«Sehen Sie das, Veber?» fragte Ravic. «Hier – und hier – und hier…»
Ravic richtete sich auf. «Krebs», sagte er. «Klarer, Krebs! Das ist die verfluchteste Operation, die ich seit langem gemacht habe. Aber wir können nicht von unten arbeiten, müssen schneiden, und plötzlich finden wir Krebs.»
Veber sah ihn an. «Was wollen Sie machen?»
«Wir müssen weiterschneiden. Den Hysterektomieschnitt[4] machen», sagte Ravic. «Keinen Sinn, was anderes zu tun. Das verdammte ist nur, daß sie es nicht weiß. Wie ist der Puls?» fragte er die Narkoseschwester.
«Regelmäßig. Neunzig.»
«Blutdruck?»
«Hundertzwanzig.»
«Gut.» Ravic sah auf den Körper Kate Hegströms, der auf dem Operationstisch lag. «Sie müßte es vorher wissen. Sie müßte einverstanden sein. Wir können nicht so einfach in ihr herumschneiden. – Oder können wir?»
«Nach dem Gesetz nicht. Sonst … wir haben ja schon angefangen.»
«Das mußten wir. Die Ausschabung[5] war nicht von unten zu machen. Dies hier ist eine andere Operation. Eine Gebärmutter herausnehmen, ist etwas anderes als eine Auskratzung[6].»
«Ich glaube, sie vertraut Ihnen, Ravic.»
«Ich weiß es nicht. Vielleicht. Aber ob sie einverstanden wäre …?» Messer, Eugenie.» Er machte den Schnitt bis zum Nabel .
«Sehen Sie hier, Veber … und hier …. Die dicke, harte Masse. Es ist schon zu weit.»
Veber starrte auf die Stelle, die Ravic ihm zeigte. «Sehen Sie das hier», sagte Ravic. «Wir können die Arterien nicht mehr abklammern. Hoffnungslos …»
Er löste vorsichtig ein schmales Stück los. «Ist Boisson im Laboratorium?»
«Ja», sagte die Krankenschwester. «Er wartet schon.»
«Gut. Schicken Sie es hinüber. Wird nicht länger als zehn Minuten dauern.»
«Sagen Sie ihm, er soll telefonieren», sagte Veber. «Sofort. Wir warten mit der Operation.»
Ravic richtete sich auf.
«Wie ist der Puls?»
«Fünfundneunzig.»
«Blutdruck?»
«Hundertfünfzehn.»
«Gut. Ich glaube, Veber, wir brauchen jetzt nicht mehr nachzudenken, ob wir ohne Zustimmung operieren sollen oder nicht. Hier ist nichts mehr zu tun.»
Veber nickte.
«Zunähen», sagte Ravic. «Das Kind wegnehmen, das ist alles. Zunähen und nichts sagen.»
Er stand einen Moment und sah auf den Körper unter den weißen Tüchern. Das grelle Licht machte die Tücher noch weißer, wie frischer Schnee. Kate Hegström, vierunddreißig Jahre alt, kapriziös, schmal, braun, trainiert, voll von Willen zum Leben – zum Tode verurteilt durch Krebs , der ihre Zellen zerstört hatte. Er beugte sich wieder über den Körper. «Wir müssen ja noch …»
Das Kind. In diesem zerfallenen Körper wuchs ja noch ein Leben heran. Verurteilt mit ihm. Irgend etwas, das einmal spielen wollte in Gärten, das irgend etwas werden wollte, Ingenieur, Priester, Soldat, Mörder, Mensch, etwas, das leben, leiden, glücklich sein wollte und zerbrechen … vorsichtig ging das Instrument– fand den Widerstand, brach ihn behutsam, brachte ihn heraus – vorbei. Nichts mehr als etwas totes Fleisch und Blut.
Das Telefon klingelte von unten. Veber blickte zur Tür. Ravic sah nicht hin. Er wartete. Er hörte die Tür. Die Schwester kam herein. «Ja», sagte Veber.
«Krebs.»
Ravic nickte und begann weiterzuarbeiten. Neben ihm zählte Eugenie die Instrumente. Er begann zu nähen. Fein, methodisch, genau, völlig konzentriert und ohne jeden Gedanken.
«Fertig.»
Eugenie kurbelte mit dem Fuß den Tisch wieder horizontal und deckte Kate Hegström zu. Scheherazade, dachte Ravic, vorgestern, ein Kleid von Mainbocher, waren Sie einmal glücklich, oft , ich habe Angst, eine Routinesache; die Zigeuner spielen. – Er sah auf die Uhr über der Tür. Zwölf. Mittag. Draußen öffneten sich jetzt die Büros und Fabriken, und gesunde Leute beeilen sich.
Die beiden Schwestern schoben den flachen Wagen aus dem Operationssaal heraus. Ravic riß die Gummihandschuhe von den Händen, ging in den Waschraum und begann sich zu waschen.
«Ihre Zigarette», sagte Veber, der sich neben ihm an dem zweiten Becken wusch.
«Sie verbrennen sich die Lippen.»
«Ja. Danke. Wer wird es ihr nur sagen, Veber?»
«Sie», erklärte Veber.
«Wir müssen ihr erklären, warum wir geschnitten haben. Sie hatte erwartet, wir würden es von innen machen. Wir können ihr nicht sagen, was es wirklich war.»
«Es wird Ihnen schon etwas einfallen», sagte Veber.
«Sie haben ja bis heute abend Zeit.Sie weiß, daß Sie sie operiert haben, und wird es von Ihnen wissen wollen. Sie würde nur unruhig werden, wenn ich käme.»
«Stimmt.»
«Ich verstehe nicht, wie es sich in so kurzer Zeit entwickeln konnte.»
«Es kann. Ich wollte, ich wüßte, was ich sagen soll.»
«Ihnen wird schon etwas einfallen, Ravic. Irgendeine Zyste oder ein Myom.»
«Ja», sagte Ravic. «Irgendeine Zyste oder ein Myom.»
Nachts ging er noch einmal zur Klinik. Kate Hegström schlief. Sie war abends aufgewacht, hatte erbrochen, ungefähr eine Stunde unruhig gelegen und war dann wieder eingeschlafen.
«Hat sie irgend etwas gefragt?»
«Nein», sagte die rotbackige Schwester.
«Ich nehme an, daß sie durchschlafen wird bis morgen. Wenn sie aufwacht und fragt, sagen Sie ihr, alles sei gut abgelaufen. Sie solle weiterschlafen. Geben Sie ihr, wenn es nötig wird, ein Mittel. Wenn sie unruhig wird, rufen Sie Doktor Veber oder mich an.»
Er trat in ein Bistro und setzte sich an einen Marmortisch am Fenster. Der Raum war rauchig und voll Lärm. Der Kellner kam. «Einen Dubonnet und ein Paket Colonial.»
Er öffnete das Paket und zündete sich eine der schwarzen Zigaretten an. Neben ihm debattierten ein paar Franzosen über die korrupte Regierung und den Pakt von München. Ravic hörte nur halb hin. Jeder wußte, daß die Welt apathisch in einen neuen Krieg hineintrieb. Niemand hatte etwas dagegen. Er trank das Glas Dubonnet. Der süßlich dumpfe Geruch des Aperitifs füllte den Mund mit schalem Widerwillen. Wozu hatte er ihn nur bestellt? Er winkte dem Kellner. «Einen fine.» Er blickte durch die Scheiben hinaus und schüttelte die Gedanken ab. Wenn man nichts tun konnte, sollte man sich nicht verrückt machen. Er erinnerte sich, wann er diese Lehre bekommen hatte. Eine der großen Lehren seines Lebens.
Es war 1916 gewesen, im August, in der Nähe von Ypern. Die Kompanie war einen Tag vorher von der Front zurückgekommen. Es war ein ruhiger Abschnitt gewesen, in dem sie das erstemal, seit man sie ins Feld geschickt hatte, eingesetzt worden war. Nichts war passiert. Jetzt lagen sie in der warmen Augustsonne um ein kleines Feuer herum und brieten Kartoffeln, die sie in den Feldern gefunden hatten. Eine Minute später war nichts mehr davon da. Ein plötzlicher Artillerieüberfall – eine Granate, die mitten ins Feuer geschlagen hatte –; als er wieder zu sich kam, heil, unverletzt, sah er zwei seiner Kameraden tot – und etwas weiter seinen Freund Paul Meßmann, den er kannte, seit sie beide laufen konnten, mit dem er gespielt hatte, die Schule besuchte– er lag da, den Magen und den Bauch aufgerissen … Sie schleppten ihn auf einer Zeltbahn zum Feldlazarett, den nächsten Weg, durch ein Getreidefeld einen flachen Abhang hinauf. Sie schleppten ihn zu viert, jeder an einer Ecke, und er lag in der braunen Zeltbahn, die Hände in die weißen, fetten, blutigen Eingeweide gepreßt, den Mund offen, die Augen verständnislos starr. Er starb zwei Stunden später. Eine davon schrie er. Ravic erinnerte sich, wie sie zurückgekommen waren. Er hatte stumpf und verstört in der Baracke gesessen. Es war das erstemal, daß er so etwas gesehen hatte. Katczinsky hatte ihn da gefunden, der Gruppenführer, Schuhmacher im Privatleben. «Komm mit», hatte er gesagt. «In der Bayernkantine gibt es heute Bier und Schnaps. Wurst auch.» Er hatte ihn angestarrt. Wie konnte es sein? Katczinsky hatte ihn eine Weile beobachtet, hatte dann gesagt: «Du kommst mit. Du wirst heute fressen und saufen.» Er hatte nicht geantwortet. Katczinsky hatte sich neben ihn gesetzt. «Ich weiß, was los ist. Ich weiß auch, was du jetzt über mich denkst. Aber ich bin zwei Jahre hier und du zwei Wochen. Hör zu! Können wir noch etwas für Meßmann tun? – Nein. – Glaubst du, daß wir alles riskieren würden, wenn eine Chance da wäre, ihn zu retten?» – Er hatte aufgeblickt. Ja, das wußte er. Er wußte das von Katczinsky.
«Gut. Er ist tot. Wir können nichts mehr machen. Aber in zwei Tagen müssen wir wieder ’raus und nach vorn. Diesmal wird es nicht so ruhig da sein. Wenn du jetzt hier hockst und an Meßmann denkst, frißt du es in dich ’rein. Es macht deine Nerven kaputt, wirst unsicher. Gerade genug vielleicht, daß du beim nächsten Feuerüberfall draußen nicht schnell genug bist. Halbe Sekunde zu spät. Dann schleppen wir dich wie Meßmann zurück. Wem nützt das? Meßmann? Nein. Jemand anderem? Nein. Dich haut es um, das ist alles. Verstehst du nun?» – «Ja, aber ich kann nicht.» – «Halt’s Maul, du kannst! Andere haben es auch gekonnt. Du bist nicht der erste.» Es war besser geworden nach dieser Nacht. Er war mitgegangen, er hatte seine erste Lektion gelernt. Hilf, wenn du kannst – tu alles dann –; aber wenn du nichts mehr tun kannst, vergiß! Dreh dich um! Halt dich fest! Mitleid ist etwas für ruhige Zeiten. Nicht, wenn es ums Leben geht.
Begrabe die Toten und friß das Dasein! Du wirst es noch brauchen müssen. Trauer ist eines, Tatsachen sind ein anderes. Man trauert nicht weniger, wenn man trotzdem die Tatsachen sieht und anerkennt. Nur so überlebt man.
Ravic trank den Kognak aus. Die Franzosen am Nebentisch schwatzten immer noch über ihre Regierung. Ravic drückte seine Zigarette aus. Er blickte sich um. Was sollte das alles? Er winkte dem Kellner und zahlte.
Die Scheherazade war dunkel, als er eintrat. Die Zigeuner spielten, und nur das Licht des Scheinwerfers lag voll auf dem Tisch neben dem Orchester, an dem Joan Madou saß. Ravic blieb am Eingang stehen. Einer der Kellner kam heran und rückte ihm einen Tisch zurecht. Aber Ravic blieb stehen und sah zu Joan Madou hinüber.
«Wodka?» fragte der Kellner.
«Ja. Eine Karaffe.»
Ravic setzte sich hin. Er goß sich ein Glas Wodka ein und trank es rasch. Er wollte loswerden, was er draußen gedacht hatte. Er sah, daß er an demselben Tisch saß, an dem er vor zwei Tagen mit Kate Hegström gesessen hatte. Nebenan wurde ein anderer Tisch frei. Er rückte nicht hinüber. Es war gleichgültig, ob er an diesem Tisch saß oder am nächsten – es half Kate Hegström nicht.
Was hatte Veber einmal gesagt? Weshalb regen Sie sich auf, wenn eine Operation hoffnungslos ist? Man tut, was man kann, und geht nach Hause. Er hörte die Stimme Joan Madous vom Orchester her. Kate Hegström hatte recht gehabt – es war eine erregende Stimme.
«Wie gefällt sie Ihnen?»
«Wer?» Ravic stand auf. Der Manager stand neben ihm. Er machte eine Bewegung zu Joan Madou hinüber.
«Gut. Sehr gut.»
Der Manager ging weiter. Ravic blickte ihm nach und griff nach seinem Glas. Das Orchester begann einen Tango zu spielen.
Joan Madou erhob sich und ging zwischen den Tischen hindurch. Sie mußte einige Male warten, weil die Paare zur Tanzfläche gingen. Ravic sah sie an, und sie sah ihn an. Ihr Gesicht verriet keine Überraschung. Sie ging gerade auf ihn zu. Er stand auf und schob den Tisch beiseite. Ein Kellner kam, um ihm zu helfen. «Danke», sagte er, «das mache ich schon allein. Wir brauchen nur noch ein Glas.»
Er rückte den Tisch wieder zurecht und füllte das Glas, das der Kellner brachte. «Das ist Wodka hier», sagte er. «Ich weiß nicht, ob Sie das trinken.»
«Ja. Wir haben es schon einmal getrunken. In der Belle Aurore.»
«Richtig.»
Wir waren auch schon einmal hier, dachte Ravic. Vor einer Ewigkeit. Vor drei Wochen. Jetzt … «Salute», sagte er. Ein Schein flog über ihr Gesicht. Sie lachte nicht; ihr Gesicht wurde nur heller. «Das habe ich lange nicht gehört», sagte sie. «Salute.» Er trank sein Glas aus und sah sie an. Die hohen Brauen, die weit auseinanderstehenden Augen, der Mund – alles, was früher verwischt und einzeln und ohne Zusammenhang gewesen war, hatte sich auf einmal versammelt zu einem hellen, geheimnisvollen Gesicht, einem Gesicht, dessen Geheimnis seine Offenheit war. Es versteckte nichts und gab dadurch nichts preis. Warum habe ich früher das nicht gesehen, dachte er. Aber vielleicht war es damals nicht da.
«Haben Sie eine Zigarette?» fragte Joan Madou.
«Nur die algerischen. Die mit dem schweren, schwarzen Tabak.»
Ravic wollte dem Kellner winken. «Sie sind nicht zu schwer», sagte sie. «Sie haben mir schon einmal eine gegeben. Am Pont de l’Alma.»
«Das ist wahr.»
Es ist wahr, und es ist nicht wahr, dachte er. Damals warst du nicht du; da ist noch manches andere zwischen uns gewesen, und plötzlich ist nichts mehr davon wahr. «Ich war schon einmal hier», sagte er.
«Vorgestern.»
«Ich weiß es. Ich habe Sie gesehen.»
Sie fragte nicht nach Kate Hegström. Sie saß ruhig und entspannt in der Ecke und rauchte. Dann trank sie, ruhig und langsam. Sie hatte plötzlich Wärme und eine selbstverständliche, sichere Gelassenheit.
Die Karaffe Wodka war leer. «Wollen wir das weiter trinken?» fragte Ravic.
«Was war es, das Sie mir damals zu trinken gegeben haben?»
«Wann? Hier? Ich glaube, wir haben da eine Menge durcheinander getrunken.»
«Nein. Nicht hier. Am ersten Abend.»
Ravic dachte nach. «Ich weiß es nicht mehr. – War es nicht Kognak?»
«Nein. Es sah aus wie Kognak, aber es war etwas anderes. Ich habe versucht, es zu bekommen, aber ich habe es nicht gefunden.»
«Warum? War es so gut?»
«Nicht deshalb. Es war das Wärmste, was ich je in meinem Leben getrunken habe.»
«Wo haben wir es getrunken?»
«In einem kleinen Bistro in der Nähe des Arc. Man mußte ein paar Stufen hinuntergehen. Es waren Chauffeure da und ein paar Mädchen.»
«Ah, ich weiß. Es wird Calvados gewesen sein. Apfelschnaps aus der Normandie. Haben Sie den schon versucht?»
«Ich glaube nicht.»
Ravic winkte dem Kellner. «Haben Sie Calvados?»
«Nein. Leider nicht.»
«Zu elegant hier dafür. Es wird also Calvados gewesen sein. Schade, daß wir es nicht herausfinden können. Am einfachsten wäre, noch einmal in die Kneipe zu gehen. Aber das können wir ja jetzt nicht.»
«Warum nicht?»
«Müssen Sie nicht hierbleiben?»
«Nein. Ich bin fertig.»
«Gut. Wollen wir gehen?» – «Ja.»
Ravic fand die Kneipe ohne Mühe. Sie war ziemlich leer. Der Kellner hat sie erkannt. Er wischte die Tisch ab. «Ein Fortschritt», sagte Ravic. «Das hat er damals nicht gemacht.»
«Nicht diesen Tisch», sagte Joan. «Den dort.»
Ravic lächelte. «Sind Sie abergläubisch?»
«Manchmal.»
Der Kellner stand neben ihnen. «Stimmt», sagte er. «Damals haben Sie auch hier gesessen.»
«Erinnern Sie sich noch daran?»
«Genau.»
«Sie sollten General werden», sagte Ravic. «Mit so einem Gedächtnis.» «
«Ich vergesse nie etwas.»
«Wissen Sie auch noch, was wir damals getrunken haben?»
«Calvados», sagte der Kellner ohne lange zu denken.
«Gut. Das wollten wir jetzt wieder trinken.»
Ravic wandte sich an Joan Madou.
«Wie einfach sich manchmal Probleme lösen! Jetzt werden wir sehen, ob er auch noch genauso schmeckt.»
Der Kellner brachte die Gläser.
«Doppelte. Sie bestellten damals doppelte Calvados.»
«Wissen Sie auch noch, wie wir angezogen waren?»
«Regenmantel. Die Dame trug ein Béret de Basque.»
«Sie sind zu schade hier. Sie gehören in ein Varieté.»
«War ich doch», erwiderte der Kellner erstaunt.
«Zirkus. Habe ich Ihnen doch erzählt. Haben Sie das denn vergessen?»
«Ja. Zu meiner Schande, ja.»
«Der Herr vergißt leicht», sagte Joan Madou zu dem Kellner. «Er ist ein Künstler im Vergessen. So wie Sie ein Künstler im Nichtvergessen.»
Ravic blickte auf. Sie sah ihn an. Er lächelte.
«Und jetzt wollen wir den Calvados versuchen. – Salute!»
«Salute!»
Der Kellner blieb stehen.
«Was man vergißt, das fehlt einem später im Leben, mein Herr», erklärte er.
Das Thema war für ihn noch nicht erschöpft .
«Richtig. Und was man nicht vergißt, macht es einem zur Hölle.»
«Mir nicht. Es ist ja vorbei. Wie kann es einem da das Leben zur Hölle machen?»
Ravic blickte auf. «Gerade deshalb, Bruder. Aber Sie sind ein glücklicher Mensch, nicht nur ein Künstler. Ist der gleiche Calvados?» fragte er Joan Madou. – «Er ist besser.» Er sah sie an. Eine leichte Wärme stieg ihm in die Stirn. Er wußte, was sie meinte. Sie saß in der kahlen Kneipe, als wäre sie zu Hause. Er sah, daß sie ihr Glas ausgetrunken hatte.
«Alle Achtung», sagte er. «Das war ein doppelter Calvados. Wollen Sie noch einen?»
«Ja. Wenn Sie Zeit haben.»
Warum sollte ich keine Zeit haben, dachte er. Dann fiel ihm ein, daß sie ihn das letztemal mit Kate Hegström gesehen hatte. Er blickte auf. Ihr Gesicht verriet nichts.
«Ich habe Zeit», sagte er. «Ich muß morgen um neun operieren, das ist alles.»
«Können Sie das, wenn Sie so spät aufbleiben?»
«Ja. Das hat nichts damit zu tun. Es ist Gewohnheit. Ich operiere auch nicht jeden Tag.»
Der Kellner füllte die Gläser nach. Er brachte mit der Flasche eine Schachtel Zigaretten und legte sie auf den Tisch. Es war ein Paket Laurens grün. «Die hatten Sie doch damals auch, wie?» fragte er Ravic triumphierend.
«Keine Ahnung. Sie wissen mehr als ich. Aber ich glaube Ihnen ohne weiteres.»
«Es stimmt», sagte Joan Madou.
«Es waren Laurens grün.»
«Sehen Sie! Die Dame hat ein besseres Gedächtnis als Sie, mein Herr.»
«Das weiß man noch nicht. Auf jeden Fall können wir die Zigaretten brauchen.»
Ravic öffnete das Paket und hielt es ihr hinüber. «Wohnen Sie noch in demselben Hotel?» fragte er.
«Ja. Ich habe nur ein größeres Zimmer genommen.»
Eine Gruppe von Chauffeuren kam herein. Sie setzten sich an den Nebentisch und begannen ein lautes Gespräch.
«Wollen wir gehen?» fragte Ravic. Sie nickte.
Er winkte dem Kellner und zahlte. «Müssen Sie nicht doch noch zurück zur Scheherazade?»
«Nein.»
Er nahm ihren Mantel. Sie zog ihn nicht an. Sie hängte ihn nur über ihre Schultern.
«Dann werden wir Sie jetzt zu Ihrem Hotel bringen», sagte er, als sie draußen vor dem Eingang in dem leise sprühenden Regen standen.
Sie wandte sich langsam zu ihm. «Gehen wir nicht zu dir?» «Ja», sagte er.
«Ich habe auf dich gewartet. Wußtest du das?» fragte sie. – «Nein.»
Ihre Augen glänzten im Widerschein der Laterne. Man konnte hindurchsehen, und sie schienen nirgendwo aufzuhören. «Ich habe dich heute erst gesehen», sagte er. «Das früher warst du nicht.»