Unser Zuchthaus lag am Rande der Festung, dicht am Festungswall. Wenn man zuweilen einen Blick durch die Spalten im Zaune auf die Welt Gottes warf, – ob man nicht etwas von ihr sehen könne, – so sah man nur ein Stückchen Himmel und den hohen, von Unkraut überwucherten Festungswall, auf dem Tag und Nacht Wachtposten auf und ab gingen; und man dachte sich dann: es werden noch ganze Jahre vergehen, und wenn man wieder einmal einen Blick durch eine Spalte im Zaune wirft, wird man den gleichen Wall, die gleichen Wachtposten und das gleiche Stückchen Himmel sehen, nicht den Himmel, der über dem Zuchthause ist, sondern einen anderen, freien, fernen Himmel. Man denke sich einen großen Hof, zweihundert Schritt lang und hundertfünfzig Schritt breit, von allen Seiten von einem hohen Palisadenzaun in Form eines unregelmäßigen Sechseckes umgeben, d.h. von einem Zaun aus hohen, senkrechten, tief in die Erde eingegrabenen, mit den Kanten fest zusammengefügten, durch Querbalken verstärkten und oben zugespitzten Pfählen; das ist die äußere Umzäunung des Zuchthauses. An der einen Seite dieser Umzäunung ist ein festes Tor angebracht, das immer verschlossen ist und Tag und Nacht von Posten bewacht wird; es wird nur auf besonderen Befehl geöffnet, um die Sträflinge zur Arbeit hinauszulassen. Hinter diesem Tore lag die helle freie Welt, wo Menschen wie Menschen lebten. Aber diesseits der Umzäunung stellte man sich jene Welt als ein unerfüllbares Märchen vor. Hier war eine eigene Welt, die keiner anderen ähnlich sah; hier waren eigene Gesetze, eine eigene Tracht, eigene Sitten und Gebräuche, ein Haus für lebende Tote, ein Leben, wie sonst nirgends, und eigene Menschen. Diesen eigentümlichen Winkel will ich nun beschreiben.
Wenn man in die Umzäunung tritt, so erblickt man innerhalb derselben mehrere Gebäude. Zu beiden Seiten des breiten Innenhofes ziehen sich zwei lange einstöckige aus runden Balken erbaute Flügel hin. Das sind die Kasernen. In ihnen leben die Sträflinge nach Kategorien verteilt. In der Tiefe des Hofes liegt noch ein drittes Haus, ebenfalls aus runden Balken: es ist die in zwei Betriebe geteilte Küche; weiter liegt noch ein Gebäude, das unter demselben Dache die Keller, Speicher und Schuppen vereinigt. Die Mitte des Hofes ist leer und bildet einen ebenen, ziemlich geräumigen Platz. Hier stellen sich die Sträflinge in Reih und Glied auf, hier findet morgens, mittags und abends die Kontrolle und der Appell statt, manchmal sogar noch einigemal am Tage, je nach der Gewissenhaftigkeit der Wache und deren Geschicklichkeit im raschen Zählen. Ringsum zwischen den Gebäuden und dem Zaune bleibt noch ein ziemlich großer freier Raum. Hier, hinter den Gebäuden, pflegen diejenigen Sträflinge, die besonders scheu und düster sind, in der arbeitsfreien Zeit, von allen Blicken geschützt, auf und ab zu wandern und ihren Gedanken nachzugehen. Wenn ich ihnen bei ihren Spaziergängen begegnete, betrachtete ich gerne ihre finsteren, gebrandmarkten Gesichter und bemühte mich, ihre Gedanken zu erraten. Es war ein Sträfling darunter, dessen Lieblingsbeschäftigung darin bestand, in der freien Zeit die Palisadenpfähle zu zählen. Es waren ihrer an die anderthalbtausend, und er kannte jeden einzelnen Pfahl ganz genau. Jeder von ihnen bedeutete für ihn einen Tag; jeden Tag zählte er einen Pfahl ab und konnte auf diese Weise nach der Menge der noch nicht abgezählten Pfähle ersehen, wieviel Tage er noch bis zum Ablauf der Straffrist im Zuchthause bleiben mußte. Er freute sich aufrichtig, wenn eine der Seiten des Sechsecks erledigt war. Er hatte noch viele Jahre zu warten, aber im Zuchthause hatte man Zeit, um Geduld zu lernen. Einmal sah ich, wie ein Arrestant, der zwanzig Jahre in der Zwangsarbeit verbracht hatte und nun in die Freiheit gelassen wurde, sich von seinen Kameraden verabschiedete. Es gab Leute, die sich noch erinnerten, wie er zum erstenmal das Zuchthaus betreten hatte, jung, sorglos, ohne an sein Verbrechen und an die Strafe zu denken. Nun ging er als ergrauter Greis mit düsterem und traurigem Gesicht in die Freiheit. Schweigend machte er die Runde durch alle unsere sechs Kasernen. Beim Eintritt in jede Kaserne, verrichtete er erst ein kurzes Gebet vor den Heiligenbildern, verbeugte sich dann tief vor den Kameraden und bat sie, seiner nicht im Bösen zu gedenken. Ich erinnere mich auch, wie ein Arrestant, ein ehemaliger vermögender sibirischer Bauer eines Abends vor das Tor gerufen wurde. Ein halbes Jahr vorher hatte er die Nachricht erhalten, daß seine frühere Frau sich verheiratet habe, und das hatte ihn sehr betrübt. Nun war sie selbst am Zuchthause vorgefahren, hatte ihn herausrufen lassen und ihm ein Almosen gereicht. Sie sprachen an die zwei Minuten miteinander, weinten ein wenig und nahmen dann für immer Abschied. Ich sah sein Gesicht, als er in die Kaserne zurückkehrte... Ja, an diesem Orte konnte man Geduld lernen.
Wenn es dunkelte, wurden wir alle in die Kasernen gebracht und für die ganze Nacht eingesperrt. Es fiel mir immer schwer, aus dem Freien in die Kaserne zurückzukehren. Es war ein langer, niederer Raum, spärlich von Talglichtern erleuchtet, mit einem schweren, stickigen Geruch. Jetzt kann ich nicht begreifen, wie ich darin die zehn Jahre habe aushalten können. Auf der Pritsche hatte ich drei Bretter zu meiner Verfügung: das war mein ganzer Raum. Auf der gleichen Pritsche lagen in unserem Zimmer allein an die dreißig Menschen. Im Winter wurde die Kaserne schon früh geschlossen, und es dauerte an die vier Stunden, bis alle eingeschlafen waren. Bis dahin war aber ein Lärm, ein Geschrei, ein Lachen, ein Geschimpfe, Klirren von Ketten, Qualm und Dunst; ein Gewirr von rasierten Köpfen, gebrandmarkten Gesichtern, gescheckten Kleidern, alles geächtet und gezeichnet... ja, der Mensch ist eben zäh! Der Mensch ist ein Wesen, das sich an alles gewöhnt, und ich glaube, daß dies die beste Definition für ihn ist.
Wir waren unser im Zuchthause im ganzen an die zweihundertfünfzig Mann; diese Zahl blieb fast immer unverändert. Die einen kamen, die anderen büßten ihre Zeit ab und gingen, die dritten starben. Und was für Leute gab es da nicht alles! Ich glaube, jedes Gouvernement, jedes Gebiet Rußlands hatte hier seine Vertreter. Es gab auch einige Fremdstämmige, sogar einige Verbannte aus den kaukasischen Bergvölkern. Alle waren nach dem Grade ihrer Verbrechen eingeteilt, folglich auch nach der Zahl der Jahre, die ihnen für ihre Verbrechen zudiktiert waren. Es ist anzunehmen, daß es kein Verbrechen gibt, das hier nicht seinen Vertreter hatte. Den Grundstock der Zuchthausbevölkerung bildeten die zu Zwangsarbeit Verbannten aus dem Zivilstande (die »Zuviel-Verbannten«, wie die Arrestanten selbst das Wort aussprachen). Dies waren Verbrecher, denen alle Bürgerrechte aberkannt waren, von der Gesellschaft ausgestoßene Elemente, mit gebrandmarkten Gesichtern, die von ihrer Ächtung ewig zeugen sollten. Sie kamen zur Zwangsarbeit auf acht bis zwölf Jahre und wurden später in die verschiedenen sibirischen Landgemeinden als Ansiedler verschickt. Es gab auch Verbrecher aus dem Militärstande, die ihre Standesrechte behalten hatten, wie es ja in den russischen Strafkompagnien immer der Fall ist. Diese wurden nur für kurze Zeit verbannt, nach deren Ablauf sie wieder dorthin zurückkehrten, woher sie gekommen waren: in die sibirischen Linienbataillone. Viele von ihnen kehrten fast sogleich wegen neuer schwerer Verbrechen ins Zuchthaus zurück, aber nicht mehr auf kurze Zeit, sondern auf zwanzig Jahre. Diese Kategorie Sträflinge nannte man die »Dauersträflinge«. Aber auch die »Dauersträflinge« verloren doch nicht alle Standesrechte. Schließlich gab es noch eine eigene Kategorie der schwersten Verbrecher, vorwiegend aus dem Militärstande, die recht zahlreich waren. Diese bildeten die »Besondere Abteilung«. Aus ganz Rußland wurden Verbrecher hergeschickt. Sie hielten sich selbst für lebenslänglich verbannt und kannten die Frist ihrer Zwangsarbeit nicht. Nach dem Gesetz mußte ihr Arbeitspensum verdoppelt und verdreifacht werden. Sie waren im Zuchthause nur »bis zur Einrichtung der schwersten Zwangsarbeit« untergebracht. »Ihr seid nur auf eine Zeit hier, wir aber bleiben ewig,« sagten sie zu den anderen Sträflingen. Später hörte ich, daß diese ganze Kategorie aufgehoben worden sei. Außerdem ist in unserer Festung auch die Zivilabteilung abgeschafft und eine gemeinsame militärische Arrestantenkompagnie eingeführt worden. Selbstverständlich wechselte mit diesen Veränderungen auch die Obrigkeit. Also beschreibe ich Geschehnisse der alten Zeit, längst vergangene und vergessene Dinge.
Es liegt schon weit zurück, und ich sehe jetzt alles wie im Traume. Ich erinnere mich noch, wie ich das Zuchthaus zum erstenmal betrat. Es war an einem Januarabend. Es dunkelte schon, die Leute kamen von der Arbeit zurück und bereiteten sich auf die Kontrolle vor. Ein schnauzbärtiger Unteroffizier machte mir endlich die Tür zu dem seltsamen Haus auf, in dem es mir beschieden war, so viele Jahre zu bleiben, so viele Empfindungen zu kosten, von denen ich, ohne sie am eigenen Leibe erlebt zu haben, unmöglich einen Begriff hätte haben können. Ich hatte mir z.B. unmöglich vorstellen können, daß es so schrecklich und qualvoll ist, die ganzen zehn Jahre meines Zuchthauslebens keine einzige Minute allein bleiben zu können. Bei der Arbeit war ich stets mit Begleitmannschaften, in der Kaserne – mit zweihundert Genossen, aber kein einziges Mal, niemals allein! Das ist übrigens nicht das einzige, woran ich mich habe gewöhnen müssen! Es gab hier Mörder aus Zufall und berufsmäßige Mörder, Räuber und Räuberhauptleute. Es gab einfache Gauner und Vagabunden, Spezialisten für die verschiedensten Verbrechen. Es gab auch solche, von denen man schwer entscheiden konnte, weshalb sie hergeraten waren. Dabei hatte aber ein jeder seine Geschichte, verworren und schwer wie ein Katzenjammer nach vorhergehendem Rausche. Im allgemeinen sprachen sie über ihre Vergangenheit wenig, erzählten nicht gern und bemühten sich offenbar, an ihre Vergangenheit nicht zu denken. Ich kannte selbst unter den Mördern Leute, die so lustig waren und sich so wenig Gedanken machten, daß man wetten konnte, ihr Gewissen hätte sie noch niemals gemahnt. Es gab aber auch düstere, fast immer schweigsame Menschen. Von seinem Leben erzählte überhaupt fast niemand, und es war auch nicht üblich, sich dafür zu interessieren: Neugier war hier einfach nicht Mode. Es passierte höchstens einmal, daß einer, einfach um die Zeit totzuschlagen, etwas erzählte, und ein anderer ihm kaltblütig und düster zuhörte. Hier konnte niemand den anderen imponieren. »Wir sind erfahrene Menschen!« sagten sie oft mit einer eigentümlichen Selbstzufriedenheit. Ich erinnere mich, wie ein Räuber einmal im Rausche (es gab im Zuchthause wohl die Möglichkeit, sich zu betrinken) zu erzählen begann, wie er einen fünfjährigen Jungen ermordet hatte; er hatte ihn vorher mit einem Spielzeug an sich gelockt, dann in einen leeren Schuppen verschleppt und dort abgeschlachtet. Die ganze Kaserne, die bis dahin über seine Scherze gelacht hatte, schrie wie ein Mann auf, und der Räuber mußte verstummen; die Kaserne hatte nicht etwa aus Empörung geschrien, sondern nur, weil man »über solche Dinge« nicht reden durfte, weil es nicht Sitte war, »darüber« zu sprechen. Ich will bei dieser Gelegenheit bemerken, daß die Leute wirklich nicht ungelehrt waren, sogar im buchstäblichen und nicht nur übertragenen Sinne dieses Wortes. Sicher mehr als die Hälfte von ihnen verstand zu lesen und zu schreiben. An welchem anderen Ort, wo sich das russische Volk in großen Massen versammelt, könnte man darunter einen Haufen von zweihundertfünfzig Mann finden, von denen die Hälfte zu lesen verstünde? Später hörte ich, jemand hätte aus solchen Daten den Schluß gezogen, der Schulunterricht verderbe das Volk. Dies ist aber eine Täuschung: es sind hier ganz andere Gründe im Spiele, obwohl es sich nicht leugnen läßt, daß die Schulbildung im Volke Selbstvertrauen zeitigt. Aber das ist durchaus kein Fehler. – Alle Kategorien wurden nach der Kleidung unterschieden: bei den einen waren die Jacken zur Hälfte dunkelbraun und zur Hälfte grau, ebenso das eine Hosenbein grau und das andere dunkelbraun. Einmal bei der Arbeit betrachtete mich ein kleines Mädel, das den Arrestanten Semmeln feilbot, sehr lange und fing plötzlich zu lachen an. »Pfui, wie häßlich!« schrie sie auf: »Es hat weder graues, noch schwarzes Tuch gereicht!« Es gab auch solche, bei denen die ganze Jacke aus grauem Tuch war, aber mit dunkelbraunen Ärmeln. Auch die Köpfe wurden auf verschiedene Weise rasiert: bei den einen der Länge nach, bei den andern quer.
Auf den ersten Blick konnte man in dieser ganzen seltsamen Familie etwas auffallend Gemeinsames bemerken; selbst die ausgeprägtesten und originellsten Persönlichkeiten, die sich unwillkürlich von den anderen abhoben, gaben sich Mühe, aus dem allgemeinen Ton des ganzen Zuchthauses nicht herauszufallen. Ich will im allgemeinen sagen, daß alle diese Leute, mit Ausnahme weniger unverwüstlich heiterer Menschen, die infolgedessen allgemeine Verachtung genossen, ein mürrisches, neidisches, furchtbar ehrgeiziges, prahlerisches, empfindliches und auf die äußeren Formen versessenes Volk waren. Die Fähigkeit, über nichts zu staunen, galt hier als die höchste Tugend. Alle hatten hier die fixe Idee, äußerlich Haltung zu wahren. Aber auch der hochmütigste Ausdruck veränderte sich gar nicht selten mit der Schnelligkeit des Blitzes in den kleinmütigsten. Es waren auch einige wirklich starke Naturen dabei, diese gaben sich einfach und natürlich. Aber seltsam! Unter diesen wahrhaft starken Naturen waren einige im höchsten Grade, fast bis zur Krankheit, ruhmsüchtig. Ruhmsucht und jede Äußerlichkeit standen überhaupt auf dem ersten Plane. Die Mehrzahl war außerordentlich verdorben und demoralisiert. Es gab ständig Klatsch und Intrigen; es war eine wahre Hölle. Aber niemand wagte, gegen die inneren Sitten und Gebräuche des Zuchthauses aufzubegehren; alle fügten sich ihnen. Es gab auch scharf ausgeprägte Charaktere, die sich nur mit der größten Anstrengung fügen konnten, sich aber schließlich doch fügten. Es kamen Leute ins Zuchthaus, die es in der Freiheit schon zu toll getrieben und alle Schranken überschritten hatten, so daß sie auch ihre Verbrechen zuletzt gleichsam unbewußt, wie im Rausche verübten, oft aus einer bis zum höchsten Grade gesteigerten Ruhmsucht. Bei uns wurden sie aber sofort zurechtgewiesen, obwohl manche von ihnen vor ihrer Ankunft im Zuchthause der Schrecken ganzer Dörfer und Städte gewesen waren. Wenn so ein Neuling sich hier umsah, merkte er bald, daß dies nicht der richtige Ort zum Prahlen sei, daß er hier niemand imponieren könne; er demütigte sich allmählich und paßte sich dem allgemeinen Ton an. Dieser allgemeine Ton bestand äußerlich aus einem besondern, eigentümlichen Selbstbewußtsein, von dem fast jeder Bewohner des Zuchthauses durchdrungen war; als wäre die Stellung eines verurteilten Zuchthäuslers in der Tat ein Ehrenamt. Keine Spur von Scham und Reue! Es gab übrigens auch eine gewisse, sozusagen offizielle Demut, ein ruhiges Sichbescheiden: »Wir sind verlorene Menschen,« pflegten sie zu sagen, »wir haben nicht verstanden, in Freiheit zu leben und müssen jetzt daher Spießruten laufen.« – »Wir haben auf Vater und Mutter nicht gehört, müssen jetzt auf das Trommelfell hören.« – »Wir wollten nicht mit Gold sticken, müssen jetzt dafür Steine klopfen.« – Dies alles wurde oft als eine Art Moralpredigt, und auch als eine Redensart gesagt, aber niemals ernsthaft. Es waren nur Worte. Kaum einer der Arrestanten gestand sich seine Ruchlosigkeit innerlich ein. Hätte jemand von den Zuchthäuslern versucht, einem andern Arrestanten sein Verbrechen vorzuwerfen, ihn deswegen zu schelten (obwohl es übrigens dem russischen Geiste gar nicht entspräche, jemand sein Verbrechen vorzuwerfen), – so würde das Fluchen gar kein Ende nehmen. Was für Meister waren sie aber im Fluchen! Sie fluchten raffiniert, direkt künstlerisch. Das Fluchen war bei ihnen zu einer förmlichen Wissenschaft erhoben; man legte weniger Gewicht auf ein kränkendes Wort, als auf den kränkenden Sinn und Geist; so etwas wirkt aber immer raffinierter und giftiger. Die ewigen Streitigkeiten entwickelten diese Kunst noch mehr. Dieses ganze Volk arbeitete unter dem Stock, folglich war es im Grunde genommen müßig und demoralisiert; wenn einer nicht schon früher demoralisiert war, so wurde er es im Zuchthause. Alle waren ja nicht nach freiem Willen hergekommen; alle waren einander fremd.
»Der Teufel hat drei Paar Bastschuhe aufgebraucht, ehe er uns alle zusammengebracht hat!« pflegten sie zu sagen, und darum standen Klatsch, Intrigen, Verleumdungen, Neid, Zwietracht und Haß im Vordergrunde dieses Höllenlebens. Kein Weib war imstande so sehr Weib zu sein, wie es manche von diesen Mördern waren. Ich wiederhole, es gab unter ihnen auch starke Charaktere, die gewohnt waren, ihr Leben lang Gewalt zu üben und zu befehlen, abgehärtete und furchtlose Menschen. Solche achtete man unwillkürlich, und sie selbst, wie stolz sie auch auf ihren Ruf waren, gaben sich im allgemeinen Mühe, den anderen nicht zur Last zu fallen; sie ließen sich nie in leere Streitigkeiten ein, benahmen sich mit ungewöhnlicher Würde, waren vernünftig und fast immer der Obrigkeit gehorsam, – nicht aus Prinzip, nicht aus Pflichtgefühl, sondern gleichsam auf Grund eines Vertrags, in der Erkenntnis des gegenseitigen Vorteils. Sie wurden übrigens mit Vorsicht behandelt. Ich erinnere mich noch, wie ein solcher Arrestant, ein furchtloser und zu allem fähiger Mensch, dessen tierische Neigungen der Obrigkeit bekannt waren, wegen irgendeines Verbrechens bestraft werden sollte. Es war an einem Sommertag, während der arbeitsfreien Zeit. Der Stabsoffizier, der nächste und unmittelbare Vorgesetzte des Zuchthauses, kam persönlich auf die Hauptwache, die sich dicht am Tore befand, um der Exekution beizuwohnen. Dieser Major war für die Arrestanten ein seltsam fatales Wesen; er hatte sie so weit gebracht, daß sie vor ihm zitterten. Er war wahnsinnig streng und »stürzte sich über die Menschen«, wie die Zuchthäusler zu sagen pflegten. Am meisten fürchteten sie seinen durchdringenden Luchsblick, dem nichts entging. Er sah alles ohne hinzuschauen. Beim Betreten des Zuchthauses wußte er schon immer, was am anderen Ende desselben los war. Die Arrestanten nannten ihn den »Achtäugigen«. Sein System war aber falsch. Er erbitterte nur die schon ohnehin erbitterten Menschen durch seine rasenden, bösen Handlungen, und wenn er nicht den Kommandanten, einen edlen und verständigen Menschen, der seine wilden Ausbrüche zuweilen milderte, über sich hätte, so hätte er mit seinem Regiment viel Unheil angerichtet. Ich begreife nicht, wie ihm alles so glücklich hat ablaufen können; er hat den Dienst quittiert und ist noch frisch und gesund, obwohl er sich übrigens vor Gericht zu verantworten hatte.
Der Arrestant erbleichte, als man ihn rief. Gewöhnlich legte er sich schweigend und tapfer auf die Bank, empfing stumm die Rutenstrafe, erhob sich nach derselben wie aus dem Schlafe erwacht und betrachtete sein Mißgeschick kaltblütig und philosophisch. Man behandelte ihn übrigens immer vorsichtig. Aber diesmal hielt er sich aus irgendeinem Grunde für unschuldig. Er erbleichte und brachte es fertig, sich unbemerkt vom Wachsoldaten ein scharfes englisches Schuhmachermesser in den Ärmel zu stecken. Messer und alle scharfen Instrumente waren im Zuchthause strengstens verboten. Durchsuchungen fanden häufig und unerwartet statt, sie waren immer sehr gründlich und die Strafen grausam; da es aber immer schwer ist, bei einem Dieb etwas zu finden, was er verstecken will, und da die Messer und Instrumente im Zuchthause zu den notwendigsten Gegenständen gehörten, so waren sie trotz der Durchsuchungen nicht auszurotten. Und wenn man einem eins abnahm, so schaffte er sich bald ein neues an. Das ganze Zuchthaus stürzte sich zum Zaun und blickte mit stockendem Herzen durch die Pfähle. Alle wußten, daß Petrow sich diesmal der Rutenstrafe nicht unterziehen wollen würde und daß dem Major das Ende winke. Aber unser Major setzte sich im letzten Augenblick in den Wagen und fuhr davon, nachdem er den Vollzug der Exekution einem anderen Offizier übertragen hatte. »Gott selbst hat ihn gerettet!« sagten nachher die Arrestanten. Und was Petrow betrifft, so ließ er sich die Strafe mit der größten Ruhe gefallen. Seine Wut war mit der Abfahrt des Majors verpufft. Der Arrestant ist bis zu einem gewissen Grade gehorsam und gefügig, aber es gibt eine Grenze, die man niemals überschreiten darf. Es gibt übrigens nichts Interessanteres als solche seltsamen Ausbrüche von Trotz und Widersetzlichkeit. Ein Mensch läßt sich oft mehrere Jahre lang alles gefallen, er demütigt sich und erduldet die grausamsten Strafen, bricht aber plötzlich bei irgendeiner Kleinigkeit, einer Bagatelle, eines nichtigen Anlasses wegen los. Ich glaube, man kann ihn sogar für verrückt ansehen, und das tut man auch.
Wie ich schon sagte, habe ich im Laufe mehrerer Jahre unter allen diesen Menschen nicht das geringste Anzeichen von Reue, nicht den leisesten schweren Gedanken über das verübte Verbrechen wahrgenommen, und die Mehrzahl von ihnen hielt sich innerlich vollkommen im Recht. Das ist eine Tatsache. Natürlich sind Prahlsucht, schlechte Beispiele, falsche Scham in vielen Fällen die Ursache davon. Anderseits aber: wer darf sagen, daß er die Tiefe dieser verlorenen Herzen erforscht und in ihnen das vor der ganzen Welt Verborgene gelesen hätte? Man könnte jedoch immerhin im Laufe so vieler Jahre wenigstens etwas bemerken, in diesen Herzen wenigstens einen Zug wahrnehmen und entdecken, der von einem inneren Schmerz und Leiden zeugte. Aber das war nicht der Fall, ganz bestimmt nicht. Ja, es ist wohl unmöglich, ein Verbrechen von einem fertigen, gegebenen Standpunkte aus zu begreifen, und seine Philosophie ist wohl etwas schwieriger als man annimmt. Die Zuchthäuser und das System der Zwangsarbeit bessern die Verbrecher natürlich nicht; sie strafen sie nur und schützen die Gesellschaft vor ferneren Attentaten des Verbrechers auf ihre Sicherheit. Aber im Verbrecher selbst wecken das Zuchthaus und die schwerste Zwangsarbeit nur einen Haß, eine Gier nach verbotenen Genüssen und einen furchtbaren Leichtsinn. Doch ich bin fest überzeugt, daß auch mit dem berühmten Zellensystem nur ein falsches, trügerisches, äußerliches Ziel erreicht wird. Es saugt aus dem Menschen seine Lebenskräfte heraus, es enerviert seine Seele, es schwächt und erschreckt sie und stellt dann die ausgetrocknete Mumie, den Halbverrückten als ein Muster der Besserung und der Reue hin. Der Verbrecher, der sich gegen die Gesellschaft erhoben hat, haßt sie natürlich und hält sich fast immer für unschuldig, sie aber für schuldig. Zudem hat er von ihr schon eine Strafe empfangen und sieht sich aus diesem Grunde für geläutert und quitt an. Man kann die Sache schließlich auch von solchen Gesichtspunkten ansehen, daß man den Verbrecher selbst beinahe rechtfertigen müßte. Aber trotz der verschiedenen Gesichtspunkte wird jeder zugeben, daß es solche Verbrechen gibt, die immer und überall, nach allen bestehenden Gesetzen seit der Erschaffung der Welt als zweifellose Verbrechen galten und als solche gelten werden, solange der Mensch ein Mensch bleibt. Nur im Zuchthause hörte ich Berichte über die schrecklichsten, widernatürlichsten Handlungen, über die ungeheuerlichsten Morde, die man mit dem unbefangensten, kindlich heitersten Lachen wiedergab. Besonders will mir ein Vatermörder nicht aus dem Sinn. Er war adliger Abstammung, hatte gedient und war bei seinem sechzigjährigen Vater eine Art verlorener Sohn gewesen. Er hatte ein äußerst ausschweifendes Leben geführt und bis an den Hals in Schulden gesteckt. Der Vater versuchte ihn zu zügeln und zu ermahnen; aber der Vater besaß ein Haus und ein Gut, man vermutete bei ihm auch Bargeld, und der Sohn ermordete den Vater, um ihn zu beerben. Das Verbrechen war erst nach einem Monat aufgedeckt worden. Der Mörder selbst hatte bei der Polizei Anzeige erstattet, daß sein Vater spurlos verschwunden sei. Diesen ganzen Monat verlebte er auf die liederlichste Weise. Endlich fand die Polizei in seiner Abwesenheit die Leiche des Ermordeten. Auf seinem Hofe befand sich ein mit Brettern überdeckter Graben, der zum Abfluß der Fäkalien diente. Die Leiche lag in diesem Graben. Sie war bekleidet und gewaschen, der abgeschnittene ergraute Kopf war an den Rumpf angesetzt und ruhte auf einem Kissen. Der Mörder gestand nicht; er wurde der Adelsrechte und seiner Titel für verlustig erklärt und zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verbannt. Die ganze Zeit, in der ich mit ihm zusammen war, war er in der besten und heitersten Gemütsverfassung. Er war ein im höchsten Grade überspannter, leichtsinniger und unvernünftiger Mensch, aber gar nicht dumm. Ich konnte an ihm niemals irgendeine besondere Grausamkeit bemerken. Die Arrestanten verachteten ihn, aber nicht seines Verbrechens wegen, welches überhaupt niemals erwähnt wurde, sondern wegen seines dummen Gebarens und weil er sich nicht zu benehmen verstand. In den Gesprächen erwähnte er zuweilen seinen Vater. Als er mit mir einmal über die kräftige Konstitution, die in seiner Familie erblich sei, sprach, fügte er hinzu: »Auch mein Erzeuger hat sich bis zu seinem Tode nie über irgendeine Krankheit beklagt.« Eine solche tierische Gefühllosigkeit ist natürlich unmöglich. Sie ist ein Phänomen, und hier liegt irgendein organischer Fehler, irgendein körperlicher und sittlicher, der Wissenschaft noch unbekannter Defekt, aber kein gewöhnliches Verbrechen vor. Ich glaubte an dieses Verbrechen natürlich nicht; aber Leute aus seiner Stadt, die alle Einzelheiten seiner Geschichte kennen mußten, bestätigten mir die ganze Sache. Die Tatsachen waren so klar, daß es unmöglich war, daran nicht zu glauben.
Die Arrestanten hörten einmal nachts, wie er im Schlafe schrie: »Halt ihn, halt! Hau ihm den Kopf ab, den Kopf, den Kopf!...«
Fast alle Arrestanten sprachen und phantasierten im Schlafe. Am häufigsten kamen ihnen dabei Schimpfworte, Diebesausdrücke, Messer und Beile über die Lippen. »Wir sind ein geschlagenes Volk,« pflegten sie zusagen, »unser ganzes Inneres ist zerschlagen, darum schreien wir auch des Nachts.«
Die staatliche Zwangsarbeit war keine Beschäftigung, sondern eine Pflicht: der Arrestant erledigte die ihm aufgegebene Arbeit oder absolvierte die vorgeschriebenen Arbeitsstunden und kam wieder ins Zuchthaus. Die Arbeit betrachtete man mit Haß. Ohne seine eigene Privatbeschäftigung, der er mit ganzer Seele und allen seinen Gedanken ergeben war, hätte ein Mensch im Zuchthause überhaupt nicht leben können. Wie hätte auch dieses ganze verhältnismäßig zivilisierte Volk, das zügellos gelebt hatte und nach dem Leben lechzte, das gewaltsam von der Gesellschaft und vom normalen Leben losgerissen und hier zu einem Haufen zusammengeworfen war, sich normal und regelrecht, nach seinem Willen und seiner Lust einleben können! Schon infolge des Müßigganges allein müßten hier solche verbrecherische Neigungen zur Entwicklung kommen, von denen sie früher keine Ahnung hatten. Ohne Arbeit und ohne ein gesetzlich erlaubtes, normales Eigentum kann der Mensch nicht leben und sinkt zu einem Tier herab. Darum hatte ein jeder von den Zuchthäuslern infolge eines natürlichen Bedürfnisses und eines gewissen Selbsterhaltungstriebs sein eigenes Handwerk und seine eigene Beschäftigung. Der lange Sommertag war fast ganz mit Zwangsarbeit ausgefüllt, und in der kurzen Sommernacht konnte man kaum ausschlafen. Aber im Winter mußte der Arrestant nach den Vorschriften mit Einbruch der Dunkelheit im Zuchthause eingesperrt sein. Was sollte er nun in den langen, langweiligen Stunden des Winterabends treiben? Darum verwandelte sich fast jede Kaserne trotz des Verbotes in eine große Werkstätte. Arbeit und Beschäftigung an sich waren nicht verboten, streng verboten war aber der Besitz von Werkzeugen jeder Art, und ohne Werkzeuge war natürlich jede Arbeit unmöglich. Man arbeitete aber heimlich, und die Obrigkeit schien manchmal ein Auge zuzudrücken. Viele Arrestanten kamen ins Zuchthaus, ohne irgendwelche Kenntnisse, lernten aber von den andern und gingen später als tüchtige Handwerker in die Freiheit. Es gab hier Schuster, Schuhmacher, Schneider, Tischler, Schlosser, Graveure und Vergolder. Ein Jude, Issaj Bumstein, war Juwelier und zugleich Wucherer. Alle arbeiteten und verdienten ein paar Kopeken. Die Aufträge kamen aus der Stadt. Geld bedeutet doch geprägte Freiheit und hat darum für einen jeder Freiheit beraubten Menschen den zehnfachen Wert. Wenn nur einige Münzen in seiner Tasche klimpern, so ist er schon halb getröstet, selbst wenn er keine Möglichkeit hat, das Geld auszugeben. Geld kann man aber immer und überall ausgeben, um so mehr, als die verbotene Frucht doppelt so süß ist. Im Zuchthause konnte man sich auch Branntwein verschaffen. Pfeifen waren strengstens verboten, und doch rauchten alle. Das Geld und der Tabak schützten vor Skorbut und anderen Krankheiten. Die Arbeit schützte aber vor Verbrechen: ohne Arbeit würden die Arrestanten einander aufgefressen haben wie in einem Glase eingeschlossene Spinnen. Trotzdem war aber die Arbeit wie auch der Besitz von Geld verboten. Oft wurden in der Nacht plötzliche Durchsuchungen vorgenommen, wobei man alles Verbotene konfiszierte; wie sorgfältig die Arrestanten das Geld auch verwahrten, es fiel doch oft den Schergen in die Hände. Das ist zum Teil der Grund dafür, daß man das Geld nicht sparte, sondern schnell vertrank; darum gab es auch im Zuchthause Branntwein. Nach jeder Durchsuchung verlor der Schuldige nicht nur seinen ganzen Besitz, sondern wurde gewöhnlich auch empfindlich bestraft. Aber nach jeder Durchsuchung wurden die Mängel wieder ersetzt, sofort neue Sachen angeschafft, und alles war wieder beim alten. Die Obrigkeit wußte es wohl, und die Sträflinge murrten auch nicht über die Strafen, obwohl dieses Leben dem von Ansiedlern auf dem Vesuv glich.
Wer kein Handwerk verstand, trieb andere Geschäfte. Es gab recht originelle Gewerbsarten. Manche lebten z.B. vom Zwischenhandel allein, wobei zuweilen solche Gegenstände zum Verkauf kamen, die außerhalb des Zuchthauses kaum jemand gekauft oder verkauft oder überhaupt für Gegenstände gehalten hätte. Aber die Zuchthausbevölkerung war sehr arm und außerordentlich betriebsam. Der letzte Lumpen hatte seinen Wert und fand irgendeine Verwendung. Infolge dieser Armut hatte das Geld im Zuchthause einen ganz anderen Wert als in der Freiheit. Eine große und komplizierte Arbeit wurde mit wenigen Kupfermünzen bezahlt. Viele betrieben mit Erfolg Wucher. Ein Arrestant, der sich ruiniert hatte, brachte seine letzten Sachen dem Wucherer und bekam von ihm einige Kupfermünzen gegen ungeheure Zinsen. Wenn er die Sachen zum Termin nicht einlöste, so wurden sie unverzüglich und unbarmherzig verkauft; der Wucher stand in solcher Blüte, daß selbst staatliches Eigentum als Pfand angenommen wurde, wie die dem Zuchthause gehörenden Wäschestücke, Stiefel und ähnliche Gegenstände, die der Arrestant jeden Augenblick brauchte. Aber bei solchen Pfändern nahm die Sache manchmal eine andere, übrigens nicht ganz unerwartete Wendung: der Arrestant, der etwas von diesen Sachen versetzt und dafür Geld bekommen hatte, ging unverzüglich ohne weiteres zum ältesten Unteroffizier, dem nächsten Vorgesetzten im Zuchthause und meldete von der Verpfändung des Staatseigentums, welches dem Wucherer sofort, selbst ohne Meldung an die höhere Behörde, abgenommen wurde. Es ist bezeichnend, daß sich so etwas zuweilen ohne jeden Streit abspielte: der Wucherer gab die Sachen schweigend mit mürrischer Miene heraus und schien diese Wendung sogar erwartet zu haben. Vielleicht mußte er sich eingestehen, daß er an Stelle des Verpfänders ebenso gehandelt hätte. Wenn er daher zuweilen nachträglich schimpfte, so tat er es ohne jede Bosheit, sondern eher um einer Pflicht zu genügen.
Im allgemeinen bestahl man hier einander entsetzlich. Fast jeder besaß seinen Kasten mit einem Schloß zur Verwahrung der ihm von der Verwaltung gelieferten Sachen. Das war gestattet, aber die Koffer boten keinen Schutz. Man kann sich wohl denken, was es für geschickte Diebe im Zuchthause gab. Mir stahl einmal ein Arrestant, ein mir aufrichtig ergebener Mensch (ich sage das ohne Übertreibung), meine Bibel, das einzige Buch, das man im Zuchthause besitzen durfte; er selbst gestand es mir am gleichen Tage, doch nicht aus Reue, sondern aus Mitleid mit mir, weil ich sie lange suchte. Es gab auch Schenkwirte, die mit Branntwein handelten und sich schnell bereicherten. Über diesen Handelszweig will ich später ausführlicher sprechen: er ist recht bemerkenswert. Es gab im Zuchthaus viele ehemalige Schmuggler, und es ist darum nicht zu verwundern, daß trotz aller Durchsuchungen und der strengen Bewachung ins Zuchthaus Branntwein eingeschmuggelt wurde. Der Schmuggel ist übrigens seinem Charakter nach ein ganz eigentümliches Verbrechen. Wird man mir z. B. glauben wollen, daß das Geld und der Gewinn beim Schmuggler zuweilen eine untergeordnete Rolle spielen und erst in zweiter Linie in Betracht kommen? Und doch ist es manchmal so. Der Schmuggler arbeitet aus Leidenschaft, aus Beruf. Er ist zum Teil Dichter. Er riskiert alles, setzt sich furchtbaren Gefahren aus, wendet List an, ist erfinderisch und zieht sich oft aus der Schlinge; manchmal handelt er aus einer Art Intuition. Diese Leidenschaft ist ebenso stark wie die des Kartenspiels. Ich kannte im Zuchthaus einen Arrestanten, einen riesenhaften Kerl, der so sanft, still und bescheiden war, daß man sich gar nicht vorstellen konnte, wie er ins Zuchthaus geraten sein mochte. Er war dermaßen gutmütig und verträglich, daß er während seines ganzen Aufenthaltes im Zuchthaus keinen einzigen Streit gehabt hat. Er stammte aber von der westlichen Grenze des Reichs, war wegen Schmuggels ins Zuchthaus geraten und konnte sich natürlich auch hier nicht beherrschen und verlegte sich auf den Branntweinschmuggel. Wie oft wurde er deswegen bestraft und wie sehr fürchtete er die Ruten! Der Branntweinschmuggel brachte ihm übrigens sehr wenig ein. Am Branntwein bereicherte sich nur der Ausschankbesitzer. Der Kauz liebte die Kunst um der Kunst willen. Er war wie ein Weib zum Weinen aufgelegt und schwor nach jeder Bestrafung, nicht wieder Schmuggel zu treiben. Mit großem Mut beherrschte er sich zuweilen einen ganzen Monat lang, hielt es aber dann doch nicht aus... Dank solchen Leuten ging der Branntwein im Zuchthause nie aus...
Es gab schließlich noch eine Einkunftsquelle, die die Sträflinge zwar nicht bereicherte, ihnen aber ständige und wohltätige Einnahmen sicherte: das Almosen. Unsere höheren Gesellschaftsschichten haben gar keine Vorstellung davon, wie sehr die Kaufleute, die Kleinbürger und unser ganzes Volk um die »Unglücklichen« sorgen. Die milden Gaben laufen fast ununterbrochen ein, meistens in Form von Brot, Semmeln und Brezeln und sehr viel seltener in barem Gelde. Ohne diese Gaben hätten es die Arrestanten, besonders die unter Anklage stehenden, die viel strenger als die anderen gehalten werden, an vielen Orten allzu schwer. Die milden Gaben werden von den Arrestanten mit religiöser Gewissenhaftigkeit zu gleichen Teilen geteilt. Wenn es nicht für alle langte, so wurden die Semmeln in gleiche Teile geschnitten, manchmal sogar jede in sechs Teile, und jeder Arrestant bekam unbedingt sein Stück. Ich erinnere mich noch, wie ich zum erstenmal eine Geldgabe erhielt. Es war bald nach meiner Ankunft im Zuchthause. Ich kehrte allein mit dem Wachsoldaten von der Morgenarbeit zurück. Mir entgegen kamen eine Mutter mit einer Tochter, einer zehnjährigen Kleinen, so hübsch wie ein Engelchen. Ich hatte die beiden schon einmal gesehen. Die Mutter war eine Soldatenwitwe. Ihr Mann, ein junger Soldat, war vors Gericht gekommen und im Hospital, im Arrestantensaale, in der gleichen Zeit gestorben, als ich dort krank lag. Die Frau und die Tochter waren hingekommen, um von der Leiche Abschied zu nehmen, und hatten beide furchtbar geweint. Als die Kleine mich nun erblickte, errötete sie und flüsterte der Mutter etwas zu; jene blieb sofort stehen, knüpfte ihr Taschentuch auf, entnahm eine Viertelkopeke und gab sie der Kleinen. Diese lief mir nach... – »Da, Unglücklicher, nimm um Christi willen die Kopeke!« schrie sie, mich einholend und mir die Münze in die Hand drückend. Ich nahm die Münze, und das Kind kehrte vollkommen befriedigt zur Mutter zurück. Diese Viertelkopeke habe ich noch lange aufbewahrt.
Der erste Monat und überhaupt der Anfang meines Zuchthauslebens stehen mir lebhaft in Erinnerung. Die folgenden Tage meines Zuchthauslebens schweben in meiner Erinnerung nicht so deutlich. Manche Tage sind gleichsam gänzlich verwischt und zusammengeflossen und haben nur einen einzigen Eindruck hinterlassen: einen schweren, eintönigen, erstickenden.
Aber alles, was ich in den ersten Tagen meines Zuchthauslebens durchgemacht habe, erscheint mir jetzt so, als wäre es erst gestern geschehen. Und so muß es wohl auch sein.
Ich besinne mich deutlich, wie ich gleich beim ersten Schritt auf diesem Wege darüber staunte, daß ich darin gar nichts besonders Erstaunliches, Ungewöhnliches oder, genauer gesagt, Unerwartetes fand. Alles hatte mir gleichsam schon früher vorgeschwebt, als ich auf dem Wege nach Sibirien mich bemühte, das mir vorstehende Los zu erraten. Bald stieß ich aber bei jedem Schritt auf eine Menge der seltsamsten und unerwartetsten Dinge, auf eine Menge ungeheuerlicher Tatsachen. Erst viel später, als ich eine recht lange Zeit im Zuchthaus verbracht hatte, erfaßte ich vollkommen die ganze Ausschließlichkeit, die Eigenart dieser Existenz und mußte über sie immer mehr und mehr staunen. Ich gestehe, daß dieses Erstaunen mich während der ganzen langen Frist meiner Strafe begleitete; ich konnte mich mit ihm niemals ganz abfinden.
Mein erster Eindruck beim Eintritt ins Zuchthaus war im allgemeinen der denkbar abstoßendste; aber trotzdem erschien mir das Leben im Zuchthause seltsamerweise viel leichter, als ich es mir unterwegs vorgestellt hatte. Die Arrestanten bewegten sich, wenn auch in Ketten, frei im ganzen Zuchthause, sie fluchten, sangen Lieder, arbeiteten für sich, rauchten Pfeifen und tranken sogar (allerdings nur wenige von ihnen) Branntwein; nachts spielten sie aber Karten. Die Arbeit selbst erschien mir beispielsweise gar nicht so schwer, wie ich es von der berühmten »sibirischen Zwangsarbeit« erwartete, und ich kam erst recht spät dahinter, daß die Schwere dieser Arbeit weniger in ihrer Schwierigkeit und ihrer ununterbrochenen Dauer bestand, als darin, daß sie erzwungen, obligatorisch, unter dem Stocke war. Der freie Bauer arbeitet vielleicht unvergleichlich mehr, er arbeitet zuweilen auch nachts, besonders im Sommer; aber er arbeitet für sich, arbeitet mit einem vernünftigen Ziel und hat es infolgedessen unvergleichlich leichter als der Zuchthäusler mit seiner erzwungenen und für ihn vollkommen zwecklosen Arbeit. Mir kam einmal dieser Gedanke: wenn man einen Menschen vollkommen erdrücken und vernichten, einer so entsetzlichen Strafe unterziehen will, daß vor ihr selbst der grausamste Mörder erbebte und sie schon im voraus fürchtete, so braucht man nur seiner Arbeit den Charakter vollkommener Zwecklosigkeit und Sinnlosigkeit zu verleihen. Wenn die jetzige Zwangsarbeit für den Zuchthäusler auch uninteressant und langweilig ist, so ist sie doch an sich, als Arbeit vernünftig: der Arrestant stellt Ziegelsteine her, gräbt Erde um, baut und mauert; in dieser Arbeit liegt ein Sinn und ein Zweck. Aber wenn man ihn z.B. zwingen wollte, Wasser aus einem Kübel in einen anderen zu gießen und dann wieder in den ersten zurückzugießen, oder Sand zu stoßen, oder einen Haufen Erde von einem Ort an den anderen zu schleppen und dann wieder zurückzuschleppen, so würde sich der Arrestant, glaube ich, schon nach einigen Tagen erhängen oder tausend Verbrechen begehen, um sich wenigstens durch den Tod von dieser Erniedrigung, Schmach und Qual zu befreien. Eine solche Strafe würde natürlich zu einer Tortur, zu einem Racheakt werden und wäre sinnlos, weil dadurch kein vernünftiges Ziel erreicht wäre. Da aber eine solche Tortur, Sinnlosigkeit, Erniedrigung und Schmach zum Teil unbedingt auch in jeder erzwungenen Arbeit liegt, so ist die Zwangsarbeit unvergleichlich qualvoller als jede freie Arbeit, eben deshalb, weil sie eine erzwungene ist.
Ich trat übrigens ins Zuchthaus im Winter, im Dezember, ein und hatte zunächst keine Ahnung von der fünfmal schwereren Sommerarbeit. Im Winter gab es in unserer Festung überhaupt wenig ärarische Arbeit. Die Arrestanten gingen zum Irtyschufer, um alte, dem Staate gehörende Barken abzubrechen, arbeiteten in den Werkstätten, schaufelten vor den Amtsgebäuden den Schnee, den die Stürme anwehten, brannten und stießen Alabaster usw. Ein Wintertag war kurz; die Arbeit war schnell erledigt, und alle unsere Leute kehrten früh ins Zuchthaus zurück, wo fast nichts zu tun wäre, wenn sie nicht irgendwelche eigene Arbeit hätten. Mit eigener Arbeit befaßte sich aber vielleicht nur ein Drittel aller Arrestanten; die übrigen taten aber nichts, trieben sich ohne jedes Ziel in allen Kasernen des Zuchthauses herum, fluchten, intrigierten, machten Radau und betranken sich, wenn sie zufällig Geld hatten; nachts verspielten sie beim Kartenspiel das letzte Hemd; alles aus Langeweile, Müßiggang und Nichtstun. In der Folge begriff ich, daß das Zuchthausleben außer der Freiheitsberaubung und der erzwungenen Arbeit noch eine andere Qual enthielt, die vielleicht noch unerträglicher war als alle anderen. Das ist das erzwungene allgemeine Zusammenleben. Solch ein Zusammenleben gibt es natürlich auch an anderen Orten, aber ins Zuchthaus kommen doch solche Leute, daß nicht jedermann Lust hat, mit ihnen zusammenzuleben, und ich bin überzeugt, daß jeder Zuchthäusler diese Qual empfand, wenn auch natürlich in den meisten Fällen unbewußt.
Die Verpflegung erschien mir ziemlich reichlich. Die Arrestanten behaupteten, daß es in den Strafkompagnien im Europäischen Rußland kein solches Essen gäbe. Darüber vermag ich nicht zu urteilen, denn ich bin dort nicht gewesen. Außerdem hatten viele die Möglichkeit, sich selbst zu verpflegen. Fleisch kostete bei uns eine halbe Kopeke das Pfund, im Sommer drei Kopeken. Eigenes Essen hatten aber nur die, die ständig über Geld verfügten; die meisten Zuchthäusler aßen Kommiß. Wenn die Arrestanten ihr Essen lobten, sprachen sie übrigens nur vom Brot allein und segneten die Einrichtung, daß das Brot allen gemeinsam und nicht jedem einzelnen nach Gewicht ausgegeben wurde. Vor dem letzteren System hatten sie ein Grauen, denn bei der Brotausgabe nach Gewicht blieb ein Drittel der Menschen hungrig, während bei der Selbstverteilung alle satt wurden. Unser Brot war besonders schmackhaft und wurde deswegen in der ganzen Stadt geschätzt. Man schrieb dies der guten Einrichtung der Backofen im Zuchthause zu. Die Kohlsuppe war aber gar nicht berühmt. Sie wurde in einem gemeinsamen Kessel gekocht und mit Graupen versetzt und war, besonders an Wochentagen, dünn und mager. Mich erschreckte an ihr die große Menge der in ihr schwimmenden Schabenkäfer. Die Arrestanten schenkten aber dem nicht die geringste Beachtung.
In den ersten drei Tagen ging ich noch nicht zur Arbeit; so verfuhr man mit jedem Neuankömmling, damit er nach der Reise ausruhe. Aber am zweiten Tage mußte ich das Zuchthaus verlassen, um neue Fesseln angelegt zu bekommen. Meine Fesseln waren nicht die vorschriftsmäßigen, sondern bestanden aus Ringen; die Arrestanten nannten sie »feines Geläute«. Sie wurden außen über den Kleidern getragen. Aber die vorschriftsmäßigen, für die Arbeit geeigneten Fesseln bestanden nicht aus Ringen, sondern aus vier eisernen, fast fingerdicken Stangen, die miteinander durch drei Ringe verbunden waren. Sie wurden unter den Beinkleidern getragen. An den Mittelring wurde ein Riemen gebunden, der seinerseits an den Gürtelriemen befestigt wurde, den man direkt über dem Hemde trug.
Ich erinnere mich noch an meinen ersten Morgen im Zuchthause. In der Wache am Zuchthaustore schlug die Trommel Reveille, und der wachhabende Unteroffizier fing nach etwa zehn Minuten an, die Kasernen aufzuschließen. Die Arrestanten erwachten. Sie standen beim trüben Scheine eines Talglichtes, vor Kälte zitternd, von ihren Pritschen auf. Die meisten waren schweigsam und mürrisch vom Schlaf. Sie gähnten, reckten sich und runzelten ihre gebrandmarkten Stirnen. Die einen bekreuzigten sich, andere begannen Streit. Die Luft war entsetzlich stickig. Sobald die Türe aufgemacht wurde, drang frische Winterluft ein und zog mit Dampfwolken durch die Kaserne. Die Arrestanten drängten sich um die Wassereimer; sie ergriffen einer nach dem anderen die Schöpfkelle, nahmen den Mund voll Wasser und wuschen sich Gesicht und Hände aus dem Munde. Das Wasser wurde schon am vorhergehenden Abend vom »Paraschnik« vorbereitet. In jeder Kaserne gab es nach dem Statut einen von allen Insassen gewählten Arrestanten, der den Stubendienst in der Kaserne hatte. Er hieß »Paraschnik« und war von anderer Arbeit befreit. Er hatte auf die Reinlichkeit in der Kaserne zu sehen, die Pritschen und die Fußböden zu waschen und zu scheuern, den Nachtkübel zu bringen und hinauszuschaffen und zwei Eimer frisches Wasser zu besorgen: des Morgens zum Waschen und am Tage zum Trinken. Wegen der Schöpfkelle, die in nur einem Stück vorhanden war, entstand sofort Streit.
»Was drängst du dich vor, du aussätziger Kopf!« brummte ein mürrischer, hagerer, großgewachsener Arrestant mit dunklem Gesicht und seltsamen Beulen auf seinem rasierten Schädel, indem er einen andern wegstieß, der dick und klein war und ein lustiges rotes Gesicht hatte. »Halt!«
»Was schreist du! Für das >Halt< zahlt man bei uns Geld. Scher dich! Was reckst du dich wie ein Monument! Es ist nicht die geringste Fortikularität in ihm, Brüder.«
Die »Fortikularität« machte einigen Effekt: viele begannen zu lachen. Der lustige Dicke, der in der Kaserne wohl eine Art freiwilliger Hanswurst war, hatte nur das gewollt. Der lange Arrestant sah ihn mit tiefster Verachtung an.
»Rindvieh!« sagte er wie vor sich hin. »Wie er sich mit dem Zuchthausbrot gemästet hat. Ist wohl froh, daß er zu Ostern zwölf Ferkel werfen wird.«
Der Dicke wurde endlich böse.
»Was bist du denn für ein Vogel?« rief er aus, plötzlich errötend.
»Das ist es eben: ein Vogel!«
»Was für einer?«
»So einer.«
»Ja, was für einer?«
»Mit einem Worte, ein Vogel.«
»Aber was für einer?«
Die beiden durchbohrten einander mit den Blicken. Der Dicke wartete auf Antwort und ballte die Fäuste, als wollte er sofort raufen. Ich dachte, daß gleich wirklich eine Schlägerei beginnen würde. Für mich war das alles neu, und ich sah interessiert zu. Später erfuhr ich, daß ähnliche Auftritte durchaus harmlos waren und mehr als Komödie zum allgemeinen Ergötzen gespielt wurden; zu einer Schlägerei kam es fast nie. Dies alles war für die Sitten des Zuchthauses sehr bezeichnend und charakteristisch.
Der lange Arrestant stand ruhig und majestätisch da. Er fühlte, daß alle ihn ansahen und warteten, ob er sich mit seiner Antwort blamieren würde oder nicht; daß er seine Haltung wahren und beweisen müsse, daß er tatsächlich ein Vogel sei, und zwar was für einer. Er schielte seinen Gegner mit unsagbarer Verachtung an und bemühte sich, um ihn noch mehr zu verletzen, ihn über die Schulter, von oben herab, anzublicken, als betrachtete er ein winziges Käferchen. Dann sagte er langsam und deutlich:
»Ein Enterich!..«
Das heißt, daß er Enterich sei. Eine laute Lachsalve belohnte die Findigkeit des Arrestanten.
»Du bist ein Schuft und kein Enterich!« brüllte der Dicke, da er sich in allen Punkten geschlagen fühlte und die äußerste Grenze der Wut erreicht hatte.
Kaum hatte aber der Streit eine ernste Wendung angenommen, als man die beiden Kerle sofort zur Vernunft brachte.
»Was macht ihr für Skandal!« schrie ihnen die ganze Kaserne zu.
»Rauft doch lieber statt zu schreien!« rief jemand aus der Ecke.
»Ja, wart', sie werden schon raufen!« erklang es als Antwort. »Wir haben ja lauter tapfere, rauflustige Jungen hier: ihrer sieben haben keine Furcht vor einem...«
»Alle beide sind nett!... Der eine ist wegen eines Pfundes Brot ins Zuchthaus gekommen, der andere aber hat aus der Schüssel genascht, hat einem Weibe die ganze Sauermilch ausgesoffen und dafür die Knute gekostet.«
»Hört doch auf, genug!« schrie der Invalide, der über die Ordnung in der Kaserne zu wachen hatte und auf einem eigenen Bett in der Ecke schlief.
»Wasser her, Kinder! Newalid Petrowitsch ist erwacht! Wasser für Newalid Petrowitsch, unsern teuren Bruder!«
»Bruder... Was bin ich dir für ein Bruder? Wir haben zusammen noch keinen Rubel vertrunken, und du nennst mich Bruder!« brummte der Invalide, den Mantel über die Arme ziehend.
Man bereitete sich zum Appell vor; der Morgen dämmerte; in der Küche gab es ein solches Gedränge, daß man nicht herein konnte. Die Arrestanten drängten sich in ihren Halbpelzen und zweifarbigen Mützen um die Brote, die von einem der Köche verteilt wurden. Die Köche wurden von der ganzen Gemeinschaft gewählt, je zwei für jede Küche. Sie hatten auch das Küchenmesser zum Schneiden von Brot und Fleisch in Verwahrung, ein einziges Messer für die ganze Küche.
In allen Ecken um die Tische herum verteilten sich die Arrestanten in Mützen, Halbpelzen und Gürteln, bereit, zur Arbeit zu gehen. Vor manchen standen hölzerne Schalen mit Kwas. Sie brockten in den Kwas Brot und tranken das Gemisch. Der Lärm und das Geschrei waren unerträglich; einige unterhielten sich aber vernünftig und leise in den Ecken.
»Willkommen, Alterchen Antonytsch, guten Appetit!« sprach ein junger Arrestant, sich neben einen mürrischen, zahnlosen Arrestanten setzend.
»Guten Morgen, wenn du es ernst meinst,« erwiderte jener, ohne die Augen zu heben, bemüht, das Brot mit seinen zahnlosen Kiefern zu zerkauen.
»Ich hatte schon geglaubt, daß du gestorben seist, Antonytsch. Wahrhaftig!«
»Nein, stirb du zuerst, ich komme nach...«
Ich setzte mich neben sie. Rechts von mir unterhielten sich zwei solide Arrestanten, offenbar bemüht, ihre Würde vor einander zu wahren.
»Mir wird man nichts stehlen,« sagte der eine. »Ich fürchte, Bruder, ich selbst könnte einen anderen bestehlen.«
»Aber auch mich soll man nicht mit bloßer Hand anfassen: man kann sich an mir leicht verbrennen.«
»Wer wird sich an dir verbrennen? Bist der gleiche sibirische Bauer wie ich... sie wird dich schröpfen und dir nicht mal guten Tag sagen. So ist auch mein Geld flöten gegangen. Neulich kam sie selbst. Wohin sollte ich mit ihr? Ich bat Fedjka, den Henker, um Unterkunft: der hat in der Vorstadt ein Haus gehabt, dem räudigen Juden Salomon hatte er es abgekauft, demselben, der sich später erhängt hat.«
»Ich weiß schon. Er hat bei uns vor drei Jahren einen Ausschank gehabt, Grischka die >finstere Schenke< hat er geheißen. Ich kenne ihn.«
»Nein, du kennst ihn nicht; es war eine andere finstere Schenke.«
»Wieso, eine andere! Du weißt wohl viel! Ich kann dir genug Zeugen bringen...«
»Zeugen willst du mir bringen! Wer bist du denn?«
»Wer ich bin? Gar oft habe ich dich geprügelt, prahle aber damit nicht, und du fragst mich noch, wer ich bin!«
»Du hast mich geprügelt! Einer, der mich prügeln wird, ist noch nicht geboren, und wer mich geprügelt hat, der liegt tief in der Erde.«
»Ach, du Aussatz von Bendery!«
»Die sibirische Pest soll dich treffen!«
»Ein türkischer Säbel soll mit dir reden!...«
Und das Fluchen ging los.
»Na, na, na! Da machen sie schon Radau!« schrie man ringsum. »Sie haben nicht verstanden, in der Freiheit zu leben, nun sind sie froh, daß sie hier das Zuchthausbrot fressen können...«
Man bringt sie sofort zur Ruhe. Das Fluchen und »Zungendreschen« ist gestattet. Es ist ja eine Art Zerstreuung für alle. Aber Schlägereien werden nicht immer erlaubt, nur in den ausschließlichsten Fällen geraten sich die Gegner in die Haare. Eine Schlägerei wird dem Major gemeldet; es beginnt eine Untersuchung, der Major selbst kommt gefahren, mit einem Wort, allen drohen Unannehmlichkeiten; darum wird eine Schlägerei nicht zugelassen. Auch die Gegner selbst schimpfen mehr zur Unterhaltung, zur Übung im Stil. Oft betrügen sie sich selbst: sie beginnen mit furchtbarer Wut, man glaubt, daß sie sich gleich aufeinander stürzen werden; aber keine Spur: wenn sie einen gewissen Punkt erreicht haben, gehen sie auseinander. Dies alles setzte mich anfangs in Erstaunen. Ich habe soeben ansichtlich ein Beispiel der gewöhnlichsten Zuchthausunterhaltung angeführt. Ich konnte mir anfangs nicht vorstellen, wie man bloß zum Vergnügen fluchen und darin einen Zeitvertreib, eine angenehme Übung sehen kann. Übrigens ist auch die Ruhmsucht nicht außer acht zu lassen. Ein Künstler im Fluchen genoß immer allgemeine Achtung. Nur daß man ihm nicht applaudierte wie einem Schauspieler.
Schon am Vorabend hatte ich bemerkt, daß man mich scheel ansah.
Ich fing einige düstere Blicke auf. Andere Arrestanten suchten dagegen in meiner Nähe zu bleiben, da sie bei mir Geld vermuteten. Sie begannen sich sofort bei mir einzuschmeicheln: sie unterwiesen mich, wie man die neuen Fesseln trägt; sie verschafften mir, natürlich für Geld, einen Kasten mit einem Schloß zur Verwahrung der mir bereits gelieferten Kommißsachen und meiner Privatwäsche, die ich ins Zuchthaus mitgebracht hatte. Schon am nächsten Tage stahlen sie mir den Kasten und vertranken ihn. Einer der Diebe war mir später außerordentlich ergeben, obwohl er nicht aufhörte, mich bei jeder passenden Gelegenheit zu bestehlen. Er machte es ohne Bedenken, fast unbewußt, gleichsam aus Pflicht, und es war unmöglich, ihm zu zürnen.
Unter anderem brachten sie mir bei, daß man seinen eigenen Tee haben müsse und daß ich mir eine Teekanne anschaffen solle; vorläufig verschafften sie mir leihweise eine fremde und empfahlen mir einen Koch, von dem sie sagten, daß er mir für dreißig Kopeken im Monat beliebige Sachen kochen würde, wenn ich den Wunsch hätte, mich selbst zu beköstigen und mir eigene Lebensmittel zu kaufen... Selbstverständlich liehen sie von mir Geld, und ein jeder von ihnen kam an diesem ersten Tage an die dreimal zu mir, um mich um Geld zu bitten.
Ehemalige Adlige werden im Zuchthause überhaupt scheel und wenig wohlwollend angesehen.
Obwohl sie aller ihrer Standesrechte beraubt und den anderen Arrestanten vollkommen gleichgestellt sind, werden sie von diesen niemals als ihre Genossen angesehen. Das entspringt nicht einmal einem bewußten Vorurteil, sondern geschieht aufrichtig und unbewußt. Sie hielten uns mit Überzeugung noch immer für Adlige, obwohl sie uns selbst gerne mit unserer Degradierung neckten.
»Nein, jetzt ist's genug, warte nur! Pjotr pflegte früher stolz durch Moskau zu fahren, und jetzt muß er Stricke drehen!« und ähnliche Liebenswürdigkeiten.
Sie sahen mit Befriedigung unseren Leiden zu, die wir vor ihnen zu verheimlichen suchten. Besonders viel hatten wir von ihnen in der ersten Zeit bei der Arbeit auszustehen, weil wir nicht so viel Kraft hatten wie sie und ihnen nur ungenügend helfen konnten. Es gibt nichts Schwereres, als das Vertrauen des Volkes (und besonders dieses Volkes) und seine Liebe zu erwerben.
Im Zuchthause befanden sich mehrere Arrestanten adliger Abstammung. Erstens an die fünf Polen. Von diesen werde ich später einmal besonders sprechen. Die Zuchthäusler konnten die Polen nicht ausstehen, sogar weniger als die Russen adliger Abstammung. Die Polen (ich spreche nur von den politischen Verbrechern) behandelten sie aber mit einer raffinierten, verletzenden Höflichkeit, waren äußerst verschlossen und konnten ihren Ekel vor den übrigen Arrestanten nicht verhehlen, diese aber sahen es wohl und zahlten es mit der gleichen Münze heim.
Ich mußte fast zwei Jahre im Zuchthause verbringen, bevor ich mir die Zuneigung einiger Zuchthäusler erwarb. Aber die Mehrzahl von ihnen gewann mich schließlich lieb und erkannte mich als einen »guten Menschen«.
Von russischen Adligen waren außer mir noch vier da. Einer von ihnen war ein gemeines und niederträchtiges, furchtbar verdorbenes Geschöpf, ein Spion und Anzeiger aus Beruf. Ich hatte über ihn schon vor meiner Ankunft im Zuchthause gehört und gleich am ersten Tage jeden Verkehr mit ihm abgebrochen. Der andere war der Vatermörder, von dem ich in diesen Aufzeichnungen schon gesprochen habe. Der dritte war Akim Akimytsch; selten habe ich einen solchen Sonderling, wie er es war, gesehen. Er hat sich meinem Gedächtnisse scharf eingeprägt. Er war groß, hager, schwachsinnig, furchtbar ungebildet, ein außergewöhnlicher Räsonneur und in allen Dingen peinlich genau wie ein Deutscher. Die Zuchthhäusler lachten über ihn, aber viele von ihnen fürchteten, sich mit ihm einzulassen wegen seines streitsüchtigen, empfindlichen und unberechenbaren Charakters. Er stellte sich gleich bei seinem Eintritt ins Zuchthaus auf einen vertrauten Fuß mit den übrigen Zuchthäuslern und schimpfte und raufte sogar mit ihnen. Seine Ehrlichkeit war phänomenal. Wenn er nur irgendeine Ungerechtigkeit bemerkte, so mischte er sich sofort in die Sache ein, selbst wenn sie ihn in keiner Weise anging. Naiv war er bis zur äußersten Grenze: wenn er z. B. mit den Arrestanten zankte, warf er ihnen zuweilen vor, daß sie Diebe seien, und ermahnte sie ernsthaft, nicht mehr zu stehlen. Er hatte als Fähnrich im Kaukasus gedient. Ich schloß mich ihm gleich am ersten Tage an, und er berichtete mir sofort seine ganze Geschichte. Er hatte seine Laufbahn im Kaukasus als Junker in einem Infanterieregiment begonnen, hatte lange gedient, war endlich zum Offizier befördert und als höchster Vorgesetzter nach einer kleinen Festung versetzt worden. Einer der »pazifizierten« Fürsten in der Nachbarschaft steckte ihm die Festung in Brand und machte auf sie einen nächtlichen Überfall, der ihm jedoch mißlang. Akim Akimytsch wandte nun eine List an und tat so, als wüßte er nicht, wer der Übeltäter gewesen sei. Man schrieb den Überfall den nicht pazifizierten Eingeborenen zu, Akim Akimytsch lud aber den Fürsten nach einem Monat in aller Freundschaft zu sich zu Gast. Jener kam, ohne etwas zu ahnen. Akim Akimytsch stellte nun seine Truppen in Reih und Glied auf, bezichtigte den Fürsten öffentlich des Verbrechens und hielt ihm vor, daß es eine Schande sei, Festungen in Brand zu stecken. Er erteilte ihm eine ausführliche Lektion, wie ein pazifizierter Fürst sich in Zukunft zu verhalten habe, und ließ ihn zum Schluß füsilieren, worüber er selbst unverzüglich einen genauen Bericht an die vorgesetzte Behörde erstattete. Deswegen kam er vors Gericht und wurde zum Tode verurteilt; das Urteil wurde gemildert, und so kam er als Sträfling zweiter Kategorie nach Sibirien zur Abbüßung einer zwölfjährigen Festungsstrafe. Er war sich vollkommen bewußt, daß er ungesetzlich gehandelt hatte; er sagte mir, daß er es schon vor der Füsilierung des Fürsten gewußt habe, auch daß ein Pazifizierter nur nach dem Gesetz verurteilt werden dürfe; obwohl er aber dies wußte, konnte er seine Schuld unmöglich richtig erfassen.
»Aber erlauben Sie! Er hat mir doch meine Festung in Brand gesteckt! Soll ich mich vielleicht bei ihm deswegen noch bedanken?« sagte er mir auf meine Einwände.
Die Arrestanten machten sich zwar über die Geistesschwäche Akim Akimytschs lustig, achteten ihn aber doch wegen seiner Genauigkeit und Geschicklichkeit.
Es gab kein Handwerk, das Akim Akimytsch nicht verstanden hätte. Er war Tischler, Schuster, Schuhmacher, Maler, Vergolder und Schlosser und hatte dies alles erst im Zuchthause gelernt. Er lernte alles ohne fremde Anleitung: wenn er die Arbeit nur einmal sah, so konnte er sie sofort machen. Er stellte auch allerlei Schachteln, Körbchen, Laternen und Spielsachen her, die er in der Stadt verkaufte. So verdiente er einiges Geld, das er sofort zur Vergrößerung seiner Wäschevorräte, zur Anschaffung eines weicheren Kissens oder einer zusammenlegbaren Matratze verwandte. Er war in der gleichen Kaserne mit mir untergebracht und hatte mir in den ersten Tagen meines Zuchthauslebens viele Dienste geleistet.
Wenn die Arrestanten aus dem Zuchthause zur Arbeit gingen, stellten sie sich vor dem Wachgebäude in zwei Reihen auf; vor und hinter ihnen standen die Wachsoldaten mit geladenen Gewehren. Es erschienen: der Ingenieur-Offizier, der Zugführer und mehrere Gemeine von der Ingenieurkompagnie, die die Arbeit zu beaufsichtigen hatten. Der Zugführer zählte die Arrestanten und kommandierte sie partieweise zu den notwendigen Arbeiten.
Ich kam mit anderen in die Ingenieurwerkstätte. Es war ein niederes steinernes Gebäude, das sich auf einem großen, mit Material jeder Art angefülltem Hofe befand. Hier gab es eine Schmiede, eine Schlosserei, eine Tischlerei, eine Malerwerkstätte usw. Akim Akimytsch arbeitete in der Malerwerkstätte: er kochte Firnis, mischte die Farben und strich Tische und andere Möbelstücke nußholzartig an.
Während ich auf das Umschmieden der Fesseln wartete, kam ich mit Akim Akimytsch ins Gespräch über meine ersten Eindrücke im Zuchthause.
»Jawohl, sie mögen die Adligen nicht,« bemerkte er, »besonders die politischen Verbrecher, sie könnten sie einfach auffressen, und das ist kein Wunder. Erstens sind wir andere Menschen, die ihnen gar nicht gleichen; zweitens waren sie vorher alle entweder Leibeigene oder Soldaten. Urteilen Sie nun selbst, ob sie Sie lieb gewinnen können! Das Leben ist hier schwer, das muß ich Ihnen sagen. In den Strafkompagnien im Europäischen Rußland ist es aber noch schwerer. Wir haben hier solche, die in den Kompagnien gewesen sind, und diese können unser Zuchthaus gar nicht genug loben, als wären sie aus der Hölle ins Paradies gekommen. Es ist nicht die Arbeit, was das Leben schwer macht. Es heißt, daß in der ersten Kategorie die Obrigkeit nicht ganz militärisch sei; jedenfalls benimmt sie sich anders als bei uns. Man sagt, daß ein Verbannter dort eine eigene Wirtschaft haben kann. Ich bin dort nicht gewesen, aber die Leute sagen es. Dort wird man weder rasiert, noch muß man eine Uniform tragen, obwohl es eigentlich gut ist, daß bei uns alle uniformiert und rasiert sind: so ist mehr Ordnung, und es ist auch angenehmer für das Auge. Aber ihnen gefällt das nicht. Schauen Sie doch selbst, was es für ein Gesindel ist! Der eine ist ein ehemaliger Kantonist, der andere ein Tscherkesse, der dritte ein Raskolnik, der vierte ein orthodoxer Bauer, der seine Familie und die lieben Kinderchen in der Heimat zurückgelassen hat; der fünfte ist ein Jud, der sechste ein Zigeuner, der siebente, – man weiß nicht was, und diese alle müssen sich hier miteinander einleben, sich einander anpassen, aus der gleichen Schüssel essen und auf der gleichen Pritsche schlafen. Man hat auch nicht die geringste Freiheit: einen übrigen Bissen kann man nur heimlich essen, jede Kopeke muß man in den Stiefeln verstecken, und man vergißt für keinen Augenblick, daß man im Zuchthause ist... So wird man, ob man will oder nicht, verrückt.«
Aber ich wußte es schon. Ich wollte mich besonders über unseren Major erkundigen. Akim Akimytsch verheimlichte nichts, und ich erinnere mich, daß der Eindruck nicht sehr angenehm war.
Aber es war mir beschieden, noch zwei Jahre unter seinem Kommando zu leben. Alles, was Akim Akimytsch mir über ihn erzählte, erwies sich als vollkommen wahr, nur mit dem Unterschied, daß der Eindruck der Wirklichkeit immer stärker ist als der eines einfachen Berichts. Er war ein schrecklicher Mensch, eben aus dem Grunde, weil er ein fast unbeschränkter Befehlshaber über zweihundert Seelen war. An sich war er nur ein unordentlicher und böser Mensch, sonst nichts. Die Arrestanten betrachtete er als seine natürlichen Feinde, und darin lag sein erster und größter Fehler. Er hatte tatsächlich einige Fähigkeiten, aber alles, sogar das Gute war in ihm zu einer Karrikatur geworden. Unbeherrscht und wütend überfiel er das Zuchthaus manchmal sogar nachts, und wenn er merkte, daß ein Arrestant auf der linken Seite oder auf dem Rücken schlief, so bestrafte er ihn gleich am nächsten Morgen: »Schlaf auf der rechten Seite, wie ich es dir befohlen habe!« Im Zuchthause haßte und fürchtete man ihn wie die Pest. Sein Gesicht war blaurot und böse. Alle wußten, daß er sich ganz in den Händen seines Burschen Fedjka befand. Über alles liebte er aber seinen Pudel Tresorka und kam fast von Sinnen, als dieser Hund erkrankte. Man erzählte sich, er hätte über ihn wie über einen leiblichen Sohn geweint; er hätte einen Tierarzt hinausgeworfen und seiner Gewohnheit gemäß fast verprügelt, als er von Fedjka erfahren habe, daß es im Zuchthause einen Arrestanten gäbe, einen Autodidakten in der Tierarzneikunde, der die Tiere mit großem Erfolg behandle. Diesen ließ er sofort kommen:
»Hilf mir! Ich werde dich vergolden, wenn du mir den Tresorka kurierst!« rief er dem Arrestanten zu.
Jener war ein Sibirier, verschlagen, klug, ein wirklich tüchtiger Veterinär, aber ganz ein Bauer.
»Ich schau mir den Tresorka an,« erzählte er später den Arrestanten, übrigens eine lange Zeit nach seinem Besuch beim Major, als die ganze Sache schon vergessen war: »der Hund liegt auf dem Sofa, auf einem weißen Kissen; ich sehe, daß es eine Entzündung ist, daß man ihn zur Ader lassen müßte und der Hund dann gesund werden würde, bei Gott! Aber ich denke mir: wie, wenn ich ihn nicht kuriere und der Hund krepiert? Nein, sage ich ihm, Euer Hochwohlgeboren, Sie haben mich zu spät holen lassen; gestern oder vorgestern um dieselbe Stunde hätte ich ihn noch kurieren können, jetzt kann ich es aber nicht mehr...«
So krepierte Tresorka.
Man erzählte mir mit allen Einzelheiten, wie man einmal unsern Major hat erschlagen wollen. Im Zuchthaus war ein Arrestant, der sich da schon seit einigen Jahren aufhielt und sich durch sein stilles Betragen auszeichnete. Es war aufgefallen, daß er fast nie mit jemand sprach. Man hielt ihn für etwas geistesgestört. Er verstand zu lesen und las das ganze letzte Jahr ständig in der Bibel, bei Tag und bei Nacht. Wenn alle eingeschlafen waren, stand er um Mitternacht auf, zündete ein Kirchenlicht aus Wachs an, stieg auf den Ofen, schlug das Buch auf und las bis zum Morgen. Eines Tages ging er zum Unteroffizier und erklärte ihm, daß er nicht zur Arbeit gehen wolle. Man meldete es dem Major; dieser brauste auf und kam sofort selbst ins Zuchthaus. Der Arrestant stürzte sich über ihn mit einem schon früher vorbereiteten Ziegelstein, traf ihn aber nicht. Man packte ihn, stellte ihn vors Gericht und unterzog ihn einer Körperstrafe. Dies alles spielte sich sehr schnell ab. Nach etwa drei Tagen starb er im Krankenhause. Vor dem Tode sagte er, daß er niemand etwas Böses gewünscht und nur leiden gewollt habe, übrigens gehörte er keiner Sekte an. Man gedachte seiner im Zuchthause mit Achtung.
Endlich schmiedete man mir die Fesseln um. In die Werkstatt kamen indessen mehrere Semmelverkäuferinnen. Einige von ihnen waren noch ganz kleine Mädchen. Solange sie noch klein waren, pflegten sie die Semmeln auszutragen: die Mütter buken, und sie verkauften sie. Wenn sie ins reifere Alter kamen, fuhren sie fort, ins Zuchthaus zu kommen, aber ohne die Semmeln; so war es fast immer der Brauch. Es waren auch solche dabei, die nicht mehr so klein waren. Eine Semmel kostete eine halbe Kopeke, und fast alle Arrestanten kauften sich welche.
Ich beobachtete einen schon ergrauten, aber noch rotbackigen Arrestanten, einen Tischler, der lächelnd mit den Semmelmädchen schäkerte. Vor ihrem Erscheinen hatte er sich eben ein rotes Tüchlein um den Hals gebunden. Eine dicke pockennarbige junge Frau stellt auf seine Hobelbank ihren Korb hin. Zwischen ihnen begann ein Gespräch.
»Warum sind Sie denn gestern nicht hingekommen?« begann der Arrestant mit selbstzufriedenem Lächeln.
»Na! Ich war ja gekommen, statt Ihrer war aber Mitjka da,« antwortete keck die Frau.
»Man hatte mich wo anders gebraucht, sonst wär ich unbedingt zur Stelle gewesen... Vorgestern waren aber zu mir alle Ihrigen gekommen.«
»Wer denn?«
»Marjaschka war gekommen, Chawroschka war gekommen, Tschekunda war gekommen, das Zweigroschenmädel war gekommen...«
»Was soll denn das heißen?« fragte ich Akim Akimytsch: »Ist es denn möglich...«
»Es kommt vor,« antwortete er mit diskret gesenkten Augen, denn er war ein äußerst keuscher Mensch.
Es kam in der Tat vor, aber nur sehr selten und mit den größten Schwierigkeiten. Es gab im allgemeinen viel mehr Liebhaber für das Trinken als für diese Dinge, trotz des ganzen natürlichen Dranges bei diesem unfreien Leben. Es war sehr schwer mit einem Frauenzimmer zusammenzukommen. Man mußte eine passende Zeit und einen passenden Ort wählen, sich verabreden, ein Stelldichein ausmachen, Einsamkeit suchen, was besonders schwer war, die Wachsoldaten für sich gewinnen, was noch schwerer war, und überhaupt eine Menge Geld ausgeben, natürlich nur verhältnismäßig viel. Es gelang mir aber später doch manchmal, Zeuge von Liebesszenen zu sein. Ich erinnere mich, wie wir uns einmal im Sommer zu dritt in irgendeinem Schuppen am Ufer des Irtysch befanden und einen Brennofen anheizten; die Wachsoldaten waren gutmütig. Endlich erschienen zwei »Souffleusen«, wie sie die Arrestanten nennen.
»Nun, wo habt ihr denn so lange gesteckt? Wohl bei den Swjerkows?« fragte sie der Arrestant, zu dem sie kamen und der schon lange auf sie gewartet hatte.
»Ich habe dort lange gesteckt? Neulich hat ja eine Elster länger auf einem Pfahl gesessen als ich bei den Swjerkows,« antwortete das Mädel lustig.
Es war das allerschmutzigste Mädel in der Welt. Es war die schon erwähnte Tschekunda. Mit ihr war das Zweigroschenmädel gekommen. Diese spottete aber schon jeder Beschreibung.
»Auch Sie habe ich schon lange nicht gesehen,« fuhr der Schürzenjäger fort, sich an das Zweigroschenmädel wendend. »Mir scheint, Sie sind etwas magerer geworden?«
»Kann sein. Einst war ich viel dicker, jetzt aber bin ich so mager, als hätte ich eine Nadel verschluckt.«
»Sie laufen wohl immer mit den Soldaten herum?«
»Nein, böse Zungen haben uns wohl verleumdet; aber warum auch nicht? Es gibt doch nichts Schöneres als die Soldatenliebe!«
»Lassen Sie doch die Soldaten und lieben Sie uns: wir haben ja Geld...«
Man stelle sich dabei den Galan mit rasiertem Schädel, in Fesseln, in gescheckter Kleidung und unter Bewachung vor.
Ich verabschiedete mich von Akim Akimytsch. Als ich hörte, daß ich ins Zuchthaus zurückkehren dürfe, nahm ich mir einen Wachsoldaten und ging mit ihm heim. Die Leute begannen eben heimzukommen. Früher als alle kommen diejenigen, die ein bestimmtes Arbeitspensum zu leisten haben. Das einzige Mittel, den Arrestanten zum Fleiß zu zwingen, ist, ihm eine bestimmte Arbeitsleistung vorzuschreiben. Diese ist oft sehr groß, wird aber doch doppelt so schnell bewältigt, als wenn der Arrestant einfach bis zur Mittagstrommel zu arbeiten hätte. Wenn der Arrestant mit seinem Pensum fertig war, ging er unbehindert heim, und niemand durfte ihn zurückhalten.
Man ißt nicht gleichzeitig zu Mittag, sondern durcheinander, ein jeder, wann er eben kommt; die Küche hätte auch nicht Platz für alle zusammen. Ich versuchte von der Kohlsuppe, konnte sie aber, da ich dieses Essen noch nicht gewohnt war, nicht hinunterbringen und kochte mir Tee. Wir setzten uns an ein Tischende. Neben mir saß ein Sträfling wie ich aus dem Adelstande.
Die Arrestanten kamen und gingen. Es war übrigens viel Platz da: es waren noch nicht alle versammelt. Eine Gruppe von fünf Mann setzte sich abseits an einen großen Tisch. Der Koch stellte ihnen zwei Schüsseln, Kohlsuppe und einen ganzen Eimer gebratene Fische hin. Sie feierten etwas und aßen auf eigene Rechnung. Uns sahen sie scheel an. Einer der Polen trat ein und setzte sich neben uns.
»Ich bin zwar nicht daheim gewesen, weiß aber alles!« rief laut ein langer Arrestant, in die Küche tretend und mit einem Blick alle musternd.
Er war an die fünfzig Jahre alt, muskulös und hager. Sein Gesicht hatte einen verschlagenen und zugleich lustigen Ausdruck. Auffallend war seine dicke, überhängende Unterlippe, die seinem Gesicht etwas äußerst Komisches verlieh.
»Nun, habt ihr gut geschlafen? Warum sagt ihr mir nicht guten Tag? Ich grüße die Kursker!« fügte er hinzu, indem er sich neben die auf eigene Kosten Essenden setzte. »Guten Appetit! Traktiert doch den Gast!«
»Wir sind ja gar nicht aus Kursk.«
»Dann aus Tambow?«
»Auch nicht aus Tambow. Du kannst von uns nichts holen, Bruder. Geh lieber zum reichen Bauern und bettle den an.«
»Ich habe heute Iwan den Hungerleider und Marja die Rülpserin im Magen. Wo wohnt denn der reiche Bauer?«
»Da sitzt Gasin, er ist der reiche Bauer, geh doch zu ihm.«
»Gasin leistet sich heute einen guten Tag: er will seinen ganzen Geldbeutel vertrinken.«
»An die zwanzig Rubel hat er sicher,« bemerkte ein anderer. »Es ist doch lohnend, Schnapsverkäufer zu sein.«
»Wollt ihr den Gast nicht bewirten? Nun, dann essen wir halt Kommiß.«
»Geh doch und bitte um Tee. Da trinken Herrschaften Tee.«
»Was für Herrschaften, hier gibt es keine Herrschaften! Sind jetzt die gleichen Menschen wie wir,« bemerkte düster ein Arrestant, der in der Ecke saß und bisher noch kein Wort gesprochen hatte.
»Ich würde schon gerne Tee trinken, schäme mich aber zu bitten, denn ich habe auch Scham im Leibe!« versetzte der Arrestant mit der dicken Lippe, uns gutmütig anblickend.
»Wenn Sie wünschen, will ich Ihnen Tee geben,« sagte ich, ihn einladend. »Ist's gefällig?«
»Ob's mir gefällig ist? Wie sollte es mir nicht gefällig sein!«
Er trat an den Tisch.
»Schau ihn nur einer an: daheim hat er Kohlsuppe mit dem Bastschuh gelöffelt, und hier hat er den Tee kennengelernt. Es gelüstet ihn nach dem herrschaftlichen Getränk,« versetzte der düstere Arrestant.
»Trinkt denn hier niemand Tee?« fragte ich ihn, aber er würdigte mich keiner Antwort.
»Da bringt man gerade Semmeln. Verehren Sie mir doch auch eine Semmel!«
Ein junger Arrestant trug einen ganzen Kranz von Semmeln, die er im Zuchthause verkaufte. Die Semmelfrau überließ ihm dafür jede zehnte Semmel; auf diese rechnete er eben.
»Semmeln, Semmeln!« rief er, in die Küche tretend: »Heiße Moskauer Semmeln! Würde sie selbst essen, aber ich brauche mein Geld. Jetzt habe ich nur noch diese letzte: wer von euch hat eine Mutter gehabt?«
Dieser Appell an die Mutterliebe brachte alle zum Lachen, und man nahm ihm einige Semmeln ab.
»Was glaubt ihr, Brüder,« sagte er, »Gasin wird heute so lange bummeln, bis er etwas Böses erlebt! Bei Gott! Was ist es auch für eine Zeit zum Bummeln: jeden Augenblick kann der Achtäugige kommen.«
»Man wird ihn schon verstecken. Ist er denn sehr betrunken?«
»Und wie! Ist schon ganz wütend und greift alle an.«
»Nun, dann wird es wohl auch zu einem Faustkampf kommen...« »Von wem sprechen sie?« fragte ich den Polen, der neben mir saß.
»Vom Arrestanten Gasin, der hier den Schnapsverkauf hat. Sobald er etwas Geld verdient, vertrinkt er es sofort. Er ist grausam und boshaft; im nüchternen Zustande verhält er sich übrigens ruhig; aber wenn er sich betrunken hat, kommt alles zum Durchbruch; dann stürzt er sich mit einem Messer auf die Menschen. Dann bringt man ihn zur Vernunft.«
»Wie bringt man ihn denn zur Vernunft?«
»An die zehn Arrestanten fallen über ihn her und schlagen ihn so lange, bis er die Besinnung verliert, d. h. sie prügeln ihn halb tot. Dann legt man ihn auf die Pritsche und bedeckt ihn mit einem Pelz.«
»So können sie ihn doch auch totschlagen!«
»Ein anderer an seiner Stelle wäre auch schon längst tot, er aber nicht. Er hat eine ungeheure Kraft, ist stärker als alle im Zuchthause und wie aus Eisen gebaut. Am nächsten Morgen ist er immer wieder vollkommen gesund.«
»Sagen Sie bitte,« fragte ich den Polen weiter, »sie alle essen doch auf eigene Kosten, und ich trinke meinen eigenen Tee. Dabei schauen sie mich so an, als beneideten sie mich um diesen Tee. Was soll das heißen?«
»Es ist nicht wegen des Tees,« antwortete der Pole. »Sie ärgern sich über Sie, weil Sie ein Adliger sind und sich von ihnen unterscheiden. Viele von ihnen möchten wohl mit Ihnen anbinden. Sie haben große Lust, Sie zu beleidigen und zu erniedrigen. Sie werden hier noch viele Unannehmlichkeiten erleben. Wir alle haben es hier furchtbar schwer. Wir haben es in jeder Beziehung schwerer als alle anderen. Es bedarf einer großen Gleichgültigkeit, um sich daran zu gewöhnen. Sie werden hier noch viel Unannehmlichkeiten wegen des Tees und der eigenen Beköstigung erleben, obwohl hier viele sehr oft auf eigene Kosten essen und manche ständig Tee trinken. Die andern dürfen es, Sie aber nicht.«
Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Tisch. Schon nach einigen Minuten gingen seine Worte in Erfüllung.
Kaum war M–cki (der Pole, der mit mir gesprochen hatte) hinausgegangen, als Gasin vollständig betrunken in die Küche stürzte.
Ein betrunkener Arrestant am hellichten Tage, an einem Werktag, wo alle verpflichtet sind, zur Arbeit zu gehen, angesichts eines strengen Vorgesetzten, der jeden Augenblick ins Zuchthaus kommen konnte, eines Unteroffiziers, der die Arrestanten beaufsichtigte und sich ständig im Zuchthause aufhielt; angesichts der Wachen, der Invaliden, mit einem Worte der ganzen strengen Ordnung, – diese Erscheinung warf alle meine Vorstellungen vom Arrestantenleben, die ich mir zu bilden begann, über den Haufen. Ich mußte auch eine recht lange Zeit im Zuchthause zubringen, ehe ich mir alle diese Tatsachen erklären konnte, die mir in den ersten Tagen meines Zuchthauslebens so rätselhaft vorkamen.
Ich sagte schon, daß die Arrestanten immer ihre eigene Arbeit hatten und daß diese Arbeit ein natürliches Bedürfnis des Zuchthauslebens darstellte; daß der Arrestant, auch abgesehen von diesem Bedürfnis, das Geld über alles liebte, es fast der Freiheit gleichstellte und sich schon getröstet fühlte, wenn welches in seiner Tasche klimperte. Dagegen ist er traurig, verstimmt, unruhig und entmutigt, wenn er kein Geld hat; dann ist er zu jedem Diebstahl und überhaupt zu allem fähig, um sich Geld zu verschaffen. Aber obwohl das Geld im Zuchthause einen so hohen Wert hatte, blieb es doch niemals lange in der Tasche des glücklichen Besitzers. Erstens war es schwer, das Geld so zu verwahren, daß es nicht gestohlen oder konfisziert wurde. Wenn der Major es bei einer der plötzlichen Durchsuchungen fand, nahm er es gleich weg. Vielleicht verwendete er es zur Verbesserung der Arrestantenkost, jedenfalls wurde es immer ihm abgeliefert. Meistens wurde es aber gestohlen, denn man konnte sich auf niemand verlassen. Später fand man bei uns doch ein Mittel, Geld mit absoluter Sicherheit zu verwahren. Man gab es einem alten Altgläubigen in Verwahrung, der zu uns aus den Siedlungen bei Starodub gekommen war... Aber ich kann nicht umhin, einige Worte über ihn zu sagen, obwohl ich dabei weit von meinem Thema abschweife.
Er war ein kleiner, grauhaariger Mann von etwa sechzig Jahren. Er fiel mir gleich beim ersten Blick auf. So wenig glich er den anderen Arrestanten: es war etwas Ruhiges und Stilles in seinem Blick, so daß ich mit einem besonderen Vergnügen in seine heiteren, hellen, von seinen Runzeln umgebenen Augen schaute. Ich unterhielt mich oft mit ihm und muß sagen, daß ich in meinem Leben selten ein so gutmütiges und freundliches Wesen gesehen habe. Er war wegen eines äußerst schweren Verbrechens hergeraten. Unter den Sektierern von Starodub hatten sich seit einiger Zeit manche zur herrschenden Kirche bekehren lassen. Die Regierung begünstigte auf jede Weise die Proselyten und wandte alle Mühe an zur Belehrung weiterer Sektierer. Der Alte hatte sich mit anderen Fanatikern entschlossen, »für den wahren Glauben einzustehen«, wie er es nannte. Man hatte eben begonnen, eine gemeinsame Kirche für die Orthodoxen und die Altgläubigen zu bauen, und sie steckten diese Kirche in Brand. Der Alte kam als einer der Anstifter nach Sibirien zur Zwangsarbeit. Er war ein bemittelter, handeltreibender Kleinbürger gewesen; hatte daheim eine Frau und Kinder gelassen; war aber mit Überzeugung in die Verbannung gegangen, die er in seiner Verblendung für »ein Martyrium wegen des Glaubens« hielt. Wenn man mit ihm einige Zeit zusammen gewesen war, stellte man sich unwillkürlich die Frage, wieso dieser stille und wie ein Kind sanfte Mensch ein Aufrührer werden konnte. Ich sprach mit ihm einigemal »über den Glauben«. Er gab keine von seinen Überzeugungen preis, aber in seinen Entgegnungen war nicht die geringste Bosheit, nicht der geringste Haß. Und doch hatte er die Kirche angezündet, was er auch gar nicht leugnete. Man hätte doch meinen können, daß er infolge seiner Überzeugung seine Tat und die für dieselbe empfangenen »Leiden« für etwas Rühmliches halten müßte. Aber wie aufmerksam ich ihn auch betrachtete und studierte, konnte ich an ihm nicht die geringsten Anzeichen von Stolz und Überhebung wahrnehmen. Wir hatten in unserm Zuchthause auch andere Altgläubige, zum größten Teil Sibirier. Es waren geistig hochentwickelte, schlaue Bauern, außerordentlich bibelkundig, am Buchstaben zäh festhaltend und in ihrer Art tüchtige Dialektiker; hochmütige, eingebildete, listige und im höchsten Grade intolerante Menschen. Der Alte war ganz anders. Obwohl er in der Bibel vielleicht viel beschlagener war als sie, mied er alle Disputationen. Er hatte einen höchst mitteilsamen Charakter. Er war lustig und lachte oft, es war aber nicht das rohe, zynische Lachen der andern Zuchthäusler, sondern ein heiteres und stilles Lachen, in dem viel kindliche Einfalt lag und das besonders gut zu seinen grauen Haaren paßte. Vielleicht irre ich mich auch, aber es scheint mir, daß man den Menschen an seinem Lachen erkennen kann und daß wir, wenn uns das Lachen eines uns völlig fremden Menschen gleich bei der ersten Begegnung angenehm ist, getrost sagen dürfen, daß er ein guter Mensch ist. Der Alte genoß im ganzen Zuchthause allgemeine Achtung, auf die er sich durchaus nichts einbildete. Die Arrestanten nannten ihn Vater und taten ihm nichts zu Leide. Ich konnte mir zum Teil vorstellen, welchen Einfluß er auf seine Glaubensgenossen üben mußte. Aber trotz der scheinbaren Festigkeit, mit der er seine Zuchthausstrafe trug, lag in ihm dennoch eine tiefe, unheilbare Trauer, die er vor allen sorgfältig verheimlichte. Ich wohnte mit ihm in der gleichen Kaserne. Einmal erwachte ich gegen drei Uhr nachts und hörte sein stilles, verhaltenes Weinen. Der Alte saß auf dem Ofen (auf demselben Ofen, auf dem früher der vor lauter Bibellesen verrückt gewordene Arrestant, der den Major hatte erschlagen wollen, nachts zu beten pflegte) und betete aus einem handgeschriebenen Gebetbuch. Er weinte, und ich hörte ihn ab und zu sprechen: »Herr, verlaß mich nicht! Herr, festige mich! Meine lieben Kinderchen, meine kleinen Kinderchen, nie werden wir uns wiedersehen!« Ich kann gar nicht wiedergeben, wie traurig es mir da zu Mute wurde. Diesem Alten gaben nun alle Arrestanten nach und nach ihr Geld in Verwahrung. Im Zuchthause waren fast alle Diebe, aber aus irgendeinem Grunde gewann man die Überzeugung, daß der Alte unmöglich etwas stehlen könne. Man wußte wohl, daß er das ihm anvertraute Geld irgendwo zu verstecken pflegte, aber es war ein so verborgener Ort, daß keiner ihn finden konnte. Später enthüllte er mir und einigen von den Polen sein Geheimnis. In einem der Palisadenpfähle war ein Ast, der fest mit dem Holze verwachsen schien. Der Ast ließ sich aber herausnehmen, und im Holze befand sich eine größere Vertiefung. Hier pflegte der Großvater das Geld zu verwahren und dann den Ast wieder so hineinzustecken, daß niemand etwas merken konnte.
Ich bin aber von meiner Erzählung abgeschweift. Ich war dabei stehen geblieben, warum das Geld niemals lange in der Tasche des Arrestanten blieb. Aber auch abgesehen von der Schwierigkeit, es zu verwahren, gab es im Zuchthause zu viel Trübsinn; der Arrestant ist aber seiner Natur nach ein dermaßen nach Freiheit lechzendes Geschöpf und dann auch infolge seiner sozialen Lage so leichtsinnig und unordentlich, daß er das natürliche Bedürfnis fühlt, tüchtig über die Schnur zu hauen, sein ganzes Kapital mit Donner und Musik zu verprassen, um wenigstens für eine Minute seine Schwermut zu vergessen. Es war sogar sonderbar zu sehen, wie mancher von ihnen monatelang unaufhörlich über einer Arbeit hockte, um seinen ganzen Verdienst an einem einzigen Tage bis auf die letzte Kopeke zu verprassen und dann bis zum nächsten Bummel wieder monatelang zu arbeiten. Viele von ihnen schafften sich gerne neue Kleider an, und zwar unbedingt Zivilkleider: irgendwelche unförmige schwarze Beinkleider, Westen, Überröcke. Beliebt waren auch Kattunhemden und Gürtel mit Messingbeschlägen. Man pflegte diese Kleidungsstücke an Feiertagen anzuziehen, und der so Geputzte ging dann unbedingt durch alle Kasernen, um sich allen zu zeigen. Die Selbstzufriedenheit des Geputzten war ganz kindisch, wie die Arrestanten auch in vielen anderen Beziehungen die reinen Kinder waren. Alle diese guten Sachen pflegten allerdings sehr schnell und plötzlich zu verschwinden; oft wurden sie gleich am ersten Abend versetzt oder für einen Spottpreis verkauft. Ein solcher Bummel entwickelte sich übrigens ganz allmählich. Gewöhnlich fiel er auf den Geburtstag oder Namenstag des Betreffenden. Wenn ein Arrestant sein Namensfest feierte, entzündete er gleich am Morgen nach dem Aufstehen eine Kerze vor dem Heiligenbild und betete; dann putzte er sich fein und bestellte sich ein Mittagessen. Er kaufte sich Fleisch und Fisch und ließ sich sibirische »Pelmeni« – mit Hackfleisch gefüllte Teigtaschen kochen; er fraß sich wie ein Ochse voll, aber meistens allein und lud nur selten die Genossen zur Teilnahme an seiner Tafel ein. Dann kam der Branntwein; das Geburtstagskind betrank sich bis zur Bewußtlosigkeit und ging dann torkelnd und stolpernd durch die Kaserne, um allen zu zeigen, daß er betrunken sei, daß er bummele, um damit die allgemeine Achtung zu erwerben. Das russische Volk hat für den Betrunkenen immer eine gewisse Sympathie; im Zuchthause erwies man einem Betrunkenen Respekt. In so einem Zuchthausbummel lag sogar etwas Aristokratisches. Wenn der Arrestant in die richtige Stimmung kam, mietete er sich immer Musiker. Es gab im Zuchthause einen Polen, einen entlaufenen Soldaten, einen recht abstoßenden Kerl, der aber Geige spielte und ein eigenes Instrument besaß – dies war sein ganzes Vermögen. Er übte kein anderes Handwerk aus und lebte nur davon, daß er sich von den Bummelnden zum Aufspielen lustiger Tänze mieten ließ. Sein Amt bestand dann darin, daß er seinem betrunkenen Auftraggeber ständig von der einen Kaserne in die andere folgte und aus aller Kraft auf der Geige kratzte. Sein Gesicht nahm oft einen gelangweilten, trübsinnigen Ausdruck an. Aber der Zuruf: »Spiele, ich habe dich doch bezahlt!« zwang ihn, gleich wieder von neuem zu geigen. Wenn ein Arrestant zu bummeln anfing, hatte er immer die Gewißheit, daß, wenn er sich schon gar zu sehr betrinken sollte, man auf ihn aufpassen, ihn rechtzeitig zu Bett bringen und beim Erscheinen eines Vorgesetzten unbedingt verstecken würde, und zwar ohne jede Bezahlung. Andererseits durften auch der Unteroffizier und die Invaliden, die zur Beaufsichtigung ständig im Zuchthause wohnten, vollkommen ruhig sein: ein Betrunkener konnte gar keinen Unfug verüben. Die ganze Kaserne paßte auf ihn auf, und wenn er Lärm machen oder meutern sollte, würden ihn die andern sofort bändigen und sogar binden. Darum drückten die subalternen Vorgesetzten in solchen Fällen ein Auge zu und wollten solche Sachen einfach nicht bemerken. Sie wußten sehr gut, daß, wenn man den Branntwein wirklich verboten hätte, die Sache noch viel schlimmer wäre. Wo verschaffte man sich aber den Branntwein?
Man kaufte ihn im Zuchthause bei den Branntweinverkäufern. Es gab ihrer mehrere, und sie betrieben diesen Handel ununterbrochen und mit Erfolg, obwohl es nur wenig Trinkende und »Bummelnde« gab, weil das Bummeln Geld erforderte, das die Arrestanten nur schwer erwerben konnten. So ein Handel wurde auf eine recht originelle Weise gegründet, betrieben und geduldet. Ein Arrestant kennt kein Handwerk und will nicht arbeiten (es gab solche Arrestanten), will aber Geld haben; dabei ist er ein ungeduldiger Mensch und möchte sich schnell bereichern. Er hat einiges Geld für den Anfang, und so entschließt er sich, einen Branntweinhandel zu eröffnen; das Unternehmen ist kühn und mit großem Risiko verbunden. Man kann es leicht mit seinem Rücken bezahlen und zugleich die Ware und das Kapital verlieren. Aber der Branntweinverkäufer geht auf dieses Risiko ein. Anfangs hat er nur wenig Geld und schmuggelt darum zum ersten Mal den Branntwein selbst ins Zuchthaus; er verkauft ihn natürlich mit großem Nutzen. Diesen Versuch wiederholt er ein zweites und ein drittes Mal, und sein Handel kommt, wenn ihn die Obrigkeit nicht erwischt, schnell in Schwung. Erst dann gründet er ein richtiges Geschäft auf breiterer Grundlage; er betreibt es als Unternehmer und Kapitalist, hält sich Agenten und Gehilfen, riskiert viel weniger, verdient aber immer mehr. Das Risiko wird für ihn von seinen Helfern getragen.
Im Zuchthause gibt es immer viele Leute, die ihre ganze Habe bis auf die letzte Kopeke verpraßt, verspielt, verbummelt haben, elende und abgerissene Leute ohne Handwerk, aber mit einer gewissen Kühnheit und Entschlossenheit begabt. Diese Leute haben als einziges Kapital nur noch ihre Rücken heil; der Rücken kann immer noch zu etwas dienen, und so ein verbummelter armer Teufel steckt nun dieses letzte Kapital ins Geschäft. Er geht zum Unternehmer und verdingt sich ihm zum Einschmuggeln von Branntwein ins Zuchthaus; ein reicher Branntweinverkäufer hält sich mehrere solcher Arbeiter. Irgendwo außerhalb des Zuchthauses gibt es einen Menschen, – einen Soldaten, einen Kleinbürger, zuweilen sogar eine Dirne, – der für das vom Unternehmer gelieferte Geld und eine verhältnismäßig gar nicht geringe Provision in der Schenke Branntwein kauft und diesen, an irgendeinem versteckten Ort verwahrt, an dem die Arrestanten zu arbeiten pflegen. Der Lieferant probiert erst fast immer die Güte des Branntweins und ersetzt die ausgetrunkene Menge in unmenschlicher Weise durch Wasser; der Arrestant hat keine andere Wahl und darf nicht allzu wählerisch sein; er muß zufrieden sein, wenn er sein Geld nicht gänzlich verloren hat und irgendeinen Branntwein, ganz gleich welcher Güte, geliefert bekommt. Zu diesem Lieferanten kommen also die ihm vorher vom Branntweinverkäufer im Zuchthause bekanntgegebenen Schmuggler mit Rindsdärmen. Die Därme werden erst gewaschen, dann mit Wasser gefüllt und behalten auf diese Weise ihre ursprüngliche Feuchtigkeit und Dehnbarkeit, um mit der Zeit zur Aufnahme des Branntweins geeignet zu sein. Der Arrestant füllt die Därme mit Branntwein und wickelt sie dann um sich, nach Möglichkeit um die diskretesten Körperteile. Darin äußert sich natürlich die ganze Geschicklichkeit und Diebeslist des Schmugglers. Es steht ja zum Teil auch seine Ehre auf dem Spiel; es gilt, die Begleitsoldaten und die Wachtposten anzuführen. Er führt sie auch an: der Begleitsoldat, der manchmal ein unerfahrener Rekrut ist, läßt sich von einem geschickten Schmuggler fast immer anführen. Natürlich wird der Soldat vorher sondiert, außerdem werden die Zeit und der Ort der Arbeit in Betracht gezogen. Der Arrestant ist beispielsweise ein Ofensetzer und kriecht auf den Ofen; wer kann sehen, was er da oben treibt? Der Soldat kann ihm doch nicht nachsteigen. Beim Zuchthause angekommen, nimmt er für jeden Fall eine Münze, ein silbernes Fünfzehn- oder Zwanzigkopekenstück in die Hand und wartet am Tore auf den Gefreiten. Der diensthabende Gefreite muß jeden von der Arbeit heimkehrenden Arrestanten durchsuchen und betasten und darf ihm erst dann das Tor öffnen. Der Branntweinschmuggler rechnet gewöhnlich darauf, daß man sich genieren wird, ihn an gewissen Stellen besonders eingehend zu betasten. Ein gewitzigter Gefreiter kommt manchmal aber auch an diese Stellen und findet den Schnaps. Dann bleibt das allerletzte Mittel: der Schmuggler drückt dem Gefreiten, ohne daß es der Begleitsoldat merkt, schweigend die schon bereitgehaltene Münze in die Hand. Manchmal kann er dank diesem Manöver den Branntwein glücklich einschmuggeln. Manchmal mißlingt aber dieses Manöver, und dann muß der Arrestant sein letztes Kapital, d.h. den Rücken, hergeben. Der Vorfall wird dem Major gemeldet, das Kapital wird mit Ruten gezüchtigt, und zwar sehr schmerzhaft, der Branntwein wird für den Fiskus konfisziert, und der Schmuggler nimmt alles auf sich und verrät den Unternehmer nicht; nebenbei bemerkt, nicht weil er sich etwa vor der Angeberei scheute, sondern weil diese für ihn unvorteilhaft wäre: seiner Portion Ruten entgeht er sowieso nicht, und der einzige Trost wäre, daß auch der andere die gleiche Portion bekäme. Aber er braucht den Unternehmer, obwohl der Schmuggler von ihm nach der Gepflogenheit und nach vorhergehender Abmachung keinerlei Entschädigung für den zerschlagenen Rücken bekommt. Was aber die Angebereien im allgemeinen betrifft, so stehen sie gewöhnlich in Blüte. Der Angeber hat im Zuchthause nicht die geringste Erniedrigung zu gewärtigen: eine Entrüstung gegen ihn ist sogar undenkbar. Man meidet ihn nicht und pflegt mit ihm freundschaftlichen Verkehr, und wenn es jemand einfiele, den Zuchthäuslern zu beweisen, wie gemein diese Angeberei ist, würde ihn niemand verstehen. Der vom Adel stammende Arrestant, der lasterhafte und gemeine Kerl, mit dem ich jeden Verkehr abgebrochen hatte, war mit dem Burschen des Majors, Fedjka, befreundet und diente ihm als Spion; dieser aber hinterbrachte alles, was er über die Arrestanten hörte, dem Major. Das war bei uns allen bekannt, aber es fiel niemals jemand ein, diesen Schurken zu bestrafen oder ihm etwas vorzuwerfen.
Aber ich bin wieder abgeschweift. Es kommt selbstverständlich vor, daß der Branntwein glücklich eingeschmuggelt wird; der Unternehmer übernimmt die ihm gelieferten Därme, bezahlt den Preis und beginnt dann zu kalkulieren. Die Kalkulation ergibt, daß die Ware ihm gar zu teuer zu stehen kommt; um seinen Nutzen zu vergrößern, gießt er den Branntwein noch einmal um, verdünnt ihn wieder, fast zur Hälfte, mit Wasser und wartet nach diesen endgültigen Vorbereitungen auf die Käufer. Gleich am ersten Feiertag, zuweilen auch an einem Werktag, meldet sich ein Kunde; es ist ein Arrestant, der mehrere Monate wie ein Ochse gearbeitet und einige Kopeken gespart hat, um alles an einem vorher bestimmten Tage zu vertrinken. Von diesem Tag hat der arme Arbeiter schon lange vorher geträumt, und dieser Traum hat ihm manchen glücklichen Augenblick bei der Arbeit verschafft und seinen Geist im öden Zuchthausleben aufrechterhalten. Endlich zeigt sich ihm das Morgenrot des ersehnten Tages; er hat das nötige Geld zusammengespart, man hat es ihm weder konfisziert, noch gestohlen, und er bringt es dem Branntweinverkäufer. Dieser gibt ihm zunächst möglichst reinen, d. h. nur zweimal verdünnten Branntwein; aber alles, was er austrinkt, wird in der Flasche sofort wieder durch Wasser ersetzt. Eine Tasse Branntwein kostet fünf- und sechsmal so viel als in der Schenke. Nun kann man sich vorstellen, wie viel Tassen man austrinken und wieviel Geld man für sie bezahlen muß, um sich wirklich zu betrinken. Aber infolge der Entwöhnung und der langen Abstinenz wird der Arrestant recht schnell berauscht und trinkt gewöhnlich so lange, bis er sein ganzes Geld vertrunken hat. Dann kommen alle seine Neuanschaffungen dran: der Branntweinverkäufer ist zugleich Pfandleiher. Zuerst wandern zu ihm die neuen Zivilsachen, dann kommen die alten Lumpen, und zuletzt werden auch Kommißsachen versetzt. Wenn der Säufer alles bis zum letzten Lumpen vertrunken hat, legt er sich schlafen; am nächsten Morgen erwacht er mit dem obligaten Brummen im Schädel und fleht den Branntweinverkäufer vergebens um einen Schluck gegen den Kater an. Er übersteht traurig den Katzenjammer, macht sich schon am selben Tage wieder an die Arbeit und arbeitet wieder mehrere Monate unaufhörlich, an jenen glücklichen Bummeltag zurückdenkend, der unwiederbringlich in die Ewigkeit versunken ist, und sich allmählich wieder auf einen neuen ähnlichen Tag vorbereitend, der noch fern ist, aber doch einmal anbrechen muß.
Was aber den Branntweinverkäufer selbst betrifft, so besorgt er, nachdem er endlich die Riesensumme von einigen Zehnrubelscheinen verdient hat, zum letztenmal Branntwein, den er diesmal nicht mit Wasser verdünnt, da er ihn für sich selbst bestimmt: genug Handel zu treiben, es ist Zeit, auch selbst einen Festtag zu erleben! Es beginnt ein Prassen mit Zechen, Essen und Musik. Die Geldmittel sind groß, und mit ihnen kann er selbst die unteren unmittelbaren Zuchthausvorgesetzten bestechen. Das Prassen dauert zuweilen mehrere Tage. Der angeschaffte Branntwein ist natürlich bald ausgesoffen; der Prasser geht dann zu den anderen Branntweinverkäufern, die schon auf ihn warten, und trinkt so lange, bis er alles bis zur letzten Kopeke vertrunken hat. Die Arrestanten können ihn noch so sehr überwachen, aber manchmal fällt er doch einem höheren Vorgesetzten, dem Major oder dem Wachoffizier in die Augen. Man bringt ihn auf die Wache, nimmt ihm seine Kapitalien, wenn man noch welche bei ihm findet, weg und züchtigt ihm zum Schluß mit Ruten. Er schüttelt sich, kehrt ins Zuchthaus zurück und macht sich nach einigen Tagen wieder an den Beruf eines Branntweinverkäufers. Manche Prasser, natürlich nur die reichen, vergessen auch das schöne Geschlecht nicht. Für schweres Geld gehen sie manchmal heimlich aus der Festung statt zur Arbeitsstätte in Begleitung eines bestochenen Wachsoldaten in die Vorstadt. Dort wird in irgendeinem versteckten Häuschen am Rande der Stadt ein »großes Fest für die ganze Welt« gefeiert, das wirklich große Summen verschlingt. Auch der Arrestant wird nicht verschmäht, wenn er Geld hat; der Wachsoldat wird schon vorher mit großer Sachkenntnis ausgesucht. Diese Wachsoldaten sind gewöhnlich selbst Kandidaten für das Zuchthaus. Für Geld ist übrigens alles zu erreichen, und solche Ausflüge bleiben fast immer geheim. Es ist zu bemerken, daß sie sehr selten vorkommen; sie erfordern viel Geld, und die Liebhaber des schönen Geschlechts greifen darum zu anderen, völlig ungefährlichen Mitteln.
Schon in den ersten Tagen meines Zuchthauslebens hatte ein junger Arrestant, ein außergewöhnlich hübscher Bursche, mein besonderes Interesse geweckt. Er hieß Ssirotkin und war in vielen Beziehungen ein ziemlich rätselhaftes Wesen. Vor allem setzte mich sein auffallend schönes Gesicht in Erstaunen; er war nicht mehr als dreiundzwanzig Jahre alt. Er befand sich in der »besonderen«, d. h. lebenslänglichen Abteilung und wurde folglich als einer der schwersten militärischen Verbrecher angesehen. Er war still und sanft, sprach wenig und lachte selten. Er hatte blaue Augen, regelmäßige Züge, ein zartes, glattes Gesicht und hellblonde Haare. Selbst der zur Hälfte rasierte Kopf verunstaltete ihn nicht allzu sehr: so hübsch war der Junge. Er verstand keinerlei Handwerk, verschaffte sich aber immer Geld, wenn auch nicht viel, aber häufig. Er war auffallend faul und unordentlich. Höchstens bekam er von jemand anders gute Kleidung, manchmal ein rotes Hemd, und Ssirotkin freute sich dann sichtlich über den neuen Anzug; er ging durch alle Kasernen und ließ sich bewundern. Er trank nicht, spielte nicht Karten und zankte sich fast mit niemand. Oft sah man ihn, die Hände in den Taschen, still und nachdenklich hinter den Kasernen umhergehen. Woran er denken mochte, konnte man sich schwer vorstellen. Wenn man ihn aus Neugierde rief und nach etwas fragte, so gab er sofort Antwort, sogar mit einem gewissen Respekt, gar nicht nach Arrestantenart, aber immer kurz und wortkarg; dabei sah er einen wie ein zehnjähriges Kind an. Wenn er Geld hatte, so kaufte er sich nie etwas Notwendiges, gab nicht seine Jacke zum Ausbessern, schaffte sich keine neuen Stiefel an, sondern kaufte sich eine Semmel oder einen Pfefferkuchen und aß, als wäre er sieben Jahre alt. »Ach du,« sagten die Sträflinge zu ihm, »was bist du für ein Waisenknabe!« In der arbeitsfreien Zeit trieb er sich in den fremden Kasernen umher; fast alle waren mit ihrer Arbeit beschäftigt, nur er allein hatte nichts zu tun. Wenn man ihm etwas sagte, fast immer etwas zum Spott (er und seine Freunde wurden oft ausgelacht), so erwiderte er kein Wort, machte kehrt und ging in eine andere Kaserne; wenn man sich über ihn gar zu sehr lustig machte, so errötete er. Ich fragte mich oft: weswegen mag dieses stille, gutmütige Wesen ins Zuchthaus geraten sein? Einmal lag ich im Arrestantensaal des Krankenhauses. Ssirotkin war ebenfalls krank und lag neben mir. Einmal kamen wir gegen Abend ins Gespräch; er geriet plötzlich in Stimmung und erzählte mir, wie man ihn unter die Soldaten gegeben, wie seine Mutter beim Abschied über ihn geweint hätte und wie schwer er es unter den Rekruten gehabt habe. Er fügte hinzu, daß er das Rekrutenleben unmöglich habe ertragen können, weil alle so böse und streng und fast alle Vorgesetzten mit ihm unzufrieden gewesen seien.
»Womit hat es geendet?« fragte ich. »Weswegen bist du hergeraten? Dazu noch in die Besondere Abteilung... Ach du, Ssirotkin!«
»Ich war ja nur ein Jahr im Bataillon geblieben, Alexander Petrowitsch. Hierher kam ich aber, weil ich meinen Kompagniechef, Grigorij Petrowitsch, ermordet habe.«
»Ich habe es wohl gehört, Ssirotkin, aber ich glaube es nicht. Wen hast du töten können?«
»Es kam halt so, Alexander Petrowitsch. Ich hatte es schon gar so schwer.«
»Wie leben denn die anderen Rekruten? Natürlich ist es anfangs schwer, aber ein jeder gewöhnt sich daran und wird mit der Zeit ein guter Soldat. Dich hat wohl deine Mutter verzogen, hat dich wohl mit Pfefferkuchen und Milch bis zu deinem achtzehnten Lebensjahre gefüttert.«
»Mein Mütterchen hat mich tatsächlich sehr gern gehabt. Als ich unter die Rekruten kam, wurde sie krank und stand, wie ich hörte, nicht mehr auf... So bitter war mir schließlich das Rekrutenleben geworden. Der Kommandeur hatte einen Haß gegen mich und bestrafte mich auf Schritt und Tritt, und wofür denn? Ich war in allen Dingen gehorsam, lebte ordentlich, trank keinen Branntwein und nahm nichts Fremdes. Es ist nämlich eine schlimme Sache, Alexander Petrowitsch, wenn hier ein Mensch Fremdes nimmt. Alle um mich herum waren so hartherzig, ich konnte mich nirgends ausweinen. Manchmal ging ich in ein Winkelchen und weinte dort. Einmal stand ich Posten. Es war in der Nacht; ich stand Posten vor der Hauptwache bei den Gewehrgabeln. Es war eine windige Herbstnacht, aber so dunkel, daß man die Hand vor den Augen nicht sah. Und da wurde es mir so schwer ums Herz! Ich nahm mein Gewehr bei Fuß, machte das Bajonett los und legte es neben mich; dann zog ich den rechten Stiefel aus, richtete die Mündung auf meine Brust, stemmte mich gegen sie und drückte mit der großen Zehe auf den Hahn. Das Gewehr ging nicht los. Ich sah es nach, reinigte das Zündloch, schüttete frisches Pulver auf, beklopfte den Feuerstein und stemmte den Lauf wieder gegen meine Brust. Aber was geschah? Das Pulver flammte auf, aber der Schuß ging nicht los! Was mag es wohl sein? – dachte ich mir. Ich zog den Stiefel wieder an, setzte das Bajonett auf und ging schweigend auf und ab. Da beschloß ich nun, diese Sache zu machen: Komme, was kommen mag, wenn ich nur dieses Rekrutenleben los bin. Nach einer halben Stunde kommt der Kommandeur gefahren, er revidiert die Hauptronde. Er geht direkt auf mich zu. ›Steht man denn so Posten?‹ Ich nahm das Gewehr in die Hand und bohrte ihm das Bajonett bis auf den Lauf in den Leib. Viertausend Spießruten kriegte ich dafür und kam dann her in die besondere Abteilung...«
Er log nicht. Weswegen hätte er denn sonst in die Besondere Abteilung kommen können? Gewöhnliche Vergehen wurden viel milder bestraft. Übrigens war Ssirotkin allein unter allen seinen Genossen so hübsch. Was die übrigen von seinem Schlage betrifft, von denen wir im ganzen an die fünfzehn Mann hatten, so machten sie alle einen seltsamen Eindruck; nur zwei oder drei von ihnen hatten erträgliche Gesichter; die anderen waren lauter häßliche und schmutzige Kerle mit schlappen Ohren, manche sogar mit grauen Haaren. Wenn es mir die Umstände erlauben, werde ich einmal über diese Gruppe ausführlicher sprechen. Ssirotkin unterhielt oft freundschaftliche Beziehungen zu Gasin, demselben, mit dem ich dieses Kapitel anfing, indem ich erwähnte, wie er betrunken in die Küche hereingestürzt kam, was alle meine ursprünglichen Vorstellungen vom Zuchthausleben über den Haufen geworfen hatte.
Dieser Gasin war ein fürchterliches Geschöpf. Er machte auf alle einen schrecklichen, quälenden Eindruck. Es schien mir immer, daß es nichts Wilderes und Ungeheuerlicheres geben könne als ihn. Ich sah zu Tobolsk den wegen seiner Verbrechen berühmt gewordenen Raubmörder Kamenew; ich sah später Ssokolow, den unter Anklage stehenden Arrestanten und Deserteur, einen abscheulichen Mörder. Aber keiner von ihnen machte auf mich einen so abstoßenden Eindruck wie Gasin. Es kam mir zuweilen vor, als sähe ich eine Riesenspinne in Menschengröße vor mir. Er war ein Tatare; unheimlich stark, stärker als alle im Zuchthause; von Wuchs etwas größer als mittelgroß, von herkulischem Körperbau; mit einem unförmigen, unverhältnismäßig großen Kopf; er ging gebückt und blickte finster drein. Im Zuchthaus gingen über ihn seltsame Gerüchte; man wußte, daß er aus dem Soldatenstande war, aber die Arrestanten erzählten sich, ich weiß nicht, ob es wahr ist, er sei aus den Bergwerken von Nertschinsk entflohen; er sei schon mehr als einmal nach Sibirien verschickt gewesen, wäre mehr als einmal geflohen, hätte mehr als einmal seinen Namen geändert und sei schließlich in unser Zuchthaus in die Besondere Abteilung gekommen. Man erzählte sich auch über ihn, er hätte früher mit Vorliebe kleine Kinder abgeschlachtet, ausschließlich zu seinem Vergnügen: er hätte das Kind an einen geeigneten Ort geführt, ihm zuerst Angst gemacht, sich am Schrecken und am Zittern des armen kleinen Opfers ergötzt und es dann langsam mit Genuß abgeschlachtet. Dies alles hatte man vielleicht erfunden, infolge des allgemeinen schweren Eindrucks, den Gasin auf alle machte, aber alle diese Erfindungen paßten gut zu ihm. Dabei benahm er sich im Zuchthause unter normalen Verhältnissen, wenn er nicht betrunken war, sehr vernünftig. Er war immer still, zankte sich mit niemand und mied jeden Streit, aber gleichsam aus Verachtung gegen die anderen, als dünkte er sich höher als alle anderen; er sprach sehr wenig und war wohl mit Absicht wortkarg. Alle seine Bewegungen waren langsam, ruhig und selbstbewußt. Seinen Augen konnte man ansehen, daß er gar nicht dumm und sogar außerordentlich schlau war; aber in seinem Gesicht und Lächeln lag immer etwas Hochmütig-Spöttisches und Grausames. Er handelte mit Branntwein und war einer der reichsten Branntweinverkäufer im Zuchthause. Aber an die zweimal im Jahre betrank er sich selbst, und da zeigte sich seine ganze tierische Natur. Indem er sich allmählich betrank, begann er die anderen erst mit den boshaftesten, wohl überlegten und scheinbar schon vorher vorbereiteten spöttischen Bemerkungen zu reizen; wenn er dann vollständig betrunken war, geriet er in furchtbare Wut, ergriff ein Messer und warf sich auf die Leute; die Arrestanten, die seine schreckliche Kraft kannten, flohen vor ihm und versteckten sich: er warf sich auf jeden, der ihm in den Weg kam. Aber man fand bald ein Mittel, mit ihm fertig zu werden. An die zehn Mann aus einer Kaserne warfen sich plötzlich gleichzeitig auf ihn und begannen ihn zu schlagen. Man kann sich nichts Schrecklicheres vorstellen als diese Schläge: man schlug ihn auf die Brust, in die Herzgegend, die Herzgrube, den Magen; man schlug ihn lange und hörte erst dann auf, wenn er bewußtlos wurde und wie tot hinsank. Man hätte niemals gewagt, einen anderen so zu schlagen: ein anderer wäre tot, aber nur nicht Gasin. Nach den Schlägen hüllte man ihn, den gänzlich Bewußtlosen, in einen Pelzrock und trug ihn auf seine Pritsche. »Er wird sich schon erholen!« Und in der Tat, am anderen Morgen stand er fast ganz gesund auf und ging stumm und mürrisch zur Arbeit. Sooft sich Gasin betrank, wußten alle im Zuchthause, daß der Tag für ihn mit Schlägen enden würde. So vergingen einige Jahre; endlich merkte man, daß Gasins Widerstandskraft erschüttert war. Er beklagte sich über allerlei Schmerzen, magerte merklich ab und kam immer häufiger ins Hospital... »Nun ist er doch mürbe geworden!« sagten die Arrestanten unter sich.
Er kam in die Küche in Begleitung jenes ekelhaften kleinen Polen mit der Geige, den die Trinkenden gewöhnlich zur Vervollständigung ihres Genusses mieteten, blieb stehen und musterte schweigend und aufmerksam alle Anwesenden. Alle verstummten. Als er endlich mich und meinen Genossen erblickte, sah er uns gehässig und spöttisch an, lächelte selbstgefällig, faßte irgendeinen Gedanken und ging stark schwankend auf unseren Tisch zu.
»Gestatten Sie die Frage,« begann er (er sprach russisch), »aus welchen Einkünften geruhen Sie hier den Tee zu trinken?«
Ich wechselte einen stummen Blick mit meinem Genossen, denn ich merkte, daß es das beste war, zu schweigen und ihm nicht zu antworten. Beim ersten Widerspruch wäre er in Raserei geraten.
»Sie haben also Geld?« fuhr er in seinem Verhör fort. »Sie haben also einen Haufen Geld, wie? Sind Sie denn ins Zuchthaus gekommen, um hier Tee zu trinken? Sind Sie gekommen, um Tee zu trinken? Antworten Sie doch, daß Sie der und jener!...«
Als er aber sah, daß wir uns entschlossen hatten, zu schweigen und ihm keine Beachtung zu schenken, wurde er blaurot im Gesicht und erzitterte vor Wut. Neben ihm stand in der Ecke ein großer Trog, in dem das ganze aufgeschnittene Brot verwahrt wurde, das die Arrestanten zum Mittag- oder Abendessen bekommen sollten. Der Trog war so groß, daß darin das Brot für das halbe Zuchthaus Platz fand; jetzt stand er leer. Gasin packte ihn mit beiden Händen und schwang ihn über uns. Noch ein Augenblick, und er hätte uns die Schädel zertrümmert. Obwohl ein Totschlag oder der Vorsatz dazu für das ganze Zuchthaus die größten Unannehmlichkeiten nach sich ziehen mußte: es hätten Untersuchungen, Durchsuchungen und verschärfte Maßregeln begonnen, aus welchem Grunde sich die Arrestanten die größte Mühe gaben, derartige Exzesse zu vermeiden, – ungeachtet dessen verhielten sich jetzt alle still und abwartend. Keine einzige Stimme zu unsern gunsten! Kein einziger Zuruf gegen Gasin! – So groß war wohl in ihnen der Haß gegen uns! Unsere gefährliche Situation war ihnen wohl angenehm... Die Sache lief aber glücklich ab: als er den Trog auf uns niedersausen lassen wollte, schrie jemand aus dem Flur:
»Gasin! Man hat dir deinen Branntwein gestohlen!«
Er schleuderte den Trog zu Boden und stürzte sich wie wahnsinnig aus der Küche.
»Nun, Gott hat ihn gerettet!« sprachen die Arrestanten unter sich.
Man sprach dann noch lange darüber.
Später konnte ich nicht feststellen, ob jene Nachricht vom Diebstahl des Branntweins auf Wahrheit beruhte oder nur zu unserer Rettung erfunden worden war.
Abends, schon in der Dunkelheit, kurz bevor die Kasernen zugesperrt wurden, ging ich längs der Palisaden umher, und eine schwere Trauer bedrückte mir das Herz; eine solche Trauer habe ich in meinem ganzen späteren Zuchthausleben nicht mehr empfunden. So schwer ist der erste Tag der Einkerkerung, wo es auch sei, ob im Zuchthause, in der Kasematte oder im Gefängnis... Aber ich besinne mich, daß mich am meisten ein Gedanke beschäftigte, der mich auch später während meines ganzen Zuchthauslebens ständig verfolgte, ein zum Teil unlösbarer Gedanke, den ich auch jetzt nicht zu lösen vermag: es ist der Gedanke von der Ungleichheit der Bestrafung der gleichen Verbrechen. Allerdings darf man auch die Verbrechen nicht miteinander vergleichen, nicht einmal annähernd. Ein Beispiel: der eine und der andere haben einen Mord begangen; man hat alle Umstände beider Verbrechen erwogen, und in beiden Fällen bekommt der Verbrecher die gleiche Strafe. Man bedenke aber, was für ein Unterschied zwischen den beiden Verbrechen besteht. Der eine hat z.B. einen Menschen um nichts und wieder nichts, wegen einer Zwiebel, umgebracht: er ging auf die Landstraße und ermordete einen zufällig vorbeifahrenden Bauern, der außer einer Zwiebel nichts bei sich hatte. »Was ist zu machen, Vater! Du hast mich nach Beute ausgesandt, da habe ich einen Bauern erschlagen und bei ihm nur eine Zwiebel gefunden.« – »Dummkopf! Die Zwiebel ist ja nur eine Kopeke wert! Hundert Seelen sind hundert Zwiebeln, das macht zusammen einen Rubel!« (Eine Zuchthauslegende.) Der andere beging aber den Mord zur Verteidigung der Ehre seiner Braut, seiner Schwester, seiner Tochter vor einem wollüstigen Tyrannen. – Ein anderer beging den Mord als Landstreicher, von einem ganzen Regiment von Spitzeln verfolgt, zur Verteidigung seiner Freiheit und seines Lebens, oft den Hungertod vor Augen; ein anderer schlachtete aber kleine Kinder aus Freude am Schlachten, um auf seinen Händen ihr warmes Blut zu fühlen und sich an ihrer Todesangst, wenn sie wie die Tauben unter dem Schlachtmesser zuckten, zu weiden. Und was sehen wir? Der eine und der andere kommen ins gleiche Zuchthaus. Es gibt allerdings Abstufungen in der Dauer der Zuchthausstrafe. Solche Abstufungen gibt es aber verhältnismäßig wenig; die Unterschiede bei der gleichen Art von Verbrechen sind aber zahllos. Jeder Charakter liefert einen neuen Unterschied. Nehmen wir aber an, daß es unmöglich sei, diese Unterschiede auszugleichen; es sei eine unlösbare Aufgabe wie die Quadratur des Zirkels; nehmen wir es an. Aber selbst wenn diese Ungleichheit nicht vorhanden wäre, beachte man den andern Unterschied, nämlich den in den Folgen der Bestrafung... Da ist ein Mensch, der im Zuchthause wie ein Licht dahinschwindet und hinsiecht; da ist ein anderer, der vor seinem Eintritt ins Zuchthaus gar nicht gewußt hat, daß es in der Welt ein so lustiges Leben, einen so angenehmen Klub voll fröhlicher Gesellschaft gibt. Es gibt im Zuchthause auch solche Menschen. Da ist z. B. ein gebildeter Mensch mit hoch entwickeltem Gewissen, Bewußtsein und Herzen. Schon die Qual seines eigenen Herzens wird ihn schneller als jede Strafe umbringen. Er selbst wird sich wegen seines Verbrechens unbarmherziger und grausamer als das allerstrengste Gesetz verurteilen. Und neben ihm ist ein anderer, der während seines ganzen Zuchthauslebens kein einziges Mal an den von ihm begangenen Mord zurückdenkt. Er glaubt sogar noch im Rechte zu sein. Es gibt aber auch manchen, der ein Verbrechen absichtlich begeht, nur um ins Zuchthaus zu kommen und so das viel schwerere Zuchthausleben in der Freiheit zu fliehen. Dort lebte er auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung, aß sich kein einziges Mal satt und arbeitete für seinen Unternehmer von früh bis spät; im Zuchthause ist aber die Arbeit leichter als daheim, er bekommt genügend Brot, und zwar von einer Güte, wie er es noch nie gesehen hat, und an Feiertagen Fleisch; außerdem bekommt er milde Gaben und hat die Möglichkeit, sich ein paar Kopeken zu verdienen. Und die Gesellschaft? Es sind durchtriebene, geschickte, erfahrene Leute, und er sieht seine Genossen mit respektvollem Erstaunen an; er hat ja noch nie solche Menschen gesehen; er hält sie für die beste Gesellschaft, die es überhaupt geben kann. Ist denn die Strafe für diese beiden Menschen wirklich gleich empfindlich? Aber wozu soll ich mich mit unlösbaren Fragen abgeben! Die Trommel schlägt, es ist Zeit, in die Kasernen zu gehen.
Es begann die letzte Kontrolle. Nach dieser Kontrolle wurden die Kasernen geschlossen, eine jede mit einem eigenen Schlosse, und die Arrestanten blieben bis zum Tagesanbruch eingesperrt.
Die Kontrolle wurde von einem Unteroffizier mit zwei Soldaten vorgenommen. Zu diesem Zweck wurden die Arrestanten manchmal im Hofe aufgestellt, und es kam der Wachoffizier. Meistens wurde aber diese Zeremonie auf vereinfachte Art, in den Kasernen selbst besorgt. So war es auch diesmal. Die Kontrollierenden verrechneten sich oft und kamen dann wieder. Schließlich hatten die armen Wachsoldaten die gewünschte Zahl errechnet und sperrten die Kaserne zu. In derselben befanden sich an die sechzig Mann Arrestanten, die auf ihren Pritschen ziemlich eng zusammengedrängt waren. Zum Schlafen war es noch zu früh. Ein jeder mußte sich selbstverständlich noch mit irgend etwas beschäftigen.
Von den Vorgesetzten blieb in der Kaserne nur der Invalide zurück, den ich früher erwähnt habe. Außerdem gab es in jeder Kaserne einen Ältesten, den der Platzmajor aus der Zahl der Arrestanten wegen besonders guter Aufführung wählte. Es kam sehr oft vor, daß diese Ältesten sich etwas Schlimmes zu Schulden kommen ließen; dann wurden sie mit Ruten gezüchtigt, ihres Amtes enthoben und durch andere ersetzt. In unserer Kaserne war der Älteste Akim Akimytsch, der die Arrestanten zu meinem Erstaunen recht oft anschrie. Die Arrestanten antworteten ihm gewöhnlich mit Spöttereien. Der Invalide war klüger als er und mischte sich in nichts ein, und wenn es doch vorkam, daß er den Mund auftun mußte, so tat er es mehr anstandshalber, zur Beruhigung seines Gewissens. Sonst saß er schweigend auf seinem Bett und nähte an einem Stiefel. Die Arrestanten schenkten ihm fast keine Beachtung.
Gleich am ersten Tage meines Zuchthauslebens machte ich eine Wahrnehmung, von deren Richtigkeit ich mich später überzeugte. Alle Nichtarrestanten nämlich, wer sie auch sein mochten, von den unmittelbaren Vorgesetzten, den Wachtposten und Begleitmannschaften aufwärts, sowie alle, die nur irgend etwas mit dem Zuchthause zu tun hatten, sahen die Arrestanten mit übertriebener Ängstlichkeit an, als erwarteten sie jeden Augenblick voller Unruhe, daß der Arrestant sich mit einem Messer auf einen von ihnen stürzen würde. Noch auffallender war dabei, daß die Arrestanten sich selbst dieser Angst, die sie einflößten, bewußt waren, und dies verlieh ihnen offenbar Courage. Aber trotz dieser Courage ist es den Arrestanten selbst viel angenehmer, wenn man ihnen Vertrauen entgegenbringt. Damit kann man sie sogar gewinnen. Während meines Zuchthauslebens kam es, wenn auch sehr selten vor, daß einer der Vorgesetzten das Zuchthaus ohne Begleitmannschaften betrat. Man muß gesehen haben, welch einen Eindruck, und zwar welch einen guten Eindruck es auf die Arrestanten machte. So ein furchtloser Besucher erweckte immer Respekt, und wenn überhaupt etwas Schlimmes passieren konnte, so passierte es niemals in seiner Anwesenheit. Die Arrestanten verbreiten überhaupt ständig Angst um sich, und ich weiß wirklich nicht, woher es kommt. Zum Teil ist sie natürlich schon in der äußeren Erscheinung des Arrestanten, den man als einen Schwerverbrecher kennt, begründet. Außerdem hat jeder, der mit dem Zuchthaus in Berührung kommt, das Gefühl, daß dieser ganze Menschenhaufen sich hier nicht aus freiem Willen versammelt hat und daß man einen lebendigen Menschen durch keinerlei Maßregeln zu einer Leiche machen kann; der Mensch behält seine Gefühle, seinen Durst nach Rache und nach freiem Leben, seine Leidenschaften und das Bedürfnis, diese zu befriedigen. Trotzdem bin ich entschieden davon überzeugt, daß man keinen Grund hat, die Arrestanten zu fürchten. Ein Mensch stürzt sich nicht so leicht und so schnell mit einem Messer auf seinen Mitmenschen. Mit einem Worte, wenn eine Gefahr überhaupt möglich und vorhanden ist, so ist sie angesichts der Seltenheit solcher unglücklicher Vorkommnisse außerordentlich gering. Natürlich spreche ich jetzt nur von den endgültig verurteilten Arrestanten, von denen viele sich sogar freuen, daß sie ins Zuchthaus geraten sind (so schön kommt ihnen zuweilen dieses neue Leben vor!), und folglich den Vorsatz haben, ruhig und friedlich zu leben; außerdem werden sie es nicht dulden, daß ihre unruhigen Kameraden sich etwas Außerordentliches erlauben. Jeder Zuchthäusler, wie kühn und frech er auch sei, fürchtet sich im Zuchthause vor allem. Mit den unter Anklage stehenden Arrestanten verhält es sich dagegen anders. So einer ist tatsächlich imstande, sich ohne jeden besonderen Grund auf einen beliebigen Menschen zu stürzen, einzig aus dem Grunde, weil er z. B. morgen seine Körperstrafe abbüßen muß; wenn er sich aber etwas Neues zu Schulden kommen läßt, so wird diese Strafe hinausgeschoben. So ein Überfall hat also einen Grund und einen Zweck, nämlich »sein Los zu verändern«, und zwar um jeden Preis und so schnell wie möglich. Ich kenne sogar einen psychologisch seltsamen Fall in dieser Art.
In unserem Zuchthause befand sich in der Militärabteilung ein Arrestant, ein ehemaliger Soldat, dem seine Standesrechte nicht aberkannt worden waren und der nach einem Gerichtsurteil für zwei Jahre ins Zuchthaus gekommen war, ein schrecklicher Prahlhans und ein auffallender Feigling. Prahlsucht und Feigheit kommen bei russischen Soldaten im allgemeinen sehr selten vor. Unser Soldat scheint immer so beschäftigt, daß er, selbst wenn er es wollte, einfach keine Zeit zum Prahlen hätte. Wenn er aber schon ein Prahlhans ist, so ist er fast immer auch ein Taugenichts und ein Feigling. Dutow (so hieß dieser Arrestant) büßte schließlich seine kurze Strafzeit ab und kam wieder in sein Linienbataillon. Da aber alle Leute seines Schlages, die ins Zuchthaus zur Besserung geschickt werden, dort endgültig verdorben werden, so kommen sie gewöhnlich, nachdem sie höchstens zwei oder drei Wochen die Freiheit genossen haben, wieder vors Gericht und kehren ins Zuchthaus zurück, aber nicht mehr für zwei oder drei Jahre, sondern für »lebenslänglich«, für fünfzehn oder zwanzig Jahre. So geschah es auch mit ihm. Drei Wochen nach dem Verlassen des Zuchthauses beging Dutow einen Einbruchsdiebstahl; außerdem machte er Skandal und fuhr einen der Vorgesetzten grob an. Er kam vors Gericht und wurde zu einer strengen Strafe verurteilt. Da er die ihm drohende Strafe wie ein elender Feigling ganz außerordentlich fürchtete, stürzte er sich am Vorabend des Tages, an dem er seine Spießrutenstrafe zu absolvieren hatte, mit einem Messer auf den in das Arrestantenzimmer tretenden Wachoffizier. Natürlich wußte er sehr gut, daß er durch diese Tat die Spießrutenstrafe und auch die Dauer der Zwangsarbeit erheblich hinaufsetzen würde. Seine Berechnung bestand aber gerade darin, daß der entsetzliche Augenblick der Strafe wenigstens um einige Tage oder sogar einige Stunden hinausgeschoben werde! Er war dermaßen feig, daß er, als er sich mit dem Messer auf den Offizier stürzte, ihn nicht einmal verwundete, sondern alles nur pro forma tat, nur um ein neues Verbrechen zu begehen, für das er wieder vors Gericht käme.
Der Augenblick vor der Exekution ist für den Verurteilten natürlich schrecklich; im Laufe der mehreren Jahre sah ich ziemlich viele Verurteilte am Vorabend des für sie verhängnisvollen Tages. Gewöhnlich traf ich sie in der Arrestantenabteilung des Hospitals, wenn ich krank lag, was ziemlich häufig vorkam. Es ist allen Arrestanten in ganz Rußland bekannt, daß die mitleidigsten Menschen für sie die Ärzte sind. Diese machen niemals einen Unterschied zwischen den Arrestanten und den anderen Menschen, den sonst unwillkürlich fast alle machen, höchstens mit Ausnahme des gemeinen Volkes. So ein Arzt wirft dem Arrestanten niemals sein Verbrechen vor, wie entsetzlich dieses auch sei, und verzeiht ihm alles, um der Strafe willen, die er trägt, und überhaupt wegen seiner unglücklichen Lage. Nicht umsonst nennt das ganze Volk in ganz Rußland das Verbrechen ein »Unglück« und die Verbrecher – »Unglückliche«. Diese Bezeichnung ist höchst bedeutungsvoll. Sie ist um so wichtiger, als sie unbewußt und instinktiv angewandt wird. Die Ärzte sind aber in vielen Fällen eine wahre Zuflucht für die Arrestanten, besonders für die vor Gericht Stehenden, die strenger gehalten werden als die bereits Verurteilten... Darum geht der Angeklagte, wenn er den für ihn so schrecklichen Tag mit einiger Wahrscheinlichkeit vorausberechnet hat, recht oft ins Hospital, um den schweren Augenblick auch nur ein wenig hinauszuschieben. Wenn er das Hospital mit der absoluten Gewißheit, daß der verhängnisvolle Tag morgen sei, verläßt, befindet er sich fast immer in äußerster Erregung. Manche versuchen ihre Gefühle aus Stolz zu verheimlichen, aber die ungeschickte, geheuchelte Courage vermag ihre Kameraden nicht zu täuschen. Alle verstehen den wahren Sachverhalt und schweigen aus Menschenliebe. Ich kannte einen jungen Arrestanten, einen Mörder aus dem Soldatenstande, der zu der vollen Zahl Spießruten verurteilt worden war. Er hatte solche Angst, daß er sich am Vorabend der Bestrafung entschloß, eine Tasse Schnaps auszutrinken, den er mit Schnupftabak angesetzt hatte. Übrigens verschafft sich ein zu einer Strafe verurteilter Arrestant vor der Exekution immer Branntwein. Dieser wird schon lange vor dem festgesetzten Tage ins Zuchthaus geschmuggelt und für schweres Geld gekauft; der Angeklagte wird sich ein halbes Jahr das Allernotwendigste versagen, nur um die für die Anschaffung eines Viertels Branntwein notwendige Summe zu sparen und dieses eine Viertelstunde vor der Exekution auszutrinken. Bei den Arrestanten herrscht überhaupt die Überzeugung, daß ein Betrunkener die Knuten- oder die Spießrutenstrafe nicht so schmerzhaft fühlt. Aber ich bin von meiner Erzählung abgeschweift. Nachdem der arme Kerl seine Tasse Schnaps ausgetrunken hatte, wurde er tatsächlich sofort krank; er bekam Erbrechen mit Blut und wurde fast bewußtlos ins Hospital geschafft. Dieses Erbrechen griff seine Brust dermaßen an, daß sich schon nach einigen Tagen die Symptome richtiger Schwindsucht zeigten, der er nach einem halben Jahr auch erlag. Die Ärzte, die ihn gegen die Schwindsucht behandelten, wußten nicht, wie sie entstanden war.
Aber wenn ich von der häufig vorkommenden Angst der Arrestanten vor der Exekution spreche, muß ich erwähnen, daß viele von ihnen auch eine erstaunliche Furchtlosigkeit zeigen. Ich erinnere mich mehrerer Fälle von Mut, der an Gefühllosigkeit grenzte, und solche Fälle waren gar nicht so selten. Besonders gut besinne ich mich auf meine Begegnung mit einem entsetzlichen Verbrecher. An einem Sommertage verbreitete sich in den Arrestantensälen das Gerücht, daß am Abend der berühmte Räuber Orlow, ein desertierter Soldat, bestraft und nach der Exekution ins Hospital kommen würde. Die kranken Arrestanten erzählten sich in Erwartung seines Erscheinens, daß man ihn besonders grausam bestrafen würde. Alle befanden sich in einer gewissen Erregung, und ich muß gestehen, daß auch ich das Erscheinen des berühmten Räubers mit höchstem Interesse erwartete. Schon lange vorher hatte ich wahre Wunder über ihn gehört. Er war ein Unmensch, wie es ihrer wenig gibt, der kaltblütig Greise und Kinder abschlachtete, ein Mensch von schrecklicher Willenskraft und stolzem Kraftbewußtsein. Er hatte sich viele Morde zuschulden kommen lassen und war zum Spießrutenlaufen verurteilt worden. Man brachte ihn zu uns ins Hospital gegen Abend. Im Krankensale war es schon dunkel, und man zündete Kerzen an. Orlow war fast bewußtlos und entsetzlich bleich, seine dichten pechschwarzen Haare waren zerzaust. Sein Rücken war geschwollen und von einer blutig blauen Farbe. Die Arrestanten pflegten ihn die ganze Nacht: sie wechselten ihm die Umschläge, drehten ihn von der einen Seite auf die andere um und gaben ihm die Arznei ein, als ob sie es mit einem nahen Verwandten oder irgendeinem Wohltäter zu tun hätten. Gleich am nächsten Tage kam er vollständig zum Bewußtsein und ging an die zweimal durch den Saal! Dies setzte mich in Erstaunen: er war ja ins Hospital so schwach und zerschunden gekommen. Er hatte die ganze Hälfte der ihm zudiktierten Spießruten auf einmal absolviert. Der Arzt hatte die Exekution erst dann einstellen lassen, als er merkte, daß eine Fortsetzung der Strafe für den Verbrecher den Tod bedeuten würde. Außerdem war Orlow klein von Wuchs, von schwacher Konstitution und obendrein durch die lange Untersuchungshaft erschöpft. Jeder, der einen unter Anklage stehenden Arrestanten gesehen hat, hat sich sicher für lange sein ausgemergeltes, mageres und blasses Gesicht mit den fiebernden Blicken gemerkt. Trotzdem erholte sich Orlow sehr schnell. Offenbar kam seine innere, seelische Energie der Natur zur Hilfe. Er war in der Tat kein ganz gewöhnlicher Mensch. Aus Interesse machte ich seine nähere Bekanntschaft und beobachtete ihn eine ganze Woche lang. Ich kann positiv behaupten, daß ich nie im Leben einen so starken Menschen mit einem so eisernen Charakter kennengelernt habe. Ich hatte schon einmal zu Tobolsk eine Berühmtheit in derselben Art, einen ehemaligen Räuberhauptmann, gesehen. Dieser war ein vollkommen wildes Tier, und wenn man neben ihm stand, fühlte man instinktiv, ohne erst seinen Namen gehört zu haben, daß man ein fürchterliches Geschöpf neben sich hatte. An ihm hatte mich die geistige Stumpfheit erschreckt. Das Fleisch hatte bei ihm dermaßen alle geistigen Eigenschaften besiegt, daß man ihm beim ersten Blick ansah, daß hier nur noch eine wilde Gier nach fleischlichen Genüssen, Wollust und Völlerei übrigblieb. Ich bin überzeugt, daß Korenew – so hieß dieser Räuber – vor einer Strafe den Mut verlieren und zittern würde, obwohl er imstande war, Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken, abzuschlachten. Orlow bildete einen vollständigen Gegensatz zu ihm. Er stellte einen völligen Sieg über das Fleisch dar. Man sah diesem Menschen an, daß er eine unbegrenzte Gewalt über sich selbst hatte, alle Qualen und Strafen verachtete und nichts auf der Welt fürchtete. Wir sahen an ihm nur eine grenzenlose Energie, einen Drang, sich zu betätigen, einen Durst nach Rache und nach der Erreichung seines Zieles. Unter anderem setzte mich sein seltsamer Hochmut in Erstaunen. Er sah alles auffallend von oben herab an, aber das wirkte bei ihm nicht, wie wenn er sich auf Stelzen stellte, sondern vollkommen natürlich. Ich glaube nicht, daß es irgendein Wesen auf der Welt gab, dessen Autorität auf ihn wirken könnte. Er sah alles mit auffallender Ruhe an, als gäbe es nichts in der Welt, was ihn in Erstaunen versetzen könnte. Er wußte zwar sehr gut, daß die anderen Arrestanten ihn mit Respekt ansahen, aber er unternahm selbst nichts, um ihnen irgendwie zu imponieren. Dabei sind aber Ehrgeiz und Anmaßung fast allen Arrestanten ohne Ausnahme eigen. Er war gar nicht dumm und auffallend aufrichtig, dabei aber durchaus nicht geschwätzig. Auf meine Frage antwortete er mir offen, daß er auf seine Genesung warte, um den Rest der Strafe zu absolvieren, und daß er vor der Exekution gefürchtet hätte sie nicht zu überstehen. »Jetzt ist aber die Sache erledigt,« fügte er hinzu, mir zublinzelnd. »Ich absolviere den Rest der Spießruten, werde dann sofort mit einer Partie nach Nertschinsk verschickt und brenne unterwegs durch! Ich werde unbedingt durchbrennen! Wenn mir nur mein Rücken verheilt!« So wartete er die ganzen fünf Tage mit Ungeduld auf seine Entlassung aus dem Hospital. In der Erwartung war er oft zum Lachen aufgelegt und lustig. Ich versuchte, mit ihm über seine Abenteuer zu sprechen. Bei solchen Fragen zog er zwar die Stirn kraus, antwortete aber immer aufrichtig. Als er aber merkte, daß ich seinem Gewissen auf die Spur kommen wollte und von ihm wenigstens einen Schatten von Reue erwartete, sah er mich so verächtlich und hochmütig an, als wäre ich plötzlich vor seinen Augen ein kleiner dummer Junge geworden, mit dem man nicht wie mit einem Erwachsenen sprechen kann. Sein Gesicht drückte sogar etwas wie Mitleid mit mir aus. Nach einer Minute lachte er über mich auf die gutmütigste Weise, ohne jede Ironie, und ich bin überzeugt, daß er, als er allein geblieben war und sich meiner Worte erinnerte, vielleicht noch einige Male über mich gelacht hat. Endlich wurde er mit einem noch nicht völlig verheilten Rücken entlassen; am gleichen Tage kam auch ich aus dem Hospital, und so traf es sich, daß wir gemeinsam zurückkehrten: ich ins Zuchthaus und er auf die neben dem Zuchthause gelegene Hauptwache, in der er sich schon vorher befunden hatte. Beim Abschied drückte er mir die Hand, und das war von seiner Seite ein Zeichen von hohem Vertrauen. Ich glaube, er tat es deshalb, weil er mit sich selbst und dem betreffenden Augenblick sehr zufrieden war. Im Grunde genommen mußte er mich verachten und unbedingt als ein demütiges, schwaches, jämmerliches und in jeder Beziehung unter ihm stehendes Wesen ansehen. Am nächsten Tage absolvierte er aber die zweite Hälfte der Strafe...
Als man unsere Kaserne zusperrte, nahm sie plötzlich ein eigentümliches Aussehen an, das einer wirklichen Wohnstätte, eines häuslichen Herdes. Erst jetzt konnte ich die anderen Arrestanten, meine Kameraden, ganz wie zu Haufe betrachten. Am Tage können jeden Augenblick die Unteroffiziere, Wachsoldaten und andere Vorgesetzte ins Zuchthaus kommen, und darum benehmen sich alle seine Insassen anders, als fühlten sie sich nicht ganz ruhig und als erwarteten sie jeden Augenblick etwas. Kaum war aber die Kaserne zugesperrt, als alle sich sofort ruhig niedersetzten und sich fast jeder an irgendeine Handarbeit machte. In der Kaserne wurde es plötzlich hell. Ein jeder besaß seine eigene Kerze und seinen eigenen Leuchter, meistens einen aus Holz. Der eine setzte sich hin, um Stiefel zu nähen, der andere, um an irgendeinem Kleidungsstücke zu arbeiten. Der unerträgliche Gestank in der Kaserne wurde von Stunde zu Stunde schlimmer. Eine Gruppe Müßiggänger hockte sich in einer Ecke um einen ausgebreiteten Teppich hin, um Karten zu spielen. In fast jeder Kaserne gab es einen Arrestanten, der einen schäbigen ellengroßen Teppich, eine Kerze und ein Spiel unglaublich schmieriger, fettiger Karten besaß. Diese ganze Einrichtung hieß ein »Maidan«. Der Unternehmer bekam von den Spielern je fünfzehn Kopeken für die Nacht; das war sein Geschäft. Gespielt wurde gewöhnlich »Dreiblatt«, »Häuschen« usw. Es waren lauter Hasardspiele. Jeder Spieler schüttete einen Haufen Kupfermünzen vor sich aus, alles, was er in der Tasche hatte, und stand erst dann auf, wenn er alles bis auf den letzten Heller verloren oder seinen Kameraden alles abgenommen hatte. Das Spiel endete spät in der Nacht und dauerte manchmal bis zum Tagesanbruch, bis zu dem Augenblick, wo die Kaserne aufgesperrt wurde. In unserm Raume gab es genau wie in allen Kasernen des Zuchthauses immer arme Schlucker, die ihre ganze Habe verspielt oder vertrunken hatten oder auch einfach Bettler von Natur waren. Ich sage »von Natur« und unterstreiche diesen Ausdruck ganz besonders. In unserem Volke gibt es in der Tat unter allen Verhältnissen und Bedingungen stets gewisse seltsame Individuen, die friedlich und nicht selten auch fleißig sind, denen es aber vom Schicksal beschieden ist, ihren Lebtag bettelarm zu bleiben. Sie sind stets Junggesellen, immer schmutzig und unordentlich, sehen immer verängstigt und von etwas bedrückt aus und dienen fast immer als Laufburschen bei irgendwelchen Bummlern oder solchen Zuchthäuslern, die sich plötzlich bereichert haben und emporgekommen sind. Jeder Respekt, jede Initiative bedeuten für sie immer ein Unglück und eine Last. Sie sind gleichsam mit der Bedingung zur Welt gekommen, selbst nichts zu unternehmen und nur anderen zu dienen, nach fremdem Willen zu leben, nach einer fremden Pfeife zu tanzen, und ihre Bestimmung ist, den Willen anderer zu erfüllen. Zur Vervollständigung ihres Unglücks sind sie so beschaffen, daß keinerlei Umstände, keinerlei Wendungen der Dinge sie zu bereichern vermögen. Sie sind immer Bettler. Ich habe bemerkt, daß solche Individuen nicht nur im einfachen Volke vorkommen, sondern in allen Gesellschaftsschichten, in allen Ständen, in allen Parteien und Redaktionen und in allen Genossenschaften. So war es auch in jeder Kaserne und in jedem Zuchthause, und sobald ein »Maidan« gegründet wurde, war sofort einer von ihnen zur Stelle, um den andern zu dienen. Überhaupt konnte kein Maidan ohne einen solchen Diener bestehen. Gewöhnlich mieteten ihn alle Spieler gemeinsam für fünf Silberkopeken, und seine Hauptpflicht bestand darin, die ganze Nacht Posten zu stehen. Meistens fror so ein Mann sechs oder sieben Stunden lang im Dunkeln im Flur, bei dreißig Grad Frost und lauschte auf jedes Geräusch, auf jeden Schritt im Hofe. Der Platzmajor und die Wachsoldaten kamen manchmal ins Zuchthaus spät in der Nacht, traten leise ein und erwischten die Spielenden wie die Arbeitenden und konfiszierten die überzähligen Kerzen, die man schon von draußen sehen konnte. Wenn plötzlich das Schloß an der Tür, die aus dem Flur ins Freie führte, zu klirren begann, war es jedenfalls zu spät, sich zu verstecken, die Kerzen auszublasen und sich auf die Pritschen zu legen. Da aber der wachestehende Diener in solchen Fällen vom Maidan übel zugerichtet wurde, kamen solche Überraschungen sehr selten vor. Fünf Kopeken sind selbst im Zuchthause eine lächerlich geringe Bezahlung; aber ich wunderte mich im Zuchthause immer über die Strenge und Erbarmungslosigkeit der Arbeitgeber, wie in diesem, so auch in allen anderen Fällen. »Wenn du einmal bezahlt bist, so mußt du deinen Dienst tun!« Das war ein Argument, das keinerlei Widerspruch duldete. Für die bezahlte Kopeke wollte der Arbeitgeber alles haben, was er überhaupt haben konnte, und verlangte sogar womöglich noch mehr; dabei glaubte er noch, dem Arbeitnehmer einen Gefallen zu erweisen. Ein verbummelter Kerl, der sein Geld ungezählt verpraßte, übervorteilte stets seinen Diener; dies sah ich nicht nur im Zuchthause und nicht nur beim Maidan.
Ich sagte schon, daß fast alle Leute in der Kaserne sich an irgendeine Arbeit machten; außer den Spielern gab es nur noch an die fünf gänzlich müßige Menschen, die sich sofort schlafen legten. Mein Platz auf der Pritsche war dicht an der Tür. Auf der andern Seite der Pritsche lag Kopf an Kopf mit mir Akim Akimytsch. Bis zehn oder elf Uhr arbeitete er: er klebte eine bunte chinesische Laterne, die ihm jemand in der Stadt für ziemlich hohe Bezahlung bestellt hatte. Solche Laternen stellte er meisterhaft her und arbeitete methodisch, ohne Unterbrechung; wenn er mit der Arbeit fertig war, räumte er alles sorgfältig zusammen, breitete seine Matratze aus, betete und legte sich sittsam auf sein Lager. Seine Ordnungsliebe und Sittsamkeit gingen bis zur kleinlichsten Pedanterie; er hielt sich wohl für einen außerordentlich klugen Menschen, wie es überhaupt alle beschränkten und stumpfsinnigen Leute tun. Er mißfiel mir gleich vom ersten Tage an, obwohl ich, wie ich mich gut erinnere, an diesem ersten Tage viel über ihn nachdachte und mich hauptsächlich darüber wunderte, daß solch ein Mensch, statt im Leben gut vorwärts zu kommen, ins Zuchthaus geraten war. Später werde ich noch mehr als einmal auf Akim Akimytsch zurückkommen.
Aber jetzt will ich kurz die Bewohner unserer Kaserne schildern. Ich mußte ja in ihr noch viele Jahre zubringen, also hatte ich lauter künftige Zimmergenossen und Kameraden vor mir. Natürlich musterte ich sie mit brennender Neugier. Links von mir auf der Pritsche hauste eine Gruppe kaukasischer Bergbewohner, die zum größten Teil wegen Raubüberfälle für verschiedene Fristen hergeschickt worden waren. Es waren: zwei Lesghier, ein Tschetschenze und drei Tataren aus dem Dagestan. Der Tschetschenze war ein düsteres, mürrisches Geschöpf; er sprach fast mit niemand und blickte immer gehässig mit gerunzelter Stirn und einem giftigen, höhnischen Lächeln um sich. Der eine Lesghier war ein Greis mit einer langen, feinen Hakennase und dem Aussehen eines richtigen Räubers. Dafür machte der andere Lesghier, Nurra, gleich vom ersten Tage an auf mich einen außerordentlich angenehmen Eindruck. Er war noch nicht alt, mittelgroß, herkulisch gebaut, ganz blond mit hellblauen Augen, einer Stupsnase, dem Gesicht einer alten Finnin und krummen Beinen, die er vom vielen Reiten hatte. Sein ganzer Körper war zerhauen und von Bajonetten und Kugeln verwundet. Auf dem Kaukasus gehörte er einem pazifizierten Stamme an, begab sich aber oft zu den nicht pazifizierten Bergbewohnern, mit denen er Überfälle auf die Russen machte. Im Zuchthause war er bei allen beliebt. Er war stets lustig, gegen alle freundlich, arbeitete, ohne zu murren, war heiter und ruhig, obwohl er sich oft über den ganzen Schmutz und die Gemeinheit des Arrestantenlebens empörte und über jeden Diebstahl, jede Gaunerei, Betrunkenheit und über alles, was unehrenhaft war, bis zur Wut aufregte; er fing aber niemals Streit an und wandte sich nur empört weg. Er selbst hatte während seines ganzen Zuchthauslebens keinen einzigen Diebstahl und überhaupt keine einzige schlechte Handlung begangen. Er war außerordentlich gottesfürchtig. Die Gebete verrichtete er äußerst gewissenhaft, hielt die Fasten vor den mohammedanischen Festen so streng wie ein Fanatiker und stand ganze Nächte im Gebet. Alle liebten ihn und glaubten an seine Ehrlichkeit. »Nurra ist ein Löwe,« pflegten die Arrestanten zu sagen, und dieser Name »Löwe« blieb ihm auch. Er war fest davon überzeugt, daß man ihn nach Abbüßung seiner Zuchthausstrafe wieder nach Hause, nach dem Kaukasus schicken würde, und lebte nur von dieser Hoffnung allein. Ich glaube, er wäre gestorben, wenn er diese Hoffnung verloren hätte. Er fiel mir gleich am ersten Tage meines Zuchthauslebens besonders auf. Sein gutmütiges, sympathisches Gesicht mußte auch unter den bösen, düsteren und spöttischen Gesichtern der übrigen Zuchthäusler auffallen. Gleich in der ersten halben Stunde nach meiner Ankunft im Zuchthause klopfte er mir im Vorbeigehen auf die Schulter und lächelte mir gutmütig zu. Anfangs konnte ich nicht begreifen, was das zu bedeuten hatte. Er konnte nur sehr schlecht russisch sprechen. Bald darauf ging er wieder auf mich zu und klopfte mir wieder freundlich lächelnd auf die Schulter. Das wiederholte er noch öfters, und so ging es drei Tage lang. Das bedeutete, wie ich erriet und später erfuhr, daß er mit mir Mitleid hatte, daß er fühlte, wie schwer mir die erste Bekanntschaft mit dem Zuchthause fiel und daß er mir seine Freundschaft beweisen, mich ermutigen und seiner Protektion versichern wollte. Der gute, naive Nurra!
Tataren aus dem Dagestan waren drei da, drei leibliche Brüder. Zwei von ihnen waren schon bejahrt, aber der dritte, Alej, höchstens zweiundzwanzig Jahre alt und sah noch jünger aus. Sein Platz auf der Pritsche befand sich neben dem meinigen. Sein hübsches, offenes, kluges und zugleich gutmütig naives Gesicht gewann gleich auf den ersten Blick meine Zuneigung, und ich war froh, daß das Schicksal mir ihn und nicht irgendjemand anderen zum Nachbarn gegeben hatte. Seine ganze Seele spiegelte sich in seinem hübschen, man darf sogar sagen, schönen Gesicht. Sein Lächeln war so zutraulich und kindlich gutmütig, seine großen schwarzen Augen blickten so sanft und so freundlich, daß ich immer ein besonderes Vergnügen, sogar eine Erleichterung in meinem Gram empfand, wenn ich ihn ansah. Ich sage dies ohne Übertreibung. In der Heimat hatte ihm einmal sein älterer Bruder (er hatte fünf ältere Brüder, von denen zwei auf irgendeinem Bergwerk ihre Strafe verbüßten) befohlen, einen Säbel zu nehmen und zu Pferde zu steigen, um an irgendeiner Expedition teilzunehmen. Der Respekt vor den Älteren ist in den Familien der Bergbewohner so groß, daß der Junge gar nicht wagte, zu fragen, wohin man sich begab; diese Frage kam ihm überhaupt nicht in den Sinn. Die andern hielten es aber nicht für nötig, es ihm mitzuteilen. Sie ritten alle auf Raub aus: es galt, einen reichen armenischen Kaufmann auf der Landstraße abzufangen und zu berauben. So kam es auch: sie ermordeten die Begleitsoldaten, erdolchten den Armenier und plünderten seine Waren. Die Sache kam aber heraus; alle sechs wurden eingefangen, vors Gericht gestellt, des Verbrechens überführt, geknutet und nach Sibirien in die Zwangsarbeit geschickt. Die ganze Gnade, die das Gericht Alej erwiesen hatte, bestand darin, daß sein Strafmaß herabgesetzt wurde; man hatte ihn für nur vier Jahre verschickt. Die Brüder liebten ihn sehr, und zwar mit einer mehr väterlichen als brüderlichen Liebe. Er war in der Verbannung ihr Trost, und sie, die sonst düster und mürrisch waren, lächelten immer, wenn sie ihn ansahen; wenn sie mit ihm sprachen (sie sprachen aber mit ihm sehr selten, als hielten sie ihn noch für einen Knaben, mit dem man über ernste Dinge gar nicht sprechen kann), so glätteten sich ihre finsteren Gesichter, und ich konnte erraten, daß sie mit ihm über irgendwelche scherzhaften, fast kindlichen Dinge sprachen; jedenfalls sahen sie einander mit gutmütigem Lächeln an, wenn sie seine Antwort hörten. Er selbst wagte aber fast nie, sie anzusprechen: so weit ging sein Respekt. Man konnte sich schwer erklären, wie dieser Jüngling es fertigbrachte, während seines ganzen Zuchthauslebens ein so sanftes Herz, eine so strenge Ehrlichkeit, eine solche sympathische Herzlichkeit zu bewahren und weder zu verrohen, noch zu verderben. Er hatte übrigens trotz seiner scheinbaren Weichheit eine starke und standhafte Natur. Ich habe ihn später gut kennengelernt. Er war keusch wie ein reines Mädchen, und jede gemeine, zynische, schmutzige oder ungerechte Tat im Zuchthause entzündete ein Feuer der Entrüstung in seinen schönen Augen, die dadurch noch schöner wurden. Aber er mied jeden Streit und jeden Wortwechsel, obwohl er nicht zu denen gehörte, die sich ungestraft beleidigen ließen, und verstand sehr gut, für sich einzustehen. Aber er stritt sich mit niemand; alle liebten ihn und erwiesen ihm jede Freundlichkeit. Anfangs war er gegen mich bloß höflich. Allmählich fing ich mit ihm zu sprechen an; nach einigen Monaten lernte er gut russisch sprechen, was seine Brüder während ihres ganzen Zuchthauslebens nicht zu erreichen vermochten. Er erschien mir als ein außergewöhnlich kluger, bescheidener, zartfühlender und sogar über viele Dinge nachdenkender Junge. Ich will gleich im vorhinein sagen: ich halte Alej für einen durchaus nicht gewöhnlichen Menschen und denke an die Begegnung mit ihm als an eine der schönsten Begegnungen meines Lebens zurück. Es gibt Menschen, die von Natur so schön und von Gott so reich begabt sind, daß der bloße Gedanke, daß sie sich jemals zum Schlechten verändern können, unmöglich erscheint. Man kann ihretwegen immer beruhigt sein. Ich bin es wegen Alejs auch jetzt. Wo mag er jetzt sein?...
Einmal, schon ziemlich lange nach meiner Ankunft im Zuchthause, lag ich auf der Pritsche und dachte an etwas Schweres. Alej, der sonst immer fleißig und arbeitsam war, tat diesmal nichts, obwohl es zum Schlafen noch zu früh war. Aber es war gerade ein mohammedanischer Feiertag, an dem sie alle nicht arbeiteten. Er lag, die Hände im Nacken verschränkt, und dachte gleichfalls über etwas nach. Plötzlich fragte er mich:
»Hast du es jetzt sehr schwer?«
Ich sah ihn neugierig an, und so sonderbar kam mir diese schnelle, offene Frage seitens Alejs vor, der sonst immer so zartfühlend, wählerisch und klug war; als ich ihn aber aufmerksamer ansah, erkannte ich in seinem Gesicht solchen Gram, so viel durch Erinnerungen hervorgerufene Qual, daß ich sofort erriet, wie schwer er es selbst in diesem Augenblick hatte. Ich teilte ihm diese Vermutung mit. Er seufzte auf und lächelte traurig. Ich liebte sein immer zärtliches und herzliches Lächeln. Außerdem zeigte er beim Lächeln zwei Reihen so herrlicher Zähne, um die ihn die schönste Frau der Welt hätte beneiden können.
»Nun, Alej, du hast jetzt sicher daran gedacht, wie bei euch in Dagestan dieses Fest gefeiert wird. Es ist dort gewiß schön.«
»Ja,« antwortete er mir begeistert, und seine Augen leuchteten. »Woher weißt du aber, daß ich daran denke?«
»Wie sollte ich es nicht wissen? Was, dort ist es wohl besser als hier?« »Oh, warum sagst du das!...«
»Bei euch blühen jetzt wohl allerlei Blumen, es ist ein wahres Paradies?«
»Ach, sprich lieber nicht davon.«
Er war aufs Höchste erregt.
»Hör mal, Alej, hast du eine Schwester gehabt?«
»Ja, aber warum fragst du danach?«
»Sie ist wohl eine Schönheit, wenn sie dir ähnlich sieht.«
»Was für ein Vergleich! Sie ist eine solche Schönheit, wie man in ganz Dagestan keine zweite findet. Ach, so schön ist meine Schwester! Du hast eine solche noch nie gesehen! Auch meine Mutter war eine Schönheit.«
»Hat dich deine Mutter lieb gehabt?«
»Ach, wie kannst du es bloß sagen! Sie ist sicher aus Gram um mich gestorben. Sie hat mich mehr als die Schwester, mehr als alle geliebt... Sie ist heute Nacht im Traum zu mir gekommen und hat mit mir geweint.«
Er verstummte und sprach diesen ganzen Abend kein Wort mehr. Aber von nun an suchte er immer nach einer Gelegenheit, mit mir zu sprechen, obwohl er selbst aus Achtung, die er, ich weiß selbst nicht weshalb, vor mir empfand, mich niemals als erster ansprach. Dafür war er sehr froh, wenn ich mich an ihn wandte. Ich fragte ihn nach dem Kaukasus und nach seinem früheren Leben. Seine Brüder hinderten ihn nicht daran, mit mir zu sprechen, und es war ihnen sogar angenehm. Als sie sahen, daß ich Alej immer mehr liebgewann, wurden sie viel freundlicher gegen mich.
Alej half mir bei der Arbeit, war mir in der Kaserne, wo er nur konnte, behilflich, und es war ihm anzusehen, daß es ihm sehr angenehm war, meine Lage irgendwie zu erleichtern und mir gefällig zu sein; in diesem Bestreben lag aber nicht die geringste Erniedrigung, nicht der entfernteste Gedanke an irgendeinen Vorteil, sondern nur ein warmes, freundschaftliches Gefühl, das er vor mir nicht mehr verheimlichte. Nebenbei bemerkt hatte er große Geschicklichkeit in mechanischen Arbeiten; er lernte gut Wäsche nähen, Stiefel anfertigen und erlernte später, so gut er konnte, das Tischlerhandwerk. Die Brüder lobten ihn und waren auf ihn stolz.
»Hör mal, Alej,« sagte ich ihm einmal, »warum sollst du nicht russisch lesen und schreiben lernen? Weißt du, daß es dir hier in Sibirien später zustatten kommen kann?«
»Ich will es sehr. Aber bei wem soll ich, es lernen?«
»Es gibt doch hier viele, die zu lesen verstehen! Willst du, daß ich dich unterrichte?«
»Ach, unterrichte mich, bitte!« Er setzte sich sogar auf seiner Pritsche auf, faltete bittend die Hände und sah mich an.
Wir fingen gleich am nächsten Abend an. Ich hatte ein russisches Neues Testament bei mir, ein Buch, das im Zuchthause nicht verboten war. Ohne eine Fibel, nur nach diesem Buche lernte Alej in wenigen Wochen vortrefflich lesen. Nach drei Monaten verstand er auch vollkommen die Büchersprache. Er lernte mit Eifer und Begeisterung.
Einmal hatte ich mit ihm die ganze Bergpredigt gelesen. Ich merkte, daß er einige Stellen mit besonderem Gefühl sprach.
Ich fragte ihn, ob ihm das Gelesene gefalle.
Er warf mir einen schnellen Blick zu und errötete.
»Ach ja!« antwortete er. »Issa ist ein heiliger Prophet. Issa sprach göttliche Worte. So schön!«
»Was gefällt dir denn am meisten?«
»Wo er sagt: ›Vergib, liebe, tue niemand was zu leide und liebe deine Feinde.‹ Ach, so schön sagt er das!«
Er wandte sich zu seinen Brüdern um, die unserm Gespräch zuhörten, und begann ihnen mit Feuer etwas zu erklären. Sie sprachen lange und ernst miteinander und nickten bejahend mit den Köpfen. Dann wandten sie sich mit einem würdevoll-wohlwollenden, d. h. echt muselmannischen Lächeln (das ich so sehr liebe, und zwar gerade wegen dieser Würde) an mich und bestätigten, daß Issa ein göttlicher Prophet gewesen sei und große Wunder getan habe; daß er einen Vogel aus Lehm geformt und angeblasen habe und der Vogel davongeflogen sei... so stehe es in ihren Büchern geschrieben. Als sie das sagten, waren sie völlig davon überzeugt, daß sie mir ein großes Vergnügen bereiteten, indem sie Issa lobten, und Alej war vollkommen glücklich, weil seine Brüder sich entschlossen hatten, mir dieses Vergnügen zu bereiten.
Auch im Schreibunterricht machten wir gute Fortschritte. Alej beschaffte Papier (und duldete nicht, daß ich es für mein Geld kaufte), Federn und Tinte und lernte in etwa zwei Monaten vorzüglich schreiben. Das machte sogar auf seine Brüder Eindruck. Ihr Stolz und ihre Zufriedenheit waren grenzenlos. Sie wußten gar nicht, wie sie mir danken sollten. Bei der Arbeit, wenn es sich traf, daß wir zusammen arbeiteten, halfen sie mir um die Wette und rechneten es sich als ein Glück an. Von Alej rede ich schon gar nicht. Er hing an mir vielleicht nicht weniger als an seinen Brüdern. Nie vergesse ich, wie er das Zuchthaus verließ. Er führte mich hinter die Kaserne, fiel mir dort um den Hals und fing zu weinen an. Vorher hatte er mich noch nie geküßt und auch nie geweint. »Du hast für mich so viel getan, so viel getan,« sagte er, »wie viel mein Vater und meine Mutter für mich nicht getan hätten: du hast mich zu einem Menschen gemacht, Gott wird es dir lohnen, ich aber werde es dir nie vergessen...«
Wo, wo mag er jetzt sein, mein guter, lieber, lieber Alej!
Außer den Kaukasiern gab es in unseren Kasernen noch eine ganze Gruppe Polen, die eine Familie für sich bildeten und mit den übrigen Arrestanten fast gar nicht verkehrten. Ich sagte schon, daß sie wegen ihrer Abgeschlossenheit und ihres Hasses gegen die russischen Zuchthäusler auch ihrerseits von allen gehaßt wurden. Es waren gequälte, kranke Naturen; es waren ihrer sechs Mann. Einige von ihnen waren gebildet; über sie werde ich im folgenden ausführlicher sprechen. Von ihnen verschaffte ich mir in den letzten Jahren meines Zuchthauslebens zuweilen Bücher. Das erste Buch, das ich gelesen hatte, machte auf mich einen starken, seltsamen, eigentümlichen Eindruck. Auch über diese Eindrücke werde ich später einmal besonders sprechen. Sie sind für mich außerordentlich merkwürdig, und ich bin überzeugt, daß sie vielen ganz unverständlich erscheinen werden. Über manche Dinge kann man gar nicht urteilen, wenn man sie nicht selbst erfahren hat. Ich will nur das eine sagen: die geistigen Entbehrungen sind schwerer als alle physischen Qualen. Der einfache Mann, der ins Zuchthaus kommt, gerät in seine eigene Gesellschaft, vielleicht sogar in eine, die intelligenter ist als seine bisherige Umgebung. Er hat natürlich vieles verloren: die Heimat, die Familie, alles, aber das Milieu bleibt dennoch dasselbe. Der gebildete Mensch dagegen, der nach dem Gesetz zu der gleichen Strafe wie der einfache Mann verurteilt wird, verliert unvergleichlich mehr als dieser. Er muß alle seine Bedürfnisse und Gewohnheiten unterdrücken; er muß in eine Umgebung kommen, die ihn unmöglich befriedigen kann, und muß lernen, eine andere Luft zu atmen... Er ist wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen und auf den Sand geworfen hat... So ist die laut Gesetz für alle gleiche Strafe für ihn oft zehnmal so qualvoll als für die andern. Es ist wirklich so... selbst wenn man nur an die materiellen Gewohnheiten allein denkt, die er opfern muß.
Aber die Polen bildeten eine Gruppe für sich. Es waren ihrer sechs Mann, die immer zusammenhielten. Von allen Zuchthäuslern unserer Kaserne mochten sie nur den Juden allein, vielleicht einzig aus dem Grunde, weil er sie amüsierte. Unsern Juden mochten übrigens auch die andern Arrestanten gern leiden, obwohl sie sich alle ohne Ausnahme über ihn lustig machten. Er war unser einziger Jude, und ich kann auch jetzt noch nicht ohne Lachen an ihn zurückdenken. Sooft ich ihn ansah, kam mir der Gogolsche Jude Jankel aus dem »Taras-Bulba« in den Sinn, der, wenn er sich auszog, um sich für die Nacht mit seiner Jüdin in eine Art Schrank zu begeben, sofort, eine Ähnlichkeit mit einem Hühnchen bekam. Unser Jude, Issai Fomitsch glich auffallend einem gerupften Hühnchen. Er war nicht mehr jung, an die fünfzig Jahre alt, klein von Wuchs, schwächlich, verschlagen und zugleich ausgesprochen dumm. Er war frech und hochfahrend, zugleich aber furchtbar feige. Sein Gesicht war voller Runzeln, und auf der Stirn und den Wangen hatte er Brandmale, die ihm auf dem Schafott eingebrannt worden waren. Ich konnte unmöglich begreifen, wie er die sechzig Knutenhiebe hat überstehen können. Ins Zuchthaus war er wegen eines Mordes gekommen. Er hielt bei sich irgendwo ein Rezept versteckt, das ihm seine Glaubensgenossen gleich nach der Exekution von einem Arzt verschafft hatten. Nach diesem Rezept konnte man sich eine Salbe herstellen lassen, mit der man in zwei Wochen alle Brandmale hätte entfernen können. Er wagte es nicht, diese Salbe im Zuchthause anzuwenden, und wartete auf den Ablauf seiner zwölfjährigen Zuchthausstrafe, um dann, als freier Ansiedler vom Rezept Gebrauch zu machen. »Sonst werde ich nicht heiraten können,« sagte er mir einmal, »ich will aber unbedingt heiraten.« Wir waren gute Freunde. Im Zuchthause hatte er es leicht; er war von Beruf Juwelier und hatte stets eine Menge Aufträge aus der Stadt, wo es keinen Juwelier gab; deshalb war er auch von den schweren Arbeiten befreit. Natürlich war er zugleich auch Wucherer und versorgte das ganze Zuchthaus gegen Zinsen und Pfänder mit Geld. Er war vor mir ins Zuchthaus gekommen, und einer der Polen beschrieb mir ausführlich seine Ankunft. Es ist eine höchst komische Geschichte, die ich später einmal erzählen werde; über Issai Fomitsch werde ich noch mehr als einmal zu sprechen haben.
Die übrigen Insassen unserer Kaserne waren: vier Altgläubige, alte bibelkundige Männer, unter denen sich auch der Greis aus den Siedlungen bei Starodub befand; zwei oder drei Kleinrussen, düstere Menschen; ein junger Zuchthäusler mit feinem Gesichtchen und einem schmalen Näschen, der trotz seiner dreiundzwanzig Jahre schon acht Menschen ermordet hatte; eine Gruppe von Falschmünzern, von denen einer der Spaßmacher unserer ganzen Kaserne war, und schließlich einige düstere und mürrische Individuen mit rasierten Schädeln und entstellten Gesichtern, die stets schweigsam und neidisch waren, mit Haß um sich blickten und die Absicht hatten, noch viele Jahre, ihre ganze Strafzeit lang, so düster um sich zu blicken, zu schweigen und zu hassen. Dies alles zog an mir an diesem ersten trostlosen Abend meines neuen Lebens flüchtig vorbei, inmitten des Rauches und des Qualmes, des unflätigen Fluchens und eines unbeschreiblichen Zynismus, in der verpesteten Luft, beim Klirren der Ketten, unter wütenden Flüchen und schamlosem Gelächter. Ich legte mich auf die bloße Pritsche, schob mir meine Kleider unter den Kopf (damals besaß ich noch keine Kissen), deckte mich mit meinem Schafpelz zu, konnte aber lange nicht einschlafen, obwohl ich von den ungeheuerlichen und unerwarteten Eindrücken dieses ersten Tages ganz erschöpft und gebrochen war. Aber mein neues Leben fing erst an. In der Zukunft erwartete mich noch vieles, woran ich nie gedacht und was ich nie geahnt hatte...
Drei Tage nach meiner Ankunft im Zuchthause wurde mir befohlen, zur Arbeit zu gehen. Dieser erste Arbeitstag ist mir sehr denkwürdig, obwohl an ihm mit mir nichts Besonderes passierte, jedenfalls nichts, was mir in meiner auch ohnehin ungewöhnlichen Lage als etwas Besonderes erscheinen könnte. Aber auch dieser Tag gehörte zu meinen ersten Eindrücken, und ich nahm noch immer gierig alles in mich auf. Die ganzen ersten drei Tage hatte ich unter den schwersten Empfindungen zu leiden. »Das ist nun das Ziel meiner Wanderschaft: ich bin im Zuchthause!« wiederholte ich mir jeden Augenblick: »Das ist nun mein Port für viele Jahre, mein Heim, das ich mit einem so mißtrauischen und schmerzvollen Gefühl betrete... Aber wer weiß? Vielleicht wird es mir nach vielen Jahren schwer fallen, es zu verlassen!...« fügte ich nicht ohne die gewisse Schadenfreude hinzu, die zuweilen an das Bedürfnis, in seiner eigenen Wunde zu wühlen, grenzt, als genieße man diesen Schmerz, und als liege im Bewußtsein des großen Unglücks eine wirkliche Freude. Der Gedanke, daß ich mich dereinst nur schwer von dieser Stätte trennen werde, versetzte mich selbst in Entsetzen: ich ahnte schon damals, wie erschreckend leicht sich der Mensch überall einlebt. Das stand mir aber erst bevor, indessen war mir meine ganze Umgebung feindselig und schrecklich... natürlich nicht alles, aber es kam mir natürlich so vor. Diese wilde Neugier, mit der mich meine neuen Genossen musterten, ihre betonte Unfreundlichkeit gegen einen Neuling adliger Abstammung, der plötzlich in ihrer Gemeinschaft auftaucht, die Unfreundlichkeit, die zuweilen an Haß grenzt, – dies alles quälte mich dermaßen, daß ich selbst nach Arbeit lechzte, um nur so schnell wie möglich das ganze Maß meines Unglücks kennenzulernen, um das gleiche Leben, wie es die andern führten, zu beginnen und so schnell wie möglich ins gleiche Gleis mit den andern zu kommen. Natürlich merkte und ahnte ich damals vieles nicht, was ich direkt vor der Nase hatte: unter dem Feindlichen übersah ich das Erfreuliche. Übrigens ermutigten mich zunächst außerordentlich die einigen freundlichen, angenehmen Gesichter, die ich schon in diesen drei Tagen sah. Am freundlichsten behandelte mich Akim Akimytsch. Unter den mürrischen und gehässigen Gesichtern der übrigen Zuchthäusler konnten mir einige gutmütige und heitere nicht entgehen. »Es gibt doch überall schlechte Menschen und unter den Schlechten Gute,« tröstete ich mich eilig in Gedanken. »Wer weiß? Vielleicht sind diese Menschen gar nicht so sehr schlechter als die übrigen, die dort, außerhalb des Zuchthauses geblieben sind.« Das dachte ich mir und schüttelte selbst den Kopf über meinen Gedanken; mein Gott, wenn ich damals bloß gewußt hätte, wie richtig dieser Gedanke war!
Da war z.B. ein Mann dabei, den ich erst nach vielen, vielen Jahren vollständig kennenlernte; indessen hatte ich ihn während meiner ganzen Zuchthauszeit dicht in meiner Nähe. Es war der Arrestant Ssuschilow. Als ich eben von den Zuchthäuslern sprach, die nicht schlechter als die andern seien, mußte ich unwillkürlich an ihn denken. Er bediente mich. Ich hatte auch noch einen andern Diener. Akim Akymitsch hatte mir gleich in den ersten Tagen einen der Arrestanten namens Ossip empfohlen, von dem er mir sagte, daß er mir für dreißig Kopeken im Monat täglich eigene Speisen zubereiten würde, wenn mir die Kommißkost widerlich sei und ich die Mittel hätte, mich selbst zu beköstigen. Ossip war einer von den vier Köchen, die die Arrestanten selbst für unsere beiden Küchen wählten, wobei es ihnen freistand, die Wahl anzunehmen oder auch nicht; und wenn sie sie angenommen hatten, durften sie das Amt schon am nächsten Tage niederlegen. Die Köche gingen nicht zur Arbeit, und ihre ganze Tätigkeit bestand im Backen von Brot und im Kochen der Kohlsuppe. Man nannte sie nicht Köche, sondern Köchinnen (also weiblich), übrigens nicht aus Verachtung, um so weniger, als für dieses Amt vernünftige und möglichst ehrliche Leute gewählt wurden, sondern nur aus Scherz, was unsere Köche durchaus nicht übelnahmen. Ossip wurde fast immer wieder gewählt und versah mehrere Jahre hintereinander das Amt einer Köchin, das er nur zeitweise niederlegte, wenn ihm die Sache zu langweilig wurde und ihn zugleich das Verlangen überkam, sich dem Branntweinschmuggel zu widmen. Er war ein Mann von seltener Ehrlichkeit und großer Sanftmut, obwohl er wegen Schmuggels ins Zuchthaus geraten war. Er war eben jener großgewachsene, kräftige Schmuggler, den ich schon einmal erwähnt habe; ein ungewöhnlicher Feigling, besonders in bezug auf die Rutenstrafe, ein stiller, gutmütiger Mensch, der gegen alle freundlich war und sich nie mit jemand zankte, dem es aber, trotz seiner ganzen Feigheit, einfach unmöglich war, keinen Schnaps ins Zuchthaus einzuschmuggeln: so groß war seine Leidenschaft für diese Tätigkeit. Er trieb mit den andern Köchen Branntweinhandel, aber natürlich nicht in dem Maße wie z.B. Gasin, weil er nicht den Mut hatte, viel zu riskieren. Mit diesem Ossip kam ich immer sehr gut aus. Was aber die für die eigene Beköstigung notwendigen Mittel betrifft, so brauchte man dazu auffallend wenig. Ich irre mich nicht, wenn ich sage, daß mich meine ganze Beköstigung im Monat nur einen Silberrubel kostete, natürlich außer dem Kommißbrot und manchmal der Kommißsuppe, die ich, wenn ich schon gar zu großen Hunger hatte, aß, trotz meines Widerwillens, welcher übrigens mit der Zeit gänzlich verschwand. Gewöhnlich ließ ich mir täglich ein Stück Rindfleisch kaufen. Das Rindfleisch kostete bei uns im Winter eine halbe Kopeke. Das Fleisch kaufte auf dem Markt einer von den Invaliden, von denen in jeder Kaserne einer zur Beaufsichtigung der Ordnung lebte und die freiwillig das Amt übernommen hatten, täglich auf den Markt zu gehen, um für die Arrestanten Einkäufe zu machen, wofür sie gar keine Vergütung, höchstens gelegentlich ein kleines Trinkgeld bekamen. Sie machten es nur der eigenen Ruhe wegen, denn sonst hätten sie sich mit den Zuchthäuslern gar nicht vertragen können. So brachten sie uns Tabak, Backsteintee, Fleisch, Brezeln usw., kurz alles, mit Ausnahme von Branntwein. Um die Besorgung von Branntwein bat man sie nie, traktierte sie aber zuweilen mit solchem. Ossip kochte für mich einige Jahre hintereinander, und zwar immer das gleiche Stück gebratenes Rindfleisch. Wie es gebraten war, ist eine andere Frage, aber das kümmerte mich wenig. Es ist auffallend, daß ich mit diesem Ossip mehrere Jahre hintereinander kein einziges Wort wechselte. Ich versuchte oft mit ihm ein Gespräch zu beginnen, er hatte aber keine Fähigkeit, eine Unterhaltung zu führen: er lächelte nur, sagte »ja« oder »nein«, und das war alles. Es war wirklich seltsam, diesen Herkules mit dem Verstand eines siebenjährigen Kindes anzusehen.
Außer Ossip leistete mir auch Ssuschilow Dienste. Ich hatte ihn dazu weder aufgefordert noch berufen. Er kam irgendwie ganz von selbst auf mich und attachierte sich mir; ich erinnere mich sogar nicht, wie es kam. Er begann meine Wäsche zu waschen. Zu diesem Zweck befand sich hinter den Kasernen eine eigene große Abfallgrube. Über dieser Grube wusch man in Trögen, die dem Zuchthause gehörten, die Arrestantenwäsche. Außerdem erfand Ssuschilow selbst tausend verschiedene Obliegenheiten, um mir gefällig zu sein: er stellte meine Teekanne aufs Feuer, lief in meinen Aufträgen herum, um für mich dies oder jenes zu suchen, trug meine Jacke zum Ausbessern und schmierte mir die Stiefel viermal im Monat; dies alles tat er eifrig und geschäftig, als erfüllte er eine Gott weiß was für eine wichtige Pflicht; mit einem Worte, er knüpfte sein Schicksal gänzlich an das meinige und übernahm alle meine Angelegenheiten. Er sagte z.B. niemals: »Sie haben soundsoviel Hemden, Ihre Jacke ist zerrissen« usw., sondern immer: »Wir haben jetzt soundsoviel Hemden, unsere Jacke ist zerrissen.« Er blickte mir immer in die Augen und hielt es anscheinend für seinen wichtigsten Lebenszweck. Er hatte kein Handwerk und verdiente sich anscheinend nur von mir ab und zu ein paar Kopeken. Ich zahlte ihm, soviel ich konnte, d.h. einige Kupfermünzen, und er war immer widerspruchslos zufrieden. Es war ihm einfach unmöglich, nicht zu dienen, und er hatte mich wohl aus dem Grunde gewählt, weil ich umgänglicher als die andern und anständiger im Zahlen war. Er gehörte zu denen, die niemals reich werden oder in die Höhe kommen konnten und die als Wächter der Maidans ganze Nächte hindurch im Flur im Froste standen und auf jedes Geräusch auf dem Hofe horchten, für den Fall, daß der Platzmajor erscheinen sollte; sie bekamen dafür fünf Silberkopeken pro Nacht und verloren, im Falle sie nicht scharf genug aufpaßten, alles und mußten es obendrein mit ihrem Rücken büßen. Ich sprach bereits von diesen Leuten. Charakteristisch ist an ihnen, daß sie ihre Persönlichkeit immer, in allen Fällen und fast vor jedem Menschen erniedrigen, in den gemeinsamen Angelegenheiten aber nicht mal eine zweite, sondern höchstens eine dritte Rolle spielen. So sind sie einmal von der Natur beschaffen. Ssuschilow war ein unglücklicher, demütiger und eingeschüchterter Bursche; niemand schlug ihn bei uns, aber er war schon von der Natur geschlagen. Er tat mir aus irgendeinem Grunde immer leid. Ich konnte ihn ohne dieses Gefühl gar nicht ansehen, warum er mir aber so leid tat, vermochte ich nicht zu sagen. Ich konnte mich mit ihm auch nicht unterhalten; auch er verstand nicht mit einem Menschen zu sprechen; das bedeutete für ihn offensichtlich die größte Mühe, und er wurde erst dann wieder lebendig, wenn man ihm, um das Gespräch abzubrechen, irgendeine Arbeit gab oder ihn bat, irgendwohin zu gehen oder etwas zu besorgen. Zuletzt gewann ich sogar die Überzeugung, daß ich ihm damit ein Vergnügen bereitete. Er war weder groß noch klein gewachsen, weder hübsch noch häßlich, weder klug noch dumm, weder jung noch alt, ein wenig pockennarbig und ziemlich blond. Etwas Bestimmtes konnte man über ihn niemals sagen. Bloß das eine: er gehörte, soweit ich vermutete, zu der gleichen Gesellschaft wie Ssirotkin, und zwar ausschließlich infolge seiner Demut und Willenlosigkeit. Die Arrestanten machten sich über ihn zuweilen lustig, hauptsächlich deswegen, weil er auf dem Wege nach Sibirien »getauscht« hatte, und zwar für ein rotes Hemd und einen Silberrubel bar. Wegen dieses lächerlichen Preises, für den er sich verkauft hatte, lachten ihn die Arrestanten aus. »Tauschen« heißt mit jemand den Namen und folglich auch das Schicksal tauschen. Wie wunderlich dieser Vorgang auch erscheinen mag, er kommt dennoch wirklich vor und wurde zu meiner Zeit von den nach Sibirien verschickten Arrestanten, von Überlieferungen geheiligt und in gewisse Formen gekleidet, tatsächlich geübt. Anfangs kam es mir unglaublich vor, aber schließlich mußte ich daran, vom Augenscheine überzeugt, glauben.
Das wird auf folgende Weise gemacht. Da wird nach Sibirien eine Partie Arrestanten transportiert. Es sind allerlei Leute darunter, solche die zur Zwangsarbeit, auf ein Bergwerk oder zur Ansiedlung verschickt werden; sie gehen alle zusammen. Unterwegs, sagen wir im Permschen Gouvernement, will einer mit einem andern tauschen. Irgendein Michailow, der wegen eines Mordes oder eines andern kapitalen Verbrechens verschickt wird, hält es für unvorteilhaft, auf viele Jahre ins Zuchthaus zu kommen. Nehmen wir an, daß er ein schlauer, geriebener Kerl ist und die Sache kennt; nun sucht er in der gleichen Partie einen möglichst einfachen, schüchternen, widerstandslosen Menschen, der zu einer verhältnismäßig geringen Strafe verurteilt ist: zu wenigen Jahren Bergwerk, oder zur Ansiedlung oder sogar zum Zuchthaus, aber für eine kurze Frist. Endlich findet er einen Ssuschilow. Dieser Ssuschilow ist ein leibeigener Bauer und wird einfach zur Ansiedlung verschickt. Er ist schon fünfzehnhundert Werst gegangen, natürlich ohne eine Kopeke Geld, denn so ein Ssuschilow kann niemals eine Kopeke besitzen; er ist müde, erschöpft, lebt ausschließlich vom Kommiß ohne irgendwelche Extrazulagen, trägt nur Kommißkleider und dient allen andern für ein paar elende Kupfermünzen. Michailow kommt mit dem Ssuschilow ins Gespräch, schließt mit ihm sogar Freundschaft und traktiert ihn auf irgendeiner Etappe mit Branntwein. Schließlich macht er ihm den Vorschlag, zu tauschen: »Ich bin Michailow, mit mir steht es so und so, ich gehe eigentlich nicht ins Zuchthaus, sondern in die sogenannte ›Besondere Abteilung‹. Es ist zwar auch ein Zuchthaus, aber ein besonderes, also ein besseres.« Von dieser ›Besonderen Abteilung‹ wußten selbst zu der Zeit, als sie noch existierte, auch unter den Vorgesetzten, z.B. in Petersburg, nur sehr wenige. Das war ein entlegenes, isoliertes Winkelchen in einem der Winkelchen Sibiriens und dazu noch von so wenigen Menschen besetzt (in meiner Zeit befanden sich da nicht mehr als siebzig Mann), daß es schwer war, auf seine Spur zu kommen. Ich traf später Menschen, die in Sibirien gedient hatten und es kannten, aber erst von mir zum erstenmal von der Existenz der »Besonderen Abteilung« hörten. Im Gesetzbuche handeln von ihr nur sechs Zeilen: »Bei dem und dem Zuchthause wird für die allerwichtigsten Verbrecher, bis zur Einführung der allerschwersten Zwangsarbeit in Sibirien, eine ›Besondere Abteilung‹ gegründet.« Selbst die in dieser »Abteilung« befindlichen Arrestanten wußten nicht, ob sie sich da für eine bestimmte Frist oder für ihr ganzes Leben befanden. Eine Frist war ja gar nicht angesetzt, es hieß bloß: »bis zur Einrichtung der allerschwersten Zwangsarbeit« und kein Wort mehr. Es ist daher kein Wunder, daß es weder Ssuschilow, noch sonst jemand in der Partie wußte, sogar der betreffende Michailow selbst wußte es nicht und hatte höchstens eine dunkle Ahnung von der »Besonderen Abteilung«, in Anbetracht seines besonders schweren Verbrechens, für das er bereits drei- oder viertausend Spießruten laufen mußte. Er konnte sich also denken, daß man ihn an keinen guten Ort schickte. Ssuschilow wird dagegen zur Ansiedlung verschickt; was kann sich Michailow besseres wünschen? »Willst du nicht tauschen?« Ssuschilow ist angeheitert, er ist einfältig, von Dankbarkeit gegen Michailow, der ihn so freundlich behandelt hat, erfüllt und kann ihm daher nicht nein sagen. Außerdem hat er schon in der Partie gehört, daß so etwas üblich ist, daß die andern »tauschen« und daß folglich nichts Ungewöhnliches und Unerhörtes dabei ist. Sie einigen sich. Der gewissenlose Michailow nützt die ungewöhnliche Einfalt Ssuschilows aus und kauft sich seinen Namen für ein rotes Hemd und für einen Silberrubel, die er ihm vor Zeugen übergibt. Am nächsten Tage ist Ssuschilow nüchtern, aber man macht ihn wieder betrunken, er kann sich auch nicht gut weigern; der Silberrubel, den er bekommen hat, ist schon vertrunken, das rote Hemd folgt bald darauf nach. Wenn du nicht willst, so gib das Geld zurück. Wo soll aber so ein Ssuschilow einen Silberrubel hernehmen? Und wenn er ihn nicht zurückgibt, so zwingt ihn die ganze Genossenschaft der Arrestanten dazu: die Genossenschaft paßt ja scharf auf. Außerdem muß er ein gegebenes Versprechen halten, – auch darauf sieht die Genossenschaft. Tut er es nicht, so fressen sie ihn bei lebendigem Leibe auf. Sie verprügeln ihn oder ermorden ihn sogar, jedenfalls machen sie ihm große Angst.
Und in der Tat: wollte die Genossenschaft in einer solchen Sache auch nur ein einziges Mal Nachsicht üben, so würde die ganze Einrichtung des Namentausches ein Ende nehmen. Wenn man sein Versprechen auch nicht halten und das Geschäft, nachdem man das Geld angenommen, rückgängig machen kann, wer wird dann noch seine Verpflichtung erfüllen? Es steht, mit einem Worte, das Interesse der ganzen Genossenschaft auf dem Spiele, und darum ist der Trupp in solchen Dingen sehr streng. Ssuschilow sieht endlich ein, daß er sich nicht mehr losbeten kann, und entschließt sich, auf alles einzugehen. Dies wird dem ganzen Trupp mitgeteilt; wenn es notwendig ist, wird noch mancher andere Arrestant beschenkt und traktiert. Dem andern ist es natürlich ganz gleich, ob Ssuschilow oder Michailow zum Teufel geht; außerdem ist der Branntwein ausgetrunken, also wird er schweigen. Auf der nächsten Etappe wird ein Namensappell vorgenommen; die Reihe kommt auf Michailow: »Michailow!« Ssuschilow antwortet: »Hier!« – »Ssuschilow!« Michailow schreit: »Hier!«, und sie wandern weiter. Niemand spricht mehr darüber. In Tobolsk werden die zur Ansiedlung Verschickten abgesondert. Der »Michailow« kommt zur Ansiedlung, und »Ssuschilow« wird unter verstärkter Eskorte nach der »Besonderen Abteilung« transportiert. Jetzt ist keinerlei Protest mehr möglich; wie sollte man es auch beweisen? Wieviel Jahre wird sich so eine Sache hinziehen? Was für eine Strafe riskiert man dafür? Und wo sind schließlich die Zeugen? Selbst wenn solche vorhanden sind, werden sie alles leugnen. Und so bleibt als Resultat, daß Ssuschilow für einen Silberrubel und ein rotes Hemd in die »Besondere Abteilung« gekommen ist.
Die Arrestanten machten sich über Ssuschilow lustig, nicht weil er getauscht hatte (obwohl man diejenigen, die eine leichtere Arbeit für eine schwerere eingetauscht haben, im allgemeinen als hereingefallene Dummköpfe verachtete), sondern weil er sich mit einem roten Hemd und einem Silberrubel, also einen allzu geringen Lohn, begnügt hatte. Gewöhnlich wird solch ein Tausch für hohe, natürlich nur eine verhältnismäßig hohe Bezahlung vorgenommen. Es werden dafür sogar zwanzig und mehr Rubel bezahlt. Aber Ssuschilow war so widerstandlos, so unpersönlich und in aller Augen so unbedeutend, daß man über ihn eigentlich nicht einmal lachen sollte.
Schon lange, seit mehreren Jahren, lebte ich mit Ssuschilow zusammen. Er schloß sich mir allmählich außerordentlich an; ich mußte es sehen, da auch ich mich an ihn gewöhnt hatte. Aber einmal, – ich werde es mir niemals verzeihen – traf es sich, daß er einen meiner Aufträge, für den er schon das Geld bekommen hatte, nicht ausführte und ich die Grausamkeit hatte, ihm zu sagen: »Sehen Sie, Ssuschilow, Sie nehmen das Geld, tun aber Ihre Pflicht nicht.« Ssuschilow erwiderte darauf nichts, besorgte schnell meinen Auftrag, wurde aber plötzlich auffallend traurig. Es vergingen zwei Tage. Ich dachte mir: es kann doch nicht sein, daß meine Worte auf ihn solchen Eindruck gemacht haben. Ich wußte, daß ein anderer Arrestant, ein gewisser Anton Wassiljew von ihm mit großer Hartnäckigkeit eine Schuld von wenigen Kopeken mahnte. Also hat er wohl kein Geld und traut sich nicht, mich um welches zu bitten. Am dritten Tage sage ich zu ihm: »Ssuschilow, ich glaube, Sie wollten mich um Geld für Anton Wassiljew bitten? Hier haben Sie es.« Ich saß auf der Pritsche; Ssuschilow stand vor mir. Er war wohl sehr verblüfft, daß ich ihm selbst Geld anbot und an seine schwierige Lage dachte, um so mehr, als er in der letzten Zeit, wie er glaubte, gar zu viel Geld von mir genommen hatte und folglich gar nicht zu hoffen wagte, daß ich ihm noch mehr gebe. Er sah erst das Geld, dann mich an, wandte sich um und ging hinaus. Dies versetzte mich in Erstaunen. Ich folgte ihm und fand ihn hinter den Kasernen. Er stand am Palisadenzaune, das Gesicht zum Zaune gewandt und sich mit der Hand gegen die Palisaden stützend. »Ssuschilow, was haben Sie?« fragte ich ihn. Er sah mich nicht an, und ich merkte zu meinem größten Erstaunen, daß er nahe daran war, in Tränen auszubrechen. »Alexander Petrowitsch... Sie glauben...« begann er mit stockender Stimme und bemühte sich, zur Seite zu blicken, »daß ich Ihnen... des Geldes wegen... aber ich... ich... ach!« Er wandte sich wieder zum Palisadenzaun um, so daß er sogar mit der Stirn an ihn stieß, und fing plötzlich zu schluchzen an!... Es war das erstemal, daß ich im Zuchthause einen Menschen weinen sah. Ich tröstete ihn mit großer Mühe, aber obwohl er mir von nun an womöglich noch eifriger diente und um mich sorgte, sah ich ihm doch an einigen, kaum merklichen Anzeichen an, daß sein Herz mir meinen Vorwurf niemals zu verzeihen vermochte. Die andern machten sich aber über ihn lustig, kränkten ihn bei jeder Gelegenheit, schimpften auf ihn zuweilen kräftig, und doch lebte er mit ihnen in Freundschaft und nahm ihnen nichts übel. Ja, es ist zuweilen sehr schwer, einen Menschen genau kennenzulernen, selbst wenn man schon viele Jahre mit ihm verkehrt!
Darum konnte ich auch nicht auf den ersten Blick den wahren Eindruck vom Zuchthause bekommen, den ich erst später gewann. Darum sagte ich auch, daß ich, obwohl ich alles mit einer so gierigen und intensiven Aufmerksamkeit beobachtete, dennoch vieles nicht sehen konnte, was ich dicht vor meiner Nase hatte. Natürlich frappierten mich zuerst die besonders auffallenden Erscheinungen, aber auch diese faßte ich vielleicht falsch auf, so daß sie in meiner Seele nur einen schweren, trostlos traurigen Eindruck hinterließen. Sehr viel trug dazu meine Begegnung mit dem Arrestanten A–ow bei, der kurz vor mir ins Zuchthaus gekommen war und der auf mich gleich in den ersten Tagen einen besonders qualvollen Eindruck machte. Ich hatte übrigens schon vor meiner Ankunft im Zuchthause gewußt, daß ich da den A–ow treffen würde. Er vergiftete mir die erste schwere Zeit und vergrößerte meine Seelenqualen. Ich kann ihn nicht mit Schweigen übergehen.
Er stellte das abstoßendste Beispiel dafür dar, bis zu welchem Grade ein Mensch sinken und herunterkommen und in sich jedes sittliche Gefühl ohne Mühe und ohne Reue ertöten kann. A–ow war der junge Mann adliger Abstammung, von dem ich schon sagte, daß er unserm Platzmajor alles hinterbrachte, was im Zuchthause geschah, und mit dessen Burschen Fedjka befreundet war. Hier ist seine kurze Geschichte. Ohne irgendeine Schule absolviert zu haben, kam er nach einem Zank mit seinen Angehörigen in Moskau, die er durch seinen lasterhaften Lebenswandel erschreckt hatte, nach Petersburg und ließ sich hier, um Geld zu beschaffen, zu einer gemeinen Denunziation herbei, d.h. er entschloß sich, das Blut von zehn Menschen zu verkaufen, um seinen unstillbaren Durst nach den rohesten und gemeinsten Genüssen sofort befriedigen zu können; Petersburg hatte ihn mit seinen Konditoreien und verrufenen Straßen dermaßen verdorben und in ihm eine solche Gier nach derartigen Genüssen geweckt, daß er, obwohl er sonst gar nicht dumm war, eine wahnsinnige Sache riskierte. Er wurde bald überführt; er verwickelte in seine Denunziation völlig unschuldige Menschen, betrog die andern und wurde deswegen für zehn Jahre nach Sibirien in unser Zuchthaus geschickt. Er war noch sehr jung, sein Leben fing erst eben an. Man sollte doch annehmen, daß diese schreckliche Wendung in seinem Schicksale auf ihn einen starken Eindruck machen und in seiner Natur irgendeine Reaktion wecken müßte. Er nahm aber sein neues Schicksal ohne jede Erschütterung, sogar ohne jeden Abscheu hin, empfand vor ihm keinerlei sittliche Empörung und erschrak vor nichts, höchstens vor der Notwendigkeit, zu arbeiten und den Konditoreien und den verrufenen Straßen Lebewohl sagen zu müssen. Es schien ihm sogar, daß seine Stellung eines Zuchthäuslers ihm die Freiheit gab, noch größere Gemeinheiten zu begehen. »Ein Zuchthäusler ist eben ein Zuchthäusler; und wenn man ein Zuchthäusler ist, so darf man jede Gemeinheit tun und braucht sich nicht zu schämen.« Das war buchstäblich seine Ansicht. Ich denke an dieses widerliche Geschöpf als an ein seltenes Phänomen zurück. Ich habe mehrere Jahre unter Mördern, Wüstlingen und den schlimmsten Verbrechern zugebracht, behaupte aber mit aller Entschiedenheit, noch nie im Leben eine so völlige sittliche Verkommenheit und eine so freche Niedrigkeit gesehen zu haben wie bei diesem A–ow. Wir hatten einen andern Adligen, der seinen Vater ermordet hatte; ich habe ihn schon erwähnt; aber viele Züge und Tatsachen überzeugten mich, daß sogar er unvergleichlich edler und menschlicher war als dieser A–ow. Während meines ganzen Aufenthaltes im Zuchthause war A–ow für mein Gefühl nur ein Stück Fleisch mit Zähnen und einem Magen und einem unstillbaren Durst nach den rohesten, tierischsten körperlichen Genüssen; um sich auch den geringsten dieser Genüsse zu verschaffen, war er imstande, vollkommen kaltblütig einen Mord und jedes Verbrechen zu begehen, wenn nur die Sache verborgen bliebe. Ich übertreibe nicht; ich habe diesen A–ow gut kennengelernt. Er lieferte ein Beispiel dafür, welches Übergewicht das Fleischliche am Menschen erhalten kann, wenn es durch keinerlei Norm oder Gesetz gebunden ist. So ekelhaft war mir sein ewiges spöttisches Lächeln. Er war ein Monstrum, ein moralischer Quasimodo. Man stelle sich dabei vor, daß er verschlagen und klug, auch hübsch war und sogar über einige Bildung und gute Fähigkeiten verfügte. Nein, besser ist schon eine Feuersbrunst, eine Seuche und eine Hungersnot als solch ein Mensch in der Gesellschaft. Ich sagte schon, daß im Zuchthause alle so tief gesunken waren, daß Spionage und Denunziation in hoher Blüte standen und keinen Protest erregten. Im Gegenteil, alle verkehrten mit A–ow sehr freundschaftlich und behandelten ihn viel freundlicher als uns. Die Gunst, die ihm unser versoffener Major erwies, verlieh ihm in den Augen der andern eine besondere Bedeutung und ein hohes Gewicht. Unter anderem redete er dem Major ein, daß er Porträts zu malen verstünde (den Arrestanten erzählte er dagegen, daß er ein Gardeleutnant gewesen sei), und der Major befahl, daß man ihn zur Arbeit zu ihm ins Haus schicke, natürlich, um ein Porträt des Majors selbst zu malen. Bei dieser Gelegenheit lernte A–ow den Burschen Fedjka kennen, der auf seinen Herrn und folglich auf alles und alle im Zuchthause einen außerordentlichen Einfluß hatte. A–ow spionierte auf Befehl des Majors bei uns, aber dieser ohrfeigte ihn, wenn er betrunken war, oder schimpfte ihn einen Spion und einen Angeber. Es kam vor, und sogar sehr oft, daß der Major, nachdem er ihn verprügelt, sich sofort auf einen Stuhl setzte und dem A–ow befahl, an seinem Porträt weiter zu malen. Unser Major glaubte anscheinend wirklich, daß A–ow ein hervorragender Künstler sei, fast ein Brjullow, von dem er gehört hatte; aber er hielt sich dennoch für berechtigt, ihn mit Ohrfeigen zu traktieren: »Du bist zwar ein Künstler, aber doch ein Zuchthäusler, und wenn du auch ein Erzbrjullow bist, so bin ich jedenfalls dein Vorgesetzter und kann mit dir alles tun, was mir paßt.« Unter anderm zwang er A–ow, ihm die Stiefel auszuziehen und aus seinem Schlafzimmer gewisse Gefäße hinauszutragen, konnte aber dabei doch lange nicht den Gedanken loswerden, daß A–ow ein großer Künstler sei. Das Malen des Porträts dauerte unendlich lange, fast ein ganzes Jahr. Der Major kam endlich dahinter, daß man ihn zum besten hielt und daß das Porträt nicht nur nicht vollendet, sondern von Tag zu Tag unähnlicher wurde. Er geriet in Wut, verprügelte den Künstler und schickte ihn zur Strafe ins Zuchthaus zu der schmutzigsten Arbeit. A–ow bedauerte sichtbar diese Wendung, und es war ihm schwer, auf die arbeitsfreien Tage, auf die Bissen vom Tische des Majors, auf die Freundschaft mit Fedjka und auf alle die Genüsse zu verzichten, die er mit dem letzteren in der Küche des Majors zu erfinden pflegte. Nach der Absetzung des A–ow hörte der Major jedenfalls auf, den Arrestanten M. zu verfolgen, den A–ow bei ihm fortwährend denunzierte, und zwar aus folgendem Grunde: Als A–ow ins Zuchthaus kam, war M. ganz allein, litt sehr unter der Einsamkeit, hatte keinen Verkehr mit den übrigen Arrestanten, blickte auf sie mit Entsetzen und Abscheu und übersah an ihnen das, was ihn mit ihnen hätte versöhnen können. Sie zahlten es ihm mit ihrem Haß. Überhaupt ist die Lage solcher Menschen wie M. im Zuchthause entsetzlich. Der Grund, weshalb man A–ow ins Zuchthaus verschickt hatte, war dem M. unbekannt. Als aber A–ow sah, was für einen Menschen er vor sich hatte, redete er ihm ein, daß man ihn wegen einer Sache verschickt habe, die einer Denunziation gerade entgegengesetzt sei, fast wegen des gleichen Vergehens wie den M. selbst, und M. war froh, einen Freund und Genossen gefunden zu haben. Er bemutterte und tröstete ihn in den ersten Tagen seines Zuchthauslebens, da er annahm, daß er entsetzlich leiden müsse, gab ihm sein letztes Geld, gab ihm zu essen und teilte mit ihm seine notwendigsten Sachen. Aber A–ow fing ihn gleich zu hassen an, nur weil M. ein anständiger Mensch war, weil er sich über jede Gemeinheit so entsetzte, weil er eben ganz anders war als er, A–ow; alles, was ihm M. in den früheren Gesprächen über das Zuchthaus und den Major gesagt hatte, hinterbrachte A–ow bei der ersten passenden Gelegenheit diesem letzteren. Der Major bekam eine entsetzliche Wut auf M., verfolgte ihn grausam und hätte ihn, wenn der Einfluß des Kommandanten nicht wäre, sicher zugrunde gerichtet. Als M. später von dieser Gemeinheit erfuhr, machte es auf A–ow nicht nur keinen Eindruck, sondern es freute ihn sogar, ihm spöttisch ins Gesicht zu schauen. Das verschaffte ihm sichtbaren Genuß. M. selbst machte mich darauf einigemal aufmerksam. Diese niederträchtige Kreatur entfloh später mit einem anderen Arrestanten und einem Begleitsoldaten, aber von dieser Flucht will ich ein anderes Mal erzählen. Anfangs umschmeichelte er auch mich, da er glaubte, daß ich von seiner Geschichte nichts wisse. Ich sage es noch einmal: er vergiftete mir die ersten Tage meines Zuchthauslebens und verschärfte meine seelischen Qualen. Ich entsetzte mich vor dieser schrecklichen Niedertracht und Gemeinheit, in die ich hineingeraten war. Ich glaubte, daß hier alles so niederträchtig und gemein sei. Aber ich irrte mich, denn ich hatte alle nach diesem A–ow beurteilt.
Diese ersten drei Tage trieb ich mich tief niedergeschlagen im Zuchthause herum, lag auf meiner Pritsche, ließ mir von einem zuverlässigen Arrestanten, den mir Akim Akimytsch empfohlen hatte, aus der mir ausgefolgten Kommißleinwand Hemden nähen, natürlich gegen Bezahlung (für einige Kopeken pro Stück), und schaffte mir auf dringenden Rat Akim Akymitschs eine zusammenlegbare Matratze (aus Filz mit Leinenüberzug), so dünn wie ein Pfannkuchen, und ein mit Wolle gefülltes Kissen an, das mir, bevor ich mich daran gewöhnte, furchtbar hart vorkam. Akim Akymitsch war um die Anschaffung aller dieser Gegenstände sehr besorgt und beteiligte sich auch selbst daran. Er nähte mir eigenhändig eine Bettdecke aus Fetzen alten Kommißtuches, die von abgetragenen Hosen und Jacken herrührten und die ich bei den anderen Arrestanten gekauft hatte. Die Kommißsachen gingen nach einer festgesetzten Frist in den Besitz der Arrestanten über und wurden sofort im Zuchthause selbst verkauft; wie abgetragen ein Gegenstand auch war, hatte er doch Aussicht, für einen gewissen Preis verkauft zu werden. Über dies alles mußte ich mich anfangs sehr wundern. Es war überhaupt die Zeit meiner ersten Berührung mit dem einfachen Volke. Plötzlich war ich selbst ein Mann aus dem Volke, der gleiche Arrestant geworden wie sie. Ihre Gewohnheiten, Begriffe, Ansichten und Sitten wurden gleichsam auch die meinigen, jedenfalls der Form und dem Gesetze nach, obwohl ich sie, im Grunde genommen, nicht teilte. Ich war erstaunt und verblüfft, als hätte ich früher nichts davon geahnt oder gehört, obwohl ich es in Wirklichkeit wohl gehört und gewußt hatte. Aber die Wirklichkeit wirkt immer ganz anders als das Wissen und Hören. Hätte ich mir z.B. früher vorstellen können, daß solche Gegenstände wie alte abgetragene Lumpen überhaupt noch als Gegenstände gelten können? Nun ließ ich mir aber aus diesen Lumpen eine Bettdecke nähen! Man konnte sich auch schwer vorstellen, aus was für einer Sorte Tuch die Arrestantenkleider gemacht wurden. Von außen sah es wirklich wie Tuch, sogar wie dickes Soldatentuch aus; kaum hatte man es aber eine Weile getragen, so verwandelte es sich in ein netzartiges Gewebe und zerriß auf die gemeinste Weise. Die Tuchkleider wurden übrigens nur für ein Jahr geliefert, aber es war schwer, mit ihnen auch diese Frist auszukommen. Der Arrestant arbeitet ja und trägt Lasten, darum wetzt sich seine Kleidung schnell ab. Die Schafpelze wurden dagegen für drei Jahre geliefert und dienten gewöhnlich während dieser Zeit als Bekleidung sowohl als auch als Bettdecken und Schlafunterlagen. Aber die Pelze waren dauerhaft, obwohl man gar nicht selten am Ende des dritten Jahres, also vor Ablauf der Frist, solche Schafpelze, mit Flicken aus einfacher Leinwand sehen konnte. Trotzdem wurden sie, wie abgetragen sie auch waren, nach Ablauf der festgesetzten Frist für etwa vierzig Silberkopeken verkauft. Für solche, die besser erhalten waren, bekam man sogar sechzig und siebzig Silberkopeken. Im Zuchthause ist das aber viel Geld.
Das Geld hatte, wie ich schon sagte, im Zuchthause eine große Bedeutung und stellte eine Macht dar. Man darf positiv sagen, daß ein Arrestant, der im Zuchthause auch nur etwas Geld besaß, zehnmal weniger zu leiden hatte, als einer, der nichts besaß, obwohl der letztere ja auch mit Kommißsachen versorgt wurde. Was braucht er also Geld? – sagten sich unsere Vorgesetzten. Ich aber sage wieder, daß die Arrestanten, wenn sie keine Möglichkeit hätten, eigenes Geld zu besitzen, entweder verrückt geworden oder wie die Fliegen gestorben wären (obwohl sie mit allem Notwendigen versorgt waren) oder schließlich unerhörte Verbrechen begangen hätten, – die einen einfach aus Langeweile, die andern, um so schnell wie möglich hingerichtet und vernichtet zu werden oder irgendwie »sein Schicksal zu verändern« (so lautete der technische Ausdruck. Daß der Arrestant, der mit blutigem Schweiße jede Kopeke verdient oder sich des Gelderwerbes wegen auf allerlei Listen einläßt, die oft mit Diebstahl und Betrug verbunden sind, dieses Geld mit einem so kindlichen Leichtsinn ausgibt, ist gar kein Beweis dafür, daß er das Geld nicht schätzt, selbst wenn es auf den ersten Blick so erscheinen mag. Die Geldgier eines Arrestanten ist direkt krankhaft und grenzt an Wahnsinn, und selbst wenn er es wie Hobelspäne um sich wirft, so gibt er es doch für etwas aus, was er um eine Stufe höher stellt als das Geld. Was ist aber für den Arrestanten höher als Geld? Die Freiheit oder der Traum von der Freiheit. Die Arrestanten sind große Träumer. Darüber werde ich noch später sprechen, jetzt will ich aber nur noch eines erwähnen: wird es mir jemand glauben wollen, daß ich unter den für zwanzig Jahre Verschickten solche sah, die mir vollkommen ruhig sagten: »Warte nur, so Gott will, sitze ich meine Zeit ab, und dann...« Das Wort »Arrestant« bedeutet ja einen Menschen ohne Willen, wenn er aber Geld ausgibt, handelt er schon nach eigenem Willen. Trotz aller Brandmale, Ketten und der verhaßten Palisaden des Zuchthauses, die vor ihm die Welt Gottes verdecken und ihn wie ein wildes Tier im Käfig einschließen, kann er sich doch Branntwein kaufen, der einen streng verbotenen Genuß bedeutet, er kann sich auch mit dem schönen Geschlecht einlassen, kann sogar manchmal (wenn auch nicht immer) seine unmittelbaren Vorgesetzten, die Invaliden und selbst den Unteroffizier bestechen, die dann ein Auge zudrücken, wenn er die Vorschriften und die Disziplin verletzt; er kann sogar obendrein so tun, als fürchte er sie nicht: das tut aber ein Arrestant furchtbar gern, d.h. er kann vor seinen Kameraden damit prahlen und es sogar sich selbst, wenigstens für einige Zeit, einreden, daß er unvergleichlich mehr eigenen Willen und Macht habe, als es scheine; mit einem Worte, er kann prassen, Skandal machen, einen andern auf die gemeinste Weise behandeln und ihm beweisen, daß er dies alles dürfe, daß er die Gewalt dazu habe, d.h. sich selbst etwas einzureden, woran der arme Teufel nicht mal zu denken wagt. Das ist übrigens vielleicht der Grund dafür, daß die Arrestanten, selbst wenn sie nüchtern sind, allgemein eine Neigung zum Prahlen und zu einer komischen und naiven, völlig unbegründeten Selbstüberhebung zeigen. Schließlich ist jede Ausschweifung immer mit einem Risiko verbunden, also erinnert das alles wenigstens entfernt an das freie Leben. Was gibt aber der Mensch für seine Freiheit nicht alles her? Welcher Millionär, dem man die Kehle mit einer Schlinge zuschnürte, würde nicht alle seine Millionen für einen einzigen Atemzug hergeben?
Die Vorgesetzten wundern sich manchmal, daß ein Arrestant, der einige Jahre so friedlich und musterhaft gelebt und den man wegen seines guten Betragens zu einem Aufseher gemacht hat, plötzlich so mir nichts, dir nichts, als wäre in ihn der Teufel gefahren, über die Schnur haut, Radau macht, um sich schlägt und zuweilen sogar ein Kriminalverbrechen riskiert: entweder sich offen der Obrigkeit widersetzt, oder jemand ermordet oder vergewaltigt usw. Sie wundern sich alle darüber. Dabei ist aber dieser plötzliche Ausbruch in dem Menschen, von dem man es am allerwenigsten erwartet hätte, nur eine krampfhafte Behauptung seiner Persönlichkeit, eine instinktive Sehnsucht nach einem eigenen Ich, der Wunsch, sich irgendwie zu äußern und seine unterdrückte Individualität zu zeigen, ein Drang, der sich bis zur Wut, bis zur Raserei, bis zum Wahnsinn, bis zu einem Krampfe steigern kann. So klopft vielleicht ein lebendig Begrabener, wenn er im Sarge erwacht, gegen den Sargdeckel und bemüht sich, ihn aufzuheben, obwohl die Vernunft ihm sagen müßte, daß alle seine Bemühungen vergeblich sein würden. Aber das ist es eben, daß die Vernunft hier nicht mitzureden hat: es ist ein krampfhafter Anfall. Wir müssen ferner bedenken, daß fast jede willkürliche Äußerung seiner Persönlichkeit bei einem Arrestanten als ein Verbrechen angesehen wird; darum macht er natürlich keinen Unterschied zwischen einer großen oder kleinen Äußerung. Wenn er schon prassen will, dann auch ordentlich, wenn er etwas riskiert, dann gleich alles, selbst einen Mord. Es genügt ja schon der Anfang: der Mensch gerät dann in einen Rausch und läßt sich nicht mehr zurückhalten! Darum wäre es unbedingt besser, ihn nicht soweit kommen zu lassen. Dann hätten alle mehr Ruhe.
Ja, aber wie das machen?
Bei meinem Eintritt ins Zuchthaus besaß ich einiges Geld; in der Tasche hatte ich nur wenig, aus Furcht, daß es mir weggenommen werden könnte, aber ich hatte mir für jeden Fall in den Einbanddeckel des Neuen Testaments, das ich ins Zuchthaus mitnehmen durfte, einige Rubel versteckt, d.h. eingeklebt. Dieses Buch mit dem in seinem Einbande eingeklebten Gelde hatten mir zu Tobolsk gewisse PersonenDostojewskij bekam zu Tobolsk von den Frauen der »Dekabristen«, die ihren 1825 verbannten Männern freiwillig nach Sibirien gefolgt waren, ein Neues Testament geschenkt. Anm. d. Ü. geschenkt, die gleich mir in der Verbannung schmachteten, die ihre Zeit schon nach Jahrzehnten zahlten und darum schon längst gewohnt waren, in jedem Unglücklichen einen Bruder zu sehen. Es gibt in Sibirien stets einzelne Personen, die es sich zum Lebensziel gemacht haben, die »Unglücklichen« brüderlich zu behandeln und um sie völlig uneigennützig wie um leibliche Kinder zu sorgen. Ich kann nicht umhin, hier ganz kurz eine Begegnung dieser Art zu schildern. In der Stadt, in der sich unser Zuchthaus befand, lebte eine Witwe namens Nastasja Iwanowna. Natürlich konnte während unseres Aufenthaltes im Zuchthaus niemand von uns ihre persönliche Bekanntschaft machen. Sie hatte es sich anscheinend zur Lebensaufgabe gemacht, den Verbannten zu helfen, für uns sorgte sie aber mehr als für die andern. Ich weiß nicht, ob nicht auch in ihrer eigenen Familie ein ähnliches Unglück passiert war, oder ob jemand von den ihr teueren und nahestehenden Menschen wegen eines ähnlichen Vergehens verurteilt worden war, aber sie hielt es jedenfalls für ein besonderes Glück, für uns alles zu tun, was sie nur konnte. Viel konnte sie natürlich nicht machen; sie war sehr arm. Aber wir fühlten dennoch, solange wir im Zuchthause saßen, daß wir außerhalb des Zuchthauses einen uns ergebenen Freund hatten. Unter anderm übermittelte sie uns oft Nachrichten, nach denen wir uns sehr sehnten. Als ich das Zuchthaus verließ, suchte ich sie, vor der Übersiedlung in eine andere Stadt, auf und machte ihre persönliche Bekanntschaft. Sie lebte in der Vorstadt bei ihren nahen Verwandten. Sie war weder alt noch jung, weder hübsch noch häßlich; man konnte sogar schwer feststellen, ob sie klug und gebildet war. Man merkte an ihr nur eine grenzenlose Güte, ein unüberwindliches Verlangen, das Schicksal der anderen zu erleichtern und ihnen etwas Angenehmes zu tun. Dies alles konnte man in ihren stillen, guten Blicken lesen. Ich verbrachte bei ihr mit einem ehemaligen Zuchthausgenossen einen ganzen Abend. Sie blickte uns immer in die Augen, lachte, wenn wir lachten, stimmte eiligst allem bei, was wir sagten, und gab sich die größte Mühe, uns auf jede Weise zu bewirten. Sie traktierte uns mit Tee, kaltem Imbiß und Süßigkeiten, und wenn sie Tausende hätte, so würden sie ihr, wie ich glaube, nur darum Freude machen, weil sie uns dann noch mehr Gefälligkeiten erweisen und das Los unserer im Zuchthause zurückgebliebenen Genossen noch mehr erleichtern könnte. Beim Abschied gab sie einem jeden von uns ein Zigarettenetui zum Andenken. Diese Etuis hatte sie für uns eigenhändig aus Karton angefertigt (über die Güte der Arbeit will ich nichts sagen), und mit buntem Papier beklebt, mit dem gleichen Papier, in das gewöhnlich die Rechenbücher für die Volksschulen gebunden werden (vielleicht hatte sie für die Etuis tatsächlich so ein Rechenbuch verwendet). Beide Etuis waren ringsherum mit einer schmalen Borte aus Goldpapier verziert, das sie vielleicht eigens zu diesem Zwecke in einem Laden gekauft hatte. »Sie rauchen ja Zigaretten, vielleicht werden Sie die Etuis brauchen können,« sagte sie schüchtern, als wollte sie sich wegen des Geschenks entschuldigen... Manche sagen (ich habe es gehört und auch gelesen), daß die höchste Nächstenliebe zugleich den größten Egoismus bedeute. Worin aber hier der Egoismus stecken soll, kann ich unmöglich begreifen.
Obwohl ich also beim Eintritt ins Zuchthaus nicht viel Geld besaß, konnte ich mich doch nicht ernsthaft über die Zuchthäusler ärgern, die mich schon fast in den ersten Stunden meines Zuchthauslebens, nachdem sie mich schon einmal betrogen hatten, auf die naivste Weise zum zweiten, zum dritten und sogar zum vierten Male anzupumpen versuchten. Aber eines muß ich aufrichtig gestehen: es war mir sehr ärgerlich, daß mich alle diese Leute mit allen ihren naiven Listen, wie ich glaubte, unbedingt für einen Einfaltspinsel und Narren halten und sich über mich lustig machen mußten, weil ich ihnen auch zum fünften Male Geld gab. Sie mußten doch sicher glauben, daß ich auf ihre Betrugsversuche hereinfalle, und ich bin überzeugt, daß sie unvergleichlich mehr Achtung vor mir hätten, wenn ich ihnen das Geld verweigert hätte. Aber so sehr ich mich auch ärgerte, konnte ich ihnen ihre Bitten doch nicht abschlagen. Mein Ärger beruhte eigentlich darauf, daß ich mir in diesen ersten Tagen ernste Gedanken darüber machte, auf welchem Fuße ich mit ihnen stehen müsse. Ich fühlte und sah wohl ein, daß diese ganze Umgebung für mich völlig neu war, daß ich mich gleichsam im Finstern befand, daß man aber im Finstern unmöglich so viele Jahre leben könne. Also mußte ich mich darauf vorbereiten. Natürlich sagte ich mir, daß ich vor allem meiner inneren Stimme und meinem Gewissen folgen müsse. Aber ich wußte auch, daß dies nur schöne Worte sind, während mir in der Praxis manches Unerwartete bevorstand.
Darum quälte mich, trotz all der kleinen Sorgen um meine Einrichtung in der Kaserne, von denen ich schon berichtete und in die mich vorwiegend Akim Akimytsch hereinzog, trotz der Ablenkung, die ich darin fand, immer mehr und mehr ein schrecklicher, zehrender Gram. »Ein totes Haus!« sagte ich zu mir selbst, wenn ich zuweilen in der Morgendämmerung, von den Stufen unserer Kaserne aus die Arrestanten betrachtete, die sich eben anschickten, zur Arbeit zu gehen, und träge auf dem Zuchthaushofe aus der Kaserne in die Küche und zurück schlenderten. Ich beobachtete ihre Gesichter und ihre Bewegungen und bemühte mich, zu erraten, was sie wohl für Menschen seien und was sie für Charaktere haben. Sie aber trieben sich vor meinen Augen mit gerunzelten Stirnen oder übertrieben lustigen Mienen (diese beiden Kategorien kommen am häufigsten vor und sind für das Zuchthaus charakteristisch) herum, fluchten oder unterhielten sich einfach oder gingen schließlich einsam, gleichsam in Gedanken versunken, still und ruhig hin und her, die einen mit müdem, apathischem Ausdruck, die anderen (sogar hier!) mit dem Ausdrucke einer frechen Selbstüberhebung, die Mützen auf ein Ohr geschoben, die Pelze lose über die Schultern geworfen, mit herausfordernden, verschlagenen Blicken und einem unverschämten Lächeln. »Das ist nun meine Umgebung, meine jetzige Welt«, dachte ich mir, »mit der ich, ob ich will oder nicht, leben muß...« Ich versuchte, mich über die Leute bei Akim Akimytsch zu erkundigen, in dessen Gesellschaft ich gern Tee trank, um nicht allein zu sein. Nebenbei bemerkt war der Tee in der ersten Zeit fast meine einzige Nahrung. Akim Akimytsch lehnte den Tee niemals ab und setzte selbst unsern komischen, selbstverfertigten kleinen Samovar aus Blech auf, den mir M. geliehen hatte. Akim Akimytsch trank gewöhnlich nur ein Glas (er besaß sogar Teegläser), trank es schweigend und sittsam aus, bedankte sich und begann wieder an meiner Bettdecke zu nähen. Aber das, was ich von ihm erfahren wollte, konnte er mir gar nicht mitteilen, und er verstand sogar nicht, warum ich mich so sehr für die Charaktere der uns umgebenden und in unserer nächsten Nähe lebenden Zuchthäusler interessierte; er hörte mir mit einem eigentümlichen schlauen Lächeln zu, an das ich mich gut erinnere. »Nein, offenbar muß man hier alles selbst erproben und nicht erfragen,« sagte ich mir.
Am vierten Tage stellten sich die Arrestanten genau wie damals, als man mir die Fesseln umgeschmiedet hatte, am frühen Morgen in zwei Reihen auf dem Platze vor der Hauptwache am Zuchthaustore auf. Vor ihnen, mit dem Gesicht zu ihnen, und hinter ihnen stellten sich Soldaten mit geladenen Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten auf. Der Soldat hat das Recht, auf den Arrestanten zu schießen, wenn es diesem einfällt, zu entfliehen; zugleich wird er aber zur Verantwortung gezogen, wenn er den Schuß nicht im äußersten Notfalle abgegeben hat; dasselbe gilt im Falle einer offenen Meuterei der Zuchthäusler. Aber wem wird es einfallen, vor den Augen des Wachtsoldaten davonzulaufen? Es erschienen der Ingenieur-Offizier, der Zugführer, dann die Ingenieur-Unteroffiziere und Soldaten, die uns bei der Arbeit zu beaufsichtigen hatten. Man nahm einen Appell vor; eine Anzahl Arrestanten, die in den Nähstuben beschäftigt wurden, gingen zuerst ab; die Ingenieur-Behörde hatte mit ihnen nichts zu tun; sie arbeiteten für das Zuchthaus und nähten für die Sträflinge Kleider. Dann wurden die in den andern Werkstätten beschäftigten Arrestanten weggeschickt und zuletzt die, die mit gewöhnlichen groben Arbeiten beschäftigt wurden. Zu den letzteren wurde ich mit etwa zwanzig andern Arrestanten kommandiert. Auf dem zugefrorenen Flusse hinter der Festung lagen zwei dem Staate gehörende Barken, die man infolge ihrer Unbrauchbarkeit auseinandernehmen mußte, damit wenigstens das alte Holz erhalten bleibe. Dieses ganze alte Material hatte übrigens, wie ich glaube, einen sehr geringen oder auch gar keinen Wert. Brennholz war in der Stadt zu einem sehr geringen Preis zu haben, und Wald gab es ringsum genug. Man schickte uns zu dieser Arbeit, nur damit die Arrestanten irgendeine Beschäftigung hätten, was sie auch selbst wußten. Eine solche Arbeit machten sie immer apathisch und lustlos, während es bei einer richtigen, vernünftigen Arbeit ganz anders zuging, besonders wenn man ein bestimmtes Pensum zugewiesen bekam. Bei einer solchen Arbeit gerieten sie fast in Begeisterung, und ich sah oft, wie sie, obwohl sie selbst gar keinen Nutzen davon hatten, alle Kräfte aufwandten, um die Arbeit so schnell und so gut wie möglich zu erledigen; sogar ihr Ehrgeiz war dabei im Spiele. Aber bei dieser Arbeit, die mehr pro forma als aus wirklicher Notwendigkeit getan wurde, war es schwer, ein bestimmtes Pensum zu erwirken, arbeiten mußte man aber bis zum Trommelschlag, der um elf Uhr vormittags als Signal zum Heimgehen ertönte. Der Tag war warm und neblig; der Schnee schmolz beinahe. Unsere ganze Gruppe begab sich hinter die Festung ans Ufer, leicht mit den Ketten klirrend, die zwar unter den Kleidern verborgen waren, aber dennoch bei jedem Schritt einen scharfen metallischen Klang gaben. Zwei oder drei Mann trennten sich von uns, um aus dem Zeughause die nötigen Werkzeuge zu holen. Ich ging mit den anderen und empfand sogar eine gewisse Aufregung: ich wollte schneller sehen und erfahren, was es für eine Arbeit sei. Wie mag die Zwangsarbeit aussehen? Und wie werde ich selbst zum ersten Mal im Leben arbeiten?
Ich besinne mich auf alles bis zur letzten Kleinigkeit. Unterwegs begegnete uns ein Kleinbürger mit einem Bärtchen; er blieb stehen und steckte die Hand in die Tasche. Von unserer Gruppe löste sich sofort ein Arrestant, zog die Mütze, nahm das Almosen, es waren fünf Kopeken, und kehrte schnell zu den übrigen zurück. Der Kleinbürger bekreuzigte sich und zog seinen Weg weiter. Diese fünf Kopeken wurden am gleichen Morgen in Semmeln angelegt, die unter der ganzen Gruppe zu gleichen Teilen verteilt wurden.
In unserer Gruppe waren die einen Arrestanten wie gewöhnlich mürrisch und wortkarg, die andern gleichgültig, und matt, während andere wieder träge miteinander plauderten. Einer war aus irgendeinem Grunde furchtbar froh und lustig; er sang und tanzte sogar fast unterwegs, bei jedem Sprunge mit den Ketten klirrend. Es war derselbe kleingewachsene, kräftige Arrestant, der sich am ersten Morgen meines Zuchthauslebens mit einem anderen beim Waschen am Wassereimer gezankt hatte, weil jener es wagte, von sich dummerweise zu behaupten, daß er ein Enterich sei. Dieser lustige Bursche hieß Skuratow. schließlich stimmte er ein flottes Lied an, von dem ich noch den Refrain in Erinnerung habe:
Als man meine Hochzeit machte,
War ich selbst gar nicht dabei.
Es fehlte nur noch eine Balalaika.
Seine ungewöhnlich lustige Gemütsverfassung erregte natürlich sofort bei Einigen in unserer Gruppe Entrüstung und wurde fast als eine Beleidigung aufgefaßt.
»Da heult er schon wieder!« versetzte vorwurfsvoll ein Arrestant, den die Sache übrigens gar nicht anging.
»Der Wolf hat nur ein einziges Lied gekannt, und das hast du ihm gestohlen, du Tula'er!« bemerkte ein anderer von den mürrischen Gesellen mit kleinrussischer Aussprache.
»Mag ich ein Tula'er sein,« entgegnete Skuratow auf der Stelle, »aber euch in Poltawa ist ein Mehlkloß im Halse stecken geblieben.«
»Lüge nur! Und was hast du selbst gegessen? Hast mit dem Bastschuh Kohlsuppe gelöffelt.«
»Und jetzt füttert ihn der Teufel mit Kanonenkugeln,« setzte ein dritter hinzu.
»Ich bin in der Tat ein verzärtelter Mensch, Brüder,« antwortete Skuratow mit einem leichten Seufzer, als bedauerte er selbst seine Verzärtelung, sich an alle zusammen und an keinen einzelnen wendend. »Ich bin von Kind auf mit Backpflaumen und preußischen Semmeln großgezogen worden. Meine leiblichen Brüder in Moskau haben auch heute noch einen Laden in der Luftstraße, sie handeln mit Winden und sind reiche Kaufleute.«
»Womit hast aber du gehandelt?«
»Ich habe verschiedenes versucht. Damals bekam ich, Brüder, die ersten zweihundert...«
»Rubel?« fiel ihm ein Neugieriger ins Wort, der sogar zusammenfuhr, als er von einem solchen Betrag hörte.
»Nein, lieber Freund, nicht Rubel, sondern Ruten. Luka, du, Luka!«
»Für manchen heiße ich Luka, aber für dich Luka Kusmitsch,« erwiderte verdrießlich ein kleiner, schmächtiger Arrestant mit einem spitzen Näschen.
»Gut, von mir aus Luka Kusmitsch, hol dich der Teufel.«
»Für manche heiße ich Luka Kusmitsch, aber für dich Onkelchen.«
»Na, hol dich der Teufel mitsamt dem Onkelchen, es lohnt sich gar nicht, mit dir zu reden! Aber ich wollte dir etwas Schönes sagen. So kam es also, Brüder, daß ich nur kurze Zeit in Moskau blieb; man gab mir zum Abschied fünfzehn Knutenhiebe und schickte mich her. So bin ich hier...«
»Warum hat man dich denn hergeschickt?« unterbrach ihn einer, der der Erzählung aufmerksam gelauscht hatte.
»Man soll eben nicht in die Quarantäne gehen, man soll nicht aus dem Faß saufen, man soll nicht Billard spielen. So hatte ich in Moskau nicht Zeit gehabt, Brüder, richtig, reich zu werden. Ich wollte aber so gern reich werden. So sehr wollte ich es, daß ich es gar nicht sagen kann.«
Viele lachten. Skuratow gehörte offenbar zu den freiwilligen Spaßmachern oder, richtiger gesagt, Hanswursten, die es sich zur Pflicht machten, ihre mürrischen Kameraden zu erheitern und dafür natürlich nichts außer Flüchen ernteten. Er gehörte zu einem besonderen, interessanten Typus, von dem ich vielleicht später noch zu reden haben werde.
»Man könnte dich ja jetzt schon statt eines Zobels totschlagen,« bemerkte Luka Kusmitsch. »Deine Kleider allein haben einen Wert von hundert Rubeln.«
Skuratow trug einen sehr alten und abgetragenen Schafpelz, der über und über mit Flicken bedeckt war. Er betrachtete ihn ziemlich gleichgültig, aber aufmerksam von oben bis unten.
»Dafür ist mein Kopf viel wert, Brüder, mein Kopf!« antwortete er. »Als ich mich von Moskau verabschiedete, war mein einziger Trost, daß ich meinen Kopf mitnehmen durfte. Leb wohl, Moskau, ich danke dir für das Dampfbad und für die freie Luft, schön haben sie mich dort zugerichtet! Meinen Pelz brauchst du aber nicht anzuschauen, lieber Freund...«
»Soll ich etwa deinen Kopf anschauen?«
»Auch sein Kopf gehört ihm nicht, den hat man ihm als Almosen geschenkt,« mischte sich wieder Luka ein. »Man hat ihn ihm unterwegs in Tjumenj im Namen Christi geschenkt.«
»Du hast wohl irgendein Handwerk gehabt, Skuratow?«
»Was für ein Handwerk! Ein Blindenführer ist er gewesen, hat seinen Blinden die Kieselsteine, die man ihnen statt eines Almosens gab, gestohlen,« bemerkte einer von den Mürrischen: »Das ist sein ganzes Handwerk.«
»Ich habe wirklich versucht, Stiefel zu nähen,« entgegnete Skuratow, der die beißende Bemerkung gar nicht beachtete, »aber ich habe bisher nur ein Paar fertiggebracht.«
»Nun, hat man es dir abgekauft?«
»Ja, es fand sich solch ein Mann, hat keine Gottesfurcht im Herzen gehabt, hat Vater und Mutter nicht geehrt; Gott hat ihn dafür gestraft, und er hat mir die Stiefel abgekauft.«
Alle um Skuratow herum wälzten sich vor Lachen.
»Dann habe ich noch einmal gearbeitet, das war schon hier,« fuhr Skuratow außerordentlich kaltblütig fort. »Ich habe dem Herrn Leutnant Stepan Fjodorytsch Pomorzew ein Paar Stiefel mit Kappen versehen.«
»Nun, war er zufrieden?«
»Nein, Brüder, unzufrieden. Er hat auf mich geschimpft, daß es für tausend Jahre langt, und mir außerdem einen Fußtritt gegeben. Er war schon sehr zornig. Ach, betrogen hat mich mein Leben, dieses Zuchthausleben!
Etwas später, etwas später,
Kam Akuljkas Mann ins Haus...«
Er fing plötzlich wieder zu singen an und dazu mit den Füßen zu stampfen.
»Ist das ein ekelhafter Kerl,« brummte der neben mir gehende Kleinrusse, indem er ihn mit gehässiger Verachtung von der Seite ansah.
»Ein unnützer Mensch!« bemerkte ein anderer in entschiedenem und ernstem Tone.
Ich konnte unmöglich begreifen, warum man Skutarow so sehr zürnte und warum alle lustigen Leute, wie ich es schon in den ersten Tagen bemerkte, eine gewisse Verachtung genossen. Ich glaubte, daß der Zorn des Kleinrussen und der andern auf persönlichen Gründen beruhe. Es waren aber keine persönlichen Gründe, sondern sie waren böse, weil Skuratow keine Haltung hatte, weil er keine geheuchelte Würde zeigte, mit der das ganze Zuchthaus bis zur Pedanterie angesteckt war, kurz, weil er, wie sie sich ausdrückten, ein »unnützer« Mensch war. Aber nicht alle Lustigen wurden so böse behandelt wie Skutarow und seinesgleichen. Es kam ganz darauf an, ob man sich diese Behandlung gefallen ließ. Ein gutmütiger Mensch wurde, selbst wenn er keine Späße trieb, verachtet. Das setzte mich sogar in Erstaunen. Es gab aber unter den Lustigen auch solche, die es verstanden, sich zu wehren, und die sich nichts gefallen ließen: solche mußte man achten. Auch in dieser Gruppe befand sich so ein scharfer Kerl, der im Grunde genommen ein sehr lieber und lustiger Mensch war, den ich aber von dieser Seite erst später kennenlernte, ein langer, stattlicher Bursche mit einer großen Warze auf der Wange und einem höchst komischen Ausdruck in seinem übrigens recht hübschen und intelligenten Gesicht. Man nannte ihn »Pionier«, weil er früher einmal bei den Pionieren gedient hatte; jetzt befand er sich in der Besonderen Abteilung. Über ihn werde ich noch viel zu erzählen haben.
Übrigens waren auch nicht alle »Ernsthafte« so temperamentvoll wie der Kleinrusse, der sich über die Heiterkeit entrüstete. Im Zuchthause befanden sich einige Leute, die immer danach strebten, die Ersten zu sein, und Anspruch auf Wissen jeder Art, auf Findigkeit, Charakterfestigkeit und Verstand erhoben. Viele von ihnen waren wirklich kluge Menschen mit starkem Charakter, und sie erreichten wirklich das, wonach sie strebten, d. h. eine gewisse Machtstellung und einen erheblichen moralischen Einfluß auf ihre Genossen. Unter sich waren diese Klugen oft arg verfeindet, und ein jeder von ihnen hatte viele Hasser. Auf die übrigen Arrestanten sahen sie mit großer Würde und sogar einer gewissen Nachsicht herab; sie begannen keinen unnützen Streit, waren bei den Vorgesetzten gut angeschrieben und traten bei der Arbeit als eigenmächtige Aufseher auf; keiner von ihnen hatte sich z. B. über das Singen geärgert; zu solcher Kleinlichkeit erniedrigten sie sich niemals. Gegen mich waren sie alle während meines ganzen Zuchthauslebens ungewöhnlich höflich, aber wenig gesprächig, wohl auch aus Würde. Auch von ihnen werde ich noch ausführlicher sprechen müssen.
Wir kamen ans Ufer. Unten auf dem Flusse lag die im Wasser eingefrorene alte Barke, die man abbrechen mußte. Jenseits des Flusses blaute die Steppe; der Anblick war düster und öde. Ich erwartete, daß alle sich auf die Arbeit stürzen würden; aber sie dachten gar nicht daran. Die einen setzten sich auf die am Ufer herumliegenden Balken; fast alle zogen aus ihren Stiefeln Beutel mit sibirischem Blättertabak, der auf dem Markte zu drei Kopeken das Pfund zu haben war, und kurze Pfeifenrohre aus Weidenholz mit selbstgemachten kleinen hölzernen Köpfen. Die Pfeifen wurden angezündet; die Begleitsoldaten bildeten eine Kette um uns herum und begannen uns mit höchst gelangweilten Mienen zu bewachen.
»Wem ist es bloß eingefallen, diese Barke abbrechen zu lassen?« sagte einer wie vor sich hin, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden. »Sie brauchen wohl Späne.«
»Das ist einem solchen Menschen eingefallen, der uns nicht fürchtet,« bemerkte ein anderer.
»Wo geht bloß das Bauernpack hin?« fragte nach einer Pause der erste, der die Antwort auf seine Frage natürlich überhört hatte, auf einen Trupp Bauern hinweisend, die im Gänsemarsch über den noch unbetretenen Schnee zogen. Alle wandten sich träge nach den Bauern um und begannen aus Langerweile über sie zu spotten. Einer von den Bauern, der hinterste, ging ungewöhnlich komisch, die Arme gespreizt und den mit einer hohen kegelförmigen Bauernmütze bekleideten Kopf zur Seite geneigt. Seine ganze Figur hob sich scharf von dem weißen Schnee ab.
»Wie du dich bloß eingemummt hast, Bruder Petrowitsch!« bemerkte einer der Arrestanten, die Bauernsprache nachäffend. Es ist auffallend, daß die Arrestanten die Bauern überhaupt von oben herab ansahen, obwohl sie selbst zur Hälfte aus dem Bauernstande stammten.
»Der hinterste geht so, wie wenn er Rettiche pflanzte.«
»Der hat viele Gedanken im Kopfe, und viel Geld in der Tasche,« bemerkte ein dritter.
Alle lachten, aber träge und ohne besondere Lust. Indessen ging auf uns eine Semmelverkäuferin zu, ein keckes und lustiges junges Weib.
Man kaufte bei ihr für die uns geschenkten fünf Kopeken Semmeln und teilte sie sofort zu gleichen Teilen.
Der junge Bursch, der im Zuchthause mit Semmeln handelte, nahm ihr zwanzig Stück ab und begann mit ihr energisch zu streiten, um drei Semmeln statt der sonst üblichen zwei als Provision zu bekommen. Aber die Verkäuferin wollte darauf nicht eingehen.
»Nun, und das andere gibst du mir auch nicht her?«
»Was denn noch?«
»Was die Mäuse nicht fressen!«
»Daß dich die Pest!« kreischte die Frau auf und begann zu lachen.
Endlich erschien mit einem Stöckchen in der Hand der Unteroffizier, der die Arbeiten zu beaufsichtigen hatte.
»He, ihr! Was sitzt ihr da herum? Anfangen!«
»Ach, Iwan Matwejitsch, geben Sie uns doch ein Pensum auf,« sagte einer von denen, die sich die erste Rolle anmaßten, sich langsam von seinem Platze erhebend.
»Warum habt ihr es nicht vorher, beim Abmarsch verlangt? Ihr sollt eben die Barke abbrechen, das ist euer Pensum.«
Endlich erhob man sich träge von den Balken und schleppte sich langsam zum Fluß. In der Menge traten sofort einige »Führer« auf, die wenigstens zu kommandieren versuchten. Es zeigte sich, daß man die Barke nicht so aufs Geratewohl zerhauen durfte, sondern nach Möglichkeit die Balken ganz erhalten mußte, besonders die Querbalken, die ihrer ganzen Länge nach mit Holzstiften an dem Boden der Barke befestigt waren, – es war eine langwierige und langweilige Arbeit.
»Zuerst müßte man diese Balken da abbrechen. Fangt mal an, Brüder!« sagte ein Arrestant, der weder zu den »Führern« noch zu den Vorgesetzten gehörte, sondern ein ganz gewöhnlicher, wortkarger und stiller Arbeiter war, der bisher geschwiegen hatte. Er bückte sich, umfaßte mit beiden Armen einen dicken Balken und wartete auf Helfer. Aber niemand wollte ihm helfen.
»Ja, so leicht wirst du ihn nicht abbrechen! Weder du kannst ihn abbrechen, noch dein Großvater, der Bär, wenn er herkommt!« brummte einer zwischen den Zähnen.
»Wie sollen wir also anfangen, Brüder? Ich weiß es wirklich nicht...« versetzte der Vorlaute verlegen, indem er den Balken in Ruhe ließ und sich erhob.
»Die ganze Arbeit kriegst du doch nicht fertig... Was drängst du dich vor?«
»Wenn er drei Hühnern Futter geben soll, verrechnet er sich, aber hier will er der Erste sein! So ein Schafskopf!«
»Ich habe es ja nur so gemeint, Brüder,« rechtfertigte sich jener verlegen, »Hab es nur so gesagt...«
»Soll ich euch etwa in Futterale stecken? Oder für den Winter einsalzen?« schrie wieder der Aufseher, ratlos den Trupp von zwanzig Mann anblickend, die nicht wußten, wie mit der Arbeit zu beginnen. »Anfangen! Schneller!«
»Schneller als schnell kann man doch nichts machen, Iwan Malwejitsch!«
»Du tust ja sowieso nichts! He, Ssaweljew! Schwätzer Petrowitsch! Dich meine ich! Was stehst du da und bietest Maulaffen feil!... Anfangen!«
»Was kann ich denn allein machen?«
»Geben Sie uns doch ein Pensum auf, Iwan Matwejitsch.«
»Ich hab es euch schon gesagt, es gibt kein Pensum. Nehmt die Barke auseinander und geht heim. Anfangen!«
Sie machten sich endlich an die Arbeit, aber matt, lustlos und unzufrieden. Es war sogar ärgerlich, diesen Trupp kräftiger Arbeiter anzuschauen, die gar nicht zu wissen schienen, wie die Sache anzupacken. Kaum hatten sie angefangen, den ersten, kleinsten Querbalken herauszunehmen, als es sich zeigte, daß er brach, »ganz von selbst brach«, wie sie es dem Aufseher zur Rechtfertigung meldeten. Also konnte man auf diese Weise nicht arbeiten und mußte es irgendwie anders anfangen. Nun begann eine lange Unterhaltung darüber, was man jetzt anfangen solle. Natürlich ging die Unterhaltung allmählich in Schimpfereien über und drohte noch eine ganz andere Wendung zu nehmen... Der Aufseher schrie sie wieder an und schwang seinen Stock, aber das Querholz brach wieder. Schließlich stellte es sich heraus, daß man zu wenig Äxte hatte und noch mehr Werkzeuge holen mußte. Sofort wurden zwei Burschen unter Bewachung nach Werkzeugen in die Festung geschickt, die übrigen setzten sich aber in Erwartung ruhig auf die Barke, holten ihre Pfeifen heraus und begannen wieder zu rauchen.
Der Aufseher spuckte endlich aus.
»Ach, vor euch hat die Arbeit wahrhaftig keine Angst! Ach, seid ihr ein Volk!« brummte er böse, winkte dann resigniert mit der Hand und begab sich, sein Stöckchen schwingend, nach der Festung.
Nach einer Stunde kam der Zugführer. Nachdem er die Arrestanten ruhig angehört hatte, erklärte er, er gebe ihnen als Pensum auf, noch vier Querhölzer herauszunehmen, aber so, daß sie nicht mehr brächen, sondern ganz blieben, außerdem einen großen Teil der Barke auseinanderzunehmen; dann dürften sie nach Hause gehen. Das Pensum war groß, aber, mein Gott, mit welchem Eifer machten sie sich an die Arbeit! Wo war jetzt ihre Faulheit geblieben, wo ihre Ungeschicklichkeit! Die Äxte klopften, die Holzstifte wurden herausgedreht. Die übrigen schoben die dicken Stangen unter, stemmten sich mit zwanzig Händen dagegen und brachen die Querhölzer heraus, die sich jetzt zu meinem Erstaunen vollkommen unversehrt herausbrechen ließen. Die Arbeit kochte nur so. Alle schienen plötzlich bedeutend klüger geworden zu sein. Man hörte kein überflüssiges Wort, kein Schimpfen, ein jeder wußte, was er zu tun und zu sagen hatte, wo er sich hinstellen und was er für einen Rat geben sollte. Genau eine halbe Stunde vor dem Trommelsignal war die Arbeit beendet, und die Arrestanten gingen nach Hause, müde, aber höchst zufrieden, obwohl sie nur eine halbe Stunde gegen die vorgeschriebene Zeit gewonnen hatten. In bezug auf mich selbst machte ich aber folgende Beobachtung: wo ich ihnen auch zu helfen versuchte, war ich ihnen immer im Wege, ich störte überall, und sie jagten mich beinahe fluchend fort.
Jeder abgerissene Kerl, der selbst ein schlechter Arbeiter war und vor den anderen Zuchthäuslern, die geschickter und vernünftiger als er waren, nicht mal den Mund aufzutun wagte, hielt sich immer berechtigt, mich anzuschreien, wenn ich mich neben ihn stellte, unter dem Vorwande, daß ich ihn störe. Schließlich sagte mir einer von den geschickten Arbeitern grob ins Gesicht:
»Was drängen Sie sich vor, gehen Sie doch weg! Mischen Sie sich nicht ein, wo man Sie nicht bittet.«
»Da ist er in einen Sack geraten!« fiel ihm ein anderer ins Wort.
»Nimm lieber eine Sammelbüchse,« sagte mir ein Dritter, »und geh, Geld für Kirchenbau und Rauchtabak sammeln, hier hast du aber nichts zu tun.«
So mußte ich abseits stehen. Abseits zu stehen wenn die andern arbeiten, ist irgendwie beschämend. Als ich aber wirklich zur Seite trat und mich an das Ende der Barke stellte, fingen gleich alle zu schreien an:
»Was haben sie uns für Arbeiter gegeben, was ist mit solchen anzufangen? Mit ihnen ist nichts anzufangen!«
Dies alles wurde ja absichtlich gesagt, um die anderen zu amüsieren. Sie mußten doch einen ehemaligen Adligen ihre Gewalt fühlen lassen und freuten sich über diese Gelegenheit.
Jetzt ist es wohl verständlich, warum ich mich, wie ich schon sagte, bei meinem Eintritt ins Zuchthaus zu allererst fragte: wie soll ich mich benehmen und wie mich zu diesen Menschen stellen? Ich ahnte schon, daß ich mit ihnen bei der Arbeit noch oft solche Zusammenstöße erleben werde. Aber trotz aller Zusammenstöße entschloß ich mich, meinen Plan, den ich mir zum Teil schon zurechtgelegt hatte, nicht zu ändern; ich wußte, daß er der vernünftigste war. Ich hatte mich nämlich entschlossen, mich so einfach und unabhängig wie nur möglich zu geben, keinerlei besonderes Verlangen nach einer Annäherung mit ihnen zu zeigen und so zu tun, als merkte ich nichts, ihnen in gewissen Punkten in keiner Weise näher zu kommen und gewisse ihrer Gewohnheiten und Sitten durchaus nicht als selbstverständlich hinzunehmen, mit einem Worte, ihnen nicht als Kamerad näherzutreten. Ich erriet schon auf den ersten Blick, daß sie mich wegen solcher Annäherungsversuche selbst verachten würden. Und doch mußte ich nach ihren Begriffen (wie ich es später mit Gewißheit erfuhr), ihnen gegenüber meine adlige Abstammung betonen, d. h. einen verzärtelten und verwöhnten Menschen spielen, sie von oben herab ansehen und über sie lachen. So faßten sie eben das Wesen des Adels auf. Sie würden mich deswegen natürlich beschimpfen, aber dennoch in ihren Herzen achten. Eine solche Rolle entsprach mir aber nicht. Ich bin niemals ein Adliger, wie sie sich einen vorstellten, gewesen; dafür gab ich mir das Wort, meiner Bildung und Gesinnung durch keinerlei Konzessionen ihnen gegenüber etwas zu vergeben. Hätte ich ihnen zu Gefallen angefangen, mich bei ihnen einzuschmeicheln, ihnen in allen Dingen recht zu geben, mich auf einen vertrauten Fuß mit ihnen zu stellen und ihre Sitten anzunehmen, um ihre Zuneigung zu gewinnen, so hätten sie sofort geglaubt, daß ich es aus Furcht und Feigheit tue, und mich mit Verachtung behandelt. A–ow konnte nicht als Beispiel gelten: er verkehrte doch beim Major, und sie fürchteten ihn selbst. Andererseits wollte ich mich auch nicht in eine kalte und unnahbare Höflichkeit hüllen, wie es die Polen machten. Ich sah jetzt sehr gut, daß sie mich deswegen verachteten, weil ich genau so wie sie arbeiten wollte, weil ich nicht den Verwöhnten spielte und sie nicht meine Überlegenheit fühlen ließ; obwohl ich genau wußte, daß sie später ihre Meinung von mir würden ändern müssen, war mir der Gedanke, daß sie gleichsam ein Recht haben, mich zu verachten, in der Annahme, ich wollte mich bei der Arbeit bei ihnen einschmeicheln, dennoch sehr peinlich.
Als ich am Abend nach Beendigung der Nachmittagsarbeit müde und erschöpft ins Zuchthaus zurückkehrte, überkam mich ein drückendes Unlustgefühl. »Wie viele Tausende solcher Tage habe ich noch vor mir,« dachte ich mir, »immer die gleichen Tage!« In der Abenddämmerung trieb ich mich schweigend und allein längs des Zaunes hinter den Kasernen herum und erblickte plötzlich unsern Scharik, der auf mich zugelaufen kam. Scharik war unser Zuchthaushund, wie es ja auch Kompagniehunde, Batteriehunde und Schwadronshunde gibt. Er lebte im Zuchthause seit undenklichen Zeiten, gehörte niemand, hielt alle für seine Herren und nährte sich von den Küchenabfällen. Es war ein ziemlich großer Hofhund, schwarz mit weißen Flecken, nicht sehr alt, mit klugen Augen und einem buschigen Schweif. Niemand streichelte ihn, niemand schenkte ihm je Beachtung. Ich aber streichelte ihn gleich am ersten Tag und gab ihm ein Stück Brot aus der Hand. Als ich ihn streichelte, stand er still da, sah mich freundlich an und wedelte aus Freude leise mit dem Schwanze. Wenn er mich nun längere Zeit nicht sah, – den ersten Menschen, dem es seit so vielen Jahren eingefallen war, ihn zu streicheln, – lief er überall herum und suchte mich unter allen Arrestanten; wenn er mich hinter den Kasernen fand, rannte er mir winselnd entgegen. Ich weiß selbst nicht, wie mir geschah: ich umarmte seinen Kopf und begann ihn zu küssen; er legte mir die Vorderpfoten auf die Schultern und leckte mir das Gesicht. »Das ist also der Freund, den mir das Schicksal schickt!« sagte ich mir und ging später, in der ersten schweren Zeit, sobald ich von der Arbeit zurückkehrte, sofort hinter die Kaserne mit dem vor mir rennenden und vor Freude winselnden Scharik, umarmte seinen Kopf und küßte ihn, wobei mir ein süßes und zugleich qualvoll bitteres Gefühl das Herz beklemmte. Ich erinnere mich, wie angenehm es mir war, mir zu denken, als prahlte ich vor mir selbst mit meiner Qual, daß ich in der ganzen Welt nur noch ein einziges, mich liebendes, an mir hängendes Wesen habe, meinen Freund, meinen einzigen Freund, meinen treuen Hund Scharik.
Aber die Zeit verging, und ich lebte mich allmählich ein. Mit jedem neuen Tag erschienen mir die gewöhnlichsten Erscheinungen meines neuen Lebens immer weniger befremdlich. Die Ereignisse, die Umgebung, die Menschen, alles kam mir schon irgendwie gewohnt vor. Mich mit diesem Leben zu versöhnen, war natürlich unmöglich, aber es als eine gegebene Tatsache anzuerkennen, war doch schon Zeit. Alle Zweifel, die in mir noch blieben, verbarg ich tief in mir. Ich trieb mich nicht mehr wie ein Verlorener im Zuchthause umher und ließ nichts von meinem Gram durchblicken. Die neugierigen Blicke der Arrestanten blieben nicht mehr so oft an mir haften, sie verfolgten mich nicht mehr mit einer so betonten Frechheit. Auch sie hatten sich wohl an meinen Anblick gewöhnt, worüber ich mich sehr freute. Ich bewegte mich im Zuchthause wie bei mir zu Hausse, kannte meinen Platz auf der Pritsche und hatte mich anscheinend sogar an solche Dinge gewöhnt, von denen ich nie erwartet hätte, daß man sich an sie gewöhnen kann. Regelmäßig einmal in der Woche ging ich hin, um mir den halben Kopf rasieren zu lassen. Jeden Sonnabend nach Feierabend rief man uns zu diesem Zweck einen nach dem andern aus dem Zuchthause auf die Hauptwache (wer sich nicht rasieren ließ, war dafür selbst verantwortlich), wo uns die Bataillonsbarbiere die Köpfe mit kaltem Schaum einseiften und erbarmungslos mit unglaublich stumpfen Rasiermessern schabten, so daß es mich auch jetzt noch bei der Erinnerung an diese Folter kalt überläuft. Bald fand sich übrigens eine Rettung: Akim Akimytsch empfahl mir einen Arrestanten aus der Militärabteilung, der für eine Kopeke jedermann mit seinem eigenen Messer rasierte, was sein Beruf war. Viele von den Zuchthäuslern gingen zu ihm, um dem amtlichen Barbier zu entrinnen, dabei war aber dieses Volk gar nicht verzärtelt. Den Arrestanten, der bei uns das Barbierhandwerk ausübte, nannte man »Major«, ich weiß selbst nicht warum und kann auch nicht sagen, was an ihm an einen Major erinnerte. Jetzt, wo ich dieses schreibe, sehe ich den Major lebhaft vor Augen: es war ein langer, hagerer, schweigsamer Bursche, ziemlich dumm, ewig in seine Beschäftigung vertieft und stets mit einem Riemen in der Hand, auf den er Tag und Nacht sein ungewöhnlich abgewetztes Messer strich; er ging in seiner Tätigkeit ganz auf und hielt sie offenbar für seinen Lebenszweck. Er war in der Tat äußerst zufrieden, wenn das Messer gut war und sich jemand von ihm rasieren ließ; sein Seifenschaum war warm, seine Hand leicht und sein Rasieren wie Samt. Er fand in seiner Tätigkeit offensichtlich Genuß und war auf seine Kunst stolz; die Kopeke nahm er gleichgültig in Empfang, als wäre für ihn die Hauptsache seine Kunst und nicht die Kopeke. A–ow erlebte einmal von unserm Platzmajor ein ordentliches Donnerwetter, als er bei einer seiner Denunziationen unsern Zuchthausbarbier erwähnte und ihn aus Versehen »Major« nannte. Der Platzmajor geriet in höchste Wut und war äußerst gekränkt. »Weißt du auch, Schurke, was ein Major ist!« schrie er mit Schaum vor dem Munde, während er A–ow auf gewohnte Weise verprügelte. »Verstehst du überhaupt, was ein Major ist! Du wagst noch, einen Zuchthäusler vor meinen Augen, in meiner Gegenwart einen Major zu nennen!...« Nur A–ow brachte es fertig, sich mit einem solchen Menschen zu vertragen.
Gleich am ersten Tage meines Zuchthauslebens fing ich an, von der Freiheit zu träumen. Die Berechnung, wann meine Zuchthausjahre ein Ende nehmen, wurde in tausenderlei Variationen und Anwendungen zu meiner Lieblingsbeschäftigung. Ich konnte sogar an nichts anderes denken, und bin überzeugt, daß es so einem jeden Menschen geht, der für einige Zeit der Freiheit beraubt ist. Ich weiß nicht, ob die andern Zuchthäusler die gleichen Berechnungen anstellten wie ich, aber der ungewöhnliche Leichtsinn ihrer Hoffnungen fiel mir gleich am ersten Tage auf. Die Hoffnung eines eingekerkerten, der Freiheit beraubten Menschen ist von ganz anderer Art als die eines in Freiheit lebenden. Der freie Mensch hofft natürlich auch (z.B. auf eine Wendung in seinem Schicksale, auf den Erfolg irgendeines Unternehmens), aber er lebt und handelt; das echte Leben zieht ihn stets in seinen Strudel hinein. Anders verhält es sich mit einem Eingekerkerten. Es ist allerdings auch ein Leben, ein Zuchthausleben; aber was für ein Mensch der Zuchthäusler auch sei und wie lange er auch im Zuchthause bleiben müsse, kann er instinktiv doch nie sein Schicksal als etwas Gegebenes, Endgültiges, als einen Teil des wirklichen Lebens hinnehmen. Jeder Zuchthäusler fühlt sich nicht »wie zu Hause«, sondern gleichsam zu Besuch. Zwanzig Jahre betrachtet er wie zwei Jahre und ist vollkommen überzeugt, daß er mit fünfundfünfzig Jahren beim Verlassen des Zuchthauses der gleiche forsche Kerl sein wird, wie er es jetzt mit fünfunddreißig ist. »Wir werden ja noch leben!« denkt er sich und vertreibt hartnäckig alle Zweifel und sonstige ärgerliche Gedanken. Selbst die auf Lebenszeit Verbannten, die Insassen der Besonderen Abteilung, glaubten manchmal, daß plötzlich ein Befehl aus Petersburg kommen würde, sie auf das Bergwerk von Nertschinsk zu versetzen und ihnen eine Frist zu bestimmen. Das wäre so schön: erstens dauert der Marsch nach Nertschinsk fast ein halbes Jahr, und auf so einer Wanderung hat man es viel besser als im Zuchthause! Zweitens wird die Frist in Nertschinsk einmal ein Ende nehmen, und dann... In solchen Hoffnungen wiegt sich aber manchmal ein Mann mit einem grauen Kopf!
In Tobolsk sah ich Leute, die an die Mauer angeschmiedet waren. So einer sitzt an einer etwa klafterlangen Kette und hat auch sein Lager in der Nähe. Man hat ihn an die Mauer geschmiedet, weil er schon in Sibirien irgendein außerordentliches Verbrechen begangen hat. So sitzen sie fünf Jahre an der Kette, auch zehn Jahre. Zum größten Teil sind es Raubmörder. Nur einen sah ich darunter, der aus besserem Stande zu stammen schien; er hatte irgendeinmal irgendwo gedient. Er sprach still, im Flüsterton, mit einem süßlichen Lächeln. Er zeigte uns seine Kette und erklärte uns, wie man sich mit ihr am bequemsten auf sein Lager legen könne. Wird wohl ein netter Vogel gewesen sein! Sie alle führen sich im allgemeinen ruhig auf und scheinen zufrieden, aber ein jeder sehnt sich danach, seine Frist abzusitzen. Was winkt ihm denn dann? Er wird dann das stickige Zimmer mit den stinkenden Wänden und der niederen Ziegeldecke verlassen und einmal durch den Zuchthaushof gehen, und das ist alles. Aus dem Zuchthause selbst wird er aber niemals herauskommen. Er weiß es und will doch furchtbar gern seine Kettenfrist bis an ihr Ende in Fesseln im Zuchthause bleiben müssen. Er weiß es und doch will er furchtbar gern seine Kettenfrist absitzen. Könnte er denn ohne diese Sehnsucht die fünf oder sechs Jahre an der Kette sitzen, ohne daran zu sterben oder verrückt zu werden? Würde er überhaupt noch sitzen?
Ich fühlte, daß die Arbeit mich retten, meine Gesundheit und meinen Körper stärken könnte. Die ewige seelische Unruhe, die gereizten Nerven, die muffige Luft der Kaserne könnten mich vollständig umbringen. So oft wie möglich in der freien Luft sein, jeden Tag müde werden, sich gewöhnen, Lasten zu schleppen, – wenn ich das könnte, wäre ich gerettet, – sagte ich mir, – so kräftige ich meine Gesundheit und verlasse das Zuchthaus gesund, rüstig, stark und nicht gealtert. Ich hatte mich nicht geirrt: die Arbeit und die Bewegung waren mir äußerst nützlich. Mit Entsetzen beobachtete ich einen meiner Genossen (adliger Abstammung), der im Zuchthause wie ein Licht erlosch. Er hatte es zugleich mit mir, noch jung, schön und rüstig, betreten, verließ es aber halb gebrochen, ergraut, unfähig zu gehen und von Atemnot geplagt. »Nein,« sagte ich mir, wenn ich ihn ansah, »ich will leben und werde leben.« Dafür hatte ich in der ersten Zeit wegen meiner Liebe zur Arbeit von den andern Arrestanten genug auszustehen, und sie verfolgten mich lange mit Verachtung und Spott. Aber ich schenkte niemand Beachtung und ging rüstig zu jeder Arbeit, z. B. zum Brennen und Zerstoßen von Alabaster; das war eine der ersten Arbeiten, die ich kennenlernte. Diese Arbeit ist leicht. Die Ingenieurbehörde ist immer geneigt, den Arrestanten adliger Abstammung die Arbeit nach Möglichkeit zu erleichtern, was aber durchaus keine Milde, sondern nur Gerechtigkeit bedeutet. Es wäre doch sonderbar, von einem Menschen, der nur halb so stark ist wie die andern und nie im Leben gearbeitet hat, die gleiche Leistung zu verlangen, wie sie von einem richtigen Arbeiter verlangt wird. Aber diese »Milde« wurde nicht immer geübt, und wenn sie geübt wurde, so heimlich: die anderen Arrestanten paßten ja scharf auf. Es kam recht oft vor, daß ich eine schwere Arbeit zu machen hatte, die für die Arrestanten adliger Abstammung eine doppelte Last bedeutete als für die übrigen. Zum Alabasterbrennen wurden gewöhnlich drei oder vier Mann geschickt, alte oder schwache Menschen, darunter natürlich auch wir; außerdem wurde uns ein Arbeiter, der die Sache verstand, mitgegeben. Mehrere Jahre hintereinander war es der gleiche Arrestant, namens Almasow, ein düsterer, hagerer, schon bejahrter Mensch von dunkler Gesichtsfarbe, wenig mitteilsam und ziemlich unfreundlich. Er verachtete uns tief. Im übrigen war er wortkarg und sogar zu faul, auf uns zu schimpfen. Der Schuppen, in dem der Alabaster gebrannt und gestoßen wurde, stand ebenfalls auf dem öden und steilen Flußufer. Im Winter, besonders an trüben Tagen, war der Anblick des Flusses und des fernen gegenüberliegenden Ufers äußerst langweilig. In dieser wilden, öden Landschaft lag etwas Trauriges und Herzbeklemmendes. Der Anblick war vielleicht noch unerträglicher, wenn auf die grenzenlose weiße Schneedecke grell die Sonne schien; dann hatte man den Wunsch, in diese Steppe davonzufliegen, die am andern Ufer begann und sich als ununterbrochene Fläche etwa anderthalb Tausend Werst weit gegen Süden hinzog. Almasow machte sich gewöhnlich schweigsam und mürrisch an die Arbeit; wir fühlten uns gleichsam beschämt, weil wir ihm nicht ordentlich helfen konnten, er aber machte absichtlich alles allein und verlangte von uns keinerlei Hilfe, als wollte er, daß wir unsere Schuld ihm gegenüber fühlten und unsere eigene Unfähigkeit bereuten. Es galt übrigens nur den Ofen einzuheizen, um den Alabaster, den wir selbst hineingetan hatten, zu brennen. Am anderen Tage, wenn der Alabaster gargebrannt war, wurde er aus dem Ofen herausgenommen. Ein jeder von uns nahm einen schweren Holzhammer, füllte eine eigene Kiste mit Alabaster und begann ihn zu zerkleinern. Das war eine höchst angenehme Arbeit. Der spröde Alabaster verwandelte sich schnell in glänzenden weißen Staub und ließ sich so schön und leicht zerstoßen. Wir schwangen die schweren Hämmer und machten einen solchen Lärm, daß es uns selbst eine Freude war. Zuletzt wurden wir müde, fühlten uns aber zugleich erleichtert; die Wangen röteten sich, das Blut zirkulierte schneller in den Adern. Nun fing auch Almasow an, uns mit einer gewissen Herablassung zu behandeln, wie man eben kleine Kinder behandelt; er rauchte herablassend sein Pfeifchen, konnte aber doch nicht umhin, zu brummen, wenn er etwas sagen mußte. Übrigens benahm er sich so allen Leuten gegenüber und war wohl im Grunde ein guter Mensch.
Die andere Arbeit, die ich zu tun hatte, war, in der Tischlerwerkstätte das Rad an der Drehbank in Bewegung zu setzen. Das Rad war groß und schwer. Es war gar nicht leicht, es zu drehen, besonders wenn der Drechsler (einer von den Ingenieurhandwerkern) etwas wie eine Säule zu einem Treppengeländer oder ein Bein zu einem großen Tisch herstellte, einem ärarischen Möbelstück für irgendeinen Beamten, das fast einen ganzen Balken erforderte. In solchen Fällen hatte ein einzelner Mann nicht die Kraft, das Rad zu drehen, und zu dieser Arbeit wurden zwei kommandiert: ich und ein anderer Adliger, B. So blieb diese Arbeit mehrere Jahre hintereinander für uns reserviert, sooft es etwas zu drechseln gab. B. war ein schwächlicher, schmächtiger Mensch, noch jung, aber brustkrank. Er war ins Zuchthaus ein Jahr vor mir mit zwei seiner Genossen gekommen; der eine von diesen war ein alter Mann, der während seines ganzen Zuchthauslebens Tag und Nacht zu Gott betete (aus welchem Grunde ihn die anderen Arrestanten sehr achteten) und der zu meiner Zeit starb; der andere war aber noch sehr jung, frisch, rotbackig, stark und tapfer: dieser hatte auf dem Wege nach Sibirien den schon nach der halben Etappe erschöpften B. siebenhundert Werst weit getragen. Man muß gesehen haben, wie innig sie befreundet waren. B. war ein hochgebildeter Mensch, von einem edlen und schönen Charakter, der aber durch die Krankheit etwas verdorben und reizbar geworden war. Die Arbeit am Rade bewältigten wir zusammen, und sie amüsierte uns sogar. Für mich bedeutete sie eine vorzügliche Bewegung.
Besonders gern schaufelte ich Schnee. Das war gewöhnlich nach den Schneestürmen, die im Winter recht oft vorkamen. Nach so einem Schneesturm, der vierundzwanzig Stunden lang gewütet hatte, war manches Haus bis zur halben Fensterhöhe verweht und manches fast ganz eingeschneit. Wenn dann der Schneesturm aufhörte und die Sonne sich zeigte, wurden wir in großen Gruppen, manchmal sogar alle Insassen des Zuchthauses auf einmal hinausgetrieben, um die ärarischen Gebäude vom Schnee zu befreien. Ein jeder bekam eine Schaufel, allen zusammen wurde ein Pensum vorgeschrieben, das zuweilen so groß war, daß man sich wundern mußte, wie man es überhaupt erledigen konnte, und alle machten sich in schönster Eintracht an die Arbeit. Der lockere, frisch gefallene und oben leicht angefrorene Schnee ließ sich leicht in großen Stücken mit der Schaufel abheben und fortschleudern, wobei er sich noch in der Luft in glitzernden Staub verwandelte. Die Schaufel schnitt sich leicht in die weiße in der Sonne glänzende Masse ein. Den Arrestanten machte diese Arbeit fast immer Freude. Die frische Winterluft und die Bewegung erwärmten sie. Alle waren lustiger; man hörte Lachen, Schreien, Scherzen. Man begann sich mit Schneebällen zu bewerfen, was natürlich stets die Folge hatte, daß eine Minute darauf die Vernünftigen, die sich über jedes Lachen und jede Heiterkeit entrüsteten, zu schreien anfingen, und die allgemeine Fröhlichkeit endete gewöhnlich mit einer Schimpferei.
Allmählich begann sich der Kreis meiner Bekanntschaften zu erweitern. Übrigens ging ich damals neuen Bekanntschaften gar nicht nach: ich war noch unruhig, düster und mißtrauisch. Meine Bekanntschaften entstanden ganz von selbst. Unter den Ersten besuchte mich der Arrestant Petrow. Ich sage »besuchte« und betone dieses Wort ganz besonders. Petrow wohnte in der Besonderen Abteilung in der von mir am weitesten entfernten Kaserne. Anscheinend hatte es doch zwischen uns keinerlei Verbindung geben können; wir hatten nichts Gemeinsames und konnten auch nichts gemein haben. Dennoch hielt es Petrow in dieser ersten Zeit gleichsam für seine Pflicht, fast jeden Tag zu mir in die Kaserne zu kommen oder mich in der arbeitsfreien Zeit, wenn ich möglichst weit von aller Augen hinter den Kasernen herumging, anzusprechen. Anfangs war es mir unangenehm. Er verstand es aber so zu machen, daß seine Besuche mich sogar zerstreuten, obwohl er durchaus kein besonders mitteilsamer oder gesprächiger Mensch war. Was sein Äußeres betrifft, so war er klein gewachsen, kräftig gebaut, gewandt und behend, hatte ein recht angenehmes blasses Gesicht mit breiten Backenknochen und weißen, kleinen, dicht beieinanderstehenden Zähnen und hielt stets eine Prise geriebenen Tabak hinter der Unterlippe. Tabak hinter der Lippe zu haben, war bei vielen Zuchthäuslern Sitte. Er sah jünger aus, als er in Wirklichkeit war. Er war an die vierzig Jahre alt, sah aber dreißigjährig aus. Er sprach mit mir immer höchst ungezwungen und benahm sich mir gegenüber so, als ob er auf der gleichen Stufe wie ich stünde, d.h. außerordentlich anständig und taktvoll. Wenn er z.B. merkte, daß ich allein sein wollte, so sprach er mit mir nur an die zwei Minuten und verließ mich dann sofort; jedesmal dankte er mir für meine Aufmerksamkeit, was er natürlich sonst bei keinem anderen Menschen im Zuchthause tat. Es ist interessant, daß dieses Verhältnis zwischen uns nicht nur in den ersten Tagen bestand, sondern mehrere Jahre lang dauerte und fast niemals zu einem intimeren wurde, obwohl er tatsächlich an mir hing. Ich weiß auch jetzt nicht zu sagen, was er von mir eigentlich wollte und warum er jeden Tag zu mir kam. Er bestahl mich zwar später ab und zu, tat es aber immer irgendwie »zufällig«; um Geld bat er mich fast nie, folglich kam er zu mir nicht des Geldes oder irgendwelcher persönlichen Vorteile wegen.
Ich weiß nicht warum, aber ich hatte immer den Eindruck, als wohne er gar nicht im gleichen Zuchthause mit mir, sondern in der Stadt, in einem anderen Hause und besuche das Zuchthaus nur so im Vorübergehen, um die Neuigkeiten zu erfahren, sich nach meinem Befinden zu erkundigen und sich anzusehen, wie wir alle leben. Er hatte es immer eilig, als hätte er irgendwo jemanden stehen lassen, als werde er irgendwo erwartet oder als hätte er irgendeine Arbeit nicht beendigt. Zugleich tat er aber gar nicht geschäftig. Auch sein Blick war sonderbar: unverwandt, mit einem Anflug von Keckheit und Spott, dabei blickte er in die Ferne, über die Gegenstände hinweg, als bemühte er sich, hinter dem Gegenstande, den er dicht vor seiner Nase hatte, einen andern, entfernteren zu betrachten. Dies verlieh ihm einen Ausdruck von Zerstreutheit. Manchmal blickte ich ihm absichtlich nach: wohin wird nun Petrow von mir gehen? Wo wird er mit solcher Sehnsucht erwartet? Er begab sich aber von mir in großer Eile in irgendeine Kaserne oder in die Küche, setzte sich dort neben Leute, die sich unterhielten, hörte ihnen aufmerksam zu, beteiligte sich zuweilen selbst an ihrem Gespräch, ereiferte sich sogar dabei und brach plötzlich ab und verstummte. Wenn er sprach oder schweigend dasaß, sah es aber immer so aus, als täte er es nur so im Vorübergehen, als habe er irgendwo etwas zu erledigen oder als werde er von jemand erwartet. Das Seltsamste war, daß er niemals eine Beschäftigung hatte; er lebte völlig müßig (natürlich abgesehen von der vorgeschriebenen Zwangsarbeit. Er verstand auch kein Handwerk und besaß fast niemals Geld. Der Geldmangel machte ihm aber wenig Sorgen. Worüber sprach er denn mit mir? Seine Gespräche waren ebenso seltsam wie er selbst. Wenn er mich allein irgendwo hinter dem Zuchthause auf und abgehen sah ging er manchmal stracks auf mich zu. Er ging immer schnell und machte kurze Wendungen. Er kam wohl im Schritt, aber man hatte den Eindruck, als käme er herbeigelaufen.
»Guten Tag.«
»Guten Tag.«
»Störe ich nicht?«
»Nein.« »Ich wollte Sie über Napoleon fragen. Ist er ein Verwandter von dem, der im Jahre zwölf war?« (Petrow war in einer Erziehungsanstalt für Soldatensöhne herangewachsen und verstand zu lesen und zu schreiben.)
»Ja er ist ein Verwandter von ihm.«
»Was ist er dann für ein Präsident?«
Er stellte seine Fragen immer schnell, kurz, als hätte er große Eile etwas zu erfahren. Als handelte es sich um eine wichtige Sache, die nicht den geringsten Aufschub duldete.
Ich erklärte ihm, was für ein Präsident Napoleon war, und fügte hinzu, daß er vielleicht bald Kaiser werden würde.
»Wieso?«
Ich erklärte ihm, so gut ich konnte, auch das. Petrow hörte mir aufmerksam zu, verstand alles, faßte alles schnell auf und hielt sogar das Ohr nach meiner Seite hin.
»Hm... Dann wollte ich Sie noch folgendes fragen, Alexander Petrowitsch: ist es wahr, daß es solche Affen gibt, bei denen die Arme bis zu den Fersen reichen, und die so groß sind wie der größte Mensch?«
»Ja, es gibt solche Affen.«
»Was sind das für welche?«
Ich erklärte ihm nach Möglichkeit auch das.
»Wo leben die denn?«
»In den heißen Ländern. Auf der Insel Sumatra gibt es welche.«
»Ist das in Amerika? Wie ist es nun: man sagt, daß die Leute dort mit dem Kopfe nach unten gehen?«
»Gar nicht mit dem Kopfe nach unten. Sie meinen wohl die Antipoden.«
Ich erklärte ihm, was Amerika sei, und, so gut ich es konnte, was die Antipoden wären. Er hörte mir so aufmerksam zu, als sei er nur deswegen gelaufen gekommen, um sich nach den Antipoden zu erkundigen.
»Aha! Im vorigen Jahre habe ich aber über die Gräfin Lavallière gelesen; ich hatte mir das Buch vom Adjutanten Arefjew verschafft. Ist die Geschichte wahr oder nur erfunden? Es ist ein Werk von Dumas.«
»Natürlich ist sie erfunden.«
»Nun, leben Sie wohl. Ich danke schön.«
Und Petrow verschwand. Eigentlich sprachen wir miteinander niemals anders als in der geschilderten Art.
Ich zog über ihn Erkundigungen ein. Als M. von dieser Bekanntschaft hörte, warnte er mich sogar. Er sagte mir, viele Zuchthäusler hätten ihm, besonders in den ersten Tagen seines Zuchthauslebens, ein Grauen eingeflößt, aber niemand, selbst Gasin nicht, hatte auf ihn einen so schrecklichen Eindruck gemacht wie dieser Petrow.
»Er ist der entschlossenste und furchtloseste von allen Zuchthäuslern,« sagte mir M. »Er ist zu allem fähig; er macht vor nichts Halt, wenn es die Befriedigung einer Laune gilt. Er wird auch Sie abschlachten, wenn es ihm einfällt, einfach abschlachten, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne es zu bereuen. Ich glaube sogar, daß er nicht ganz bei Trost ist.«
Diese Ansicht interessierte mich außerordentlich. M. vermochte mir aber nicht zu erklären, woher er diesen Eindruck hatte. Aber seltsam: ich verkehrte dann mehrere Jahre hintereinander mit Petrow, sprach mit ihm fast jeden Tag, er war mir während dieser ganzen Zeit aufrichtig zugetan (obwohl ich absolut nicht weiß, weshalb), – er benahm sich während dieser Jahre im Zuchthaus vernünftig und stellte nichts Schlimmes an, aber ich hatte trotzdem, sooft ich ihn ansah oder mit ihm sprach, die Überzeugung, daß M. recht hatte und daß Petrow vielleicht der entschlossenste und furchtloseste Mensch war, der keinerlei Autorität anerkannte. Weshalb ich diesen Eindruck hatte, vermag ich auch nicht zu erklären.
Ich will übrigens bemerken, daß dieser Petrow derselbe war, der den Platzmajor hat ermorden wollen, als er seine Rutenstrafe bekommen sollte und als der Major, wie die Arrestanten sagten, »durch ein Wunder« gerettet wurde, indem er einen Augenblick vor der Exekution davonfuhr. Ein anderes Mal, noch vor seinem Eintritt ins Zuchthaus, passierte es, daß sein Oberst ihn beim Exerzieren schlug. Wahrscheinlich hatte man ihn auch schon vorher oft geschlagen; diesmal wollte er es aber nicht dulden und erstach den Oberst vor aller Augen, am hellichten Tage, vor der Front. Die Einzelheiten dieser Geschichte kenne ich übrigens nicht: er erzählte sie mir niemals. Natürlich waren es nur einzelne Anfälle, bei denen seine ganze Natur plötzlich zum Ausbruch kam. Solche Ausbrüche kamen aber bei ihm doch sehr selten vor. Er war in der Tat vernünftig und sogar friedlich. Er trug wohl starke und brennende Leidenschaften in sich; aber die Kohlenglut war stets von Asche bedeckt und glimmte still. Ich sah bei ihm auch keine Spur von Prahlsucht oder Ruhmsucht wie bei den andern. Er zankte sich nur selten mit jemand, war auch mit niemand besonders befreundet, höchstens mit Ssirotkin, aber auch das nur, wenn er ihn brauchte. Einmal sah ich übrigens doch, wie er ernstlich böse wurde. Man verweigerte ihm irgendeinen Gegenstand; man hatte ihn irgendwie übervorteilt. Sein Gegner war ein starker Kerl von großem Wuchs, boshaft, händelsüchtig und spöttisch, durchaus kein Feigling, ein Sträfling aus der Zivilabteilung, namens Wassilij Antonow. Sie schrien schon lange, und ich glaubte, die Sache würde sich auf eine gewöhnliche Schlägerei beschränken; Petrow pflegte manchmal, wenn auch sehr selten, wie der gemeinste Zuchthäusler zu fluchen und um sich zu hauen. Diesmal kam es aber anders: Petrow erblaßte plötzlich, seine Lippen wurden blau und fingen an zu zittern, und er keuchte schwer. Er erhob sich von seinem Platz und ging langsam, sehr langsam, unhörbar mit seinen bloßen Füßen (im Sommer ging er gern barfuß) auf Antonow zu. Plötzlich wurde es in der Kaserne, in der es ebenso laut zugegangen war, still; man hätte eine Fliege hören können. Alle warteten, was nun kommen würde. Antonow trat ihm entgegen; er sah entsetzlich aus... Ich konnte es nicht ertragen und ging aus der Kaserne. Ich glaubte, daß ich, bevor ich aus dem Flur gekommen sein würde, den Schrei eines ermordeten Menschen hören werde. Die Sache lief aber auch diesmal glücklich ab; Antonow hatte Petrow, noch ehe dieser vor ihn getreten war, stumm und eilig den strittigen Gegenstand zugeworfen. (Es handelte sich um einen wertlosen Lumpen, um irgendeinen Fußlappen.) Antonow schimpfte auf ihn natürlich noch etwa zwei Minuten, zur Beruhigung seines Gewissens und des Anstandes wegen, um zu zeigen, daß er keine so große Angst bekommen hatte. Dem Schimpfen schenkte aber Petrow gar keine Beachtung, er schimpfte sogar nicht zurück: es war ihm nicht ums Schimpfen zu tun, und der Streit hatte zu seinen Gunsten geendet; er war sehr zufrieden und nahm den Fußlappen an sich. Nach einer Viertelstunde trieb er sich wieder im Zuchthause herum, müßig, mit einem Ausdruck, als paßte er auf, ob man nicht irgendwo ein interessantes Gespräch anfangen würde, um sich zu den Sprechenden zu gesellen und zuzuhören. Alles schien ihn zu interessieren, aber es kam meistens so, daß er gegen fast alles gleichgültig blieb und sich ziellos im Zuchthause herumtrieb. Er erinnerte sogar an einen Arbeiter, an einen tüchtigen Arbeiter, der die Arbeit gleich mit größter Energie anpacken würde, dem man aber aus irgendeinem Grunde keine Arbeit zuteilt und der in Erwartung dasitzt und mit kleinen Kindern spielt. Ich konnte auch nicht begreifen, warum er im Zuchthause blieb und nicht entfloh. Er wäre zweifellos entlaufen, wenn er es wirklich ernsthaft gewollt hätte. Über solche Menschen wie Petrow hat die Vernunft nur so lange Gewalt, bis sie ein starkes Verlangen nach etwas spüren. Dann gibt es auf der ganzen Welt kein Hindernis für ihren Willen. Ich bin aber überzeugt, daß er sich bei einer Flucht sehr geschickt angestellt hätte und imstande gewesen wäre, eine ganze Woche ohne Brot irgendwo im Walde oder im Flußschilf zu sitzen. Anscheinend war er auf diesen Gedanken noch nicht gekommen und von diesem Verlangen noch nicht ganz gefangengenommen. Viel Überlegung und praktischen Sinn habe ich bei ihm niemals bemerkt. Solche Menschen werden mit einer einzigen fixen Idee geboren, die sie ihr Leben lang unbewußt hin und her treibt; sie werfen sich ihr Leben lang unruhig hin und her, bis sie eine ihrem Geschmack entsprechende Tätigkeit gefunden haben; dann ist ihnen auch ihr Kopf nicht zu teuer. Zuweilen mußte ich staunen, wie widerspruchslos sich dieser Mensch, der seinen Vorgesetzen wegen Schläge erstochen hatte, mit Ruten züchtigen ließ. Er wurde manchmal dieser Strafe unterzogen, wenn man ihn beim Branntweinschmuggel erwischte. Diese Strafe ließ er aber gleichsam mit eigener Zustimmung über sich ergehen, als sei er sich bewußt, daß er sie verdient habe; andernfalls ließe er sie sich niemals gefallen und würde sich eher totschlagen lassen. Ich wunderte mich auch, wenn er mich, trotz seiner scheinbaren Anhänglichkeit, bestahl. Das überkam ihn periodisch. Er war es, der mir meine Bibel gestohlen hatte, die er auf meine Bitte von einem Platz nach einem andern tragen sollte. Es handelte sich um einen Weg von nur wenigen Schritten, aber er brachte es fertig, unterwegs einen Käufer zu finden, die Bibel zu verkaufen und das Geld zu vertrinken. Er hatte wohl großes Verlangen zu trinken, und wenn er etwas wollte, so mußte es auch geschehen. So ein Mensch ist imstande, seinen Mitmenschen wegen eines Viertelrubels abzuschlachten, um für diesen Viertelrubel ein Fläschchen Schnaps zu kaufen, während er zu einer andern Zeit sich auch hunderttausend Rubel entgehen ließe. Abends setzte er mich selbst über den Diebstahl in Kenntnis, tat es aber ohne jede Verlegenheit oder Reue, vollkommen gleichgültig, als handelte es sich um ein ganz gewöhnliches Erlebnis. Ich versuchte ihn ordentlich auszuschimpfen, auch tat mir meine Bibel leid. Er hörte mir gleichmütig und sogar ruhig zu; er stimmte mir bei, daß die Bibel ein sehr nützliches Buch sei, bedauerte aufrichtig, daß ich sie nicht mehr habe, bereute aber durchaus nicht, daß er sie selbst gestohlen hatte; er sah mich mit solchem Selbstvertrauen an, daß ich sogar zu schimpfen aufhörte. Mein Schimpfen ließ er sich aber gefallen, weil er sich wohl sagte, daß ich nicht umhin könne, ihn wegen solcher Handlungsweise auszuschimpfen; also solle ich mein Herz erleichtern und mir durch Schimpfen Trost verschaffen; die ganze Sache sei aber eine solche Bagatelle, daß ein vernünftiger Mensch sich schämen müsse, über sie zu sprechen. Ich glaube, er hielt mich überhaupt für ein Kind, fast für einen Säugling, der die allereinfachsten Dinge nicht begreifen könne. Wenn ich selbst mit ihm ein Gespräch über etwas anderes als über Wissenschaften und Bücher anknüpfte, so antwortete er mir zwar, aber gleichsam nur aus Höflichkeit, und beschränkte sich auf die kürzesten Repliken. Ich fragte mich oft: was gehen ihn alle diese Bücherweisheiten an, nach denen er mich gewöhnlich fragt? Manchmal beobachtete ich ihn bei solchen Gesprächen, ob er nicht über mich lache. Aber nein, gewöhnlich hörte er mir aufmerksam und ernst zu, allerdings auch nicht allzu aufmerksam, und über diesen letzteren Umstand ärgerte ich mich zuweilen. Seine Fragen formulierte er genau, bestimmt, äußerte aber kein übertriebenes Erstaunen über die Antworten, die ich ihm gab, und nahm sie sogar zerstreut auf... Ich hatte ferner den Eindruck, daß er sich, ohne viel Kopfzerbrechen gesagt habe, man könne mit mir nicht so wie mit den anderen Menschen sprechen, und ich sei nicht imstande, außer Gesprächen über Bücher etwas zu begreifen, so daß es keinen Zweck habe, mich mit anderen Dingen zu belästigen.
Ich bin überzeugt, daß er mich sogar gern mochte, und darüber wunderte ich mich sehr. Ob er mich für einen nicht ernst zu nehmenden, nicht ganz erwachsenen Menschen hielt oder mir gegenüber jenes eigentümliche Mitleid empfand, das jedes starke Geschöpf instinktiv gegen ein schwächeres empfindet, weiß ich nicht. Obwohl ihn dies alles nicht hinderte, mich zu bestehlen, bin ich doch überzeugt, daß er mich, indem er mich bestahl, bedauerte. »Ach,« sagte er sich vielleicht, wenn er bei mir etwas stahl, »was ist das für ein Mensch, der nicht mal sein Hab und Gut zu schützen versteht!« Aber vielleicht mochte er mich gerade aus diesem Grunde so gern. Einmal sagte er mir selbst, wie unabsichtlich, ich sei »ein gar zu guter Mensch«; oder: »Sie sind so gutmütig, so gutmütig, daß Sie einem leid tun. Aber nehmen Sie es mir nicht übel, Alexander Petrowitsch,« fügte er nach einer Minute hinzu, »es kam mir wirklich vom Herzen.«
Mit solchen Menschen passiert es manchmal im Leben, daß sie bei Gelegenheit irgendeiner großen, allgemeinen Aktion oder Umwälzung ihre eigentliche Betätigung finden. Sie sind nicht Menschen des Wortes und können nicht die Urheber und Hauptführer einer solchen Aktion sein; aber sie sind stets die ausführenden Elemente und fangen zuerst an. Sie tun es einfach, ohne großes Geschrei, bringen aber die Sache ohne zu schwanken und ohne Angst über die wichtigsten Hindernisse hinweg, indem sie allen Dolchen entgegentreten, – und alle stürzen ihnen nach und folgen ihnen blindlings bis zur letzten Mauer, wo sie sich gewöhnlich die Köpfe einrennen. Ich glaube nicht, daß Petrow ein gutes Ende genommen hat; er mußte in irgendeinem Augenblick zugrunde gehen, und wenn er noch immer nicht zugrunde gegangen ist, so bedeutet es nur, daß die Gelegenheit für ihn noch nicht gekommen ist. Wer weiß übrigens? Vielleicht wird er alt und grau werden und ruhig im hohen Alter, sich immer zwecklos hin- und hertreibend, sterben. Aber ich glaube, M. hatte recht, wenn er sagte, er sei der entschlossenste Mensch im ganzen Zuchthause gewesen.
Was die entschlossenen Menschen betrifft, so ist es schwer, über sie etwas zu sagen; im Zuchthause gab es ihrer wie überall ziemlich wenige. Mancher schien von außen besehen wirklich schrecklich; wenn man sich bloß alles in Erinnerung rief, was man über ihn erzählte, so ging man ihm sogar aus dem Wege. Ein eigentümliches Gefühl, das ich mir nicht recht erklären konnte, zwang mich in der ersten Zeit, solche Menschen nach Möglichkeit zu meiden. Später änderten sich meine Ansichten selbst über die schrecklichsten Mörder. Mancher, der gar keinen Mord begangen hatte, war viel schrecklicher als einer der wegen sechs Mordtaten hergeraten war. Über manche Verbrechen konnte man sich schwer auch nur eine oberflächliche Vorstellung machen: so sonderbar waren sie in ihrer Ausführung. Ich sage das, weil bei unserem einfachen Volke manche Morde aus den merkwürdigsten Ursachen verübt werden. So kommt z.B. ziemlich oft folgender Mördertypus vor: der Mensch ist still und friedlich; sein Leben ist bitter, aber er trägt es. Er ist beispielsweise ein Bauer, ein Leibeigener, ein Kleinbürger oder Soldat. Plötzlich reißt etwas in ihm; er kann sich nicht mehr beherrschen und sticht mit einem Messer nach seinem Feind und Bedrücker. Hier beginnt eben das Seltsame: der Mensch gerät plötzlich für einige Zeit ganz aus Rand und Band. Zuerst hat er seinen Feind und Bedrücker erstochen; dies ist zwar ein Verbrechen, aber begreiflich; hier lag ein Grund vor; dann ersticht er aber auch andere Menschen, die nicht seine Feinde sind, er mordet den ersten besten, er tut es zum Vergnügen, wegen eines groben Wortes, wegen eines Blickes, wegen einer Dummheit, oder einfach: »Aus dem Wege, tritt mir nicht entgegen, wenn ich gehe!« Der Mensch ist wie im Fieber. Er hat die für ihn sonst heilige Grenzlinie überschritten, er findet schon Gefallen daran, daß es für ihn nichts Heiliges mehr gibt; etwas reizt ihn, sich mit einem Sprung über alle Gesetze und jede Gewalt hinwegzusetzen, sich an einer grenzenlosen und zügellosen Freiheit zu berauschen, dieses herzbeklemmende Grauen zu genießen, das er doch unbedingt empfinden muß. Außerdem weiß er, daß ihn eine schreckliche Strafe erwartet. Dies alles gleicht vielleicht dem Gefühl, das den Menschen, der auf einem hohen Turm steht, in die Tiefe zieht, die unter seinen Füßen ist, so daß er sogar froh wäre, sich hinunterzustürzen, damit die Sache schneller ein Ende nähme! Dies passiert sogar mit den friedlichsten und bis dahin unauffälligsten Menschen. Manche renommieren sogar in diesem Rausch. Je eingeschüchterter so einer früher gewesen ist, um so stärker drängt es ihn jetzt, sich hervorzutun und den andern Angst einzujagen. Er hat Freude an dieser Angst, er ergötzt sich am Abscheu, den er den andern einflößt. Er spielt den Tollkühnen, und so ein »Tollkühner« wartet zuweilen selbst mit Ungeduld auf die Strafe, damit man ihm ein Ende gebiete, weil es ihm zuletzt selbst schwer fällt, diese »Tollkühnheit« noch weiter zu spielen. Es ist interessant, daß diese ganze Stimmung, diese gespielte Unnatur nur bis zum Schafott anhält und dann sofort aufhört, als wäre es eine in aller Form vorgeschriebene Frist. Dann wird der Mensch plötzlich still und sanft und verwandelt sich in einen Waschlappen. Auf dem Schafott greint er und bittet das Volk um Verzeihung. Und wenn er dann ins Zuchthaus kommt, so ist er so kläglich, jämmerlich und sogar verängstigt, daß man sich über ihn sogar wundert: »Ist es wirklich derselbe, der fünf oder sechs Menschen abgeschlachtet hat?«
Natürlich gibt es auch solches die sich auch im Zuchthause nicht beruhigen. Sie behalten noch immer eine gewisse Schneidigkeit, eine eigentümliche Ruhmsucht, als wollten sie immer betonen, daß sie nicht wegen einer Bagatelle, sondern wegen sechs Mordtaten hergeraten seien. Zuletzt beruhigen sich aber auch diese. Mancher von ihnen ruft sich nur zum eigenen Vergnügen die große Tat, die er einmal im Leben verübt hat, in Erinnerung, als er »tollkühn« gewesen ist, und hat es sehr gern, wenn er einen Einfältigen findet, vor dem er prahlen und dem er alle seine Heldentaten erzählen kann, ohne übrigens durch eine Miene zu verraten, daß er selbst große Lust hat, von diesen Dingen zu sprechen. »So ein Mensch bin ich einmal gewesen!«
Wie raffiniert ist manchmal diese ehrgeizige Vorsicht, und wie nachlässig trägt er seine Geschichte vor! Welch eine gut einstudierte Geckenhaftigkeit spricht aus jedem Ton, aus jedem Wort des Erzählers. Wo mag es das einfache Volk bloß gelernt haben?
In dieser ersten Zeit bekam ich an einem langen Abend, als ich müßig und traurig auf meiner Pritsche lag, eine solcher Erzählungen zu hören und hielt den Erzähler infolge meiner Unerfahrenheit für einen schrecklichen, ungeheuerlichen Verbrecher, für einen unerhört starken, eisernen Charakter, während ich mich zu dieser selben Zeit über Petrow fast lustig machte. Das Thema dieser Erzählung war, wie er, Luka Kusmitsch, zu seinem bloßen Vergnügen einen Major »kalt gemacht« hatte. Dieser Luka Kusmitsch war der kleine, schmächtige, junge Arrestant aus unserer Kaserne, der Kleinrusse mit dem spitzen Näschen, den ich schon einmal erwähnt habe. Eigentlich war er Großrusse, aber im Süden geboren, ich glaube als Leibeigener. Es war in ihm wirklich etwas Scharfes und Herausforderndes: »Ein kleiner Vogel mit scharfen Krallen.« Die Arrestanten durchschauen aber instinktiv jeden Menschen. Man achtete ihn sehr wenig im Zuchthause. Er war furchtbar eingebildet. An diesem Abend saß er auf der Pritsche und nähte an einem Hemde. Das Nähen von Wäsche war sein Beruf. Neben ihm saß ein stumpfsinniger und beschränkter, aber gutmütiger und freundlicher Bursche, sein Nachbar auf der Pritsche, der großgewachsene und stämmige Arrestant Kobylin. Lutschka zankte sich oft mit ihm, wie es ja überhaupt zwischen Nachbarn oft zu Reibungen kommt, und behandelte ihn von oben herab, spöttisch und despotisch, was Kobylin infolge seiner Einfalt zum Teil gar nicht merkte. Er strickte einen wollenen Strumpf und hörte Lutschka gleichgültig zu. Dieser erzählte ziemlich laut und vernehmbar. Er wollte, daß alle ihm zuhören, obwohl er so tat, als erzählte er es Kobylin allein.
»Sie schickten mich also aus unserer Gegend, Bruder,« begann er, mit der Nadel hantierend, »nach Tsch–w wegen Vagabundage.«
»Wann ist es gewesen? Ist es schon lange her?« fragte Kobylin.
»Wenn die Erbsen reif werden, werden es zwei Jahre sein. Wie wir nach K–w kamen, setzte man mich dort für kurze Zeit ins Zuchthaus. Ich sehe: mit mir sitzen an die zwölf Mann, lauter Kleinrussen, große, kräftige, starke Menschen wie die Stiere. Sind aber so friedlich und lassen sich das schlechte Essen gefallen, und ihr Major behandelt sie, wie es ihm gerade paßt. Ich sitze einen Tag, ich sitze zwei Tage und sehe, es ist eine feige Gesellschaft. Warum laßt ihr euch von diesem Dummkopf soviel gefallen?
›Geh und rede einmal mit ihm selbst!‹ sagen sie mir und grinsen. Da war auch ein sehr spaßiger Kleinrusse dabei, Brüder,« fügte er plötzlich hinzu, sich nicht mehr an Kobylin, sondern an alle wendend. »Er erzählte, wie er vom Gericht verurteilt wurde und was er zu dem Richter gesagt hatte, dabei schwimmt er in Tränen: Ich habe zu Haus ein Weib und Kinder, sagte er ihm. War ein kräftiger Mann, mit grauen Haaren und dick. ›Ich schaue ihn an,‹ sagt er, ›er zuckt keine Wimper! Der Teufelssohn schreibt in einem fort. Da sage ich mir: Verrecken sollst du, damit ich eine Freude habe! Er aber schreibt und schreibt!... So war mein Ende besiegelt!‹ Waßja, gib mir mal einen Faden, das Zuchthausgarn ist ganz faul.«
»Dieser da ist vom Markte,« antwortete Waßja, ihm einen Faden reichend.
»Unser Garn in der Nähstube ist besser. Neulich schickten wir den Invaliden hin, Garn einzukaufen, er kauft es aber bei irgendeinem gemeinen Frauenzimmer!« fuhr Lutschka fort, indem er die Nadel gegen das Licht hielt und einfädelte.
»Wohl bei einer Gevatterin.«
»Wie war es nun mit dem Major?« fragte der ganz vergessene Kobylin.
Lutschka hatte nur darauf gewartet. Aber er fuhr in seiner Erzählung nicht sogleich fort und schenkte Kobylin scheinbar keine Beachtung. Er ordnete ruhig den Faden, wechselte ruhig und träge die Beinstellung und begann endlich zu sprechen:
»Schließlich brachte ich meine Kleinrussen doch in Aufruhr, sie verlangten nach dem Major. Ich hatte mir aber schon des Morgens von meinem Nachbarn ein Messer geben lassen und es für jeden Fall versteckt. Der Major ist in Wut geraten und kommt gefahren. ›Jetzt,‹ sage ich, ›nur nicht feig sein, ihr Kleinrussen!‹ Ihnen ist aber schon das Herz in die Hosen gefallen, sie zittern nur so! der Major kommt hereingestürzt, ist ganz betrunken. ›Wer will was?! Was ist los?! Ich bin euer Zar und Gott!‹
»Wie er das sagt: ›Ich bin euer Zar und Gott,‹ da trete ich vor,« fuhr Lutschka fort, »dabei habe ich das Messer im Ärmel.
›Nein‹ sage ich, ›Euer Hochwohlgeboren,‹ rücke aber dabei immer näher heran, ›wie ist es bloß möglich,‹ sage ich, ›Euer Hochwohlgeboren, daß Sie unser Zar und Gott seien?‹
›Ach so, du bist also der Aufrührer!‹ schrie der Major auf.
›Nein,‹ sage ich (rücke aber dabei immer näher heran), ›nein,‹ sage ich, ›Euer Hochwohlgeboren, es gibt, wie es Ihnen selbst vielleicht bekannt ist, nur einen allmächtigen und allgegenwärtigen Gott,‹ sage ich. ›Auch haben wir nur einen Zaren, den Gott selbst über alle gesetzt hat. Er ist, Euer Hochwohlgeboren,‹ sage ich ihm, ›Monarch. Sie aber, Euer Hochwohlgeboren,‹ sage ich ihm, ›sind erst Major, unser Vorgesetzter, Euer Hochwohlgeboren, durch die Gnade des Zaren,‹ sage ich, ›und wegen Ihrer Verdienste.‹
›Wie, wie, wie, wie!‹ gackert er; er kann gar nicht reden, er kocht nur so. So erstaunt war er.
›Ja, es ist so,‹ sage ich ihm und stürze mich plötzlich auf ihn und stoße ihm das ganze Messer in den Bauch. Ich hatte gut gezielt. Er rollte zu Boden und zappelte mit den Beinen. Ich warf das Messer weg.
›Paßt auf,‹ sage ich, ›ihr Kleinrussen, hebt ihn jetzt auf!‹ «
Hier muß ich eine Bemerkung einschalten. Leider waren solche Ausdrücke wie »Ich bin Zar und Gott« und viele ähnliche in früheren Zeiten bei vielen Vorgesetzten in großem Gebrauch. Ich muß bemerken, daß von diesen Vorgesetzten nur sehr wenige übriggeblieben sind, vielleicht gibt es sie überhaupt nicht mehr. Ich muß ferner sagen, daß mit derartigen Ausdrücken vorwiegend solche Offiziere zu prahlen liebten, die sich von dem niedersten Range hinaufgedient hatten. Der Offiziersrang drehte gleichsam ihr ganzes Inneres um und zugleich den Kopf. Nachdem sie selbst lange genug gedient und alle Stufen der Abhängigkeit durchgemacht hatten, sahen sie sich plötzlich als Offiziere, Vorgesetzte und Adlige und übertrieben daher im ersten Rausche jede Vorstellung von ihrer Gewalt und Bedeutung; natürlich nur im Verkehr mit den ihnen Untergebenen. Den Höheren gegenüber benahmen sie sich aber nach wie vor unterwürfig, was vollkommen überflüssig und vielen Vorgesetzten sogar widerlich war. Manche von diesen Unterwürfigen erklärten sogar ihren höheren Vorgesetzten mit besonderer Rührung, daß sie ehemalige Gemeine seien; nun seien sie zwar Offiziere, würden aber »immer an die ihnen gebührende Stellung denken«. Aber gegen die Untergebenen benahmen sie sich wie unbeschränkte Herrscher. Natürlich wird man jetzt kaum noch einen finden, der schrie: »Ich bin Zar und Gott.« Ich muß aber trotzdem bemerken, daß die Arrestanten wie überhaupt die Niedrigstehenden durch nichts so sehr aufgebracht werden wie durch solche Ausdrücke aus dem Munde der Vorgesetzten. Diese freche Selbstüberhebung, diese übertriebene Vorstellung von seiner Straflosigkeit erzeugt selbst im gehorsamsten Menschen Haß und bringt seine Geduld zum Reißen. Glücklicherweise wurde dieses Benehmen, das heute nicht mehr vorkommt, selbst in alten Zeiten von der Obrigkeit streng geahndet. Ich weiß einige Beispiele dafür.
Überhaupt werden die Untergebenen durch jede hochmütige Nachlässigkeit im Benehmen gegen sie gereizt. Viele glauben z. B., daß es genüge, den Arrestanten gut zu verpflegen und alle diesbezüglichen Vorschriften zu erfüllen. Diese Ansichten sind irrig. Ein jeder, wer und wie tief erniedrigt er auch sei, verlangt, wenn auch instinktiv und unbewußt, Achtung vor seiner Menschenwürde. Der Arrestant weiß ja selbst, daß er ein Arrestant und ein Ausgestoßener ist, und kennt seine Stellung den Vorgesetzten gegenüber; man kann ihn aber durch keinerlei Brandmale, durch keinerlei Ketten zwingen, zu vergessen, daß er ein Mensch ist. Da er aber wirklich ein Mensch ist, so soll man ihn auch menschlich behandeln. Mein Gott! Die menschliche Behandlung kann sogar einen solchen zum Menschen machen, in dem das Ebenbild Gottes schon längst getrübt ist. Diese »Unglücklichen« soll man eben am menschlichsten behandeln. Das ist für sie eine Freude und eine Rettung. Ich traf schon solche gutherzigen, edlen Vorgesetzten. Ich sah auch den Einfluß, den sie auf diese Erniedrigten hatten. Es genügten einige freundliche Worte, um die Arrestanten moralisch zu einem neuen Leben zu erwecken. Sie freuten sich dann wie die Kinder und begannen wie Kinder zu lieben. Ich will noch eine Eigentümlichkeit erwähnen: die Arrestanten selbst mögen keine allzu familiäre und allzu gutmütige Behandlung durch die Vorgesetzten. Sie wollen vor dem Vorgesetzten Respekt haben, so hört aber jeder Respekt auf. Der Arrestant sieht es z. B. gern, wenn sein Vorgesetzter Orden hat, wenn er stattlich ausschaut und sich der Gunst eines höheren Vorgesetzten erfreut; er muß streng, wichtig und gerecht sein und seine Würde wahren. Solche Vorgesetzten werden von den Arrestanten bevorzugt; so einer wahrt seine eigene Würde, tut dabei ihnen nichts zu Leide, also ist alles schön und gut.
»Dafür hat man dir wohl ordentlich eingeheizt?« fragte Kobylin ruhig.
»Hm, eingeheizt hat man mir wohl gehörig. Alej, gib mal die Schere her! Warum gibt es heute keinen Maidan, Brüder?«
»Wir haben neulich alles vertrunken,« erwiderte Wassja. »Hätten wir nicht alles vertrunken, so gäbe es wohl den Maidan.«
»Wenn! Für das Wenn zahlt man in Moskau hundert Rubel,« bemerkte Lutschka.
»Was hast du nun für das Ganze gekriegt?« fragte Kobylin wieder.
»Hundertundfünf, lieber Freund. Aber das will ich euch sagen, Brüder: um ein Haar hätten sie mich totgeschlagen,« antwortete Lutschka, sich wieder von Kobylin an alle wegwendend. »Als sie mir diese hundertundfünf zudiktiert hatten, führte man mich in voller Parade hinaus. Ich hatte aber bis dahin noch nie die Knute gekostet. Eine Menge Volk lief zusammen, die ganze Stadt war dabei: es hieß, man werde einen schweren Verbrecher, einen Mörder knuten. So dumm ist dieses Volk, daß ich es gar nicht sagen kann. Der Henker zog mich aus, legte mich hin und sagte: ›Obacht, es brennt!‹ Ich warte, was wohl kommen wird. Wie er mir den ersten Hieb gab, schrie ich nicht mal, ich riß wohl den Mund auf, konnte aber nicht schreien. Die Stimme versagte mir eben. Beim zweiten Hieb, ob ihr es mir glaubt oder nicht, hörte ich nicht mal, wie er ›zwei‹ zählte. Wie ich zu mir kam, hörte ich ihn ›siebzehn‹ zählen. Vier mal nahmen sie mich vom Bock, ließen mich eine halbe Stunde verschnaufen und begossen mich mit Wasser. Ich glotze alle an und denke mir: ›Gleich sterbe ich!‹ «
»Bist aber nicht gestorben?« fragte Kobylin naiv.
Lutschka musterte ihn mit einem äußerst verächtlichen Blick. Alle lachten.
»Ist das ein Klotz!«
»Bei ihm ist's im Oberstübchen nicht richtig,« bemerkte Lutschka, als bereute er, daß er sich mit einem solchen Menschen ins Gespräch eingelassen hatte.
»Es fehlt ihm eben an Verstand,« bestätigte Wassja.
Lutschka hatte zwar sechs Menschen ermordet, aber im Zuchthause fürchtete ihn niemand, obwohl er vielleicht vom ganzen Herzen wünschte, als ein schrecklicher Mensch zu gelten.
Erzählung
Das Weihnachtsfest stand vor der Tür. Die Arrestanten erwarteten es in einer eigentümlichen feierlichen Stimmung, und wenn ich sie sah, erwartete auch ich etwas Außergewöhnliches. Vier Tage vor dem Fest führte man uns ins Bad. Zu meiner Zeit, besonders in den ersten Jahren, wurden die Arrestanten nur selten ins Bad geführt. Alle freuten sich darüber und machten ihre Vorbereitungen. Es wurde dafür der Nachmittag bestimmt, und an diesem Nachmittag wurde nicht mehr gearbeitet. In unserer Kaserne freute sich am meisten und zeigte die größte Aufregung der jüdische Zuchthäusler, Issai Fomitsch Bumstein, den ich schon im vierten Kapitel meiner Erzählung erwähnt habe. Er liebte es, im Dampfbade bis zur Stumpfsinnigkeit, bis zur Bewußtlosigkeit zu schwitzen, und sooft ich jetzt, die alten Erinnerungen durchnehmend, an unser Dampfbad (welches Wohl verdient, nicht vergessen zu werden) zurückdenke, so tritt in den Vordergrund des Bildes sofort das Gesicht des glückseligsten und unvergeßlichen Issai Fomitsch, meines Zuchthausgenossen und des Mitbewohners der gleichen Kaserne. Mein Gott, was war er doch für ein spaßiger und drolliger Mensch! Über sein Äußeres habe ich schon einige Worte gesagt: er war an die fünfzig Jahre alt, schwächlich, voller Runzeln, mit schrecklichen Brandmalen an der Stirn und an den Wangen, schmächtig, mager, mit der weißen Hautfarbe eines Hühnchens. Sein Gesichtsausdruck zeigte eine ständige, unerschütterliche Selbstzufriedenheit und Seligkeit. Er schien gar nicht zu bedauern, ins Zuchthaus geraten zu sein. Da er von Beruf Juwelier war und es in der Stadt keinen Juwelier gab, arbeitete er ununterbrochen für die städtischen Herrschaften und die Beamten, ausschließlich in seinem Beruf. Dafür bekam er doch irgendeine Bezahlung. Er litt keine Not, lebte sogar reich, legte aber das Geld zurück und verlieh es gegen Pfand und Zinsen im ganzen Zuchthause. Er besaß einen eigenen Samowar, eine gute Matratze, Tassen und ein vollständiges Eßgeschirr. Die Juden in der Stadt versagten ihm nicht ihren Schutz und ihre Freundschaft. An Sonnabenden ging er unter Bewachung in die städtische Betstube (was vom Gesetz gestattet ist) und lebte vergnügt und munter, übrigens mit Ungeduld auf die Absolvierung seiner zwölfjährigen Strafzeit wartend, um »heiraten« zu können. In ihm war ein komisches Gemisch von Naivität, Dummheit, Verschlagenheit, Frechheit, Einfalt, Schüchternheit, Prahlsucht und Unverschämtheit. Ich wunderte mich sehr darüber, daß die Zuchthäusler über ihn gar nicht lachten und sich nur ab und zu ein Späßchen erlaubten. Issai Fomitsch diente offenbar allen zum Zeitvertreib und zur Unterhaltung. »Er ist unser Einziger, rührt Issai Fomitsch nicht an,« pflegten die Arrestanten zu sagen. Issai Fomitsch selbst begriff zwar den Sachverhalt, war aber auf seine Bedeutung sichtlich stolz, was den Arrestanten viel Spaß machte. Seine Ankunft im Zuchthause spielte sich auf eine höchst komische Weise ab (er war vor meiner Zeit gekommen, aber man berichtete es mir). An einem Spätnachmittag, nach Feierabend verbreitete sich plötzlich im Zuchthause das Gerücht, daß soeben ein Jude eingetroffen sei; er werde eben in der Hauptwache rasiert und müsse jeden Augenblick erscheinen. Im Zuchthause gab es damals noch keinen einzigen Juden. Die Arrestanten erwarteten ihn mit Ungeduld und umdrängten ihn sofort, als er durchs Tor hereintrat. Der Unteroffizier führte ihn in die Zivilabteilung und zeigte ihm seinen Platz auf der Pritsche. Issai Fomitsch hielt in den Händen einen Sack mit den ihm ausgefolgten ärarischen sowie seinen eigenen Sachen. Er legte den Sack hin, stieg auf die Pritsche und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen, ohne es zu wagen, jemand anzuschauen. Rings um ihn herum ertönte Lachen und wurden Zuchthauswitze gemacht, die sich auf seine jüdische Abstammung bezogen. Plötzlich drängte sich durch die Menge ein junger Arrestant mit seiner ältesten, schmutzigen und zerrissenen Sommerhose und einem Paar ärarischer Fußlappen in der Hand. Er setzte, sich neben Issai Fomitsch und klopfte ihn auf die Schulter.
»Na, lieber Freund, ich warte hier schon auf dich das sechste Jahr. Da, schau, was gibst du mir dafür?«
Und er breitete vor ihm die mitgebrachten Lumpen aus.
Als Issai Fomitsch, der bei seinem Eintritt ins Zuchthaus dermaßen verängstigt war, daß er nicht mal wagte, die Augen zu dieser Menge spöttischer, verunstalteter und schrecklicher Gesichter, die ihn umdrängten, aufzuheben und vor Angst noch kein Wort gesprochen hatte, das Pfand erblickte, fuhr er plötzlich zusammen und begann die Lumpen schnell mit den Fingern zu betasten. Er hielt sie sogar gegen das Licht. Alle warteten, was er wohl sagen würde.
»Nun, einen Silberrubel wirst du mir dafür Wohl nicht geben? Aber sie sind es wahrhaftig wert!« fuhr der Pfandgeber fort, indem er Issai Fomitsch zublinzelte.
»Einen Silberrubel kann ich nicht geben, aber sieben Kopeken.«
Das waren die ersten Worte, die Issai Fomitsch im Zuchthause sprach. Alle kugelten sich vor Lachen.
»Sieben! Gut, gib wenigstens sieben her; es ist dein Glück! Paß auf, heb das Pfand gut auf, du haftest mir dafür mit deinem Kopf.«
»Die Zinsen machen drei Kopeken, im ganzen sind es also zehn Kopeken,« fuhr der Jude mit stockender und zitternder Stimme fort, indem er die Hand in die Tasche steckte und die Arrestanten ängstlich musterte. Er hatte furchtbare Ängste wollte aber zugleich auch das Geschäft machen.
»Drei Kopeken Zinsen fürs Jahr?«
»Nein, nicht fürs Jahr, sondern für den Monat.«
»Hart bist du, Jude. Wie heißt du?« »Issai Fomitsch.«
»Na, Issai Fomitsch, du wirst es bei uns weit bringen! Leb wohl.«
Issai Fomitsch sah sich das Pfund noch einmal an, legte es zusammen und steckte es vorsichtig in seinen Sack, unter dem anhaltenden Gelächter der Arrestanten.
Alle schienen ihn wirklich gerne zu mögen, und niemand tat ihm was zu Leide, obwohl fast alle bei ihm verschuldet waren. Er selbst war harmlos wie eine Henne, und als er sah, daß alle ihm geneigt waren, erlaubte er sich sogar manche Frechheit, tat es aber so komisch und einfältig, daß man ihm immer verzieh. Lutschka, der in seinem Leben viel mit Juden zusammengekommen war, neckte ihn oft, doch nicht aus Haß, sondern nur zur Unterhaltung, wie man sich mit einem Hündchen, einem Papagei, einem zahmen Tierchen usw. unterhält. Issai Fomitsch wußte es sehr gut, nahm nichts übel und parierte die Witze sehr geschickt mit ähnlichen.
»Paß auf, Jud, ich verprügele dich noch!«
»Schlägst du mich einmal, so schlage ich dich zehnmal,« antwortete Issai Fomitsch tapfer.
»Verfluchter Grindkopf!«
»Von mir aus Grindkopf.«
»Krätziger Jud!«
»Von mir aus auch das. Bin zwar krätzig, aber reich; habe Geld.«
»Hast Christus verkauft.«
»Von mir aus auch das.«
»Bravo, Issai Fomitsch, bist ein tapferer Kerl! Rührt ihn nicht an, er ist ja unser Einziger!« schrien die Arrestanten lachend.
»Du, Jud, wirst die Knute bekommen und nach Sibirien gehen.«
»Ich bin auch so schon in Sibirien.«
»Man wird dich noch weiter verschicken.« »Gibt es dort den lieben Gott?«
»Den lieben Gott gibt es dort wohl.«
»Dann ist's mir gleich. Wenn es nur den lieben Gott gibt und man Geld hat, so ist es überall gut.«
»Ein tapferer Kerl, Issai Fomitsch, bravo!« schrien alle ringsum. Issai Fomitsch sah zwar, daß man sich über ihn lustig machte, fühlte sich aber ermutigt.
Das allgemeine Lob machte ihm offenbar Vergnügen, und er begann dann mit seiner dünnen Diskantstimme, so daß man es in der ganzen Kaserne hörte, zu singen: La-la-la-la-la! Es war eine komische Melodie, das einzige Lied ohne Worte, das er während seiner ganzen Zuchthauszeit sang. Als er mich später näher kennenlernte, schwor er mir, daß es dasselbe Lied und dieselbe Melodie sei, die alle die sechshunderttausend Juden groß und klein beim Durchzuge durch das Rote Meer gesungen hätten, und daß es jedem Juden befohlen sei, dieses Lied im Augenblicke des Triumphes und des Sieges über seine Feinde zu singen.
Am Vorabend eines jeden Sabbats, am Freitagabend, kamen in unsere Kaserne die Leute aus den anderen Kasernen absichtlich, um zu sehen, wie Issai Fomitsch seinen Sabbat beging. Issai Fomitsch war von einer solchen unschuldigen Ruhmsucht, daß auch diese allgemeine Neugier ihm Vergnügen machte. Er deckte mit einer pedantischen, geheuchelten Wichtigkeit in einer Ecke sein kleines Tischchen, schlug ein Buch auf, entzündete zwei Kerzen und begann, irgendwelche geheime Worte murmelnd, sich in seinen Gebetmantel zu hüllen. Es war ein bunter Überwurf aus Wollstoff, den er sorgfältig in seinem Koffer verwahrte. Er band sich um beide Arme Riemen und befestigte am Kopfe, gerade an der Stirn mit einer Binde ein eigentümliches hölzernes Kästchen, so daß es aussah, als habe er ein seltsames Horn. Dann begann das Gebet. Er verrichtete es singend, schreiend, um sich spuckend, drehte sich dabei im Kreise und machte wilde, komische Gesten. Dies alles war natürlich vom Ritus vorgeschrieben und konnte daher auch nicht komisch oder sonderbar sein; komisch aber war, daß Issai Fomitsch vor uns wie absichtlich mit seinen Gebräuchen renommierte. Bald bedeckte er das Gesicht mit den Händen und begann zu schluchzen. Das Schluchzen wurde immer lauter, und et ließ seinen vom Kästchen bekrönten Kopf erschöpft und beinahe heulend auf das Buch sinken; bald fing er mitten im heftigsten Schluchzen laut zu lachen an und dabei etwas mit feierlicher, wie vor übergroßer Seligkeit geschwächter Stimme zu sprechen. »Wie es ihn packt!« pflegten die Arrestanten zu sagen. Einmal fragte ich Issai Fomitsch, was dieses Schluchzen und dann diese feierlichen Übergänge zur Glückseligkeit zu bedeuten hätten. Issai Fomitsch hatte es sehr gern, wenn ich ihn nach etwas fragte. Er erklärte mir unverzüglich, daß das Weinen und Schluchzen sich auf den Verlust Jerusalems bezögen, und daß das Gesetz es vorschreibe, bei diesem Gedanken so laut wie möglich zu schreien und sich vor die Brust zu schlagen. Aber mitten im heftigsten Schluchzen müsse sich Issai Fomitsch plötzlich, wie zufällig darauf besinnen (auch dieses »plötzlich« sei vom Gesetz vorgeschrieben), daß es eine Prophezeiung über die Rückkehr der Juden nach Jerusalem gebe. In diesem Augenblick müsse er sofort in Lachen, Freude und Jubel ausbrechen und die Gebete so sprechen, daß die Stimme selbst die höchste Seligkeit und das Gesicht die höchste Andacht und den größten Adel ausdrückten. Dieser plötzliche Übergang und die unbedingte Verpflichtung, diesen Übergang einzuhalten, gefielen Issai Fomitsch außerordentlich: er sah darin einen eigentümlichen klugen Trick und teilte mir stolz den komplizierten Sinn des Gesetzes mit. Einmal trat mitten in seinem Gebet der Platzmajor in Begleitung des Wachoffiziers und einiger Soldaten ins Zimmer. Alle Arrestanten machten Front vor ihren Pritschen, nur Issai Fomitsch fing noch lauter zu schreien an. Er wußte, daß das Beten erlaubt war und er es nicht unterbrechen durfte, daß er folglich, indem er vor dem Major schrie, nichts riskierte. Es war ihm aber äußerst angenehm, vor dem Major Komödie zu spielen und vor uns zu renommieren. Der Major ging auf ihn zu und blieb einen Schritt hinter ihm stehen. Issai Fomitsch wandte sich mit dem Rücken zu seinem Tischchen und begann seine feierliche Prophezeiung laut und mit den Händen fuchtelnd dem Major ins Gesicht zu schreien. Da es ihm vorgeschrieben war, in diesem Augenblick in seinem Gesicht recht viel Seligkeit und Adel zu zeigen, so tat er es unverzüglich, wobei er die Augen eigentümlich zusammenkniff, lachte und dem Major zunickte. Der Major war erstaunt; schließlich lachte er los, nannte ihn ins Gesicht einen Dummkopf und ging weg, während Issai Fomitsch sein Geschrei noch lauter ertönen ließ. Nach einer Stunde, als er sein Abendbrot aß, fragte ich ihn: »Wie, wenn der Platzmajor in seiner Dummheit auf Sie böse geworden wäre?«.
»Was für ein Platzmajor?«
»Was für einer? Haben Sie ihn denn nicht gesehen?«
»Nein.«
»Er stand ja nur eine Elle vor Ihnen, gerade vor Ihrem Gesicht.«
Aber Issai Fomitsch begann mir mit dem größten Ernst zu versichern, daß er keinen Major gesehen habe, daß er bei seinem Gebet in eine solche Ekstase gerate, daß er weder höre, noch sehe, was um ihn herum vorgehe.
Mir ist es, als sähe ich auch heute noch Issai Fomitsch vor mir, wie er sich am Sonnabend ohne Arbeit im ganzen Zuchthause herumtreibt und sich alle Mühe gibt, nichts zu tun, wie es vom Gesetz für den Sabbat vorgeschrieben ist. Was für unmögliche Anekdoten erzählte er mir, sooft er aus seiner Betstube zurückkehrte; was für unwahrscheinliche Nachrichten und Gerüchte aus Petersburg teilte er mir mit, mit der Behauptung, er hätte sie von seinen Glaubensgenossen und diese hätten sie aus erster Hand erhalten. Aber ich habe schon zu viel über Issai Fomitsch erzählt. Einem jeden, der den jüdischen Ritus einigermaßen kennt, muß es auffallen, daß Issai Fomitsch, in der Schilderung Dostojewskijs, das Freitagabendgebet auf eine höchst phantastische Weise beging. Entweder hatte den Dichter das Gedächtnis im Stich gelassen, oder aber dieser Issai Fomitsch war geisteskrank. Anm. d. Ü.
In der ganzen Stadt gab es nur zwei öffentliche Badeanstalten. Die erste gehörte einem Juden; sie hatte nur Einzelbäder, zu fünfzig Kopeken das Bad, und war für die höheren Stände eingerichtet. Die andere, vorwiegend fürs einfache Volk bestimmt, war halb verfallen, schmutzig, eng, und in diese Badeanstalt wurden nun die Insassen unseres Zuchthauses geführt. Der Tag war frostig und sonnig, und die Arrestanten freuten sich schon, einmal aus dem Zuchthause herauskommen und sich die Stadt anschauen zu können. Scherze und Lachen verstummten unterwegs für keinen Augenblick. Uns begleitete eine ganze Abteilung Soldaten mit geladenen Gewehren – ein Schauspiel für die ganze Stadt. In der Badeanstalt teilte man uns sofort in zwei Schichten: die zweite wartete im kalten Vorraum, während die erste badete; anders ging es in dem engen Bade nicht. Aber das Bad war dermaßen eng, daß man sich schwer vorstellen konnte, wie auch bloß die Hälfte von uns darin Platz finden könnte. Petrow ließ nicht von mir: ohne jede Aufforderung meinerseits drängte er mir seine Hilfe auf und schlug mir sogar vor, mich zu waschen. Neben Petrow bot mir auch Bakluschin seine Dienste an, ein Sträfling aus der Besonderen Abteilung, den man bei uns den »Pionier« nannte und den ich schon einmal als den lustigsten und nettesten von allen Arrestanten erwähnte, was er auch in der Tat war. Wir waren schon flüchtig bekannt. Petrow half mir sogar beim Auskleiden, was bei mir, da ich nicht die Übung hatte, sehr lange dauerte; im Vorraume war es aber fast so kalt wie im Freien. Das Auskleiden ist für den Sträfling übrigens sehr schwierig, solange er es noch nicht gelernt hat. Erstens muß man die Unterfesseln aufzuschnüren verstehen. Es sind Lederstücke von etwa vier Werschok Länge, die über der Wäsche, direkt unter dem Eisenringe getragen werden, der das Bein umfaßt. Ein Paar davon kostet nicht weniger als sechzig Kopeken, und doch schafft sich jeder Sträfling diese Unterfesseln an, selbstverständlich auf eigene Kosten, denn ohne sie ist es ganz unmöglich zu gehen. Der Eisenring umfaßt das Bein nicht vollkommen, und zwischen dem Ring und dem Bein bleibt ein Zwischenraum, durch den man einen Finger stecken kann; das Eisen schlägt daher gegen das Bein und reibt es so, daß der Sträfling ohne diese Vorrichtung sich schon am ersten Tage Wunden am Fleische zuzieht. Aber das Ablegen dieser Unterfesseln ist noch nicht das Schwerste. Viel schwerer ist es zu lernen, unter den Fesseln die Wäsche auszuziehen. Das ist ein schwieriges Kunststück. Nachdem man die Wäsche, sagen wir, vom linken Bein abgestreift hat, muß man sie erst zwischen dem Beine und dem Fesselring durchziehen, dann das Bein frei machen und die Wäsche wieder durch den gleichen Ring durchziehen; darauf muß man die ganze vom linken Beine abgezogene Wäsche durch den rechten Ring durchziehen, das rechte Bein befreien und die gleiche Operation am rechten Ringe wiederholen. Ein Neuling kann sogar schwerlich dahinterkommen, wie es zu machen ist. Zum ersten Male zeigte es mir in Tobolsk der Arrestant Korenew, ein ehemaliger Räuberhauptmann, der fünf Jahre an der Kette saß. Die Arrestanten sind es schon gewohnt und besorgen es ohne jede Schwierigkeit. Ich gab Petrow einige Kopeken, damit er Seife und einen Bastwisch kaufe; die Arrestanten bekamen allerdings auch von der Obrigkeit ein Stück Seife geliefert, so groß wie eine Zweikopekenmünze und so dick wie eine Käsescheibe, wie sie bei Leuten aus dem Mittelstande zum Abendessen verabreicht wird. Die Seife wurde im gleichen Vorraum zugleich mit Kräutertee, Semmeln und heißem Wasser feilgeboten. Jeder Arrestant bekam gemäß der Abmachung der Zuchthausverwaltung mit dem Besitzer der Badeanstalt nur einen Holzeimer heißes Wasser, der ihm durch ein zu diesem Zwecke eigens angebrachtes Fensterchen aus dem Vorraum in den eigentlichen Baderaum gereicht wurde. Petrow entkleidete mich und führte mich sogar am Arm, da er merkte, daß das Gehen in den Fesseln mir sehr schwer fiel. »Ziehen Sie sie hinauf, auf die Waden,« sagte er, mich wie ein Kinderwärter stützend; »Hier müssen Sie aber acht geben, hier ist eine Schwelle.« Ich genierte mich sogar ein wenig; ich wollte Petrow versichern, daß ich auch allein gehen könne, aber er würde es nicht glauben. Er behandelte mich ganz wie ein unmündiges, ungeschicktes Kind, dem jeder zu helfen verpflichtet ist. Petrow war dabei durchaus keine Dienernatur; hätte ich ihn irgendwie beleidigt, so hätte er schon gewußt, wie mit mir zu verfahren. Bezahlung für seine Hilfe hatte ich ihm gar nicht versprochen, auch hatte er um eine solche nicht gebeten. Was bewog ihn nun, sich meiner so anzunehmen?
Als die Türe zum eigentlichen Baderaum aufgemacht wurde, glaubte ich, daß wir in die Hölle kämen. Man stelle sich einen Raum von etwa zwölf Schritt Länge und von der gleichen Breite vor, in dem sich vielleicht an die hundert, mindestens aber achtzig Menschen angesammelt haben: alle Arrestanten waren ja in nur zwei Schichten eingeteilt, ins Bad waren aber im ganzen rund zweihundert Mann gekommen. Der Dampf umnebelte die Augen, es war qualmig, schmutzig und so eng, daß man keinen Schritt machen konnte. Ich erschrak und wollte schon umkehren, aber Petrow beeilte sich, mich zu ermutigen. Wir drängten uns irgendwie mit großer Mühe zu den Bänken zwischen den Köpfen der Menschen durch, die auf dem Boden saßen und die wir baten, sich zu bücken, damit wir durchkönnten. Aber alle Plätze auf den Bänken waren besetzt. Petrow erklärte mir, daß man sich den Platz erst kaufen müsse, und trat sofort in Verhandlungen mit einem Sträfling, der am Fenster saß. Jener trat für eine Kopeke seinen Platz ab, empfing von Petrow das Geld, das dieser vorsorglich in der Faust mitgenommen hatte, und glitt sofort unter die Bank, direkt unter meinen Platz, wo es dunkel und schmutzig war und sich ein klebriger Schlamm, fast einen halben Finger dick angesetzt hatte. Aber auch unter den Bänken waren alle Plätze besetzt; auch dort wimmelte es von Menschen. Auf dem ganzen Fußboden war keine Handbreit Platz frei, wo nicht zusammengekrümmte Arrestanten saßen, die sich aus ihren Holzeimern begossen. Andere standen, die Holzeimer in den Händen, zwischen ihnen und wuschen sich im Stehen; das schmutzige Wasser lief von ihnen direkt auf die rasierten Köpfe der unter ihnen Sitzenden. Auf der Schwitzbank und auf allen zu ihr emporführenden Vorsprüngen saßen und wuschen sich zusammengekrümmte Menschen. Sie wuschen sich aber recht nachlässig. Einfache Menschen waschen sich bei uns selten mit heißem Wasser und Seife; sie schwitzen nur entsetzlich im heißen Dampfe und begießen sich darauf mit kaltem Wasser, – darin besteht ihr ganzes Bad. Auf der Schwitzbank hoben und senkten sich an die fünfzig Badebesen im gleichen Takt; alle bearbeiteten sich mit diesen Besen bis zur Berauschung. Jede Minute wurde neuer Dampf gegeben. Das war keine Hitze mehr; es war die Hölle. Alles schrie und krakeelte, vom Klirren der hundert auf dem Boden schleifenden Ketten begleitet... Manche, die durchgehen wollten, verfingen sich in den fremden Ketten, streiften mit den eigenen die Köpfe der unter ihnen Sitzenden, fielen hin, fluchten und zogen die anderen mit. Der Schmutz strömte von allen Seiten. Alle waren wie in einem Rausche, in einer seltsam erregten Gemütsverfassung; man hörte Schreien und Kreischen. Am Fenster im Vorraume, durch das man das heiße Wasser reichte, war ein Gedränge, ein Lärm und Handgemenge. Das empfangene heiße Wasser wurde auf die Köpfe der unten Sitzenden verschüttet, noch ehe man es aus seinen Platz brachte. Jeden Augenblick blickte durch dieses Fenster oder durch die halb geöffnete Türe das schnurrbärtige Gesicht des Soldaten herein, der mit einem Gewehr in der Hand aufpaßte, ob es nicht irgendeine Unordnung gäbe. Die rasierten Schädel und die vom Dampfe rot gewordenen Körper der Arrestanten erschienen noch abstoßender. Auf den vom Dampfe geröteten Rücken treten gewöhnlich scharf die Narben von den früher erhaltenen Ruten- und Stockschlägen hervor, und nun erschienen alle diese Rücken aufs neue verwundet. Die schrecklichen Narben! Es überlief mich kalt, als ich sie sah. Man gibt wieder Dampf, und er füllt als eine dichte heiße Wolke wieder die ganze Badestube; alles schreit und krakeelt. In der Dampfwolke bewegen sich die wundgeprügelten Rücken, die rasierten Köpfe, die gekrümmten Arme und Beine; zur Vollendung des Bildes schnattert auf der höchsten Schwitzbank Issai Fomitsch aus voller Kehle. Er genießt das Dampfbad bis zur Bewußtlosigkeit, aber kein noch so heißer Dampf scheint ihm zu genügen; er mietet sich für eine Kopeke einen Bader, aber auch der hält es schließlich nicht aus, wirft den Besen weg und läuft davon, um sich mit kaltem Wasser zu begießen. Issai Fomitsch läßt aber den Mut nicht sinken und mietet sich einen zweiten, einen dritten: er hat sich schon entschlossen, bei einer solchen Gelegenheit keine Kosten zu scheuen, und wechselt an die fünf Bader nacheinander. »Wie der aufs Dampfbad versessen ist, ein tapferer Kerl, dieser Issai Fomitsch!« schreien ihm die Arrestanten von unten zu. Issai Fomitsch findet auch selbst, daß er in diesem Augenblick über alle erhaben ist und alle übertroffen hat; er triumphiert und kräht mit scharfer, verrückter Stimme seine Arie »la la la«, die alle anderen Stimmen übertönt. Mir kam der Gedanke: wenn wir alle miteinander einmal in die Hölle kommen, so wird sie diesem Orte sehr ähnlich sehen. Ich konnte mich nicht beherrschen und teilte diese Vermutung Petrow mit; der sah sich nur in der Runde um und sagte nichts.
Ich hatte schon die Absicht, auch ihm einen Platz neben mir zu kaufen, aber er ließ sich zu meinen Füßen nieder und erklärte, daß er es sehr bequem habe. Bakluschin kaufte uns indessen Wasser und reichte es uns, wenn wir es brauchten. Petrow erklärte, er wolle mich vom Kopf bis zu den Füßen waschen, so daß ich »blitzsauber« sein würde, und forderte mich eifrig auf, auf die Schwitzbank zu gehen. Aber ich wagte mich nicht hin. Petrow rieb mich ganz mit Seife ein. »Und jetzt will ich Ihnen die Füßchen waschen,« fügte er am Schlüsse hinzu. Ich wollte ihm schon sagen, daß ich sie mir auch selbst waschen könne, aber ich widersprach ihm nicht mehr und ergab mich ganz in seinen Willen. Im Diminutiv »Füßchen« lag durchaus nichts Knechtisches; Petrow konnte ganz einfach nicht meine Füße »Füße« nennen, weil die anderen, die gewöhnlichen Menschen Füße, ich aber nur »Füßchen« hatte.
Nachdem er mich gewaschen, brachte er mich mit den gleichen Zeremonien, d. h. indem er mich stützte und bei jedem Schritt warnte, als wäre ich von Porzellan, in den Vorraum zurück und half mir die Wäsche anziehen; erst als er mit mir ganz fertig geworden war, eilte er selbst in die Badestube zurück, um ordentlich den Dampf zu genießen.
Als wir heimkamen, bot ich ihm ein Glas Tee an. Er sagte nicht nein, trank den Tee aus und dankte. Nun fiel mir ein, tiefer in die Tasche zu greifen und ihn mit einem Fläschchen Branntwein zu traktieren. Ein solches fand sich auch in unserer Kaserne. Petrow war außerordentlich zufrieden; er trank den Branntwein aus, räusperte sich, erklärte, ich hätte ihn zum neuen Leben erweckt, und eilte in die Küche, als ob man dort ohne ihn nichts anfangen könnte. An seiner Statt erschien jetzt ein anderer Gesprächspartner, Bakluschin (der Pionier), den ich schon im Bade zum Tee eingeladen hatte.
Ich kenne keinen liebenswürdigeren Menschen als diesen Bakluschin. Er gab zwar niemand etwas nach, zankte oft mit den anderen, liebte es nicht, wenn man sich in seine Angelegenheiten mischte, und verstand, mit einem Worte, für seine Person einzutreten. Aber er war niemand lange böse, und alle Leute bei uns schienen ihn gern zu haben. Wo er auch eintrat, überall wurde er mit Vergnügen empfangen. Man kannte ihn sogar in der Stadt als den amüsantesten Menschen von der Welt, der nie seine Heiterkeit verlor. Er war ein hochgewachsener Bursche von etwa dreißig Jahren, mit kühnem und gutmütigem, ziemlich hübschem Gesicht, mit einer Warze. Dieses Gesicht verstand er manchmal, wenn er jemand nachäffte, so komisch zu verziehen, daß alle, die herumstanden, lachen mußten. Er gehörte auch zu den Spaßvögeln, aber er war unversöhnlich gegen unsere mürrischen Hasser des Lachens, und darum schalt ihn niemand, daß er ein »hohler und unnützer« Mensch sei. Er war voll Feuer und Leben. Er hatte meine Bekanntschaft schon in den ersten Tagen gemacht und mir erklärt, daß er einst Kantonist gewesen, später bei den Pionieren gedient habe und sogar von gewissen hochstehenden Persönlichkeiten ausgezeichnet und geliebt gewesen sei, worauf er noch immer sehr stolz war. Mich begann er sogleich über Petersburg auszufragen. Er hatte sogar Bücher gelesen. Bevor er zu mir zum Tee kam, hatte er schon die ganze Kaserne zum Lachen gebracht, indem er erzählte, wie der Leutnant Sch. am Morgen unseren Platzmajor abgefertigt habe. Nun setzte er sich neben mich und berichtete mir mit vergnügter Miene, daß die Theateraufführung wohl zustande kommen würde. Im Zuchthause war für die Feiertage eine Aufführung geplant. Es hatten sich schon Schauspieler gefunden, und man arbeitete gemächlich an den Dekorationen. Einige Leute in der Stadt versprachen uns ihre Kleider für die Schauspieler, sogar für die weiblichen Rollen; man hoffte sogar, durch die Vermittlung eines Offiziersburschen eine Offiziersuniform mit Fangschnüren zu beschaffen. Wenn es nur dem Platzmajor nicht einfiele, die Aufführung wie im vorigen Jahre zu verbieten. Aber im vorigen Jahre war der Platzmajor in der Weihnachtszeit schlechter Laune: er hatte irgendwo im Kartenspiel verloren, außerdem hatte man im Zuchthause etwas angestellt; darum verbot er aus Ärger die Aufführung; diesmal würde er sie aber vielleicht nicht verhindern wollen. Mit einem Worte, Bakluschin war in einer erregten Stimmung. Offenbar gehörte er zu den Haupturhebern der Theateraufführung, und ich gab mir das Wort, unbedingt dieser Aufführung beizuwohnen. Die einfältige Freude Bakluschins über das Gelingen des Planes gefiel mir sehr gut. Ein Wort gab das andere, und wir kamen ins Gespräch. Unter anderem erzählte er mir, daß er nicht immer in Petersburg gedient habe; er hätte sich dort etwas zuschulden kommen lassen und sei nach R. versetzt worden, übrigens als Unteroffizier in ein Garnisonsbataillon.
»Von dort hat man mich aber hergeschickt«, bemerkte Bakluschin.
»Weswegen denn?« fragte ich ihn.
»Weswegen? Wie glauben Sie, Alexander Petrowitsch, weswegen? Nun, weil ich mich verliebt hatte.«
»Nun, deshalb schickt man doch nicht einen Menschen her,« entgegnete ich lachend. »Allerdings,« fügte Bakluschin hinzu, »allerdings habe ich bei dieser Gelegenheit einen dortigen Deutschen mit der Pistole erschossen. Aber man darf doch nicht einen Menschen wegen eines Deutschen verschicken, urteilen Sie doch selbst!«
»Wie war es denn? Erzählen Sie es mir, es interessiert mich.«
»Es ist eine komische Geschichte, Alexander Petrowitsch.«
»Um so besser. Erzählen Sie.«
»Soll ich erzählen? Nun, hören Sie zu...«
Ich bekam eine wenn auch gar nicht komische, dafür aber sehr seltsame Geschichte eines Mordes zu hören...
»Die Sache war so«, begann Bakluschin. »Als man mich nach R. schickte, sah ich mir die Stadt an: sie ist hübsch und groß, aber es gibt zu viele Deutsche da. Nun, ich bin natürlich noch ein junger Mann, bei den Vorgesetzten gut angeschrieben, gehe herum, die Mütze auf ein Ohr geschoben, und suche mir die Zeit zu vertreiben. Blinzele den deutschen Mädchen zu. Und da gefiel mir so eine junge Deutsche. Alle beide waren Wäscherinnen, für die allerfeinste Wäsche, sie und ihre Tante. Die Tante ist alt und aufgeblasen, aber sie leben im Wohlstande. Zuerst promenierte ich immer vor ihren Fenstern und freundete mich dann richtig an. Luise sprach auch anständig russisch, nur das ›R‹ wollte ihr nicht recht geraten, war ein so liebes Mädchen, wie ich ein solches noch nie getroffen hatte. Ich versuchte anfangs das eine und das andere, aber sie sagte mir: ›Nein, das darfst du nicht, Sascha, denn ich will meine ganze Unschuld für dich bewahren, um dir eine würdige Frau zu sein!‹ Und sie schmeichelt mir und lacht so hell... So sauber war sie, ich sah nie wieder eine solche wie sie. Sie selbst lockte mich, sie zu heiraten. Wie soll man sie auch nicht heiraten, sagen Sie mir bitte! Ich will also schon mit dem Gesuch zum Oberstleutnant gehen... Plötzlich sehe ich: Luise ist einmal nicht zum Stelldichein gekommen, ist das zweitemal nicht gekommen, auch nicht das drittemal... Ich schreibe ihr einen Brief; auf den Brief kommt keine Antwort. Ich denke mir: was ist denn das? Das heißt, hätte sie mich betrogen, so würde sie schon irgendwelche Finten machen, würde den Brief beantwortet haben und auch zum Stelldichein gekommen sein. Sie verstand aber nicht zu lügen, hatte ganz einfach mit mir gebrochen. Da steckt die Tante dahinter, denke ich mir. Zur Tante wage ich nicht zu gehen; sie wußte zwar alles, aber wir machten es doch heimlich, d. h. mit leisen Schritten. Ich gehe wie verrückt herum, schreibe ihr den letzten Brief und sage ihr: ›Wenn du jetzt nicht kommst, so gehe ich selbst zu deiner Tante.‹ Sie erschrak und kam. Sie weint und erzählt: ein Deutscher, namens Schulz, ein entfernter Verwandter von ihnen, ein reicher, nicht mehr junger Uhrmacher hat den Wunsch geäußert, sie zu heiraten – ›um mich,‹ erzählt sie, ›glücklich zu machen und um auch selbst im Alter nicht ohne Frau zu sein; er liebt mich auch, sagt er, und hat schon längst diese Absicht gehabt, aber immer geschwiegen und sich darauf vorbereitet. Er ist reich, Sascha‹, sagt sie, ›und das ist für mich ein Glück; willst du mir denn mein Glück rauben?‹ Ich sehe: sie weint und umarmt mich .. Ach, denke ich mir, es ist vernünftig, was sie da sagt! Was für einen Sinn hat es für sie, einen Soldaten zu heiraten, und wenn ich auch Unteroffizier bin? – ›Nun, leb wohl, Luise,‹ sage ich ihr, ›Gott sei mit dir; ich will dir nicht dein Glück rauben. Und wie ist er, ist er nett?‹ – ›Nein,‹ sagt sie, ›ist schon bejahrt, hat eine so lange Nase...‹ Sie lacht sogar. Ich gehe von ihr und denke mir: nun, so will es halt mein Schicksal! Am nächsten Morgen ging ich zu seinem Laden, die Straße hatte sie mir gesagt. Ich sehe durch die Fensterscheibe: da sitzt der Deutsche, arbeitet an einer Uhr, ist so an die fünfundvierzig Jahre alt, hat eine krumme Nase und Glotzaugen, trägt einen Frack und einen sehr hohen Stehkragen, sieht so wichtig aus. Ich spie sogar aus; ich wollte ihm die Fensterscheibe einschlagen... aber was soll ich mich mit ihm einlassen, sage ich mir, hin ist hin! Ich kam gegen Abend in die Kaserne, legte mich aufs Bett und fing, glauben Sie es mir, Alexander Petrowitsch, zu weinen an...
»Es vergeht ein Tag, ein zweiter, ein dritter. Mit Luise komme ich nicht mehr zusammen. Indessen höre ich von einer Gevatterin (es war ein altes Weib, auch eine Wäscherin, zu der Luise zuweilen kam), daß der Deutsche von unserer Liebe wisse und sich darum beeilt habe, seinen Antrag zu machen. Sonst hätte er aber noch an die zwei Jahre gewartet. Der Luise hätte er aber den Eid abgenommen, daß sie mich nicht mehr kennen werde; vorläufig behandele er die beiden, die Tante und die Luise, noch gar nicht gut; vielleicht werde er sich die Sache noch überlegen, jedenfalls sei er noch nicht endgültig entschlossen. Sie sagte mir auch, er habe die beiden für übermorgen, Sonntag zu sich zum Morgenkaffee geladen, es werde auch noch ein alter Verwandter dabei sein, der einst Kaufmann gewesen, nun aber bettelarm sei und in irgendeinem Warenlager als Aufseher diene. Als ich erfuhr, daß sie am Sonntag vielleicht die Sache endgültig abmachen würden, packte mich die Wut, so daß ich mich gar nicht beherrschen konnte. Diesen ganzen Tag und auch den folgenden tat ich nichts anderes, als daran denken. Ich hätte wohl diesen Deutschen auffressen können.
»Sonntag früh wußte ich noch nichts, als aber der Gottesdienst zu Ende war, sprang ich auf, zog meinen Mantel an und ging zu dem Deutschen. Ich glaubte, sie alle dort anzutreffen. Warum ich zu dem Deutschen gegangen bin und was ich dort alles habe sagen wollen, weiß ich selbst nicht. Für jeden Fall steckte ich mir aber eine Pistole in die Tasche. Ich hatte eine alte, schlechte Pistole mit einem veralteten Hahn; als kleiner Junge hatte ich schon aus ihr geschossen. Richtig schießen konnte man mit ihr eigentlich nicht mehr. Ich lud sie aber dennoch mit einer Kugel; ich dachte mir, wenn sie grob werden und mich hinauszuwerfen versuchen, hole ich die Pistole aus der Tasche und erschrecke sie alle. Ich komme hin. In der Werkstatt ist kein Mensch, alle sitzen im Hinterzimmer. Außer ihnen ist kein Mensch da, auch kein Dienstbote. Er hielt sich nur eine einzige deutsche Dienstmagd, die zugleich auch Köchin war. Ich gehe durch den Laden und sehe: die Tür zum Hinterzimmer ist zugemacht, es ist eine alte Tür, mit einem Haken. Mein Herz klopft, ich bleibe stehen und horche: sie sprechen deutsch. Nun stoße ich aus aller Kraft mit dem Fuß, und die Tür geht sofort auf. Ich sehe: der Tisch ist gedeckt. Auf dem Tisch steht eine große Kaffeekanne, und der Kaffee kocht über einer Spiritusflamme. Auch Zwieback steht da; auf einem anderen Tablett eine Karaffe mit Branntwein, Hering, Wurst und noch eine Flasche mit irgendeinem Wein. Luise und die Tante, beide schön geputzt, sitzen auf dem Sofa. Ihnen gegenüber auf dem Stuhle sitzt der Deutsche selbst, der Bräutigam, schön frisiert, in Frack und Stehkragen, der ganz steil in die Höhe ragt. Zu seiner Seite sitzt auf einem Stuhle der andere Deutsche, schon alt, grau und dick, und schweigt. Als ich eintrat, wurde Luise blaß. Die Tante sprang erst auf und setzte sich gleich wieder, der Deutsche aber machte ein finsteres Gesicht. So böse stand er auf und trat mir entgegen.
›Was wünschen Sie?‹ fragte er mich.
Ich war etwas verwirrt, aber die Wut packte mich.
›Was ich wünsche?‹ sage ich: ›Empfange den Gast und bewirte ihn mit Branntwein. Ich bin als Gast zu dir gekommen.‹
Der Deutsche überlegt und sagt: ›Nehmen Sie Platz.‹
Ich setze mich. ›Nun, gib Branntwein her!‹ sage ich ihm.
›Hier ist Branntwein,‹ sagt er, ›trinken Sie, bitte.‹
›Du sollst mir aber guten Branntwein geben,‹ sage ich ihm. Die Wut packt mich immer mehr.
›Dieser Branntwein ist gut.‹
Es kränkte mich, daß er mich so von oben herab behandelte. Noch mehr aber, daß Luise es sah. Ich trank und sagte:
›Was bist du so grob, Deutscher? Du sollst mich wie einen Freund behandeln. Ich bin in Freundschaft zu dir gekommen.‹
›Ich kann nicht Ihr Freund sein,‹ sagt er, ›Sie sind ein einfacher Soldat.‹
Nun wurde ich ganz toll.
›Ach du Vogelscheuche, du Wurstmacher!‹ sage ich ihm. ›Weißt du denn auch, daß ich von dieser Minute an mit dir alles machen kann? Willst du, daß ich dich mit der Pistole erschieße?‹
Ich holte die Pistole aus der Tasche, stellte mich vor ihn hin und richtete den Lauf gerade auf seinen Kopf. Die anderen sitzen mehr tot als lebendig da und wagen nicht, einen Ton von sich zu geben; der Alte aber zittert wie ein Espenblatt, schweigt und ist ganz blaß geworden.
Der Deutsche war erst verblüfft, besann sich aber bald.
›Ich fürchte Sie nicht,‹ sagt er, ›und bitte Sie als einen anständigen Menschen, Ihre Scherze sofort zu unterlassen, ich fürchte Sie gar nicht.‹
›Ei, du lügst,‹ sage ich ihm, ›du fürchtest mich wohl!‹ Er wagt nicht, den Kopf vor der Pistole zu rühren, sitzt ganz starr da.
›Nein,‹ sagt er, ›Sie werden sich nicht unterstehen!‹
›Warum,‹ sage ich, ›sollte ich mich nicht unterstehen?‹
›Weil es Ihnen strengstens verboten ist,‹ sagt er, ›und Sie dafür streng bestraft werden.‹
Mag sich der Teufel in so einem Deutschen auskennen! Hätte er mich nicht selbst gereizt, so wäre er auch heute noch am Leben; das Ganze kam nur, weil er mit mir stritt.
›Du meinst also, daß ich mich nicht unterstehe?‹
›Nein!‹
›Ich unterstehe mich nicht?‹
›Sie unterstehen sich nicht, mir etwas zu tun...‹
›Nun, da hast du es, du Wurst!‹ Ich drücke ab, und er rollt vom Stuhl. Die anderen schrien auf.
»Ich steckte die Pistole in die Tasche und ging fort; wie ich aber in die Festung trat, warf ich die Pistole vor dem Festungstore in die Brennesseln.
»Ich kam heim, legte mich aufs Bett und dachte mir: gleich werden sie mich holen. Es vergeht aber eine Stunde, eine zweite, – sie holen mich nicht. Gegen Abend aber überkam mich eine solche Herzensunruhe, daß ich wieder ausging: ich wollte unbedingt Luise sehen. Ich komme am Uhrmachergeschäft vorbei und sehe: viele Leute stehen da, auch die Polizei ist dabei. Ich gehe zur Gevatterin und sage: ›Ruf mir Luise!‹ Ich hatte nicht lange zu warten, Luise kam gleich herbeigelaufen; sie stiegt mir um den Hals und weint: ›Ich selbst bin an allem Schuld,‹ sagt sie, ›weil ich auf die Tante gehört habe.‹ Sie sagte mir auch, daß die Tante gleich nach dem Geschehenen heimgekehrt sei und solche Angst hätte, daß sie daran erkrankt sei und über die Sache schweige; sie habe keinem Menschen etwas davon gesagt und auch ihr verboten, davon zu sprechen, so erschrocken sei sie: ›Sollen sie machen, was sie wollen.‹ – ›Uns hat vorhin niemand gesehen,‹ sagt Luise. Er hatte seine Dienstmagd weggeschickt, weil er sie fürchtete. Sie hätte ihm wohl die Augen ausgekratzt, wenn sie gehört hatte, daß er heiraten wolle. Auch von den Gesellen war niemand im Hause, – alle hatte er fortgeschickt. Er hatte selbst den Kaffee gekocht und den Imbiß hergerichtet. Der Verwandte aber hatte auch schon vorher sein ganzes Leben geschwiegen; auch jetzt sagte er nichts, nahm seine Mütze und ging als erster aus dem Hause. ›Auch er wird sicher schweigen,‹ sagte Luise. Und so geschah es auch. Zwei Wochen lang geschah mir nichts, und es lag auch kein Verdacht gegen mich vor. In diesen zwei Wochen – Sie können es mir glauben, Alexander Petrowitsch, oder auch nicht glauben, – habe ich mein ganzes Glück erfahren. Jeden Tag kam ich mit Luise zusammen, und wie hat sie an mir gehangen! Sie weint und sagt: ›Ich werde dir folgen, wohin man dich auch verschickt, alles will ich deinetwegen verlassen!‹ Ich glaubte, ich müßte vor Mitleid sterben: so sehr hatte sie mich gerührt. Nun, nach zwei Wochen wurde ich aber doch geholt. Der Alte und die Tante hatten sich beraten und mich angezeigt...«
»Warten Sie,« unterbrach ich Bakluschin, »deswegen konnte man Sie doch nur für zehn, höchstens für zwölf Jahre in die Zivilabteilung verschicken, Sie sind aber in der Besonderen Abteilung. Wie ist das möglich?«
»Das ist schon eine andere Sache,« antwortete Bakluschin. »Wie man mich vor die Gerichtskommission brachte, beschimpfte mich der Hauptmann vor Gericht mit gemeinen Worten. Ich beherrschte mich nicht und sagte ihm: ›Was schimpfst du? Siehst du denn nicht, Schuft, daß du vor den Gesetzbüchern sitzt?‹ Nun wurde die Sache ganz anders, und es begann ein neues Gerichtsverfahren; für alles zusammen bekam ich viertausend Spießruten und wurde hierher, in die Besondere Abteilung verschickt. Aber in derselben Stunde, als man mich zur Strafe führte, führte man auch den Hauptmann hinaus: ich kam unter die Spießruten, er aber wurde degradiert und als gemeiner Soldat in den Kaukasus verschickt. Auf Wiedersehen, Alexander Petrowitsch. Kommen Sie also zu unserer Vorstellung.«
Endlich rückte das Fest heran. Schon am Tage vorher gingen die Arrestanten fast nicht zur Arbeit. Nur die in den Nähstuben und anderen Werkstätten Beschäftigten gingen hin; die übrigen waren wohl beim Appell anwesend und wurden zwar zu irgendwelchen Arbeiten kommandiert, kehrten aber fast alle sogleich einzeln und auch gruppenweise ins Zuchthaus zurück, das am Nachmittag niemand mehr verließ. Auch am Vormittag waren sie zum größten Teil in ihren eigenen und nicht amtlichen Angelegenheiten ausgegangen: die einen, um Branntwein hereinzuschmuggeln und neuen zu bestellen; die andern, um ihre Gevatter und Gevatterinnen aufzusuchen oder um vor dem Feste das Geld für die schon früher geleisteten Arbeiten einzukassieren. Bakluschin und die andern, die an der Theateraufführung teilnahmen, – um ihre Bekannten, vorwiegend unter den Offiziersdienern, zu besuchen und sich von ihnen die nötigen Kostüme zu beschaffen. Manche gingen nur deshalb mit besorgten und geschäftigen Mienen herum, weil die andern besorgt und geschäftig taten; manche hatten z. B. von keiner Seite Geld zu erwarten, taten aber so, als ob sie welches erwarteten; mit einem Worte, alle schienen am bevorstehenden Tage irgendeine Veränderung, etwas Außergewöhnliches zu erwarten. Die Invaliden, die für die Arrestanten die Einkäufe auf dem Markte besorgten, brachten gegen Abend eine Menge Lebensmittel: Fleisch, Spanferkel und sogar Gänse. Viele von den Arrestanten, die sonst bescheiden und sparsam waren und das ganze Jahr jede Kopeke zurücklegten, hielten es für ihre Pflicht, an einem solchen Tage ordentlich in den Beutel zu greifen und das Ende der Fasten auf eine würdige Weise zu feiern. Der morgige Tag war für die Arrestanten ein echter Feiertag, den ihnen niemand nehmen konnte und der vom Gesetz in aller Form anerkannt war. An diesem Tage konnte ein Arrestant nicht zur Arbeit geschickt werden, und solcher Tage gab es nur drei im Jahre.
Und schließlich, wer weiß, wieviel Erinnerungen sich in den Seelen dieser Ausgestoßenen an einem solchen Tage regen mochten! Die hohen Feiertage prägen sich in das Gedächtnis der Menschen aus dem Volke von der frühesten Kindheit ein. Es sind die Tage der Ruhe nach schwerer Arbeit, die Tage, an denen sich die ganze Familie versammelt. Im Zuchthause mußten sie sich dieser Tage mit Schmerz und Sehnsucht erinnern. Die Achtung vor dem Festtage nahm bei den Arrestanten sogar den Anstrich einer Pflicht an; nur wenige betranken sich; alle waren ernst und schienen beschäftigt, obwohl die meisten gar keine Beschäftigung hatten. Aber selbst die Müßigen und die Bummelnden bemühten sich, eine gewisse Wichtigkeit zur Schau zu tragen... Das Lachen schien verpönt. Die Stimmung erreicht überhaupt eine eigentümliche Empfindlichkeit und reizbare Unduldsamkeit, und wenn einer auch nur zufällig den allgemeinen Ton störte, wurde er mit Geschrei und Geschimpfe zurechtgewiesen, und man zürnte ihm, als hatte er dem Feiertag den nötigen Respekt versagt. Diese Stimmung der Arrestanten war höchst merkwürdig, sogar rührend. Abgesehen von der angeborenen Andacht vor dem großen Tage, hatte jeder Arrestant unbewußt das Gefühl, daß er durch die Begehung des Festes gleichsam mit der ganzen Welt in Berührung komme, daß er folglich kein Ausgestoßener, verlorener Mensch, eine vom Brotlaibe abgeschnittene Scheibe sei und daß es im Zuchthause ebenso zugehe wie in der ganzen Welt. Dies fühlten sie; das war sichtbar und verständlich.
Auch Akim Akimytsch machte seine Vorbereitungen zum Feste. Er hatte keine Familienerinnerungen, da er als Waise in einem fremden Hause aufgewachsen war und fast von seinem fünfzehnten Lebensjahre an schwer dienen mußte; er hatte in seinem Leben auch keine besonderen Freuden gehabt, weil er es eintönig und gleichmäßig zugebracht und immer gefürchtet hatte, von den ihm vorgeschriebenen Pflichten auch um ein Haar abzuweichen. Er war auch nicht besonders religiös, da seine äußere Sittsamkeit in ihm alle übrigen menschlichen Gaben und insbesondere alle Leidenschaften und Wünsche, wie die guten, so auch die schlechten verschlungen hatte. Infolgedessen erwartete er den feierlichen Tag ohne Getue, ohne Aufregung, ohne sich traurigen und völlig zwecklosen Erinnerungen hinzugeben, sondern mit einer stillen und methodischen Sittsamkeit, von der er gerade soviel hatte, um einer Pflicht oder einer ein für allemal eingeführten Sitte zu genügen, überhaupt liebte er es nicht, zu viel nachzudenken. Die Bedeutung einer Tatsache schien seinen Kopf niemals zu beschäftigen, aber die einmal gegebenen Vorschriften erfüllte er stets mit einer religiösen Gewissenhaftigkeit. Hätte man ihm am nächsten Tage befohlen, das Gegenteil davon zu tun, so würde er es mit demselben Gehorsam und der gleichen Genauigkeit getan haben, mit denen er einen Tag vorher das Entgegengesetzte tat. Nur ein einziges Mal in seinem Leben hatte er versucht, nach seinem eigenen Verstande zu handeln, und war deswegen ins Zuchthaus geraten. Diese Lektion war nicht vergebens. Obwohl es ihm vom Schicksale nicht gegeben war, jemals zu begreifen, worin sein Vergehen bestand, zog er aus seinem Erlebnis dennoch den heilsamen Schluß, nie und unter keinen Umständen selbständig zu urteilen, weil das »nichts für seinen Kopf sei«, wie die Arrestanten untereinander sprachen. Blind den Sitten ergeben, betrachtete er sogar sein Weihnachtsferkel, das er mit Grütze füllte und briet (er briet es eigenhändig, denn er verstand sich auch darauf), schon im voraus mit einem besonderen Respekt, als wäre es kein gewöhnliches Ferkel, das man immer kaufen und braten könne, sondern ein besonderes, feiertägliches. Vielleicht war er von Kind auf gewöhnt, an diesem Tage ein Ferkel auf dem Tisch zu sehen, und hatte daraus den Schluß gezogen, daß das Ferkel unbedingt zu Weihnachten gehöre: ich bin überzeugt, daß er, wenn er an diesem Tage auch nur ein einziges Mal kein Ferkel gegessen hätte, sein Leben lang Gewissensbisse wegen der Nichterfüllung seiner Pflicht empfunden haben würde. Vor den Feiertagen hatte er seine alte Jacke und seine alte Hose getragen, die zwar anständig geflickt, aber gänzlich abgetragen waren. Nun zeigte es sich, daß er den neuen Anzug, der ihm vor etwa vier Monaten ausgefolgt worden war, sorgfältig in seinem Köfferchen verwahrt und kein einziges Mal angerührt hatte, vom beglückenden Vorhaben erfüllt, ihn erst am Weihnachtstage feierlich einzuweihen. So machte er es auch. Er holte den neuen Anzug schon am Vorabend heraus, breitete ihn aus, untersuchte ihn genau, reinigte ihn, blies jedes Stäubchen weg und probierte ihn, nachdem er dies alles verrichtet hatte, zum erstenmal an. Es stellte sich heraus, daß der Anzug vorzüglich paßte; alles war anständig und ließ sich bis oben zuknöpfen, der Stehkragen war steif wie aus Pappe und stützte das Kinn; an der Taille saß er fast wie ein Uniformrock, und Akim Akimytsch grinste sogar vor Vergnügen, als er sich nicht ohne Eleganz vor seinem winzigen Spiegel drehte, den er in einer freien Stunde eigenhändig mit einer goldenen Bordüre beklebt hatte. Nur ein Häkchen am Kragen der Joppe schien nicht auf der richtigen Stelle zu sitzen. Als Akim Akimytsch es feststellte, entschloß er sich, das Häkchen zu versetzen; er versetzte es, probierte die Jacke von neuem und stellte fest, daß nun alles tadellos saß. Darauf legte er die Sachen wieder zusammen und tat sie beruhigt bis zum folgenden Tage in sein Köfferchen. Sein Kopf war recht anständig rasiert; als er sich aber genauer im Spiegel betrachtete, bemerkte er kaum sichtbare Stoppeln auf dem Schädel und begab sich sofort zum »Major« um sich ganz tadellos und vorschriftsmäßig rasieren zu lassen. Obwohl ihn am nächsten Tage sicher kein Mensch darauf hin untersucht hätte, ließ er sich einzig zur Beruhigung seines eigenen Gewissens rasieren, damit an einem solchen Tage alle Vorschriften peinlich genau erfüllt seien. Die Andacht vor jedem Knöpfchen, vor jeder Litze, vor jeder Einzelheit der Uniform hatte sich in seinem Geiste schon von Kind auf als eine unverletzbare Pflicht aufgeprägt und seinem Herzen als das Muster der höchsten Schönheit, die ein anständiger Mensch zu erreichen vermöge. Nachdem er dies alles erledigt hatte, ließ er in seiner Eigenschaft als Stubenältester Heu bringen und beobachtete sorgfältig, wie man es auf dem Fußboden ausbreitete. Das wurde auch in den anderen Kasernen gemacht. Ich weiß nicht, warum, aber man pflegte bei uns zu Weihnachten immer Heu auf den Fußböden auszubreiten. Als Akim Akimytsch mit allen diesen Arbeiten fertig war, verrichtete er sein Gebet, legte sich auf sein Lager und versank sofort in den ruhigen Schlaf eines Säuglings, um am nächsten Morgen möglichst früh zu erwachen. Dasselbe taten übrigens auch die anderen Arrestanten. In allen Kasernen begab man sich viel früher zur Ruhe als gewöhnlich. Die sonst üblichen Abendarbeiten unterblieben, von den Maidans war keine Spur zu sehen. Alle erwarteten den kommenden Morgen.
Endlich brach dieser Morgen an. Ganz in der Frühe, gleich nach dem Trommelschlag wurden die Kasernen aufgeschlossen, und der wachhabende Unteroffizier, der die Arrestanten nachzuzählen hatte, beglückwünschte alle zum Feste. Man erwiderte seinen Glückwunsch freundlich und höflich. Nachdem Akim Akimytsch in aller Eile gebetet hatte, lief er gleich allen andern, die in der Küche ihre eigenen Gänse und Ferkel hatten, hin, um nachzuschauen, was mit ihnen geschähe, wie sie gebraten würden, wo sich jeder Braten befinde usw. In der Dunkelheit konnte man durch die kleinen schneeverwehten und eingefrorenen Fenster unserer Kaserne sehen, wie in den beiden Küchen, in allen sechs Öfen ein helles Feuer loderte, das schon vor Tagesanbruch angezündet worden war. Über den Hof huschten schon im Dunkeln viele Arrestanten in ihren Pelzröcken, die sie teils richtig angezogen und teils lose über die Schultern geworfen hatten, und alles drängte sich nach der Küche. Einige Arrestanten, übrigens sehr wenige, hatten schon Zeit gehabt, die Branntweinverkäufer aufzusuchen. Das waren die ungeduldigsten. Im allgemeinen benahmen sich aber alle anständig, ruhig und ungewöhnlich solid. Man hörte weder das gewohnte Geschimpfe, noch die gewohnten Streitigkeiten. Alle begriffen, daß es ein großer Tag und ein hohes Fest sei. Manche waren in die andern Kasernen gegangen, um ihre Bekannten zu beglückwünschen. Es zeigte sich sogar etwas wie Freundschaft. Hier will ich nebenbei bemerken: unter den Arrestanten ließ sich nichts von freundschaftlichen Beziehungen wahrnehmen; ich spreche schon gar nicht von einem freundschaftlichen Zusammenhalten aller, aber es kam auch nicht vor, daß sich ein Arrestant mit einem anderen befreundete. Das kam fast niemals vor, und diese Erscheinung ist höchst eigentümlich: in der Freiheit ist es anders. Bei uns waren überhaupt alle im Umgange miteinander, von sehr seltenen Ausnahmen abgesehen, trocken und kühl, und dies war ein gleichsam offizieller, ein für allemal eingeführter Ton. Auch ich trat aus der Kaserne ins Freie; es fing kaum zu tagen an, die Sterne erloschen, ein feiner Dampf stieg in die frostige Luft. Aus den Schornsteinen der Küchen erhoben sich Rauchsäulen. Einige von den Arrestanten, denen ich begegnete, gratulierten mir freundlich und mit großer Lust zum Fest. Ich dankte und erwiderte ihre Glückwünsche. Unter diesen Arrestanten gab es auch solche, die mit mir bisher den ganzen Monat noch kein Wort gesprochen hatten.
Dicht vor der Küche holte mich ein Arrestant aus der Militärabteilung in einem lose um die Schultern geworfenen Schafpelz ein. Er hatte mich schon von weitem erkannt und rief mir zu: »Alexander Petrowitsch! Alexander Petrowitsch!« Er lief nach der Küche und hatte große Eile. Ich blieb stehen und wartete auf ihn. Es war ein junger Bursch mit rundem Gesicht und sanften Augen, der auch sonst mit keinem Menschen sprach, mit mir aber seit meinem Eintritte ins Zuchthaus kein Wort gewechselt und mir überhaupt nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte; ich wußte nicht mal, wie er hieß. Er lief ganz atemlos auf mich zu, blieb dicht vor mir stehen und sah mich mit einem blöden und zugleich glückseligen Lächeln an.
»Was wünschen Sie?« fragte ich ihn nicht ohne Erstaunen, als ich sah, wie er vor mir stand, lächelte, mich anstarrte, aber kein Wort sagte.
»Heut ist ja Feiertag...« murmelte er. Da er nun selbst merkte, daß er mir sonst nichts zu sagen hatte, ließ er mich stehen und lief eilig in die Küche.
Ich will hier bemerken, daß ich mit ihm auch später nie wieder zusammenkam und bis zu meinem Austritt aus dem Zuchthause kein Wort mehr wechselte.
In der Küche herrschten bei den glühenden Öfen ein Getue und ein Gedränge. Ein jeder gab auf sein Eigentum acht; die »Köchinnen« machten sich eben daran, das amtliche Zuchthausessen zu kochen, da das Mittagessen an diesem Tage für eine frühere Stunde angesetzt war. Übrigens fing noch niemand zu essen an, obwohl manche große Lust dazu hatten, aber man mußte doch den Anstand den andern gegenüber wahren. Man wartete auf den Geistlichen, um erst nach seinem Besuch von den Fleischspeisen zu genießen. Indessen, es war noch nicht ganz Tag geworden, erklangen jeden Augenblick vom Tore des Zuchthauses her die Rufe des Gefreiten: »Die Köche her!« Diese Rufe ertönten jeden Augenblick, und so ging es an die zwei Stunden lang. Die Köche wurden aus der Küche herausgerufen, um die von allen Enden der Stadt ins Zuchthaus zusammenströmenden Gaben in Empfang zu nehmen. Man brachte eine außerordentliche Menge davon in Form von Semmeln, Broten, Käsekuchen, Fladen, Pfannkuchen und sonstigem Buttergebäck. Ich glaube, es gab in der ganzen Stadt, in keinem Kaufmanns- oder Kleinbürgershause auch nur eine Hausfrau, die uns nicht etwas von ihrem Gebäck geschickt hätte, um den »Unglücklichen« und Gefangenen zum hohen Feste Glück zu wünschen. Es waren darunter auch sehr üppige Gaben – feinstes Gebäck aus reinstem Mehl in größter Menge. Andere Gaben waren dagegen ärmlich: irgendeine Semmel im Werte von einer halben Kopeke oder zwei kaum mit Sahne bestrichene Fladen; das waren Gaben, die ein Armer aus seinem letzten Besitz einem andern Armen spendete. Alles wurde mit der gleichen Dankbarkeit ohne Ansehen der Gaben und der Person der Schenkenden angenommen. Die Arrestanten, die die Sachen in Empfang nahmen, zogen die Mützen, verbeugten sich, gratulierten zum Feste und trugen die Gaben in die Küche. Als sich dort ganze Berge von dem gespendeten Gebäck angesammelt hatten, wurden die Stubenältesten aus jeder Kaserne berufen, und diese verteilten alles gleichmäßig unter allen Kasernen. Dabei gab es weder Streit, noch Geschimpfe; man erledigte die Sache ehrlich und gerecht. Alles, was auf unsere Kaserne kam, wurde schon bei uns verteilt; die Verteilung besorgten Akim Akimytsch und noch ein anderer Arrestant; sie verteilten alles mit eigener Hand und gaben einem jeden mit eigener Hand seinen Teil. Es gab nicht die geringsten Zeichen von Unzufriedenheit oder Neid; alle waren befriedigt; ein Verdacht, daß eine Gabe unterschlagen oder ungerecht verteilt worden sei, konnte überhaupt nicht aufkommen. Nachdem Akim Akimytsch seine persönlichen Angelegenheiten in der Küche erledigt hatte, begann er sich anzuziehen und tat es mit allem Anstand und großer Feierlichkeit, so daß auch nicht ein einziges Häkchen übersehen wurde. Als er mit dem Ankleiden fertig war, begann er mit dem eigentlichen Gebet. Das Gebet dauerte ziemlich lange. Viele Arrestanten, zum größten Teil ältere Leute, beteten schon. Die Jüngeren beteten nicht zu viel: sie bekreuzigten sich höchstens beim Aufstehen, sogar an einem Feiertag. Nachdem Akim Akimytsch sein Gebet verrichtet hatte, ging er auf mich zu und beglückwünschte mich mit einiger Feierlichkeit zum Fest. Ich lud ihn sofort zum Tee ein, was er mit einer Einladung zum Ferkel beantwortete. Bald darauf kam auch Petrow herbeigelaufen, um mir zu gratulieren. Er hatte wohl schon etwas getrunken, kam zwar mit großer Hast herbeigestürzt, sagte aber nicht viel, sondern stand nur wie in Erwartung eine kurze Weile vor mir da und begab sich bald darauf in die Küche. Indessen bereitete man sich in der Militärkaserne zum Empfang des Geistlichen vor. Diese Kaserne hatte eine andere Einrichtung als die andern: die Pritschen waren in ihr längs der Wände und nicht mitten im Raume angeordnet, wie es in den anderen Kasernen war; es war die einzige Kaserne, die in der Mitte einen freien Raum hatte. Wahrscheinlich war sie absichtlich so eingerichtet, damit man im Bedarfsfalle in ihr die Arrestanten versammeln könne. In der Mitte des Raumes stellte man ein Tischchen auf, bedeckte es mit einem sauberen Handtuch, stellte ein Heiligenbild darauf und entzündete davor ein Lämpchen. Endlich kam der Geistliche mit dem Kreuze und dem Weihwasser. Nachdem er vor dem Heiligenbilde gebetet und gesungen hatte, stellte er sich vor den Arrestanten hin, und alle gingen mit aufrichtiger Andacht auf ihn zu, um das Kreuz zu küssen. Der Geistliche machte darauf eine Runde durch sämtliche Kasernen und besprengte sie mit Weihwasser. In der Küche lobte er unser Zuchthausbrot, das wegen seiner Güte in der ganzen Stadt berühmt war, und die Arrestanten äußerten sofort den Wunsch, ihm zwei frischgebackene Brote zu schicken; mit der Überbringung dieser Brote wurde sofort einer der Invaliden betraut. Dem Kreuz gab man mit der gleichen Andacht das Geleite, mit der man es empfangen hatte, und fast gleich darauf kamen der Platzmajor und der Kommandant. Der Kommandant genoß bei uns Liebe und Achtung. Er ging in Begleitung des Platzmajors durch alle Kasernen, gratulierte allen zum Fest, begab sich in die Küche und kostete von unserer Kohlsuppe. Die Kohlsuppe war vorzüglich; man hatte uns diesem Tage zu Ehren für sie fast ein ganzes Pfund Fleisch pro Mann gegeben. Außerdem war noch ein Hirsebrei vorbereitet, zu dem man genügend Butter ausgefolgt hatte. Als der Kommandant gegangen war, gab der Platzmajor den Befehl, mit dem Mittagessen zu beginnen. Die Arrestanten bemühten sich, ihm möglichst wenig unter die Augen zu kommen. Wir liebten nicht seinen bösen Blick unter der Brille hervor, mit dem er nach rechts und nach links ausspähte, ob es nicht irgendwo eine Unordnung gäbe, und ob er nicht einen Schuldigen erwischen könne.
Man begann zu essen. Das Ferkel Akim Akimytschs war vorzüglich durchgebraten. Nun kam etwas, was ich unmöglich erklären kann: sofort nach dem Weggange des Platzmajors, höchstens fünf Minuten darauf, machte sich eine außerordentliche Anzahl von Betrunkenen bemerkbar, wahrend fünf Minuten vorher alle nüchtern waren. Man sah auf einmal viele rote und strahlende Gesichter und hörte Balalaikas. Der kleine Pole mit der Geige ging schon hinter einem Bummelnden her, der ihn für den ganzen Tag gemietet hatte, um lustige Tänze aufzuspielen. Die Gespräche wurden immer lauter und trunkener. Aber man beendete das Mittagessen ohne besondere Zwischenfälle. Alle waren satt. Viele von den Älteren und Solideren legten sich sofort schlafen; unter diesen war auch Akim Akimytsch, der es anscheinend für eine Vorschrift hielt, an einem großen Feiertage ein Nachmittagsschläfchen zu halten. Der Greis von den Staroduber Altgläubigen stieg, nachdem er eine Weile geschlafen hatte, auf den Ofen, schlug sein Buch auf und betete ununterbrochen bis tief in die Nacht hinein. Es war ihm schwer, diese »Schande«, wie er den allgemeinen lustigen Zeitvertreib der Arrestanten nannte, mitanzusehen. Alle Kaukasier saßen auf den Stufen vor dem Flur und beobachteten mit Interesse, zugleich auch mit einem gewissen Abscheu unsere Betrunkenen. Ich begegnete Nurra. »Jaman, nicht schön!« sagte er, den Kopf schüttelnd, mit frommer Entrüstung: »Ach, jaman! Allah wird böse sein!« Issai Fomitsch zündete trotzig und hochmütig in seinem Winkelchen ein Licht an und begann zu arbeiten, wohl um uns zu zeigen, daß er diesen Feiertag für nichts achte. An verschiedenen Stellen taten sich die Maidans auf. Vor den Invaliden hatte man keine Angst, und für den Fall des Erscheinens des Unteroffiziers, der sich übrigens selbst Mühe gab, nichts zu sehen, stellte man Wachen aus. Der Wachoffizier sah an diesem Tage an die drei Mal ins Zuchthaus hinein. Aber bei seinem Erscheinen versteckten sich die Betrunkenen und verschwanden die Maidans; auch er selbst schien wohl an diesem Tage kleinere Vergehen nicht beachten zu wollen. Betrunkenheit galt an diesem Tage als ein kleines Vergehen. Die Leute kamen allmählich in Stimmung. Es begannen Streitigkeiten. Die Nüchternen waren immer noch in der Mehrheit, also gab es genug Leute, um auf die Betrunkenen aufzupassen. Dafür tranken die anderen ohne jedes Maß. Gasin triumphierte. Er spazierte mit selbstzufriedener Miene vor seinem Platz auf der Pritsche auf und ab, unter die er ganz frech den Branntwein geschafft hatte, der bis dahin in einem geheimen Ort, irgendwo im Schnee hinter der Kaserne versteckt gewesen war, und lächelte schlau, die an ihn herantretenden Kunden musternd. Er selbst war nüchtern und hatte keinen Tropfen getrunken. Er hatte die Absicht, mit dem Bummeln erst am Ende des Festes zu beginnen, nachdem er sich das Geld aller Sträflinge angeeignet haben würde. In den Kasernen tönten Lieder. Die Trunkenheit ging schon in Katzenjammer über, und die Lieder waren nahe daran, in Weinen überzugehen. Viele gingen mit ihren eigenen Balalaikas, die Pelze lose über die Schultern geworfen, umher und klimperten mit herausfordernder Miene. In der Besonderen Abteilung hatte sich sogar ein Chor aus acht Mann gebildet. Sie sangen schön mit der Begleitung von Balalaikas und Gitarren. Echte Volkslieder wurden nur wenig gesungen. Ich kann mich nur auf eines besinnen, das mit schönem Schwung vorgetragen wurde:
Abends gab's zu Haus
Einen großen Schmaus.
Hier hörte ich eine neue Variante dieses Liedes, die ich vorher nicht gekannt hatte. Am Ende des Liedes wurden noch einige Verse hinzugefügt:
Denn ich, junge Frau,
Nehm' es sehr genau:
Wusch die Löffel aus,
Machte Suppe draus,
Schabte den Türstock ab,
Was Pasteten gab.
Sonst sang man zum größten Teil die sogenannten Arrestantenlieder, übrigens lauter bekannte. Das eine von ihnen, betitelt »Es war einmal«, war humoristisch und handelte davon, wie der Mensch sich früher als großer Herr in der Freiheit vergnügt hatte und dann ins Zuchthaus geraten war. Es wurde darin geschildert, wie er vorher sein »Blancmanger mit Champagner« zu versüßen pflegte, aber jetzt:
Eß ich auch Kohl mit kaltem Wasser
Mit allergrößtem Appetit.
Verbreitet war auch folgendes allzu bekannte Lied:
Vormals lebt' ich junger Bursche selig,
Hatte ja ein Sümmchen noch.
Doch das Kapital verschwand allmählich,
Und so kam ich denn ins Loch.
Nur wurde bei uns das Wort »Kapital« – »Kopital« ausgesprochen, da man es von »kopitj« (sparen) ableitete. Man hörte auch traurige Lieder. Eines davon war ein echtes Arrestantenlied, das, wie ich glaube, ebenfalls bekannt ist:
Wenn sich färbt die Himmelsweite
Und die Trommel wirbelt grell,
Sperrt die Tür auf der Gefreite,
Ruft der Schreiber zum Appell.
Freilich, man erblickt uns nimmer
Hinter Mauern starr und breit.
Aber Gott, der Herr der Himmel,
Sorgt auch hier für uns allzeit!
Ein anderes Lied war noch trauriger, hatte übrigens eine sehr schöne Melodie und war wohl von irgendeinem Verschickten verfaßt worden; der Text war süßlich und stümperhaft gemacht. Mir sind davon einige Verse in Erinnerung geblieben:
Nie schaut mein Blick die Heimat mehr,
Nie komm ich mehr dahin;
Da ich zu Leiden lang und schwer
Schuldlos verurteilt bin.
Es krächzt das Käuzchen auf dem Dach,
Den Urwald weckt sein Schrei'n,
Das Herz wird weh, das Herz wird schwach,
Nie werd' ich dorten sein.
Dieses Lied wurde bei uns oft gesungen, aber nicht im Chor, sondern als Solonummer. Manchmal trat jemand in der arbeitsfreien Zeit aus der Kaserne, setzte sich auf die Stufen, wurde nachdenklich, stützte das Kinn in die Hand und stimmte mit hoher Fistelstimme dieses Lied an. Wenn man es hörte, tat einem das Herz weh. Wir hatten übrigens einige anständige Stimmen.
Indessen senkte sich die Abenddämmerung. Trauer, Gram und Katzenjammer lugten schwermütig aus Trunkenheit und Ausgelassenheit hervor. Einer, der vor einer Stunde gelacht hatte, weinte irgendwo, maßlos betrunken. Andere waren sich schon mehrere Male in die Haare geraten. Andere wieder trieben sich, blaß und sich kaum auf den Beinen haltend, in den Kasernen herum und fingen Händel an. Diejenigen aber, die im Rausche friedlich blieben, suchten vergebens nach Freunden, um ihnen ihr Herz auszuschütten und ihr trunkenes Weh auszuweinen. Dieses ganze arme Volk wollte sich vergnügen und das hohe Fest lustig zubringen, aber, mein Gott, wie traurig und schwer war dieser Tag fast für jeden! Ein jeder fühlte sich so, als hatte ihn eine Hoffnung betrogen. Petrow kam noch ein paar Mal zu mir gelaufen. Er hatte während des ganzen Tages nur sehr wenig getrunken und war fast ganz nüchtern. Aber er erwartete bis zur allerletzten Stunde etwas, was unbedingt eintreffen müßte, etwas Ungewöhnliches, Festliches, unendlich Lustiges. Er sprach es zwar nicht aus, aber man konnte es in seinen Augen lesen. Er schlenderte unermüdlich durch alle Kasernen. Es geschah aber nichts, und er stieß überall nur auf Betrunkene, welche trunken schimpften und heiser schrien. Auch Ssirotkin ging in einem neuen roten Hemde durch alle Kasernen, hübsch, gewaschen, und schien ebenfalls still und naiv auf etwas zu warten. Allmählich wurde es in den Kasernen unerträglich und widerlich. Es gab natürlich auch viel Komisches dabei, aber ich fühlte eine Trauer und Mitleid mit ihnen allen, es war mir so schwer und schwül in dieser Umgebung. Da streiten sich zwei Arrestanten herum, wer den andern traktieren müsse. Man sieht, daß sie schon lange so streiten und auch schon vorher verzankt waren. Der eine hat schon seit langem einen Zorn auf den andern. Er beklagt sich, mühselig die Zunge bewegend, und bemüht sich zu beweisen, daß der andere ihn ungerecht behandelt habe: es handelt sich um den Verkauf irgendeines Pelzrockes und um die Unterschlagung von irgendwelchem Geld in der Butterwoche des vorigen Jahres. Er erhob auch noch andere Anklagen... Der Ankläger, ein großgewachsener muskulöser Bursche, ist sonst friedlich und gar nicht dumm; wenn er aber betrunken ist, hat er das Bedürfnis, sich mit jedermann anzufreunden und sein Herz auszuschütten. Er schimpft und erhebt seine Anklagen eigentlich auch nur mit dem Wunsche, sich mit seinem Gegner nachher recht ordentlich zu versöhnen. Der andere ist ein stämmiger, kräftiger, kleiner Mann mit rundem Gesicht, listig und verschlagen. Er hat vielleicht sogar mehr als sein Freund getrunken, ist aber nur leicht angeheitert. Er hat einen starken Charakter und gilt als reich, es ist ihm aber aus irgendeinem Grunde vorteilhaft, seinen temperamentvollen Freund jetzt nicht zu reizen, und er führt ihn zum Branntweinverkaufer; der Freund behauptet, er sei verpflichtet, ihn zu traktieren, »wenn du überhaupt ein anständiger Mensch bist«.
Der Branntweinverkäufer schenkt eine Tasse Branntwein ein mit dem Ausdrucke einer gewissen Hochachtung gegen den Besteller und einer leisen Geringschätzung gegen dessen temperamentvollen Freund, weil dieser nicht für sein eigenes Geld trinkt, sondern sich traktieren laßt.
»Nein, Stjopka, das mußt du wohl,« sagt der temperamentvolle Freund, als er sieht, daß er seinen Willen durchgesetzt hat, »denn es ist deine Pflicht«.
»Ich werde doch mit dir nicht viel herumreden!« antwortet Stjopka.
»Nein, Stjopka, du lügst,« dringt der erste in ihn ein, indem er aus den Händen des Branntweinverkäufers die Tasse nimmt: »Denn du schuldest mir Geld, du hast kein Gewissen im Leibe, selbst deine Augen gehören nicht dir, sondern du hast sie geliehen! Ein Schuft bist du, Stjopka, daß du es weißt! Mit einem Worte ein Schuft!«
»Na, was jammerst du da, hast ja den Branntwein verschüttet! Wenn man dir schon die Ehre erweist, so trink doch!« schreit der Branntweinverkäufer dem temperamentvollen Freund an. »Ich werde doch nicht bis morgen hier mit dir stehen!«
»Ich werde ja trinken, was schreist du! Ein frohes Fest wünsche ich, Stepan Dorofejitsch!« wendet er sich höflich, mit einer leichten Verbeugung an Stjopka, den er vor einer halben Minute einen Schuft genannt hatte. »Hundert Jahre sollst du leben und gesund sein, und was du schon gelebt hast, wird nicht mitgezählt!« Er trank aus, räusperte sich und wischte sich den Mund. »Früher habe ich viel Branntwein vertragen können, Brüder,« bemerkte er ernst und wichtig, sich an alle und an keinen insbesondere wendend, »aber jetzt werde ich wohl alt. Ich danke schön, Stepan Dorofejitsch.«
»Keine Ursache.«
»Ich werde dir aber immer dasselbe sagen, Stjopka, und ganz abgesehen davon, daß du vor mir als ein großer Schuft dastehst, will ich dir sagen, daß...«
»Ich werde dir aber folgendes sagen, du betrunkene Fratze,« unterbricht ihn Stjopka, dem die Geduld reißt. »Hör zu und merke dir jedes meiner Worte: wollen wir die Welt teilen, du kriegst die eine Hälfte, und ich kriege die andere. Geh und komm mir nicht wieder vor die Augen. Ich hab dich satt!«
»Du wirst mir also das Geld nicht zurückgeben?«
»Was für ein Geld, du besoffener Kerl?«
»Ach, wenn du in jener Welt zu mir kommst und es mir zurückgeben willst, werde ich es nicht annehmen. Ich habe mein Geld mit Mühe und Schweiß und Schwielen verdient. Du wirst an meinen fünf Kopeken in jener Welt schwer zu tragen haben.«
»Geh doch zum Teufel.«
»Was treibst du mich an: du hast mich doch nicht angespannt!«
»Geh, geh!«
»Schuft!«
»Zuchthäusler!«
Und es beginnt ein Schimpfen noch ärger als vor dem Traktieren.
Da sitzen auf der Pritsche zwei Freunde beieinander; der eine ist ein großer, feister, fleischiger Kerl mit rotem Gesicht, ein richtiger Metzger. Er weint beinahe, denn er ist tief gerührt. Der andere ist schmächtig, dünn und mager und hat eine lange Nase, aus der etwas zu tropfen scheint, und kleine Schweinsaugen, die er gesenkt hält. Dieser ist ein solider und gebildeter Mensch, ist einmal Schreiber gewesen und traktiert seinen Freund etwas von oben herab, worüber sich dieser heimlich ärgert. Sie haben den ganzen Tag zusammen getrunken.
»Er hat sich gegen mich erfrecht!« schreit der fleischige Freund, indem er den Kopf des Schreibers mit der linken Hand packt und kräftig schüttelt. (»Er hat sich erfrecht,« heißt: er hat mich geschlagen.) Der fleischige Freund, ein ehemaliger Unteroffizier, beneidet insgeheim seinen schwächlichen Freund, und darum renommieren sie voreinander mit ihrem gewählten Stil.
»Ich sage dir aber, daß auch du unrecht hast...« fängt der Schreiber dogmatisch an, hartnäckig und wichtig zu Boden blickend.
»Er hat sich gegen mich erfrecht, hörst du?!« unterbricht ihn der Freund, wobei er den Freund noch kräftiger schüttelt. »Jetzt habe ich nur dich allein auf der ganzen Welt, hörst du es? Darum sage ich es dir allein: Er hat sich gegen mich erfrecht!...«
»Ich will dir aber folgendes sagen: eine so versauerte Rechtfertigung bedeckt dein Haupt mit Schande, lieber Freund!« erwidert der Schreiber höflich mit seiner dünnen Stimme. »Gib doch lieber zu, Freund, daß diese ganze Sauferei von deiner eigenen Unbeständigkeit herrührt.«
Der fleischige Freund wankt etwas zurück, blickt stumpf mit seinen trunkenen Augen den selbstgefälligen Schreiber an und schlägt ihn plötzlich, völlig unerwartet, aus aller Kraft mit seiner großen Faust auf sein kleines Gesicht. Damit endet die Freundschaft für den ganzen Tag. Der liebe Freund fliegt bewußtlos unter die Pritsche...
Da tritt in unsere Kaserne einer meiner Bekannten aus der Besonderen Abteilung, ein grenzenlos gutmütiger und lustiger Bursche, recht gescheit, harmlos spöttisch und ungewöhnlich einfältig von Aussehen. Es ist derselbe, der am ersten Tage meines Zuchthauslebens, während des Mittagessens in der Küche gesucht hatte, wo der reiche Bauer wohne, versichert hatte, daß er sein Ehrgefühl habe, und mit mir Tee getrunken hatte. Er ist an die vierzig Jahre alt, hat eine ungewöhnlich dicke Unterlippe und eine große, fleischige, mit Finnen besäte Nase. Er hält in der Hand eine Balalaika, auf deren Saiten er nachlässig klimpert. Ihm folgt wie ein Adjutant ein außergewöhnlich kleiner Arrestant mit großem Kopf, den ich bisher wenig gekannt habe. Ihm hat übrigens auch niemand anders irgendwelche Beachtung geschenkt. Er war ein merkwürdiger, mißtrauischer, ewig schweigsamer und ernster Mensch; er arbeitete in der Nähstube und gab sich offenbar Mühe, für sich allein zu leben und mit niemand zu verkehren. Jetzt hatte er sich aber in seiner Betrunkenheit wie ein Schatten an Warlamow geheftet. Er folgte ihm in schrecklicher Aufregung, fuchtelte mit den Armen, schlug mit der Faust gegen die Wand und die Pritschen und weinte beinahe. Warlamow schien ihn überhaupt nicht zu beachten, als hätte er ihn gar nicht in seiner Nähe. Es ist merkwürdig, daß diese beiden Menschen vorher fast nie einander nahegekommen sind; weder in den Beschäftigungen noch im Charakter haben sie etwas Gemeinsames. Sie gehören in verschiedene Abteilungen und wohnen in verschiedenen Kasernen. Der kleine Arrestant heißt Bulkin.
Als Warlamow mich erblickte, grinste er. Ich saß auf meinem Platz auf der Pritsche am Ofen. Er stellte sich in einiger Entfernung vor mir hin, überlegte etwas, schwankte, ging mit unsicheren Schritten auf mich zu, beugte den ganzen Körper mit Grazie vor, berührte leicht die Saiten und rezitierte, indem er den Takt leise mit dem Stiefel klopfte:
Weiß und rund, mit Feuerblicken
Ist mein Liebchen zum Entzücken,
Und wie schön sie singt!
Ist im Kleid aus weißer Seide
Eine wahre Augenweide,
Wenn sie freundlich winkt...
Dieses Lied schien Bulkin ganz aus der Fassung zu bringen; er schwang die Arme und schrie, sich an alle wendend:
»Es ist alles gelogen, Brüder, alles gelogen! Er spricht kein wahres Wort, er lügt immer!«
»Dem alten Alexander Petrowitsch!« sagte Warlamow, indem er mit schelmischem Lächeln mir in die Augen sah und beinahe Anstalten machte, mich zu küssen. Er war vollkommen betrunken. Der Ausdruck: »Dem alten so und so...« d. h. »bringe ich meine Hochachtung dar,« wird von den einfachen Leuten in ganz Sibirien gebraucht, selbst in bezug auf einen Zwölfjährigen. Das Wort »alter« bedeutet einen gewissen Respekt und hat sogar etwas Schmeichelhaftes.
»Na, wie geht's, Warlamow?«
»Man lebt halt von einem Tag zum andern. Wer sich aber über das Fest freut, der ist vom frühen Morgen an betrunken; Sie verzeihen schon!« Warlamow sprach in einem etwas singenden Tone.
»Er lügt immer, er lügt wieder!« schrie Bulkin, in einem Anfalle von Verzweiflung mit der Hand auf die Pritsche schlagend. Jener schenkte ihm aber nicht die geringste Beachtung, und das war außerordentlich komisch, weil Bulkin sich an Warlamow ohne jeden Grund schon vom frühen Morgen an geheftet hatte und ihm ständig vorwarf, daß er »immer lüge«, was er sich aus irgendeinem Grunde einbildete. Er folgte ihm wie ein Schatten, widersprach jedem seiner Worte, schlug sich die Hände an den Wänden und Pritschen fast blutig und litt sichtlich unter der Überzeugung, daß Warlamow »immer lüge!« Hätte er Haare auf dem Kopfe, so würde er sie sich vor Kummer wohl ausgerissen haben. Es war, als hätte er es sich zur Pflicht gemacht, alle Handlungen Warlamows zu verantworten, und als lasteten auf seinem Gewissen alle Mängel desselben. Das Komische aber war, daß Warlamow ihn nicht einmal ansah.
»Er lügt, er lügt, er lügt immer! Kein Wort von ihm ist wahr!« schrie Bulkin.
»Was geht es aber dich an?« fragten die Arrestanten lachend.
»Ich muß Ihnen folgendes sagen, Alexander Petrowitsch: ich bin ein hübscher Mann gewesen, und die Mädels haben mich sehr geliebt...« begann Warlamow ganz unvermittelt.
»Er lügt! Er lügt schon wieder!« unterbricht ihn Bulkin winselnd. Die Arrestanten lachen.
»Ich aber mache mir aus ihnen nicht viel! Ein rotes Hemd habe ich an und eine Plüschhose; ich liege da wie irgendein Graf Butylkin, d. h. ich bin besoffen wie ein Schwede, mit einem Wort, was will man noch mehr!«
»Er lügt!« erklärt Bulkin entschieden.
»Um jene Zeit hatte ich ein zweistöckiges steinernes Haus von meinem Vater geerbt. Nun hatte ich in zwei Jahren die zwei Stockwerke durchgebracht, und es blieb mir nur das Tor ohne die Pfosten. Nun, Geld ist halt wie eine Taube: es kommt geflogen und fliegt wieder fort!«
»Er lügt!« erklärt Bulkin noch entschiedener.
»So schickte ich neulich von hier einen Bittbrief an meine Eltern: vielleicht schicken sie mir etwas Geld. Die Leute sagten, ich hätte mich an meinen Eltern vergangen. Ich hätte sie nicht genug geachtet! Es sind schon sieben Jahre her, daß ich den Brief abgeschickt habe.«
»Und es ist noch immer keine Antwort da?« fragte ich lachend.
»Nein, noch immer keine,« antwortete er, indem er plötzlich selbst auflachte und seine Nase meinem Gesicht näherte. »Ich habe aber hier eine Geliebte, Alexander Petrowitsch...«
»Sie? Eine Geliebte?«
»Da sagte Onufrijew neulich: ›Wenn die meine auch pockennarbig und unschön ist, so hat sie dafür viele Kleider; die deinige aber ist zwar hübsch, aber arm und geht betteln.‹ «
»Ist es denn wahr?«
»Sie ist in der Tat eine Bettlerin!« antwortete er und brach in ein kaum hörbares Lachen aus; auch die andern Leute in der Kaserne lachten. Es war allen wirklich bekannt, daß er sich mit einer Bettlerin eingelassen und ihr im Laufe des halben Jahres bloß zehn Kopeken geschenkt hatte.
»Also was ist damit?« fragte ich, da ich ihn schon loswerden wollte.
Er schwieg, sah mich gerührt an und sagte zärtlich:
»Wollen Sie mir nicht aus diesem Grunde etwas für ein Fläschchen Branntwein spendieren? Ich habe ja heute nur Tee getrunken, Alexander Petrowitsch,« fügte er gerührt hinzu, das Geld einsteckend, »und habe mich mit diesem Tee so besoffen, daß ich Atemnot leide und er mir im Magen wie in einer Flasche hin und her schwankt.«
Während er das Geld in Empfang nahm, erreichte die moralische Entrüstung Bulkins anscheinend den höchsten Grad. Er gestikulierte wie verzweifelt und weinte beinahe.
»Ihr Menschen Gottes!« schrie er, sich wie rasend an die ganze Kaserne wendend. »Schaut ihn doch an! Er lügt immer! Was er auch sagt, alles ist gelogen!«
»Was geht es aber dich an?« schrien die Arrestanten, sich über seine Wut wundernd. »Bist ja ein ganz unsinniger Mensch!«
»Ich dulde es nicht, daß er lügt!« schrie Bulkin, mit den Augen funkelnd und aus aller Kraft mit der Faust gegen die Pritsche schlagend. »Ich will nicht, daß er lügt!«
Alle lachen. Warlamow nimmt das Geld, verabschiedet sich von mir und eilt aus der Kaserne, natürlich zum Branntweinverkäufer. Jetzt erst scheint er Bulkin zu bemerken.
»Na, gehen wir!« sagt er ihm, auf der Schwelle stehenbleibend, als brauchte er ihn wirklich. »Du Stockknopf!« fügt er hinzu, indem er Bulkin voller Verachtung den Vortritt läßt und wieder auf seiner Balalaika zu klimpern beginnt.
Aber was soll ich diese trunkene Atmosphäre beschreiben! Endlich nimmt dieser schwüle Tag ein Ende. Die Arrestanten versinken auf ihren Pritschen in einen schweren Schlaf. Im Schlafe sprechen und phantasieren sie noch mehr als in den anderen Nächten. Hier und da sitzen noch Leute bei den Maidans. Das längst erwartete Fest ist zu Ende. Morgen ist wieder ein Wochentag, morgen beginnt wieder die Arbeit.
Am dritten Feiertag abends fand die erste Vorstellung in unserem Theater statt. Es gab wohl vorher sehr viel Arbeit, aber die Schauspieler hatten alles auf sich genommen, so daß wir übrigen vom Stande der Sache gar nichts wußten. Wir wußten nicht, was vor sich ging, und nicht einmal, was aufgeführt werden sollte. Die Schauspieler hatten sich an allen diesen drei Tagen, wenn sie zur Arbeit gingen, bemüht, möglichst viele Kostüme aufzutreiben. Wenn Bakluschin mir begegnete, schnippte er vor Vergnügen nur mit den Fingern. Auch der Platzmajor schien ordentlich in Stimmung geraten zu sein. Uns war es übrigens gänzlich unbekannt, ob er vom Theater etwas wußte. Und wenn er etwas wußte, ob er es in aller Form gestattete oder sich nur entschlossen hatte zu schweigen, sich um das Vorhaben der Arrestanten nicht zu kümmern und ihnen natürlich nur einzuschärfen, daß alles ja in Ordnung verlaufe? Ich glaube, er wußte wohl vom Theater; es wäre kaum möglich, daß er es nicht wüßte; aber er wollte sich wohl nicht einmischen, da er einsah, daß es vielleicht schlimmer wäre, wenn er die Aufführung untersagte; dann würden die Sträflinge dumme Streiche machen und zu trinken anfangen, so daß es viel besser war, wenn sie eine Beschäftigung hatten. Übrigens setzte ich diese Erwägung beim Platzmajor nur deshalb voraus, weil sie die natürlichste, richtigste und gesündeste ist. Man kann sogar so sagen: wenn die Sträflinge in den Feiertagen das Theater oder eine andere Beschäftigung dieser Art nicht hätten, so müßte die Obrigkeit selbst eine erfinden. Da aber unser Platzmajor sich durch eine Denkweise auszeichnete, die der der übrigen Menschheit direkt entgegengesetzt war, so ist es sehr wohl möglich, daß ich schwer gegen die Wahrscheinlichkeit sündige, wenn ich annehme, daß er vom Theater etwas wußte und es erlaubte. So ein Mensch wie unser Platzmajor mußte immer jemand bedrücken, etwas versagen, jemand entrechten, mit einem Wort, überall Ordnung schaffen. In dieser Beziehung war er in der ganzen Stadt bekannt. Was kümmerte es ihn, daß diese Bedrückung die Sträflinge zu dummen Streichen verleiten könnte? Gegen dumme Streiche gibt es ja Strafen (urteilen solche Menschen wie unser Platzmajor), im Umgange mit diesen schuftigen Sträflingen ist aber nur die größte Strenge am Platze und eine ununterbrochene und buchstäbliche Befolgung der Gesetze: das ist alles, was verlangt wird! Diese talentlosen Vollstrecker des Gesetzes begreifen nicht und sind auch nicht imstande, zu begreifen, daß seine bloße buchstäbliche Erfüllung, ohne Sinn und ohne Verständnis für seinen Geist, direkt zu Unordnungen führen muß und zu etwas anderem niemals geführt hat. »So steht es im Gesetz, was will man noch mehr?« sagen sie und wundern sich aufrichtig, wenn man von ihnen zu den Gesetzen auch noch gesunden Menschenverstand und einen klaren Kopf verlangt. Besonders das letztere erscheint vielen von ihnen als ein überflüssiger und empörender Luxus, als Zwang und Intoleranz.
Wie dem auch sei, der älteste Unteroffizier widersprach den Sträflingen nicht, und das war alles, was sie wollten. Ich behaupte positiv, daß die Theateraufführung und die Dankbarkeit dafür, daß man sie erlaubte, den Grund dafür bildeten, daß es in den Feiertagen keine einzige nennenswerte Unordnung im Zuchthause gab; es gab keinen einzigen bösartigen Streit, keinen einzigen Diebstahl. Ich war Zeuge, wie die Sträflinge selbst ihre gar zu übermütig gewordenen oder in Streit geratenen Kameraden zur Vernunft brachten, einzig mit der Begründung, daß sonst das Theater verboten werden würde. Der Unteroffizier ließ sich von den Sträflingen das Wort geben, daß alles ruhig verlaufen würde und alle sich gut aufführen wollten. Sie willigten mit Freuden ein und hielten ihr Versprechen heilig; es schmeichelte ihnen, daß man ihrem Wort glaubte. Es ist übrigens zu bemerken, daß die Genehmigung des Theaters der Obrigkeit gar keine Opfer gekostet hatte. Das Theater erforderte keinen besonderen Platz und wurde in einer Viertelstunde aufgebaut und wieder auseinandergenommen. Die Aufführung dauerte anderthalb Stunden, und wenn plötzlich der Befehl von oben käme, die Aufführung abzubrechen, so wäre dies in einem Augenblick geschehen. Die Kostüme lagen in den Koffern der Sträflinge versteckt. Aber bevor ich erzähle, wie das Theater eingerichtet war und was es für Kostüme gab, will ich über den Theaterzettel berichten, d. h. was gespielt werden sollte.
Einen geschriebenen Theaterzettel gab es eigentlich nicht. Bei der zweiten und dritten Vorstellung tauchte aber ein solcher auf: Bakluschin hatte ihn für die Herren Offiziere und sonstigen vornehmen Gäste, die unser Theater schon bei der ersten Aufführung mit ihrem Besuche beehrten, eigenhändig geschrieben. Es kam so: von den Herrschaften kam gewöhnlich der Wachoffizier und einmal sogar der diensthabende Offizier, der die Wachen unter sich hatte. Einmal kam auch der Ingenieuroffizier; für solche Besucher war eben der Theaterzettel entstanden. Man glaubte, daß der Ruhm des Zuchthaustheaters sich weit in der Festung und sogar in der Stadt verbreiten würde, um so mehr als es in der Stadt kein Theater gab. Man hatte nur einmal etwas von einer Liebhaberaufführung gehört. Die Sträflinge freuten sich wie die Kinder über den geringsten Erfolg und waren sogar stolz darauf. »Wer weiß,« dachten und sagten sie bei sich und untereinander, »vielleicht erfährt auch die höchste Behörde etwas davon; sie werden kommen und sehen, was die Sträflinge für Menschen sind. Es ist doch keine gewöhnliche Soldatenaufführung mit Tiermasken, schwimmenden Booten, herumspazierenden Bären und Ziegen. Hier sind Schauspieler, richtige Schauspieler, welche herrschaftliche Komödien spielen; ein solches Theater gibt es nicht einmal in der Stadt. Man sagt, daß beim General Abrossimow einmal eine Vorstellung stattgefunden hat und wieder einmal eine stattfinden wird; die werden höchstens bessere Kostüme haben, was aber die Gespräche betrifft, so weiß man nicht, ob sie uns darin übertreffen werden! Auch der Gouverneur wird es erfahren, vielleicht wird er selbst den Wunsch haben, sich die Sache, anzusehen; es ist ja alles möglich! In der Stadt gibt es doch kein Theater...« Kurz gesagt, die Phantasie der Sträflinge erreichte, besonders nach dem ersten Erfolg, während der Feiertage den höchsten Grad: sie malten sich beinahe Belohnungen und Herabsetzung ihrer Strafzeit aus, obwohl sie zugleich über sich selbst recht gutmütig spotteten. Mit einem Worte, sie waren Kinder, durchaus Kinder, obwohl einige von diesen Kindern schon vierzig Jahre alt waren.
Obwohl es also keinen Theaterzettel gab, kannte ich schon in den Hauptzügen das Programm der geplanten Aufführung. Das erste Stück hieß: »Filatka und Miroschka als Nebenbuhler.« Bakluschin hatte mir schon eine Woche vor der Vorstellung vorgeprahlt, daß die Rolle Filatkas, die er selbst übernommen hatte, so gespielt werden würde, wie man sie selbst im Sankt-Petersburger Theater noch nie gesehen hätte. Er ging in den Kasernen umher, renommierte skrupel- und schamlos, zugleich aber ebenso harmlos; zuweilen gab er auch etwas auf »Theaterart«, d. h. aus seiner Rolle zum besten, und alle lachten, ganz gleich, ob es wirklich komisch war oder nicht. Es ist übrigens zu bemerken, daß die Arrestanten auch darin ihre Würde zu wahren wußten: über die Auftritte Bakluschins und seine Erzählungen von der bevorstehenden Aufführung entzückten sich nur die allerjüngsten Grünschnäbel, Leute ohne jede Haltung, sowie nur die Angesehensten unter ihnen, deren Autorität so unerschütterlich feststand, daß sie sich nicht zu schämen brauchten, ihre Empfindungen zu äußern, selbst wenn diese von der naivsten (d. h. nach den Zuchthausbegriffen unziemlichsten) Art waren. Die übrigen aber hörten dem Gerede schweigend zu; sie verurteilten es zwar nicht und widersprachen ihm nicht, gaben sich aber doch die größte Mühe, den Theatergerüchten gegenüber Gleichgültigkeit und sogar Hochmut zur Schau zu tragen. Nur im allerletzten Moment, fast am Tage der Vorstellung selbst, fingen alle sich zu interessieren an: Was wird es geben? Wie werden sich die Unsrigen bewähren? Was wird der Platzmajor dazu sagen? Wird es ebensogut gelingen wie im letzten Jahre? usw. Bakluschin versicherte mich, daß alle Schauspieler vortrefflich ausgewählt seien und »ein jeder auf seinem Platze stehe«. Daß man selbst einen Vorhang habe und daß Ssirotkin Filatkas Braut spielen werde. »Sie werden ja selbst sehen, wie er sich in Frauenkleidern macht!« sagte er, indem er mit den Augen zwinkerte und mit der Zunge schnalzte. »Die wohltätige Gutsbesitzerin wird ein Kleid mit Falbeln, eine Pelerine und einen Sonnenschirm in der Hand haben, der wohltätige Gutsbesitzer aber wird in einem Offiziersrock mit Fangschnüren und einem Rohrstöckchen auftreten.«
Darauf sollte ein zweites Stück folgen: »Der Vielfraß Kedrill«. Dieser Titel interessierte mich sehr, aber soviel ich auch nach dem Inhalt fragte, konnte ich doch nichts vorher erfahren. Ich wurde nur inne, daß es nicht aus einem Buch, sondern aus einer »Handschrift« stammte; daß man das Stück von einem alten Unteroffizier aus der Vorstadt bekommen habe, der wahrscheinlich einmal selbst bei der Aufführung auf einer Soldatenbühne mitgewirkt hatte. Es gibt bei uns in den entlegenen Städten und Gouvernements tatsächlich solche Theaterstücke, die niemand kennt und die wohl auch nirgends veröffentlicht sind, die aber von selbst irgendwoher entstanden sind und zum eisernen Bestand eines jeden »Volkstheaters« gehören. Es wäre gut, wenn sich jemand unter unsern Gelehrten neuen und sorgfältigeren Forschungen über unser Volkstheater widmen wollte, welches existiert und vielleicht durchaus nicht ganz unbedeutend ist. Ich kann nicht glauben, daß alles, was ich in unserem Zuchthaustheater zu sehen bekam, von den Sträflingen selbst erfunden worden sei. Es ist hier sicher eine Überlieferung anzunehmen, es sind feststehende Kunstgriffe und Anschauungen dabei, die von Geschlecht zu Geschlecht aus dem Gedächtnis weitergegeben werden. Man muß dies alles bei den Soldaten, den Fabrikarbeitern, in den Fabrikstädten und sogar in manchen unbekannten armen Städtchen bei den Kleinbürgern suchen. Die Überlieferung hat sich auch auf dem Lande und in den Gouvernementsstädten unter den Leibeigenen der Gutsbesitzer erhalten. Ich glaube sogar, daß viele alte Stücke ihre handschriftliche Verbreitung in Rußland nur durch das leibeigene Hausgesinde der Gutsbesitzer gefunden haben. Die Gutsbesitzer und Moskauer Magnaten der alten Zeit hielten sich Theatertruppen aus leibeigenen Schauspielern. Aus diesen Bühnen ist wohl auch unsere volkstümliche Theaterkunst entstanden, deren Eigentümlichkeiten unverkennbar sind. Was aber das Stück »Der Vielfraß Kedrill« betrifft, so konnte ich trotz meiner Bemühungen, vorher nicht mehr darüber erfahren, als daß darin böse Geister auftreten und den Kedrill in die Hölle schleppen. Aber was bedeutet der Name »Kedrill«, und weshalb Kedrill und nicht Kyrill? Ob sein Ursprung russisch oder ausländisch ist, konnte ich nicht feststellen.
Zum Schluß sollte eine »Pantomime mit Musik« kommen. Dies alles war natürlich sehr interessant. Schauspieler waren an die fünfzehn Mann, lauter gewandte und tapfere Jungen. Sie waren sehr geschäftig, hielten ihre Proben, manchmal hinter der Kaserne, versteckten sich und taten heimlich. Mit einem Worte, sie wollten uns alle durch etwas Ungewöhnliches und Unerwartetes verblüffen.
An Wochentagen wurde das Zuchthaus früh, gleich nach Anbruch der Dunkelheit geschlossen. Aber am Weihnachtstage machte man eine Ausnahme: es blieb bis zum Zapfenstreich offen. Diese Vergünstigung galt eigentlich nur dem Theater. Wahrend der Feiertage schickte man gewöhnlich jeden Abend zum Wachoffizier mit der ergebensten Bitte, »das Theater zu erlauben und das Zuchthaus möglichst lange offen zu lassen,« und dem Bemerken, daß auch am vorhergegangenen Tage eine Aufführung gewesen und das Zuchthaus erst spät geschlossen worden sei, ohne daß Unordnungen vorgekommen wären. Der Wachoffizier sagte sich: »Gestern ist wirklich keinerlei Unordnung vorgekommen; da sie aber selbst versprechen, daß es auch heute keine geben wird, so werden sie selbst auf sich aufpassen, und das ist das Sicherste. Außerdem: wenn ich die Aufführung nicht erlaube, so werden sie vielleicht aus Ärger absichtlich etwas anstellen (sie sind doch nur Zuchthäusler!), damit die Wache eine Rüge bekommt.« Schließlich kam noch die Erwägung hinzu: der Wachdienst ist langweilig, hier ist aber ein Theater, und zwar kein gewöhnliches Soldatentheater, sondern ein Zuchthaustheater; die Sträflinge sind interessante Menschen, und es kann lustig sein, ihnen zuzuschauen. Zuschauen darf aber ein Wachoffizier zu jeder Zeit.
Wenn der Diensthabende kommt und fragt: »Wo ist der Wachoffizier?«, so ist die Antwort: »Er ist ins Zuchthaus gegangen, um die Sträflinge nachzuzählen und die Kasernen zu schließen«, eine bündige Rechtfertigung. Darum erlaubten die Wachoffiziere jeden Abend während der Feiertage die Aufführung und schlossen die Kasernen nicht vor dem Zapfenstreich. Die Sträflinge wußten schon im voraus, daß die Wache keine Hindernisse in den Weg legen werde, und waren unbesorgt.
Gegen sieben Uhr kam Petrow mich abzuholen, und wir gingen gemeinsam zur Vorstellung. Aus unserer Kaserne gingen fast alle hin, mit Ausnahme des Altgläubigen aus Tschernigow und der Polen. Die Polen ließen sich erst bei der letzten Vorstellung, am 4. Januar, herab, das Theater zu besuchen, und das auch nur nach vielen Versicherungen, daß es dort nett, lustig und ungefährlich sei. Die Zuchthäusler waren durch diese Zurückhaltung in keiner Weise gekränkt, und die Polen wurden am 4. Januar mit aller Höflichkeit empfangen. Man gab ihnen sogar die besten Plätze. Was aber die Tscherkessen und besonders Issai Fomitsch betrifft, so war für sie unser Theater ein wahrer Hochgenuß. Issai Fomitsch gab jedesmal drei Kopeken, am letzten Abend legte er aber zehn Kopeken auf den Teller, wobei sein Gesicht höchste Seligkeit ausdrückte. Die Schauspieler hatten beschlossen, von den Besuchern Eintrittsgeld zu erheben, soviel jeder geben wollte, um damit die Auslagen für die Aufführung und für ihre eigene »Stärkung« zu bestreiten. Petrow versicherte, daß man mich auf einen der ersten Plätze lassen würde, so überfüllt das Theater auch wäre, weil ich reicher als die andern sei und mehr geben würde; auch weil ich mehr als alle von der Sache verstünde. So kam es auch. Aber ich will erst den Saal und die Einrichtung des Theaters beschreiben.
Unser Kasernenraum, in dem die Aufführung stattfand, war an die fünfzehn Schritt lang. Vom Hofe kam man auf die Treppe, von der Treppe in den Flur und aus dem Flur in die Kaserne. Diese lange Kaserne hatte, wie ich schon sagte, eine eigene Einrichtung: die Pritschen waren längs der Wände angeordnet, so daß die Mitte des Zimmers frei blieb. Die der Eingangstür zunächst liegende Hälfte des Zimmers war für die Zuschauer, die andere Hälfte, die mit einer anderen Kaserne in Verbindung stand, für die Bühne selbst bestimmt. Vor allem setzte mich der Vorhang in Erstaunen. Er zog sich an die zehn Schritt quer durch den ganzen Raum. Er bedeutete einen Luxus, über den man sich wirklich wundern konnte. Außerdem war er mit Ölfarbe bemalt; dargestellt waren auf ihm Bäume, Lauben, Teiche und Sterne. Er bestand aus alten und neuen Leinwandstücken, die ein jeder beigesteuert hatte, aus alten Fußlappen und Hemden, die zu einem großen Stück zusammengenäht waren; soweit die Leinwand nicht gereicht hatte, war einfach Papier verwendet worden, das man sich gleichfalls bogenweise in den verschiedenen Kanzleien und Amtsstuben zusammengebettelt hatte. Unsere Maler, unter ihnen unser »Brjullow«, A–ow, hatten es übernommen, den Vorhang anzustreichen und zu bemalen. Der Effekt war erstaunlich. Eine solche Pracht gereichte sogar den Düstersten und den Verwöhntesten unter den Arrestanten zur Freude, und sie erwiesen sich denn auch, sobald die Vorstellung begann, alle ohne Ausnahme als die gleichen Kinder, wie die Hitzigsten und Ungeduldigsten. Alle waren sehr zufrieden, sogar bis zur Prahlerei. Die Beleuchtung bestand aus einigen in Stücke geschnittenen Talglichtern. Vor dem Vorhang standen zwei Küchenbänke und vor den Bänken drei oder vier Stühle, die sich im Unteroffizierzimmer gefunden hatten. Die Stühle waren für den Fall bestimmt, daß höhere Offiziere kommen sollten; die Bänke aber standen für die Unteroffiziere, Ingenieurschreiber, Zugführer und ähnliche Personen bereit, die zwar zu den Vorgesetzten gehörten, aber keinen Offiziersrang hatten, für den Fall, daß sie ins Zuchthaus hineinschauten.
So kam es auch: zufällige Besucher fanden sich an jedem Abend ein, an einem Abend mehr, am andern weniger; aber bei der letzten Vorstellung blieb kein Platz auf den Bänken unbesetzt. Zuletzt, hinter den Bänken, standen die Arrestanten, aus Achtung vor den Gästen barhäuptig, in Joppen und Halbpelzen, trotz der schwülen Luft im Zimmer. Natürlich war der Platz für die Arrestanten viel zu klein. Aber abgesehen davon, daß der eine buchstäblich auf dem andern saß, zumal in den hinteren Reihen, waren auch alle Pritschen und Kulissen besetzt; schließlich fanden sich auch Liebhaber, die das Theater jeden Abend besuchten und der Aufführung aus der anderen Kaserne, hinter der rückwärtigen Kulisse, zuschauten. Die Enge in der vordern Hälfte der Kaserne war ganz unnatürlich und vielleicht der Enge und dem Gedränge zu vergleichen, die ich neulich im Dampfbade gesehen hatte. Die Türe in den Flur stand offen; auch im Flur, in dem ein Frost von etwa zwanzig Grad herrschte, drängten sich die Leute. Man ließ uns, mich und Petrow, sogleich nach vorn durch, fast bis zu den Bänken, von wo man alles viel besser sehen konnte als von den hinteren Reihen. Man sah in mir zum Teil einen Kenner, der schon ganz andere Theateraufführungen erlebt hatte; man hatte bemerkt, daß Bakluschin sich die ganze Zeit mit mir beraten hatte und mich mit Respekt behandelte; also gebührte mir Ehre und ein guter Platz. Die Arrestanten waren zwar ehrgeizige und im höchsten Maße leichtsinnige Menschen, aber das war nur geheuchelt. Die Arrestanten konnten über mich lachen, als sie sahen, daß ich ihnen bei der Arbeit ein schlechter Helfer war. Almasow durfte uns Adelige mit Verachtung ansehen und sich vor uns mit seinem Können, Alabaster zu brennen, brüsten. Aber in ihren Verfolgungen und Spöttereien über uns steckte auch etwas anderes: wir waren ja früher einmal Adelige gewesen; wir gehörten dem gleichen Stande an wie ihre einstigen Herren, die sie unmöglich in gutem Andenken haben konnten. Aber jetzt, im Theater, machten sie mir Platz. Sie anerkannten, daß ich darin ein besseres Urteil und mehr gesehen hätte und wisse als sie. Die mir am wenigsten Wohlgesinnten wünschten (ich weiß es) mein Lob über ihr Theater zu hören, und ließen mich ohne jede Selbsterniedrigung auf den ersten Platz. Ich sage es jetzt, da ich mich meines damaligen Eindrucks erinnere. Damals hatte ich auch den Eindruck – ich erinnere mich dessen –, daß in ihrer gerechten Selbsteinschätzung durchaus keine Selbsterniedrigung, sondern ein Gefühl für die eigene Würde lag. Der höchste und auffallendste Charakterzug unseres Volkes ist das Gefühl für Gerechtigkeit und der Drang nach ihr. Das freche Bestreben, sich immer und überall, koste es, was es wolle, auf den ersten Platz zu drängen, ganz gleich, ob der Mensch es verdient oder nicht, ist diesem Volke fremd. Man braucht nur die äußere Schale zu entfernen und den inneren Kern aus nächster Nähe recht aufmerksam und vorurteilslos anzuschauen, um in unserem Volke solche Dinge zu erkennen, die man gar nicht geahnt hat. Unsere Weisen können unser Volk nicht viel lehren. Ich will sogar positiv behaupten: sie müssen selbst von ihm lernen.
Petrow sagte mir naiv, als wir uns aufmachten, um ins Theater zu gehen, daß man mich auch deshalb auf den ersten Platz lassen würde, weil man von mir mehr Geld erwartete. Einen bestimmten Preis gab es nicht: ein jeder gab soviel er konnte oder wollte. Als man mit dem Teller sammeln ging, gab fast jeder etwas, wenigstens eine halbe Kopeke. Wenn man mir aber den ersten Platz zum Teil auch des Geldes wegen einräumte, in der Annahme, daß ich mehr als die andern geben würde, so lag ja darin wiederum sehr viel Gefühl für eigene Würde! »Du bist reicher als ich, geh darum nach vorn; wir sind hier zwar alle gleich, aber du wirst mehr als die anderen auf den Teller legen: ein solcher Besucher wie du, ist also den Schauspielern angenehmer, – dir gebührt der erste Platz, denn wir alle sind hier nicht für Geld, sondern aus Achtung, – folglich müssen wir uns selbst sortieren.« Wieviel echter Stolz liegt doch darin! Es ist keine Achtung vor dem Geld, sondern die Achtung vor sich selbst. Im Zuchthause genossen Geld und Reichtum überhaupt sehr wenig Ansehen, besonders wenn man die Arrestanten als eine Masse und Gemeinschaft betrachtete. Ich kann mich auf keinen einzigen besinnen, der sich des Geldes wegen ernsthaft erniedrigt hätte, selbst wenn ich jeden einzelnen durchnehme. Es gab wohl Bettler, die auch mich anschnorrten. Aber sie bettelten mehr aus Mutwillen und Schelmerei als aus geldgieriger wirklicher Absicht; es lag darin mehr Humor und Naivität. Ich weiß nicht, ob ich mich verständlich genug ausdrücke. Aber ich habe das Theater inzwischen ganz vergessen. Zur Sache. Bis zum Aufgehen des Vorhanges bot das ganze Zimmer ein seltsam belebtes Bild. Vor allem fiel die Menge der Zuschauer auf, die von allen Seiten gepreßt und zusammengedrückt war und mit Ungeduld und Seligkeit in den Mienen auf den Anfang der Vorstellung wartete. In den hinteren Reihen hockten die Menschen aufeinander. Viele von ihnen hatten aus der Küche Holzscheite mitgebracht: man stellte so ein dickes Scheit an die Wand, stieg mit beiden Füßen hinauf, stützte sich mit beiden Händen auf die Schultern des Vordermannes und blieb so, ohne seine Stellung zu ändern, zwei Stunden lang stehen, mit sich und seinem Platze vollkommen zufrieden. Andere stellten sich auf den unteren Vorsprung des Ofens und standen ebenfalls die ganze Zeit, mit den Händen auf die Vordermänner gestützt. So war es in den hintersten Reihen an der Wand. Seitwärts über den Musikanten stand gleichfalls eine kompakte Masse auf den Pritschen. Hier waren gute Plätze. An die fünf Mann waren auf den Ofen selbst geklettert und sahen liegend hinunter. Diese genossen die höchste Seligkeit. Auf den Fensterbänken und längs der anderen Wand drängte sich eine ganze Menge Verspäteter und solcher, die keinen guten Platz gefunden hatten. Alle verhielten sich ruhig und anständig. Ein jeder wollte sich vor den Ehrengästen und den anderen Besuchern im besten Lichte zeigen. Auf allen Gesichtern stand die naivste Erwartung. Alle Gesichter waren rot und von der Hitze und Schwüle schweißbedeckt. Welch ein seltsamer Widerschein kindlicher Freude, eines herzlichen, reinen Genusses leuchtete auf diesen von vielen Runzeln durchfurchten, gebrandmarkten Stirnen und Wangen, in diesen Blicken der bisher düsteren und finsteren Menschen, in diesen Augen, die sonst oft in schrecklichem Feuer glühten! Alle waren barhaupt, und alle Köpfe zeigten sich mir von rechts rasiert. Da machte sich aber auf der Bühne eine Bewegung bemerkbar. Gleich wird der Vorhang aufgehen. Das Orchester beginnt zu spielen... Dieses Orchester ist der Erwähnung wert. Seitwärts auf den Pritschen saßen an die acht Musikanten: zwei Geigen (die eine war im Zuchthause vorhanden, die andere hatte man sich irgendwo in der Festung geliehen, der Künstler dazu fand sich im Zuchthause), drei Balalaikas, lauter selbstgemachte Instrumente, zwei Gitarren und ein Tamburin, das eine Baßgeige vertrat. Die Geigen quietschten und winselten nur, die Gitarren waren schlecht, die Balalaikas aber ganz außergewöhnlich gut. Die Gewandtheit, mit der die Musiker die Saiten bearbeiteten, erinnerte an ein geschicktes Kunststück. Man spielte lauter Tanzweisen. An den lebhaftesten Stellen schlugen die Balalaikaspieler mit den Knöcheln auf die Resonanzdecken der Instrumente; der ganze Ton und Geschmack, die Ausführung, die Behandlung der Instrumente und der Charakter der Wiedergabe der Melodie waren durchaus originell und verrieten einen eigentümlichen Arrestantenstil. Auch der eine Gitarrespieler beherrschte sein Instrument vorzüglich. Es war der Adelige, der seinen Vater ermordet hatte. Was aber den Tamburinspieler betrifft, so vollbrachte er wahre Wunder: bald drehte er das Instrument auf einem Finger im Kreise, bald fuhr er mit dem Daumen über das Fell; bald hörte man schnelle, helle, eintönige Schläge, bald löste sich dieses deutlich akzentuierte Tönen in einer Menge kleiner, zitternder und raschelnder Laute auf, als schütte man Erbsen aus. Schließlich tauchten auch zwei Ziehharmonikas auf. Mein Ehrenwort, ich hatte bis dahin keine Ahnung davon gehabt, was sich aus den einfachsten Volksinstrumenten machen läßt: die Harmonie der Töne, der Rhythmus, vor allem aber der Geist, der Charakter der Auffassung und die Wiedergabe des Wesens der Melodie waren einfach erstaunlich. Ich begriff damals zum ersten Male vollkommen, worin die unendliche Ausgelassenheit und Unbändigkeit der kühnen russischen Tanzlieder liegt.
Endlich ging der Vorhang auf. Alle gerieten in Bewegung, ein jeder trat von dem einen Fuß auf den andern, die Hintersten stellten sich auf die Fußspitzen, einer fiel von seinem Holzscheit herunter, alle rissen Mund und Augen auf, und eine vollständige Ruhe trat ein. Die Vorstellung begann.
Neben mir stand Alej in einer Gruppe mit seinen Brüdern und den übrigen Tscherkessen. Sie alle hatten am Theater leidenschaftlichen Geschmack gefunden und besuchten es jeden Abend. Alle Muselmänner, Tataren usw. sind leidenschaftliche Liebhaber von Schauspielen jeder Art. Neben ihnen fand auch Issai Fomitsch Platz, der nun ganz Ohr und Auge und die naivste, gierige Erwartung von Wundern und Genüssen geworden zu sein schien. Es wäre mir wirklich leid, wenn er in seinen Erwartungen getäuscht worden wäre. Das liebe Gesicht Alejs strahlte in einer solchen kindlichen, schönen Freude, daß es mir, ich gestehe es, ein wahres Vergnügen war, ihn anzusehen, und ich erinnere mich noch, wie ich, sooft bei irgendeinem drolligen und geschickten Spaß eines Schauspielers ein allgemeines Gelächter ertönte, mich sofort zu Alej umwandte und ihm ins Gesicht blickte. Er sah mich nicht, seine Aufmerksamkeit war von anderen Dingen gefesselt! Gar nicht weit von mir stand links ein älterer, immer mürrischer, unzufriedener und brummiger Arrestant. Auch er war auf Alej aufmerksam geworden, und ich sah, wie er sich einige Male halb lächelnd nach ihm umwandte, um ihn anzublicken: so nett war der Tscherkesse! Jemand nannte ihn, ich weiß nicht warum, mit dem russischen Vatersnamen »Alej Ssemjonowitsch«. Man fing mit »Filatka und Miroschka« an. Filatka (Bakluschin) war wirklich großartig. Er spielte seine Rolle mit wunderbarem Takt. Man sah, daß er sich jeden Satz, jede seiner Bewegungen überlegt hatte. Jedem noch so unbedeutendem Wort, jeder Geste verstand er einen Sinn und eine Bedeutung zu verleihen, die dem Charakter der Rolle vollkommen entsprachen. Wenn man sich zu diesen Bemühungen, zu diesem sorgfältigen Studium der Rolle seine wunderbare, ungekünstelte Heiterkeit, Natürlichkeit und Echtheit hinzudenkt, wird man beim Anblick Bakluschins unbedingt zugeben müssen, daß er ein echter, geborener Schauspieler mit großem Talente war. Den »Filatka« habe ich mehrmals auf den Moskauer und Petersburger Bühnen gesehen, und ich behaupte entschieden, daß die großstädtischen Schauspieler, die den »Filatka« darstellten, durchaus schlechter waren als Bakluschin. Im Vergleiche mit ihm waren sie »Paysans« und keine echten Bauern. Sie wollten zu sehr den Bauern spielen. Bakluschin wurde außerdem durch die Konkurrenz angeregt: es war allen bekannt, daß im zweiten Stück die Rolle des Kedrill dem Arrestanten Pozejkin zugeteilt war, einem Schauspieler, den alle aus irgendeinem Grunde für begabter und besser als Bakluschin hielten, und Bakluschin litt darunter wie ein Kind. In den letzten Tagen war er gar oft zu mir gekommen und hatte bei mir sein Herz erleichtert. Zwei Stunden vor der Vorstellung schüttelte ihn Fieberfrost. Als die Menge lachte und ihm zurief: »Bravo, Bakluschin! Gut, Bakluschin!«, strahlte sein Gesicht vor Glück, und in seinen Augen leuchtete echte Begeisterung. Die Kußszene mit Miroschka, wo ihm Filatka zuruft: »Wisch dir erst den Mund ab!« und sich auch selbst den Mund abwischt, geriet ungemein komisch. Alle wälzten sich vor Lachen. Am meisten interessierten mich aber die Zuschauer: alle Herzen standen offen. Alle gaben sich ungehemmt dem Genusse hin. Beifallsrufe wurden immer häufiger. Da stößt einer seinen Nachbarn in die Seite und teilt ihm in aller Eile seine Eindrücke mit, ohne sich darum zu kümmern und selbst ohne zu sehen, wer dieser Nachbar ist; ein anderer wendet sich bei einer besonders lustigen Szene plötzlich entzückt zu der Menge um, läßt seinen Blick schnell über alle Gesichter gleiten, als wolle er alle zum Lachen auffordern, winkt mit der Hand und dreht sich gleich wieder zur Bühne um. Ein dritter schnalzt einfach mit der Zunge und den Fingern und kann nicht ruhig auf seinem Platze stehen; da er aber keinen Schritt zu machen vermag, so tritt er von einem Fuß auf den andern.
Gegen den Schluß des Stückes erreichte die allgemeine heitere Stimmung ihren Höhepunkt. Ich übertreibe es nicht. Man stelle sich das Zuchthaus vor, die Ketten, die Unfreiheit, die vielen traurigen Jahre in der Zukunft, das Leben, so eintönig wie ein trüber herbstlicher Regentag, – und plötzlich wurde allen dieser bedrückten, gefangenen Menschen gestattet, sich eine Stunde lang gehen zu lassen, sich zu vergnügen, den schweren Traum zu vergessen, eine richtige Theatervorstellung zu veranstalten, und zwar eine, die der ganzen Stadt zu Stolz und Bewunderung gereicht: – ja, so sind unsere Arrestanten! Alles erregte natürlich ihr Interesse, z. B. auch die Kostüme. Es war ihnen außerordentlich interessant, irgendeinen Wanjka Otpjetyi oder Nezwetajew oder Bakluschin in ganz anderer Kleidung zu sehen als der, in welcher man ihn schon seit so vielen Jahren täglich sah. »Er ist ja Arrestant, genau wie ich, man hört seine Ketten klirren, und da tritt er in einem Rock, runden Hut und Mantel auf, ganz wie ein Zivilist! Er hat sich einen Schnurrbart und Haar angeklebt. Jetzt zieht er ein rotes Tüchlein aus der Tasche, fächelt damit, er stellt einen vornehmen Herrn dar und ist wirklich ganz wie ein vornehmer Herr!« Und alle sind begeistert.
Der »wohltätige Gutsbesitzer« trat in einer, wenn auch sehr abgetragenen Adjutantenuniform auf, mit Epauletten, einer Mütze mit Kokarde und machte einen ungewöhnlichen Effekt. Für diese Rolle gab es zwei Bewerber, und – sollte man es glauben, – beide stritten sich wie kleine Kinder herum, wer sie spielen sollte, beide wollten sich gar zu gern in Offiziersuniform mit Fangschnüren zeigen! Die übrigen Schauspieler schlichteten den Streit und beschlossen mit Stimmenmehrheit, diese Rolle dem Nezwetajew zu geben, nicht etwa weil er hübscher und ansehnlicher als der andere wäre und daher eher einem wirklichen Herrn gliche, sondern weil Nezwetajew allen versichert hatte, daß er mit einem Rohrstöckchen auftreten und mit demselben wie ein echter Herr und Stutzer fuchteln und auf der Erde zeichnen würde, wie es Wanjka Otpjetyi niemals darstellen könne, weil er echte Herrschaften niemals gesehen habe. Und in der Tat: als Nezwetajew mit seiner Dame vor das Publikum trat, tat er nichts anderes, als mit seinem dünnen Rohrstöckchen, das er sich irgendwo verschafft hatte, mit großer Geschwindigkeit auf der Erde zu zeichnen, worin er wahrscheinlich die Merkmale höchster Vornehmheit und Eleganz erblickte. Wahrscheinlich hatte er einmal in seiner Kindheit als barfüßiger Bauernjunge einen schöngekleideten Herrn mit einem Rohrstöckchen gesehen und war von der Kunstfertigkeit, mit der jener das Stückchen drehte, dermaßen gefesselt worden, daß dieser Eindruck für alle Ewigkeit unauslöschlich in seiner Seele haften geblieben war; und nun gab er mit seinen dreißig Jahren zum Ergötzen des Zuchthauses alle so wieder, wie er es einst gesehen hatte. Nezwetajew war dermaßen in diese Betätigung vertieft, daß er auf nichts und niemand sah, selbst beim Sprechen nicht aufblickte und ununterbrochen die Spitze seines Rohrstöckchens im Auge behielt. Die »wohltätige Gutsbesitzerin« war in ihrer Art gleichfalls bemerkenswert: sie erschien in einem alten, abgetragenen Tüllkleide, das mehr wie ein Fetzen aussah, mit bloßen Armen und bloßem Hals, mit entsetzlich gepudertem und geschminktem Gesicht, mit einem am Kinn festgebundenen Nachthäubchen aus Kattun, mit einem Sonnenschirm in der einen Hand und einem Fächer aus bemaltem Papier in der andern, mit dem sie unaufhörlich fächelte. Eine Lachsalve begrüßte die Dame; auch die Dame selbst hielt es nicht aus und fing einige Male zu lachen an. Die Dame spielte der Arrestant Iwanow. Ssirotkin, als junges Mädchen verkleidet, war sehr nett. Die Kuplets gerieten gut. Mit einem Worte, das Stück endete zur größten allgemeinen Zufriedenheit. Eine Kritik gab es nicht und konnte es auch nicht geben.
Man spielte als Zwischenakt wieder ein bekanntes Volkslied, und der Vorhang ging von neuem auf. Jetzt kam der »Kedrill«. Der Kedrill ist etwas von der Art des Don Juan, jedenfalls werden der Herr und der Diener am Ende des Stückes von den Teufeln in die Hölle geschleppt. Man spielte einen ganzen Akt, aber offenbar war es nur ein Bruchstück; der Anfang und der Schluß schienen verloren zu sein. Von einem Sinn und Zusammenhang war nichts zuerkennen. Die Handlung spielt in Rußland, in einem Gasthofe. Der Gastwirt geleitet einen Herrn im Mantel und eingedrückten runden Hut ins Zimmer. Ihm folgt sein Diener Kedrill mit der Reisetasche und einem in blaues Papier eingewickelten Huhn. Kedrill trägt einen Halbpelz und eine Lakaienmütze. Er ist eben der Vielfraß. Diese Rolle spielt der Arrestant Pozejkin, der Rivale Bakluschins; den Herrn spielt der gleiche Iwanow, der im ersten Stück die wohltätige Gutsbesitzerin gespielt hat. Der Gastwirt, Nezwetajew, teilt dem Gast warnend mit, daß es im Zimmer Teufel gebe, und verschwindet. Der Herr murmelt düster und besorgt vor sich hin, daß er es schon längst gewußt habe, und befiehlt Kedrill, die Sachen auszupacken und das Abendessen herzurichten. Kedrill ist ein Feigling und ein Vielfraß. Als er von den Teufeln hört, wird er blaß und zittert wie ein Espenblatt. Er wäre gern davongelaufen, aber er fürchtet sich vor seinem Herrn. Außerdem hat er auch Hunger. Er ist naschhaft, dumm, feig und auf seine Weise schlau; er betrügt den Herrn auf Schritt und Tritt und hat zugleich Angst vor ihm. Es ist ein merkwürdiger Dienertypus, mit entfernten, dunklen Anklängen an den Leporello, und die Rolle wurde auch wunderbar gespielt. Pozejkin hatte entschieden Talent und war meiner Ansicht nach ein noch besserer Schauspieler als Bakluschin. Als ich ihn am nächsten Tage mit Bakluschin traf, sprach ich ihm diese Meinung nicht völlig aus, denn das würde den andern zu sehr gekränkt haben. Auch der Arrestant, der den Herrn spielte, war nicht schlecht. Er sprach entsetzlichen Unsinn, aber seine Diktion war richtig und gewandt, und auch die Gesten waren passend. Während nun Kedrill sich mit dem Gepäck zu schaffen macht, geht der Herr nachdenklich auf der Bühne auf und ab und erklärt laut, daß am heutigen Abend seine Fahrten ein Ende nehmen. Kedrill hört neugierig zu, schneidet Grimassen, spricht bei Seite und bringt mit jedem Wort die Zuschauer zum Lachen. Sein Herr tut ihm nicht leid; er hat aber von den Teufeln gehört und möchte wissen, was das ist; so beginnt er ein Gespräch und stellt allerlei Fragen. Der Herr erklärt ihm schließlich, daß er einmal in großer Not die Hilfe der Hölle angerufen habe und daß die Teufel ihm aus der Klemme geholfen hätten; heute sei aber die Zeit abgelaufen, und vielleicht würden sie kommen, um laut Abmachung seine Seele zu holen. Kedrill bekommt ordentlich Angst. Der Herr aber verliert seinen Mut nicht und befiehlt ihm, das Abendessen herzurichten. Als Kedrill vom Abendessen hört, wird er lebendig, packt das Huhn aus und holt Wein; dabei reißt er jeden Augenblick ein Stückchen vom Huhn ab und stopft es sich in den Mund. Das Publikum lacht. Da knarrt die Tür, der Wind poltert mit den Fensterläden; Kedrill zittert und steckt sich fast unbewußt ein riesengroßes Stück Huhn in den Mund, das er nicht hinunterschlucken kann. Alle lachen wieder. »Bist du fertig?« schreit der Herr, der im Zimmer auf und ab geht. – »Sofort, Herr... ich werde für Sie alles... herrichten,« sagt Kedrill, indem er sich selbst an den Tisch setzt und das Essen seines Herrn zu verzehren beginnt. Dem Publikum gefällt offenbar die Gewandtheit und die List des Dieners, auch daß der Herr betrogen wird. Ich muß sagen, daß Pozejkin den Beifall auch wirklich verdiente. Die Worte »Sofort, Herr, ich werde für Sie alles herrichten,« sprach er vorzüglich. Nachdem Kedrill sich an den Tisch gesetzt hat, beginnt er mit Gier zu essen und fährt bei jedem Schritt des Herrn zusammen, vor Angst, daß dieser seine Streiche bemerken werde; kaum macht der Herr eine Bewegung, so verkriecht er sich unter den Tisch und nimmt auch das Huhn mit. Endlich hat er seinen ersten Hunger gestillt, nun ist es Zeit, auch an den Herrn zu denken. – »Kedrill, wird es bald?« schreit der Herr. – »Fertig!« antwortet Kedrill schnell und merkt, daß für den Herrn fast nichts übrig geblieben ist. Auf dem Teller liegt tatsächlich nur noch ein Hühnerbein. Der Herr setzt sich düster und besorgt, ohne etwas zu merken, an den Tisch, und Kedrill stellt sich mit einer Serviette in der Hand hinter seinem Stuhle auf. Jedes Wort, jede Geste, jede Grimasse Kedrills, wenn er zum Publikum gewendet, auf seinen einfältigen Herrn weist, wird vom Publikum mit unbändigem Gelächter begleitet. Kaum beginnt aber der Herr zu essen, als schon die Teufel erscheinen. Das geschieht auf eine ganz unverständliche Weise, und die Teufel erscheinen gar nicht wie üblich: in einer Seitenkulisse geht eine Tür auf, und es kommt eine weiße Gestalt mit einer brennenden Laterne anstatt des Kopfes; ein zweites Phantom, gleichfalls mit einer Laterne auf dem Kopf, hält in den Händen eine Sense. Wozu die Laternen, wozu die Sense, warum sind die Teufel weiß gekleidet? Das kann niemand erklären. Übrigens macht sich auch niemand Gedanken darüber. Wahrscheinlich muß es so sein. Der Herr wendet sich ziemlich tapfer zu den Teufeln und ruft ihnen zu, daß er bereit sei und daß sie ihn holen möchten. Kedrill aber ist feig wie ein Hase; er verkriecht sich unter den Tisch, vergißt aber trotz seines Schreckens nicht, die Flasche vom Tisch mitzunehmen. Die Teufel verschwinden für einen Augenblick; Kedrill kommt wieder hervor; kaum macht sich aber der Herr wieder an das Huhn, als drei Teufel von neuem ins Zimmer stürzen, den Herrn von hinten packen und in die Hölle schleppen. »Kedrill! Rette mich!« schreit der Herr. Aber Kedrill denkt nicht daran. Diesmal hat er auch die Flasche, den Teller und sogar das Brot unter den Tisch mitgenommen. Nun ist er aber allein, die Teufel sind verschwunden, der Herr ebenfalls. Kedrill kommt zum Vorschein, sieht sich um, und ein Lächeln verklärt sein Gesicht. Er kneift schelmisch die Augen zusammen, setzt sich auf den Platz seines Herrn und sagt, dem Publikum zunickend, vor sich hin:
»Nun bin ich allein... ohne den Herrn!...«
Alle lachen darüber; da fügt er noch im Flüstertone hinzu, sich vertraulich an die Zuschauer wendend und ihnen immer lustiger zublinzelnd:
»Den Herrn haben die Teufel geholt!...«
Das Entzücken der Zuschauer ist grenzenlos. Das macht nicht allein die Mitteilung, daß den Herrn die Teufel geholt haben, es ist auch so schelmisch, mit einer solchen höhnisch triumphierenden Grimasse gesprochen, daß man wirklich applaudieren muß. Aber das Glück Kedrills währt nicht lange. Kaum hat er sich aus der Flasche ein Glas eingeschenkt und will trinken, als die Teufel wiederkommen, sich auf den Fußspitzen heranschleichen und ihn plötzlich an den Seiten packen. Kedrill schreit aus vollem Halse; vor Feigheit wagt er sich nicht umzuwenden. Er kann sich auch nicht wehren: er hat ja die Flasche und das Glas in den Händen, von denen er sich nicht trennen mag. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenem Munde sitzt er eine halbe Minute da und glotzt das Publikum an mit einem so komischen Ausdruck feiger Angst, daß man ihn buchstäblich malen könnte. Schließlich wird er weggeschleppt; er hat die Flasche bei sich, strampelt mit den Beinen und schreit. Man hört ihn auch noch hinter den Kulissen schreien. Aber der Vorhang fällt, und alle lachen, alle sind entzückt... Das Orchester stimmt die »Kamarinskaja« an.
Man spielt ganz leise, kaum hörbar, aber die Melodie wächst und wächst, das Tempo wird immer schneller, man hört ausgelassenes Klopfen auf die Resonanzböden der Balalaiken... Es ist die »Kamarinskaja« in ihrem vollen Schwunge, und es wäre wirklich gut, wenn Glinka sie wenigstens zufällig bei uns im Zuchthause gehört hätte. Es beginnt eine Pantomime mit Musik. Die »Kamarinskaja« verstummt während der ganzen Pantomime nicht. Die Bühne stellt eine Bauernstube dar. Auf der Bühne sind der Müller und seine Frau. Der Müller ist in einer Ecke mit dem Ausbessern von Pferdegeschirr beschäftigt, seine Frau spinnt in der anderen Ecke Flachs. Die Frau wird von Ssirotkin gespielt, der Müller von Nezwetajew.
Ich muß bemerken, daß unsere Dekorationen sehr armselig waren. In diesem wie auch im vorhergehenden Stück mußte man mehr mit seiner Phantasie ergänzen, als man mit Augen sah. Statt der hinteren Wand war eine Art Teppich oder Pferdedecke gespannt; seitwärts stand eine zerrissene spanische Wand. Die linke Seite der Bühne war unverdeckt, so daß man die Pritschen sah, aber die Zuschauer waren nicht anspruchsvoll und bereit, die Wirklichkeit durch die Phantasie zu ergänzen, um so mehr als die Arrestanten dessen sehr fähig sind: »Wenn man dir sagt, es sei ein Garten, so ist's ein Garten; wenn man dir sagt, es sei eine Stube, so ist's eine Stube, – es ist ja ganz gleich, und du darfst nicht zu viel verlangen.«
Ssirotkin ist in der Verkleidung einer jungen Bauernfrau sehr nett. Von den Zuschauern kommen einige leise Komplimente. Der Müller beendigt seine Arbeit, nimmt die Mütze, nimmt die Peitsche, geht auf seine Frau zu und erklärt ihr durch Mienenspiel, daß er weggehen müsse und daß, wenn sie in seiner Abwesenheit jemand empfangen würde, er sie .. und er zeigt ihr die Peitsche. Die Frau hört es und nickt. Diese Peitsche ist ihr wohlbekannt; die junge Frau ist dem Manne nicht allzu treu. Der Mann geht weg. Kaum ist er aus der Tür, so droht sie ihm mit der Faust nach. Es klopft; die Türe geht auf, und es erscheint der Nachbar, gleichfalls ein Müller, ein Kerl mit Kaftan und Bart. In der Hand hat er als Geschenk ein rotes Tuch. Die junge Frau lacht; kaum macht aber der Nachbar Anstalten, sie zu umarmen, als es schon wieder klopft. Was soll sie mit ihm anfangen? Sie schiebt ihn in aller Eile unter den Tisch und setzt sich wieder an den Spinnrocken. Nun kommt der zweite Verehrer: es ist der Schreiber in Militäruniform. Bisher wurde die Pantomime tadellos gespielt, die Gesten waren richtig und fehlerlos. Man konnte sich über diese improvisierten Schauspieler sogar wundern und sich denken: wie viel Kraft und Talent geht doch bei uns in Rußland zuweilen fast unnütz, in schwerer Not und Gefangenschaft zugrunde! Aber der Arrestant, der den Schreiber spielte, hatte wohl früher einmal auf einer Provinz- oder Hausbühne gespielt und bildete sich ein, daß alle unsere Schauspieler ohne Ausnahme ihre Sache nicht verstünden und sich nicht so bewegten, wie man sich auf der Bühne bewegen müßte. Und so bewegte er sich so, wie sich in alten Zeiten im Theater die klassischen Helden bewegt haben sollen: er macht einen langen Schritt, bleibt plötzlich, ohne noch den anderen Fuß nachgezogen zu haben, stehen, wirft den ganzen Rumpf und den Kopf zurück, sieht sich stolz um und macht den nächsten Schritt. Wenn diese Gehweise beim klassischen Helden lächerlich war, so war sie am Regimentsschreiber im komischen Stück noch viel lächerlicher. Aber unser Publikum glaubte, daß es wohl so sein müsse, und nahm die langen Schritte des baumlangen Schreibers als vollendete Tatsache ohne besondere Kritik hin. Kaum hat der Schreiber die Bühne betreten, als es wieder an die Türe pocht: die Hausfrau gerät in neue Unruhe. Wo soll sie den Schreiber hintun? In den Koffer, um so mehr als er offen steht. Der Schreiber kriecht hinein, und die Frau macht den Deckel zu. Diesmal erscheint ein eigentümlicher, gleichfalls verliebter Gast. Es ist ein Brahmine, sogar in Kostüm. Ein unbändiges Lachen ertönt im Publikum. Den Brahminen spielt der Arrestant Koschkin und zwar vorzüglich. Er hat eine echte Brahminenfigur. Er erklärt ihr mit Gesten seine ganze Liebe. Er hebt die Arme zum Himmel, drückt sie dann an die Brust, ans Herz; kaum ist er aber zärtlich geworden, als ein sehr lautes Klopfen an der Türe ertönt. Man hört, es ist der Herr des Hauses. Die Frau ist vor Schreck außer sich, der Brahmine rennt wie verrückt hin und her und fleht sie an, sie möge ihn verstecken. Sie schiebt ihn in aller Eile hinter den Schrank, vergißt die Tür zu öffnen, stürzt sich zu ihrem Spinnrocken und spinnt und spinnt, ohne das Klopfen ihres Mannes zu hören; sie drillt vor Entsetzen den Faden, den sie nicht in der Hand hat, und dreht die Spindel, die sie vom Boden aufzuheben vergaß. Ssirotkin spielt dieses Entsetzen vorzüglich. Der Müller schlägt aber die Türe mit dem Fuß ein und geht mit der Peitsche in der Hand auf seine Frau zu. Er hat alles gesehen und belauscht und bedeutet ihr gleich mit den Fingern, daß sie drei Männer bei sich verborgen habe. Dann sucht er die Versteckten. Zuerst findet er den Nachbarn und befördert ihn mit Püffen aus der Stube. Der erschrockene Schreiber will davonlaufen, hebt mit dem Kopf den Kofferdeckel und verrät sich auf diese Weise selbst. Der Müller treibt ihn mit der Peitsche an, und der verliebte Schreiber hüpft jetzt gänzlich unklassisch davon. Nun bleibt noch der Brahmine; der Müller sucht ihn lange, findet ihn schließlich in der Ecke hinter dem Schrank, verbeugt sich erst höflich vor ihm und zieht ihn dann am Barte auf die Mitte der Bühne heraus. Der Brahmine versucht sich zu wehren; er schreit »Verdammter, Verdammter!« (das sind die einzigen Worte, die in der Pantomime gesprochen werden) aber der Mann hört nicht auf ihn und rechnet mit ihm ordentlich ab. Als die Frau sieht, daß die Reihe an sie kommt, wirft sie den Spinnrocken weg und rennt aus dem Zimmer; die Spinnbank fällt um, die Arrestanten lachen. Alej zupft mich, ohne mich anzublicken, am Ärmel und ruft mir zu: »Schau an! Ein Brahmine, ein Brahmine!« Dabei kann er vor Lachen kaum stehen. Der Vorhang fällt. Eine neue Szene beginnt.
Ich will aber alle Szenen gar nicht beschreiben. Es gab ihrer noch zwei oder drei. Alle waren lustig und ungekünstelt komisch. Wenn die Arrestanten sie auch nicht selbst verfaßt hatten, so hatten sie doch in jedes Stück viel Eigenes hineingelegt. Fast jeder Schauspieler improvisierte und spielte die gleiche Rolle an den folgenden Abenden stets etwas anders. Die letzte Pantomime in phantastischer Art endete mit einem Ballett. Ein Toter wird beerdigt. Der Brahmine macht mit seinem zahlreichen Gefolge verschiedene Beschwörungen über dem Sarge, aber nichts will helfen. Schließlich ertönt das Lied »Die Sonne geht unter«, der Tote wird lebendig, und alle fangen vor Freude zu tanzen an. Der Brahmine tanzt mit dem Toten, und zwar auf eine eigene Brahminenart. Damit endet das Theater bis zum nächsten Abend.
Alle Arrestanten gehen lustig und zufrieden auseinander, loben die Schauspieler und bedanken sich beim Unteroffizier. Man hört keinen einzigen Streit. Alle sind irgendwie ungewohnt zufrieden, sogar fast glücklich und schlafen nicht wie jeden Abend, sondern ruhigen Mutes ein; was mag wohl der Grund sein? Und doch ist es nicht nur meine Einbildung. Es ist wirklich, wirklich so. Man hat diesen armen Menschen nur ein wenig erlaubt, sich auf eigene Art auszuleben, sich wie andere Menschen zu vergnügen, wenigstens eine Stunde nicht wie Zuchthäusler zu verbringen, und die Menschen sind schon moralisch verändert, und wenn auch nur für einige Minuten... Aber es ist schon tiefe Nacht geworden. Ich fahre zusammen und erwache zufällig: der Alte betet noch immer auf dem Ofen und wird bis zum Sonnenaufgang beten; Alej schläft still neben mir. Ich erinnere mich, daß er vor dem Einschlafen mit seinen Brüdern vom Theater gesprochen und gelacht hat, und ich betrachte unwillkürlich sein ruhiges Kindergesicht. Allmählich erinnere ich mich an alles: an den letzten Tag, an das Fest, an diesen ganzen Monat... ich hebe erschrocken den Kopf und mustere im zitternden, trüben Scheine der Zuchthauskerze alle meine schlafenden Genossen. Ich sehe ihre unglücklichen Gesichter, ihre armseligen Lager, diese ganze äußerste Armut und Blöße, – ich sehe aufmerksam hin, und ich will mich gleichsam überzeugen, daß dies alles nicht die Fortsetzung eines häßlichen Traumes, sondern die wirkliche Wahrheit ist. Und es ist Wahrheit: da höre ich jemand stöhnen; jemand wirft schwer seinen Arm zurück und läßt die Kette klirren. Ein anderer fährt im Schlafe auf und beginnt zu sprechen, und der Großvater auf dem Ofen betet für alle »rechtgläubigen Christen«, und ich höre sein langsames, stilles, gedehntes »Herr Jesus Christ, erbarme dich unser!...«
»Ich bin aber doch nicht für immer hier, sondern nur für einige Jahre!« denke ich mir und lasse den Kopf wieder auf das Kissen sinken.