Zu Fuß durch die weiße Wildnis


Ich wachte früh auf, fühlte mich aber ausgeruht, und erfreulicherweise hatte ich mich angenehm warm halten können. Die von mir angeregte Kombination des Schlafsacks mit einer Luftmatratze hatte ihre Bewährungsprobe bestanden. Die zwei Lagen mikrodünne Folie mit dazwischen eingeschweißtem Nanoschaum ließen sich zu einem faustgroßen Päckchen zusammenfalten, und das Ganze war leicht wie ein Federball.

Auf die Berrenger-Gedächtnis-Expedition hatte ich mich sorgfältig vorbereitet, und das nicht zuletzt im Hinblick auf die Hilfsmittel. Dabei kam mir der Fortschritt der Technik zugute. Es gibt neue, leichte Materialien für die Kleidung und die Schlafausrüstung, Leichtmetall-Katalyt-Batterien von erstaunlicher Kapazität für das Schmelzen von Eis und das Erwärmen der Speisen, für die Kaltlichtlampe und für den Sender. Und auch die Lebensmittelkonservierung hatte Fortschritte erzielt, das meiste für die Raumfahrt entwickelt und auf dem Mond erprobt.

Früher hatte man Schlittenhunde eingesetzt, die das Gepäck beförderten, später kamen Motorschlitten in Gebrauch, und seit Kurzem ließen sich Ausrüstung und Nahrungsmittel so weit reduzieren, dass sich alles auf den Rücken packen ließ. Bei einem Alleingang, wie ich ihn ursprünglich vorgehabt hatte, gab es aber keine gemeinsame Ausrüstung, die man auf mehrere verteilen kann, und darum musste ich mich auf weitere technische Neuerungen stützen – für die Bewegung auf dem Eis, für die richtige Ernährung und für den Wärmehaushalt während der Bewegung und in Ruhezeiten. Dazu gehörten vor allem die Spezialschuhe, aus deren Sohlen ich per Knopfdruck Metallspitzen ausfahren lassen konnte. Speziell die beiden nach vorne ragenden Zacken hatten sich bei meinen Kletterübungen an den gefrorenen Wasserfällen des Hochgebirges sehr bewährt.

Andererseits ging es, wenn man etwas Neues einsetzte, kaum ohne Pannen ab. Das bekam ich nun, als ich meinen Weg durch das Eis bahnte, zu spüren. Vermutlich war schon das Versagen des Senders eine solche Panne, und sie konnte mich ganz schön in Verlegenheit bringen, sollte ich Hilfe brauchen. Auch eine andere Idee erwies sich als nicht so hilfreich, wie ich es mir erhofft hatte: Ich hatte am Rucksack Leichtmetallkufen anbringen lassen, die beim Tragen eingeklappt blieben und nicht störten, das Gepäckstück aber in ausgeklapptem Zustand in einen Schlitten verwandelten. Nun hatte ich das Pech, dass es auf meinem Weg nur wenige schneebedeckte Ebenen gab, wo man einen Schlitten hätte ziehen können oder wo man – was mir sehr attraktiv erschienen war – auf abfallenden Strecken auf den Kufen stehend hätte abfahren können. Und zu alledem neigte meine Kombination aus Rucksack und Schlitten zum Kippen. In einem schnellen Entschluss montierte ich die Kufen ab und ließ sie liegen. Jedes überschüssige Gramm war Ballast, dessen man sich besser entledigt.

Nicht weniger wichtig als die Ausrüstung war die Konstitution. Zur Gewöhnung an die Kälte, auf die ich mich einstellen musste, hatte ich meine Fitnessgeräte im Kühlraum eines Nahrungsmitteldepots aufgestellt und war bei meinen Übungen von abgehängten Fleischbrocken aus den Zellkulturen umgeben. Aber wie immer bei solchen Gelegenheiten hatte ich mir einen Cyberhelm aufgesetzt und mir alte Abenteuerfilme angesehen – solche, in denen die Helden am Schluss immer gewannen –, während ich auf dem Laufband lief oder auf den Pedalen strampelte …

Ich gönnte mir noch fünf Minuten im Schlafsack und beobachtete dabei, wie sich die Sonne als blutroter Ball über die am Horizont liegende Nebelschicht schob. Fast noch eindrucksvoller der tiefdunkelblaue Himmel, der wie ein Kuppeldach über mir lag. Es schien ein schöner Tag zu werden.

Ohne den Schlafsack zu verlassen, schlug ich mit dem Pickel Eisstückchen von der Eisoberfläche los, taute einen Splitter in der Hand auf und kostete: Süßwasser, vermutlich verharschter Schnee, es schmeckte fade und ein wenig seifig. Ich füllte den Klappbecher mit den Eisstückchen und warf zwei Cabafee-Tabletten hinein. Dann drückte ich den Zünder eines Thermit-Röhrchens und ließ es rasch, bevor es heiß wurde, in das Gefäß fallen. Das ging schneller als mit dem Kocher. Vier Sekunden, dann war das heiße Kraftgetränk bereit, und ich leerte den Becher in kleinen Schlucken bis zum letzten Tropfen.

Noch immer vom Schlafsack aus warf ich einen kontrollierenden Blick auf das Display des LeoSat-Systems – ich war gut vorangekommen, und auch die Richtung hatte ich gut eingehalten: Südsüdwest … Jetzt erst schälte ich mich aus den warmen Hüllen heraus und stieg rasch in den Thermoanzug hinein. Er hatte noch die Temperatur des Eises, und ich spürte sofort die durch meine Unterwäsche kriechende Kälte. Um mich warm und beweglich zu halten, machte ich ein paar Lockerungsübungen. Dann packte ich mein Fernglas aus und betrachtete das Stück des Weges, das vor mir lag. Die Nebelschicht war angewachsen und behinderte die Sicht, doch eines war klar: Eine Ebene war das nicht mehr, was mich da vorn erwartete.

Ich packte und verschnürte den Rucksack, stemmte ihn hoch und kämpfte ein paar Sekunden lang mit dem Gleichgewicht. Dann ließ ich ihn auf den Rücken gleiten und zog den Taillengurt zu. Weiter ging’s.

Jetzt musste ich dem Weg meine volle Aufmerksamkeit widmen, denn das Gelände wurde immer unwegsamer. Die Veränderung ergab sich ganz langsam: Sprünge im Boden, manchmal so breit, dass ich kaum darüberspringen konnte; Facetten, vom Wind oder vielleicht auch vom Schmelzwasser modelliert, zunächst nur hier und dort, doch zehn Minuten später prägten sie die gesamte Eisoberfläche; Felder voller Zacken, parallel ausgerichtet, die erst nur eine Handspanne emporragten, doch schließlich, mannshoch und dicht an dicht stehend, an Staketenzäune erinnernde Barrieren bildeten.

Eine Stunde lang gelang es mir immerhin noch, einen gangbaren, sich um die gröbsten Hindernisse herumwindenden Weg durch diese Hindernisbahn zu finden, bis es auch damit ein Ende hatte. Von nun an war ein Ausweichen nicht mehr möglich, ich musste mich über die Erhebungen hinwegarbeiten.

Wieder eine kleine Pause, aber diesmal nur, um mich auf die Kletterei einzustellen. Bisher hatte ich keine Schwierigkeit gehabt, auch auf schiefen Ebenen Halt zu finden. Nun aber aktivierte ich die bisher in der Sohle verborgenen Eiszacken, die den Aufstieg an senkrechten Stellen ermöglichen, ich warf mir eine drei Meter lange Seilschlinge mit eingehängten Karabinern über die Schulter, befestigte ein Täschchen mit Eishaken am Gürtel und hängte mir den Pickel mit dem Hammeraufsatz ans Handgelenk. Schließlich drehte ich auch noch die Helmlampe auf – an schattigen Stellen konnte es wichtig werden, gut zu sehen, und es gab keinen Grund, die Batterien zu schonen.

Es folgte ein mühsamer, schwieriger und nicht ungefährlicher Weg. Ich zwängte mich zwischen aufragenden Spießen hindurch, verstemmte mich zwischen glatten Wänden, überwand Stufen, indem ich den Pickel möglichst weit oben einschlug und mich dann daran hinaufzog. Einige Male musste ich auch von den Eishaken Gebrauch machen. Nur nicht ausgleiten! – von unten ragten mir unzählige scharfe Spitzen entgegen.

Über zwei Stunden kletterte ich so dahin. Längst rann mir der Schweiß über das Gesicht. Weil meine Rundsichtbrille trotz der Polymer-Beschichtung beschlug, hatte ich sie im Rucksack verstaut.

Endlich war ich am höchsten Punkt meines Weges angekommen. Zuerst merkte ich es am Wind, der mir plötzlich von vorne entgegenkam, ein Wind, der sich manchmal zu einer schwachen Brise abschwächte, dann aber wieder gewaltige Kraft entfaltete. Und das Erstaunliche daran, das ich erst ein wenig später merkte: Dieser Wind war warm!

Auf dieser Seite war es nicht mehr so steil wie auf der anderen, nur noch selten war es nötig zu klettern, die Schwierigkeit lag eher darin, dass hier der Boden mit riesigen Eisbrocken bedeckt war, ein gigantischer Irrgarten, in dem man sich nur schwer zurechtfand. Um die Orientierung zu behalten, musste ich immer wieder den Kompass zu Rate ziehen und stellte oft genug fest, dass ich von meiner Richtung abgekommen war …

Schließlich hatte ich dieses Hindernis überwunden und die Ebene erreicht. Die Sonne war längst unter dem Horizont verschwunden, und ich musste an mein Biwak denken.

Ich beschloss, hier am Rand der Erhebungen zu bleiben. Das Eis der hinter mir liegenden Böschung war von Schluchten durchzogen, an den Wänden waren Nischen und Löcher entstanden, und ich brauchte nicht lange zu suchen, um unter einem Überhang eine geschützte Stelle zu finden, an der ich übernachten konnte.

Vom Wind geschützt, bereitete ich mir eine Mahlzeit. Es war erst das zweite Biwak auf meiner Wanderung, und doch kam es mir schon wie Routine vor: den Kocher einschalten, Eis schmelzen, eine kurze Überlegung, wie ich meinen Speisezettel an diesem Abend zusammenstellen könnte …

Ich hatte Hunger und Durst, und ich nahm meinen Appetit als Hinweis, dass ich die Anstrengungen körperlich und geistig gut überstanden hatte.

Und als ich dann im Schlafsack lag und auf das Eindämmern wartete, kam sogar so etwas wie ein heimeliges Gefühl auf.


Montag, 31. März

Das Wochenende hatte Robin schlecht gelaunt und nachdenklich hinter sich gebracht. Er konnte es nicht erwarten, sein Programm im System Platon zu installieren und zu erproben.

Am darauf folgenden Montag saß er ungewöhnlich früh im Büro und steckte den Chip mit seinem neuen Programm unverzüglich in die Buchse. Glücklicherweise war er derzeit mit einem Fall beschäftigt, der keinen besonderen Zeitaufwand erforderte und den man mit Routine erledigen konnte – ein klassischer Betrug bei einer finanziellen Transaktion. Auch hier lief ein Hauptteil der Arbeit über verschiedene Suchmaschinen, darunter auch solche für die Analyse semantischer Zusammenhänge, und diese Programmläufe setzte Robin zunächst einmal in Funktion.

Seine eigenen Untersuchungen begann er mit statistischen Auswertungen, und mit Hilfe seines illegalen Hilfsprogramms richtete er es so ein, dass ein Außenstehender, der sich für Robins Tätigkeit interessierte, annehmen musste, es ginge um das Thema des Bankbetrugs.

Wie immer, wenn er zur Bearbeitung eines Falles nur unzulängliche Informationen über die beteiligten Personen besaß, nahm er sich zuerst die Texte und Bilder vor, die diese aus verschiedensten Informationssystemen abgerufen hatten. Und die erste Person, der er sich zuwandte, war van der Steegen. Er war einer von jenen, die zweifellos einiges über Angelos Verschwinden wussten.

Schon nach einer halben Stunde hielt er einen Ausdruck der Ergebnisse in der Hand. Die Häufigkeit der Begriffe war nicht nur in Prozent angegeben, sondern zusätzlich nach Auffälligkeit gewichtet. Das war natürlich noch keine Garantie dafür, dass sie sich als Schlüssel zur Lösung der gestellten Fragen eigneten, und deshalb kam es bei der Auswertung auf die Erfahrung des Bearbeiters an, der versuchen musste, die aufschlussreichen Informationen herauszufinden und sie in den Zusammenhang mit der gestellten Aufgabe zu bringen. Bei dieser Arbeit hatte sich Robin immer als recht geschickt erwiesen.

Das Wort, das schon bei flüchtigem Durchsehen der Liste auffällig oft erschien, war »Mafia«. Dieser Begriff tauchte erst seit ein paar Monaten in den Protokollen auf, was ein Zeichen dafür war, dass es sich um eine für van der Steegen derzeit aktuelle und bedeutsame Fragestellung handelte.

Robin wusste nur vage, was der Begriff bedeutete, er löste aber in ihm Assoziationen zu irgendwelchen dunklen Machenschaften aus. Als er das Wort markierte und das Lexikon aufrief, fand er Hinweise auf ein paar klassische Abenteuerbücher und Actionfilme, was ihm nicht weiterhalf – vielleicht stammte das Wort aus der Literatur? Systematisch ging er Jahr für Jahr in die Vergangenheit zurück. Erst ab den Jahren 2016-18 erschien auf dem Bildschirm eine Erklärung:


M’afia, polit. Geheimbund in Sizilien, 1800-60 im Kampf gegen die Bourbonen bedeutsam; seit 1943 mit der Forderung eines autonomen Siziliens hervorgetreten. (Brockhaus 142, 16-18)


Beschäftigte sich van der Steegen mit historischen Studien? Aber auch das half Robin jetzt nicht weiter.

Ein anderes Gebiet, mit dem sich van der Steegen häufig befasst hatte, war die allgemeine politische Lage – charakteristische Begriffe tauchten mit verschiedensten Bezügen immer wieder auf, und es bedurfte einer Untersuchung der semantischen Felder und deren Überschneidungen, um konkrete Interessensbereiche herauszufiltern. Hier musste Robin eine etwas längere Wartezeit in Kauf nehmen, erst danach konnte er sich das Diagramm ansehen, eine Verteilung verschieden großer, einander mehr oder weniger überschneidender Kreise. Robin las:


Internationale Wirtschaftspolitik

Globalisierung im Finanzbereich

Novelle gegen Machtmissbrauch

Gipfeltreffen der Regierungschefs

Verwaltung von Ressourcen

Fusionsprozesse in der Industrie

Rechtsprechung bei Führungskräften

Gehälter und Nebeneinnahmen von Ministern

Diversifikation und Konzentration

Ausbau oligarchischer Systeme


Verhältnismäßig leicht ließen sich aus diesen Stichworten Schlüsse auf die im Hintergrund stehenden Probleme ziehen, insofern waren die Informationen durchaus verwertbar, aber nach Hinweisen auf Angelo suchte Robin vergebens. Eines fiel ihm allerdings auf: Im letzten Jahr schien der Arbeitseifer des Direktors plötzlich erloschen zu sein. Von da an waren nur noch wenige Aufrufe verzeichnet, und außerdem hatten sie ganz andere Themen zum Gegenstand – van der Steegens Interesse richtete sich nun auf die Geschichte der Staatenbünde und Fragen zur politischen Moral.

Robin hatte weder Zeit noch Lust, sich in diese abstrakten Sachgebiete zu vertiefen. Überdies war es sowieso angeraten, sich eher auf verdächtige Personen zu konzentrieren, und dabei insbesondere auf Beziehungen zwischen ihnen.

Da bot sich vor allem Gorosch an, und hier zögerte Robin ein wenig, ehe er sich entschloss, den Namen einzutippen. Schließlich vertraute er aber doch seinem Schutzprogramm, das alle Spuren seiner Tätigkeit verwischen sollte, verbrachte aber trotzdem eine Minute in nur mühsam unterdrückter Unruhe. Dann erschien auf dem Bildschirm lediglich der Hinweis: ZUGRIFF GESPERRT.

Robin war nicht besonders überrascht, es war ja zu erwarten gewesen, dass der Chef des Sicherheitsdienstes den Einblick in alle mit ihm zusammenhängenden Daten unterband. Auffällig war allerdings, dass zu dessen Abschirmung zusätzlich zu den üblichen Routinen einige weitere eingesetzt waren, deren Prinzip Robin nicht ohne weiteres zu erkennen vermochte. Hier war also nichts zu holen.

Hatte es Sinn, auch Angelos Abrufe in die Untersuchung einzubeziehen? Robin versuchte es; was er da fand, lag schon Jahre zurück und ergab lediglich einige Einblicke in Angelos private Interessen, aber nichts, was seine Tätigkeit betraf.

Wen sollte sich Robin noch vornehmen? Kurz kam ihm Michèle in den Sinn, und schon hob er die Hände zur Tastatur – und ließ sie wieder sinken. Sie hatte ja darüber geklagt, dass sie nicht eingeweiht worden war … aber so etwas hindert einen Ermittler normalerweise nicht, der Sache nachzugehen. Zögernd tippte er den Namen ein: Mikaela Bajer. Und dann löschte er ihn wieder …

Was hinderte ihn daran, die übliche Routine einzuhalten? – das war die Frage, die sich ihm unerwartet aufdrängte. Als er über die Gründe für diese unerwartet auftretenden Skrupel nachzudenken begann, musste er sich eingestehen, dass ihn bei ihr ganz andere Dinge interessierten als bei allen anderen Personen: Er wollte mehr über Michèle wissen. Nicht über ihre politischen Ansichten, nicht über ihre Kontakte zu anderen, sondern über das, was sie tat, was sie dachte, was sie sich wünschte … Und paradoxerweise war es genau das, was ihn daran hinderte, diesen Schritt zu tun – in ihren Daten zu stöbern, um mehr zu erfahren, als in ihrem Chip mit dem Hologramm vermerkt war. War es der Vertrauensbruch, vor dem er zurückschreckte? War es die Furcht davor, dass sie trotz aller Schutzmaßnahmen etwas davon erfahren könnte? Nein, gewiss nicht … Er war einfach nicht dazu imstande, schon der Gedanke daran kam ihm vor wie Verrat.


Donnerstag, 3. April

Während der letzten drei Tage hatte sich Robin ganz seinen Nachforschungen gewidmet – wann immer er Zeit dafür erübrigen konnte –, doch was er da in Erfahrung gebracht hatte, war aufschlussreich, aber nicht gerade überwältigend. So hatte er nun eine Menge von dem gelesen, was die von ihm angezapften Informationsquellen zu bieten hatten, und war in seinem Verdacht bestärkt worden, dass es um brisante Fragen der Weltpolitik ging. Noch nie zuvor war er über die globale Situation so gut informiert gewesen. Er hatte erkannt, dass es gar nicht die in den Zeitungen und Fernsehsendungen immer wieder kolportierten Themen waren, die die Zukunft bestimmten. Abseits von den Tagesereignissen zeichnete sich eine Entwicklung ab, die erstmalig zu einer in Utopien oft beschworenen Weltregierung führen könnte. Dabei standen mächtige Interessenverbände in Konkurrenz zueinander, und jeder setzte alle seine Machtmittel ein, um das System nach eigenen Wünschen zurechtzubiegen. Und dabei war noch nicht einmal klar, wer hinter dieser oder jener Gruppe steckte.

Auf der einen Seite vollzog sich das Spiel auf höchstem internationalem Parkett, auf der anderen Seite bestimmte es das Schicksal einzelner Figuren, denen in dieser Auseinandersetzung widersprüchlicher Kräfte spezielle Rollen zugedacht waren.

Das war die wenig beachtete persönliche Ebene – jene, für die sich Robin interessierte –, und es erwies sich als außerordentlich schwer, die Verbindungen zwischen diesen auseinander klaffenden Teilen zu finden.

Welche Möglichkeiten bestanden für einen Einzelkämpfer, Licht in diesen abgeschotteten Zwischenbereich zu bringen? Robin ließ sich einige Möglichkeiten durch den Kopf gehen und versuchte die Chancen auszuloten, die sich ihm da boten.

Schließlich erinnerte er sich an die von Michèle erwähnten Machtkämpfe zwischen den alten Schutztruppen und dem neueren Sicherheitsdienst, der international organisierten Security. Das bezog sich auf Ereignisse, die sich in unmittelbarer Umgebung abspielten, dort, wo er sich auskannte und freien Zutritt hatte. Und nach den Andeutungen des Direktors sollten sich in dieser lokalen Auseinandersetzung die divergierenden Ziele spiegeln, um die es auch in der großen Welt ging. Auf einmal hatte er von der langwierigen Schreibtischarbeit genug. Es wäre einen Versuch wert, den Hebel an ganz anderer Stelle anzusetzen.

Merkwürdig, wie sich der Ort der Ermittlungen immer mehr von der realen Welt auf die Datenwelt verlagerte. Früher war Robin noch hin und wieder auf Dienstreisen gewesen, hatte Schauplätze von Verbrechen besucht und mit Zeugen gesprochen. Und selbst jetzt, als er sich um etwas zu kümmern beabsichtigte, was sich innerhalb seines Bürogebäudes abspielte, begann die Ermittlung auf dem Bürostuhl, vor dem Bildschirm, anhand von Daten, die er aus verschiedensten mehr oder weniger leicht zugänglichen Speichern holte.

Er fragte sich, ob diese Praxis nicht der Bequemlichkeit entsprang und ob sie nicht dazu führte, dass man einfachste Möglichkeiten der Ermittlung übersah, weil sie den Ermittler zu ungewohnten körperlichen Aktivitäten abseits seines Daten-Sets gezwungen hätten – Risiken, die man lieber vermied. Diese Überlegung war wohl der Anstoß für Robin, einen etwas verwegenen Plan zu entwickeln, der eher ein Experiment war als die übliche Suche im Netz.

Er war vorsichtig genug, sich zuerst noch einmal zwei Stunden lang seinem aktuellen Auftrag zu widmen – vielleicht würde er später nachzuweisen haben, was er getan und wo er sich aufgehalten hatte. Dann, während er den Rechner auf die sukzessive Analyse der Seiten eines Dokuments gestellt hatte, verließ er seinen Raum möglichst unauffällig. Er empfand richtig Lust dabei, seinem Arbeitssessel endlich einmal zu entrinnen und real eingreifen zu können. Es war eine Inszenierung, ein Spiel, und wenn es ihm gelang, dann würden die Beteiligten die Art ihrer Beziehung freiwillig offenbaren.

Sein Weg führte Robin zum nächstgelegenen Rot-Kreuz-Center – ein kleiner Raum in der Nähe der Besenkammern und Toiletten von den Ausmaßen eines begehbaren Wandschranks.

Er öffnete den Kasten mit Medikamenten und Verbandszeug. Auch Gummihandschuhe lagen griffbereit da. Er holte ein Paar aus der Verpackung und streifte es über. Dann griff er nach einer dicken Mullbinde, entrollte sie und wickelte sie zu einem Knäuel zusammen. Aus verschiedenen Fläschchen, die er den Regalfächern entnahm, ließ er etwas von den darin enthaltenen Tinkturen darauf tropfen, bis sich ein feuchter Ball gebildet hatte. Anschließend suchte er nach einer Flasche mit Alkohol, von dem er reichlich darübergoss. Dann nahm er die größte der Scheren an sich, die in einer Klemmleiste an der Seitenwand steckten.

Ehe er den Verschlag verließ, vergewisserte er sich, dass der Gang draußen leer war … er hörte leise Stimmen, die rasch lauter wurden. Schnell zog er sich in die Kabine zurück und war bereit, das unappetitliche Knäuel, das aus der Mullbinde geworden war, im Abfalleimer verschwinden zu lassen … Doch die Stimmen wurden leiser und verschwanden.

Ein neuer Versuch, unbeobachtet in den Gang zurückzukommen … diesmal ließ sich niemand blicken. Es waren nur ein paar Schritte bis zur Garderobe, für die jeder Mitarbeiter ein Schließfach besaß. Sie war jetzt, während der Dienstzeit, leer. Robin wählte für seinen Plan ein beliebiges der Fächer. Dann holte er die Schere aus der Innentasche seines Overalls; er ließ sie geschlossen und zwängte die Spitze in den Spalt zwischen dem Deckel und dem Boden. Ein Ruck, und das Fach sprang auf. Darin befanden sich nur ein T-Shirt und ein Paar Schuhe. Ähnlich verfuhr Robin mit zwei benachbarten Fächern. Der Besitzer würde den Verlust des alten Mantels, der dort aufbewahrt wurde, verschmerzen können – ebenso wie ein Bündel dort deponierter Papiere: Wie er sich mit einem Blick überzeugte, betrafen sie nur längst überholte Anweisungen für die Entsorgung von Getränkebechern.

Robin war vorsichtig genug, noch einmal nachzusehen, ob die Luft immer noch rein war. Dann zerschnitt er das mit dem Lösungsgemisch getränkte Bündel in drei Teile und legte je eines in jedes der Fächer. Mit einem Feuerzeug zündete er sie an. Der Alkohol geriet rasch in Brand, Robin hielt die Papiere in die Flammen und warf, als sich ein munter flackerndes Feuerchen zu entwickeln begann, noch den Mantel darüber. Zuletzt zog er die Handschuhe aus und warf auch sie in die Flammen.

Jetzt kam es darauf an, möglichst rasch und ungesehen zu verschwinden. Er hatte Glück, es war niemand da, der ihn beobachten konnte. Noch ein paar Schritte zu seinem Büroraum. Zufrieden setzte er sich ans Pult und sah zu, wie auf dem Bildschirm die Seiten mit Texten und Diagrammen erschienen und wieder verschwanden. Das war sein Alibi: Für den Fall, dass er verdächtigt wurde, konnte er beweisen, dass er an der Logikeinheit gearbeitet hatte. In Wirklichkeit wartete er aber ungeduldig auf den Alarm, der nun eigentlich rasch ausgelöst werden sollte.

Als die Sirene endlich ihr enervierendes Geheul anstimmte, blieb Robin im Gegensatz zu seinen Kollegen völlig ruhig. Er empfand keine Angst – nur Befriedigung. Das lag natürlich in erster Linie daran, dass sich sein Plan genau wie vorgesehen zu verwirklichen schien, aber es kam noch etwas hinzu: Es war das erste Mal gewesen, dass er bewusst gegen die Gesetze seiner Dienststelle gehandelt hatte. Bei seiner Arbeit hatte er zwar oft genug Eigeninitiative entwickelt, aber eben nur in dem ihm zugewiesenen beschränkten Handlungsfeld.

Robin trat an die Tür, um zu beobachten, was draußen geschah, und auch die Kollegen aus der Nachbarschaft erschienen an den Türen ihrer Arbeitsräume.

Die Sirene war inzwischen verstummt, und eine Lautsprecherstimme meldete sich mit Anweisungen und Mitteilungen. Da war von einem kleinen Brandherd die Rede, der bald gelöscht sein würde. Es gäbe keinen Grund zur Flucht, und die Benutzung der Aufzüge sei verboten. Die Mitarbeiter sollten auf ihren Plätzen bleiben.

In einem Augenblick der Ruhe hörte man, dass sich die Sprinkleranlage eingeschaltet hatte. Und schon kam eine Gruppe von Feuerwehrleuten angerannt.

Robin missachtete die Anweisungen aus dem Lautsprecher und näherte sich vorsichtig den Schließfächern. Flammen waren nicht zu sehen, dagegen quollen übelriechende braune Wolken an der Decke entlang durch den Gang. Der Geruch stammte von Robins Medikamentengemisch und – so hatte er gehofft – verstärkte die Aufregung der herbeieilenden Retter beträchtlich. Sie waren mit Gasmasken ausgerüstet, und ein paar von ihnen hatten auf dem Boden Messgeräte aufgestellt. Schon nach kurzer Zeit nahmen sie ihre Masken ab und gaben Entwarnung.

Und nun wurden die Zuschauer Zeugen eines merkwürdigen Wechsels der Situation. Plötzlich besetzten Männer in den grauen Uniformen des Sicherheitsdienstes den Schauplatz, allen voran der Anführer, durch zwei silberne Streifen am Helm als Offizier ausgewiesen. Die Feuerwehrleute, die dem alten Schutztrupp angehörten, wurden aufgefordert, sich zurückzuziehen, und als sie sich weigerten, zogen die Beamten der Security unmissverständlich ihre Waffen.

Beide Parteien waren miteinander beschäftigt und achteten kaum auf die Umgebung, in der sich nun immer mehr Neugierige sammelten; selbst der Brandherd schien niemanden mehr zu interessieren. Auch Robin rückte noch ein Stück näher heran – er hatte bemerkt, dass die beiden Anführer der konkurrierenden Trupps in ein heftiges Streitgespräch geraten waren.

»Brandbekämpfung liegt eindeutig in unserer Zuständigkeit«, rief der eine der beiden sichtlich verärgert. »Ihr habt hier nichts zu suchen.«

»Die Sicherheitsbestimmungen gehen vor«, gab der andere aufgebracht zurück.

»Eben: Zuerst muss eine Ausbreitung des Brandes verhindert werden. Das ist unser Fachgebiet.«

»Der Brand ist gelöscht – es gibt nichts mehr zu tun. Es kommt nun darauf an, die Spuren aufzunehmen und die Ursache zu klären.«

»Auch das ist unsere Aufgabe …«

»Es ist ein Fall von Brandstiftung, dazu brauche ich keine Fachausbildung. Es kommt darauf an, die Täter zu finden. Das ist eine kriminalistische Arbeit und hat mit dem Feuer selbst nichts zutun.«

»Aber wir tragen die Verantwortung – es muss festgestellt werden, dass die Brandgefahr vorbei ist. Andernfalls müssen wir das Gebäude räumen.«

»Mach dich nicht lächerlich. Die Leute können wieder an die Arbeit gehen.«

Der Offizier des Sicherheitsdienstes drehte sich nun zu den Zuschauern um und rief ihnen zu: »Alles zurück in die Büros. Das Spektakel ist vorbei.«

Der Befehl war ernst gemeint, und die Beamten zogen sich zurück.

Robin saß wieder an seinem Arbeitsplatz. Jetzt hatte er einen eindeutigen Beweis für die Rivalität der alten Schutztruppe und der militärisch geführten Werkspolizei bekommen. Wenn er richtig kalkuliert hatte, dann sollte seiner Inszenierung allerdings noch ein Nachspiel folgen, und tatsächlich kündete wenig später der elektronische Gong an seiner Tür einen Besucher an.

Auf seine Aufforderung trat ein in Zivil gekleideter Mann ein.

»Ich komme im Auftrag des Werkschutzes«, sagte er. »Mein Name ist Timo Kessler. Ich hätte ein paar Fragen.«

Robin bedeutete ihm, sich auf einen Klappstuhl zu setzen, den er aus einer Nische zwischen dem Regal und einem Ablagetisch zog.

Timo räusperte sich, bevor er zu sprechen begann. »Ich muss dir mitteilen, dass du leider von einem Brandschaden betroffen bist. Dein Ablagefach liegt nahe dem Platz, auf dem das Feuer ausgebrochen ist. Wir haben Reste einer Jacke gefunden. Aber dafür gibt es ja eine Versicherung. Wenn es dir gelingt, alle Formulare richtig auszufüllen, bekommst du eine neue.« Er lachte.

»Das verstehe ich nicht«, antwortete Robin. »Die alte Jacke … das macht mir nicht viel aus. Aber wieso konnte denn in der Garderobe ein Brand ausbrechen? Dort wird doch nichts Feuergefährliches aufbewahrt. Es soll ja Kollegen geben, die sich dorthin zurückziehen, um heimlich zu rauchen. Aber so etwas habe ich nie beobachtet, und ich selbst habe es auch noch nie getan.«

»Keine Sorge. Wir wissen inzwischen, dass es Brandstiftung war.«

Robin zeigte sich hinlänglich erstaunt, und der Besucher gab freundlich Auskunft. So erfuhr Robin noch einige Details des Sachverhalts und fand bestätigt, dass es keine Spuren gab, die auf den Täter hinwiesen. So wie sie sich unterhielten, war es nicht schwer, das Gespräch auf die Arbeit der Feuerwehr zu lenken.

»Ist es nicht sehr unangenehm, mehrere Nächte in der Woche zum Bereitschaftsdienst eingeteilt zu sein?«, fragte Robin und schnitt damit das Thema Freizeit an. Timo verriet ihm, dass er ein passionierter Squash-Spieler war und dass man Squash zu jeder Tages- und Nachtzeit spielen konnte. Kurz entschlossen behauptete Robin, eine ganz besondere Vorliebe für Squash zu haben -»… leider nicht viel Übung«, setzte er hinzu. Er erkundigte sich nach Spielhallen mit Squash-Räumen, und ein paar Minuten später waren sie für das nächste Wochenende im Sportcenter zu einer Partie verabredet.


Samstag, 5. April

Wie es Robin erwartet hatte, war das Spiel ein Fiasko. Zuerst schlug ihm Timo die Bälle um die Ohren, und erst als Robin gestand, die eigene Spielfertigkeit gründlich überschätzt zu haben, zeigte Timo Mitleid und versuchte, seinem Partner ein paar Kenntnisse über die Schlägerhaltung bei Angriffs- und Verteidigungsbällen beizubringen.

Nachher lud Robin seinen neuen Sportskameraden ins Restaurant zu einem Käse-Fondue ein, dazu tranken sie entalkoholisierten Apfelwein. Zwar störten Robin daran die Essenzen, die den Alkoholgeschmack simulieren sollten, aber gegen den Durst gab es nichts Besseres.

Sie hatten einen Platz unmittelbar neben der Kegelbahn gefunden, und Robin erkannte unter den Spielern jemand, der ihm bekannt vorkam.

»Ist das nicht einer unserer Kollegen?«

Timo blickte hinunter zur Kegelbahn und nickte. »Es ist Josz. Bisher habe ich noch nicht viel mit ihm zu tun gehabt. In Kürze wird er mein Vorgesetzter sein, er soll die Abteilung modernisieren. Hier sehe ich ihn zum ersten Mal.«

Eine Weile sahen sie den Spielern zu. Als die Partie zu Ende war, beobachtete Robin, dass die unterlegene Mannschaft Credits in eine Kasse zahlte. Josz gehörte zu den Gewinnern.

»Ich wusste nicht, dass um Geld gespielt wird«, meinte Robin.

»Es geht nur um kleine Beträge«, sagte Timo. »Das soll angeblich die Spannung erhöhen. Bei Squash ist es nicht üblich.« Und er fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: »Du brauchst mir also nichts zu bezahlen.«

Nachdem sie sich noch ein wenig über Sport unterhalten hatten, kam Robin noch einmal auf das Feuer zurück. Timo bestätigte, dass der Vorfall nach wie vor ungeklärt war: Nachdem sie vom Sicherheitsdienst Zugang zum Schauplatz bekommen hatten, wollten sie auch etwas zur Aufklärung beitragen, aber – und das schien Timo ein wenig in Verlegenheit zu bringen – es sei nicht die geringste Spur vom Täter zu finden gewesen.

»Ich habe ja von meiner Zimmertür aus ein wenig von den Aufräumarbeiten mitbekommen«, sagte Robin. »Und ich wunderte mich sehr darüber, wie die Leute vom Sicherheitsdienst mit euch umgegangen sind.«

»Ja«, bestätigte Timo, »das war von Anfang an so – seit man diese neue Abteilung eingeführt hat. Es geschah aufgrund einer Verordnung, die alle internationalen Institute betrifft, also außer uns auch das Internationale Gesundheitsamt und die Internationale Zentralbank. Angeblich soll das die Sicherheit erhöhen. Man war der Meinung, dass der bisher zuständige alte Werkschutz modern ausgerüsteten Gegnern nicht mehr gewachsen sei.«

Robin versuchte es mit einer milden Provokation: »Und das stimmt nicht?«

Es war nicht zu verkennen, dass Timo diese Andeutung unangenehm war. »Was glaubst du! Wir hatten ein kriminalistisches Dezernat, das bestens ausgerüstet war – übrigens unter der Leitung von Josz. Es wurde damals sang- und klanglos aufgelöst. Nein, nein –«, er beugte sich näher zu Robin und dämpfte die Stimme. »Es steckt etwas ganz anderes dahinter: Es geht um die Globalisierung der Polizei.«

»Davon habe ich ja noch nie gehört«, gab Robin vor.

»Das hängt mit der WU zusammen. Behörden, Industrien, Verkehr usw. alles wird vereinheitlicht. Und das ist ja auch in Ordnung.«

»Und was ist nicht in Ordnung?«

Timo rückte etwas näher an Robin heran und sah sich verstohlen um, ehe er sprach. »Einiges läuft ganz anders, als es sein sollte. Man weiß nicht, wer dahintersteckt, aber es gibt Gerüchte …«

»Ich dachte, das wäre Sache der Regierungen«, warf Robin ein, als Timo zu überlegen schien, ob er mehr darüber sagen sollte.

»Haben die Regierungen noch die Macht, ihre Pläne so durchzusetzen, wie sie es für richtig halten? Es gibt internationale Konzerne, Banken, Gruppierungen von Fernsehen und Presse, die im Hintergrund mitmischen. Sie wollen sich ihre Kontrolle sichern. Aber man weiß nicht, wer genau dahintersteckt. Oder man fürchtet sich davor, es auszusprechen. Ich kann mir nicht vorstellen …«

Timo war mitten im Satz verstummt. Robin blickte ihn erstaunt an und stellte fest, dass der andere verstohlen zum Eingang starrte. Dort stand ein schlanker Mann, unscheinbar, unbeweglich, und es machte nicht den Eindruck, als ob er eintreten wollte.

Timo legte Robin die Hand fast schmerzhaft auf den Arm. »Verzeih, ich muss gehen«, sagte er. Er stand auf, legte eine 10-Credit-Münze auf den Tisch und trottete gesenkten Hauptes zum Eingang. Nachdem er an dem schweigenden Besucher vorbeigegangen war, wartete dieser noch kurz, dann drehte er sich um und verließ ebenfalls das Lokal.


Dienstag, 8. April

Wieder waren ein paar Tage vergangen, in denen Robin seinem Ziel, etwas über Angelo zu erfahren, nicht näher gekommen war. Immerhin – was Timo erzählt hatte, bestätigte den Verdacht, dass die Auseinandersetzungen zwischen dem alten Werkschutz und den neu eingeführten militanten Sicherheitskräften etwas mit den Entwicklungen in der Welt zu tun haben könnten. Aber ob das alles in direktem Zusammenhang mit Angelo stand, blieb nach wie vor offen.

Was konnte Robin tun, um in dieser Richtung vorwärtszukommen? Direkte Recherchen zu Angelos Person kamen nicht in Betracht – das verboten schon die Erfahrungen, die er in den letzten Tagen gemacht hatte. Also musste er seine Aktionen irgendwie verschleiern, und nach einigem Nachdenken hatte er eine Idee. Er würde der Erkenntnis folgen, dass sich ein Ding unter seinesgleichen leicht verbergen ließ.

Er zog das Mikrophon seines ComSets heran und begann zu diktieren:


An den Internationalen Gerichtshof. Dezernat für Anklage/Aufnahme

Durch Zufall bin ich auf einen Betrugsfall gestoßen, der Ihre Behörde selbst betrifft. Es handelt sich um gefälschte Reisekostenabrechnungen, wobei von der einreichenden Seite zu hohe Spesen verlangt und diese von der verantwortlichen Rechnungsstelle widerrechtlich akzeptiert wurden, obwohl eine einfache Nachprüfung die Unwahrheit der Angaben ans Tageslicht gebracht hätte. Der dadurch erschwindelte Mehrbetrag wurde von beiden Tätern geteilt. Mir ist die Problematik anonymer Anklagen sehr wohl bekannt, doch da ich selbst am Internationalen Gerichtshof tätig bin, kann ich meine Identität verständlicherweise nicht preisgeben; andernfalls würde ich das Arbeitsklima schädigen, was ich nicht in Kauf nehmen will und darf. Da es mir andererseits ein Anliegen ist, das im Hause übliche Geschäftsgebaren vor allen illegalen Unregelmäßigkeiten zu bewahren, die dem Ruf des Hauses abträglich wären, muss ich den unerwünschten Umstand der Anonymität in Kauf nehmen. Ich bitte darum, meine Eingabe als offizielle Anklage zu akzeptieren und die üblicherweise daraufhin angezeigten Bearbeitungen einzuleiten.

N.N.


Robin wusste natürlich sehr genau, was auf dieses Schreiben hin erfolgen würde. Eine solche Einreichung war der offizielle Weg, um den Internationalen Gerichtshof zum Eingreifen zu veranlassen. Gewiss war die Anonymität des Anklagenden ein Schönheitsfehler, doch wie er aus beispielhaften Fällen wusste, musste trotzdem gehandelt werden, wenn Vorgänge in der Behörde selbst Gegenstand des Vorgangs waren.

Jetzt waren noch einige Vorkehrungen nötig, vor allem musste er dafür sorgen, dass dieser Brief zunächst an einer Stelle zwischengelagert wurde, an der seine Herkunft nicht erkennbar war, und dann auf ein Zeichen hin ohne Verzögerung an den Adressaten geleitet wurde. Das war nicht weiter schwierig.

Nun konnte er sich wieder seinen anderen Aufgaben zuwenden, was sich von Zeit zu Zeit nicht vermeiden ließ, doch sooft er an seinen Plan dachte, freute er sich an der erheiternden Vorstellung, welche Aufregung er damit bei jenen auslösen würde, die sich betroffen fühlten.


Mittwoch, 9. April

Am nächsten Tag widmete er sich wieder einmal seinem ihm offiziell übertragenen Fall. Er stand damit kurz vor dem Abschluss und hatte jede Chance, ihn in Kürze abzuschließen, doch das brauchte er Raymond, dem Büroleiter, ja nicht sofort zu verraten. So würde er Zeit gewinnen, um weiter seinen eigenen Problemen nachzugehen.

Zunächst ging es darum, ob das System Platon noch ein Haar in der Suppe fand oder der Meinung war, dass die vorgelegten Daten zur Fortführung des Vorgangs ausreichten. Das war Voraussetzung dafür, die logisch-deduktiven Prozesse einzuleiten, die zu Entscheidungen über Unschuld oder Schuld des bzw. der Angeklagten führten mussten. Daraus leitete das Programm die Konsequenzen ab – vor allem die Art der Strafe oder Sicherheitsverwahrung oder auch die Empfehlung medizinischer Eingriffe zur Verhinderung späterer Straftaten.

Am frühen Nachmittag war es dann so weit. Er hatte Glück, das AI-System war mit den Unterlagen zufrieden, und das hieß, dass Robin für eine neue Aufgabe ausgewiesen war. Er überzeugte sich davon, dass nicht noch jemand anderer vor ihm auf der Warteliste stand; so durfte er sicher sein, nun selbst mit der Bearbeitung der anonymen Anklage betraut zu werden, da ein die eigene Behörde betreffender Fall Priorität vor allen anderen hatte.

Nun zögerte Robin nicht mehr, das Zeichen zum Absenden des von ihm vorbereiteten Briefs zu geben, und es dauerte tatsächlich nur zehn Minuten, bis der Gong ertönte, der die Zuteilung einer neuen Aufgabe ankündigte.

Tatsächlich: Die Automatik hatte dem von ihm erfundenen Fall die Prioritätsstufe 2 zugeteilt. Das hatte den zusätzlichen Vorteil, dass Robin einen Referendar hinzuziehen durfte, und er schickte auch gleich die Anforderung hinaus. Natürlich wäre Robin auch allein zurechtgekommen, aber es konnte nicht schaden, einen Mitarbeiter zu haben, dem man heikle Aufgaben übertragen konnte, oder genauer: Aufgaben, die sich unter den gegebenen Umständen für Robin als heikel erweisen konnten.

Ein wenig musste er sich noch in Geduld fassen, denn die Hilfskraft war erst für den nächsten Tag bewilligt worden. Robin beschloss, sich inzwischen die neuesten Meldungen über die politische Lage vorzunehmen – eine Thematik, die ihn bisher wenig interessiert hatte, der er sich aber seit Neuestem mit voller Aufmerksamkeit zuwandte. Zuvor aber wollte er versuchen, sich mit Timo in Verbindung zu setzen.

Das Erlebnis am vorigen Abend hatte ihm zu denken gegeben. Schon während ihrer Unterhaltung war nicht zu übersehen gewesen, dass der Werkschutzbeamte sehr vorsichtig geworden war, als sie auf das Thema der internen Auseinandersetzungen gekommen waren – als rechnete er damit, belauscht zu werden.

Und dann hatte ihm der Unbekannte, der am Eingang aufgetaucht war, offensichtlich einen gewaltigen Schrecken versetzt.

Bis vor kurzem war Robin völlig unbefangen gewesen, es war ihm nicht in den Sinn gekommen, er könnte von irgendjemandem belauscht, abgehört oder verfolgt werden. Seit sich der Sicherheitsdienst für ihn interessierte, hatte sich das geändert. Zunächst war er noch bei seiner Meinung geblieben, dass das ein Sonderfall war: die Folge seines Versuchs, Kontakt mit Angelo aufzunehmen. Doch inzwischen verhärtete sich in ihm der Argwohn, dass solche Überwachungsmaßnahmen gar nicht so ungewöhnlich waren und vielleicht sogar zu den Routinemaßnahmen des Betriebs gehörten.

So suchte Robin das Foyer auf, wo einige ComSets zur allgemeinen Benutzung herumstanden, trat aus dem Blickfeld der Kamera heraus und wählte Timos Nummer. Kurz darauf meldete sich jemand: »Werkschutz, Abteilung C3.« Es war Timos Stimme, der mit abgewandtem Kopf vor der Kamera saß und nur undeutlich zu erkennen war.

Auch Robin vermied es, seinen Namen zu nennen. »Hallo, ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.«

Einen Augenblick lang war es still, dann kam die Antwort: »Tut mir leid: falsch verbunden.«

Robin war sicher, dass Timo selbst am ComSet gewesen war und ihn erkannt hatte. Der Bildschirm war finster geworden, und Robin blickte noch kurze Zeit auf die leere grausilberne Fläche. Nachdenklich erhob er sich vom Hocker und schlug den Weg zurück in sein Büro ein.


Donnerstag, 10. April

Als Robin am nächsten Morgen seinen Arbeitsraum betrat, wartete dort eine junge Frau. »Ich bin die Referendarin«, sagte sie. Sie trug den einheitlichen Arbeitsmantel, der offen stand und ihr modisches, mit Goldfäden durchwirktes Kleid nur halb verbarg. Sie sah gut aus – das Gesicht vielleicht eine Spur zu breit, was sie aber durch das seitlich in Flechten übergehende schwarze Haar ausgeglichen hatte. »Ich heiße Fay McCain.« Sie legte ihre I-Card auf den Tisch.

»Okay, ich bin Robin Landt. Wir werden zusammen einen Fall bearbeiten. Am besten, du siehst dir zunächst einmal die Unterlagen an.«

Robin befreite den Ablagetisch von bedrucktem Papier, Schachteln und Kassetten, die sich dort angesammelt hatten, und brachte einen Laptop heran, den er über Intranet mit seinem Computer verband. Er schob den Besucherstuhl heran. »Ein wenig eng hier«, sagte er entschuldigend.

»Das macht mir nichts aus«, antwortete Fay. »Ist es dir recht, wenn ich Kaffee hole?«

»Wir machen später eine Pause.« Robin wollte keine Zeit versäumen. Er übertrug die den neuen Fall betreffenden Daten auf Fays Rechner und blieb dann neben ihr stehen, als Aufforderung, mit der Arbeit zu beginnen. Fay zog eine Grimasse, doch dann rief sie geschickt die Daten auf und begann, die Inhaltsangabe zu studieren.

Bevor die richtige Ermittlungsarbeit beginnen konnte, waren eine Menge Vorbereitungen nötig, darunter vor allem solche, die den Datenschutz überwinden sollten; und auch in Fällen, die den eigenen Betrieb betrafen, war es schwer, die Genehmigung zur Einsicht in die Akten zu bekommen. So waren Robin und Fay den ganzen Vormittag damit beschäftigt, formale Hindernisse zu überwinden. Zwischendurch genehmigten sie sich die angekündigte Pause, wobei sich Robin ein wenig mit Fay unterhielt; sie machte einen klugen und wachen Eindruck.

Erst am Nachmittag war es so weit, dass sie mit der eigentlichen Arbeit beginnen konnten. Robin fragte Fay, wie sie nun vorgehen würde – er wollte herausfinden, ob sie gewohnt war, selbständig zu arbeiten.

»Ein schwieriges Problem«, meinte sie. »Ich denke, wir sollten zuerst nach Verdachtsmomenten suchen: Wer hat sich schon früher etwas zuschulden kommen lassen? Gibt es ähnliche Fälle, bei denen es nicht gelang, genügend Material für die Beweisführung zu finden? Am besten, wir nehmen uns auch die genetischen Profile vor. Die Leute wurden zwar alle analysiert, damals, bevor sie eingestellt wurden, aber vielleicht hat man etwas übersehen.«

Das hörte sich logisch an und mochte vielleicht sogar der vernünftigste Weg zum Ziel sein, aber Robin kam es ja nicht auf komplizierte Beweisführungen, sondern auf die Begleitdaten an. »Ich würde anders vorgehen: Prinzipiell sind alle verdächtig, die Reisekosten abrechnen müssen. Ich schlage vor, wir fangen bei den eingereichten Rechnungen an und prüfen, ob die eingetragenen Beträge den Vorschriften entsprechen.«

Fay schien nicht überzeugt. »Ist das nicht recht umständlich und zeitraubend? Wenn wir uns zuerst die prinzipiell Verdächtigen vornehmen …«

»Nein«, unterbrach Robin. »Die Abrechnungen müssen nach einem vorgegebenen Schema ausgefüllt werden, die Prüfung lässt sich also uneingeschränkt dem logischen System übertragen – so geht es am schnellsten. Ich bitte dich, das zu veranlassen – vielleicht zunächst für das vergangene Jahr bis zur Gegenwart. Die Erlaubnis zur Prüfung der Abrechnungen haben wir ja eingeholt.«

»Wir brauchen noch eine Bearbeitungsnummer«, erinnerte ihn Fay.

»Richtig. Lass dir eine geben. Und zwar unter deinem Namen. Ich habe dich als Sachbearbeiterin eintragen lassen. So kann ich selbst noch einen zweiten Vorgang eröffnen, und wir kommen schneller voran.«

Robin hatte seine Anweisungen äußerlich ruhig gegeben, aber innerlich wurde er umso aufgeregter, je mehr er sich seinem Ziel näherte. Er musste sich zwingen, sich auf einige noch nicht berücksichtigte bürokratische Formalitäten zu konzentrieren. Im Übrigen hatte sich die Referendarin bislang als kluge und selbständig denkende Kraft erwiesen.

Gegen Abend hatte sie ihre Aufgabe beendet und öffnete für Robin einen viele Megabyte umfassenden Ordner, der in Kurzform den Inhalt aller Reiseabrechnungen der letzten Zeit enthielt.

»Ist etwas Auffälliges dabei?«, fragte Robin.

Fay schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gefunden.«

»Nun gut, dann danke ich dir. Du kannst für heute Schluss machen.«

Fay zog den Arbeitsmantel aus und strich sich durch die Haare. Es war eine Geste, mit der sie sicher schon manchen Mann gereizt hatte. Auch ihre Figur ließ nichts zu wünschen übrig, und das golden glitzernde Kleid saß eng und faltenfrei am Körper. Robin schaute nur kurz auf, war aber in diesem Moment zu abgelenkt. Er winkte Fay zu, und sie verließ den Raum.

Endlich! Robin setzte sich an den Laptop, wo der Ordner mit den Abrechnungen noch geöffnet war. Er betätigte die Suchtaste, tippte den Buchstuben »B« ein und sprach den Namen »Angelo Brugger« ins Mikrofon. Und schon erschien die früheste Rechnung aus der berücksichtigten Zeit auf dem Bildschirm – es handelte sich um eine Reise nach Boston. Robin brauchte nicht die erste, sondern die letzte Abrechnung, und Sekunden später hatte er sie auf dem Schirm. Natürlich war sie korrekt ausgefüllt, aber worauf es ankam, war ja nicht der Betrag, sondern das Reiseziel: Es war »Sanssouci«, das Rekreationszentrum für Führungskräfte an der französischen Riviera. Das Datum lag etwa ein Jahr zurück. Und es gab keine Abrechnung für eine Rückreise.


*

Es war die erste heiße Spur auf Robins Suche nach Angelo. Dieser Erfolg versetzte ihn in euphorische Stimmung. Kurz entschlossen bog er ein Stück vom Nachhauseweg ab, an einer Ecke, wo er an einem guten Esslokal vorbeikam. Er trat ein, suchte einen Single-Tisch auf und bestellte einen üppigen Olivensalat, den er sich schmecken ließ. Erst gegen neun Uhr abends kam er zu Hause an, und noch immer spürte er die Freude über seine gelungene Recherche.

Und als er im Fernsehstuhl saß, ohne ein Programm einzuschalten, drängte sich ihm mehr und mehr der Wunsch auf, Michèle von den jüngsten Erkenntnissen zu berichten. Er hätte sie schon früher gern einmal angerufen, aber er wollte einen Grund dafür haben. Nun hatte er ihn. Dabei ging es nicht nur um die bloße Erfolgsmeldung, sondern auch um weiterführende Fragen. Robin hatte schon von »Sanssouci« gehört, vom überwältigenden Luxus der Anlage, die sich um eine schlossähnliche Villa im Hinterland der Riviera erstreckte, von den vielen Möglichkeiten, dort zu entspannen und neue Kraft zu tanken. Neben den prächtig ausgestatteten Suiten und den vornehmen Restaurants, die eine erlesene Auswahl an Speisen und Getränken anboten, gab es modernste Sportanlagen, dazu Bäder, Sonnenstudios und Räume mit den raffiniertesten Fitnessgeräten und Massageautomaten. Auch für menschliche Betreuung war gesorgt – ein Regiment von Ärzten, Psychologen und Lehrern aus verschiedenen Religionsgemeinschaften und Sekten stand zur Verfügung. Nur die oberste Führungsschicht konnte hoffen, in diese exklusive Anlage eingeladen zu werden – und deshalb war es umso erstaunlicher, dass Angelo dort hinbeordert worden war. Warum? Das war die Frage, die sich nun stellte, und zu ihrer Lösung konnte Michèle vielleicht etwas beitragen, die in ihrer Position jenen Kreisen, die in den begehrten Genuss eines Aufenthalts kamen, viel näher stand als er, Robin.

Gleich morgen würde er sie anrufen – Robin konnte es kaum erwarten. Endlich konnte er ihr den Beweis dafür liefern, dass er durchaus imstande war, an streng geheim gehaltene Informationen zu gelangen. Aber warum bis morgen warten? Er hatte doch ihre I-Plakette, und Robin glaubte sich zu erinnern, dass da auch die private Com-Nummer eingetragen war.

Er kramte die Plakette hervor und setzte sich in den Kontrollstuhl seines Arbeitsplatzes. Er gab die Ziffernfolge ein, und die Wartezeit kam ihm so lang vor, dass er schon abschalten wollte. Doch dann erschien Michèles Gesicht auf seinem Holo-Schirm, und es war ihm, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren, doch als er es unwillkürlich versuchte, griff er ins Leere.

»Ach, du bist es, Robin. Was gibt es Neues?« Zu Robins Beruhigung schien sie zwar ein wenig erstaunt, aber keineswegs ungehalten.

»Ich habe eine gute Nachricht«, sagte er, und erst als sie ihn aufforderte, sie doch nicht länger warten zu lassen, kamen ihm Bedenken, über das öffentliche Netz von seinen Ermittlungen zu berichten.

Ohne lange zu überlegen, sagte er: »Ich möchte es dir persönlich erzählen. Können wir uns treffen?«

Sie lächelte und sagte: »Wie wäre es im Wintergarten des Kurhauses? Die Palmengruppe liegt ein wenig abseits, da wären wir ungestört.«

Eine Viertelstunde später hatten sie sich auf einer der Bänke unter den Palmen niedergelassen. Die Luft war feucht, und es roch intensiv nach zahllosen fremdartigen Blumen. Das vom Dach ausgehende Lumineszenzlicht hatte sich der späten Stunde entsprechend auf Dämmerung eingestellt. Es sah aus, als wären die Farben der Blüten an den Zweigen der Sträucher von tiefem Schwarz.

Robin kam gleich zum Thema und erzählte ihr, was er herausgefunden hatte.

Als er fertig war, wartete er angespannt auf ihre Reaktion – und war erleichtert, dass sie seine Nachricht hochinteressant fand. »Ich hätte, ehrlich gesagt, nicht damit gerechnet, dass du so rasch etwas herausfinden würdest …«

Von ihrem Lob etwas verlegen, spielte Robin alles ein bisschen herunter. »Es ist nur ein erster Anhaltspunkt, aber dahinter stecken viele weitere Fragen: Was hatte er dort zu tun? – denn von seinem Rang her stand ihm eine der für die höchsten Kreise vorgesehenen Kuren trotz seiner Verdienste sicher nicht zu. Wie lange blieb er dort? Wann ist er abgereist und wohin? Und warum ist das in den Akten nicht verzeichnet? Hast du eine Ahnung, wie wir da weiterkommen können?«

Michèle schien zu überlegen. »Ich war einmal dort, in ›Sanssouci‹«, berichtete sie. »Im vergangenen Sommer.«

Robin glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Du warst dort …?«

»Nicht zur Erholung, es war eine Dienstreise. Jan van der Steegen hatte dort zu tun und hat mich mitgenommen. Er hat sich mit einigen Leuten der Führungsriege getroffen, aber die Geschäfte von dort aus weitergeführt. Und er hat bei dieser Gelegenheit eine Refreshment-Kur gemacht.«

Robin beobachtete, wie sich ein großer Schmetterling mit phantastisch geformten Flügeln auf Michèles Knie niederließ. Sie schien ihre ganze Aufmerksamkeit dem Falter zu widmen.

Nach einer Weile kam Robin auf seine Frage zurück: »Was also sollen wir tun?«

»Angelos Aufenthalt in ›Sanssouci‹ gibt mir zu denken. Vielleicht ist das der Schlüssel zu dem, was mit ihm geschehen ist. Ich werde versuchen, etwas über die Hintergründe zu erfahren.« Sie blickte nachdenklich vor sich hin und fuhr dann fort: »Ich überlege gerade, ob es eine Möglichkeit für mich gibt, noch einmal dorthin zu kommen … – um mich nach Angelo zu erkundigen. Er war sicher kein gewöhnlicher Gast, und wenn sein Aufenthalt dort einen besonderen Grund hatte, dann wird sich sicher noch jemand an ihn erinnern – obwohl es schon über ein Jahr her ist.«

Robin stimmte zu. Sie blieben noch eine Weile schweigend sitzen. Diese Oase tropischer Wärme und Abgeschiedenheit inmitten der selbst in den Sommernächten stets kühlen Bergstadt rief eine merkwürdige Stimmung hervor, die etwas Unwirkliches an sich hatte. Robin hätte sich gewünscht, dass dieser Abend nicht zu Ende ging.

Auch Michèle schien es nicht eilig zu haben, doch als der Klang einer Glocke der nahe gelegenen historischen Kirche Mitternacht anzeigte, stand sie auf. »Es ist spät.«

Als sie sich die Hand zum Abschied reichten, empfand Robin das als symbolische Bekräftigung dafür, dass sie von nun an durch eine gemeinsame Aufgabe miteinander verbunden waren.

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