Allein in der Eiswüste


Im freien Fall ging es abwärts. Wie von Zauberhand verwischt war das Flugzeug verschwunden, die Sichtweite minimal.

Grauer Nebel um mich herum, nur ein paar Sekunden lang der Eindruck aufwärts strebender Schwaden, und dann öffnete sich die Sicht nach unten – lebenswichtig für mich, eine Blindlandung wäre fatal gewesen. Ich beeilte mich, den Fallschirm zu öffnen – die Oberfläche lag nur noch 150 Meter unter mir.

Schnell kam ich tiefer. So weit ich blicken konnte, Eis, aber glücklicherweise keine aufragenden Spitzen. Unter mir eine flache Mulde, ich versuchte, dort aufzusetzen, und es gelang mir. Die Landung war hart, doch ich ließ mich abrollen, Schlimmeres als ein paar blaue Flecken würde nicht zurückbleiben. Hoffentlich war der Inhalt des Rucksacks heil geblieben.

Der Sturmwind wehte in Böen, dazwischen gab es kurze, nahezu windstille Pausen, und – täuschte ich mich? – darin war das Propellergeräusch noch schwach zu hören: Konnten sich die beiden Piloten vielleicht doch noch samt der Maschine in Sicherheit bringen? Ich aber war froh, dass ich sie los war.

Inzwischen hatte ich mich vom Aufprall erholt, und nun richtete ich mich auf und sah mir die Gegend genauer an, in die ich hineingeschneit war. Die Wolkendecke war nicht allzu dick, es drang genügend Licht hindurch, um ausreichende Sicht zu gewähren. Und dieses Licht würde auch so rasch nicht wieder verschwinden, denn wir hatten Frühling, und da waren die Tage lang und die Nächte hell.

Im Übrigen war ich gut ausgerüstet. Glücklicherweise hatte ich meinen Rucksack mitnehmen können, der alles enthielt, was ein einsamer Wanderer in der Arktis braucht: einen zweiteiligen Thermoanzug, einen Schlafsack, kombiniert mit einer Luftmatratze, eine hochwertige Katalyt-Batterie, einen Sender für Satellitenfunk, Nahrungskonzentrate, quellbare Ballaststoffe in Pulverform, damit die Verdauung etwas zu tun bekommt, dazu ein paar Kleinigkeiten, die aber unter Umständen wichtig sein konnten: einen Taschenscheinwerfer, ein Schweizer Universal-Messer, ein Zeolith-Präparat zur Wasserentsalzung, ein paar Medikamente und so weiter. All diese Dinge unterschieden sich im Prinzip nicht von herkömmlichen Ausrüstungsgegenständen, doch sie waren von der Konstruktion und vom Material her auf minimales Volumen und Gewicht ausgerichtet. Das meiste davon hatte ich schon im Himalaja und in den Anden ausprobiert, und das Gelände in der Nähe des Nordpols erschien mir doch etwas einfacher als die steilen Schroffen der Achttausender.

Alles in allem keine schlechten Voraussetzungen für einen Überlebenskünstler wie mich. Um weiter zu planen, musste ich allerdings zunächst einmal meinen Standort feststellen. Ich zog den Reißverschluss am Ärmel meines Anzugs auf und legte das Display des Ortungssystems frei. Meine Position war als roter Kreis inmitten einer Landschaft angegeben, die nichts anderes zeigte als Eis. Daneben erschien nun eine Schrift: BITTE ZIELADRESSE ANGEBEN. Und dann erschien eine Liste der im Umkreis gelegenen Restaurants – das nächste davon in Grönland.

Was tun? Hier in der Nähe ein Biwak errichten und abwarten, bis sich ein Suchtrupp meiner erbarmt? Das wäre eine Möglichkeit, doch mir fiel etwas Besseres ein: Da waren wir doch erst vor kurzem an jenem spleenigen Hotel im Eissee vorbeigekommen, in dem die Prominenz der internationalen Welt ihre Abenteuerlust auf mühelose Weise ausleben konnte … Ich sah mir die LeoSat-Karte noch einmal an und erweiterte den Ausschnitt in Richtung Südwest … da war auch schon der blau markierte Fleck des Sees. Ich ließ mir die Entfernung ausgeben … Das sah schon besser aus: nicht viel mehr als 50 Kilometer. Da gab es nicht viel zu überlegen. Es war noch früh am Tag, ich konnte meinem Ziel heute noch ein schönes Stück näher kommen. Vielleicht erreichte ich es schon morgen.

Ich warf noch einen Blick auf das Display des LeoSat-Empfängers … hier meine Position, dort der blaue Fleck des Sees … die Richtung, die ich einschlagen musste, war eindeutig vorgegeben. Leider ließ die Darstellung zu wünschen übrig: Nur wenige markante Stellen waren eingezeichnet, Hügel, Wasserrinnen und dergleichen, doch wenn ich mich umblickte, suchte ich vergeblich danach. Aber es war ja bekannt: Die Eisformationen veränderten sich ständig. Hauptsache, die eingezeichnete Position des Eissees stimmte! Und hoffentlich zeigte mein Kompass die Richtung korrekt an – ein Gerät zur Trägheitsnavigation, weil man sich hier nicht auf die magnetischen Kraftlinien verlassen kann.

Nun, da ich eine gewisse Vorstellung darüber besaß, wie es weitergehen sollte, war es höchste Zeit, mich bei der Zentrale zu melden. Ich konnte mir vorstellen, dass dort gewaltige Aufregung herrschte. Ich holte das Sendekästchen aus dem vorgesehenen Fach und schaltete ein … doch das grüne Licht, das normalerweise die Betriebsbereitschaft signalisiert, ließ auf sich warten. Ich schaltete noch einmal aus und ein, ich drückte wahllos auf verschiedene Knöpfe, ich klappte das Batteriefach auf – alles schien in Ordnung, der Akku war geladen, das Lämpchen war in Ordnung, und auch die Kontakte waren blank. Das Ding war nicht zum Leben zu erwecken, es hatte möglicherweise bei der Landung Schaden genommen. Meine gute Laune sackte ein wenig ab. Eine ärgerliche Situation! Was macht ein Globetrotter, wenn er keinen Kontakt mit seiner Leitstelle aufnehmen kann?

Erst nach und nach wurde mir klar, wie sehr sich durch dieses Missgeschick die Situation geändert hatte. Auf einmal war ich bedingungslos auf mich selbst gestellt. Konnte keinen Rat einholen, keine Wettervorhersagen, keinen ärztlichen Ratschlag, keine Hilfe bei den immer wieder auftretenden technischen Problemen. Und selbst das Plauderstündchen an den Abenden vor dem Einschlafen gab es nicht mehr. Mara würde sich Sorgen machen … Nein, nicht Mara, von der hatte ich mich ja getrennt. Lynette? Das lag noch länger zurück … Was für ein Unsinn, mich damit aufzuhalten, es gab Wichtigeres zu bedenken.

Wenigstens bewährte sich die neuartige Isolation meines Anzugs – mir war noch immer angenehm warm. Ich schnallte den am Rucksack befestigten Eispickel ab und zog den Teleskopstiel auseinander; die Länge reichte nun aus, um mich beim Gehen darauf zu stützen. Einige Hiebe in die glatten weißen Flächen des Bodens – wie glitzernde Diamanten stoben die Eisteilchen davon. Irgendwie tat das gut. Und so begann ich meinen Marsch in die weiße Wildnis.

Ich hatte mich schon mehrmals in den Kältewüsten dieser Erde herumgetrieben. Spitzbergen, Patagonien, die Gletscher auf den Hochregionen dieser Erde, das alles war mir vertraut. Ich hatte dort gelebt, Wochen und Monate, weitab von der Zivilisation, einige Male zu zweit oder zu dritt, manchmal auch allein – doch immer war ich entschlossen gewesen, mich durch nichts aufhalten zu lassen und das gesetzte Ziel zu erreichen. Nur eines war diesmal anders: Bei all den einsamen Expeditionen hatte ich immer Funkverbindung mit einer Leitzentrale gehabt … Doch ich musste es nehmen, wie es war, und ich würde auch mit dieser Situation fertig werden.

Die Landschaft bot wenig Abwechslung, eine ausgedehnte Ebene, die mich an eine Buckelpiste erinnerte. Ich war schon längere Zeit nicht mehr über das Eis gewandert und brauchte eine Weile, um mich wieder daran zu gewöhnen. Um nicht auszugleiten, musste ich bei jedem Schritt darauf achten, den Fuß richtig zu setzen. Doch die mit Metallzacken besetzten Sohlen bewährten sich und gaben mir auch auf schräg liegenden Flächen guten Halt.

Zuerst konzentrierte ich mich noch aufs Gelände, doch bis auf die störenden Unebenheiten gab es keine Hindernisse, und bald war ich mit den Verhältnissen vertraut. So hatte ich Gelegenheit, über die Konsequenzen meiner Lage nachzudenken. Natürlich kam es zunächst darauf an, möglichst schnell wieder in zivilisierte Gegenden zu gelangen. Aber da befand ich mich ja auf dem besten Weg.

Aber was dann? Sollte ich mein Vorhaben, den Nordpol zu erreichen, als gescheitert ansehen, bevor es überhaupt begonnen hatte? Gewiss – ich konnte mich auf höhere Gewalt berufen und musste nicht mit Konventionalstrafen rechnen, aber von den vereinbarten Honoraren würde ich auch nichts sehen, und die erhofften Rekorde konnte ich in den Wind schreiben. Sollte ich nicht lieber versuchen, ein zweites Mal zu starten, um die Wanderung mit etwas Verspätung aufzunehmen? Wenn es mir gelingen würde, innerhalb der nächsten vierzehn Tage aufzubrechen, dann könnte die Zeit noch reichen. Derzeit war der Nordpol von einer Eisschicht bedeckt, eine grundsätzliche Voraussetzung für mein Vorhaben. Vielleicht hatte ich Glück, und die Wetterlage würde sich nicht allzu sehr ändern.

Vor mir löste sich ein silbergrauer Streifen aus dem Weiß des vor mir liegenden Geländes und erhob sich langsam zu einem Grat, der aus eng aneinander liegenden hochgepressten Eisplatten bestand. Das war keine besondere Überraschung, mit solchen Hindernissen war im Packeis immer zu rechnen.

Die höchsten Erhebungen ragten ungefähr 20 Meter hoch, dazwischen gab es Einschnitte von wenigen Metern Höhe, die sich ohne besondere Mühe übersteigen ließen.

Dann ging es wieder flach weiter. Trotzdem wurde ich allmählich müde. Ich blieb stehen und trank einige Schlucke mit Eisstückchen durchsetzter MinMix-Lösung, die angeblich erst bei minus 15 Grad gefrieren sollte. Ich hätte gern ein paar Minuten gerastet, doch schon kroch die Kälte erbarmungslos durch meine Kleider und trieb mich wieder an.

Also weiter durch die weiße Wüste! Mit der Zeit umwölkte sich meine Laune, und ich fragte mich, warum ich wegen einiger fragwürdiger Rekorde so viele Mühen und Entbehrungen auf mich nahm. Einen Ort zu erreichen, auf dem sich schon Hunderte Touristen getummelt hatten, die Umstände künstlich erschwert, nur um eine besondere Leistung zu demonstrieren, die doch nichts anderes war als Routine – was sollte das eigentlich für einen Sinn haben. Ja, wenn es noch möglich wäre, in unbekannte Gegenden einzudringen, in Landstriche, die nicht längst schon betreten, fotografiert und mit Verbotstafeln ausgestattet waren! Es müssten echte Ziele sein, echte Leistungen und echte Pioniertaten. Es müsste der Mond sein, oder irgendein Planet noch viel weiter draußen im Weltraum …

Unwillkürlich war ich ins Träumen gekommen, und die Zeit – hier ohnehin ein relativer Begriff – war unmerklich weitergelaufen. Die Sonne schickte sich an, unter den Horizont zu tauchen, das Zeichen für mich, diesen merkwürdigen Tag allmählich enden zu lassen.

Ich beschloss, mich nach einem Biwakplatz umzusehen. Zwar weiß ich gut, wie lange man gegen die Erschöpfung ankämpfen kann – viel länger, als man denkt –, aber es war ja nicht nötig, es so weit kommen zu lassen.

Dann fand ich inmitten knollenförmiger Eisfiguren eine Einebnung, auf der ich mein Biwak einrichten konnte. Windgeschützt, vorn ein Eiswall gegen die Kälte, hinten eine Stufe, wo ich meine Lampe und den Kocher aufbauen konnte, und darunter eine Mulde mit nur mäßig geneigter Oberfläche, auf der sich die Thermomatte und der Schlafsack ausbreiten ließen.

Kurze Zeit später war ich in den Schlafsack gekrochen, ich zog ihn so weit herauf, dass ich gerade noch die Arme frei hatte und sitzend meine Mahlzeit vorbereiten konnte. So saß ich an den Rucksack gelehnt in den weichen, wärmenden Hüllen und sah dem Ablauf der Uhr meines Mikrowellenkochers zu. Noch zwei Minuten, noch eine Minute – fertig. Es gab Gen-Fleisch-Kugeln mit Chili gewürzt, dazu Reis und gewürzten Quellsalat. Ich aß und war zufrieden. Es war mein Vorteil, dass ich auch solchen misslichen Umständen etwas Gutes abgewinnen konnte. Obwohl ich kein Jüngling mehr war, spürte ich noch den belebenden Reiz des Abenteuers …

Das war das Ende eines ereignisreichen Tages, den ich gut überstanden hatte. Ich verkroch mich so tief im Schlafsack, dass er mir über den Kopf reichte und nur eine schmale Atemöffnung frei blieb. Fünf Minuten später war ich eingeschlafen.


Freitag, 28. März

Als Robin am Morgen nach dem Verhör erwachte, kamen ihm die Ereignisse des vergangenen Tages wie ein böser Traum vor.

Er wusste nicht mehr, wie er den gestrigen Nachmittag verbracht hatte – vermutlich dösend in seinem Büro. Irgendwann hatte er sich krank gemeldet und war nach Hause gegangen. Er hatte sich früh schlafen gelegt und war deshalb auch früh aufgewacht – nun versuchte er, seine Gedanken so weit zu ordnen, dass er wieder klar denken konnte.

Es war wie ein Traum gewesen, etwas Unwirkliches, das vorübergeht. Nun ja, er gestand sich ein, dass er Angst gehabt hatte – schon auf der psychologischen Station des Dr. Occoroni. Und dann hatte sich die Angst noch weiter gesteigert: die Angst vor dem, was da noch kommen könnte. Doch das, was dann geschehen war, hatten seine Bewusstseinsschichten nicht mehr voll erfasst. Die Injektion hatte ihn auf eine schwer begreifbare Weise in einen anderen Zustand geworfen. Was dann folgte, war irgendwo in tieferen Regionen vor sich gegangen, dort, wo die Erinnerungen abgelegt sind – genau genommen ein unglaublicher Zugriff in diese privatesten Sphären der Persönlichkeit, und merkwürdigerweise trotzdem ohne besondere emotionale Begleitung, ohne Auflehnung, ohne Empörung. Unzählige aufdämmernde und wieder ins Dunkel zurücktretende Bilder, viele unvollständig, unbestimmt – und unwichtig. Das Einzige, was er als stärkstes und treibendes Moment in der Erinnerung behalten hatte, war der Wunsch, Informationen über Angelo zu aktivieren. Doch es war ein vergebliches Bemühen: Er wusste nichts.

Immerhin: Jetzt sah es wohl auch Gorosch ein, dass sein Delinquent ahnungslos war. Und so bestand die Hoffnung, dass diese jenseits jeder Logik liegende Unterbrechung in Robins Leben nun zu Ende war.

Robin stieg aus dem Bett und folgte der üblichen Routine im Waschraum und in der Kochnische. Doch als er dann beim Frühstück saß, merkte er, dass er dabei mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen war. Was beschäftigte ihn? Noch immer die Ereignisse des letzten Tages? Nein, stellte er fest, das war es nicht. Er hatte über Angelo nachgedacht. Natürlich wusste er nicht viel mehr, als er allen Fragestellern bereitwillig mitgeteilt hatte, aber immerhin: Er hatte Angelo gekannt, war sogar mit ihm befreundet gewesen. Bot sich ihm dadurch vielleicht doch eine bessere Chance, das Geheimnis zu lösen?

Doch was ging es ihn eigentlich an, was mit dem Engel geschehen war? Schließlich hatte der sich in den letzten Jahren kein einziges Mal bei ihm gemeldet. Wenn Robin sich selbst gegenüber ehrlich war, dann hatte er das allerdings auch nicht erwartet.

Zuerst war es eine spontane Idee gewesen, Angelo wiederzusehen, mit ihm zu plaudern, einiges von seiner Arbeit zu berichten und von ihm vielleicht sogar etwas Interessantes zu erfahren. Doch nun hatte sich etwas geändert, jetzt wollte er wissen, was geschehen war. Und jetzt war es nicht mehr ein gedämpftes Interesse, sondern es war auf unerklärbare Weise entscheidend wichtig geworden, das Geheimnis um Angelos Verschwinden zu lüften.

Mit dieser Einsicht fielen auch alle Zweifel von ihm ab: Es ging darum, einen undurchsichtigen Fall zu lösen, und genau das würde er tun. Diesmal war es ein ganz persönlicher Fall, und er würde nicht locker lassen, bis er ihn gelöst hatte.

Endlich konnte sich Robin seinem Frühstück zuwenden … Er fühlte sich auf seltsame Weise befreit. Hatte er schon einen Toast gegessen oder nicht? Egal – er nahm sich eine Scheibe und schmierte eine dicke Schicht Erdnussbutter darauf, dazu einige kräftige Schlucke heißen Kaffee … das tat gut.

Robin war bester Laune. Er würde den Weg zum Institut wie üblich zu Fuß zurücklegen, und er würde bei seinem Vorgesetzten, dem Abteilungsleiter, vorsprechen und einfach nach Angelo Brugger fragen.

Und wenn er keine Antwort bekam? Nun, schließlich war Robin Ermittlungsbeamter, und er beherrschte sein Fach. Er würde alle seine Kenntnisse und Tricks einsetzen.


*

Das Verhältnis zu seinem Büroleiter Raymond war ganz gut. Und so traf er sich mit ihm in der Kantine, sie setzten sich an die Theke und zapften Ingwerbrause aus dem Automaten.

Wie Robin erwartet hatte, wusste Raymond nichts von dem, was Angelo widerfahren war. Der Name Angelo Brugger sagte ihm nichts, aber er zeigte sich auch nicht ungehalten über Robins Nachfrage. Allerdings war er ein wenig verärgert darüber, dass einer seiner Mitarbeiter von anderer Seite ohne vorherige Absprache mit ihm so hart in die Zange genommen worden war. Als Robin jedoch zuletzt den Namen Gorosch erwähnte, wurde Raymond auf auffällige Weise wortkarg. Robin hatte den Eindruck, dass Raymond die Geschichte jetzt gar nicht mehr zu Ende hören wollte.

»Wenn die Security beteiligt ist, dann ist die Sache heikel«, meinte Raymond. »Dadurch wird jede Angelegenheit gewissermaßen zur Chefsache. Und das heißt, mein Freund, dass ich da nichts machen kann.« Er rutschte vom Hocker, offenbar ein Zeichen zum Aufbruch, und Robin blieb nichts anderes übrig, als sich damit zufrieden zu geben.

Raymond blickte auf das Display an der Wand, das alle möglichen Daten aus dem Betrieb zeigte, beispielsweise die Zahl der gerade laufenden Prozesse, die Zahl der einsitzenden Untersuchungs- und Strafgefangenen und irgendwo, an versteckter Stelle, eben auch die Uhrzeit. »Ein Termin …«, sagte er, »ich hatte ihn völlig vergessen.« Es sah so aus, als hätte er es plötzlich sehr eilig.

Robin stellte sich ihm in den Weg. »Was rätst du mir?«, fragte er.

Raymond, der sich schon in Bewegung gesetzt hatte, hielt an und schien nachzudenken. »Musst du denn dieser Sache unbedingt nachgehen?«, fragte er fast vorwurfsvoll. Dann setzte er hinzu: »Da gäbe es eine Möglichkeit … Die Direktion … melde dich bei Masterson, dem Direktionsassistenten – der ist für so was zuständig. Und mach’s gut. Ich bin immer für dich da.«

Mit drei schnellen Schritten ging er um Robin herum und war nur noch von hinten zu sehen.

Robin ließ sich nicht beirren. Er zog eine Aspikroulade aus dem Automaten, aß sie mit Appetit und trank in Ruhe seine Brause aus.

Nun gut, was den Assistenten betraf, so hatte er seine Zweifel, aber er konnte es ja versuchen: Er kehrte in sein Zimmer zurück, dort lagen noch einige Akten herum, die er bearbeiten sollte. Doch bevor er die Arbeit aufnahm, meldete er sich in einer »dringenden Angelegenheit« bei Masterson. Eine Stunde später bekam er den Termin. Die Sekretärin betonte, dass Robins Anliegen gerade noch zwischen zwei Konferenzen eingeschoben worden war, und Robin bedankte sich mit ausgesuchter Höflichkeit.

Es war gegen Abend, als er an der angegebenen Stelle, vor der Tür eines Konferenzzimmers, wartete. Dort stand ein junger Mann im weißen Mantel des Büropersonals und machte Robin darauf aufmerksam, dass drinnen eine Diskussion im Gange sei, die noch eine Weile dauern würde.

»Ich habe eine Verabredung mit Masterson«, antwortete Robin.

»Ah, Sie sind das«, sagte der junge Mann und zeigte dadurch, dass er Robins Besuch erwartet hatte. Er holte sein Miniphon aus dem Täschchen am Gürtel. »Er ist hier«, sagte er leise, als sollte es niemand anderer hören.

Kurze Zeit darauf öffnete sich die Tür einen Spalt weit, und Masterson blickte hinaus. Ohne den Konferenzraum zu verlassen, winkte er Robin zu sich. »Ich bin über alles informiert«, sagte er leise, als Robin zu einer Erklärung ansetzen wollte. »Die Angelegenheit ist erledigt. Verstehst du? Erledigt.«

Der Assistent versuchte die Tür wieder zuzuziehen, aber inzwischen schien die Konferenz nun doch zu Ende zu gehen, die Teilnehmer hatten es eilig, den Saal zu verlassen, und so blieben beide notgedrungen nebeneinander stehen, um den Strom der Leute vorüberziehen zu lassen.

»Masterson, was ist hier los?« Die beiden hatten nicht bemerkt, dass ein Mann, der als einer der Ersten den Saal verlassen hatte, stehen geblieben war und sie musterte. Es war van der Steegen, der Direktor selbst.

Masterson stammelte: »Herr Direktor, der Kollege belästigt mich …«

»Ich habe mich ordnungsgemäß angemeldet«, sagte Robin mit erhobener Stimme.

»Wer sind Sie?«, fragte van der Steegen.

Robin nannte seinen Namen und wollte sein Anliegen erklären, doch van der Steegen unterbrach ihn. »Robin Sebastian Landt … diesen Namen habe ich doch erst vor Kurzem gehört.« Er wandte sich an Masterson: »Ist das nicht die Sache mit Angelo Brugger?«

Masterson bestätigte es.

»Ich kümmere mich selbst darum«, sagte van der Steegen. »Kommen Sie, Robin. Da sind Sie in Vorgänge hineingeraten, in die Sie sich nicht einmischen sollten. Vorgänge, die den Geheimdienst betreffen. So etwas kann recht unangenehm ausgehen.«

Um seiner Mitteilung die Schärfe zu nehmen, berührte er Robin kurz am Arm.

»Ich habe mich nur nach einem alten Kollegen erkundigt«, erklärte Robin.

»Das erzählen Sie mir in aller Ruhe«, sagte der Direktor. »Kommen Sie, wir gehen in den Entspannungsraum.« Masterson blieb unbeachtet zurück.

Robin hatte Jan van der Steegen, seinen Abteilungsdirektor, schon einige Male zu Gesicht bekommen, meist bei unterschiedlichen feierlichen Anlässen, ihn aber noch nie aus der Nähe gesehen. Ein Mann mit blassblondem Haar, schlank, sonnengebräunt – das Alter schwer zu schätzen. Vielleicht 50? Ein markantes Gesicht, eine sportliche Figur, eine eindrucksvolle, einnehmende Persönlichkeit. Doch jetzt fiel ihm etwas auf, was diesen ersten Eindruck ein wenig relativierte. Da war etwas in seinem Blick … etwas Abwesendes, Unruhiges, Gehetztes. Vielleicht war er doch etwas älter, als Robin ihn auf den ersten Blick eingeschätzt hatte.

Robin wusste nicht, wo der Entspannungsraum lag, und so folgte er dem von van der Steegen eingeschlagenen Weg. Und wieder kam er in Bereiche, die er noch nie betreten hatte; diesmal waren es die der Führungsschicht vorbehaltenen oberen Geschosse. Wie die Kellerräume waren sie auf der Schalttafel des Lifts nicht angegeben und nur über eine Ziffernkombination zu erreichen.

Der Direktor hatte über das MobilSet ihr Kommen angekündigt. Als sie den Aufzug verließen, wurden sie schon erwartet.

»Das ist Mikaela«, sagte van der Steegen. »Wir nennen sie Michèle. Und das ist Robin Landt« – und an Michèle gewandt: »Hast du seine Kennmarke vorbereitet?«

Michèle nickte Robin zu und reichte ihm den in ein Kärtchen eingelassenen Chip.

An Michèle fielen ihm zuerst die braunen Augen auf; sie blickten freundlich, ein wenig schüchtern und ein wenig traurig. Das dunkle Haar trug sie schulterlang und schlicht. Es war durch einen Mittelscheitel geteilt und umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht mit sanften Zügen.

Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Sie kam durch einige Gänge, die durch Moving Pictures aus den Anfängen der Computerkunst geschmückt waren. Die Bewegungen liefen auf in die Wände eingelassenen Leuchtstreifen ab und erfüllten die Gänge mit Farbreflexen, die ein unregelmäßiges Auf und Ab von Hell und Dunkel hervorriefen. Dicke Mikrofaserbeläge am Boden erstickten jedes Schrittgeräusch.

Van der Steegen ging mit Michèle voran und gab ihr mit leiser Stimme Anweisungen. Als sie den Eingang des Entspannungsraums erreichten, wollte sich das Mädchen zurückziehen, doch der Direktor sagte: »Es wäre nützlich, wenn du mitkämst.« Und so betraten sie den Raum, eine durch mehrere Zimmerhecken abgeteilte Halle, die die Höhe von zwei, vielleicht sogar drei Stockwerken in Anspruch nahm. Aus einer Ecke drang eine fremdartige Musik aus Schwebetönen, die sich raffiniert überlagerten, da und dort erhoben sich Podeste für holographische Skulpturen, die ihre Formen langsam änderten.

Van der Steegen wandte sich nach rechts. »Dort drüben sind wir ungestört.«

Sie betraten den hintersten Teil der Halle, der offenbar nicht allgemein zugänglich war, denn der Direktor steckte seine I-Card in einen unauffällig angebrachten Sensor, ehe er die anderen anwies weiterzugehen.

In dieser Ecke herrschte eine geradezu unwirkliche Ruhe. Dafür sorgte eine unsichtbare Schallmauer, Robin hatte sie beim Durchqueren bemerkt: eine Zone von scharfem Luftzug. Außerdem registrierte er mehrere in die Umgebung gerichtete Antischall-Lautsprecher, die bis auf ein leises Knacken alle von außen eindringenden Geräusche eliminierten.

»Nehmen Sie Platz!« Van der Steegen wies zur Fensterfront des Raums. Hier standen in großzügiger Entfernung voneinander kleine Sitzgruppen, niedrige Tische, rundherum arrangierte Stühle, in denen man bis zur Hüfte versank. Ein auf Rädern beweglicher Bestellautomat sorgte dafür, dass man durch keine Kellner gestört wurde.

»Wollen Sie etwas trinken? Dazu vielleicht etwas Gebäck, süß, bitter oder salzig?« Der Direktor wies auf das Büffet.

Robin wollte keine Zeit verschwenden, um das Angebot zu studieren, und wählte das Erstbeste, was ihm unterkam: Kokos-Pailletten. Michèle lächelte ihm zu und drückte denselben Knopf. War es ein Zeichen? Und wie war es zu deuten? Was der Direktor bestellte, beachtete Robin nicht. Er fragte sich, warum Michèle an der Besprechung teilnahm.

Van der Steegen hatte gewartet, bis die Automatenwägelchen mit den bestellten Knabbereien und Getränken gekommen waren.

Jetzt sagte er: »Merkwürdig, wie sich alles verändert hat. Ich war schon dabei, als das Institut gegründet wurde. Die ersten Jahre saßen wir in einer leer stehenden Konservenfabrik in Utrecht. Der Geruch von Heringen hing noch in der Luft.«

Obwohl er leise sprach, war er gut zu verstehen. So, wie er vor sich hinblickte, war nicht zu beurteilen, ob er ein Selbstgespräch führte oder etwas mitteilen wollte. Man konnte es nehmen, wie man wollte.

Robin blickte zu Michèle hinüber und sah, dass sie van der Steegens Ausführungen mit einem merkwürdig gespannten Gesichtsausdruck folgte.

»Ja, eine Konservenfabrik«, wiederholte dieser nach einer kurzen Pause. »Erst viel später sind wir umgezogen. Hierher. Diese kleine Stadt mitten im Gebirge. Und dieses riesige Gebäude. Ein Palast. Eine Burg. Ja, wir hatten an Bedeutung gewonnen. Das Recht hat sich durchgesetzt. Wer kann sich noch eine klassische, subjektiv arbeitende Justiz vorstellen? Es herrscht eben Bedarf an dem unbeeinflussbaren Urteil. Erstmals in der Geschichte unserer Zivilisation sind wir dem Idealzustand der Justiz nahe gekommen.«

Van der Steegen stützte den Kopf in die Hand und schien nachzudenken. Wartete er auf eine Antwort? Doch er fuhr schon wieder fort: »Die Welt entwickelt sich. Zum Guten und zum Schlechten. Meinungen, Auseinandersetzungen, das Spiel der Kräfte. In der Summe bleibt alles gleich. Und trotzdem. Man muss sich gegen das Böse wehren.«

Van der Steegen war tief in seinen Sessel gesunken und richtete sich nun zu einer geraden Haltung auf. »Sie wissen es auch: Man kann Unternehmen mit der Versorgung der Kranken und den Aufgaben der Erziehung betrauen. Man kann die Informationssysteme an die Industrie verkaufen. Man kann das Militär privatisieren, Schulen und Gefängnisse von Firmen verwalten lassen. Aber bei der Justiz ist das Ende dieser Entwicklung erreicht. Wir müssen uns wehren.«

Der Direktor hob eine gelierte Zwiebelscheibe von seinem Teller auf, betrachtete sie nachdenklich, als wäre sie etwas Fremdes, und legte sie auf den Teller zurück. Bedächtig trank er einen Schluck der blaugrün schimmernden, perlenden Flüssigkeit in seinem Glas … Dann sah er Robin zum ersten Mal direkt in die Augen.

War das der Moment, um dem Gespräch die Wendung zu geben, auf die Robin wartete? »Es geht um Angelo Brugger«, sagte Robin unsicher. »Ich war mit ihm zusammen in der Ausbildung. Er ist verschwunden …«

Robin verstummte, denn der Direktor blickte ihn merkwürdig an – gelangweilt? – oder angewidert?

»Du machst dir Gedanken um ihn?«, fragte van der Steegen. »Du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Die Verantwortung für unsere Mitarbeiter trägt das Personalbüro.«

»Es ging mir nur darum, ihn wiederzusehen. Doch die Reaktionen, die ich mit meiner Frage hervorgerufen habe, waren seltsam. Über alle Maßen übertrieben. Das hat mich erst auf den Verdacht gebracht, dass Angelo etwas zugestoßen sein könnte.«

Van der Steegen wandte sich an Michèle: »Angelo? Du kennst ihn doch …« Er führte die Frage nicht zu Ende.

Die junge Frau blickte auf ihren Notizblock, aber sie schlug ihn nicht auf. »Angelo gehört zu einer Spezialeinheit. Geheime Aufträge und so weiter.«

»Damit ist eigentlich schon alles gesagt«, meinte van der Steegen. »Da ist es doch verständlich, dass nichts über seine Tätigkeit bekannt ist.« Es klang so, als wäre die Besprechung damit zu Ende.

Robin richtete sich ein wenig auf – ein Zeichen, dass er nicht einverstanden war. »Das ist wohl so. Doch bei der Art, wie man mich behandelt hat, wurden meine Persönlichkeitsrechte verletzt. Ich wollte mich darüber beschweren, allerdings hatte ich nicht die Absicht, Sie damit zu belästigen. Man hat mich an den Kollegen Masterson verwiesen.«

Van der Steegen seufzte, seine Miene war sorgenvoll. »Wir befinden uns in einer besonderen Situation. In drei Wochen beginnt die internationale Gipfelkonferenz. Oder sind es vier? Es geht um einen engeren Zusammenschluss der Länder, um Koordinierung der wirtschaftlichen Kräfte. Vielleicht ein Schritt zur Verbesserung der Weltlage? Vielleicht auch nicht. Es steht auf Messers Schneide. Geht alles mit rechten Dingen zu? Sind da Kräfte am Werk, die illegale Mittel einsetzen, um das Richtige ins Gegenteil zu verkehren? Es gibt keine Beweise dafür, aber …«

… aber was? Er ließ es offen, seufzte kurz und setzte fort: »Und es gibt keinen Kläger. Unsere Behörde kann erst eingreifen, wenn sich Aktionen wider das Gesetz belegen lassen. Du weißt ja: Wir brauchen eine formelle Anklage, und diese muss sich auf belegbare Fakten stützen. Das heißt, dass wir nichts machen können. Dass wir - offiziell - nichts machen können.«

Jetzt war die Stimme so leise geworden, dass sie kaum noch zu verstehen war. Nur ein paar Satzfragmente waren zu vernehmen.

»… nur ein Verdacht … trotzdem handeln … wir tragen die Verantwortung … es geht um die ganze Welt … oft sind es Kleinigkeiten … keine Entscheidung gegen das Recht …«

Die letzten Sätze waren in einem Flüstern ausgeklungen. Jetzt war es eine Weile still.

Michèle blickte kurz zu Robin hinüber. »Er ist erschöpft«, sagte sie. Sie klappte ihr Miniphon auf. »Ihr könnt ihn holen«, sprach sie hinein. Sie lauschte kurz und steckte das Gerät wieder ein.

Da sie nun schwieg, schwieg auch Robin. Nach ein paar Minuten erschienen zwei Pfleger des medizinischen Notdienstes, betteten van der Steegen auf eine fahrbare Trage und fuhren mit ihm fort.

Robin wollte etwas fragen, doch Michèle brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen. »Mach dir keine Gedanken, er wird sich rasch erholen.«

Sie verließen die Entspannungshalle und standen einen Moment lang unschlüssig nebeneinander im menschenleeren Gang.

»Du musst Verständnis haben. Er ist in den letzten Tagen und Nächten kaum zum Schlafen gekommen. Es gibt große Probleme, weißt du. Er ist einfach nicht imstande, sich jetzt mit etwas anderem zu beschäftigen …«

Es sah aus, als ob Michèle noch etwas hinzufügen wollte, sich aber dann eines Besseren besann. Schließlich sagte sie nur: »Komm, ich bring dich hinaus.«

Als sie die Liftkabine betreten hatten, fragte sie: »Warst du schon einmal auf der Dachterrasse?«

Robin schüttelte verblüfft den Kopf.

»Von dort hat man eine wunderbare Aussicht«, sagte sie. »Das solltest du einmal sehen.«

Robin fühlte sich unbehaglich. Was wollte Michèle von ihm? Aber er ging gern mit ihr.

Die Fahrt dauerte nur kurz, ein sanfter Ruck, die Tür öffnete sich, sie stiegen aus. Ein großes, flaches Areal. In einem Verschlag standen einige Werkzeuge herum, Gerät zum Reinigen der Fenster, ein Wasserbehälter, einige Mülltonnen. Im Norden ein Podest mit umlaufendem Geländer und drüben, auf der Südseite, einige Aufbauten, die wie Mobiles aussahen, sich aber bei genauerer Betrachtung als Antennen entpuppten.

Michèle zog Robin von der Tür weg und sagte: »Hier kann uns niemand belauschen.«

An eine solche Möglichkeit hatte Robin nicht gedacht. »Du meinst …«

»Ist das so erstaunlich? Immerhin hast du es fertig gebracht, den Sicherheitsdienst auf dich aufmerksam zu machen. Und ich als Direktions-Assistentin muss sowieso besonders vorsichtig sein.«

Als Michèle Robins betroffene Miene sah, schien es ihr leid zu tun, dass sie einen so schroffen Ton angeschlagen hatte. »Ich will dich doch nur warnen«, sagte sie. »Komm, dort drüben stehen ein paar Bänke. Es gibt doch noch ein paar Leute, die eine schöne Aussicht zu schätzen wissen.«

In der Tat: Die Sicht über das Tal hinweg zu den Bergen war überwältigend. Die Sonne hatte sich so weit gesenkt, dass ihre roten und orangefarbenen Töne das ursprüngliche Blau verdrängten, und der Abglanz dieser Farben lag auf den hoch gelegenen Schneefeldern, die auch im Sommer nicht verschwanden. Darüber spannte sich ein Himmel, der sich gegen Osten hin in einem abgrundtiefen Violett verlor; es sah aus, als würden die helleren Töne in diesen Abgrund gezogen und von ihm verschluckt.

Die Luft kühlte allmählich ab, aber die Wärme des Tages saß noch in den Polstern der Stühle und Bänke, die zur Beobachtung des Sonnenuntergangs ausgerichtet waren. In diesen Höhen machte sich der Wind, der um die Aufbauten strich, mit einem scharfen Rauschen bemerkbar. Um die Unterhaltung zu erleichtern, rückte Michèle näher an Robin heran.

»Das konntest du nicht wissen«, sagte Michèle, »ich meine die Sache mit der Security. Ich sollte dir wohl ein wenig über die Situation verraten, doch behalte es bitte für dich.«

Robin nickte.

»Im Gerichtshof gibt es zwei Gruppen, die in Konkurrenz zueinander stehen, der alte Werkschutz und der neue Sicherheitsdienst, der von Gorosch geführt wird. Es hat den Anschein, als ob Gorosch den Werkschutz in seine Abteilung eingliedern will. Aber dagegen gibt es Widerstand, auch Jan hat sich früher entschieden dagegen gewehrt.«

Robin runzelte die Stirn. »Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Was hat das mit mir zu tun? Und mit Angelo?«

»Ich habe mitbekommen, wie es dir in den letzten Tagen ergangen ist. Das Auffällige daran ist das persönliche Eingreifen von Gorosch. Der Auslöser dazu liegt sicher in der Person Angelos. Die Security scheint starkes Interesse an Angelo zu haben. Aus welchem Grund? Wahrscheinlich gilt ihr Interesse nicht der Person, sondern der Aufgabe, mit der er betraut ist. Und die ist streng geheim: Chefsache. Das ist alles, was ich darüber weiß.«

»Du könntest Recht haben.« Robin versuchte, Michèles Gedanken nachzuvollziehen. »Den Fragen nach zu schließen, die mir Gorosch gestellt hat … offenbar hat er gehofft, von mir etwas erfahren zu können, was er unbedingt wissen will. Nun gut, ich habe keine Ahnung von all diesen Dingen, und so konnte ich ihm auch nichts mitteilen, was ihn interessiert hätte. Aber ich stimme dir zu, dass es etwas mit jenem besonderen Auftrag zu tun haben muss, an dem Angelo womöglich derzeit arbeitet.«

Er schwieg, und auch Michèle sagte nichts. Aber sie blickte Robin mit einem merkwürdigen Ausdruck an, fragend, vielleicht auch misstrauisch.

»Du glaubst mir doch?«, sagte Robin nach einigen Sekunden, die sich merkwürdig dehnten. Er sah ihr in die Augen, als ließe sich aus ihnen etwas herauslesen. »Meinst du vielleicht, ich wüsste etwas, was ich bisher verschwiegen habe? Da irrst du dich. Abgesehen davon, dass ich gar nicht in der Lage gewesen bin, irgendein geheimes Wissen zurückzuhalten – ich kann einfach nichts verschweigen.«

Michèle rückte ein Stück von Robin weg, als wäre sie enttäuscht. Dann sagte sie: »Vorgestern, als du nach Angelo gefragt hast … Ich dachte mir, das kann doch kein Zufall sein. Gerade jetzt … Ich war überzeugt, dass mehr dahintersteckt …«

»Nein, da steckt nicht mehr dahinter«, sagte Robin. Jetzt war Michèle die Enttäuschung deutlich anzumerken. Robin wandte sich zu ihr und sagte: »Es tut mir leid.«

»Es war ein Hoffnungsschimmer, das war mir klar … und nun …«

Robin sah, dass große Tränen über ihre Wange liefen. Er legte den Arm um ihre Schulter, und sie ließ es geschehen, als er sie an sich zog.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich beruhigte. Robin reichte ihr ein Taschentuch, und Michèle setzte sich nun wieder gerade hin. Sie hatte ihre Beherrschung zurückgewonnen.

»Du musst wissen«, sagte sie dann mit tonloser Stimme, »dass ich einmal mit Angelo liiert war. Ein Jahr lang waren wir offiziell eingetragen. Dann haben wir uns getrennt.«

Diese Eröffnung erklärte Robin einiges, was ihm bisher merkwürdig erschienen war – vor allem Michèles Interesse an Angelo und seinem Schicksal.

Er wartete ein wenig, dann fragte er: »Willst du mir etwas davon erzählen?«

Kurze Zeit schien es, als hätte ihn Michèle nicht gehört, doch dann antwortete sie: »Nicht jetzt. Ein anderes Mal, vielleicht.« Michèle lächelte ein wenig, und daraus entnahm Robin, dass das keine schroffe Ablehnung war, aber auch kein Versprechen. Nun gut, vielleicht begegneten sie sich ein andermal wieder.

»Kann ich dir sonst irgendwie helfen?«, fragte er.

»Du gehörst ja nicht dazu – ich meine zu jenen, die etwas tun können. Das war Goroschs Irrtum, und auch meiner. Du kannst mir nicht helfen. Aber ich danke dir.«

Sie stand auf, und Robin folgte ihrem Beispiel.

»Ich bringe dich zum Lift«, sagte Michèle. »Ich bleibe noch ein bisschen hier.«

Inzwischen hatte sich die Dunkelheit über die kleine Stadt gesenkt, doch der Hochbau ragte über die Schattenzone hinaus – ebenso wie die Berge an der Ostseite, die noch die letzten Sonnenstrahlen auffingen, während jene im Westen eine schwarze Mauer bildeten; nur die Grenze gegen den Himmel erschien als strahlend gelbe Zackenlinie.

Robin warf einen kurzen Blick auf Michèle, die zu Boden blickte und von der Pracht nichts zu bemerken schien. Plötzlich hatte er den Wunsch, ihr etwas Tröstendes zu sagen.

Er blieb stehen, und Michèle, die schon einen Schritt vorausgegangen war, spürte es und wandte sich um.

»Ich werde nicht aufgeben«, sagte Robin, und als sie dazu schwieg, sprach er schnell weiter. »Ich will wissen, was mit Angelo geschehen ist. Und sobald ich etwas herausfinde, werde ich es dir sagen.« Er sah ihr die Skepsis an, die sie hinter einem Lächeln zu verbergen suchte, und deshalb setzte er hinzu: »Ich beherrsche meinen Beruf. Ich bin ein guter Ermittler.«

War es eine Spur von Hoffnung, die er in ihrem Gesicht zu bemerken glaubte?

Michèle holte aus der Jackentasche einen Jeton heraus, auf dem als Miniatur ihr holographisches Bild zu sehen war. Robin kannte diese hübschen Marken, die im privaten Gebrauch die üblichen Geschäftskarten ersetzten, obwohl er selbst noch keine besaß. Das spielzeugartige Ding enthielt eine Menge Daten über den Besitzer – wenn auch nur so viel, wie dieser preisgeben wollte. Unter einer kleinen Verdickung am Rand war der USB-Anschluss mit den winzigen Nadelkontakten verborgen, durch die sich Verbindung mit Lesegeräten herstellen ließ. Auf der Rückseite war der Name vermerkt: Mikaela Bajer, und ihre Funktion: Direktions-Assistentin. Und vorn blickte ihm Michèles Gesicht entgegen. Wenn er das Plättchen hin und her drehte, änderte sich die Perspektive, und das Bild wurde auf seltsame Weise lebendig.

»Meine Com-Nummer und einiges andere ist auf dem Chip vermerkt.« Sie reichte ihm das Kunststoffplättchen in der Größe einer Münze. »Ich wünsche dir alles Gute. Du kannst mich anrufen, wenn du etwas brauchst«, sagte sie.

Vor dem Lift blieben sie stehen. Michèle wartete, bis die Kabine ankam und Robin eingestiegen war.

Durch die Glaswand sah er sie noch sekundenlang draußen stehen, schmal und zerbrechlich, und es war ihm, als ließe er sie in einer bedrohlichen Welt allein zurück. Sie winkte ihm zu, dann schloss sich die Tür, das Blaffen der Windstöße verstummte, und Robin stand wieder im grellen Licht der Kaltlichtstrahler.


*

Als Robin an diesem Abend in seiner Wohnung angekommen war, holte er sich die erstbeste griffbereit liegende Packung mit einer Fertigmahlzeit aus dem Tiefkühlfach und steckte sie in den Turbo-Erhitzer. Fast unmittelbar darauf war das Klicken zu hören, das den Ultraschallstoß anzeigte. Er hatte ein makelloses, aus Zellkulturen gezogenes Schnitzel erwischt, und zehn Sekunden später war es zusammen mit Kartoffelscheiben und gemischtem Gemüse aufgetaut und auf mundgerechte Temperatur gewärmt.

Robin hatte sich auf die Couch gesetzt und war bald so tief in Gedanken versunken, dass er das Essen vergaß. Über sich selbst verwundert, stellte er fest, dass er in den letzten Stunden seine Meinung mehrmals geändert hatte. Noch während der Ausführungen von van der Steegen hatte er sich vorgenommen, dass er mit all dem nichts zu tun haben wollte – zweifellos wäre es das Vernünftigste, sich aus den Machtkämpfen oberer Dienststellen herauszuhalten. Sicher, da gab es viel Unverständliches, Ungereimtes und Widersprüchliches, aber was ging es ihn an? Angelo war mit einer Sonderaufgabe betraut? Nun, Angelo hatte eben Karriere gemacht. Es war doch klar, dass es nur die Besten waren, die man mit geheimen Missionen betraute, von denen selbst der Sicherheitsdienst nichts wissen durfte, und Angelo war einer der Besten. Robin vergönnte es ihm, und er beneidete ihn nicht oder nur ein bisschen. Vermutlich war sein, Robins, Leben bequemer. Freilich: Wenn er vor sich selbst ehrlich war, dann musste er sich eingestehen, dass er oft von unerhörten Abenteuern träumte.

Und dann die Begegnung mit Michèle oben auf der Terrasse. Eine eindrucksvolle Kulisse, ein kurzes Gespräch … und schon hatte Robin alle Vorsätze vergessen und angekündigt, dass er der Sache weiterhin nachgehen würde. Was war nur in ihn gefahren!

Robins Blick fiel auf die Servierplatte, wo seine Mahlzeit noch unangetastet stand. Er fühlte es mit den Fingern – inzwischen war alles fast kalt. Kurz entschlossen schob er das Gericht erneut in den Mikroherd und schaltete das Heizaggregat auf Stufe 1 … Was da schließlich zum Vorschein kam, sah zwar etwas trocken aus, aber mit einem Glas Pfirsichbier würde es sich schon essen lassen.

Er stocherte in den Karotten- und Zucchinischeiben herum, und schon wieder kam er ins Grübeln. War er denn verpflichtet, sein Versprechen zu halten? Michèle hatte ihn vermutlich nicht einmal ernst genommen. Bezweifelte offensichtlich, dass er Erfolg haben würde.

Das Essen schmeckte ihm nicht, und nach einigen Bissen warf er die Reste in den Müllschlucker.

Schluss mit den nutzlosen Gedanken! Was für einen Holo-Film bot ihm heute Abend sein Fernsehabonnement? Im kostenlosen Programmteil gab es nur die Wiederholung eines exotischen Balletts. Egal – da er die rhythmische Musik schätzte, machte er es sich in seinem adaptiven Kontrollstuhl bequem. Er brauchte die Einstellungen nicht zu verändern, rief die Sendung ab und schloss die Augen …

Aber schon nach kurzer Zeit ertappte er sich dabei, dass er gar nicht zuhörte, sondern überlegte, wie er Angelos Rätsel lösen könnte. Sobald er sachlich darüber nachzudenken begann, fiel ihm einiges ein. Die Voraussetzungen waren ganz gut, ein wichtiger Teil der Recherchen ließ sich von seinem Arbeitsplatz aus durchführen und sollte sich nicht allzu sehr von dem unterscheiden, was er auch sonst, im Rahmen seiner Aufträge, zu tun hatte – das System Platon ließ sich vielseitig anwenden.

Ein wesentlicher Unterschied allerdings war zu beachten – es sollte niemand von diesen Aktivitäten erfahren, und so schaltete Robin die Ballettübertragung aus und verwendete den Rest des Abends, um sich von einem Programmgenerator eine dem besonderen Zweck entsprechende Routine ausarbeiten zu lassen. Er testete sie auch noch auf verschiedene spezielle Eigenschaften hin, wobei es vor allem darum ging, bei den Aktionen keine Spuren zu hinterlassen.

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