Euch verkauft. Die Leute haben Angst, und hungrig sind sie auch. Darum ist dieser Entschluß gefaßt worden. Heute abend noch gehen wir zur Laterne der Taube, und wenn alle beisammen sind, marschieren wir durch den Wald in die Sümpfe und von da aus zur Küste. Ponce-le-Palud, der es fertig gebracht hat, sich noch nicht hängen zu lassen, wird uns helfen, ein Versteck zu finden ... oder ein Schiff.«
»Ein Schiff .«, wiederholte Angélique.
Das Wort enthielt ihre Niederlage. Im Laufe dieses entsetzlichen Winters war ihr nach und nach der Sinn des Kampfes entglitten, den sie führte. Ihr Leben zu retten, von Ort zu Ort vor den Verfolgern zu fliehen, sich an jedem Abend lebendig wiederzufinden, war zu ihrem einzigen, aber erschöpfenden Ziel geworden. Es gab keinen anderen Ausweg als Flucht.
»Ich habe sie nicht hierherbestellt«, flüsterte Flipot, »weil mir die Leute hier kein Vertrauen einflößen. Sie wissen, wer Ihr seid, und wie überall jetzt machen sie Euch für ihr Unglück verantwortlich.«
Die Bauersleute flüsterten miteinander, während sie düstere Blicke in ihre Richtung warfen.
Angélique wagte es schon nicht mehr, sich mit ihrer Tochter dem kümmerlichen Feuer zu nähern, so stark fühlte sie den Groll der armen Teufel auf sich lasten.
Der Mann der Bäuerin war im Kampf für den König gefallen. Die vorbeiziehenden Soldaten hatten ihr alles genommen: Brot, Vieh, Korn, und zudem hatten sie ihr die älteste Tochter entführt. Man wußte nicht, was aus ihr geworden war.
Im Hintergrund des Raums, wo das in der Vendée übliche große Bett stand, lugten vier blasse Frätzchen unter zerrissenen Decken hervor. Die Mutter ließ die Kinder den ganzen Tag über im Bett, weil sie es dort wärmer hatten und weniger hungrig wurden.
Gleich darauf erhob sich der alte Vater, nachdem er sich durch Blicke mit seiner Tochter verständigt hatte, zog eine weite Joppe über und nahm seine Axt, während er erklärte, daß er ein wenig Holz schlagen wolle.
»Ich würde mich nicht wundern, wenn er die Soldaten auf unsere Spur setzte«, murmelte Flipot. »Vielleicht wär’s besser, sofort zu verschwinden.«
Angélique teilte seine Ansicht.
Die Bäuerin suchte sie unerklärlicherweise zurückzuhalten, so daß Angélique ihren Aufbruch noch beschleunigte. Sie nahm einen Kanten Brot und Käse als Wegzehrung für Honorine mit. Die Frau überhäufte sie mit Schmähworten.
»Geht nur! Geht! Laßt Euch nicht mehr blicken. Ihr und Euer verfluchtes Kind habt mich mit den Grillen auseinandergebracht. Seitdem Ihr bei uns seid, höre ich sie nicht mehr in den Wänden zirpen. Was soll aus uns werden, wenn die Grillen uns verlassen?«
Das Verschwinden der vertrauten Geister schien ihr unheilvoller als alle die Prüfungen, die schon über sie hereingebrochen waren.
Angélique ritt auf einem ausgemergelten Maultier, das kaum noch die Kraft hatte, sich in langsamem Trott fortzubewegen. Flipot führte es am Zügel. Sie durchquerten brennende Dörfer, auf deren Plätzen an den Zweigen der Rüstern trübselige Gehängte baumelten.
Der Abend sank, als sie die Laterne der Taube erreichten. Sie brannte. Die Totenlaternen sind die Leuchttürme der Wildnis. Hohe, steinerne Kerzen auf mit Stufen versehenen Sockeln, erheben sie sich an den Kreuzwegen, um den nächtlichen Reisenden, die sich in der tiefen Dunkelheit der Hohlwege verirren, als Anhaltspunkte zu dienen. Auch sollen sie die irrenden Seelen um sich sammeln und sie daran hindern, die schlummernden Lebenden zu quälen. Obwohl gegen Ende dieses Winters Öl und Fett zu kostbaren Seltenheiten geworden waren, versuchten fromme Hände, das Licht in Betrieb zu halten. Der Holzschuhmacher, der nahe der Taubenlaterne hauste, ging jeden Abend hinunter, um den durch ein verziertes, spitzes Dach geschützten Hanfdocht mit seinem Feuerzeug anzuzünden.
Angélique stieg von ihrem Maultier und ließ sich auf den moosigen Steinstufen nieder. »Niemand ist da«, sagte sie. »Wir werden erfrieren, wenn wir ein paar Stunden mit der Kleinen hier warten. Nimm das Maultier, Flipot, und reite den anderen entgegen. Sag ihnen, daß sie sich beeilen und eine Scheune für die Nacht auftreiben sollen.«
Flipot entfernte sich; das Klappern der müden Hufe auf dem gefrorenen Boden tönte noch lange durch die kristallinische Luft. Das Knacken der froststarren Bäume erinnerte an das klirrende Geräusch zerbrechenden Glases, und die mit jeder Minute zunehmende Kälte durchdrang sie mit schneidender Schärfe, Unbeweglich am Fuße des Steinschafts sitzend, spürte Angélique sie bis auf die Knochen. Ihr Atem verdichtete sich vor ihrem Mund zu bereiftem Brodem. Honorine kauerte an sie gepreßt unter ihrem Mantel; ihre weiche Wange hatte ihre Wärme verloren. Das trübe Licht der Laterne enthüllte ihr den Blick des Kindes, schwarze, aufmerksame Augen wie die eines Eichhörnchens, die in die sie umgebende Nacht spähten. Angéliques Arme genügten nicht mehr, sie zu erwärmen. Ihre kleinen Hände, die Brot und Käse umklammerten, waren starr vor Frost. Angélique erinnerte sich der Worte der Bäuerin.
»Das verfluchte Kind ... So also nennen sie es.«
Ihre Lippen zitterten vor Zorn. »In was mischen sie sich ein, diese Lumpen? Nur ich kann wissen, ob du verflucht bist oder nicht .«
Zum hundertstenmal zog sie mit erstarrten Fingern ihren Schal um das Kind zurecht.
Sie lauschte, von einem Augenblick zum andern hoffend, in der Ferne Pferdegetrappel zu vernehmen. Aber nur das Knistern und Knacken der Zweige erregte ihre Aufmerksamkeit.
»Wer kommt da?« fragte sie mit lauter Stimme.
Vergeblich suchte sie auszumachen, was sich im Unterholz bewegte. Plötzlich erhob sich ein langgezogenes Heulen. Sie sprang auf, das Blut schien in ihren Adern geronnen. Die Wölfe! ... Sie hätte darauf gefaßt sein müssen, daß sie auftauchen würden.
Die Unerschrockenheit der ausgehungerten Bestien, die des ungewöhnlich lange anhaltenden Winters wegen aus ihren Schlupfwinkeln in den Wäldern gekommen waren, hatte sie und ihre Leute im Laufe dieser letzten Monate schon mehrmals in eine schwierige Lage gebracht. Sogar Berittene hatten die Wölfe verfolgt. Sie strichen um die Biwakfeuer, so daß man, um sie zu vertreiben, Fackeln und brennende Strohwische nach ihnen schleudern mußte.
Das Licht der Totenlaterne würde nicht ausreichen, um sie zu vertreiben. In Angéliques Gürtel steckte eine Pistole. Sie konnte sie abschrecken, aber nicht für lange.
Die ein wenig höher gelegene Hütte des Holzschuhmachers fiel ihr ein. Sie mußte sie zu erreichen versuchen, solange sich die Wölfe nicht näher heranwagten und der erstaunlich blaue, durch die Kälte aufgeklarte Himmel noch ein wenig Licht in das Dunkel unter den Bäumen sickern ließ. Sie setzte sich in Bewegung, im Bewußtsein der ihr folgenden lautlosen Wolfsschatten in den Büschen.
Wenn sie sich umdrehte, konnte sie ihre phosphoreszierenden Lichter erkennen. Ohne ihren Schritt zu verlangsamen, bückte sie sich, las Steine auf und warf sie in ihre Richtung, wie man es mit bissigen Hunden tut. Vor allem durfte sie nicht stolpern und fallen. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie endlich das rötlich schimmernde Fenster der Hütte unter den Bäumen erblickte. Sie mußte sich kräftig gegen die Tür stemmen, bevor sie nachgab und sich öffnete. Durch Zeichen erklärte Angélique dem Taubstummen, daß sie von Wölfen verfolgt würde und daß es nötig sei, sich tüchtig zu verbarrikadieren. Um den armen Tropf und seinen gleichfalls taubstummen Sohn zu beruhigen, die sie erschrocken anstarrten, legte sie ein Goldstück auf den Tisch, das letzte von denen, die ihr der Baron du Croissec kürzlich vorgeschossen hatte. Ein Schinken wäre ihnen in dieser Zeit der Not vermutlich gelegener gekommen. Die vom Saft des frischen Holzes geschwärzten Hände des Alten griffen jedoch gierig nach dem Goldstück und drehten es lange hin und her, bevor sie es in den Gürtel gleiten ließen.
Angélique setzte sich vor den Herd. Wenigstens war es warm hier. Der taubstumme Junge warf eine Handvoll Späne auf die Glut, und Angélique hielt Honorines kleine Füße näher an die Flamme, sie sanft reibend, um die Zirkulation des Blutes zu beleben. In der aufmunternden Wärme färbten sich die Wangen des Kindes wieder, und es begann an seinem Käse zu knabbern, während es mit dem an ihm gewohnten aufmerksamen Blick seine neue Umgebung musterte. Die in Trauben an den Dachbalken hängenden Holzschuhe erregten seine Aufmerksamkeit besonders. Angélique horchte immer wieder nach draußen, in der Hoffnung, die Musketenschüsse ihrer Begleiter zu hören, die, am Treffpunkt angelangt, begreifen würden, daß sie vor den Wölfen hatte fliehen müssen. Sie wollte dann auf die Schwelle der Hütte treten und mit einem Pistolenschuß antworten. Doch sie hörte nichts. Des Wartens müde, streckte sie sich schließlich mit Honorine auf dem dürftigen Lager aus, das der Holzschuhmacher ihr anwies. Das Bett aus Holzspänen war behaglicher, als sie gedacht hatte. Sie lehnte die ihr gereichte verdächtige Decke ab, nahm aber ein grobes Schaffell an.
Sie fühlte sich seltsam ruhig und vermochte sogar ein paar Stunden traumlos zu schlafen. Seit langer Zeit schon hatte sie aufgehört, sich mit Gedanken über ihre Vergangenheit zu beschweren, über das, was hätte sein können oder nicht hätte sein dürfen, und über die Fülle der dramatischen Geschehnisse, mit denen sie in ihrem verhältnismäßig kurzen Dasein schon fertiggeworden war. Sie war für diese Sorgen und Dramen selbst verantwortlich. Sie hatte gegen die Gesetze und alles, was man ihr sonst beigebracht hatte, leben wollen. Hatte ihr erster Mann das gleiche Verbrechen nicht teuer bezahlen müssen? Weit entfernt, daraus eine Lehre zu ziehen, war sie auf dem Wege des Widerstands gegen die herrschenden Mächte weitergegangen. Sie wunderte sich nicht mehr darüber, ihnen zum Opfer gefallen zu sein, wie sie es so lange getan hatte. Der Kampf ums Dasein war ihr zur zweiten Natur geworden, und aus der privile-gierten, nach Gesetzen und Regeln geordneten Welt war sie in die der wilden Tiere hinabgestiegen, die täglich ihr Leben verteidigen und tausend Gefahren abwehren mußten.
Gegen Mitternacht erwachte sie und bemerkte den Holzschuhmacher, der durch das schmale Fenster spähte. Sie trat hinter ihn und entdeckte in der Lichtung unruhig umherstreichende Wölfe. Der größte von ihnen hob den spitzen Kopf und heulte mehrere Male. Die Ziege im Stall zerrte an ihrer Kette und blökte.
Angélique legte sich wieder neben Honorine nieder. Mit leichten Fingern ordnete sie die roten Löckchen, die in die Stirn der Kleinen fielen, und betrachtete das Gesicht der friedlich Schlummernden. Die Unheil kündende Bedeutung des heulenden Wolfs bestätigte die Ahnungen ihres Herzens. »Das ist der Anfang vom Ende«, sagte sie sich.
Am Morgen hatte es geschneit. Eine leichte, pulvrige Schneedecke verhüllte die Umgebung, die ersten zagen Frühlingshoffnungen zunichte machend. Das geschundene Land weigerte sich, zum Leben zu erwachen.
Vergebens suchte Angélique in der Hütte nach einem Stück Papier und einer Feder. Schließlich nahm sie einen Fetzen Tuch und schrieb mit einem Stück Holzkohle darauf. Mehr Geduld erforderte es, dem Sohn des Holzschuhmachers begreiflich zu machen, wo sich die Meierei der Fayets befand, zu der er sich begeben sollte.
Endlich schlurfte der Junge durch den Schnee davon, die Botschaft an die Brust drückend, durch die Angélique den Abbé de Lesdiguière über ihren Aufenthaltsort unterrichten wollte.
Erst am folgenden Tag kehrte er zurück. Durch Zeichen gab er ihr zu verstehen, daß er einen ihrer Begleiter getroffen habe und daß man sie am Stein der Feen erwarte, den er gut erkennbar auf die hölzerne Platte des Tisches zeichnete.
Warum waren sie nicht selbst hierher gekommen? Warum hatte der Abbé dem kleinen Taubstummen keinen Brief anvertraut? ... Da sie dem Jungen keine weiteren Auskünfte entlocken konnte, entschloß sie sich, zu dem angegebenen Treffpunkt zu gehen. Es war gut möglich, daß sie aus Vorsicht den abgelegenen Ort gewählt hatten.
Sie machte sich also auf, während des Weges bedauernd, daß sie keine Männerkleidung trug, da ihre Röcke sie beim Marsch durch den Schnee behinderten.
Am Rande der Schlucht der Wölfe angelangt, zögerte sie angesichts der zusammengewehten Schneemengen. Der Umweg über den Kammpfad hätte sie allzu lange aufgehalten. Da Honorine ihr dabei im Wege sein würde, setzte sie das Kind ins Moos unter einen Baum, dessen dichtes Gezweig seine nächste Umgebung ziemlich trocken gehalten hatte, band es mit ihrem Gürtel an den Stamm und ermahnte es, artig zu sein. Der Abbé und Flipot würden bald kommen, um es zu holen. Honorine war daran gewöhnt, auf solche Weise irgendwo zurückgelassen zu werden. Mehr als einmal hatte sie so bei der Nachhut das Ende eines Gefechts oder eines Erkundungsstreifzugs abgewartet.
Angélique hatte bei der Durchquerung der Schlucht zahllose Hindernisse zu überwinden. Mehrmals stürzte sie und versank bis zur Taille im Schnee. Als sie die Höhe der anderen Seite erreicht hatte, glaubte sie zu ihrer Linken menschliche Gestalten sich bewegen zu sehen, und in der Annahme, daß es ihre Begleiter seien, wollte sie sie anrufen. Doch der Ruf erstickte in ihrer Kehle.
Soldaten traten aus dem Wald.
Sie hatten sie nicht entdeckt und folgten der Baumlinie auf der rechten Seite des Tals. Schwarz und mager, mit ihren schimmernden Helmen und Lanzen, die sich gegen den grauen Himmel abzeichneten, hatten sie etwas von der grausamen, heimtük-kischen Art der Wölfe.
Vor Schreck wie gelähmt, wartete Angélique auf ihr Verschwinden, um ihren Weg fortsetzen zu können. Woher kamen diese Soldaten? Was taten sie in dieser entlegenen Gegend des Waldes? Wen suchten sie? ...
Langsamer als zuvor schleppte sie sich in Richtung des Steins der Feen weiter. Die Angst raubte ihr fast den Atem. Am Rande der Lichtung wußte sie, daß sie zu spät gekommen war. Gehängte hingen von den Ästen der Eichen rings um den Stein. Der erste, den sie erkannte, war Flipot ...
Mein armer Flipot! Gestern noch so voll zäher Lebenskraft! Sie hatte ihn nicht vor seinem ihm bestimmten Schicksal bewahren können.
Dann erkannte sie alle, einen nach dem andern: den Abbé de Lesdiguière, Malbrant Schwertstreich, Martin Genêt, den Stallknecht Alain, den Baron du Croissec ... Die Gehängten mit ihren vertrauten Gesichtern bevölkerten die Lichtung mit einer beinah lebendigen Gegenwart, und um ein weniges hätte sie mit ihnen gesprochen: »Da seid ihr endlich . meine Freunde .«
Sie mußte sich an einen Baum lehnen.
»Verflucht seist du, König von Frankreich«, murmelte sie. »Verflucht seist du!«
Wie betäubt blieb sie stehen und vermochte ihren Augen nicht zu trauen. In welchen Hinterhalt waren sie gefallen? Wer hatte sie verraten? Die Soldaten eben? ... Ohne Zweifel waren sie es, die diese grausige Hinrichtung vollzogen hatten.
Die wahnwitzige Hoffnung, daß sie noch nicht tot seien, daß sie wenigstens einen von ihnen wieder ins Leben zurückrufen könnte, ließ sie auf den Stein klettern und versuchen, den Abbé de Lesdiguière von seinem Strang zu lösen. Es gelang ihr, und der Körper glitt weich zu Boden. Trotz der Kälte war er noch nicht erstarrt. Neben ihm kniend, forschte Angélique nach seinem Herzschlag, nach irgendeinem Lebenszeichen. Doch der Tod hatte sein Werk getan. Sie drückte ihn gegen ihr Herz und küßte seine reine Stirn.
»O mein Schutzengel! ... Mein liebes Kind! ... Ihr seid gestorben ... gestorben für mich. Was wird ohne Euch aus mir werden?«
Voller Schmerz betrachtete sie seine starren, schönen Augen, die nichts mehr sahen. Sanft schloß sie seine Lider, schloß sie seinen angeschwollenen Mund ...
Ein ferner, dünner Schrei, der in der frostigen Luft vibrierte, riß sie aus ihrer Versunkenheit. Honorine!
Angélique schüttelte die stumpfe Benommenheit ab, die über sie gekommen war, die vertrauten Toten mit einem letzten Blick umfangend. Sie mußte das Kind retten ...
Honorine saß still unter dem Baum. Sie weinte nicht, aber ihre kleine Nase war rot wie eine Stechpalmenbeere. Sie bewegte ihre Ärmchen in allen Richtungen, um ihre Freude auszudrücken, als sie ihre Mutter bemerkte.
Sie band sie los und nahm sie in ihre Arme. In diesem Augenblick glaubte sie einen Blick auf sich ruhen zu fühlen, wandte sich um und entdeckte auf der anderen Seite der Schlucht der Wölfe einen Soldaten, der sie beobachtete .
Bei der ersten Bewegung Angéliques stieß der Mann einen gutturalen Schrei aus.
Es gelang ihr, die Böschung zu erklettern und sich in die Deckung der Bäume zu flüchten. Sie begann geradeaus zu marschieren, einem Pfad nachdem anderen folgend. Ihr schwerer, durchfeuchteter Rock schlug ihr hindernd um die Beine, doch sie ging schnell, von ihrer Angst vorangetrieben.
Von fern drang dumpfes Hundegebell zu ihr herüber. Hatten sich die Soldaten an ihre Verfolgung gemacht? Mit ihren Hunden? Sie atmete schwer, ihre Arme waren unter dem Gewicht des Kindes fühllos geworden.
Nun war jeder Zweifel ausgeschlossen: sie wurde verfolgt. Das Bellen kam näher, sie unterschied schon die anfeuernden Rufe der Soldaten. Offenbar hielten sie die Hunde noch an ihren Leinen. Der feuchte Schnee bewahrte ihre Spuren. Es nützte ihr nichts, mit der List des von seinen Jägern zum äußersten getriebenen Tieres nach links und rechts Haken zu schlagen; sie würden sie mühelos wiederfinden und sie unerbittlich einkreisen.
Die Dämmerung fiel ein. Der bleierne Himmel schien sich mit der Nacht herabzusenken. Angélique spürte auf ihren Wangen die leise Berührung der ersten Flocken, die um sie herum zu tanzen begannen. Dann fielen sie dichter, und bald schritt sie wie durch gleitende, undurchsichtige Vorhänge, die sie zu ersticken drohten. Aber der Schnee würde wenigstens ihre Spuren verwischen ...
Tatsächlich schienen ihre Verfolger zurückzubleiben. Das Bellen der Hunde war nicht mehr zu hören. Auch sonst kein Laut. Sie bewegte sich in einer Grabesstille, die nur vom dichten, lautlosen Fallen des Schnees erfüllt war. Ihr nasses Gesicht war durch die Kälte wie gelähmt. Oftmals stieß sie hart gegen Baume.
Endlich hielt sie inne. Die Nacht war nun vollständig hereingebrochen. Sie wußte nicht, wo sie sich befand. Der Schnee fiel sanft auf sie herab. Sie war versucht, sich niederzusetzen, wenn auch nur für einen Augenblick, aber dann würde sie nicht wieder aufstehen.
Das Kind rührte sich leicht in ihren Armen.
»Hab keine Angst«, murmelte Angélique, ihre Lippen nur mit Mühe bewegend, »fürchte nichts, ich kenne den Wald, weißt du .«
Von neuem hörte sie das Kläffen der Hunde. Sie gaben nicht auf. Angélique setzte sich in Bewegung. Sie taumelte und hielt sich eben noch aufrecht. Der Boden war ihr unterm Fuß weggeglitten. Sie mußte sich am Rand einer Schlucht oder eines steilen Abhangs befinden. Sie spürte die Leere in einer neuen, von der Enge zwischen den Bäumen gelösten Weite der Nacht.
Als sie unbeweglich stehenblieb, drangen die erstickten Töne einer Glocke an ihr Ohr. Das rhythmische Anschlagen versprach ihr Asyl.
Von wilder Hoffnung erfüllt, begann sie vorsichtig den Abhang hinunterzuklettern, und bald erkannte sie, dunkler noch als die Nacht, die hohen Mauern der Abtei von Nieul. Sie zerrte an der Kette des Portals. Dem eisigen, ausweglosen Alptraum entronnen, fühlte sie sich im Schutz der Tornische bereits halb geborgen.
Eine Hand schob den Schieber des Gucklochs beiseite, eine Stimme sagte:
»Gelobt sei Gott! Was wünscht Ihr?«
»Ich habe mich mit meinem Kind im Wald verirrt.
Gewährt mir Asyl.«
»Wir beherbergen keine Frauen in der Abtei. Wenn Ihr fünfzig Schritt weitergeht, findet Ihr ein Wirtshaus, in dem man Euch aufnehmen wird.«
»Nein ... ich werde von Soldaten verfolgt. Nur Eure Mauern können mich schützen.«
»Geht zum Wirtshaus«, wiederholte die Stimme.
Der Unsichtbare schien das Guckloch schließen zu wollen. Verzweifelt schrie sie auf:
»Ich bin die Schwester Eures Benefizianten Albert de Sancé de Monteloup. öffnet mir, um Gottes willen ... öffnet mir!«
Der Pförtner zögerte, dann schloß sich der Schieber. Gleich darauf hörte sie Schlüssel klirren und das Knirschen schwerer Riegel. Sie warf sich in den sich öffnenden Spalt wie ein menschliches Abbild des Unwetters, dessen Schneegewirbel hinter ihr zurückblieb.
Zwei kleine weißhaarige Mönche betrachteten sie mit verdutzten Mienen.
»Schließt diese Tür«, flehte sie, »schließt sie fest und öffnet vor allem nicht, wenn Soldaten Einlaß begehren.«
Sie gehorchten, und Angélique atmete auf, als der große hölzerne Balken quer vor den Türflügeln lag.
»Haben wir recht verstanden, daß Ihr die Schwester des Benefizianten der Abtei, Monsieur de Sancés, seid?« fragte einer der Mönche.
»Ja, es ist wahr.«
»Wartet dort«, sagte er, auf die Tür eines niedrigen Raumes weisend, in dem eine große Kerze in einem kupfernen Wandleuchter brannte. Unter der steinernen Wölbung war es kaum weniger kalt als draußen.
Angélique zitterte vor Kälte und Erschöpfung an allen Gliedern. Ihre erstarrten Arme, mit denen sie die wimmernde Honorine umfing, spürte sie nicht mehr.
Endlich bemerkte sie die Gestalten zweier anderer Mönche, die sich vom Kloster her näherten. Einer von ihnen hielt eine Öllampe. Sie trugen die den Oberen vorbehaltenen weißen Kutten. Sie betraten den Raum und blieben vor ihr stehen. Der Jüngere trat noch näher heran, während er die Lampe hob, um das erbarmungswürdige Gesicht der Besucherin besser erkennen zu können.
»Ja, sie ist es«, sagte er schließlich. »Es ist meine Schwester Angélique de Sancé ...«
Die Glocke des Portals wurde stürmisch gezogen, und der Bruder Pförtner erschien, um zu melden, daß eine Schar bewaffneter Männer Einlaß in die Abtei begehre.
»Öffnet ihnen nicht«, flehte Angélique, »sonst bin ich verloren. Ich bin es, die sie verfolgen.«
»Die Rebellin des Poitou«, sagte Albert gedämpft.
Sie warf ihnen einen verstörten Blick zu. Die Unmenschlichkeit war ihr allzu vertraut geworden, als daß sie in diesen kalt blickenden Mönchen etwas anderes als Feinde hätte sehen können. Sie würden die Verfolgte ausliefern.
Sie sank auf die Knie, die Augen auf das marmorne Antlitz des Vaters Abbé geheftet, während ihre Lippen unablässig den alten Schrei des Mittelalters wiederholten, der so viele Jahrhunderte hindurch grausamen Menschenjagden auf der Schwelle der Kirchen ein Ende gesetzt hatte: »Asyl! ... Asyl!«
Er beruhigte sie mit einer Bewegung seiner Hand und entfernte sich gleich einem Phantom in seiner weißen Kutte in Richtung des Portals.
Einige Minuten später kam er zurück. Er hatte die Soldaten zum Wirtshaus geschickt. Durch die Verfolgung im Schnee erschöpft, wären sie nicht in der Lage gewesen, die befestigte Abtei zu stürmen, die so manchem Krieg widerstanden hatte. Ohne auf Durchsuchung zu bestehen, hatten sie sich ent-fernt, zumal ihnen der Bruder Pförtner ermunternd nachgerufen hatte, daß der Wirt ganze Fässer guten Charente-Wein habe, wie man ihn in diesen unruhigen Zeiten selten finde.
Von neuem herrschte im Innern des Klosters Schweigen, Angélique lag noch immer auf den Knien, wie ausgehöhlt von Müdigkeit. Es war Albert, der sich über sie neigte, um ihr das kleine, vor Kälte zitternde Wesen mit den lebhaften schwarzen Augen eines Waldtiers abzunehmen, das sie an sich drückte.
»Erhebt Euch, Madame.«
Der Vater Abbé reichte ihr die Hand. Eine magere Hand, die jedoch ungewöhnliche Kraft verriet. Sie raffte sich auf.
»Die Abtei kann Euch nur wenig Bequemlichkeiten bieten, Madame.«
Seine Stimme klang tief, eintönig und gleichsam körperlos, eine Stimme, die es gewohnt war zu psalmodieren.
»Ich wüßte Euch nur zwei einigermaßen behagliche Orte vorzuschlagen: die Küche, um Euch aufzufrischen, den Stall zum Schlafen.«
Bei der Erwähnung dieser bescheidenen Örtlichkeiten mußte ein Ausdruck des Entzückens in Angéliques froststarre Züge getreten sein, denn etwas, was einem leisen Lächeln ähnelte, huschte über das strenge Gesicht des Priors.
»Geht in Frieden«, schloß er. »Euer Bruder wird Euch führen.«
Vor dem hochauflodernden Feuer der Küche rieb Angélique, aus deren schweren durchnäßten Kleidern der Dampf aufstieg, die kleinen, eisigen Füße Honorines und ließ sie eine Schale warmer Milch trinken. Dann zog sie die Kleine aus und wickelte sie in eine angewärmte Decke. Die Laienbrüder in ihren schwarzen Kutten bedienten sie in dem von der Ordensregel vorgeschriebenen Schweigen. Man hörte nur das leise Klappen ihrer Sandalen und das Knacken des Feuers, in dessen Glut sie noch zwei dicke Reisigbündel geworfen hatten. Angéliques Kleidung war bald trocken, aber sie fühlte sich allzu sehr am Ende ihrer Kräfte, um noch Nahrung zu sich nehmen zu können.
Sie sank ins Heu und in den Schlaf wie in eine Ohnmacht. Es waren die Hände Albert de Sancés, die Honorine in eine Krippe betteten, eine ländliche, mit Heu und Stroh wohlgepolsterte Wiege. Bevor er sich entfernte, häufte er noch Heu um seine schlafende Schwester.
Draußen schneite es mit beharrlicher Sanftheit weiter. Ein weißer Mantel breitete sich über die Abtei, über den erstarrten Wald, ein weißes Leichentuch für die Gehängten am Stein der Feen .
Angélique erwachte in der Nacht. Ein Glöckchen läutete. Die Kühe bewegten sich schnaufend hinter den Bretterwänden ihrer Verschlage. Durch die von raunenden Stallgeräuschen erfüllte Stille drang von fern die monotone Melodie eines gregorianischen Gesangs.
Sie streckte die Hand aus und fuhr zusammen. Sie hatte etwas Heißes berührt. Sie brauchte einen Augenblick, um sich klar zu machen, daß es Honorines Stirn war. Im gelblichen Licht der Laterne, die sie vom Haken neben der Tür genommen hatte, beugte sie sich über das Kind, das mit gerötetem Gesicht im Stroh lag. Sein Atem ging schnell und kurz.
Während dreier Tage wich sie nicht vom Lager der Kleinen. Oft gesellte sich der Bruder Krankenpfleger zu ihr. Er hatte weißes Haar und Augen vom gleichen ausgeblaßten Veilchenblau wie die Blumen, die er im Wald für seine Arzneitränke sammelte.
»Wenn sie stirbt«, sagte Angélique wild, »werde ich die Soldaten, die uns verfolgten, mit eigener Hand töten.«
»Nun, nun, Ihr würdet besser daran tun, zu Unserer Lieben Frau zu beten, die eine Mutter wie Ihr ist«, antwortete der Bruder sanft.
Als sie eines Morgens erwachte, sah sie Honorine auf ihrem Lager sitzen und ernsthaft mit einer Kornähre spielen. Von ihrer Freude überwältigt, rief sie den Laienbruder, der am anderen Ende des Stalles seine Kühe melkte.
»Bruder Anselme! Kommt her und seht! ... Ich glaube, sie ist wieder gesund!«
Der wohlbeleibte Bruder Anselme und die beiden Mönche, die ihm bei seiner Arbeit halfen, bildeten einen Kreis um Honorine. Sie war magerer geworden, Schatten umgaben ihre Augen, aber sie schien munter und guter Dinge. Sie nahm die Milch, die man ihr reichte, und die freudigen Bekundigungen ihrer Umgebung mit der Würde einer Königin entgegen, die die Aufregung ihrer Pagen nachsichtig übersieht.
»Der kleine Jesus wird uns nicht verlassen«, meinte Bruder Anselme heiter. Sich an Angélique wendend, fügte er derb hinzu:
»Danket dem Herrn und lobt ihn, gottloses Weib! Seitdem Ihr hier seid, habe ich Euch nicht ein einziges Mal das Kreuz schlagen sehen.«
Albert de Sancé besuchte seine Schwester, in der Hand ein Kästchen aus rotem, mit goldenen Arabesken verziertem Leder. Angélique berührte es seltsam, daß die mönchische Kutte besser zu ihrem Bruder zu passen schien als die zarten Atlasgewebe, die er während seiner Höflingszeit getragen hatte. Jetzt erst fiel ihr auf, daß sein bleiches, schmales Gesicht schon immer zur Entsagung bestimmt gewesen war. Der um den rasierten Schädel verbliebene Haarkranz stand ihm besser als die Perücke. Die Falten der Kutte, die weiten Ärmel unterstrichen seine gemessenen Bewegungen, die sie früher zuweilen gereizt hatten.
Damals hatte er auf sie einen Eindruck ungesunder Listigkeit gemacht.
Diese Listigkeit war zu Heiterkeit, zu Geduld geworden. Das kränkliche Aussehen seines blassen Teints, der unter den wohlgenährten Herren des Hofs besonders auffiel, war hier asketische Durchsichtigkeit.
»Erinnerst du dich noch an das, was ich dir so oft gesagt habe, Angélique?« fragte er. »Daß ich eines Tages die Abtei von Nieul haben würde? Wie du siehst, bin ich zum Ziel gekommen.«
Angesichts der hohen, mageren, von Geißelungen gezeichneten Gestalt, in der wenige den einstigen Günstling Monsieurs, des königlichen Bruders, wiedererkannt hätten, dachte sie bei sich:
»Mir scheint es eher, daß die Abtei von Nieul dich hat.«
Sie vermieden es, das Ereignis zu berühren, das eine so radikale Veränderung in das Leben des jungen Mannes gebracht hatte, die herzzerreißende Trauer, die ihn nach der Beerdigung seines Bruders Gontran laut schluchzend über die Waldwege getrieben hatte, ihn, den Günstling, den vom Hofleben Korrumpierten, während mit den Düften des blühenden Weißdorns seine Kindheit wieder in ihm erstanden war, jene blinde Flucht, die vor dem Tor der Abtei von Nieul jäh geendet hatte. Der kleine Albert de Sancé war oft in die Abtei gekommen, um dort Latein zu lernen. In diesen Stunden fleißigen Studiums hatte sich ihr Zauber in einen Winkel seines Herzens eingeschlichen wie ein unvergängliches, still verborgenes Heimweh, das auch die Vergnügungen des Palais Royal und Saint-Clouds niemals hatten auslöschen können. An jenem Tage hatte er an der Kette der Torglocke gezogen, und das Portal hatte sich geöffnet ...
»Man findet seltsame Dinge auf den Speichern der Abtei«, sagte er zu Angélique. »Im Laufe der Jahrhunderte hat man sich hier nicht immer in Kasteiung geübt. Spuren davon sind zurückgeblieben ... Der Vater Abbé hat sich gedacht, daß du gewisse Dinge brauchen könntest. Er hat mich beauftragt, dir dies zu überreichen.«
Das geöffnete Lederkästchen zeigte Teile eines reichhaltigen Toilettennecessaires aus Schildpatt und Gold.
Allein geblieben, auf ihrem Heulager kauernd, machte sich Angélique daran, sorgfältig ihr Haar zu bürsten. In der einen Hand hielt sie einen runden Spiegel von der lichten Klarheit eines Sonnenflecks, in der anderen eine prachtvolle, schwere, doch sanft sich anfühlende Bürste. Über den Krippenrand gebeugt, forderte die entzückte Honorine eins der schimmernden Geräte für sich. Angélique reichte ihr eine kleinere Bürste und einen Schuhlöffel.
Welche weltliche, mystische Dame hatte wohl diese frivolen Gegenstände in diesen Mauern zurückgelassen?
Der einstige Prior der Abtei, dessen blaue Augen die Comtesse de Richeville hatten straucheln lassen, war ein Epikureer gewesen, gleichermaßen dem Studium von Bibeltexten wie weniger erhabenen Befriedigungen ergeben. Und Angélique glaubte in den dunklen Tiefen eines Kellers die Reste des hohen Baldachinbettes gesehen zu haben, das die Mönche damals aufzustellen pflegten, wenn ein Besuch der schönen Büßerin bevorstand.
Sein Nachfolger im Kloster hatte derlei liederliche Sitten ausgetrieben. Man erzählte sich von ihm, daß er hart und unduldsam sei.
Nichtsdestoweniger bat Angélique, von ihm empfangen zu werden, um ihm danken zu können. Sie hatte wieder menschliches Aussehen angenommen, und es mißfiel ihr nicht, dem Prior zu beweisen, daß sie nicht jene armselige, getretene Kreatur war, der er geholfen hatte, sich aus dem Staub zu erheben.
Ihre Kleidung, die sie gewaschen und gebügelt hatte, umhüllte sie ohne Eleganz, aber ihr nun wieder gepflegtes Haar, ihr einziger Schmuck, fiel frei auf ihre Schultern herab. Über den Spiegel geneigt, studierte sie ihr Bild mit einer Spur von Besorgnis. Was waren die langen Sonnenstreifen zwischen den warmen Tönen der Locken anderes als neue, seit kurzem aufgetauchte Strähnen weißen Haars? Sie waren weiß geworden, ohne vorher zu ergrauen. Sie war erst dreiunddreißig Jahre, aber sie konnte schon den Tag voraussehen, an dem ihr glattes noch mit den Reizen der Jugend geschmücktes Antlitz von einer weißen Aureole umgeben sein würde. Das Alter berührte sie mit seiner schneeigen Hand, und dennoch hatte sie nicht gelebt! Denn so lange das Herz einer Frau nicht erfüllt war, blieb ihr Dasein ein Warten.
Sie folgte dem Kreuzgang und betrat, nachdem sie eine Treppe erstiegen hatte, deren steinerne Stufen durch allzu viele Prozessionen ausgetreten waren, eine offene Galerie, die an die rings um einen Patio herumgebauten arabischen Häuser erinnerte. Durch die Öffnungen der von starken Pfeilern gestützten Rundbogen sah sie in den Hof, auf den Brunnen hinunter, aus dem Bruder Anselme Wasser schöpfte, von Honorine auf Schritt und Tritt begleitet.
Die Flure lagen verlassen. Das Rascheln ihrer Schritte rief ihr die hochmütige Comtesse de Riche-ville ins Gedächtnis zurück, wie sie in ihrer schwarzen Mantille an dem erstaunten Kind vorübergeschritten war.
Der Abbé erwartete sie in der geräumigen Bibliothek, von ihren unschätzbaren Reichtümern umgeben. Seltenste Inkunabeln aus der frühen Zeit der Buchdruckerkunst, Tausende von kostbar gebundenen Büchern in allen Größen schimmerten mit dem erloschenen Goldglanz ihrer Inschriften in den kalten, von jenem zarten Duft erfüllten Saal, den köstliches Leder, Pergament, Druckerschwärze und das Ebenholz der Lesepulte ausströmten, auf denen mächtige, farbig ausgemalte Meßbücher aufgeschlagen waren.
Er saß unter einem Kirchenfenster in einem gotischen Kapellenstuhl, und die starre Unbeweglichkeit dieser weißen Statue machte die intensive Belebtheit der Augen, die man zunächst für schwarz hielt und die sich dann als dunkel wie Stahl oder Bronze erwiesen, noch eindrucksvoller. Das Licht verlieh ihnen zuweilen den Glanz und die Klarheit alterlosen Silbers, wie sie die Augen vieler Asketen besitzen. Sein Haar war noch schwarz, die Haut jedoch spannte sich wie mumifiziert über die Knochen. Der Ausdruck seines fein geschnittenen, strengen Mundes ließ sie frösteln und versetzte sie in Abwehrstellung. Nachdem sie vor ihm niedergekniet war, erhob sie sich wieder und setzte sich auf einen für sie bereitgestellten Schemel. Die Hände in den langen Kuttenärmeln verborgen, beobachtete er sie mit äußerster Aufmerksamkeit, und sie sah sich gezwungen, als erste das Wort zu nehmen, um ein Schweigen zu brechen, das sie mit Mißbehagen erfüllte.
»Mein Vater, ich muß Euch tausendfach danken, daß Ihr mich aufgenommen habt. Wenn die Soldaten Hand an mich gelegt hätten, wäre ich verloren gewesen. Das Schicksal, das mich erwartete ...«
Er unterbrach sie durch ein kurzes Nicken.
»Ich weiß. Auf Euren Kopf ist ein Preis gesetzt ... Ihr seid die Rebellin des Poitou.«
Irgend etwas in seinem Ton reizte Angélique, und die verborgene Feindschaft, die sie für ihn empfand, ließ sich nicht mehr unterdrücken.
»Tadelt Ihr mich wegen meines Verhaltens?« fragte sie hochmütig. »Mit welchem Recht? Was könnt Ihr, der Ihr in der Geborgenheit dieses Klosters lebt, von den Stürmen der Welt und den Gründen wissen, die eine Frau dazu veranlassen können, die Waffen zu ergreifen, um ihre Freiheit zu verteidigen?«
Sie bot ihm Trotz. Diesem Mann der Religion stünde es schlecht an, sie an die Pflicht der Frau zur Unterwerfung zu erinnern. Sie würde ihm die Forderungen des Königs ins Gesicht schleudern.
»Ich weiß genug davon«, sagte er, »um in Euren Augen das Antlitz des Bösen zu erkennen.«
Ihr Lachen klang bitter.
»Derlei Redensarten hatte ich hier zu hören erwartet. Bald werdet Ihr sagen, ich sei vom Dämon besessen.«
»Gibt es in Eurem Herzen ein einziges Gefühl, das nicht Haß ist?«
Und da sie schwieg, fuhr er mit seiner monotonen und dennoch fesselnden Stimme fort:
»Der Böse ist der Haß ... Der Böse ist derjenige, der die Liebe nicht mehr fühlt. Er ist das andere Gesicht, das der Liebe gegensätzliche, von ihr unberührte Gesicht: der Haß. Die giftige Blume, deren Samen er um sich streut. Die edlen Herzen sind ihm geneigter als andere. Wißt Ihr nicht, daß der Böse sich von Blut, Leid und Niederlagen nährt?«
Ein unerwarteter Ausdruck fast physischen Schmerzes verzerrte seine Züge, und mit unendlicher Trauer rief er aus:
»Ihr habt die Macht Eurer Schönheit über die Männer dazu benutzt, um sie in den Haß, ins Verbrechen und in die Revolte zu treiben! ... Und dennoch nennt Ihr Euch Angélique ... Tochter der Engel!«
In diesem Augenblick war es, daß sie ihn wiedererkannte.
»Bruder Jean! ... Bruder Jean! Ihr wart es doch, der mich damals in den Schutz Eurer Zelle brachte? Oh, Ihr seid es. Ihr seid es gewiß. Ich erkenne Euch an Euren glänzenden Augen .«
Er nickte schweigend. Er sah das kleine Mädchen mit dem lichten Haarschopf wieder, der ein liebreizendes, unschuldiges Kindergesicht umrahmte, und doch war es schon raffiniert gewesen wie das einer Frau, und die Augen von der Farbe des Frühlings hatten ihn neugierig forschend betrachtet.
»Reines Kind«, murmelte er, »und was ist nun aus Euch geworden?«
Etwas zerbrach im Herzen Angéliques.
»Man hat mir Böses angetan«, stammelte sie. »Oh, wenn Ihr wüßtet, Bruder Jean, was mir das Leben angetan hat!«
Sein Blick glitt zu dem Kruzifix hinüber, das sich an der gegenüberliegenden Wand erhob.
»Was hat man Ihm nicht angetan? .«
In dieser Nacht vermochte sie nicht zu schlafen. Wie damals war der trügerische Schleier des Friedens der Abtei zerrissen, und die Gegenwart des Geistes der Finsternis war offenkundig geworden. Der dünne Ton der Glocke, die die nächtlichen Stunden anzeigte, die Gebete der Frühmesse erinnerten an den ewigen Kampf. Die Mönche wandelten mit ihren Lampen durch die Kreuzgänge zur Kapelle. »Betet, betet, o Mönche«, dachte sie, »solange die Finsternis die schlafende Erde regiert.«
Der Geist des Bösen zeigte hier sein höhnisch verzerrtes Gesicht. Wenn sie die Augen schloß, war es ihr, als höre sie Blut rieseln. Sie streckte die Hand aus, um den Arm der schlummernden Honorine zu berühren. Nur der Schutzwall des Kindes schien ihr stark genug, um sie bis zum Ende der endlosen Nacht vor den Schrecken in ihrer Brust zu bewahren. Erst im Morgengrauen, als die Hähne zu rufen begannen, sank sie in Schlaf.
Trotzdem gab sie sich nicht geschlagen. Von neuem verlangte sie den Vater Abbé zu sprechen.
»Was hätte ich ohne den Haß getan?« fragte sie ihn. »Hätte er mich nicht gestützt, wäre ich vor Verzweiflung gestorben, wäre ich zugrunde gegangen, dem Wahnsinn verfallen. Der Geist der Rache, der mich erfüllt, ist wie ein Panzer, der es mir erlaubt, am Leben zu bleiben und einen klaren Kopf zu behalten. Glaubt mir!«
»Ich zweifle nicht daran. Es gibt Stunden im Leben, in denen wir nur durch Hilfe des göttlichen Geistes, durch eine der unseren übergeordnete Kraft bestehen können. Der menschliche Geist ist so wenig widerstandsfähig. Im Glück mag er sich noch genügen, aber im Leid muß er sich zu Gott oder zum Dämon wenden .«
»Ihr leugnet also nicht die Notwendigkeit des Gefühls, in das ich mich gestürzt habe?«
»Ich werde niemals die Macht und die geistige Kraft Luzifers leugnen. Ich kenne ihn zu gut.«
»Ah, Ihr verirrt Euch schon wieder in plumpe Verallgemeinerungen. Ihr versteht nichts von dem, was auf Erden geschieht.«
Sie ging vor ihm auf und ab, prachtvoll anzusehen mit ihrem dichten, auf die Schultern fallenden Haar, dem erhobenen Kinn, den blitzenden Augen, völlig unbewußt übrigens des Anblicks, den sie bot, ganz und gar von ihrem inneren Kampf in Anspruch genommen.
Unbeweglich und teilnahmslos wie eine Statue, folgte ihr der Vater Abbé mit dem Blick, in dem allmählich bei ihrem ewigen Hin und Her ein feines, ironisches Licht aufglomm.
»Ihr werdet Euch vergeblich dagegen verteidigen, vom Dämon besessen zu sein, meine Tochter. Selbst unwissende Augen müssen erkennen, daß Euer stürmisches Benehmen allein schon ein paar Tropfen Weihwasser fordert.«
»Ihr macht mich rasend«, erwiderte sie. »Ich bin voller Unrast, weil ich mich rechtfertigen möchte und es nicht mehr gewohnt war, über solche Fragen nachzudenken. Wer sagt Euch, daß meine Sühnung, die Ihr mir vorwerft und die mich dazu trieb, die Waffen gegen eine unerträgliche Tyrannei zu erheben, mit dem zerstörenden Bösen zu tun hat und nicht mit dem von Christus geforderten Geist der Gerechtigkeit?«
Er schien das Argument zu überdenken.
»Ihr seid kein leichter Gegner«, gestand er zu. »Sprecht also . Erklärt Euch .«
Es verlangte sie danach zu sprechen, nachdem sie so lange geschwiegen hatte. Die Worte drängten sich über ihre Lippen, die Sätze stießen sich, abgehackt und wie unmittelbar aus ihrem Herzen gerissen, in einer Zusammenhanglosigkeit, die sie zur Verzweiflung brachte: der König, der Scheiterhaufen, die Frömmler, Colin Paturel und Monsieur de Breteuil, die Armen aus den Untergründen von Paris, ihr ermordetes Kind, die Protestanten, die Korruption, die Steuern ...
Was konnte er diesem ungeordneten Wortschwall entnehmen? Nichts! Er würde ihr nur Predigten halten. Von Zeit zu Zeit warf sie ihr Haar zurück, das ihre Heftigkeit immer wieder ins Gesicht fallen ließ. Sie konnte nicht aufhören, hin und her zu gehen und zu sprechen. Manchmal legte sie beide Hände auf die Armlehne seines Stuhls, sich über ihn neigend, um ihm ihre Wahrheit besser versetzen zu können.
»Ihr werft mir das durch meine Befehle vergossene Blut vor. Aber ist das im Namen Gottes vergossene weniger rot?«
Er setzte ihrem wütenden Zorn ein steinernes Gesicht, einen plötzlich erloschenen, undurchdringlichen Blick entgegen.
»Ja, ich weiß, was Ihr denkt«, fuhr sie fiebrig fort. »Das Blut der protestantischen Kinder, die man auf die Piken wirft, ist natürlich unrein. Die Wünsche des Königs dagegen sind heilig, die Leiden des Volkes sind gerecht und gerechtfertigt, ja sogar verdient. Sie hätten sich ja nur darum zu bemühen brauchen, adlig zur Welt zu kommen. Den Großen gehorchen, die Schwachen vernichten ... so ist das Gesetz.«
Sie war buchstäblich vom vielen Sprechen erschöpft, ausgeleert, die Stirn in Schweiß gebadet ...
Er erhob sich, ihr bedeutend, daß die Stunde der Vespergebete gekommen sei. Sie sah ihm nach, während er sich durch den Kreuzgang entfernte, die Hände in den Ärmeln verborgen, unter seiner Kapuze einer hohen Kerze gleich. Er hatte nichts verstanden. Er blieb eingeschlossen in seine hoheitsvolle Ruhe.
Indessen schlief Angélique in dieser Nacht besser, und als sie erwachte, fühlte sie sich wie von einem lastenden Gewicht erleichtert.
Der Vater Abbé ließ sie rufen. Wollte er ihr die Leviten lesen oder hielt er einen tröstenden Sermon für sie bereit? Sie war es zufrieden, mit ihm die Degen kreuzen zu können. Die Stirn wie zum Angriff gesenkt, trat sie ein und war verwundert, ihn in ein Gelächter ausbrechen zu sehen.
»Mir scheint, Ihr wollt Euch auf mich stürzen, Madame. Bin ich denn ein so gefährlicher Feind, daß die Rebellin des Poitou sich darauf vorbereitet, alle ihre Waffen gegen mich einzusetzen?«
»Nennt mich nicht mehr mit diesem Namen, ich bitte Euch«, murmelte sie bedrückt.
»Ich glaubte, Ihr seid stolz auf ihn.«
Plötzlich sterbensmüde, wandte sie die Augen ab. Sie würde in dieser Auseinandersetzung nicht die Stärkere sein.
»Ich bedauere nichts«, sagte sie. »Ich werde nie etwas von dem bedauern, was ich getan habe.«
»Aber Ihr fürchtet Euch vor Euch selbst.«
Angélique biß sich auf die Unterlippe.
»Ihr könnt nicht verstehen, was ich empfinde, Vater.«
»Möglich. Aber ich fühle Eure Qual, und ich sehe vor allem die düstere Aureole, die Euch umgibt.«
»Die Aureole?« murmelte sie träumerisch. »Die muselmanischen Heiligen sprachen davon ... Ist sie so düster, Vater?«
»Ihr zittert schon bei dem Gedanken, Euch über Euch selbst zuneigen. Was fürchtet Ihr eigentlich zu sehen?«
Sie starrte ihn an. Seine wie Quecksilber glänzenden Augen durchdrangen sie bis auf den Grund ihrer Seele. Sie konnte ihren Blick nicht von ihnen lösen.
»Befreit Euch«, drängte er, »sonst werdet Ihr Euren Lebensmut nie wiederfinden.«
»Lebensmut? Warum Lebensmut? Ich lege keinen Wert auf Lebensmut.«
Sie stand vor ihm, beide Hände an ihrer Kehle, als ob sie erstickte.
»Was sollte ich mit dem Leben anfangen? Ich spuck’ darauf, ich hasse es . es hat mir alles genommen, hat aus mir die Frau gemacht, vor der ich .ja, es ist wahr ... Angst empfinde.«
Erschöpft ließ sie sich auf den Schemel sinken.
»Ihr könnt es nicht verstehen, aber ich stürbe gern.«
»Es ist nicht wahr. Ihr könnt Euch nicht nach dem Tode sehnen.«
»O doch, ich versichere es Euch.«
»Ihr seid nur müde. Aber die Sehnsucht nach dem Tode, die Lust am Tode steht nur denen offen, müßt Ihr wissen, die mit ihrem Leben - kurz oder lang - zufrieden sind, die es erfüllt, die es so gelebt haben, wie sie es zu leben wünschten. Kennt Ihr den Gesang des Greises Simeon? »Meine Augen haben den Erlöser der Welt erblickt, nun kann ich sterben.< Doch solange ein Wesen sich nicht verwirklicht hat, solange es fern von seinem Ziel irrt, solange es nur Niederlagen erlitten hat, kann es nicht den Tod herbeisehnen. Das Vergessen, den Schlaf, das Nichts, ja ... Lebensmüdigkeit? Das ist nicht der Tod, der Schatz, den Gott uns mit unserem Sein anvertraut hat, das unaussprechliche Versprechen .«
Angélique dachte an den Abbé de Lesdiguière, an sein junges, erleuchtetes Gesicht. »O Tod, beeile dich!« hatte er gesagt. Sie dachte an Colin Paturel, der so oft den Henkern ausgeliefert gewesen war, und an das, was sie selbst durchlebt hatte, als man sie unter den grausamen Augen Moulay Ismaëls an die Säule fesselte. Damals wäre sie gern gestorben, sie hatte gespürt, daß sie der Herrlichkeit entgegengehen würde. Aber nicht heute.
»Ihr habt recht«, sagte sie mit jähem Erschrecken. »Jetzt kann ich nicht sterben. Es wäre Verschleuderung.«
Er lachte.
»Ich liebe das Aufflammen Eurer Vitalität! Ja, Madame, Ihr müßt leben. Sterben in der Niederlage - wie lächerlich! Das Schlimmste ...«.
Sie kämpfte mit sich. Sie fürchtete, seinen dunklen, bannenden Augen zu begegnen, sobald sie den Blick hob.
»Ihr belauert mich wie eine Beute«, murmelte sie.
»Ich möchte Euch befreit sehen, damit Ihr von neuem zu leben beginnt.«
»Befreit wovon?« rief sie aufgebracht aus.
»Von jenem tief in Euch vergrabenen Hemmnis, das Euch daran hindert, Freundschaft mit Euch selbst und dem Leben zu schließen.«
»Ich könnte niemals verzeihen.«
»Nicht das wird von Euch gefordert.«
Angélique war in einen inneren Kampf verstrickt. Er beobachtete ihr hastiges Atmen, und die Angst, die dieses schöne Gesicht verzerrte, quälte ihn.
Wie, warum, an welchem Tage würde sie vor ihm niederknien? Ihre Hände krallten sich in das grobe Tuch seiner weißen Kutte, und der Zwang, den sie sich auferlegte, weitete ihre klaren, lichten Augen.
»Hört mich an, Bruder Jean ... Hört mich an ... Wißt Ihr von dem Gemetzel auf dem Feld der Dragoner?«
Er neigte bejahend den Kopf.
»Ich bin es, die es befohlen hat.«
»Wir wissen es.«
»Das ist nicht alles. Hört ... Sie brachten mir den Kopf Montadours, und ich ... ich habe bei seinem Anblick ein schreckliches Vergnügen empfunden. Ich hätte gerne meine Hände in seinem Blut gewaschen.«
Der Geistliche schloß die Augen.
»Seit dieser Nacht«, flüsterte Angélique, »habe ich Angst vor mir und vermeide es, mich über mich selbst zu neigen.«
»Die Verlockung des höllischen Abgrunds hat Euch gepackt. Wollt Ihr diese Erinnerung für immer auslöschen?«
»Von ganzem Herzen.«
Voller Hoffnung sah sie ihn an.
»Könnt Ihr sie löschen?«
»Habt Ihr denn den Glauben Eurer Kindheit völlig verloren, daß Ihr daran zweifelt?«
»Gott weiß es. Was nützte das Bekenntnis, das ich Euch im Beichtstuhl machen würde?«
»Ohne Bekenntnis und Reue vermöchte selbst Er es nicht, Eure Sünde zu vergeben. Darin besteht die menschliche Freiheit.«
Er hatte sie besiegt.
Nach der Absolution war ihr, als genese sie von einer Krankheit. Sie betrachtete ihre Hände, die offen vor ihr lagen.
»Wird das Blut an meinen Händen auch ausgelöscht werden?«
»Es handelt sich nicht darum, den Folgen Eurer Taten zu entgehen, sondern von neuem zu leben. Jahrelang seid Ihr nichts als Haß gewesen. Seid von nun an nur Liebe. Eure Genesung vollzieht sich um diesen Preis.«
Ihr Lachen klang ernüchtert.
»Dieses Programm gefällt mir nicht. Mein Kampf ist noch nicht zu Ende.«
»Es ist eine innere Haltung.«
Sie verspottete seine Bewegung, indem sie herausfordernd das Haar schüttelte.
»Was für Geschichten um einen abgeschnittenen Kopf! Moulay Ismaël opferte täglich zwei oder drei, um Gott angenehm zu sein. Ihr seht, daß es recht schwierig ist, das Gute oder Böse zu definieren, wenn man auf Reisen ist.«
Ihre Bemerkung schien den Vater Abbé zu amüsieren. Sein Lächeln war wie der Abglanz eines Sonnenstrahls auf Schnee. Es verwandelte die strenge, ernste Maske in ein freundliches Gesicht von erstaunlicher Jugendlichkeit.
In der Ruhe schien es wie in Stein geschnitten, eiskalt. Es wirkte, als ob nichts seine starre Strenge mildern könnte, und dennoch spielten über seine Züge im Laufe des Gesprächs leidenschaftliche Ausdrücke: Lachen, Schmerz, Zorn, Teilnahme. Wenn sie an ihn dachte, sah sie ihn ernst und undurchdringlich. In Wahrheit hatte er das beweglichste Gesicht der Welt, unaufhörlich jedem Eindruck hingegeben.
Anfangs hatte er sie so eingeschüchtert, daß sie lange brauchte, um diese Eigentümlichkeit zu bemerken und in der Wärme seines Lebens aufzutauen.
Auf den Scherz eingehend, den sie in Erinnerung an Moulay Ismaël gemacht hatte, sagte er: »Das Böse ist das, was Ihr für Eure moralische Gesundheit als schädlich empfindet. Das Gute befriedigt Eure persönliche Neigung für Gerechtigkeit.«
»Nun ist es an mir, Euch zu fragen, Vater, ob Eure Erklärung nicht ein ganz klein wenig ketzerisch ist.«
»Ich erlaube sie mir nur denen gegenüber, die sie zu verstehen vermögen.«
»Habt Ihr so großes Vertrauen zu mir?«
Er betrachtete sie lange.
»Ja, denn Euer Schicksal ist nicht üblich. Ihr müßt Euch außerhalb gebahnter Wege bewähren.«
Er stellte ihr viele Fragen über den Islam. Was sie ihm von den muselmanischen Sitten, von dem intensiven, wilden Glauben berichtete, begeisterte ihn, und ohne Furcht enthüllte sie ihm ihre Bewunderung und das Heimweh, das sie zuweilen danach verspürte.
Sie durchblätterten Folianten, die zwischen kunstvollen Malereien die Geschichte der arabischen Invasionen und die Erläuterung der Botschaft Mohammeds durch die Kirchenväter enthielten. Es waren unvergeßliche, zeitlose Stunden, die Angélique vor den Lesepulten verbrachte, während er mit seinen mageren Händen die Seiten umwandte, Händen, die so schmal und durchscheinend waren, daß sie fast weiblich wirkten. Durch seine intensive Beschäftigung mit den Primitiven schien er deren blutlose Grazie angenommen zu haben.
Eines Nachmittags, während sie ihn erwartete, entdeckte Angélique in einer der Malereien ein Engelsgesicht mit grünen Augen, das ihr vertraut schien. Noch einige Male fand sie diesen Engel im Meßbuch wieder. Ein Engel mit traurigem oder funkelndem Blick, mit gesenkten Lidern unter der lichten Haarkrone, lächelnd oder ernst.
»Nicht wahr, Bruder Jean, als Novize der Abtei von Nieul habt Ihr einstmals dieses Buch ausgeschmückt?« fragte sie lächelnd, als der Vater Abbé eintrat.
Er betrachtete die Bilder und lächelte gleichfalls.
»Wie hätte ich das Kind der Nacht vergessen können, die Poesie, die von ihm ausging? Frische, Schönheit, Lebenslust, alle diese Schätze waren in ihm und verströmten sich durch seine Augen. Mir scheint, daß Gott es ins Kloster geschickt hatte, um mir die Schönheit Seiner Schöpfung ins Gedächtnis zu rufen.«
»Und jetzt bin ich alt, eine gefallene Sünderin.«
Der Vater Abbé lachte herzlich.
»Wo nehmt Ihr nur solche Dummheiten her? Wie kann ein so schöner Mund es wagen, so bittere Worte von sich zu geben? Ihr seid jung! Oh, wie jung Ihr seid!« wiederholte er mit einem feurigen Blick. »Ihr habt Euch, und das ist fast ein Wunder, die Überfülle des Lebens bewahrt. Gewiß, Ihr habt viel gelebt, und dennoch, ich versichere es Euch, liegt Euer wahres Leben noch vor Euch.«
»Ich habe weiße Haare.«
»Ein Schmuck mehr«, sagte er in spöttischem Ton.
Und zum erstenmal seit langen Monaten wurde sie sich vor seinen auf sie gerichteten Augen ihrer selbst bewußt und glaubte, sich in ihnen zu sehen. Sie spürte die Kraft ihres Körpers, ihre in der Luft der Wälder, durch die Härte der Ritte gewachsene Widerstandsfähigkeit. Ihre Taille war nicht mehr so zart, ihre Schultern waren kräftiger, aber sie hatte die rosig überhauchte, goldwarme Hautfarbe der Poitevinerin wiedergefunden, und die Schatten um ihre Augen, diese Schatten, die von zahllosen Tränen sprachen, betonten das Pathos ihres Blicks und unterstrichen seinen Glanz.
Ihre äußere Erscheinung war ihr so gleichgültig geworden, daß es ihr fast peinlich war, sich so plötzlich neu zu entdecken, und daß sie mechanisch die Säume ihres Mantels über ihrer Brust zusammenzog.
»Ihr sucht mich vergeblich zu ermutigen«, sagte sie, den Kopf schüttelnd. »Ihr könnt es nicht verstehen ... Ich sehe aus, als ob ich lebte ... Aber ich fühle mich wie hinter einem dichten Vorhang.«
»Man erholt sich nicht so schnell von einer schweren Krankheit.«
Mit seinem langsamen Schritt, der über die Fliesen zu gleiten schien, kehrte er zu seinem äbtlichen Chorstuhl zurück und musterte sie gedankenvoll, nachdem er sich gesetzt hatte.
»Aber die Genesung ist auf dem Weg. Welch ein Unterschied schon im Vergleich zu jenem Abend, an dem Ihr mit Eurem Kind in der Abtei Schutz suchtet. Seid geduldig. Wendet Euch zum Licht und nicht zur Finsternis, und Ihr werdet in Eurer Seele und Eurem Körper gesunden.«
Sie verwunderte sich:
»In meinem Körper? Ich bin nicht krank!«
»Ihr fürchtet und haßt den Mann. Das ist Eure Krankheit. Oder besser Eure Anomalie, von der man Euch heilen muß. Sie wird Eure Seele ersticken, denn Ihr seid für die Liebe geschaffen.«
Angéliques Verblüffung löste sich in einem jähen Zornausbruch.
»Wovon sprecht Ihr?« rief sie scharf. »In was mischt Ihr Euch? Was wißt Ihr von den Qualen einer Frau, die das Verlangen der Männer verfolgt? Von dem Grauen, das sie vor ihnen und vor sich selbst empfinden kann? Von allem, was die Liebe an Trug und Entartung einschließt? . Und seid ihr übrigens nicht die ersten, die das Gespenst der Wollust aufrichten und Buße fordern?«
Er lächelte, von ihrer Heftigkeit offenbar nicht berührt.
»Warum lächelt Ihr?«
»Weil ich, je länger ich Euch betrachte, um so deutlicher sehe, daß Ihr dafür geschaffen seid, in den Armen eines Mannes zu liegen.«
Die Vorstellung verwirrte und beruhigte sie zugleich.
Er fuhr heiter fort: »Ich spreche nicht im Plural. Ich sagte: eines Mannes. Ihr seid zu sinnlich, um der Liebe zu entsagen. Sucht die Genesung für den, der kommen muß, der .«
»Ja, für den Gatten, den die kluge Jungfrau mit ihrer Lampe in der Hand erwartet. Das paßt auf mich.«
Sie spürte einen jähen, durchdringenden Schmerz, während sie dachte; »Der Gatte! ... Ich habe ihn gekannt. Er erfüllte mich, aber man hat ihn aus meinen Armen gerissen.«
»Ihr müßt Eure Blicke in die Zukunft richten. Sucht den zu erkennen, der kommen wird. Und bereitet Euch darauf vor, ihn zu empfangen. Seid Ihr denn entschlossen, die Schande Eurer Sünden unaufhörlich in Eurer Seele zu bewahren? Nein. Bringt also auch für Euren Körper nicht mehr Stolz auf. Er ist weniger wert. Ihr dürft die Erinnerung seiner Schmach nicht kultivieren. Nach dem Winter kehrt immer der Frühling wieder. Blut und Fleisch erneuern sich. Eure Gesundheit scheint gut .«
Daß er es wagte, zu ihr so offen von dem geheimen Leid zu sprechen, das sie verzehrte, genierte und tröstete sie zugleich.
»Es wird nicht leicht sein«, sagte sie. »Man merkt, daß Ihr nie in einer solchen Lage .«
»Starrkopf! ... Lernt, Euch von dem abzuwenden, was Euch Böses getan hat. Seht, die Sonne scheint zum erstenmal seit vielen Tagen. Nehmt die Hand Eures Kindes, geht im Garten spazieren und denkt dabei über Eure Hoffnungen nach.«
Sie war sich durchaus nicht sicher, ob sie sich jene Zukunft wünschen sollte, die er ihr ausgemalt hatte.
Gab es auf der Welt einen Mann, der imstande war, sie von neuem zu zähmen? Die Wunde saß zu tief. Wenn sie jedoch dem Instinkt nachgrübelte, der sie veranlaßt hatte, ihr nach Trost dürstendes Herz dem Abbé von Nieul zu öffnen, mußte sie sich eingestehen, daß mancherlei in ihr nachzugeben begann. Er hatte sie mit der Geduld eines Vogelfängers zu sich gelockt. Aber der Zauber seiner männlichen, durch Bußübungen verzehrten Persönlichkeit hatte gleichfalls eine gewisse Rolle gespielt. Ja, er hatte recht. Wie sehr sie doch Frau geblieben war! ...
»Was ist in der Abtei mit mir geschehen?« fragte sie sich. »Manchmal ist mir, als hätte ich mich verloren, als schwebte ich in der Luft.«
»Ihr seid in etwas hineingeschleudert worden, was die Mathematiker den »Durchgang durchs Unendli-che< nennen.«
»Was wollt Ihr damit sagen?«
»Wenn man die mathematischen Wissenschaften studiert, lernt man, daß nicht alle Lösungen eines Problems notwendigerweise berechenbar sind, das heißt sich eine aus der anderen ableiten und durch ein positives Resultat ausdrücken lassen. Ein paar einfache Beispiele: wir wissen nicht, ob die Lösung einer mathematischen Gleichung plus oder minus ist. Andersherum gesagt: ob man gewonnen oder verloren hat.
Schon das einfache Ausziehen der Quadratwurzel schafft ein philosophisches Problem von beträchtlicher, unberechenbarer Tragweite: Was kann die Wurzel einer negativen Zahl sein? Gegen den Schwindel, der uns angesichts der Unfaßbarkeit packt, sichern wir uns durch die Erklärung, daß sie imaginär oder eine trigonometrische Linie sei. Damit geben wir zu, daß wir nicht mehr wissen, was geschieht, denn es bedeutet, daß wir auf eine andere Ebene physischer Struktur übergegangen sind. Zur größeren Bequemlichkeit des Geistes wird man sagen, daß wir eine Unterbrechung des Zusammenhangs< oder einen »Durchgang durchs Unendliche< passiert haben. Versteht Ihr mich?«
»Ich glaube zu verstehen. Ich verspüre selbst dieses vorübergehende Verschwinden des Problems.«
»Welch tiefer Abgrund ist dieses Unendliche schon im Bereich der reinen Mathematik. Aber auch in unserem täglichen Leben ist es allgegenwärtig. Sobald unser Geist keine klare Lösung mehr sieht, drängt sie der Durchgang durchs Unendliche oder Irrationelle oder Übersinnliche wie von selbst auf. Wir tauchen aus ihm auf, um wieder unserer gewöhnlichen Bahn zu folgen, aber die Lösung ist in der Tat schon gefunden worden.«
»Werde ich trotz allem wieder Fuß fassen können? So viele Widersprüche machen sich mein Dasein streitig.«
»Ihr gehört zu jenen Frauen, die den Kampf brauchen, um sich erfüllt zu fühlen und um - o ja, so etwas gibt es! - jung und schön zu bleiben. Wärt Ihr mit einem alltäglichen Leben zufrieden, eine Stickerei in den Händen, oder gar mit einer frivolen Existenz?«
»Ich weiß es nicht mehr. Manchmal war mir, als sei ich für ein einfaches, bäuerisches Glück geschaffen: einen Mann zum Lieben, Kinder um einen Tisch herum, für die ich Backwerk kneten würde ... Alle Frauen bewahren dieses Bild in einem Winkel ihres Herzens, selbst die verkommensten, selbst die mondänsten. Und gleichfalls wie jede Frau hoffte ich, Reichtümer zu gewinnen, der Genüsse wegen, die sie verschaffen: Schmuck, Brokat, Pelze, die Bewunderung der Männer . Aber sehr schnell wurde mir klar, daß ich dabei weder glücklich war noch mich wohl fühlte. Es paßte nicht zu mir, während ich die Rolle, die ich während des Aufstands spielte, leidenschaftlich liebte. Ihr werdet mir sagen, es sei nicht Sache der Frau, Blut zu vergießen, es sei gegen die Natur. Aber ich liebe den Kampf. Ich würde lügen, wenn ich es zu verschleiern versuchte. Das Abenteuer, das Warten auf den Sieg, das Zusammenraffen zerstreuter Kräfte, um ihnen ein Ziel zu geben, ja, selbst die Unruhe, die Angst, die Hoffnung, eine verzweifelte Situation in letzter Minute zu retten - all das gefiel mir. Ich habe während der beiden hinter mir liegenden Jahre gelitten, aber ich habe mich nie gelangweilt.«
»Man sagt ja, daß es für den Mann - und mehr noch für die Frau - eine der wesentlichsten Voraussetzungen des Glückes sei, sich nicht zu langweilen.«
»Ihr nehmt also an meinen Geständnissen keinen Anstoß? Wie erklärt Ihr diese Widersprüche?«
»Ein menschliches Wesen ist vieler Dinge fähig. Sie bilden das Gewebe seines Lebens, in dem sich Böses und Gutes, Auflehnung und Unterwerfung, Sanftmut und Gewalt verknüpfen.«
Er murmelte: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel hat seine Stunde. Geboren werden und sterben ... vernichten und heilen ...
weinen und lachen, klagen und tanzen ... herzen und ferne sein von Herzen ... schweigen und reden, hassen und lieben .«
»Wer hat das gesagt?«
»Einer der großen Weisen der Bibel. Der Prediger Salomo.«
»Es hätte also nicht nur schmutzige und abscheuliche Dinge in meiner Auflehnung gegeben?«
»Gewiß nicht.«
Angéliques Antlitz leuchtete auf.
»Eure Nachsicht ist tröstlicher als Eure Strenge. Ihr seid anfangs hart zu mir gewesen .«
»Ich wollte Euch Angst machen, um Euch vor dem Untergang zu bewahren. Ich wollte Euch auch zum Sprechen bringen, und ich beglückwünsche mich, daß es mir gelang. Das verriegelte Herz verdirbt.«
Das Kinn in die Hand gestützt, sann er lange nach, wie an ein schwer zu lösendes Problem verloren.
»Ihr müßt diese Erde verlassen«, sagte er endlich.
»Wollt Ihr damit sagen, daß ich sterben muß?« schrie sie entsetzt auf.
»Nein, hundertmal nein, liebe Seele. Ihr, die ihr das Leben selbst seid! ... Ich wollte sagen: dieses Land verlassen, das Land Eurer Kindheit und auch . dieses Königreich, in dem ein Preis auf Euren Kopf gesetzt ist. Diese gequälte Welt verlassen, der es durch ihre noch junge christliche Kultur bisher nicht gelungen ist, sich aus dem ersten Konflikt zu lösen: Gott und Satan. Ihr seid nicht für solche mystischen Auseinandersetzungen geboren. Ihr seid der Natur zu nah. Eure Rechtlichkeit, Eure Neigung zum Ausgleich finden keine Befriedigung in extremen, in gewissem Grade antinatürlichen Gefühlen. Die Werte, die Euch wichtig sind, liegen auf einer anderen Ebene, und Ihr werdet darum immer mit denen, die Euch umgeben, uneins sein. Ihr seid ein wenig wie jene erste Frau, die Gott erschuf und die sich vor den Früchten des Gartens Eden aufs höchste verwunderte ... Ihr müßt fort.«
»Wohin?«
»Ich weiß es nicht. Schafft eine neue, irdischere, duldsamere Welt .« Er hob die Augen zum Fenster.
»Der Schnee ist verschwunden, die Sonne strahlt. Der Frühling ist gekommen. Habt Ihr es bemerkt?«
Das Blau des Himmels füllte den Ausschnitt des römischen Bogens, und auf dem Fensterbrett gurrten zwei Tauben.
»Ich habe Nachrichten eingezogen. Die Soldaten haben das Poitou verlassen. Das Land ist ruhig, wenn auch noch nicht befriedet. Ihr könnt ohne Schwierigkeiten durchs Moor Maillezais und von dort aus die Küste erreichen. Habt Ihr Komplicen, zu denen Ihr Euch gesellen könnt?«
»Wollt Ihr sagen, daß ich fortgehen muß?« hauchte sie.
»Die Zeit ist gekommen.«
Sie sah die feindselige Welt vor sich, die sie jenseits der Pforte der Abtei erwartete, in der sie sich einsam und von lauernden Blicken verfolgt mit ihrem Bastardkind in den Armen würde durchschlagen müssen.
Dicht vor ihm sank sie auf die Knie: »Schickt mich nicht fort. Hier fühle ich mich wohl. Hier ist Gottes Asyl.«
»Die ganze Welt ist Gottes Asyl für diejenigen, die an seine Barmherzigkeit glauben.«
Sie schloß die Augen, und durch ihre langen Wimpern quollen Tränen, die glänzende Spuren über ihre Wangen zogen. Er sah sie vom schwarzen Hof des Unglücks umgeben. Sie war noch nicht außer Gefahr, aber die Gewißheit, daß der Sieg ihr gegeben würde, schien bereits durch. Er war es ihr schuldig, sie wieder in den Wind der Welt zurückzustoßen.
Er streckte den Arm aus, und sie fühlte auf ihrem Haar die unendlich sanfte Berührung seiner Asketenhand.
»Mut, liebe Seele. Gott segne Euch.«
Am folgenden Tage trat der Bruder Pförtner bei ihr ein. Wie sie es sich gewünscht hatte, war ihr ein Maultier gesattelt worden, das sie durch Vermittlung der Mönche von Maillezais zurückschicken würde. Er hatte das Tier mit zwei Körben beladen, die Nahrungsmittel und eine Decke enthielten. Angélique hüllte den Kopf ihrer Tochter sorgfältig in eine Kapuze. Wenn sie schon nicht die Farbe ihrer eigenen Augen verbergen konnte, wollte sie wenigstens die des Haars ihrer Tochter verstecken; sie wußte sehr wohl, daß sie ihren Verfolgern als Frau mit grünen Augen beschrieben worden war, die in ihren Armen ein rothaariges Kind trage. Es war ihr Pech, daß sich auch Honorine durch eine auffallende Besonderheit auszeichnete.
Die Hand schon auf dem Hals des Maultiers, zögerte sie noch einen Moment. War es nicht möglich, ein letztes Mal vom Vater Abbé und ihrem Bruder Abschied zu nehmen?
Der Pförtner schüttelte den Kopf. Die Heilige Woche stand unmittelbar bevor. Das Kloster hatte sich schon gegen die Außenwelt verschlossen.
Wirklich lastete ein noch drückenderes Schweigen als gewöhnlich über der Abtei, Die geweihten Männer sammelten sich für die Wallfahrt der Tage vor Ostern. Die Frau mußte sich entfernen.
Etwas anderes noch riß sich aus dem Herzen Angéliques und blutete schmerzlich. Aber waren nicht auch dieses Leid und die Tatsache, daß sie es empfinden konnte, ein Zeichen ihrer Genesung?
Sie schwang sich auf das Tier, drückte Honorine an sich und ritt unter der Torwölbung hindurch.
Während sie den zum Walde führenden Pfad einschlug, vernahm sie das schwere Knarren des Portals, das sich hinter ihr schloß, und gleich darauf schlug eine Glocke drei helle Töne an.
Wie viele Türen hatten sich schon hinter ihr geschlossen, immer von neuem Auswege versperrend wie Treiber dem gejagten Wild! Jedesmal hatten sich die Möglichkeiten, ihrem Schicksal zu entrinnen, um ein weniges vermindert, und bald würde ihr nur noch ein einziger Weg übrigbleiben: der ihre. Welcher war es? Noch wußte sie es nicht. Sie konnte ihn nur ahnen, und sie begann zu begreifen, daß Katastrophen und unübersteigliche Hindernisse sie immer wieder von ihren eigenen Launen abgebracht und hart einem einzigen, noch unsichtbaren Ziel zugeführt hatten, das das ihre war.
Noch einmal, ein letztes Mal, durchquerte sie den Wald. Bei hellem Tage wagte sie es nicht, sich den Gefahren der Straße auszusetzen. Durch den Wald und die Sümpfe würde sie zur Abtei von Maillezais gelangen.
Als sie die Schlucht der Wölfe erreichte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Ihre Strahlen fielen in das Tal, und Angélique hielt an, als sei ihr ein unglaubliches Wunder begegnet.
Drei Wochen zuvor hatte sie sich gerade hier, von schneidender Kälte gepeinigt, durch den Schnee geschleppt, hatte sie in ihrem Fleisch die ganze Grausamkeit des harten Winters erlitten. Heute schien das Tal wie mit grünem Samt ausgeschlagen, der Bach, dessen Eis sie damals überquert hatte, hüpfte sprudelnd wie ein junges Zicklein, Veilchen schmückten den Saum des Waldes. Der Kuckuck stieß seinen leichtfertigen Ruf aus. Er kündigte laue Lüfte und das Aufblühen der Blumen an, er vollendete den Frühling.
Angéliques Blick feuchtete sich vor diesen Wundern. Auch Natur und Leben warteten also mit huldreichen Überraschungen auf. Aus einem langen und strengen Winter sproß mit verdoppelter Kraft der Reichtum der Blätter, Gräser und Blüten; aus einem widerwärtigen Verbrechen, aus namenlosem Entsetzen war diese Blüte der Anmut gewachsen, rundlich, weiß, von Flammen gekrönt, die sie in ihren Armen hielt: Honorine.
Die schwarzen Raben zogen nicht mehr ihre unheimlichen Runden über der Lichtung der Feen. Niemand wäre auf den Gedanken verfallen, daß der Tod je an diesem Ort umgegangen war.
Der Abbé de Lesdiguière, der Abbé von Nieul. Zwei Erzengel waren nötig gewesen, um sie aus dem Abgrund zu ziehen, in den sie gestürzt war. Diese beiden reinen Gestalten löschten die böse Erinnerung an den Mönch Becher.
Sie dachte, daß es richtig und notwendig für sie sei, bis zu diesem Tag gelebt zu haben .
Am folgenden Tag gelangte sie nach Maillezais, der prächtigen, auf einer Insel inmitten toten Gewässers erbauten, von Weiden umstandenen Abtei. Des Nachts glaubte man noch das Anschlagen der Wellen zu hören, die im zwölften Jahrhundert ihre Fundamente umspült hatten. Ihre Mauern hüteten das schläfrige, bukolische Dasein der Mönche, die ihre Tage damit verbrachten, Frösche und Aale zu fangen, mehr Zeit auf ihre Mittagsruhe als auf das Brevier verwandten und die Tradition Rabelais’ bewahrten, der hier seinen »Gargantua« geschrieben hatte.
Nieul mit seiner Atmosphäre inbrünstiger Gläubigkeit war fern. Die Mönche fürchteten sich vor den Protestanten, denn in dieser Gegend bis zur Küste hinüber waren sie in der Überzahl.
Die Truppen des Königs stellten nach und nach die Ordnung wieder her. Durch den Abbé von Nieul empfohlen - »Ein allzu heiliger Mann«, meinte der Prior von Maillezais seufzend -, fand Angélique gute Aufnahme, und nachdem sie eine Nacht in der Abtei verbracht hatte, gab man ihr einen Führer mit, der sie bis in die Gegend von Les Sables d’Olonne geleiten sollte.
Honorine auf dem Rücken, schritt sie nun unter den Zweigen von Zwergeichen und Haselnußsträuchern einen aufgeweichten, sandigen Weg hinunter. Es hatte geregnet. Ein seltsamer Geschmack lag in der gereinigten Luft. Die regenfeuchten Blütenblätter eines wilden Rosenstocks streiften über ihre Hand.
Ein ungewohntes Geräusch war von jenseits der Hecke zu vernehmen.
Es war die letzte Etappe.
Das Geräusch verstärkte sich. Mit vorsichtigen Schritten, mißtrauisch und fasziniert zugleich, ging Angélique weiter und entdeckte endlich das Meer. Nicht mehr das blaugoldene Mittelmeer, sondern den Ozean, das Meer der Finsternis, das Grab der Atlantis ...
Grau, blau und grün, verschmolz er am Horizont mit den Nebeln des Himmels.
Ein paar Schritte noch, dann bemerkte sie den violetten, vom Netz der silbrig schimmernden Pfützen gemusterten Strand, die regelmäßig angelegten Salzteiche, die weißen Kegel aufgehäufter Salzkristalle, die die sinkende Sonne mit zarten, rosigen Lichtern überspielte.
Zur Linken erhob sich eine Hütte. Dort sollte Angélique mit Ponce-le-Palud zusammentreffen, dem protestantischen Salzschmuggler, der von der ersten Stunde an einer ihrer Parteigänger gewesen war.
Doch Ponce-le-Palud war am Abend zuvor gefangengenommen und unter der doppelten Anklage des Salzschmuggels und der Rebellion gegen den König hingerichtet worden.
Ihre letzten Kampfgenossen hielten sich in den dürftigen Wäldern der Küste versteckt, wo sie von Räubereien lebten. Angélique verhandelte mit ihnen über die Möglichkeit, sich nach der Bretagne einzuschiffen. Dort würde sie vielleicht einige Zeit im verborgenen leben können. Einstweilen war es das Wichtigste, den Patrouillen zu entgehen.
Die dem König treu gebliebene oder sich ihm wieder zuwendende Küstenbevölkerung machte sich kein Gewissen daraus, die letzten Aufständischen zu verraten, um durch ihren Eifer ihre Begnadigung zu erkaufen. Besiegte haben keine Bundesgenossen. Bedrückt zwischen den bitter gewordenen Protestanten, denen das volle Ausmaß ihrer Niederlage und Not kein Geheimnis war, wuchs Angéliques Unruhe. Sie kannte nur noch ein Ziel. Sich einzuschiffen. Das Meer allein schien ihr Sicherheit zu verbürgen, bot sich als hilfsbereiter Komplice an.
Am dritten Tage stürzten abgezehrte, zerlumpte Männer in den Wald und meldeten schreiend, daß ein Zug Kaufleute sich nähere. Er komme aus Marans und transportiere Korn und Wein. Seit Monaten hatte man dergleichen nicht mehr gesehen. Die Verfolgten griffen alsbald nach ihren Waffen: Degen, Säbeln, Knüppeln. Pulver und Kugeln für ihre Musketen besaßen sie längst nicht mehr.
»Tut es nicht«, bat Angélique. »Ihr werdet nur die Aufmerksamkeit der berittenen Gendarmen auf uns lenken. Wenn sie diesen Wald durchsuchen .«
»Wir müssen leben«, brummte der Anführer.
Zwischen den spärlichen Bäumen waren schon die Glöckchen der Maultiere und das Knarren der Karrenräder zu hören. Gleich darauf erhob sich Geschrei, vermischt mit Waffengeklirr.
Angélique wußte nicht mehr, zu welchem Heiligen sie sich flüchten sollte. Und doch mußte sie verhindern, daß sich die geächteten Männer zu Banditenstreichen hinreißen ließen, die die Spürnasen der Polizei und die Soldaten zu ihren Schlupfwinkeln bringen würden. Unglücklicherweise kannte sie sie erst seit kurzem und hatte keinerlei Einfluß auf sie. Sie sprach nicht einmal ihren Dialekt. Hastig band sie Honorine an den Fuß eines Baums und lief zum Kampfort. Vielleicht konnte sie Menschenleben retten, sich mit den Kaufleuten verständigen .
Aber diese waren, statt sich ins Bockshorn jagen zu lassen, vom ersten Augenblick an entschlossen gewesen, sich mit allen Mitteln zu verteidigen. Sie besaßen Pistolen, deren sie sich, hinter ihren Karren verschanzt, bedienten. Zahlreiche Verwundete bedeckten schon die Straße.
Angélique schob sich neben den hinter einem Strauch knienden Anführer. »Zieht Euch zurück«, beschwor sie ihn.
»Dazu ist es jetzt zu spät. Wir brauchen ihre Waren und müssen ihnen ans Leben, damit sie nicht mehr reden können .«
Er sprang auf einen der Karren zu. Ein Pistolenschuß ließ ihn mitten im Lauf erstarren und zusammenbrechen. Ein Augenblick äußerster Verwirrung folgte. Die vier Kaufleute, die die Banditen entmutigt sahen, kamen aus ihrer Deckung hervor und machten sich an ihre Verfolgung. Ihre Knüppel mit einer Kraft gebrauchend, die man friedlichen Gewerbetreibenden nicht zugetraut hätte, verteilten sie nach allen Seiten Schläge, die Arme und Beine brachen und auf Schädeldecken dröhnten. Angélique erhielt einen heftigen Schlag in den Nacken. Betäubt, kaum noch fähig zu sehen, blieb ihr eben noch Zeit, den zu bemerken, der sie niedergeschlagen hatte: schwarz gekleidet - ohne Zweifel waren es Protestanten -, stämmig gebaut, klare, zornlose, aber entschlossene Augen. Saint-Honoré, der Kaufmann, mußte ihm ähneln. Ein zweiter Schlag, der sie an der Schläfe traf, ließ sie das Bewußtsein verlieren.
Mit einer fernen, furchtbaren Erinnerung kam sie wieder zu sich. Florimond befand sich in den Händen des Großen Coesre, und Cantor war von den Zigeunern gestohlen worden. Sie verfolgte sie mit der Polackin auf der schmutzigen Straße nach Charenton, nachdem sie aus dem fürchterlichen Gefängnis des Châtelet geflüchtet war. Sie öffnete die Augen.
Sie war im Gefängnis. Allein, auf einer Schütte feuchten, fauligen Strohs ausgestreckt.
Der Schock, den sie empfand, blieb jenseits aller Gefühle. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, die unvorsichtigen Salzschmuggler, das unselige Schicksal, ihr eigenes Unglück zu verfluchen - nur noch wenige Stunden, und sie hätte sich einschiffen können, ihre Überfahrt zur bretonischen Küste war schon vereinbart. Sie versank in eine passive Träumerei, ohne sich zu fragen, in welches Nest man sie wohl geschleppt hatte. Les Sables oder Talmont? Noch ob man sie erkannt hatte und welche Strafe auf sie warten mochte. Ihr Nacken schmerzte sie, und sie fühlte sich müde und krank.
So lag sie unbeweglich und kraftlos bis zu dem Augenblick, in dem sie heiß ein Gedanke durchfuhr und sie von ihrem elenden Lager hochtrieb: Honorine!
Ein Alptraum überfiel sie.
Was war nach dem unglückseligen Gefecht aus dem Kind geworden? Angélique hatte sie, an einen Baum gebunden, zurückgelassen. Hatten die mit heiler Haut davongekommenen Salzschmuggler sie bemerkt? Hatten sie sich ihrer angenommen? Hatten sie sie befreit? Und wenn sie von niemand entdeckt worden war? Wenn sich die Kleine noch immer dort befand, allein im Wald? . Die Lichtung lag ein Stück von der Straße entfernt. Durfte sie hoffen, daß jemand ihr Geschrei hören würde?
Angélique spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Der Abend sank; hinter dem Gitter des Kellerlochs kündigte rötliches Licht die Dämmerung an.
Sie trommelte an die Tür des Kellers, aber niemand rührte sich, niemand antwortete auf ihre Rufe. Sie kehrte zum Ausguck zurück und klammerte sich an die Gitterstäbe. Die Öffnung befand sich auf gleicher Höhe mit dem Erdboden. Ein ungewisses Geräusch verriet ihr, daß das Meer nicht weit sein konnte. Sie rief noch einmal: vergeblich. Die Nacht brach an, gleichgültig gegen die lebendig eingemauerten Gefangenen, die vor dem Morgen nichts von ihresgleichen erhoffen durften.
Für einige Momente, während derer sie schreiend wie eine Verdammte an den Wänden ihres engen Kerkers entlanggelaufen sein mußte, verlor sie jedes Gefühl für Zeit und Ort. Ein leichtes Geräusch brachte sie zur Vernunft zurück. Es war das Geräusch von Schritten draußen vor dem Fenster. Angélique warf sich von neuem gegen das kalte, rostige Metall der Gitterstäbe. Die Schritte näherten sich. Zwei Stiefel erschienen auf der anderen Seite der Maueröffnung.
»Um Gottes und Jesu willen, wer auch vorübergeht ... bleibt stehen. Hört mich an«, rief Angélique.
Die Stiefel verharrten unbeweglich.
»Nehmt meine Bitte mitfühlend auf.«
Niemand antwortete, aber die Stiefel rührten sich nicht.
»Mein Mädchen ist im Wald«, begann sie erneut. »Sie ist verloren, wenn niemand ihr hilft. Sie wird vor Kälte und Hunger umkommen. Die Füchse werden sie zerfleischen ... Habt Mitleid mit ihr.«
Sie mußte den Ort angeben, aber sie kannte sich in dieser Gegend nicht aus.
». Nicht weit von der Straße, auf der Räuber einen Zug Kaufleute überfielen .«
War es gestern oder heute gewesen? Sie fragte es sich, von einem jähen Schwindel ergriffen.
». Ein Pfad führt von der Straße ab . ein Grenzstein ist in der Nähe .« Sie erinnerte sich unversehens dieser Einzelheit. »Wenn Ihr in diesen Pfad einbiegt, werdet Ihr eine Lichtung finden . Dort habe ich sie an einen Baum gebunden . Mein Töchterchen ist noch nicht ganz zwei Jahre alt .«
Die Stiefel setzten sich in Bewegung. Der Passant nahm seinen Spaziergang wieder auf. Hatte er auf die wirren Satze gehört, die aus dem Kerkerloch gedrungen waren? »Irgendeine angekettete Tollhäuslerin«, würde er sich sagen. »Es gibt alle möglichen Frauen in den Gefängnissen .«
Sie erwachte aus unruhigem, ein Gefühl würgender Übelkeit zurücklassendem Schlaf, in dem sie unablässig das Weinen ihres Kindes gehört hatte, und sah einen Gefängniswärter und zwei bewaffnete Männer vor sich, die sie grob aufforderten, sich zu erheben und ihnen zu folgen.
Sie ließen sie eine steinerne Wendeltreppe hinaufsteigen und führten sie oben in einen Saal mit gewölbter Decke, dessen feuchte Wände von Salz zerfressen waren. Ein Kohlenbecken verbreitete laue Wärme. Es diente übrigens nicht nur dem Zweck, die an ein mittelalterliches Grabgewölbe gemahnende Temperatur zu mildern. Angélique begriff es, als sie die Umrisse eines robusten Mannes entdeckte, dessen scharlachrotes Trikot muskulöse Arme freiließ. Über das Becken gebeugt, drehte er langsam und sorgfältig einen mit einem Holzgriff versehenen langen Eisenstiel in der Kohlenglut.
Unter einer Art Baldachin aus stark ausgeblaßtem blauem, mit Wappenlilien geschmückten Tuch im Hintergrund des Raums unterhielt sich ein Richter in langem schwarzem Talar und gerollter Lockenperücke mit einem der Kaufleute, genauer gesagt demjenigen, der Angélique niedergeschlagen hatte.
Sie plauderten gemächlich und nahmen sich nicht die Mühe, ihr Gespräch zu unterbrechen, als die bewaffneten Männer, die Angélique hereingeführt hatten, sie vor dem Henker auf die Knie stießen, ihr den Mantel abnahmen und sich anschickten, ihr das Mieder von den Schultern zu streifen.
Angélique setzte sich erbittert zur Wehr. Aber kräftige Fäuste hielten sie fest, sie hörte, wie der Rücken ihres Kleides zerriß. Ein rotes Licht schien vor ihren Augen zu zittern, näherte sich, näherte sich noch mehr .
Sie heulte auf wie eine Besessene.
Geruch nach verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase. Sie war so beherrscht von dem Verlangen, den sie bändigenden Händen zu entrinnen, daß sie nichts fühlte. Erst als sie sie losließen, nahm sie die grausame Verletzung ihrer Schulter wahr.
»Tüchtig, mein Junge!« knurrte einer der Bewaffneten, sich an seinen Kameraden wendend. »Um die da ruhig zu halten, braucht’s ein ganzes Regiment. Eine wahre Furie, möchte man sagen.«
Die Verbrennung strahlte ihren Schmerz in Angéliques Gehirn, in ihren linken Arm bis zu den Fingerspitzen aus. Sie lag noch auf den Knien und wimmerte schwach. Der Henker stellte das Folterinstrument an seinen Platz zurück, einen langen Stiel, an dessen Ende man einen vom vielen Gebrauch geschwärzten Stempel der königlichen Lilie geschmiedet hatte.
Der Richter und der Kaufmann sprachen noch immer. Ihre Worte hallten ziemlich laut unter den steinernen Wölbungen wider.
»Ich teile Euern Pessimismus nicht«, sagte der Richter. »Unsere Situation ist nach wie vor gefestigt, und es ist nicht wahr, daß der König den Untergang der Protestanten will. Im Gegenteil, er schätzt die Ehrlichkeit und Genügsamkeit unserer Glaubensgenossen. Hier in Sables, zum Beispiel, ist die Zahl der Katholiken so klein, daß drei reformierte Richter auf einen katholischen kommen. Und da der letztere sich ständig auf Entenjagd befindet, fällt es uns zumeist zu, die katholischen Streitigkeiten zu schlichten.«
»Was die Geschichte im Poitou nicht aus der Welt schafft. Ich versichere Euch, daß ich dort gewisse Dinge beobachten konnte, die mich einigermaßen beeindruckt haben .«
»Die Ereignisse im Poitou? . Eine einfache, wenn auch höchst bedauerliche Provokation, ich gebe es zu. Unsere Brüder haben sich einmal mehr für die ehrgeizigen Ziele der großen Herren wie der La Morinière mißbrauchen lassen.«
Der Richter stieg die Stufen seines Podiums hinunter und näherte sich der knienden Angélique. »Nun, meine Tochter, werdet Ihr aus dem, was Euch geschehen ist, eine Lehre ziehen? Mit Räubern und Schmugglern in den Wäldern herumzustreunen, ist nichts für eine Person von gutem Ruf. Von nun an werdet Ihr überall, wohin Ihr auch geht, der könig-lichen Justiz gehören. Ihr seid mit der Lilie gezeichnet worden. Jeder wird wissen, daß Ihr durch die Hände des Henkers gegangen und nicht unter die empfehlenswerten Personen zu zählen seid. Ich hoffe, daß dieser Umstand Euch geneigt machen wird, in Zukunft beim Handel mit Euren Reizen ein wenig mehr Vorsicht und Unterscheidung walten zu lassen .«
Sie hielt ihre Augen beharrlich gesenkt. Da sie nicht erkannt worden war, wollte sie ihnen auch keine Gelegenheit geben, sie genauer aufs Korn zu nehmen. Von allem, was er gesprochen hatte, war nur ein einziger Satz bis in ihr Begriffsvermögen gedrungen: »Ihr seid mit der Lilie gezeichnet worden.«
Sie fühlte das schimpfliche Zeichen, das aus ihr für immer eine Verstoßene machte, tief in ihr Fleisch eingegraben. Sie gesellte sich zur Schar der Frauen am Rande der Gesellschaft: der Freudenmädchen, Verbrecherinnen, Diebinnen .
Doch das belastete sie im Augenblick wenig. Alles war unwichtig mit Ausnahme der Notwendigkeit, so schnell wie möglich aus diesem Gefängnis herauszukommen und zu erfahren, was aus Honorine geworden war.
So ließ sie die endlosen Ermahnungen und Verwarnungen des Richters, die zuweilen einem pastoralen Sermon sehr ähnlich klangen, geduldig über sich ergehen und horchte erst bei seinen Schlußsätzen auf.
»Eingedenk dessen, daß ich Euch Nachsicht schulde, da Ihr zur reformierten Religion gehört, werde ich Euch nicht in diesen Mauern zurückhalten. Aber ich muß über das Heil Eurer Seele wachen und dafür sorgen, daß Ihr nicht von neuem in Eure Fehler verfallt. Ich kann nichts Besseres tun, als Euch einer Familie anzuvertrauen, deren erbauliches Beispiel Euch auf den Weg des Guten und zu Euren Pflichten gegen Gott zurückführen wird. Der hier anwesende Maître Gabriel Berne hat mir erklärt, daß er eine Dienstmagd für sein Haus und seine Kinder suche. Er ist bereit, Euch in seinen Dienst zu nehmen und so die von Christus empfohlene Vergebung der Sünden zu praktizieren. Erhebt Euch, zieht Euch an und folgt ihm.«
Angélique ließ es sich nicht zweimal sagen.
In der Gasse, in der sich Fischer, Muschelverkäuferinnen und Salinenarbeiter drängten, die mit ihren riesigen Rechen auf der Schulter vom Strand zurückkehrten, lauerte sie auf eine Gelegenheit, dem Kaufmann zu entkommen. Sie verdankte ihm zwar ihre Freiheit, hatte aber nicht die leiseste Absicht, ihm gefügig zu folgen, wie der Richter ihr eingeschärft hatte. Maître Gabriel schien ihre Gedanken zu erraten, denn er hielt sie fest am Arm. Sie erinnerte sich, daß er nicht lange fackelte, wenn es galt, seine kräftigen Fäuste zu gebrauchen, und daß er mit einem Knüppel umzugehen wußte. Obwohl friedlich wirkend, sah er nicht so aus, als ob gut Kirschen mit ihm zu essen sei.
Im Wirtshaus zum »Schönen Salz« zeigte er ihr ihre Kammer.
»Wir reisen morgen in aller Frühe weiter. Ich wohne in La Rochelle, aber ich habe unterwegs noch Kunden zu besuchen. Wir werden deshalb erst gegen Abend zu Hause sein. Inzwischen muß ich mich Eures guten Willens vergewissern, in meinem Dienst zu bleiben, denn ich habe dem Richter dafür gutgesagt, daß Ihr keinen Versuch machen werdet zu fliehen, um Euer unordentliches Leben wiederaufzunehmen.«
Er erwartete eine Antwort. Sie hätte ihren guten Willen beteuern und ihn über ihre Absichten beruhigen können. Doch vor seinem offenen, ehrlichen Blick vermochte sie es nicht. Im Gegenteil: von ihrem bösen Geist angetrieben, protestierte sie heftig.
»Rechnet nicht darauf. Nichts wird mich in Eurem Dienst zurückhalten können.«
»Auch nicht das hier?«
Er wies auf das Bett, das wie die Bauernbetten auf einer mit Schubfächern versehenen Lade hergerichtet war.
Sie verstand nicht.
»Geht näher heran«, sagte er.
Er schien sich über sie lustig zu machen.
Sie machte zwei Schritte und blieb unbeweglich stehen. Auf dem Kopfkissen hatte sie einen roten Haarschopf entdeckt. Bis zum Kinn zugedeckt, einen Daumen im Mund, schlief Honorine friedlich.
Angélique glaubte zu träumen. Auch diese Vision fügte sich in den Reigen wahnwitziger Vorstellungen, in dem sie hilflos zappelte. Sie warf Maître Gabriel einen ungläubigen Blick zu. Dann senkten sich ihre Augen und hefteten sich auf die Stiefel des Kaufmanns.
»Ihr wart es also«, flüsterte sie.
»Ja, ich war’s. Gestern abend ging ich durch den Hof des Gefängnisses, wo ich den Richter besucht hatte, als eine Stimme mich zurückhielt. Eine Frau bat mich, ihr Kind zu retten. Ich nahm mein Pferd, und obwohl es mir nicht viel Spaß machte, zum Ort des Überfalls zurückzukehren, habe ich mich dorthin begeben. Ich hatte Glück und erreichte ihn noch vor Einbruch der Nacht. Ich fand das Kind am Fuß des Baums. Vom Weinen und Schreien erschöpft, war es eingeschlafen. Aber es fror nicht allzu sehr. Ich wickelte es in einen Mantel und brachte es her. Eine Dienerin hat sich auf meine Bitte seiner angenommen.«
Es schien Angélique, als sei ihr nie ein beglückend er es Gefühl der Erlösung zuteil geworden. Das ganze Leben würde von nun an einfach sein, jetzt, da diese schreckliche Last ihr vom Herzen genommen war. Also waren alle Wunder möglich, denn dieses eine Wunder hatte stattgefunden. Die Menschen waren gut, die Welt war schön .
»Seid gesegnet«, sagte sie mit gebrochener Stimme. »Ich werde niemals vergessen, Maître Gabriel, was Ihr für mich und meine Tochter getan habt. Ihr könnt auf meine Ergebenheit zählen. Ich bin Eure Dienerin.«
Der Abend sank, als die zweiräderige Halbkutsche Maître Gabriel Bernes in La Rochelle einfuhr. Über den durchbrochenen Kirchtürmen und halb geschleiften Wällen, Erinnerungen an die stolzen, von Richelieu niedergerissenen Befestigungen, entfaltete sich der Himmel in einem intensiven, tiefen, vom Licht des Tages noch gesättigten Blau.
An den Straßenecken brannten schon die Lampen. Die Stadt machte einen sauberen, beruhigenden Eindruck. Weder Betrunkene noch Passanten mit Galgengesichtern. Die Leute schlenderten trotz der späten Stunde dahin, als hätten sie einen Spaziergang vor sich.
Maître Gabriel hielt zum erstenmal vor einem noch offenen Torweg an.
»Hier sind meine Lagerhäuser. Sie gehen zum Hafen hinaus. Aber ich ziehe es vor, meine Getreidesäcke weiter hinten, fern von neugierigen Blicken, abzuladen.«
Er dirigierte die Maultiere und die beiden Karren durch den Torweg, und nachdem er einigen herbeigeeilten Gehilfen seine Befehle erteilt hatte, stieg er wieder in die Kutsche.
Das Gefährt holperte hart über die runden Steine, mit denen die Gassen gepflastert waren und aus denen die Hufe des Pferdes hin und wieder Funken schlugen.
»Unser Viertel am Wall ist recht ruhig«, erklärte der Kaufmann weiter, der zufrieden schien, bald in seinen eigenen vier Wänden zu sein. »Dabei sind wir kaum zwei Schritt von den Kais entfernt und .«
Er schien die Absicht zu haben, sich noch ausgedehnter über die Annehmlichkeiten auszulassen, gleichzeitig nahe dem Hafen und doch fern von seinem Gelärm zu wohnen, als sie hinter einer Biegung der Gasse auf unruhig sich bewegende Lichter und ein Durcheinander erregter Stimmen stießen, die im Widerspruch zu seinen Worten standen.
Ein lebhaftes Hin und Her von mit Hellebarden bewaffneten Gendarmen war zu beobachten, deren Fackeln rötliche Lichter auf die weiße Fassade eines hohen Gebäudes warfen, dessen Torflügel weit geöffnet waren.
»Häscher in meinem Hof?« murmelte Maître Gabriel. »Was geht da vor?«
Nichtsdestoweniger stieg er scheinbar unbewegt aus der Kutsche.
»Folgt mir mit Eurer Tochter. Es besteht keinerlei Anlaß, daß Ihr hierbleibt«, meinte er, als er bemerkte, daß Angélique zögerte, sich zu zeigen. Sie hatte im Gegenteil mehrere und ausgezeichnete Anlässe, ihm nicht in diese Falle der Gendarmerie zu folgen. Doch auch auf die Gefahr hin, bemerkt zu werden, mußte sie sich ihrem neuen Herrn anschließen.
Die Gendarmen kreuzten ihre Hellebarden.
»Nachbarn sind nicht zugelassen. Wir haben Befehl, jede Ansammlung zu zerstreuen.«
»Ich komme nicht als Nachbar. Ich bin der Herr dieses Hauses.«
»Ah, gut! Das ist eine andere Sache.«
Nach Durchquerung des Hofs stieg Maître Gabriel ein paar Stufen hinauf und betrat einen durch schwere Tapisserien und Bilder verdunkelten Flur mit niedriger Decke. Ein sechsarmiger Leuchter verbreitete auf einer Konsole unruhiges Licht.
Ein kleiner Junge kam hastig, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die steinerne Treppe herunter.
»Schnell, Vater, kommt! Die Papisten wollen den Onkel zur Messe schleppen!«
»Er ist sechsundachtzig und kann nicht gehen. Es kann nur ein Scherz sein«, erwiderte Maître Gabriel in beruhigendem Ton.
Die hohen Hacken seiner Stiefel mit bekümmerter Nonchalance auf die Fliesen setzend, näherte sich ihnen auf dem oberen Treppenabsatz ein elegant in kastanienfarbenen Samt gekleideter Herr, dessen Manschetten, Halsbinde und gleichfalls auffällig gepflegte Perücke seinen hohen Rang verrieten.
»Mein lieber Berne, es freut mich, Euch zu sehen. Ich war untröstlich, in Eurer Abwesenheit Zutritt zu Eurem Haus erzwingen zu müssen, aber es handelte sich um einen besonderen Fall .«
»Ich fühle mich durch Euren Besuch sehr geehrt, Herr Generalstatthalter«, sagte der Kaufmann, indem er sich tief verneigte, »aber darf ich um Erklärungen bitten?«
»Ihr wißt, daß gemäß neuer Verordnungen, deren Anwendung wir uns nicht entziehen können, jeder zur sogenannten reformierten Religion gehörende Todkranke von einem katholischen Priester aufgesucht werden muß, um ihm die Möglichkeit zu geben, diese Welt befreit von seinen Ketzereien und des ewigen Heils gewiß zu verlassen, Als er vernahm, daß Euer Onkel, der Sieur Lazare Berne, im Sterben liegt, hielt es ein glaubenseifriger Kapuziner, der Vater Germain, für seine Pflicht, mit dem Pfarrer der zuständigen Gemeinde und von einem Gerichtsdiener begleitet, wie es die Formalitäten vorschreiben, zu ihm zu gehen. Da diese Herren von den Frauen Eures Hauses - ah, diese Frauen, mein armer Freund! - so unfreundlich empfangen wurden, daß sie zunächst ihre Mission nicht erfüllen konnten, bat man mich der allseits bekannten Freundschaft wegen, die ich für Euch empfinde, die Damen zu besänftigen; eine Aufgabe, zu deren Erfolg ich mich beglückwünsche, denn Euer bedauernswerter Onkel ist kurz vor seinem Hinscheiden .«
»Ist er tot?«
»Er hat nur noch wenige Augenblicke zu leben. Euer Onkel, sage ich, ist angesichts des Nahens der Ewigkeit endlich durch die Gnade erleuchtet worden und hat eingewilligt, die Sakramente zu empfangen.«
Plötzlich begann eine durchdringende, hysterische Mädchenstimme zu schreien:
»Nicht das! . Nicht das im Hause unserer Ahnen!«
Der Generalstatthalter selbst umschlang eine klei-ne, magere Gestalt, die sich auf ihn stürzte und ihm mit einer reichberingten Hand auf den Mund schlug.
»Ist das Eure Tochter, Maître Berne?« fragte er kalt. Gleich darauf stieß er einen Wutschrei aus. »Sie hat mich gebissen, die Dirne!«
Aus den Tiefen des Hauses erhob sich schrilles Getöse.
»Hu! Hu! Macht euch fort!«
Eine kleine, hexenhafte Alte tauchte aus dem Dunkel eines Korridors auf und begann, irgendwelche Wurfgeschosse zu schleudern. Angélique bemerkte, daß es sich um Zwiebeln handelte. Sie schienen der alten Hugenottin zufällig in die Hände geraten zu sein . Diener polterten mit ihren derben Schuhen über die Fliesen des Vestibüls.
Nur Maître Gabriel bewahrte kaltes Blut. In trok-kenem Ton befahl er seiner Tochter zu schweigen.
Währenddessen hatte der Generalstatthalter durch das Fenster ein Zeichen gegeben. Soldaten hasteten die Treppe herauf. Ihre Gegenwart besänftigte die Unruhe, und die Neugier trieb alle Welt vor dem Eingang eines Zimmers zusammen.
Zwischen den Kissen des Bettes unterschied Angélique undeutlich den Kopf eines Greises, der in der Tat in den letzten Zügen zu liegen, wenn nicht gar schon tot schien.
»Mein Sohn, ich bringe Euch den Leib unseres Herrn Jesus Christus«, sagte der Priester, während er sich näherte.
Die Worte hatten eine überraschende Wirkung.
Der Greis öffnete plötzlich ein äußerst waches, lebendiges Auge und hob den Kopf, der auf einem langen, dürren Hals saß.
»Ich bezweifle, daß derlei in Eurer Macht steht.«
»Ihr habt eben noch zugestimmt .«
»Ich weiß nichts davon.«
»Die Bewegungen Eurer Lippen waren nicht anders zu deuten.«
»Ich hatte Durst, das ist alles. Aber erinnert Euch, Herr Pfarrer, ich habe während der Belagerung von La Rochelle gekochtes Leder und Distelsuppe gegessen. Und das nicht, um fünfzig Jahre später einen Glauben zu verleugnen, in dessen Namen dreiundzwanzigtau-send von achtundzwanzigtausend Einwohnern meiner Stadt gestorben sind.«
»Ihr faselt!«
»Mag sein, aber Ihr werdet mich nicht dazu bringen, verkehrt zu faseln.«
»Ihr werdet sterben.«
»Was tut’s!«
Mit einer seltsam gesprungenen, aber noch klaren Stimme rief er:
»Man bringe mir ein Glas guten Weins.«
Die Angehörigen des Hauses brachen in Gelächter aus. Der Onkel belebte sich wieder. Der entrüstete Kapuziner gebot Schweigen. Man mußte diese frechen Ketzer bestrafen. Eine kleine Kostprobe Gefängnis würde ihnen beibringen, sich wenigstens äußerlich, wenn auch nicht von Herzen, ehrerbietig zu geben. Eine besondere Behandlung war übrigens für diejenigen vorgesehen, die durch ihre Haltung einen Skandal provozierten.
In diesem Augenblick drang ein Geruch nach etwas Verbranntem in Angéliques Nase und veranlaßte sie, sich aus dieser Auseinandersetzung zurückzuziehen, die weder ihr noch sonst jemand Gutes bringen konnte, und sich in die Küche zu begeben.
Es war ein riesiger, warmer, behaglich möblierter Raum, der ihr auf den ersten Blick sympathisch war. Sie beeilte sich, Honorine in einem Sessel nahe dem Herd abzusetzen, und entdeckte, als sie den Deckel eines Topfes hob, Kartoffeln, die sich bereits zu bräunen begannen, aber gerade noch vor dem endgültigen Verbrennen zu retten waren. Sie schüttete einen Suppenlöffel voll Wasser in den Kessel, dämpfte die Flammen und beschloß, nachdem sie sich umgesehen hatte, die Bestecke auf dem langen Mitteltisch auszulegen.
Der Streit würde sich allmählich beruhigen, und da sie die Dienstmagd war, fiel es ihr zu, die Mahlzeit vorzubereiten.
Die seltsame Szene bei ihrer Ankunft erfüllte sie noch immer mit peinlichster Bestürzung. Ein protestantisches Haus war vielleicht doch kein idealer Zufluchtsort für sie. Aber dieser Kaufmann hatte ihr gegenüber menschlich gehandelt. Er schien in bezug auf ihre Person keinerlei Verdacht zu hegen. Man würde ihre Spur verlieren. Wer würde sie schon in der Rolle der Dienstmagd eines hugenottischen Kaufmanns aus La Rochelle vermuten? Sie stieß die Tür eines dunklen, kühlen Nebenraums auf und fand, was sie suchte. Sorgfältig aufgereihte und etikettierte Lebensmittelvorräte.
»Wer ist die Frau? Eure Magd?« fragte die Stimme des Statthalters. »Ja, Monseigneur.«
»Ist sie reformierten Glaubens?«
»Allerdings.«
»Und das Kind? . Ihre Tochter? Zweifellos ein Bastard. In diesem Fall muß sie in der katholischen Religion erzogen werden. Hat man sie taufen lassen?«
Angélique sortierte Äpfel. Sie hielt sich so, daß sie den Sprechenden den Rücken zuwendete. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hörte Maître Gabriels Erwiderung, daß er diese Magd erst kürzlich eingestellt habe, daß er jedoch nicht verfehlen werde, sich über ihre Verhältnisse und die ihres Kindes zu informieren und sie über die gesetzlichen Erfordernisse zu unterrichten.
»Und Eure eigene Tochter, Monsieur Berne, wie alt ist sie?«
»ZwölfJahre.«
»Richtig. Eine kürzlich erlassene Verordnung ermächtigt die im reformierten Glauben erzogenen Mädchen, mit zwölf Jahren die Religion zu wählen, der sie in Zukunft angehören wollen.«
»Ich vermute, daß meine Tochter schon gewählt hat«, murmelte Maître Gabriel. »Ihr habt Euch eben davon überzeugen können.«
»Mein lieber Freund -«, die Stimme des Statthalters klang frostig, »- es betrübt mich, daß Ihr meine Hinweise in einem Geist aufnehmt, der mir - wie soll ich sagen? - ein wenig spöttisch, wenn nicht gar widersetzlich scheint. Bedauerlicherweise muß ich auf ihnen beharren. All das ist äußerst ernst. Und ich kann Euch nur einen Rat geben: Schwört ab . schwört ab, glaubt mir, bevor es zu spät ist. Ihr werdet Euch tausend Unannehmlichkeiten ersparen.«
Angélique wäre froh gewesen, wenn Monsieur de Bardagne sich irgendwo anders hätte vernehmen lassen. Sie war es müde, ihnen den Rücken zuzuwenden und sich mit allerlei nutzlosen Dingen zu beschäftigen, um sich Haltung zu geben.
Endlich verklang die Stimme im Treppenhaus. Gleich darauf fiel die Haustür, dann das Hoftor geräuschvoll zu, der Lärm der Stiefel und Pferdehufe verhallte, und die Familienmitglieder erschienen nacheinander in der Küche und reihten sich um die Tafel. Die alte Dienstmagd Rebecca, diejenige, die die Zwiebeln geworfen hatte, trippelte wie eine Maus zum Herd und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als sie feststellte, daß die von ihr im Fieber der Ereignisse so völlig vergessene Mahlzeit keinen Schaden gelitten hatte.
»Danke, meine Schöne«, flüsterte sie Angélique zu. »Ohne Euch hätte unser Herr mir gewiß ganz hübsch die Leviten gelesen.«
Nachdem sie die Schüssel abgestellt hatte, blieb Rebecca am Ende des Tisches stehen, und der Pastor Beaucaire nahm das Wort zu einer kurzen Ansprache, einer Art Gebet, in der er den Segen des Herrn auf das einfache Mahl herabflehte. Jedermann setzte sich. Bedrückt und unsicher, was sie tun sollte, blieb Angélique am Herd. Maître Gabriel rief sie an: »Angélique, nähert Euch und nehmt Platz. Unsere Dienstboten haben immer zur Familie gehört. Auch Eure Tochter ehrt uns durch ihre Gegenwart. Kindliche Unschuld lenkt den Segen Gottes auf ein Haus. Wir brauchen einen Stuhl, der zu ihrer Größe paßt.«
Der Martial genannte Knabe sprang auf und kehrte bald darauf mit einem hohen Stuhl zurück, den man offenbar auf den Dachboden verbannt hatte, seitdem der Jüngste, ein siebenjähriger Junge, seine ersten Kniehosen trug. Angélique setzte Honorine hinein, die einen olympischen Blick über die Versammlung schweifen ließ.
Im warmen Licht der Kerzen schien sie mit größter Aufmerksamkeit die aus dem Dunkel tauchenden Gesichter dieser Städter über ihren Kragen und makellosen Halsbinden zu studieren. Die Schatten verschluckten deren schwarze Kleidung. Die weißen Flügelhauben der Frauen wandten sich ihr raschelnd zu. Dann fiel ihr Blick auf den Pastor Beaucaire am anderen Ende des Tisches. Ein süßes Lächeln strahlte aus ihren dunklen Augen, und mit ausdrucksvoller Mimik gab sie einige Worte von sich, die man nicht recht verstand, über deren liebenswürdige Absicht es aber keinen Zweifel gab. Der Takt, mit dem sie
ihre Neigung auf den Ehrengast in dieser kleinen Gesellschaft zu konzentrieren schien, entzückte alle Welt.
»Wie schön sie ist!« rief die junge Abigaël, die Tochter des Pastors, aus.
»Und wie reizend sie sich benimmt!« sagte Séverine.
»Ihr Haar ist wie das Kupfer der Kasserollen!« rief Martial.
Sie lachten bezaubert und glücklich, während Honorine fortfuhr, den Pfarrer mit frommer Bewunderung zu betrachten. Der alte Mann schien gerührt und sogar ein wenig geschmeichelt, der jungen Dame ein so ausschließliches Gefühl eingeflößt zu haben. Er bat darum, sie als erste zu bedienen.
»Die Kleinen sind Könige unter uns. Der Herr nahm sich ihrer mit Vorliebe an.«
Er sprach von dem Gleichnis des Kindes, das Jesus mitten unter die zweifelnden Erwachsenen gesetzt hatte, indem er zu ihnen sagte: »Wenn ihr nicht werdet wie dieses Kind, werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.«
Während er sprach, fanden die Gesichter zu ihrer Ernsthaftigkeit zurück, und der älteste Sohn des Hauses erhob sich und reichte die Speisen herum, wie es in den bürgerlichen Familien üblich war.
»Vater«, sagte Séverine, die zwölfjährige Tochter, in leidenschaftlichem Ton, »was hättet Ihr getan, wenn man Onkel Lazare gezwungen hätte zu kommunizieren? Was hättet Ihr getan?«
»Man kann niemand zwingen zu kommunizieren, meine Tochter. Selbst die Papisten würden es als Sakrileg ansehen, als Gott gegenüber nicht gültig.«
»Aber wie hättet Ihr Euch verhalten, wenn sie es trotzdem getan hätten? Hättet Ihr sie getötet?«
Sie hatte schwarze, brennende Augen in einem kleinen, kreidigen Gesicht, dem die weiße, der bäuerlichen Haube ähnelnde Kappe einen ältlichen Ausdruck verlieh.
»Gewalttätigkeit, meine Tochter .«, begann Maître Gabriel.
Ihr großer, unhübscher Mund verzerrte sich.
»Natürlich, Ihr hättet sie es tun lassen. Und unser Haus wäre entehrt.«
»Kinder können über derlei Dinge nicht richten!« donnerte Maître Gabriel, plötzlich von Zorn übermannt.
Er schien äußerlich ruhig, und man hätte ihn sich gern von jovialer, gutmütiger Natur vorgestellt. Doch gab es trotz seiner leicht fülligen Erscheinung und der Sanftheit seiner blauen Augen kaum einen Mann, zu dem diese Eigenschaft weniger gepaßt harte. Im Umgang mit ihm sollte Angélique erfahren, daß die Bewohner La Rochelles unter einer dünnen materialistischen Schale die Härte des Eises verbargen. Blitzartig erinnerte sie sich der Knüppelschläge, mit denen er sie auf der Straße nach Les Sables d’Olonne bezwungen hatte. Geschaffen, um sich vor einer Schüssel voller Fettammern niederzulassen und ihre ganze kernige Vollkommenheit zu genießen, war er auch imstande, ohne sich überwinden zu müssen, wie der gute König Heinrich, der lange Zeit Gast La Rochelles gewesen war, von einem Kanten Brot und einer Knoblauchzehe zu leben.
Als sich die Familie in ein anderes Zimmer zurückgezogen hatte, um dort die Bibel zu lesen, fühlte sich die mit der alten Rebecca allein gebliebene Angélique tief deprimiert.
»Ich weiß nicht, ob Euch diese Mahlzeit wirklich genügt«, sagte sie, »aber mein Kind hat jedenfalls nicht genug gegessen. Selbst im tiefsten Wald ist sie stets besser genährt worden als in diesem Haus, dessen Bewohner wohlhabend, wenn nicht gar reich zu sein scheinen. Haben sich die Hungersnot und das Elend des Poitou etwa bis hierher verbreitet?«
»Was redet Ihr da!« rief die Alte entrüstet. »Wir aus La Rochelle sind die reichsten Leute aller Städte des Königreichs. Aber wir haben unsere Erfahrungen gemacht. Nach der Belagerung hättet Ihr hier nicht einmal ein Radieschen gefunden. Und wenn Ihr jetzt in die Lagerhäuser und auf die Kais geht . Wir quellen von Waren über, von Wein, Salz und Lebensmitteln.«
»Warum dann diese Knauserei?«
»Ah! Man sieht gleich, daß Ihr nicht von hier seid! Ihr müßt wissen, daß wir uns seit der Belagerung daran gewöhnt haben, einen Hering in vier Teile zu teilen und die Bataten zu zählen. Ihr hättet den Vater Monsieur Gabriels erleben müssen. Ah, was für ein prachtvoller Mann! Man hatte ihm Kieselsteine auftischen können, ohne daß es ihm aufgefallen wäre. Nur was den Wein anging, da war er schwierig. Die schönsten Weine der Charente liegen da unten in unserem Keller«, fügte sie hinzu, mit einem ihrer Holzschuhe auf die Fliesen der Küche klopfend.
Während sie plauderte, hatte sie die Teller abgeräumt und begann nun, sie in einem mit heißem Wasser gefüllten Zuber abzuwaschen. Angélique sah ihr mit hängenden Armen zu. Als Dienstmagd war mit ihr nicht allzu viel Staat zu machen. Aber sie hatte Hunger. Sie fröstelte sogar, als ob sie krank würde. Die Brandwunde auf ihrer Schulter eiterte, und ihr Mieder klebte fest. Jede Bewegung erinnerte sie an den schimpflichen Augenblick, an den Schreck, an die Qualen der Angst, die erst so kurze Zeit zurücklagen, daß sie sie noch wie einen kalten Schatten fühlte.
Sie nahm Honorine in die Arme. Die Kleine verlangte nichts. Sie verlangte nie etwas. In den Armen ihrer Mutter geborgen zu sein, schien sie für alle Entbehrungen zu entschädigen. Sie war vielleicht wie diese Protestanten, die, um leben zu können, nur eine wesentliche Sache brauchten und sich aller übrigen zu entäußern vermochten. Wie sie eben dem Kind zuge-lächelt hatten . Dem verfluchten Kind! . Sollte sie in diesem Haus bleiben? . Sollte sie es verlassen? Wo bot sich ein neuer Zufluchtsort?
»Da ist dicke Milch und Brot für die Kleine«, sagte die alte Magd, indem sie eine mächtige Portion auf eine Tischdecke stellte.
»Aber wenn Eure Herrschaft .«
»Sie werden nichts sagen, schon gar nicht ihretwegen . Ich kenne sie. Hinterher könnt Ihr sie dort schlafen legen.«
Sie zeigte Angélique in einer Nische der Küche ein stattliches, hohes, mit Eiderdaunenkissen bedecktes Bett.
»Schlaft Ihr dort nicht für gewöhnlich?«
»Nein, ich habe einen Strohsack im Keller, dicht beim Warenlager. Ich schlafe da, um die Diebe verscheuchen zu können.«
Nachdem Angélique das Kind gesättigt und zu Bett gebracht hatte, kehrte sie zum Herd zurück. Sie wußte, daß sie in dieser Nacht nicht schlafen würde, und zog hundertmal die Gegenwart der offenbar recht geschwätzigen Rebecca vor, die ihr für ihre weitere Existenz in diesem Hause von Nutzen sein konnte. Die Alte stocherte ein wenig in den glühenden Kohlen herum.
»Setzt Euch dorthin, meine Schöne«, sagte sie, auf einen Schemel ihr gegenüber weisend. »Wir werden zusammen eine Krabbe auskratzen und ein gutes, kleines Weinchen von Saint-Martin-de-Ré dazu trinken. Das wird Euch den Kopf wieder zurechtsetzen.«
Die Krabbe, die sie aus einem Fischkasten in der Speisekammer zog, war groß wie ein Teller. Sie bewegte sich ein wenig und veränderte ihre Farbe von Violett zu Rosa und dann zu Rot. Rebecca drehte sie geschickt mit dem Schürhaken um. Dann brach sie sie mit geübtem Griff auseinander und reichte die Hälfte Angélique.
»Macht es wie ich. Haltet Euer Messer so. Vor allem: laßt nur die Schale zurück. An einer Krabbe ist alles gut.«
Das aus den Scheren gezogene dampfende Fleisch hatte den Geschmack des Meeres, so verschieden von dem der Erzeugnisse der Erde, daß es schien, als käme man durch ihn dem Heimweh nach fernen Horizonten nahe, der Poesie der Küsten.
»Kostet mir von diesem Wein«, drängte Rebecca. »Er duftet nach Meergras.«
Sie hob den Kopf und lauschte besorgt nach draußen.
»Manchmal kommt Dame Anna noch mal her. Da würde sie wohl Augen machen .«
Doch das große Haus blieb still. Nach dem Gesang der Psalmen war alles zu Bett gegangen. Eine Öllampe wachte neben dem kranken Greis. Im Erdgeschoß führte Maître Gabriel seine Rechnungsbücher. In der Küche knisterte und knackte das Feuer. Und hinter den geschlossenen Fensterläden war ein raunendes Geräusch zu vernehmen: das Meer.
»Nein, Ihr seid gewiß keine von uns«, begann die Alte wieder. »Mit den Augen, die Ihr habt, könntet Ihr vielleicht aus der Bretagne . kommen.«
»Nein, aus dem Poitou«, sagte Angélique und bedauerte im nächsten Augenblick, sich verraten zu haben.
Wann würde sie wohl lernen, die Welt als etwas Feindliches anzusehen, etwas, das mit Fallen gespickt war?
»Dort ist allerlei Schlimmes passiert«, bemerkte Re-becca mit teilnehmender Miene. »Erzählt ein wenig.«
Ihre Augen glitzerten vor Neugier.
»Ah, ich merke schon«, fuhr sie fort, als Angélique still blieb. »Ihr habt so viel gesehen, daß Ihr nicht davon zu sprechen wagt. Ihr seid wie die Jeanne oder die Madeleine, die Cousinen des Bäckers, oder wie die dicke Sarah aus dem DorfVernon, die beinah närrisch dadurch geworden ist. Macht kein solches Gesicht, ich habe nichts gesagt. Eßt lieber. Verlaßt Euch drauf, man wird mit allem fertig. Jede will die Unglücklichste sein, dabei gibt’s immer eine andere, die Euch noch viel Schlimmeres erzählen kann. Sobald es einmal mit Krieg, Belagerungen und Hungersnot angefangen hat, ist nur eins zu erwarten: Unheil! Und es gibt keinen Grund, warum Ihr bei der Verteilung zu kurz kommen solltet. >Wenn der Fähnrich reitet, verlieren die Mädchen ihre Ehre<, sagt das Sprichwort. Ich habe die Belagerung erlebt, und meine drei Kinder sind Hungers gestorben. Wenn Ihr wollt, erzähle ich Euch davon .«
Betroffen durch ihren naiven Gedankengang, dachte Angélique:
»Ja, aber ich, ich war die Marquise du Plessis-Bel-lière.«
Rebeccas hohe, spitz zulaufende Haube umrahmte ein runzliges Gesicht und lustige, von einem Gewirr von Fältchen umgebene Augen. Selbst wenn sie ernsthaft von tragischen Dingen sprach, behielt ihr Blick einen Schimmer spöttischer Heiterkeit.
»Ich«, sagte Angélique, diesmal laut - und sie war selbst verwundert, sich zu hören -, »ich habe mein ermordetes Kind in den Armen gehalten.« Von einer plötzlichen Erregung gepackt, zitterte sie am ganzen Körper.
»Ich verstehe Euch, meine Schöne. Wenn man ein Kind verloren hat, lebt man in einer andern Welt. Man gleicht nicht mehr den übrigen. Wie gesagt, ich hab’ drei unschuldige Würmer während der Belagerung begraben müssen. Ja, ich habe die Belagerung durchgemacht. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt und Mutter von drei Kindern. Das Älteste war sieben und ist zuerst gegangen. Ich dachte, es schliefe, und wollte es nicht wecken, weil ich mir sagte, daß es so weniger Hunger hätte. Aber als es sich gegen Abend noch immer nicht rührte, ist es mir komisch vorgekommen ... Und als ich mich dann dem Bettchen näherte, hab’ ich allmählich verstanden. Es war schon seit dem Morgen tot, vor Hunger gestorben. Ich hab’s Euch ja gesagt, Tochter - warum sollten die Kriege, die Belagerungen uns Glück bringen?«
»Aber warum habt Ihr nicht versucht, die Stadt zu verlassen?« warf Angélique unwillig ein. »War es nicht möglich?«
»Vor der Stadt lagen die Soldaten Monsieur de Richelieus. Und außerdem war’s nicht ich, die entscheiden konnte, ob die Stadt besiegt war oder nicht. Jeden Tag erwarteten wir die Engländer, Aber die Engländer waren gekommen und wieder verschwunden, und Monsieur de Richelieu hatte inzwischen seinen Damm gebaut. Jeden Tag dachten wir, daß irgend etwas geschehen würde. Was, wußten wir nicht. Die Soldaten starben vor Hunger auf den Wällen. Mein Mann hatte nicht mehr die Kraft, seine Hellebarde zu halten, und ich sah, daß er sich gegen die Mauer stützte. Als er eines Abends nicht zurückkehrte, begriff ich. Er war auf dem Wall tot umgefallen, und sie hatten ihn im Massengrab verscharrt. Sie wagten es nicht, die Leichen einfach über die Mauer zu werfen, weil die königlichen Truppen sonst gesehen hätten, daß von der Garnison bald niemand mehr übrig war . Der Hunger, das ist etwas, was man weder beschreiben noch jemand verständlich machen kann, wenn er’s nicht selbst erlebt hat . Vor allem, wenn er lange anhält . Jedesmal, wenn man auf die Straße geht, hofft man, irgend etwas zu finden . Überall sucht man, hinter jedem Prellstein, unter jeder Stufe, man sucht auch auf jeder Mauer, als ob es zwischen den Steinen etwas Eßbares geben könnte . ein Kraut. Welche Freude, als ich die Mäuse unter den Dielen sich rühren hörte! Stundenlang lauerte ich ihnen auf, und mein Ältester war sehr geschickt darin, sie zu erwischen. Ein flämischer Händler verkaufte sechs oder sieben Jahre alte Häute. Sie taten viel Gutes. Die Stadt hat achthundert davon gekauft und sie den Soldaten und den Einwohnern gegeben, die noch imstande waren, Waffen zu tragen. Aus ihrer Bouillon kochte man gute Gelees . ich hab’s selbst gemacht - für die beiden Kinder, die mir blieben. Und noch immer passierte nichts, nur jeden Tag gab’s ein wenig mehr Leid. In den Straßen sah man nur graue Skelette, in Tücher gewickelte Leichen, die man kaum noch zum Friedhof schleppte. Männer trugen ihre Frauen auf den Schultern wie ein Stück Speck ... zwei Mädchen auf einer Bahre, der alte Vater ... Die Mutter trug den Sohn im Arm wie zur Taufe ...«
»Und warum seid Ihr nicht wirklich geflohen?«
»Draußen warteten die Soldaten des Königs. Die Männer hängten sie, mit den Frauen machten sie, was sie wollten. Die Kinder .? Kann man wissen, was sie mit ihnen angefangen hätten? Und dann - man konnte die Stadt einfach nicht verlassen. Es hätte bedeutet, daß sie besiegt gewesen wäre. Es gibt Dinge, die man nicht tun kann. Man hat keinen Schimmer, warum. Man mußte mit ihr sterben oder ... Ich weiß nicht mehr, wann mein Zweiter gestorben ist. Ich weiß nur noch, daß mir der Jüngste geblieben war, als eine Abordnung vor König Ludwig XIII. niederkniete, um ihm die Schlüssel La Rochelles auf einem Kissen zu überreichen. Man schrie und stürzte zu den Toren, weil das Gerücht umging, daß Brotkarren kommen sollten. Und ich lief mit ... das heißt, ich glaubte, daß ich lief, aber in Wirklichkeit hab’ ich mich wie die andern durch die Gassen geschleppt, wie die andern Gespenster, die sich nur aufrecht halten konnten, wenn sie sich gegen die Mauern stützten. Wahrhaftig, es waren alles Gespenster . Ich betrachtete den Kleinen, seine großen schwarzen Augen im mageren Gesichtchen, und sagte mir: >Es ist zu Ende, die Abordnung hat die Unterwerfung gebracht ... Der König kommt in die Stadt und das Brot desgleichen!
Es ist zu Ende, die Stadt ist besiegt! Aber dieser da bleibt dir. Dieser da wenigstens. Für diesen da ist die Unterwerfung noch zur rechten Zeit gekommen<, sagte ich mir. >Ein paar Tage noch, und du wärst eine Mutter mit leeren Armen gewesen. Gott sei gelobt!< Wißt Ihr, was dann geschehen ist?«
»Nein«, sagte Angélique, ohne die schreckerfüllten Augen von ihr zu lassen, ohne daran zu denken, daß die Belagerung La Rochelles bereits rund vierzig Jahre zurücklag.
»Nun, trinkt erst einmal einen Schluck, statt Euren Wein warm werden zu lassen - der Wein der Ile de Ré muß nämlich hübsch kühl getrunken werden. An den Toren verteilten die Soldaten also Brotlaibe, die noch warm von den Öfen des Lagers waren. Sie hatten Befehl, sich zu den tapferen Rochellesern anständig zu benehmen. Und schließlich sind Soldaten, wenn man sie nicht gerade antreibt, auch nur Menschen wie die andern . Ich habe sogar welche gesehen, denen die Tränen in die Augen traten, als sie uns sahen . Ich aß also, ich aß, und der Kleine, der seinen Laib wie ein Eichhörnchen in beiden Händen hielt, konnte auch nicht genug kriegen . Und dann war er plötzlich tot. Weil er zuviel und zu schnell gegessen hatte . Der Kopf fiel ihm auf die Schulter, und es war aus. Ich brauchte ihn nur noch zu begraben, wie die andern . Und was denkt Ihr, was danach mit mir passiert ist? Gewiß, ich bin närrisch, beinah närrisch geworden. Aber laßt Euch eines wenigstens sagen, Tochter. Was einem auch geschieht, was man auch durchmacht - das Leben ist wie eine Spinne, die die zerrissenen Fäden wieder erneuert, schneller als man’s glauben möchte. Man kann nichts dagegen tun.«
Sie unterbrach sich für einen Moment, und man hörte nur das Kratzen ihres geschäftigen Messers gegen die Schale der Krabbe.
»Was mich zuerst tröstete«, nahm sie den Faden wieder auf, »war, daß ich genug zu essen hatte. Alle die Dinge in Reichweite zu haben, die einem so lange gefehlt hatten, verschaffte mir eine Art von Zufriedenheit, und während dieser Zeit vergaß ich. Und danach tröstete es mich, wenn ich das Meer betrachtete. Ich ging auf die Klippen und blieb dort lange Zeit. Ich hörte den Lärm der Hacken, die die Wälle und Türme La Rochelles, unserer stolzen Stadt, niederrissen. Aber das Meer war da, und niemand konnte es mir nehmen. Das tröstete mich, Tochter ... Und dann liebte mich ein Mann. Er war ein Papist. Es gab jetzt viele von der Sorte in La Rochelle. Es kam einem vor, als ob sie wie Pilze aus dem Pflaster wüchsen. Aber dieser konnte hübsche Liebesworte drechseln, und das war alles, was ich von ihm verlangte. Wir hätten geheiratet, aber was wären das für Umstände gewesen! Ich hätte mich vorher bekehren müssen, und das war nun wahrhaftig nicht nach meinem Geschmack. Er ist mit einem Schiff nach Saint-Malo gereist, wo er Verwandte und eine Erbschaft hatte. Ich habe ihn nicht wiedergesehen ... Was liegt daran! Ich hatte ein Kind von ihm, einen Jungen . und schließlich mußte ich weiterleben, nicht wahr? Kinder geben einem Kraft.«
Als Rebecca ihren Bericht beendet hatte, erhob sie sich und schüttelte ihre Schürze aus, um die Splitter der Schale loszuwerden, die sich in ihr verfangen hatten. Dann lauschte sie von neuem aufmerksam.
»Nein, es ist nur das Meer, das man hört. Man möchte meinen, es ärgert sich. Tun wir einen Blick hinaus.« In der Nische, in der sich das Bett erhob, öffnete sie ein mit Blei eingefaßtes Fenster und stieß den Laden zurück. Ein Windstoß trug den reichen Geruch der Algen und des Salzes herein. Das Getöse der sich an den Wällen brechenden Wogen zwang sie, ihre Stimme zu heben.
Wolken zogen rasch über den Himmel, sich in den seltsamen Nuancen geschmolzenen Bleis verfärbend, wenn sie am Mond vorüberglitten gleich vulkanischen Dämpfen, dahingleitenden tintigen Schärpen. Im Halbdunkel der unruhigen Nacht war allein die schwarze Masse der Wälle unbeweglich. Zur Linken zeichnete sich ein von einer hohen, gotischen Pyramide gekrönter Turm ab, auf dessen Spitze eine Laterne brannte: Leuchtzeichen für die Schiffe auf den Meeresarmen zwischen Inseln und Küste. Der Umriß eines mit einer Hellebarde bewehrten Wachtpostens war zu erkennen. Der Soldat stemmte sich mit gebeugtem Rücken gegen den Wind. Nachdem er die Flamme neu angefacht hatte, die man zwischen den Spitzbogen ihres Laternentürmchens tanzen sah, stieg er die gewundene Treppe wieder hinunter, um sich ins Wachtzimmer zu flüchten.
Das Haus Maître Gabriels war von den Wällen nur durch ein schmales Gäßchen getrennt. Ein behender Junge hätte sich damit amüsieren können, von einem der Fenster aus auf den Wallgang zu springen. Rebecca erklärte Angélique, daß sie alle Soldaten kenne, die tagsüber und nachts am Laternenturm Wache hielten. Denn sie enthülste ihre Erbsen oder stopfte die Strümpfe des Haushalts am offenen Fenster, während sie gähnend vorbeigingen und zuweilen stehenblieben, um ein wenig zu plaudern. Sie war die erste, die von jeder Neuigkeit im Hafen erfuhr, da die Wachen des Laternenturms die Ankunft der aus Holland, Flandern, Spanien, England oder Amerika eintreffenden Salz- oder Weinflotten, jedes Kriegs- oder Handelsschiffes aus dem Ausland oder La Rochelle signalisieren mußten. Sobald sich zwischen den Inseln Oléron und Ré ein weißes Segel am Horizont zeigte, hob der Mann sein Horn zum Mund. Während der Einfahrt in den Hafen läutete lange eine Glocke. Und der Makler, Kaufleute und Reeder bemächtigte sich wachsende Aufregung. All dieser Schiffe wegen, die täglich das Leben der ganzen Welt auf seine Kais schütteten, langweilte man sich nie in La Rochelle.
Einstmals hatte man die Ankunft der Schiffe vom Saint-Nicolas-Turm aus signalisiert, aber seitdem er zur Hälfte geschleift war, fiel diese Ehre dem Laternenturm zu.
Für das Haus Maître Gabriels war es ein wahres Glück. Rebecca konnte mit Recht den Herrn loben, daß er sie auf der Suche nach einer Stellung hierhergeführt hatte.
Sie zog die Läden wieder zu, verschloß das Fenster, und die Stille kehrte zurück, nun tiefer noch, da sie dem Heulen des Sturms entrissen war. Angélique ließ ihre Zunge über die Lippen gleiten. Sie schmeckten frisch und salzig.
Sie bemerkte, daß Honorine erwacht war. Im Bett aufgerichtet, ähnelte sie mit ihrem leuchtenden, auf die schmalen nackten Schultern fallenden Haar einer kindlichen Sirene, die dem Ruf der Wogen lauscht. Ihre ins Ungewisse gerichteten Augen waren voll eines seltsamen Traums. Angélique bettete sie wieder zurecht und deckte sie zu. Sie erinnerte sich, daß Honorine das Zeichen Neptuns trug.
Der kleine siebenjährige Junge saß auf der untersten Stufe der Treppe, die zu den oberen Etagen führte.
Im Schatten verborgen, hatte er offenbar gierig auf die Erzählungen der alten Dienerin gelauscht.
Mehrmals den Kopf schüttelnd, schlurfte Rebecca an ihm vorbei.
»Dies Kind hat seiner Mutter das Leben gekostet, als es zur Welt kam. Man liebt es nicht sehr .«
Murmelnd begann sie die Stufen hinabzusteigen.
». Waisen, die leiden, Mütter, die weinen, das ist nun mal so . Der Tränenreigen wird so bald nicht aufhören, sage ich Euch .«
Die weiße Spitze ihrer Haube verlor sich in der Dunkelheit.
»Du mußt schlafen gehen«, sagte Angélique zu dem kleinen Jungen.
Folgsam stand er auf.
Sein Gesicht wirkte kränklich. Die Nase lief. Das struppige Haar betonte sein elendes Aussehen noch mehr.
»Wie heißt du?« fragte sie.
Er antwortete nicht und machte sich daran, an der Wand entlangstreifend die Treppe hinaufzuklettern, wie eine ängstliche Ratte. Als er schon im nächsthöheren Stockwerk angelangt war, fiel ihr ein, daß er nicht um Licht gebeten hatte.
Sie lief ihm nach.
»Warte, Kleiner, du siehst ja nichts, du wirst noch fallen.«
Sie nahm seine Hand, eine kleine, kalte, zarte Patsche, und die Berührung versetzte ihrem Herz einen Stoß. Es hatte etwas mit dieser unendlich zärtlichen Geste zu tun, die seit langem vergessen gewesen war.
Er stieg noch immer, und sie folgte ihm. Er war wie ein kleiner, mysteriöser, kaum leibhaftiger Schatten, der sie mit sich zog. Er war es jetzt, so schien es, der sie bei der Hand genommen hatte.
»Schläfst du hier?«
Er nickte und sah diesmal zu ihr auf, als ob er nicht an ihre Gegenwart zu glauben vermöge. Man hatte im Speicher ein Bett aufgestellt, das eher ein dürftiges Lager war. Der Strohsack schien nicht oft geschüttelt worden zu sein, die Leintücher waren von zweifelhafter Sauberkeit, die Decken für die Jahreszeit ungenügend. Im Winter mußte es hier eisig sein. Im Ausschnitt einer runden Luke zeigte der Mond für einen Augenblick sein bleiches Gesicht und erhellte unter den sich kreuzenden schweren Balken des Daches ein Durcheinander wunderlicher Gegenstände, Truhen und abgestellter Möbelstücke.
Unmittelbar gegenüber dem Bett stand sogar ein großer, gesprungener Spiegel.
»Gefällt’s dir hier?« fragte sie das Kind. »Frierst du nicht? Hast du keine Angst? Sicherlich bewegt sich hier manchmal etwas.«
Sie fing seinen scheuen Blick auf.
»Gewiß gibt es hier Ratten«, sagte sie sich. »Und er hat Angst.«
Sie begann ihn auszuziehen. Die mageren Schultern unter ihren Händen erinnerten sie an den zarten Körper Florimonds, als er noch klein gewesen war, die verschlossenen Lippen an die Cantors, der so wenig gesprochen, aber insgeheim gesungen hatte, die leise Trauer des Blicks an das Kind Charles-Henri, das von seiner Mutter träumte.
Er schien erstaunt, daß man ihm beim Auskleiden half. Er wollte selbst seine Kleidungsstücke ausziehen, faltete sie sorgfältig zusammen und legte sie auf einen Schemel. In seinem weißen Hemd kam er ihr noch magerer vor.
»Dieses Kind stirbt vor Hunger.«
Sie nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich. Tränen quollen aus ihren Augen, ohne daß sie ihrer achtete. Sie war immer eine schlechte Mutter gewesen. Wie ein Tier hatte sie sie gegen Kälte und Hunger verteidigt, weil sie ihre Jungen waren, aber die Erquickung des Herzens, die man empfand, wenn man sie an sich drückte, die Augen mit ihrem Anblick füllte, ihr Leben lebte, hatte sie weder gekannt noch gesucht. Die Wurzeln, die sie mit ihnen verband, hatte sie erst gespürt, als man sie ihr so grausam entrissen hatte. Die offene Wunde blutete noch immer, den Schmerz darüber verewigend, was hätte sein können und was sie versäumt hatte.
»Oh, meine Söhne! Meine Söhne!« Sie waren zu rasch gekommen. Sie waren ihr im Wege gewesen. Zuweilen hatte sie ihre Gegenwart, die sie zwang, sich von ihrem eigenen Schicksal abzuwenden und sich mit dem ihren zu beschäftigen, als störend empfunden. Sie war für die zarteren Glücksgefühle noch nicht reif gewesen. Eine Frau mußte sich erst voll entfalten, bevor sie Mutter werden konnte.
Sie brachte den kleinen Jungen zu Bett und lächelte ihm zu, um zu verhindern, daß er sich über ihre Tränen wunderte. Nachdem sie ihn geküßt hatte, stieg sie wieder hinab.
Vor dem Bett in der Küche schlüpfte sie aus ihrem Mieder und bürstete lange ihr Haar. Sie wollte nun nicht mehr fort. Das Haus am Wall, am Meer schien ihr voller Hoffnung. Es würde sie beschützen.
Am folgenden Tage übergab ihr Madame Anna nicht ohne Feierlichkeit und passende Worte eine in schwarzes Pergament gebundene Bibel.
»Mir ist aufgefallen, meine Tochter, daß Ihr bei den Antworten der Gebete stumm bleibt. Offenbar habt Ihr Euren Glauben lau werden lassen. Nehmt also das Buch der Bücher, aus dem jede gläubige Frau den ihrer Lage förderlichen Geist des Gehorsams, der Treue und Ergebenheit schöpfen kann.«
Allein geblieben, machte sich Angélique, nachdem sie die Bibel unentschlossen in ihren Händen hin und her gewendet hatte, auf die Suche nach Maître Gabriel. Ein Kommis sagte ihr, daß er sich im Erdgeschoß, in den Magazinen aufhalte, wo er mit seinen Rechnungsbüchern beschäftigt sei.
Durch den Hof und über eine Stufe hinunter gelangte man zu zwei oder drei großen Räumen, in denen der Kaufmann seine kostbareren Produkte unterstellte, unter anderem Proben von Charente- und Branntweinen, die er in großen Posten nach Holland und England lieferte. Gerade verabschiedete sich ein englischer Kapitän, nachdem er eine Bestellung aufgegeben und zweifellos auch seinem Gaumen etwas zugute getan hatte. Branntweinduft schwebte in der Luft, Fliegen summten um die beiden gläsernen Humpen, die im Laufe der Verhandlung geleert worden waren.
Der englische Kapitän ging sehr steif an ihr vorbei, nahm sich aber die Mühe, seinen verwaschenen Filzhut vor Angélique zu ziehen und ein Kompliment über »the charming wife of Maître Gabriel« zu drechseln. Dieser verbesserte, ohne die Nase von seinem Buch zu heben:
»Not my wife, servant .«
»Oh, yes«, sagte der Engländer und grüßte erneut mit entzückter Miene.
Angélique, die kein Englisch verstand, hatte dem Gespräch nicht folgen können und suchte es auch nicht zu deuten. Die Folgen ihres bevorstehenden Geständnisses beschäftigten sie zu sehr.
»Maître Gabriel«, sagte sie, all ihren Mut zusammennehmend, »ich muß ein Mißverständnis aufklären. Ich hätte es schon früher tun sollen. Ich gehöre nicht zur reformierten Religion, wie Ihr und die Euren zu vermuten scheinen. Ich . ich bin katholisch.«
Der Kaufmann fuhr auf und schien verärgert.
»Warum habt Ihr Euch dann die Lilie einbrennen lassen?« rief er. »Ihr hättet Eure Konfession bekennen müssen. Dann hättet Ihr Euch diese schreckliche Marter erspart. Das Gesetz sagt es ausdrücklich: Jede irgendeines Delikts schuldige reformierte Frau muß mit der königlichen Lilie gezeichnet und gepeitscht werden. Dank dem unseren Glauben angehörenden Richter, den wir in Les Sables antrafen, konnte ich bewirken, daß man Euch die Peitsche erließ. Über den ersten Teil der Strafe konnte er sich jedoch nicht hinwegsetzen, da man Euch mit gefährlichen Banditen zusammen erwischte. Wißt Ihr, daß drei von ihnen gehängt und die übrigen zu den Galeeren verurteilt wurden?«
»Ich wußte es nicht. Arme Kerle!«
»Es scheint Euch nicht allzusehr zu berühren. Immerhin waren es Eure Kameraden .«
»Ich kannte sie kaum.«
Maître Gabriel machte eine überraschte Bewegung, die seine Rechnungen mit Tintenspritzern zierte.
»Warum habt Ihr das nicht rechtzeitig gesagt, Unglückselige?«
Er trocknete sorgfältig die Spritzer und wischte die Feder ab.
»Für eine Katholikin bedeutet das Zeichen der Lilie, daß sie sich schimpflicher Vergehen schuldig bekannt hat: des Mordes, der Prostitution, des Diebstahls. Ihr riskiert, ins Gefängnis gesteckt oder in die Kolonien nach Kanada geschickt zu werden, wenn man Euch entdeckt. Warum habt Ihr nicht rechtzeitig gesprochen?«
Er musterte sie aufmerksam und fuhr gedämpft fort:
»Vielleicht legtet Ihr keinen Wert darauf, allzu viele Fragen beantworten zu müssen?«
»So ist es, Maître Gabriel. Ich legte keinen Wert darauf. In jenem Augenblick dachte ich nur an meine Tochter. Ich wußte noch nicht, daß Ihr sie gerettet hattet. Ich habe alles mit mir tun lassen, ohne daß ich recht wußte, was geschah . jetzt ist es zu spät. Ich bin fürs Leben gezeichnet. Aber Ihr, Maître Gabriel, seid der einzige, der es weiß. Wenn Ihr mich nicht verratet .«
»Ich habe Euch bereits in mein Haus aufgenommen. Niemand wird Eure Sicherheit antasten, solange Ihr Euch unter meinem Dach befindet. Das ist das alte Gesetz der Gastfreundschaft.«
»Ihr jagt mich also nicht fort?«
»Warum sollte ich Euch verjagen?«
»Ich will versuchen. Euer Vertrauen nicht zu enttäuschen, Maître Gabriel. Indessen ... muß ich Euch gleich sagen .«
»Ich weiß, was Ihr mir sagen wollt«, brummte er, »Daß Ihr nicht daran denkt, Euch zu bekehren. Nun, trotzdem hindert Euch nichts, die Bibel zu lesen. Öffnet sie jeden Tag auf irgendeiner Seite. Jedesmal werdet Ihr die Antwort finden, die Euch fehlt. Ihre Lektüre wird Euch ein vergessenes Land ins Gedächtnis zurückrufen und das Herz erheben.«
Er legte sie in ihre Hände zurück.
Sonne - südliche Sonne - erfüllte den Hof, in dessen Mitte sich eine Palme mit behaartem Stamm erhob und ihre spitz zulaufenden Wedel einem Himmel von durchsichtigem, klarem Blau entgegenstreckte. Längs der Mauer, nahe einer Bank, sah man einen Busch spanischen Flieders, eine Reihe Stockrosen, die so groß wie Kohlköpfe waren, und in antiken Krügen Büschel brauner und gelber Levkojen. In einer Ecke, unter einem mit Muscheln ausgelegten Bogen, murmelte ein Springbrunnen und vollendete die exotische Atmosphäre dieses halb wie ein Patio, halb wie ein Garten wirkenden Hofes. Über all dies schloß der hohe Torweg seine schützenden Flügel.
Angélique kehrte noch einmal zurück, um die auf dem Tisch stehengebliebenen Gläser zum Abwaschen in die Küche mitzunehmen.
»Entschuldigt, Maître Gabriel, daß ich Euch von neuem störe. Ist Madame Anna für das Haus verantwortlich? Wird sie mir Anweisungen geben?«
»Meine Tante hat noch niemals eine Kasserolle von einem Hut unterscheiden können«, knurrte er. »Wenn sie sich einmischt, ist niemand geholfen. Außerdem langweilt es sie.«
»Wer soll also den Haushalt leiten?«
»Warum nicht Ihr?« fragte er, sie über seine Brillengläser hinweg betrachtend. »Ihr seht mir aus, als ob Ihr in diesen Dingen erfahren seid. Daß in der Schüssel etwas zu essen ist und kein Staub auf den Möbeln liegt, ist alles, was ich verlange. Für die notwendigen Einkäufe werdet Ihr von mir Geld erhalten. Hier, nehmt das.«
Er übergab ihr eine Börse. Häusliche Details schienen ihn wie die meisten Männer zu reizen. Trotzdem rief er sie zurück.
»Denkt daran, ich verlange genaue Abrechnung. Könnt Ihr schreiben und rechnen?«
»Ja, Monsieur«, erwiderte Angélique.
Als der Abend anbrach und nachdem sie den Hausgenossen unter dem verdutzten Blick Tante Annas eine mit Speck versetzte Kohlsuppe, geröstete, mit Gewürzen eingeriebene, in Butter getränkte Fische, einen Apfelkuchen und Salate vorgesetzt, nachdem sie die Kupferkessel der Küche wieder auf Hochglanz gebracht, die schönen Möbel in den Zimmern abgestaubt und dem kleinen Laurier durch das Märchen vom Aschenbrödel ein Lächeln entlockt hatte, fühlte die erschöpfte, aber innerlich zufriedene Angélique, daß sie einen neuen Vertrag mit dem Leben eingegangen war. Brennende Fragen wie die, ob sie sich wohl endgültig den Nachforschungen des Königs hatte entziehen können, waren in den Hintergrund gerückt, und es schien ihr viel wichtiger zu wissen, ob der kleine Junge in dieser Nacht friedlich schliefe.
Mehrmals schlich sie sich zum Speicher hinauf, um nach ihm zu sehen. Sie streichelte ihn, erzählte ihm Geschichten, zankte ein wenig mit ihm, aber jedesmal, wenn sie in der Hoffnung, ihn endlich eingeschlafen zu finden, auf Zehenspitzen zurückkam, saß er von neuem auf seinem Lager und beobachtete sein Abbild im Spiegel.
Beim viertenmal hielt sie nicht mehr an sich. Schon allzulange, seit Jahren vielleicht, konnte der Kleine nur während kurzer Erschöpfungsminuten geschlafen haben, immer wieder auffahrend, um auf das Rascheln der Ratten zu lauschen, die beunruhigenden Formen zu betrachten, die das Durcheinander im Speicher schuf, an die Dinge zu denken, die er nicht verstand, die düsteren Psalmen, die man ihn singen ließ, die Worte, die man bei seinem Anblick sagte: Dieses Kind hat seiner Mutter das Leben gekostet ...
Jede Nacht mußte zu einer endlosen Prüfung für ihn geworden sein, fern menschlicher Wärme und der vertrauten Umwelt, eine traurige, kalte Reise, deren Ende das durch die Luke fallende trübe Licht der Dämmerung anzeigte. Dann erst glitt er vielleicht in beruhigten Schlaf. Nicht für lange, denn Tante Anna weckte alle Welt spätestens um fünf.
Angélique öffnete einen Schrank, nahm ein paar Laken heraus und begab sich in ein kleines Zimmer, das sie entdeckt hatte. Niemand schien es zu bewohnen. Laurier würde dort vertrauensvoll schlafen, besänftigt durch die nahe Nachbarschaft der Küche, durch Onkel Lazare, dessen nächtlicher Husten ihn über die Gegenwart eines Menschen vergewissern würde, durch das Ticken der großen Standuhr im Treppenhaus. Außerdem würde ihm Angélique während der ersten Nächte ein Lämpchen lassen.
Sie machte mit geschwinden Griffen das Bett und schloß die Vorhänge halb, die aus schöner, durchwirktet Seide waren. Holländische Seide. Angélique vermochte den Wert all dessen, was es in diesem Hause gab, zu schätzen, mehr noch vielleicht als ihre Herrschaft, die diesen reichen Komfort zugleich zu suchen und zu verachten schien.
In der Küche nahm sie einen Bettwärmer von der Wand und füllte ihn rasch mit einigen glühenden Kohlen. Als sie zurückkehrte, bemerkte sie, daß eine zweite in den kleinen Raum führende Tür, die ihn mit dem Zimmer Maître Bernes verband, geöffnet worden war.
Der Hausherr stand auf der Schwelle, einen Finger zwischen den Seiten eines Gebetbuchs.
»Was treibt Ihr hier noch, Angélique? Mitternacht ist vorüber. Euer Dienst zwingt Euch nicht, bis zu so später Stunde aufzubleiben.«
Der höfliche Ton konnte eine gewisse Gereiztheit nicht verbergen. Wenn sich Maître Berne nach Erledigung seiner Abrechnungen in sein Zimmer zurückzog, um dort über den Heiligen Schriften zu grübeln, hatte er es gern, um sich herum die Stille des schlafenden, vom Hin und Her häuslicher Verrichtungen nicht in Unruhe versetzten Hauses zu wissen.
Angélique zog zu wiederholten Malen den Bettwärmer zwischen den frischen Laken hindurch.
»Verzeiht, Maître Gabriel. Ich werde mir Eure Mahnung merken und darauf achten, mich ihr zu fügen. Aber ich möchte dieses unbenutzte Bett für den kleinen Laurier herrichten, der im Speicher oben allzu schlecht untergebracht ist.«
Da sie ihm den Rücken kehrte, blieb ihr das zornige Aufleuchten in den grauen Augen des Kaufmanns verborgen, aber sie spürte es.
»Dieses Zimmer soll nicht benutzt werden. Es gehörte meiner verstorbenen Frau.«
Angélique wandte sich ihm zu. Trotz seiner Selbstbeherrschung war seine Erregung nicht zu übersehen.
»Ich verstehe«, sagte sie sanft. »Aber ich habe kein anderes Zimmer für ihn gefunden.«
Maître Gabriel schien nach der Lösung eines schwer zu fassenden Problems zu suchen.
»Für ihn? Wen?«
»Laurier.«
»Warum wollt Ihr ihn hier einquartieren?«
»Er schläft oben im Speicher. Er hat Angst so ganz allein und findet keine Ruhe. Ich dachte mir, daß er hier besser aufgehoben wäre.«
»Was für eine Idee! Er muß sich abhärten. Ihr wollt einen Schwächling aus ihm machen. Als ich ein Kind war, habe ich auch auf diesem Speicher geschlafen.«
»Und Ihr habt Euch nicht vor den Ratten gefürchtet?«
»Natürlich. Aber ich habe mich daran gewöhnt.«
»Nun, er gewöhnt sich nicht daran. Er schläft da oben wenig oder gar nicht. Das ist einer der Gründe, warum er so mager und kränklich aussieht.«
»Er hat sich niemals beklagt.«
»Kinder beklagen sich selten, vor allem, wenn sich niemand die Mühe nimmt, ihnen zuzuhören«, sagte Angélique trocken.
»Ein Junge muß hart werden. Ihr sprecht wie eine Frau.«
»Nein, wie eine Mutter«, antwortete sie, ihn ernst betrachtend.
Sein Blick verschleierte sich. Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Ich hatte mir geschworen, daß niemals jemand anders in diesem Bett ruhen würde, in dem sie ihren letzten Atemzug getan hat.«
»Die Beständigkeit Eures Gefühls macht Euch Ehre, Maître Gabriel. Aber glaubt Ihr nicht, daß sie sich für ihr Kind freuen würde?«
Der Kaufmann seufzte erneut.
»Ach, ich weiß es nicht«, sagte er. »Ihr bringt das ganze Haus durcheinander. Ich glaubte, daß der Kleine mit seinem älteren Bruder zusammen schliefe. Es ist ja wahr, daß der Speicher ... ich gebe zu, ich habe ihn in schlechter Erinnerung. Schön ... macht, was Ihr wollt.«
Angélique kannte den Weg zum Dachboden zu gut, um erst eine Kerze holen zu müssen. Drei Stufen auf einmal nehmend, lief sie hinauf.
»Ich nehme dich mit«, sagte sie zu Laurier, der noch immer wach wie ein kleiner Nachtkauz auf seinem Lager hockte.
»Wohin wollt Ihr mich bringen?«
»Dorthin, wo du dich wohl fühlen wirst. Ganz in die Nähe deines Vaters .«
Sie trug ihn vorsichtig hinunter. Entzückt betrachtete Laurier das behagliche Zimmer, die Gestalt seines Vaters und sog den vertrauten Geruch der unteren Stockwerke ein. Von seinem Bett aus konnte er auf der anderen Seite des Treppenabsatzes den Widerschein des Feuers aus der großen Küche sehen. Die Verblüffung machte ihn gesprächig.
»Hier soll ich schlafen? Jede Nacht?«
»Ja, dein Vater meint, du seist jetzt groß genug für ein großes Bett.«
»Oh, danke, Vater.«
Angélique entfernte sich, um das Nachtlämpchen vorzubereiten. Als sie mit der Schale aus rotem Glas zurückkam, war Laurier eingeschlafen. Sein mageres Gesichtchen ruhte auf dem Kopfkissen. Er schien in dem mächtigen Bett wie verloren, aber ein Ausdruck unschuldigen Behagens verwandelte seine Züge.
Maître Gabriel sah nachdenklich auf ihn hinunter. Angélique beugte sich über das Kind, um sanft seine bleiche Stirn zu streicheln.
»Kleiner Mann!« murmelte sie zärtlich.
Sie hob die Augen zu dem Kaufmann.
»Seid mir nicht böse. Ich konnte es nicht ertragen, ihn unglücklich zu wissen.«
»Macht Euch keine Sorgen, Dame Angélique. Es ist schon alles gut so.«
Nach kurzem Zögern fügte er hinzu:
»Das heißt: nein. Während ich heute abend über den Schriften saß, habe ich mir Vorwürfe gemacht, weil ich mich gegen Euch nicht gerecht verhalten habe. Ich hätte Euch einen Vorschuß auf Eure Löhnung geben müssen.«
»Ihr seid nicht dazu verpflichtet, Maître Gabriel. Ich weiß, daß sich eine Dienstmagd erst einen Monat bei ihrer neuen Herrschaft bewähren muß, bevor sie ihren Lohn erhält.«
»Aber Ihr seid ohne den geringsten Besitz zu mir gekommen. Und in der Bibel steht: >Du sollst den armen und bedürftigen Söldner nicht unterdrücken, ob er nun einer deiner Brüder oder ein Fremder ist, der in deinem Land, innerhalb deiner Tore bleibt.
Du wirst ihm den Lohn seiner Tagesarbeit vor dem Sinken der Sonne geben, denn er ist arm und bedarf seiner.< Ich habe deshalb beschlossen, Euch dies zu geben.«
Er reichte ihr eine Börse, die er aus einem der Schöße seines Rockes gezogen hatte.
»Allerdings ist es schon ein wenig nach Sonnenuntergang«, fügte er hinzu.
Ein leiser Humor milderte zuweilen den Ernst und die Feierlichkeit seines Benehmens. In einer anderen Konfession, einer anderen Stadt geboren, dachte Angélique, hätte er ein geistreicher Epikureer sein können wie etwa der Chevalier de Mère.
»Ich fühle mich in Eurem Hause nicht unterdrückt, Maître Gabriel«, sagte sie lächelnd. »Seid versichert, daß ich mich beim Ewigen nicht über Euch beschweren werde. Ich werde Eure Güte nie vergessen.«
Während sie sich entfernte, begann Angélique zu begreifen, warum sich zwischen ihr und dem Kaufmann sofort eine Art Vertrautheit, ein Einverständnis ergeben hatte, wie sie Menschen verbindet, die sich schon unter anderen Umständen begegnet sind. Jetzt war sie sicher, daß sie ihn irgendwo schon einmal getroffen hatte. Wo? Wann? Bei welcher Gelegenheit hatte er sich mit jenem ruhigen, hochherzigen Lächeln ihr zugeneigt, das manchmal sein kaltes, verschlossenes Gesicht erhellte?
Der Gedanke, daß Maître Gabriel ihr früher schon einmal begegnet sein müsse, plagte sie lange, bis sie ihn schließlich vergaß.
Des Abends, wenn Tante Anna und die Gäste sich nach dem Gebet zurückgezogen hatten, befand sich Maître Gabriel zuweilen noch in geselliger Stimmung. Er begab sich dann in sein Zimmer vor die Wand, an der seine Pfeifensammlung hing, und wählte eine lange holländische Pfeife, die er sorgsam mit Tabak stopfte. Drauf kehrte er in die Küche zurück, um sie an einem Stück glühender Kohle in Brand zu setzen.
Danach lehnte er sich an den Türrahmen und rauchte, während er mit halbgeschlossenen Augen durch den aufsteigenden Qualm über den vertrauten großen Raum blickte und das Hin und Her der Mägde, der Kinder und der beiden Hauskatzen verfolgte. An diesen Abenden wußten seine Kinder, daß er bester Laune war, und wagten es, ihm Fragen zu stellen und ihm von ihren Angelegenheiten zu erzählen. Seit einiger Zeit tat auch Laurier dabei mit. Er verwandelte sich, zeigte sich gewitzt und wehrte Martials Spöttereien ab.
Als er eines Abends auf Angéliques Knien saß und sie ihm sanft über das Haar strich, begegnete sie zwischen blauen Rauchspiralen dem nachdenklichen Blick des Kaufmanns. Sie kam dem Tadel, den sie kommen fühlte, zuvor.
»Ihr findet, daß ich ihn für einen Jungen zu sehr verwöhne? ... Seht doch, wieviel kräftiger er geworden ist! Die Wangen sind schon viel rosiger. Kinder brauchen Zärtlichkeit, um zu wachsen, Maître Gabriel, wie die Blumen Wasser brauchen.«
»Ich leugne es nicht, Dame Angélique. Ich erkenne an, daß Ihr dabei seid, aus diesem Zwerg, dessen Anblick - ich gebe es zu - mir peinlich war, durch Eure Pflege ein schönes Kind zu machen ... Ich habe durch Ungerechtigkeit, auch durch Unwissenheit gesündigt. Ich verstehe mich besser darauf, die Qualität eines guten Branntweins oder eines kanadischen Pelzes festzustellen, als herauszufinden, was einem Kind nutzen kann. Was mich verwundert, ist lediglich, warum Ihr Eurem eigenen Kind gegenüber so wenig von dieser Zärtlichkeit Gebrauch macht ... Ihr sorgt für sein Wohl, gewiß, aber ich habe nie gesehen, daß Ihr es geküßt, ihm zugelächelt oder daß Ihr es auch nur an Euch gedrückt hättet.«
»Ich? ... Ich sollte das niemals getan haben?« rief Angélique, während sie bis zu den Haarwurzeln errötete.
Und sie betrachtete betroffen Honorine, die vor ihrem Teller Milchbrei saß.
Man hatte sie allein am Tisch zurückgelassen, weil sie sich nicht beeilte. Seit einiger Zeit brauchte sie Stunden zum Essen, den Löffel in der kleinen Faust, den Blick ins Leere gerichtet. Angélique hatte den Verlust ihres kräftigen Appetits dem Eingeschlossensein in den vier Wänden des Hauses zugeschrieben; das Kind war es bisher gewohnt gewesen, im Freien zu leben. Konnte es sein, daß Honorine unter der Vernachlässigung durch ihre eigene Mutter litt? Was für Vergleiche stellte sie hinter ihren kleinen wachen und glänzenden Augen an? Zuweilen hatte sie Zornausbrüche, die Angélique reizten. Diesen winzigen Willen zu entdecken und seine Hartnäckigkeit zu spüren, erstaunte und entrüstete sie. Sie verlor die Geduld. »Geh weg!« rief Honorine ihr zürnend zu. Angélique brachte sie dann zu Bett oder vertraute sie Rebecca an, für die die Kleine eine Schwäche hatte. Angélique hatte sich über Laurier geneigt. In ihm fand sie ihre kleinen Jungen, ihre wahren Kinder wieder. Honorine war noch nicht wirklich ihr Kind.