Er wachte auf. Er hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Frau war angezogen und saß auf dem Sofa. Aber sie sah ihn nicht an; sie blickte aus dem Fenster. Er hatte erwartet, sie würde längst fort sein. Es war ihm unbequem, daß sie noch da war. Er konnte morgens keine Menschen um sich leiden. Er überlegte, ob er versuchen sollte, weiterzuschlafen; aber es störte ihn, daß sie ihn beobachten konnte. Er beschloß, sie rasch loszuwerden. Wenn sie auf Geld wartete, war es sehr einfach. Es würde auch sonst einfach sein.
«Sind Sie schon lange auf?»
Die Frau erschrak und drehte sich um. «Ich konnte nicht mehr schlafen. Es tut mir leid, wenn ich Sie geweckt habe.»
«Sie haben mich nicht geweckt.»
Sie stand auf. «Ich wollte fortgehen.»
«Warten Sie. Ich bin gleich fertig. Sie bekommen noch Ihr Frühstück. Den berühmten Kaffee des Hotels. So lange werden wir beide noch Zeit haben.»
Er stand auf und klingelte. Dann ging er ins Badezimmer. Während er sich die Zähne putzte, hörte er das Mädchen mit dem Frühstück kommen.
Er beeilte sich.
«War es unangenehm?» fragte er, als er herauskam.
«Was?»
«Daß das Zimmermädchen Sie sah. Ich habe nicht daran gedacht.»
«Nein. Es war auch nicht überrascht.» Die Frau blickte auf das Tablett. Es war für zwei Personen, ohne daß Ravic etwas gesagt hätte.
«Sicher nicht. Dafür sind wir in Paris. Hier ist Ihr Kaffee. Haben Sie Kopfschmerzen?»
«Nein.»
«Gut. Ich habe welche. Aber das ist in einer Stunde vorbei. Hier sind Brioches.»
«Ich kann nichts essen.»
«Doch, Sie können. Sie glauben bloß, Sie könnten nicht. Versuchen Sie es nur.»
Sie nahm ein Brioche. Dann legte sie es wieder hin. «Ich kann wirklich nicht.»
«Dann trinken Sie den Kaffee und rauchen eine Zigarette. Das ist das Frühstück der Soldaten.»
«Ja.»
Ravic aß. «Sind Sie immer noch nicht hungrig?» fragte er nach einer Weile.
«Nein.»
Die Frau drückte ihre Zigarette aus. «Ich glaube …», sagte sie und verstummte.
«Was glauben Sie?» fragte Ravic ohne Neugier.
«Ich sollte jetzt gehen.»
«Wissen Sie den Weg? Wo wohnen Sie?»
«Im Hotel Verdun.»
«Das ist wenige Minuten von hier. Ich kann es Ihnen zeigen, draußen. Er zog seine Brieftasche hervor und wollte ihr Geld geben.
«Lassen Sie das! Was soll das?» fragte die Frau.
«Nichts.» Ravic steckte die Brieftasche wieder ein.
Sie sah ihn offen an.
«Sagen Sie mir …» Sie suchte nach Worten. «Vielleicht wissen Sie … was man tun muß … wenn …wenn jemand gestorben ist».. Sie began zu weinen. Sie weinte ohne Laut. Ravic wartete, bis sie ruhiger wurde.
«Ist jemand gestorben?»
Sie nickte.
«Gestern abend?»
Sie nickte wieder.
«Haben Sie ihn getötet? Haben Sie es getan? Wenn Sie mich fragen, was Sie tun sollen, müssen Sie es mir sagen.»
«Er ist gestorben!» schrie die Frau. «Plötzlich …»
«War er krank?» fragte Ravic.
«Ja.»
«Hatten Sie einen Arzt?»
«Ja … aber er wollte nicht ins Krankenhaus …»
«War der Arzt gestern da?»
«Nein. Vor drei Tagen. »
«Hatten Sie keinen anderen danach?»
«Wir wußten keinen. Wir sind erst drei Wochen hier.…»
«Was hat er gehabt?»
«Ich weiß es nicht. Der Arzt sagte Lungenentzündung … aber er glaubte es nicht … er sagte, alle Ärzte seien Betrüger … und es war auch besser gestern. Dann plötzlich …»
«Warum haben Sie ihn nicht in ein Hospital gebracht?»
«Er wollte nicht …»
«Liegt er noch im Hotel?»
«Ja.»
«Haben Sie dem Hotelbesitzer gemeldet, was geschehen ist?»
«Nein. Als er plötzlich still war … und alles so still … und seine Augen … da habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin fortgelaufen.»
«Kommen Sie! Ich werde mit Ihnen gehen. War es Ihr Mann?»
«Nein», sagte die Frau.
Ravic sagte«Ich bin Arzt.»
«Wir brauchen hier keinen Arzt mehr. Hier brauchen wir die Polizei.»
Er starrte Ravic und die Frau an. Er erwartete Angst, Protest und Bitten.
«Ein guter Gedanke. Warum ist sie nicht schon hier? Sie wissen doch schon seit einigen Stunden, daß der Mann tot ist.»
Der Patron erwiderte nichts. Er starrte Ravic nur weiter wütend an.
«Ich möchte den Toten sehen. Ich werde dann für alles andere sorgen.»
Ravic ging an dem Wirt vorbei.
Welche Zimmernummer?» fragte er die Frau.
«Vierzehn.»
«Sie brauchen nicht mitzugehen. Ich kann das allein machen.»
«Nein. Ich möchte nicht hierbleiben.»
«Gut. Wie Sie wollen.»
Das Zimmer war niedrig und lag nach der Straße. Der Raum hatte zwei Betten; in dem an der Wand lag der Mann. Er lag gelb wie eine Figur aus Kirchenwachs, mit krausen schwarzen Haaren, in einem roten Seidenpyjama. Die Hände waren zusammengelegt. Neben ihm auf dem Nachttisch stand eine kleine, billige, hölzerne Madonna, auf deren Gesicht Spuren von Lippenstift waren. Ravic nahm sie hoch, «made in Germany» stand auf dem Rücken eingedruckt. Ravic sah das Gesicht des Toten an.
Ravic beugte sich über ihn. Er untersuchte den Körper. Keine Spur irgendeiner Gewalt. Er richtete sich auf.
«Wie hieß der Arzt, der hier war?» fragte er die Frau.«Wissen Sie seinen Namen?»
«Nein.»
Er sah sie an. Sie war sehr blaß. « Ist der Kellner hier, der Ihnen den Arzt besorgt hat?» Er blickte auf die Gesichter in der Tür.
«Wo ist François?»
Ein Kellner drängte sich durch. «Wie hieß der Arzt, der hier war?» «Bonnet. Charles Bonnet.»
«Haben Sie seine Telefonnummer?»
«Passy 27 43.»
«Gut.» Ravic sah das Gesicht des Wirtes .
«Wir wollen jetzt einmal die Tür schließen. »
« Alle ’raus! Was steht ihr überhaupt hier ’rum und stehlt die Zeit, die ich euch bezahle?»
Der Wirt schloß die Tür. Ravic nahm das Telefon ab. Er rief Veber an und sprach eine Weile mit ihm. Dann rief er die Passy-Nummer an. Bonnet war in seinem Sprechzimmer. Er bestätigte, was die Frau gesagt hatte. «Der Mann ist gestorben», sagte Ravic. «Können Sie kommen und den Totenschein ausfüllen?»
« Aber ich unterschreibe nichts, ehe ich nicht bezahlt bin. Dreihundert Frank macht es.»
«Schön. Dreihundert Frank. Sie werden sie bekommen.»
Ravic hängte ab.
«Können Sie den Totenschein nicht selbst ausstellen?» fragte die Frau.
«Nein», sagte Ravic. «Dazu brauchen wir einen französischen Arzt. Am einfachsten den, der ihn behandelt hat.»
Als Bonnet die Tür hinter sich schloß, wurde es plötzlich still. «Sie waren nicht verheiratet?» fragte Ravic.
«Nein. Warum?»
«Das Gesetz. Das Erbe . Die Polizei wird bestimmen, was Ihnen und was ihm gehört. Was Ihnen gehört, nehmen Sie. Was ihm gehört, wird von der Polizei festgehalten. Für Verwandte, die sich melden sollten. Hat er welche?»
«Nicht in Frankreich.»
«Sie haben mit ihm gelebt?»
Die Frau antwortete nicht.
«Lange?»
«Zwei Jahre.»
Ravic sah sich um. Haben Sie keine Koffer?»
«Doch … sie waren hier … Gestern abend noch.»
«Aha, der Wirt.» Ravic öffnete die Tür. Die Putzfrau mit dem Besen stand neben der Tür. «Mutter», sagte er, «für Ihr Alter sind Sie zu neugierig. Rufen Sie den Wirt.»
Die Putzfrau wollte protestieren.
«Sie haben recht», unterbrach Ravic. «In Ihrem Alter hat man nur noch die Neugier. Aber rufen Sie den Wirt.»
Der Wirt kam herein, einen Zettel in der Hand. Er klopfte nicht an.
«Wo sind die Koffer?» fragte Ravic.
«Zuerst einmal die Rechnung. Hier. Erst wird die Rechnung bezahlt.»
«Zuerst einmal die Koffer. Das Zimmer ist noch immer vermietet. Das nächste Mal klopfen Sie an, wenn Sie hereinkommen. Geben Sie die Rechnung her, und lassen Sie die Koffer bringen.»
Der Wirt starrte ihn wütend an. «Sie werden Ihr Geld bekommen», sagte Ravic.
«Wissen Sie, wo Geld ist? In seinem Anzug? Oder war keins da?»
«Er hatte Geld in seiner Brieftasche, unter seinem Kopfkissen hatte er sie meistens.»
Ravic stand auf. Er hob vorsichtig das Kopfkissen mit dem Kopf des Toten und holte darunter eine lederne schwarze Brieftasche hervor. Er gab sie der Frau. «Nehmen Sie das Geld heraus und alles, was wichtig für Sie ist. Schnell. Es ist keine Zeit für Sentimentalität. Sie müssen leben. Zu was sonst ist es nütze?» Er blickte eine Minute aus dem Fenster.
«Fertig?»
«Ja.»
«Geben Sie mir die Brieftasche wieder zurück.» Er schob sie unter das Kissen. Er fühlte, daß sie dünner war als vorher. «Packen Sie die Sachen in Ihre Handtasche», sagte er.
Sie tat es gehorsam. Ravic nahm die Rechnung und sah sie durch.
Es klopfte. Ravic konnte sich nicht enthalten zu lächeln. Der Junge brachte die Koffer herein. Der Wirt folgte ihm.
«Sind das alle?» fragte Ravic die Frau.
«Ja.»
«Natürlich sind das alle», grunzte der Wirt. «Was dachten Sie denn?»
«Wer sind Sie überhaupt? Was mischen Sie sich hier ein?» «Ich bin der Bruder», sagte Ravic.
Die Frau nahm drei Hundert-Frank-Scheine aus der Tasche und gab sie dem Wirt, der sie nahm. «Um sechs Uhr muß das Zimmer geräumt sein. Sonst rechnet es für einen andern Tag.» sagte er und verließ das Zimmer.
«Jetzt kommt noch die Polizei, und dann kann er abgeholt werden», sagte Ravic und sah die Frau an.
Sie saß still in der Ecke zwischen den Koffern «Wenn man tot ist, ist man sehr wichtig … wenn man lebt, kümmert sich niemand.»
Er sah die Frau noch einmal an. «Wollen Sie nicht hinuntergehen? Es muß unten so etwas wie ein Schreibraum sein.»
Sie schüttelte den Kopf.
«Ich kann mit Ihnen gehen. Ein Freund von mir kommt her, um die Sache mit der Polizei zu erledigen. Doktor Veber. Wir können unten auf ihn warten.»
«Nein. Ich möchte hierbleiben.»
«Sie können nichts tun. Warum wollen Sie hierbleiben?»
«Ich weiß nicht. Er … wird nicht mehr lange dasein. Und ich bin oft … er war nicht glücklich mit mir. Ich war oft fort. Jetzt will ich hierbleiben.» Sie sagte das ruhig, ohne Sentimentalität.
«Er weiß nichts mehr davon», sagte Ravic.
«Das ist es nicht…»
«Gut. Dann werden Sie hier etwas trinken. Sie brauchen das.»
Ravic wartete nicht auf Antwort. Er klingelte. Der Kellner erschien überraschend schnell. «Bringen Sie zwei große Kognaks.»
«Hierher?» – «Ja. Wohin sonst?»
«Sehr wohl, mein Herr.» Der Kellner brachte zwei Gläser und eine Flasche Courvoisier. Der Kellner stellte das Tablett auf den Tisch und verschwand so schnell er konnte. Ravic nahm die Flasche und goß die Gläser voll. «Trinken Sie das. Es wird Ihnen guttun.» Sie trank das Glas aus.
«Ist in den Koffern, die Ihnen nicht gehören, noch etwas Wichtiges?»
«Nein.»
«Etwas, das Sie behalten möchten. Das nützlich für Sie ist? Wollen Sie nicht nachsehen?»
«Nein. Es ist nichts drin. Ich weiß es.» «Auch nicht in dem kleinen Koffer?»
«Vielleicht. Ich weiß nicht, was er darin hatte.» Ravic nahm den Koffer, stellte ihn auf einen Tisch am Fenster und öffnete ihn. Ein paar Flaschen; etwas Wäsche; ein paar Notizbücher; ein Kasten mit Wasserfarben; einige Pinsel, ein Buch, zwei Geldscheine. Er hielt sie gegen das Licht.
«Hier sind hundert Dollar», sagte er. «Nehmen Sie das. Davon können Sie eine Zeitlang leben. Den Koffer werden wir zu den Ihren stellen. Er kann ebensogut Ihnen gehört haben.» «Danke», sagte die Frau. «
Ravic schenkte die Gläser voll. «Trinken Sie das noch.»
Sie trank das Glas langsam aus. «Besser?» fragte er. Sie sah ihn an. «Nicht besser und nicht schlechter. Gar nichts.»
«Ich kann nichts denken», sagte sie, «solange er da ist.»
Die Ambulanzgehilfen sind gekommen. Sie deckten ein Tuch über den Leichnam. Ravic stand neben der Frau für den Fall, daß sie ohnmächtig werden würde. Ravic nahm die kleine hölzerne Madonna vom Nachttisch. «Ich glaubte, das gehört Ihnen», sagte er. «Wollen Sie es nicht behalten?» «Nein.» Er öffnete den kleinen Koff er und legte sie hinein. «Kommen Sie», sagte Ravic zu der Frau. «Wir können unten warten.» Die Frau schüttelte den Kopf. «Gut», sagte er zu den Gehilfen. «Tun Sie, was nötig ist.»
Ravic sah ihnen nach, bis sie unten waren. Dann ging er zurück. Die Frau stand am Fenster und sah hinaus. Auf der Straße das Auto. Die Gehilfen schoben die Bahre hinein wie ein Bäcker Brot in einen Ofen. Die Frau drehte sich um.
«Sie hätten vorher weggehen sollen», sagte Ravic. «Wozu mußte sie das letzte noch sehen?»
«Ich konnte nicht. Ich konnte nicht von ihm gehen. Verstehen Sie das nicht?»
«Ja. Kommen Sie. Trinken Sie noch ein Glas.»
«Nein.»
Veber hatte den Lichtschalter angedreht, als die Polizei und die Ambulanz kamen. Der Raum erschien jetzt größer, seit der Körper fort war.
«Wollen Sie hier im Hotel bleiben? Doch sicher nicht?»
«Nein.»
«Haben Sie Bekannte hier?» «Nein. Niemand.»
«Wissen Sie ein Hotel, in das Sie möchten?»
«Nein.»
«In der Nähe ist ein kleines Hotel, ähnlich wie dieses. Sauber und ehrlich. Wir könnten dort etwas für Sie finden. Hotel Milan.»
«Kann ich nicht in das Hotel gehen, wo …? In Ihr Hotel?»
«Ins International?»
«Ja. Ich … es ist … ich kenne es nun schon etwas. Es ist besser als ein ganz unbekanntes.»
«Das International ist kein gutes Hotel für Frauen», sagte Ravic. Das fehlte noch, dachte er. Im selben Hotel. Ich bin kein Krankenwärter. «Es ist immer überfüllt. Besser, Sie gehen zum Hotel Milan. Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie es ja immer noch wechseln.»
Die Frau sah ihn an. Er hatte das Gefühl, daß sie wußte, was er dachte, und er war beschämt.
Aber es war besser, einen Augenblick beschämt zu sein und dafür später Ruhe zu haben. «Gut», sagte die Frau. «Sie haben recht.»
Ravic ließ die Koffer hinunter in ein Taxi bringen. Das Hotel Milan war nur wenige Minuten entfernt. Er mietete ein Zimmer und ging mit der Frau hinauf. Es war ein Raum im zweiten Stock mit einer Tapete mit Rosengirlanden, einem Bett, einem Schrank und einem Tisch mit zwei Stühlen.
«Ist das genug?» fragte er.
«Ja. Sehr gut.».
Die Koffer wurden heraufgebracht. «So, jetzt haben Sie alles hier.»
«Ja. Danke. Danke vielmals.»
Die Frau saß auf dem Bett. Ihr Gesicht war sehr blaß. «Sie sollten schlafen gehen. Glauben Sie, daß Sie es können?»
«Ich werde es versuchen.»
Ravic gab ihr ein paar Tabletten «Hier ist etwas zum Schlafen. Mit einem Glas Wasser. Wollen Sie es jetzt nehmen?»
«Nein, später.»
«Gut. Ich werde jetzt gehen. In den nächsten Tagen werde ich nach Ihnen fragen. Versuchen Sie, sobald wie möglich zu schlafen. Hier ist die Adresse des Beerdigungsinstituts, wenn Sie noch etwas zu tun haben. Gehen Sie nicht hin. Denken Sie an sich. Ich werde nach Ihnen fragen. Wie heißen Sie?» fragte er.
«Madou. Joan Madou.»
«Joan Madou. Gut. Ich werde das behalten. »