Bald nach den Feiertagen erkrankte ich und kam ins Militärspital. Es stand abseits, eine halbe Werst von der Festung entfernt. Es war ein langgestrecktes, gelbgestrichenes Gebäude. Im Sommer, wenn alle Baulichkeiten renoviert wurden, verwendete man darauf eine außerordentliche Menge Ocker. Auf dem riesengroßen Hofe befanden sich die Wirtschaftsgebäude, Häuser für das ärztliche Personal und sonstige notwendige Baulichkeiten. Im Hauptbau lagen ausschließlich die Krankensäle. Es gab ihrer viele, aber nur zwei von ihnen waren für die Sträflinge bestimmt. Sie waren immer außerordentlich überfüllt, besonders aber im Sommer, so daß man oft die Betten Zusammenrücken mußte. Unsere Krankensäle waren von »Unglücklichen« aller Art angefüllt. Es waren Leute aus unserem Zuchthause dabei, auch solche, die als Angeklagte vor dem Kriegsgericht standen und in verschiedenen Arrestlokalen saßen, Verurteilte und auch Nichtverurteilte; es gab auch welche aus der Korrektionskompagnie, einer seltsamen Einrichtung, in welche Soldaten, die sich etwas zuschulden kommen ließen, und auch solche, auf die kein besonderer Verlaß war, zwecks Besserung ihrer Aufführung gesteckt wurden und die sie gewöhnlich nach zwei oder mehr Jahren als solche Schurken verließen, wie man sie selten findet. Wenn ein Arrestant bei uns erkrankte, so meldete er es gewöhnlich am Morgen dem Unteroffizier. Der Kranke wurde dann sofort in ein Buch eingetragen und mit diesem Buch in Begleitung eines Wachsoldaten ins Bataillonslazarett geschickt. Der dortige Arzt untersuchte zunächst alle Kranken aus sämtlichen in der Festung untergebrachten Militärkommandos und schickte diejenigen, die er für wirklich krank hielt, ins Hospital. So wurde auch ich ins Buch eingetragen und begab mich gegen zwei Uhr, als alle Unsrigen aus dem Zuchthause zur Nachmittagsarbeit gegangen waren, ins Hospital. Ein kranker Arrestant pflegte möglichst viel Geld und Brot mitzunehmen, da er am ersten Tage im Hospital noch keine Ration zu erwarten hatte; ferner ein winziges Pfeifchen, einen Tabaksbeutel und einen Feuerstein nebst Stahl. Die letztgenannten Gegenstände pflegte man sorgfältig in den Stiefeln zu verstecken. Ich betrat das Hospital nicht ohne eine gewisse Neugier auf diese neue, mir noch unbekannte Variation unseres Arrestantendaseins.
Der Tag war warm, trüb und traurig, – einer jener Tage, an denen solche Anstalten wie ein Hospital ein besonders nüchternes, unfreundliches und griesgrämiges Aussehen haben. Ich betrat mit dem Wachsoldaten das Aufnahmezimmer, wo zwei kupferne Wannen standen und schon zwei kranke Angeklagte mit ihren Wachsoldaten warteten. Der Feldscher kam, musterte uns mit einem faulen und hochmütigen Ausdruck und begab sich noch fauler zum diensthabenden Arzt mit der Meldung. Dieser kam bald, untersuchte uns, behandelte uns sehr freundlich und gab einem jeden von uns einen »Krankenbogen«, auf dem der Name des Betreffenden verzeichnet war. Die fernere Beschreibung der Krankheit, die Verordnung der Arzneien und Beköstigung oblag aber einem der Assistenzärzte, die die Arrestantensäle unter sich hatten. Ich hatte auch schon früher gehört, daß die Arrestanten diese Ärzte gar nicht genug loben konnten. »Sie sind besser als leibliche Väter!« antworteten sie mir auf meine Fragen, bevor ich mich ins Spital begab. Indessen hatten wir uns umgekleidet. Die Kleider und die Wäschestücke, in denen wir gekommen waren, wurden uns abgenommen, und man bekleidete uns mit der Hospitalwäsche und gab uns außerdem lange Strümpfe, Pantoffeln, Nachtmützen und dicke tuchene Schlafröcke von brauner Farbe, die mit einem Zeug, das halb an Leinwand und halb an ein Pflaster erinnerte, gefüttert waren. Kurz, mein Schlafrock war außergewöhnlich schmutzig, aber ich lernte ihn erst an Ort und Stelle richtig schätzen. Dann führte man uns in die Arrestantensäle, die am Ende eines außerordentlich langen, hohen und sauberen Korridors lagen. Die äußere Reinlichkeit war überall sehr befriedigend; alles, was einem zuerst ins Auge fiel, glänzte förmlich. Es ist übrigens möglich, daß es mir nur nach dem Aufenthalte in unserem Zuchthaus so vorkam. Die beiden Angeklagten kamen in den Saal links und ich in den Saal rechts. Vor der mit einer eisernen Querstange verschlossenen Türe stand ein Wachtposten mit einem Gewehr und neben ihm ein Mann zur Ablösung. Der zweite Unteroffizier (von der Hospitalwache) befahl ihm, mich einzulassen, und ich kam in einen langen, schmalen Raum, an dessen beiden Längswänden etwa zweiundzwanzig Betten standen, von denen drei oder vier noch unbesetzt waren. Die Betten waren aus Holz und grün gestrichen, – solche Betten sind bei uns in Rußland jedermann bekannt und können infolge einer geheimnisvollen Schicksalsfügung unmöglich wanzenfrei sein. Ich bekam das Bett in der Ecke an der Fensterseite.
Wie ich schon sagte, befanden sich hier auch Arrestanten aus unserem Zuchthause. Einige von ihnen kannten mich schon oder hatten mich wenigstens früher gesehen. Weit mehr gab es hier Leute im Anklagezustande und aus der Korrektionskompagnie. Schwerkranke, d. h. solche, die das Bett nicht verlassen konnten, gab es nicht viel. Die übrigen, die leicht Kranken und die Genesenden, saßen auf den Betten oder gingen im Zimmer auf und ab, wo es zwischen den beiden Bettreihen einen zu solchen Spaziergängen völlig ausreichenden freien Raum gab. Im Saale herrschte ein erstickender Hospitalgeruch. Die Luft war von verschiedenen unangenehmen Ausdünstungen und vom Geruch der Arzneien geschwängert, obwohl in der Ecke fast den ganzen Tag ein Ofen brannte. Mein Bett war mit einem gestreiften Überzug bedeckt. Ich nahm ihn ab. Unter dem Überzug fand ich eine mit Leinwand gefütterte tuchene Bettdecke und dicke Wäsche von zweifelhafter Sauberkeit. Neben dem Bette stand ein Tischchen mit einem Krug und einer Zinntasse. Diese Gegenstände wurden des Anstandes halber mit dem kleinen Handtuch, das ich bekam, zugedeckt. Unten im Tischchen befand sich noch ein Fach; darin hielten diejenigen, die Tee zu trinken pflegten, ihre Teekannen; hier standen auch Gefäße mit Kwas und ähnliche Dinge; Teetrinker gab es aber unter den Kranken nicht viel. Die Pfeifen und die Tabaksbeutel, die fast alle, die Schwindsüchtigen nicht ausgeschlossen, besaßen, wurden aber unter den Betten verwahrt. Der Arzt und die anderen Vorgesetzten untersuchten die Betten fast nie, und wenn sie jemand mit einer Pfeife antrafen, so taten sie so, als sähen sie sie nicht, übrigens waren auch die Kranken fast immer vorsichtig und rauchten ihre Pfeifen am Ofen. Nur in der Nacht rauchte man einfach auf dem Bette liegend; aber in der Nacht kam niemand in die Krankensäle, höchstens zuweilen der die Hospitalwache befehligende Offizier.
Bisher hatte ich noch in keinem Krankenhause gelegen; darum war die ganze Umgebung für mich außerordentlich neu. Ich merkte, daß ich eine gewisse Neugier erweckte; man hatte von mir schon gehört und musterte mich höchst ungeniert, sogar mit dem Ausdruck einer gewissen Überlegenheit, mit dem man in einer Schule einen Neueingetretenen oder in einem Amtslokal einen Bittsteller anzusehen pflegt. Rechts neben mir lag ein im Anklagezustand befindlicher Schreiber, der uneheliche Sohn eines Hauptmannes a. D. Er stand wegen Falschmünzerei vor Gericht und lag schon fast ein Jahr da, obwohl er anscheinend gar nicht krank war; aber er versicherte die Ärzte, daß er das Aneurysma habe. Er hatte damit sein Ziel erreicht: er entging dem Zuchthause und der Körperstrafe und wurde nach einem Jahr nach T–k geschickt, um dort in einem Krankenhause untergebracht zu werden. Er war ein kräftiger, stämmiger Bursche von etwa achtundzwanzig Jahren, ein großer Schwindler und Kenner der gesetzlichen Vorschriften, gar nicht dumm, außerordentlich ungeniert, seiner selbst sicher und von einem krankhaften Ehrgeiz; er hatte sich selbst ernsthaft eingeredet, daß er der ehrlichste und rechtschaffenste Mensch in der Welt und dabei völlig unschuldig sei, und behielt diese Überzeugung für immer. Er sprach mich als erster an, fragte mich neugierig aus und erzählte mir recht ausführlich von den äußeren Einrichtungen des Hospitals. Vor allen Dingen erklärte er mir natürlich, daß er ein Hauptmannssohn sei. Er wollte furchtbar gern als ein Edelmann oder wenigstens als ein Mensch adliger Abstammung erscheinen. Gleich nach ihm ging auf mich ein Kranker aus der Korrektionskompagnie zu und begann, mir zu versichern, daß er viele von den früher verbannten Adligen gekannt habe, die er mit Vor- und Vatersnamen nannte. Er war ein schon ergrauter Soldat; in seinem Gesicht stand geschrieben, daß er log. Er hieß Tschekunow. Er machte mir offenbar deshalb den Hof, weil er mich im Besitze von Geld vermutete. Als er bei mir ein Paket mit Tee und Zucker bemerkte, bot er mir gleich seine Dienste an: er wollte mir eine Teekanne holen und den Tee aufbrühen. Eine Teekanne hatte mir aber schon M–cki aus dem Zuchthause durch einen der Arrestanten, die im Hospital zu arbeiten hatten, zu schicken versprochen. Aber Tschekunow besorgte mir die ganze Sache. Er verschaffte irgendeinen kleinen Kessel und sogar eine Tasse, kochte Wasser und brühte den Tee auf, diente mir mit einem Worte mit ungewöhnlichem Eifer, womit er einen der Kranken zu einigen giftigen Bemerkungen über mich verleitete. Dieser Kranke, ein Schwindsüchtiger namens Ustjanzew, lag mir gegenüber; er gehörte zu den im Anklagezustande befindlichen Soldaten und war derselbe, der aus Angst vor der Strafe eine Schale mit Branntwein, den er stark mit Tabak angesetzt, ausgetrunken und sich dadurch die Schwindsucht zugezogen hatte; ihn habe ich schon früher einmal erwähnt. Bisher hatte er schweigend und schwer atmend dagelegen, mich mit ernster Miene gemustert und das Benehmen Tschekunows mit Entrüstung verfolgt. Ein ungewöhnlich ernster, galliger Ausdruck verlieh seiner Entrüstung etwas Komisches. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
»Dieser Knecht! Da hat er einen vornehmen Herrn gefunden!« versetzte er mit einigen Unterbrechungen, vor Erregung atemlos. Er hatte nur noch wenige Tage zu leben.
Tschekunow wandte sich empört zu ihm um.
»Wer ist hier ein Knecht?« sprach er mit einem verächtlichen Blick auf Ustjanzew.
»Du bist der Knecht!« antwortete jener mit solcher Sicherheit, als hätte er volles Recht, Tschekunow Rügen zu erteilen und wäre sogar zu diesem Zweck angestellt.
»Ich bin ein Knecht?«
»Ja, du. Hört ihr es, Leute, er glaubt es nicht! Er wundert sich noch!«
»Was geht es dich an! Du siehst doch, der Herr kann sich allein nicht behelfen, wie wenn er keine Hände hätte. Er ist natürlich nicht gewohnt, ohne einen Diener zu sein! Warum soll ich ihm nicht den Dienst erweisen, du borstschnauziger Hanswurst!«
»Wer ist borstschnauzig?«
»Du.«
»Ich bin borstschnauzig?«
»Ja, du!«
»Und du bist wohl hübsch? Hast selbst ein Gesicht wie ein Krähenei, wenn ich borstschnauzig bin.«
»Gewiß bist du borstschnauzig! Wenn dich Gott einmal geschlagen hat, so liege ruhig da und stirb! Aber er muß sich auch einmischen! Was mischt du dich ein?«
»Was ich mich einmische? Ich werde mich lieber vor einem Stiefel als vor einem Bastschuh verbeugen. Mein Vater hat sich vor keinem Bastschuh verbeugt und hat es auch mir verboten. Ich... ich...«
Er wollte noch fortfahren, bekam aber einen schrecklichen Hustenanfall, der einige Minuten dauerte und bei dem er Blut spuckte. Bald trat ihm kalter Schweiß der Erschöpfung auf die schmale Stirn. Der Hustenanfall hinderte ihn, sonst hätte er noch lange gesprochen; man sah es seinen Augen an, wie gern er noch schimpfen wollte; in seiner Ohnmacht winkte er aber nur mit der Hand... So achtete Tschekunow auf ihn bald nicht mehr.
Ich fühlte, daß die Bosheit des Schwindsüchtigen mehr gegen mich als gegen Tschekunow gerichtet war. Der Wunsch Tschekunows, mir nützlich zu sein und damit eine Kopeke zu verdienen, hätte wohl in niemand einen Zorn oder Verachtung gegen ihn geweckt. Ein jeder wußte, daß er es einfach des Geldes wegen tat. In dieser Beziehung ist das einfache Volk nicht so heikel und versteht seine Unterschiede zu machen. Den Unwillen Ustjanzews hatte eigentlich meine Person erweckt; ihm mißfiel mein Tee, auch daß ich mich selbst in Ketten noch als ein Herr gab, als könnte ich mich ohne einen Diener nicht behelfen, obwohl ich nach einem solchen gar nicht verlangt hatte. Ich wollte ja wirklich immer alles selbst machen und gab mir besondere Mühe, den Eindruck zu vermeiden, daß ich ein verzärtelter Herr mit sauberen Händen sei. Darin lag sogar ein gewisser Ehrgeiz meinerseits, – wenn ich darüber schon sprechen soll. Ich kann unmöglich begreifen, warum es immer so kam, – aber ich konnte niemals die Leute, die sich mir als Diener aufdrängten, zurückweisen; diese gewannen schließlich solche Gewalt über mich, daß eigentlich sie meine Herren waren, ich aber ihr Diener; von außen betrachtet sah es aber immer so aus, als wäre ich wirklich ein verwöhnter Herr und könne mich ohne Dienstboten nicht behelfen. Dies war mir natürlich sehr ärgerlich. Aber Ustjanzew war ein schwindsüchtiger, reizbarer Mensch. Die übrigen Kranken sahen mich gleichgültig, sogar mit einem gewissen Hochmut an. Ich erinnere mich, daß ein besonderer Umstand sie alle beschäftigte; ich erfuhr aus den Gesprächen der Sträflinge, daß am gleichen Abend zu uns einer der Angeklagten gebracht werden sollte, der in diesem Augenblick die Spießrutenstrafe bekam. Die Arrestanten erwarteten diesen Neuling mit gewisser Neugier. Man sagte übrigens, daß die Strafe eine leichte sei: bloß fünfhundert Hiebe.
Allmählich lernte ich meine Umgebung kennen. Soweit ich bemerken konnte, litten hier die meisten an Skorbut und Augenkrankheiten, die in dieser Gegend allgemein verbreitet waren. Solche gab es hier mehrere. Die anderen wirklich Kranken hatten Fieber, allerlei Geschwüre und Brustleiden. Hier war es anders als in den anderen Krankensälen: alle Kranken, selbst die Venerischen, lagen beieinander. Ich sprach eben von den »wirklich« Kranken, denn es gab hier auch solche, die ohne jede Krankheit hergekommen waren, einfach um auszuruhen. Die Ärzte nahmen solche gern aus Mitleid auf, besonders wenn es viel unbesetzte Betten gab. Das Leben in den Arrestlokalen und in den Zuchthäusern war im Vergleich mit dem im Hospital dermaßen schlecht, daß viele Arrestanten hier trotz der stickigen Luft und der verschlossenen Türe mit Vergnügen lagen. Es gab sogar besondere Liebhaber für das Liegen und für das Hospitalleben; diese gehörten übrigens zum größten Teil der Korrektionskompagnie an. Ich musterte mit Neugier meine neuen Genossen, aber meine besondere Neugier erregte, wie ich mich erinnere, ein gleichfalls schwindsüchtiger Arrestant aus unserem Zuchthause, der in den letzten Zügen, nur durch ein Bett von Ustjanzew getrennt, also gleichfalls mir fast gegenüber lag. Er hieß Michailow; erst vor zwei Wochen hatte ich ihn im Zuchthause gesehen. Er war schon seit langem krank und hatte sich längst in ärztliche Behandlung begeben sollen; aber er überwand sich mit einer trotzigen, völlig überflüssigen Geduld, beherrschte sich und kam erst in den Feiertagen ins Hospital, um nach drei Wochen seiner entsetzlich vorgeschrittenen Schwindsucht zu erliegen; der Mann war gleichsam bei lebendigem Leibe verbrannt. Mich frappierte sein schrecklich verändertes Gesicht, das mir schon bei meinem Eintritt ins Zuchthaus als eines der ersten aufgefallen war. Neben ihm lag ein Soldat aus der Korrektionskompagnie, ein schon bejahrter Mensch, der sich durch eine schreckliche, ekelerregende Unsauberkeit auszeichnete... Aber ich will hier gar nicht alle Kranken aufzählen... Diesen Alten erwähnte ich eben nur aus dem Grunde, weil er auf mich damals gleichfalls einigen Eindruck gemacht und mir in einem Augenblick einen ziemlich vollständigen Begriff von gewissen Eigentümlichkeiten des Arrestantensaals verschafft hatte. Dieser Alte hatte damals, wie ich mich erinnere, einen heftigen Schnupfen. Er nieste die ganze Zeit, nieste eine ganze Woche lang sogar im Schlafe, salvenweise, in fünf und sechs Anfällen hintereinander, wobei er jedesmal sagte: »Mein Gott, ist das eine Strafe!« Damals saß er auf seinem Bette und stopfte sich gierig aus einem kleinen Papierpaket Schnupftabak in die Nase, um auf diese Weise seine Nase möglichst gründlich zu säubern. Er nieste in sein eigenes baumwollenes kariertes Schnupftuch, das wohl hundertmal gewaschen und äußerst verschossen war; dabei verzog er eigentümlich seine kleine Nase, in der sich zahllose kleine Runzeln bildeten, und zeigte die Überreste seiner alten schwarzgewordenen Zähne zugleich mit dem roten, speicheltriefenden Zahnfleisch. Nachdem er sich tüchtig ausgeniest hatte, entfaltete er sofort das Schnupftuch, betrachtete aufmerksam den darin aufgefangenen Schleim und strich diesen sofort auf seinen dunkelbraunen Kommiß-Schlafrock, so daß der ganze Schleim auf den Rock kam, während das Schnupftuch nur feucht blieb. So trieb er es die ganze Woche, Dieses knauserige, sorgfältige Schonen des eigenen Schnupftuches zuschaden des Kommiß-Schlafrockes erregte bei den andern Kranken gar keinen Protest, obwohl jemand von ihnen gleich nach ihm diesen selben Schlafrock bekommen mußte. Aber unser einfaches Volk ist erstaunlich wenig heikel und empfindlich. Ich fühlte mich sofort angeekelt und begann unwillkürlich mit Abscheu und Neugier den Schlafrock, den ich soeben angelegt hatte, zu betrachten. Da merkte ich, daß er mir schon längst durch seinen starken Geruch aufgefallen war; er war an meinem Leibe wärmer geworden und roch immer stärker nach Arzneien, Pflastern und, wie mir schien, nach Eiter, was auch kein Wunder war, da er seit Jahren ständig von Kranken getragen wurde. Vielleicht wurde das leinene Unterfutter am Rücken manchmal gewaschen; aber ich weiß es nicht sicher. Jedenfalls war dieses Unterfutter jetzt von allen möglichen unangenehmen Säften, Mundwassern und Absonderungen von durchschnittenen Geschwüren nach dem Spanischfliegenpflaster durchtränkt. Außerdem kamen in die Krankensäle oft Arrestanten, die eben erst die Spießrutenstrafe erhalten hatten, mit verwundeten Rücken; diese wurden mit Umschlägen behandelt, und darum konnte der Schlafrock, der direkt auf dem nassen Hemd getragen wurde, unmöglich sauber bleiben: alles blieb an ihm haften. Während der Jahre, die ich im Zuchthause blieb, zog ich daher so einen Schlafrock, sooft ich ins Hospital kam (ich kam aber oft hin), nur mit Widerwillen und Angst an. Besonders mißfielen mir die zuweilen in diesen Schlafröcken vorkommenden großen und auffallend fetten Läuse. Die Arrestanten richteten sie mit Genuß hin, und wenn unter dem dicken, ungelenken Arrestantennagel das zum Tode verurteilte Tier platzte, konnte man vom Gesicht des Jägers den Grad des dabei empfangenen Genusses ablesen. Ebensowenig mochten sie die Wanzen und machten sich zuweilen an manchem langen, langweiligen Winterabend in großer Gesellschaft auf, sie auszurotten. Obwohl im Krankensaale, abgesehen vom stickigen Geruch, äußerlich alles nach Möglichkeit sauber schien, war die innere, sozusagen unsichtbare Reinlichkeit durchaus nicht hervorragend. Die Kranken waren daran gewöhnt und glaubten sogar, daß es so sein müsse; auch die ganze Ordnung war wenig dazu angetan, den Reinlichkeitssinn zu stärken. Aber von der Ordnung werde ich später sprechen...
Kaum hatte mir Tschekunow den Tee gebracht (der, nebenbei bemerkt, mit dem Wasser des Krankensaales bereitet war, das nur einmal am Tage erneuert wurde und in unserer Luft sehr schnell verdarb), als die Türe etwas geräuschvoll aufging und der soeben mit Spießruten bestrafte Soldat unter starker Bewachung hereingeführt wurde. Das war das erste Mal, daß ich einen auf diese Weise Bestraften sah. Später wurden solche oft zu uns gebracht, zuweilen sogar (wenn die Strafe allzuschwer gewesen war) hereingetragen, und dies bot den Kranken jedesmal eine große Zerstreuung. Ein solcher Delinquent wurde bei uns meistens mit einer betont und stark übertrieben ernsten Miene empfangen. Der Empfang hing übrigens zum Teil auch von dem Grade des Verbrechens und folglich auch von der Schwere der Strafe ab. Ein besonders schwer bestrafter Mann, der obendrein als schwerer Verbrecher galt, genoß auch größeren Respekt und größere Aufmerksamkeit als irgendein desertierter Rekrut, wie der, den man jetzt zu uns brachte. Aber im einen wie im anderen Falle wurde kein besonderes Mitleid geäußert, und man hörte auch keinerlei gereizte Bemerkungen. Man half dem Unglücklichen und Pflegte ihn schweigend, besonders wenn er ohne fremde Hilfe nicht auskommen konnte. Die Feldschere wußten schon selbst, daß sie das Opfer in geschickte und erfahrene Hände gaben. Die Hilfe bestand gewöhnlich im häufigen und notwendigen Wechsel des in kaltes Wasser getauchten Lakens oder Hemdes, mit dem man den zerschundenen Rücken deckte, besonders wenn der Bestrafte nicht mehr die Kraft hatte, für sich selbst zu sorgen, außerdem im geschickten Herausziehen der Splitter, die die gebrochenen Spießruten oft in den Wunden hinterließen. Die letztere Operation war für den Patienten meistens sehr unangenehm. Aber im allgemeinen wunderte ich mich über die ungewöhnliche Standhaftigkeit im Ertragen des Schmerzes. Ich habe viele Bestrafte gesehen, darunter auch solche, die schon gar zu grausam bestraft worden waren, und doch hörte ich keinen von ihnen stöhnen! Nur die Gesichter schienen verändert und blaß geworden; die Augen brannten; der Blick war zerstreut und unruhig, und die Lippen zitterten so, daß der Ärmste zuweilen die Zähne so fest in sie biß, daß sie bluteten. Der Soldat, den man eben hereinbrachte, war ein Bursch von etwa dreiundzwanzig Jahren, stark und muskulös, hübsch, groß, schlank, von gebräunter Hautfarbe. Sein Rücken war übrigens ordentlich zerschlagen. Sein Körper war von oben bis zum Gürtel entblößt; auf seine Schultern war ein nasses Laken geworfen, vor dem er an allen Gliedern wie im Fieber zitterte. Anderthalb Stunden ging er im Krankensaale auf und ab. Ich betrachtete sein Gesicht: er schien in diesen Augenblicken an nichts zu denken und sah sonderbar und wild, mit irrenden Blicken um sich, denen es offenbar schwer fiel, auf irgendeinem bestimmten Gegenstände aufmerksam zu verweilen. Mir kam es vor, daß er meinen Tee anstarre. Der Tee war heiß, der Dampf stieg aus der Tasse, der Ärmste war ganz erfroren, zitterte und klapperte mit den Zähnen. Ich bot ihm von meinem Tee an. Er wandte sich stumm und schnell zu mir um, nahm die Tasse und trank den Tee stehend, ohne Zucker, wobei er sich sehr beeilte und sich Mühe gab, mich nicht anzuschauen. Nachdem er den Tee ausgetrunken hatte, stellte er die Tasse hin, nickte mir nicht mal zu und fing wieder an, auf und abzugehen. Allerdings war ihm nicht so zu Mute, daß er mir etwas sagen oder bloß zunicken konnte! Was aber die anderen Arrestanten betrifft, so vermieden sie anfangs aus irgendeinem Grunde jede Unterhaltung mit dem bestraften Rekruten; im Gegenteil, nachdem sie ihm anfangs geholfen hatten, bemühten sie sich, ihm keine weitere Beachtung zu schenken, vielleicht um ihn möglichst in Ruhe zu lassen und mit keinen weiteren Fragen und »Mitleidsäußerungen« zu belästigen, womit er vollkommen zufrieden schien.
Indessen war es dunkel geworden, und man zündete das Nachtlicht an. Einige Arrestanten besaßen, wie es sich zeigte, eigene Leuchter, aber nur wenige. Endlich kam nach der Abendvisite des Arztes der wachhabende Unteroffizier und zählte alle Kranken nach. Der Krankensaal wurde nun verschlossen, nachdem man vorher den Nachtzuber hereingebracht hatte... Ich erfuhr mit Erstaunen, daß dieser Zuber hier die ganze Nacht bleiben sollte, obwohl der eigentliche Abort sich im gleichen Korridor, nur zwei Schritte von der Tür befand. Aber so wollte es die einmal eingeführte Ordnung. Tagsüber wurde der Arrestant aus dem Krankensaal hinausgelassen, übrigens nicht länger als für eine Minute; doch in der Nacht unter keinen Umständen. Die Arrestantensäle glichen in keiner Weise den übrigen Krankensälen, und ein kranker Arrestant mußte sogar in der Krankheit seine Strafe tragen. Von wem diese Ordnung ursprünglich eingeführt ist, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß dies mit der wahren Ordnung gar nichts zu tun hatte und daß die ganze Zwecklosigkeit des strengen Festhaltens an den Vorschriften nirgends so kraß zum Ausdruck kam, wie gerade in diesem Fall. Diese Ordnung rührte natürlich nicht von den Ärzten her. Ich wiederhole: die Arrestanten konnten ihre Ärzte nicht genug loben, sie hielten sie für ihre Väter und brachten ihnen jede Achtung entgegen. Jeder Arrestant war von ihnen schon freundlich behandelt worden, hatte von ihnen ein gutes Wort gehört, und der von allen Verstoßene schätzte es, da er die Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit dieses guten Wortes und der freundlichen Behandlung sah. Die letztere hätte ja ebenso gut auch nicht sein können; niemand hätte den Ärzten etwas angehabt, wenn sie die Kranken anders, d.h. roher und unmenschlicher behandelten: folglich waren sie aus echter Menschenliebe so gutmütig. Jedenfalls wußten sie, daß jeder Kranke, wer er auch sei, ob ein Arrestant oder nicht, ebenso die frische Luft brauchte wie jeder andere Kranke, selbst vom höchsten Range. Die Rekonvaleszenten aus den anderen Krankensälen durften z. B. frei in den Korridors auf- und abgehen, sich Bewegung machen und eine weniger verpestete Luft atmen als die in den Krankensälen, die übelriechend und selbstverständlich immer von erstickenden Ausdünstungen erfüllt war. Ich kann mir jetzt nur mit Ekel vorstellen, in welchem Grade die schon ohnehin verpestete Luft bei uns nachts vergiftet wurde, wenn man diesen Zuber hereinbrachte, in Anbetracht der warmen Temperatur im Saale und der gewissen Krankheiten, bei denen man unbedingt austreten muß! Wenn ich soeben sagte, daß der Arrestant auch in der Krankheit seine Strafe tragen mußte, so nahm und nehme ich durchaus nicht an, daß diese Ordnung ausschließlich als Strafe eingeführt worden ist. Natürlich wäre dies eine unsinnige Verleumdung. Kranke brauchen nicht mehr bestraft zu werden. Und wenn dem so ist, so hat wohl irgendeine harte Notwendigkeit die Obrigkeit zu dieser in ihren Folgen, so schädlichen Maßregel gezwungen. Was für eine Notwendigkeit mag es gewesen sein? Das ist eben so ärgerlich, daß man die Notwendigkeit dieser Maßregel auf keine andere Weise erklären kann, genau wie die der anderen Maßregeln, die dermaßen unbegreiflich sind, daß man sie nicht nur nicht erklären, sondern auch keinerlei Erklärung für sie vermuten kann. Womit soll man sich diese zwecklose Grausamkeit erklären? Vielleicht damit, daß ein Arrestant sich absichtlich krank stellt und die Ärzte anführt, um ins Hospital zu kommen, dann des Nachts auf den Abort gehen und in der Dunkelheit entfliehen kann? Es ist fast überflüssig, die ganze Sinnlosigkeit einer solchen Annahme zu beweisen. Wohin soll er fliehen? Wie soll er fliehen? In welcher Kleidung? Bei Tage werden ja die Sträflinge nur einzeln herausgelassen; ebenso hätte man es auch nachts machen können. Vor der Türe steht ein Posten mit geladenem Gewehr. Der Abort befindet sich buchstäblich zwei Schritte von diesem Posten, aber der Kranke wird trotzdem vom Hilfsposten auf den Abort begleitet, und dieser läßt ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen. Im Abort gibt es nur ein Fenster mit doppelten Scheiben und einem Eisengitter. Vor diesem Fenster auf dem Hofe, dicht vor den Fenstern der Arrestantensäle geht gleichfalls die ganze Nacht ein Wachtposten auf und ab. Um durch das Fenster zu fliehen, müßte man das Fenster einschlagen und das Gitter herausbrechen. Wer wird das zulassen? Nehmen wir sogar an, daß der Arrestant zunächst den ihn begleitenden Hilfsposten erschlägt, ohne daß dieser einen Ton von sich gibt, und daß es niemand hört. Selbst wenn wir diese unsinnige Annahme machen, muß er dennoch das Fenster und das Gitter herausbrechen. Es ist zu beachten, daß dicht neben dem Wachtposten die Krankensaalwärter schlafen, daß in zehn Schritt Entfernung vor dem nächsten Arrestantensaale ein anderer Wachtposten mit Gewehr steht und sich neben ihm ein anderer Hilfsposten und andere Krankensaalwächter befinden. Wohin soll er im Winter in seinen Strümpfen und Pantoffeln, im Schlafrock und Nachtmütze fliehen? Und wenn es sich so verhält, wenn die Gefahr wirklich so gering ist (eigentlich liegt überhaupt keine Gefahr vor), – wozu dann diese Erschwerung für die Kranken, vielleicht in den letzten Tagen und Stunden ihres Lebens, für die Kranken, die die frische Luft vielleicht noch notwendiger brauchen als die Gesunden? Wozu? Ich habe es niemals begreifen können.
Wenn ich aber schon einmal die Frage »wozu?« gestellt und die Rede darauf gebracht habe, so kann ich nicht umhin, noch ein anderes Rätsel zu erwähnen, dem ich so viele Jahre gegenüberstand und für das ich unmöglich eine Erklärung finden konnte. Ich muß jetzt unbedingt wenigstens einige Worte darüber sagen, ehe ich in meiner Schilderung fortfahre. Ich meine die Fesseln, von denen keine Krankheit den Zuchthäusler befreit. Ich habe selbst Schwindsüchtige in diesen Fesseln sterben sehen. Dabei waren alle daran gewöhnt und hielten sie für eine gegebene, unabänderliche Tatsache. Ich glaube kaum, daß sich jemand irgendwelche Gedanken darüber machte, denn es war während meiner Zuchthausjahre keinem von den Ärzten je eingefallen, sich bei der Obrigkeit für die Befreiung irgendeines schwerkranken, schwindsüchtigen Arrestanten von den Fesseln zu verwenden. Die Fesseln sind zwar an sich keine Gott weiß wie schwere Last. Sie wiegen acht bis zwölf Pfund. Ein Gewicht von zehn Pfund ist für einen gesunden Menschen nicht beschwerlich. Man erzählte mir übrigens, daß, die Fesseln nach einigen Jahren die Abzehrung der Arme und Beine bewirken. Ich weiß nicht, ob es stimmt, aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit scheint hier doch vorzuliegen. Die Last ist zwar nicht groß, obwohl die ständig am Bein befestigten zehn Pfund immerhin das Gewicht des Gliedes in unnormaler Weise vergrößern und nach längerer Zeit eine schädliche Wirkung zeigen müssen... Aber nehmen wir an, daß es dem Gesunden nichts macht. Wie ist es aber mit einem Kranken? Wollen wir sogar annehmen, daß es dem gewöhnlichen Kranken nichts macht. Aber ich wiederhole: wie ist es mit den Schwerkranken, mit dem Schwindsüchtigen, bei dem die Arme und Beine auch ohnehin so abgezehrt sind, daß ihm jeder Strohhalm als eine Last erscheint? Wenn die ärztlichen Vorgesetzten eine Erleichterung, sei es auch nur für die Schwindsüchtigen, allein durchsetzen könnten, so wäre schon das allein eine wahre und große Wohltat. Vielleicht wird jemand einwenden, daß der Arrestant ein Bösewicht ist und keine Wohltaten verdient; darf man aber die Strafe für einen Menschen vergrößern, der schon ohnehin vom Finger Gottes getroffen ist? Ich kann auch gar nicht glauben, daß es nur als Strafe gedacht ist. Ein Schwindsüchtiger ist ja selbst von einer gerichtlich zudiktierten Körperstrafe befreit. Folglich steckt wiederum eine geheimnisvolle, wichtige Vorsichtsmaßregel dahinter. Aber was für eine, ist nicht zu verstehen. Es ist doch wirklich nicht zu befürchten, daß ein Schwindsüchtiger entfliehen kann. Wer wird an die Flucht denken, besonders beim gewissen Entwicklungsstadium dieser Krankheit? Die Schwindsucht simulieren und die Ärzte betrügen, um zu fliehen, ist unmöglich. Es ist ja eine Krankheit, die man auf den ersten Blick erkennt. Legt man übrigens einem Menschen die Fußfesseln nur dazu an, damit er nicht fliehen könne und damit sie ihn an der Flucht hindern? Durchaus nicht. Die Fesseln bedeuten nur eine Ächtung, eine körperliche und moralische Schmach und Last. So nimmt man an. An der Flucht können aber die Fesseln niemand hindern. Selbst der ungeschickteste und unerfahrenste Arrestant kann sie immer ohne besondere Mühe durchfeilen oder die Nieten mit einem Stein zerschlagen. Die Fußfesseln garantieren also absolut nichts, und wenn dem so ist und sie für den verurteilten Zuchthäusler nur eine Strafe bedeuten, so frage ich wiederum: darf man denn auch einen Sterbenden strafen?
Jetzt, da ich dieses schreibe, sehe ich deutlich einen sterbenden Schwindsüchtigen vor mir, denselben Michailow, der fast mir gegenüber, nicht weit von Ustjanzew lag und, wenn ich nicht irre, am vierten Tage nach meinem Eintritt in den Krankensaal starb. Wenn ich jetzt von den Schwindsüchtigen spreche, so wiederhole ich vielleicht nur unwillkürlich jene Eindrücke und Gedanken, die mir damals anläßlich seines Todes kamen. Den Michailow selbst habe ich übrigens wenig gekannt. Er war ein noch sehr junger Mann von höchstens fünfundzwanzig Jahren, groß, schlank, von einem angenehmen Äußeren. Er befand sich in der Besonderen Abteilung, war auffallend schweigsam und zeigte immer den Ausdruck einer stillen, ruhigen Trauer. Er schien im Zuchthause zu »verdorren«. So drückten sich wenigstens nachher die Arrestanten aus, bei denen er ein gutes Andenken hinterließ. Ich erinnere mich nur noch, daß er wunderschöne Augen hatte, und ich weiß wirklich nicht, warum er sich mir so scharf ins Gedächtnis eingeprägt hat. Er starb um drei Uhr nachmittags, an einem heiteren Frosttage. Ich erinnere mich, wie die Sonne mit ihren scharfen, schrägen Strahlen die grünen, leicht angefrorenen Fensterscheiben in unserm Krankensaale durchdrang. Ein ganzer Strom von Sonnenlicht ergoß sich über den Unglücklichen. Er starb ohne Besinnung, sein Tod war schwer und dauerte lange, mehrere Stunden. Schon am Morgen hatte er begonnen, die sich ihm Nähernden nicht zu erkennen. Man wollte ihm den Zustand erleichtern, man sah, daß er es sehr schwer hatte; er atmete mit großer Mühe, tief und röchelnd; seine Brust hob sich hoch, als hätte sie zu wenig Luft. Er warf die Bettdecke und alle Kleider von sich und fing schließlich an, auch das Hemd von sich herunterzureißen: selbst das Hemd war für ihn eine Last. Man half ihm und zog ihm das Hemd aus. Es war schrecklich, diesen ungewöhnlich langen Körper mit den bis zu den Knochen abgezehrten Armen und Beinen, dem eingefallenen Bauch, der gehobenen Brust und den Rippen, die sich so deutlich wie bei einem Skelett abzeichneten, zu sehen. Auf seinem ganzen Körper hatte er nur noch ein hölzernes Kreuz mit einem Amulett und die Fesseln, aus denen er jetzt die abgemagerten Füße einfach herausziehen zu können schien. Eine halbe Stunde vor seinem Tode waren alle bei uns irgendwie stiller geworden und sprachen nur noch im Flüsterton. Wer gehen mußte, bemühte sich, unhörbar aufzutreten. Man sprach untereinander wenig und nur von ganz abseits liegenden Dingen, wobei man nur ab und zu den Sterbenden ansah, der immer starker röchelte. Endlich fand er mit seiner tastenden, unsichern Hand an seiner Brust das Amulett und begann es von sich herunterzureißen, als wäre es für ihn zu schwer, als beunruhigte und beengte es ihn. Man nahm ihm auch das Amulett ab. Nach etwa zehn Minuten gab er den Geist auf. Man klopfte an die Türe und meldete es dem Wachtposten. Ein Wächter trat ein, sah den Toten mit stumpfem Blick an und begab sich zum Feldscher. Der Feldscher, ein junger und guter Kerl, der sich zuviel mit seinem, übrigens recht vorteilhaften Äußeren beschäftigte, erschien sehr bald; er ging mit schnellen Schritten, die im stillen Krankensaal laut widerhallten, auf den Toten zu, ergriff mit besonders ungezwungener Miene, die er eigens für diesen Fall vorbereitet zu haben schien, dessen Hand, fühlte den Puls, winkte mit der Hand und ging hinaus. Man meldete den Fall sofort auf die Wache: der Verstorbene war ein schwerer Verbrecher gewesen und hatte der Besonderen Abteilung angehört; darum konnte er auch nur unter Beobachtung besonderer Zeremonien als tot befunden werden. In Erwartung der Wachen sagte einer der Arrestanten mit leiser Stimme, daß man dem Verstorbenen eigentlich die Augen schließen sollte. Ein anderer hörte ihn aufmerksam an, näherte sich dann stumm der Leiche und drückte ihr die Augen zu. Als er das auf dem Kissen liegende Kreuz sah, nahm er es in die Hand, besah es sich und legte es dann schweigend Michailow wieder um den Hals; dann bekreuzigte er sich. Das Gesicht des Toten war indessen starr geworden; ein Sonnenstrahl spielte auf ihm; der Mund war halb geöffnet; zwei Reihen weißer junger Zähne schimmerten unter den dünnen, am Zahnfleisch haftenden Lippen. Endlich kam der wachhabende Unteroffizier mit Seitengewehr und Helm, von zwei Wärtern gefolgt. Er kam näher, die Schritte immer mehr verlangsamend und die stillgewordenen, ihn von allen Seiten ernst anblickenden Arrestanten etwas erstaunt anschauend. Als er sich dem Toten auf einen Schritt genähert hatte, blieb er wie angewurzelt, gleichsam erschrocken, stehen. Die gänzlich entblößte, abgezehrte Leiche, die nur noch mit den Fesseln bekleidet war, machte auf ihn einen starken Eindruck; er löste plötzlich die Schuppenkette, nahm den Helm ab, was gar nicht verlangt wurde, und bekreuzigte sich mit breiter Gebärde. Er hatte ein strenges, ergrautes Soldatengesicht. Ich besinne mich, daß in diesem Augenblick Tschekunow, gleichfalls ein grauhaariger Alter, neben ihm stand. Er blickte die ganze Zeit stumm und unverwandt dem Unteroffizier aus nächster Nähe ins Gesicht und verfolgte mit seltsamer Aufmerksamkeit jede seiner Gesten. Aber ihre Blicke begegneten sich, und bei Tschekunow zitterte plötzlich aus irgendeinem Grunde die Unterlippe. Er verzog sie auf eine sonderbare Weise, zeigte die Zähne, nickte schnell, wie zufällig dem Unteroffizier zu und sagte:
»Er hat ja auch einmal eine Mutter gehabt!« Und er trat zur Seite.
Ich erinnere mich noch, wie diese Worte mich förmlich durchbohrten... Wozu hatte er sie gesprochen und wie waren sie ihm in den Sinn gekommen? Nun hob man aber die Leiche mit dem Bette auf; das Stroh raschelte, die Fesseln schlugen in der allgemeinen Stille laut gegen den Boden... Man hob sie auf. Dann trug man die Leiche hinaus. Plötzlich begannen alle laut zu sprechen. Man hörte, wie der Unteroffizier schon im Korridor jemand nach dem Schmied schickte. Der Tote sollte von seinen Fesseln befreit werden...
Ich bin aber von meinem Thema abgeschweift...
Die Ärzte machten in den Morgenstunden eine Runde durch die Krankensäle; gegen elf erschienen sie alle zugleich bei uns mit dem Oberarzt; eineinhalb Stunden vorher besuchte uns aber unser Assistenzarzt. Um jene Zeit war es ein junger Arzt, der seine Sache verstand, freundlich und gutmütig war, und den die Arrestanten sehr gerne mochten, obwohl sie an ihm einen Fehler fanden: »Er ist schon gar zu still.« Er war in der Tat sehr schweigsam, schien sich vor uns fast zu genieren, errötete beinahe, veränderte die Speiserationen gleich auf die erste Bitte der Patienten und schien sogar bereit, ihnen auch die Arzneien nach ihren Wünschen zu verschreiben, übrigens war er ein vortrefflicher junger Mann. Es ist zu bemerken, daß in Rußland viele Ärzte die Liebe und Achtung des einfachen Volkes genießen; dies ist, soviel ich bemerken konnte, wirklich wahr. Ich weiß, daß meine Worte paradox erscheinen können, besonders wenn man das allgemeine Mißtrauen des ganzen einfachen russischen Volkes gegen die Medizin und die ausländischen Arzneien in Betracht zieht. Ein Mann aus dem Volke, der an einer schweren Krankheit leidet, wird sich in der Tat eher mehrere Jahre hintereinander von einer weisen Frau behandeln lassen oder sich selbst mit seinen volkstümlichen Hausmitteln (die übrigens durchaus nicht zu verachten sind) kurieren, als zum Arzt gehen oder sich in ein Hospital begeben. Außerdem ist hier auch noch ein anderer, äußerst wichtiger Umstand im Spiele, der mit der Medizin nichts zu tun hat: das allgemeine Mißtrauen des ganzen einfachen Volkes gegen alles, was einen behördlichen und formellen Anstrich hat; außerdem ist das Volk durch allerlei Märchengeschichten, die oft sehr unsinnig sind, manchmal aber auch ihren Grund haben, gegen die Hospitäler voreingenommen und eingeschüchtert. Die größte Angst machen ihm aber die deutsche Ordnung im Hospital, die ihn während seiner ganzen Krankheit umgebenden fremden Menschen, die strengen Diätvorschriften, die Berichte über die Unerbittlichkeit der Feldschere und Ärzte, über das Zerstückeln und Ausweiden der Leichen usw. Außerdem urteilt das Volk, daß man im Hospital in die Behandlung von vornehmen Herren komme, denn die Ärzte seien immerhin vornehme Herren. Aber bei der näheren Bekanntschaft mit den Ärzten verschwinden alle diese Ängste (nicht immer, aber doch in den meisten Fällen) vollkommen, was nach meiner Meinung unseren Ärzten, vorwiegend den jüngeren zur Ehre gereicht. Die meisten von ihnen verstehen die Achtung und sogar die Liebe des einfachen Volkes zu erwerben. Ich schreibe jedenfalls nur über Dinge, die ich selbst mehr als einmal an verschiedenen Orten gesehen und erlebt habe, und ich kann mir nicht denken, daß es sich an anderen Orten allzu oft anders verhalten sollte. Natürlich gibt es in manchen versteckten Winkeln Ärzte, die sich bestechen lassen, aus ihren Krankenhäusern zu großen Nutzen ziehen, die Kranken fast vernachlässigen und sogar die Medizin gänzlich vergessen. Das kommt noch vor; aber ich spreche von der Mehrheit oder, genauer gesagt, von dem Geist, von der Richtung, die heutzutage in der Medizin zum Ausdruck kommt. Jene Verräter an der allgemeinen Sache, jene Wölfe unter Schafen, womit sie sich auch verteidigen und was sie auch zu ihrer Rechtfertigung vorbringen mögen, wie z. B. das »Milieu«, das sie anstecke, bleiben immer im Unrecht, besonders wenn sie dabei auch jede Menschenliebe verloren haben. Menschenliebe, Freundlichkeit, brüderliches Mitleid mit den Kranken sind aber zuweilen wichtiger als alle Arzneien. Es wäre schon wirklich Zeit, aufzuhören, sich apathisch über das Milieu zu beklagen, das uns hereingezogen habe. Es ist allerdings wahr, daß es viele von uns hereinzieht, vieles in uns erstickt, aber doch nicht alles, und mancher schlaue und erfahrene Schuft rechtfertigt oft mit dem Einfluß des Milieus nicht nur seine Schwäche, sondern seine Gemeinheiten, besonders wenn er schön zu reden oder zu schreiben versteht. Ich bin übrigens wieder vom Thema abgekommen; ich wollte nur sagen, daß unser einfaches Volk nur gegen die medizinischen Behörden, aber nicht gegen die Ärzte selbst mißtrauisch und feindselig ist. Wenn es erfährt, wie sie in Wirklichkeit sind, gibt es schnell viele seiner Vorurteile auf. Die Einrichtung unserer Krankenhäuser entspricht übrigens auch heute noch nicht dem Geiste unseres Volkes, ist den Gewohnheiten dieses Volkes feindselig und kann daher volles Vertrauen und Achtung des Volkes nicht erwerben. Diesen Eindruck habe ich wenigstens auf Grund einiger eigener Beobachtungen.
Unser Assistenzarzt blieb gewöhnlich bei jedem Kranken stehen, untersuchte ihn ernst und außerordentlich aufmerksam, fragte ihn aus und bestimmte dann die Arzneien und die Diät. Manchmal merkte er auch selbst, daß dem Kranken gar nichts fehlte; da aber so ein Arrestant ins Hospital gekommen war, um von der Arbeit auszuruhen und auf einer Matratze statt auf bloßen Brettern zu liegen, in einem immerhin warmen Zimmer statt des feuchten Arrestlokals, wo Mengen von blassen und abgezehrten Untersuchungsgefangenen zusammengepfercht sind (bei uns in Rußland sind die Untersuchungsgefangenen fast immer blaß und abgezehrt – ein Beweis dafür, daß sie körperlich und seelisch viel mehr zu leiden haben als die verurteilten Verbrecher), so schrieb unser Assistenzarzt in solchen Fällen ruhig ein »febris catarrhalis« in die Liste und ließ den Scheinkranken zuweilen eine ganze Woche liegen. Über dieses »febris catarrhalis« lachten wir alle. Wir wußten sehr gut, daß es eine im gegenseitigen Einverständnis zwischen dem Arzt und den Kranken angenommene Formel zur Bezeichnung einer simulierten Krankheit war; die Arrestanten selbst übersetzten das »febris catarrhalis« mit »Reserve-Leibschmerzen«. Manchmal mißbrauchte so ein Kranker das Mitleid des Arztes und blieb so lange liegen, bis er mit Gewalt hinausgeworfen wurde. Dann mußte man unsern Assistenzarzt sehen: er schien sich zu schämen, dem Kranken geradeaus zu sagen, daß er schneller gesund werden und um seine Entlassung aus dem Hospital bitten solle, obwohl er das volle Recht hatte, ihm ohne alle Auseinandersetzungen und Bitten einfach »sanatus est« in den Krankheitsbericht zu schreiben. Anfangs machte er ihm Andeutungen, dann bat er ihn gleichsam: »Ist noch nicht Zeit? Du bist ja schon fast gesund, im Krankensaal ist so wenig Platz« usw., bis der Kranke sich schämte und schließlich selbst um Entlassung bat. Der Oberarzt war zwar ein humaner und ehrlicher Mensch (den die Kranken gleichfalls sehr liebten), aber unvergleichlich strenger und energischer als der Assistenzarzt; in manchen Fällen zeigte er sogar eine Härte, und deswegen achtete man ihn ganz besonders. Er erschien in Begleitung sämtlicher Hospitalärzte gleich nach dem Assistenzarzt, untersuchte ebenfalls jeden einzeln, hielt sich besonders bei den Schwerkranken auf, verstand ihnen immer ein gutes, ermutigendes, oft sogar herzliches Wort zu sagen und machte überhaupt einen guten Eindruck. Die mit den »Reserve-Leibschmerzen« schickte er niemals weg; wenn aber der Kranke widerspenstig war, strich er ihn einfach als geheilt aus der Liste: »Nun hast du lange genug gelegen, Bruder, hast ausgeruht, jetzt ist's genug.« Widerspenstig waren gewöhnlich die Faulen, besonders in der arbeitsreichen Sommerzeit, oder die Untersuchungsgefangenen, die eine Strafe erwarteten. Ich erinnere mich, wie gegen einen von diesen besondere Strenge, sogar Grausamkeit angewandt wurde, um ihn zu zwingen, um Entlassung zu bitten. Er trat mit einem Augenleiden ein; seine Augen waren rot, und er beklagte sich über ein heftiges Stechen in den Augen. Man behandelte ihn mit spanischen Fliegen, Blutegeln, Einträufeln einer beißenden Flüssigkeit in die Augen usw., aber die Krankheit wollte nicht weichen, und die Augen wurden nicht klar. Die Ärzte kamen allmählich dahinter, daß es eine simulierte Krankheit war: die Entzündung blieb immer nicht zu stark, wurde nicht schlimmer, verging aber auch nicht und blieb immer gleich. Der Fall war verdächtig. Alle Arrestanten wußten schon längst, daß er simulierte und die Leute anführte, obwohl er es selbst nicht eingestand. Er war ein junger, sogar hübscher Bursche, der aber auf uns alle einen eigentümlich unangenehmen Eindruck machte; er war verschlossen, mißtrauisch, mürrisch, sprach mit niemand ein Wort, blickte finster drein und hielt sich von allen zurück, als mißtraute er allen. Ich erinnere mich noch, daß vielen der Gedanke kam, daß er uns irgendeinen Streich spielen könne. Er war ein Soldat, der einen Diebstahl begangen hatte, erwischt worden war und dem tausend Spießruten und die Einreihung in die Arrestantenkompagnie drohte. Um die Strafe hinauszuschieben, entschließen sich die Verurteilten, wie ich schon früher erwähnt habe, zuweilen zu schrecklichen Dingen: so einer stürzt sich am Vorabend der Exekution mit einem Messer auf einen der Vorgesetzten oder sogar auf einen seiner Kameraden; er kommt aufs neue vors Gericht, die Exekution wird auf weitere zwei Monate hinausgeschoben, und so hat er sein Ziel erreicht. Er denkt nicht daran, daß er nach den zwei Monaten doppelt und dreimal so streng bestraft werden wird; er will den schrecklichen Augenblick wenigstens für einige Tage hinausschieben, und dann komme, was kommen mag: so tief entmutigt sind zuweilen diese Unglücklichen. Man tuschelte bei uns, daß man sich nachts vor ihm hüten müsse: er sei imstande, jemand zu erstechen. Man beschränkte sich übrigens aufs Tuscheln, ergriff aber keinerlei Vorsichtsmaßregeln; auch diejenigen, deren Bett sich in seiner Nachbarschaft befand, ergriffen keine Maßregeln. Man sah übrigens, daß er sich nachts die Augen mit dem von der Wand heruntergekratzten Kalk und mit noch irgend etwas einrieb, damit sie des Morgens wieder rot seien. Schließlich drohte ihm der Oberarzt selbst mit dem »Haarseil«. Bei hartnäckigen Augenkrankheiten, die lange dauern und allen ärztlichen Mitteln trotzen, entschließen sich die Ärzte, um das Augenlicht zu retten, zu einem sehr energischen und qualvollen Mittel: man zieht dem Kranken wie einem Pferde ein Haarseil ein. Der Ärmste wollte aber noch immer nicht gesund werden. Entweder war er zu trotzig oder zu feig: das Haarseil tat zwar nicht so weh wie die Stockstrafe, war aber qualvoll genug. Man zieht dem Kranken hinten im Nacken soviel Haut mit der Hand zusammen, als man fassen kann, durchbohrt das ganze erfaßte Fleisch mit einem Messer, so daß eine lange und breite Wunde längs des ganzen Nackens entsteht, und zieht durch diese Wunde ein ziemlich breites, fast fingerdickes Leinenband. Dieses Band wird dann täglich zu einer bestimmten Stunde durch die Wunde durchgezogen, so daß diese gleichsam immer wieder aufgeschnitten wird, damit sie ewig eitere und nicht verheile. Der Ärmste ertrug übrigens diese Folter, wenn auch unter entsetzlichen Qualen, hartnäckig mehrere Tage, ehe er sich entschloß, um Entlassung zu bitten. Seine Augen waren in einem Tage vollkommen gesund geworden, und sobald sein Hals geheilt war, begab er sich auf die Hauptwache, um gleich am nächsten Tage die tausend Spießruten zu empfangen.
Natürlich ist der Augenblick vor der Strafe schwer, so schwer, daß ich vielleicht unrecht habe, wenn ich diese Furcht Kleinmut und Feigheit nenne. Er ist wohl sehr schwer, wenn einer die doppelte und dreifache Strafe riskiert, nur um die Exekution etwas hinauszuschieben. Ich erwähnte übrigens auch solche, die selbst um Entlassung baten, obwohl ihre Rücken nach den ersten Schlägen noch nicht zugeheilt waren, um den Rest der Strafe schneller abzubüßen und endgültig aus dem Anklagezustand herauszukommen; die Haft auf der Hauptwache im Anklagezustand war aber natürlich unvergleichlich schlimmer als im Zuchthause. Abgesehen vom Unterschied in den Temperamenten hängt die Entschlossenheit und Furchtlosigkeit bei vielen in bedeutendem Maße von der eingewurzelten Gewöhnung an die Schläge und Strafen ab. Der oft Geschlagene ist an Geist und Rücken gefestigt und betrachtet schließlich die Strafe skeptisch, fast als eine geringe Unannehmlichkeit und fürchtet sie nicht mehr. Im allgemeinen ist das richtig. Ein Arrestant aus unserer Besonderen Abteilung, der getaufte Kalmücke Alexander, oder Alexandra, wie man ihn bei uns nannte, ein sonderbarer, durchtriebener und furchtloser, zugleich sehr gutmütiger Bursche, erzählte mir, wie er seine viertausend Spießruten ertragen hatte; er erzählte es mir lachend und scherzend, schwor aber zugleich sehr ernsthaft, daß, wenn er nicht schon von der frühesten, zartesten Kindheit an unter der Knute aufgewachsen wäre, von der die Narben auf seinem Rücken während seines ganzen Lebens unter seinen Volksgenossen nie verschwanden, er diese viertausend Hiebe nicht ausgehalten hätte. Als er mir das erzählte, segnete er gleichsam diese Erziehung durch die Knute. »Man hat mich für alles geschlagen, Alexander Petrowitsch!« sagte er mir einmal gegen Abend, bevor Licht gemacht wurde, auf meinem Bette sitzend, »für alles; man schlug mich fünfzehn Jahre hintereinander, vom ersten Tage an, dessen ich mich erinnere, und jeden Tag einige Male; nur solche, die gar keine Lust dazu hatten, schlugen mich nicht; so habe ich mich schließlich ganz daran gewöhnt.« Wie er unter die Soldaten geraten war, weiß ich nicht; ich erinnere mich dessen nicht, vielleicht hat er mir darüber etwas erzählt; er war ein gewohnheitsmäßiger Ausreißer und Vagabund. Ich besinne mich nur auf seine Erzählung, wie schrecklich er sich gefürchtet hatte, als er zu viertausend Spießruten wegen der Ermordung eines Vorgesetzten verurteilt worden war. »Ich wußte, daß man mich streng bestrafen und vielleicht nicht mehr lebendig entlassen würde; ich bin zwar an die Knute gewöhnt, aber viertausend Spießruten sind kein Spaß! Dazu war die Obrigkeit sehr erbittert! Ich wußte, ich wußte es ganz sicher, daß es nicht so einfach abgehen würde, daß ich es nicht ertragen werde; daß ich nicht mit dem Leben davonkomme. Zuerst versuchte ich, mich taufen zu lassen; ich dachte mir, daß man mir vielleicht die Strafe erlassen würde, obwohl man mir sagte, ich hätte darauf nicht zu hoffen, man würde mir nicht vergeben. Aber ich dachte mir: ich will es doch versuchen, sie werden mit einem Getauften doch mehr Mitleid haben. So wurde ich denn auch wirklich getauft, und erhielt bei der heiligen Taufe den Namen Alexander; aber Spießruten blieben Spießruten, keine einzige haben sie mir erlassen; das kränkte mich sogar. So dachte ich mir: Wartet, ich werde euch alle anführen. Und was glauben Sie, Alexander Petrowitsch, ich habe sie wirklich angeführt! Ich verstand vortrefflich, mich tot zu stellen, d.h. nicht ganz tot, aber so als wolle die Seele gerade den Körper verlassen. Man führte mich durch die Gasse; wie ich das erste Tausend passiere, brennt es wie Feuer, und ich schreie; beim zweiten Tausend denke ich mir, es sei mein Ende, ich bin nicht mehr bei Sinnen, die Beine knicken unter mir ein; ich falle zu Boden; meine Augen wurden tot, das Gesicht blau, ich atme nicht mehr und habe Schaum vor den Lippen. Der Arzt trat heran und sagte: ›Er wird gleich sterben.‹ Man trug mich ins Hospital, und da wurde ich gleich lebendig. So führten sie mich noch zweimal hinaus, sie ärgerten sich furchtbar über mich, aber ich führte sie noch zweimal an; nach dem dritten Tausend wurde ich ohnmächtig, und beim vierten Tausend drang mir jeder Hieb wie ein Messer ins Herz, jeder Hieb war wie drei, so furchtbar schlugen sie mich! Sie waren schon wütend geworden. Dieses letzte verdammte Tausend (hol es der Teufel! ..) war soviel wert wie die ersten drei, und wäre ich nicht kurz vor dem Ende gestorben (es blieben nur noch zweihundert Hiebe), so hätten sie mich totgeschlagen, aber ich ließ es nicht zu und stellte mich wieder tot; sie glaubten es mir wieder, und wie sollten sie es mir auch nicht glauben, wenn es auch der Arzt glaubte; bei den letzten Zweihundert schlugen sie mich aus Wut so, daß es schrecklicher war als gewöhnliche Zweitausend Spießruten, – aber es gelang ihnen doch nicht, mich totzuschlagen. Und warum gelang es ihnen nicht? Immer aus dem gleichen Grunde, weil ich von Kind auf unter der Knute aufgewachsen bin. Darum bin ich auch heute noch am Leben. Ach, wieviel Schläge habe ich schon in meinem Leben bekommen!« bemerkte er am Schlusse seiner Erzählung, gleichsam in traurige Erinnerungen versunken, als wollte er alle die Schlage zählen, die er schon bekommen hatte. »Aber nein,« fügte er nach einer minutenlangen Pause hinzu, »man kann es gar nicht zählen! Es gibt keine solchen Zahlen.« Er sah mich an und lachte auf, aber so gutmütig, daß ich selbst nicht umhin konnte, ihm zuzulächeln. »Wissen Sie, Alexander Petrowitsch, wenn ich jetzt nachts etwas träume, so nur, daß ich geschlagen werde; andere Träume habe ich überhaupt nicht.« Er pflegte nachts wirklich aus voller Kehle zu schreien, so daß ihn die anderen Arrestanten mit Püffen weckten: »Was schreist du Teufel!« Er war ein kräftiger Bursch, klein gewachsen, lebhaft und heiter, an die fünfundvierzig Jahre alt und lebte mit allen in Frieden, obwohl er gern stahl und deswegen oft verprügelt wurde, aber wer bei uns stahl nicht und bekam dafür keine Prügel?
Ich will noch eines hinzufügen: ich wunderte mich immer über die ungewöhnliche Gutmütigkeit und den Mangel an Gehässigkeit, mit dem alle diese Geschlagenen davon sprachen, wie und von wem sie geschlagen worden waren. In ihren Erzählungen, bei denen mir selbst manchmal das Herz erzitterte und zu klopfen anfing, war oft nicht der geringste Ton von Bosheit oder Haß zu hören. Sie aber lachten dabei wie die Kinder. So erzählte mir z.B. M–cki von seiner Strafe; er war kein Adliger und hatte vierhundert Spießruten laufen müssen. Ich erfuhr es von den anderen und fragte ihn selbst, ob es wahr sei und wie das gewesen wäre. Er antwortete mir eigentümlich kurz, gleichsam mit einem inneren Schmerz, wollte mich dabei nicht anschauen, und sein Gesicht war rot geworden; als er mich nach einer halben Minute ansah, brannten seine Augen vor Haß, und seine Lippen zitterten vor Empörung. Ich fühlte, daß er dieses Kapitel aus seiner Vergangenheit niemals vergessen würde. Aber die unsrigen, fast alle (ich bürge nicht, daß es keine Ausnahmen gegeben hat), sahen die Sache ganz anders an. Es kann doch nicht sein, dachte ich mir zuweilen, daß sie sich als vollkommen schuldig und der Bestrafung wert hielten, besonders wenn sie sich nicht gegen ihre Genossen, sondern gegen die Vorgesetzten vergangen haben. Die meisten von ihnen klagten sich auch gar nicht an. Ich sagte schon, daß ich nie etwas von Gewissensbissen gemerkt hätte, selbst wenn das Verbrechen gegen die eigenen Standesgenossen gerichtet war. Von den Vergehen gegen die Obrigkeit spreche ich schon gar nicht. Mir kam zuweilen vor, als ob in diesem letzteren Falle eine eigentümliche, sozusagen praktische oder, genauer gesagt, faktische Anschauung vorläge. Man zog das Schicksal und die Unanwendbarkeit der Tatsache in Betracht, und zwar nicht irgendwie überlegt, sondern unbewußt, als wäre es eine Glaubenssache. Der Arrestant ist z. B. immer geneigt, sich bei den Vergehen gegen die Obrigkeit im Rechte zu fühlen, und so ist für ihn diese Frage gar nicht denkbar; aber praktisch ist er sich immer bewußt, daß die Vorgesetzten seine Vergehen ganz anders anschauen, und daß er folglich bestraft werden müsse, um die Rechnung zu begleichen. Der Kampf ist hier beiderseitig. Der Verbrecher weiß dabei und zweifelt nicht, daß er vom Gericht seiner Genossen, der einfachen Menschen, gerechtfertigt wird, welche, wie er es wiederum weiß, ihn niemals verurteilen und in den meisten Fällen sogar völlig freisprechen werden, wenn er nur keine Sünde gegen seine Brüder, gegen das ihm verwandte niedere Volk begangen hat. Sein Gewissen ist ruhig, im Gewissen liegt aber seine Kraft, sein sittliches Gefühl ist nicht verletzt, und das ist die Hauptsache. Er fühlt gleichsam, daß er etwas hat, worauf er sich stützen kann, und darum haßt er nicht, sondern nimmt das Geschehene als eine unvermeidliche Tatsache hin, die weder mit ihm begonnen hat, noch mit ihm enden und noch sehr lange unter dem einmal angefangenen passiven, doch hartnäckigen Kampfe fortdauern wird. Welcher Soldat haßt persönlich den Türken, gegen den er Krieg führt? Aber der Türke sticht und schießt doch nach ihm. Übrigens waren nicht alle Erzählungen so ganz kaltblütig und gleichgültig. Über den Leutnant Sherebjatnikow z.B. sprach man mit einiger, wenn auch nicht sehr großen Empörung. Diesen Leutnant Sherebjatnikow lernte ich schon während der ersten Zeit meines Aufenthalts im Hospital kennen, natürlich nur aus den Berichten der anderen Arrestanten. Dann sah ich ihn einmal in natura, als er bei uns die Wache hatte. Er war ein etwa dreißigjähriger Mann, groß gewachsen, dick, fett, mit roten, aufgedunsenen Wangen, weißen Zähnen und dem schallenden Lachen eines Nosdrjow. Person aus Gogols »Toten Seelen«. Anm. d. Ü. Seinem Gesicht konnte man ansehen, daß er der gedankenloseste Mensch auf der Welt war. Er liebte es leidenschaftlich, die Spießruten- und Stockstrafe zu leiten, wenn man ihn zum Vollstrecker bestellte. Ich muß aber hier gleich hinzufügen, daß ich den Leutnant Sherebjatnikow schon damals als ein Ungeheuer unter seinesgleichen ansah; auch die anderen Arrestanten sahen ihn ebenso an. Es gab außer ihm auch noch andere Strafvollstrecker, natürlich nur in der alten Zeit, in der erst kürzlich vergangenen alten Zeit, – »es ist nicht lange her, allein man glaubt es kaum!«, Vollstrecker, die ihre Sache mit großer Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit machten. In den meisten Fällen wurde es aber naiv und ohne besondere Begeisterung gemacht. Doch der Leutnant war beim Strafvollzuge eine Art raffiniertester Feinschmecker. Er hatte für seine Vollstreckungskunst eine leidenschaftliche Liebe, er liebte sie der Kunst wegen. Sie war für ihn ein hoher Genuß, und er erfand wie ein gegen alle Genüsse abgestumpfter, degenerierter Patrizier der römischen Kaiserzeit allerlei Raffinements, allerlei Perversitäten, um seine verfettete Seele einigermaßen aufzurütteln und angenehm zu kitzeln. Da wird ein Arrestant zur Exekution geführt; Sherebjatnikow ist der Vollstrecker; schon ein Blick auf die lange Reihe der mit dicken Stöcken bewaffneten Soldaten versetzt ihn in Begeisterung. Er geht mit selbstzufriedener Miene durch die Reihen und schärft allen energisch ein, daß jeder seine Pflicht eifrig und gewissenhaft tun solle, oder... Aber die Soldaten wußten schon, was dieses »oder« bedeutete. Nun wird auch der Verbrecher selbst gebracht, und wenn er Sherebjatnikow noch nicht kennt und noch nicht alles über ihn gehört hat, so pflegt sich dieser mit ihm z.B. folgenden Spaß zu leisten. (Es ist natürlich nur einer von hundert Späßen; der Leutnant war unerschöpflich in seinen Erfindungen). Ein jeder Arrestant beginnt in dem Augenblick, wo man ihn entkleidet und seine Hände an die Gewehrkolben bindet, an denen ihn dann die Unteroffiziere durch die grüne Gasse führen, – ein jeder Arrestant beginnt, der allgemeinen Sitte folgend, in diesem Augenblick den Vollstrecker mit weinerlicher Stimme anzuflehen, ihn möglichst mild zu strafen und die Strafe nicht durch übermäßige Strenge zu vergrößern. »Euer Wohlgeboren,« schreit so ein Unglücklicher, »erbarmen Sie sich meiner, seien Sie mir wie ein Vater, damit ich mein Leben lang für Sie zu Gott bete! Bringen Sie mich nicht um, haben Sie Mitleid!« Sherebjatnikow wartet nur darauf; er läßt sofort innehalten und beginnt mit der gefühlvollsten Miene folgendes Gespräch mit dem Arrestanten:
»Mein Freund,« sagt er, »was soll ich denn mit dir anfangen? Nicht ich strafe dich, sondern das Gesetz!«
»Euer Wohlgeboren, alles liegt in Ihrer Gewalt, haben Sie Erbarmen!«
»Du glaubst wohl, ich hätte kein Mitleid mit dir? Du glaubst, es sei mir ein Vergnügen, zu sehen, wie man dich schlägt? Ich bin doch auch ein Mensch! Was glaubst du: bin ich ein Mensch oder nicht?«
»Man weiß es ja, Euer Wohlgeboren, man weiß es ja: Sie sind unser Vater, und wir sind die Kinder. Seien Sie mir wie ein Vater!« schreit der Arrestant, der schon zu hoffen beginnt.
»Aber urteile doch selbst, mein Freund! Du bist doch vernünftig genug, um darüber zu urteilen: ich weiß selbst, daß ich aus Menschlichkeit dich, den Sünder, nachsichtig und barmherzig behandeln muß.«
»Euer Wohlgeboren sprechen die reinste Wahrheit!«
»Ja, ich muß dich mit Mitleid anschauen, wie sündig du auch seist. Aber hier hast du nicht mit mir zu tun, sondern mit dem Gesetz! Bedenk es doch! Ich diene ja Gott und dem Vaterlande; ich nehme doch eine schwere Sünde auf mich, wenn ich das Gesetz umgehe, bedenk es doch!«
»Euer Wohlgeboren!«
»Aber was soll ich machen! Deinetwillen will ich es doch tun! Ich weiß, daß ich sündige, aber es sei... Ich will diesmal mit dir Mitleid haben und dich mild bestrafen. Aber was, wenn ich damit dich selbst schädige? Wenn ich mit dir Mitleid habe und dich mild bestrafe, so wirst du dir sagen, daß es auch das nächste Mal ebenso sein wird, wirst wieder ein Verbrechen begehen, – was dann? Die Verantwortung ruht dann doch auf meiner Seele...«
»Euer Wohlgeboren! Jeden Freund und jeden Feind werde ich davor warnen! Ich schwöre es wie vor dem Throne des himmlischen Schöpfers...«
»Ist schon gut, ist schon gut! Willst du mir aber schwören, daß du dich in Zukunft gut aufführen wirst?«
»Der Herr möge mich mit seinem Donner treffen, möge ich auf dieser Welt...«
»Schwöre nicht, es ist Sünde. Ich will einfach deinem Wort glauben. Gibst du mir dein Wort?«
»Euer Wohlgeboren!!!«
»Also höre: ich begnadige dich nur deiner Waisentränen wegen. Du bist doch eine Waise?«
»Ich bin eine Waise, Euer Wohlgeboren, bin einsam auf der Welt, habe weder Vater noch Mutter...«
»Nun, also deiner Waisentränen wegen; aber paß auf, es ist das letzte Mal... Führt ihn!« fügt er mit einer so milden Stimme hinzu, daß der Arrestant gar nicht weiß, mit welchen Gebeten er für diesen Wohltäter zu Gott beten soll.
Die grausame Prozession hat sich aber schon in Bewegung gesetzt, man führt ihn durch die Gasse; die Trommel dröhnt, die ersten Stöcke schwirren durch die Luft...
»Haut zu!« schreit Sherebjatnikow aus voller Kehle. »Schlagt zu! Ordentlich! Brennt ihm das Fell! Noch mehr, noch mehr! Haut ihn, diesen Gauner, diesen Waisenknaben! Ordentlich!«
Die Soldaten hauen aus aller Kraft, dem Ärmsten sprühen Funken aus den Augen, er fängt zu schreien an, aber Sherebjatnikow läuft ihm die Front entlang nach und lacht, lacht, hält sich mit den Händen die Seiten, kann sich gar nicht aufrichten, so leid tut ihm schließlich der Arme. Er ist so froh und lustig, und nur ab und zu unterbricht er sein schallendes, rollendes Lachen und ruft wieder:
»Haut ihn, haut! Heizt ihm ein, dem Gauner, heizt ihm ein, dem Waisenknaben!...«
Manchmal erfand er noch andere Variationen: man führt den Arrestanten zur Exekution, und er fängt wieder zu flehen an. Sherebjatnikow macht diesmal keine langen Geschichten, schneidet keine Grimassen, sondern erklärt ganz aufrichtig:
»Siehst du, mein Lieber,« sagt er, »ich werde dich bestrafen, wie es sich gehört, denn du verdienst es. Aber für dich will ich vielleicht folgendes tun: ich lasse dich nicht an den Kolben anbinden. Du wirst von selbst gehen, aber auf eine neue Manier. Lauf, so schnell du kannst, durch die ganze Front! Dich wird zwar jeder Stock treffen, aber die Sache ist schneller erledigt, wie glaubst du? Willst du es probieren?«
Der Arrestant hört es mit Erstaunen und Mißtrauen an und wird nachdenklich. »Nun,« denkt er sich, »vielleicht wird es so wirklich leichter sein; ich will laufen, so schnell ich kann, die Qual wird fünfmal kürzer dauern, vielleicht wird mich auch nicht jeder Stock treffen.«
»Gut, Euer Wohlgeboren, ich bin einverstanden.«
»Nun, auch ich bin einverstanden, also los! Aber paßt auf, schlaft nicht!« ruft er den Soldaten zu, obwohl er schon im voraus weiß, daß kein einziger Stock den schuldigen Rücken verfehlen wird: ein Soldat, der vorbeigehauen hat, weiß ebenfalls sehr gut, was er riskiert.
Der Arrestant rennt nun, so schnell er kann, durch die »grüne Gasse«, kommt aber natürlich nicht weiter als fünfzehn Schritt: die Stöcke fallen wie Trommelwirbel, wie Blitze, sie treffen alle zugleich seinen Rücken, und der Ärmste stürzt mit einem Schrei, wie ein Grashalm unter einer Sense, wie von einer Kugel getroffen, zu Boden.
»Nein, Euer Wohlgeboren, dann schon lieber nach dem Gesetz,« sagt er, sich langsam vom Boden erhebend, blaß und erschrocken.
Aber Sherebjatnikow, der schon im voraus wußte, wie dieser Spaß enden würde, schüttelt sich vor Lachen. Doch ich kann hier alle seine Späße und alles, was man sich bei uns über ihn erzählte, gar nicht beschreiben!
In einer etwas anderen Weise, in einem anderen Ton und Geist sprach man bei uns über einen Leutnant Smjekalow, der in unserem Zuchthause das Amt des Kommandeurs versehen hatte, bevor unser Platzmajor zu uns kam. Über Sherebjatnikow sprach man zwar ziemlich gleichgültig, ohne besondere Gehässigkeit, aber auch ohne Bewunderung für seine Heldentaten; man lobte ihn nicht und verabscheute ihn wohl. Man hatte für ihn sogar eine hochmütige Verachtung. Aber des Leutnants Smjekalow gedachte man mit Freude und Genuß. Er war nämlich durchaus kein besonderer Liebhaber von Exekutionen, das Sherebjatnikowsche Element war ihm fremd. Aber er war auch gar nicht abgeneigt, eine Exekution zu leiten; an seine Ruten dachte man bei uns sogar mit Liebe zurück – so gut gefiel dieser Mensch den Arrestanten! Weshalb eigentlich? Womit hatte er diese Popularität verdient? Unsere Arrestanten sind freilich, wie wohl das ganze russische Volk, imstande, eines einzigen freundlichen Wortes wegen alle Qualen zu vergessen; ich erwähne dies als eine Tatsache, ohne es diesmal von der einen oder anderen Seite zu untersuchen. Es war nicht schwer, diesen Leuten zu gefallen und sich bei ihnen populär zu machen. Aber Leutnant Smjekalow hatte sich eine ganz besondere Popularität erworben, so daß man sich seiner Exekutionen sogar fast mit Rührung erinnerte. »Er war besser als ein Vater«, sagten die Arrestanten zuweilen von ihm und seufzten sogar, wenn sie ihren früheren provisorischen Vorgesetzten Smjekalow in der Erinnerung mit dem jetzigen Platzmajor verglichen. »Eine Seele von einem Menschen!« – Er war ein einfacher, in seiner Art vielleicht auch gutmütiger Mensch. Nicht nur gute, sondern auch großmütige Menschen kamen unter den Vorgesetzten wohl vor, aber man liebte sie nicht, über manche von ihnen lachte man sogar. Smjekalow verstand es aber so einzurichten, daß ihn alle bei uns für einen Menschen ihresgleichen hielten, und das ist eine große Kunst, oder, genauer gesagt, eine angeborene Fähigkeit. Es ist wirklich merkwürdig: unter diesen Menschen gibt es auch solche, die gar nicht gutmütig sind, und doch erwerben sie zuweilen eine große Popularität. Sie ekeln sich nicht vor ihren Untergebenen, – das scheint mir der Grund zu sein! Sie zeigen nichts von einem verwöhnten Herrn, lassen nichts vom herrschaftlichen Geruch spüren, sondern haben einen eigenen angeborenen volkstümlichen Geruch, und, mein Gott, was für eine feine Nase hat dafür unser Volk! Was gibt es nicht alles dafür her! Es ist sogar imstande, den mitleidvollsten Menschen für einen sehr strengen herzugeben, wenn nur dieser letztere ihren eigenen volkstümlichen Geruch hat. Und wenn dieser so duftende Mensch außerdem noch gutmütig ist, wenn auch nur in seiner Art, – dann wird er über alles geschätzt! Der Leutnant Smjekalow pflegte, wie ich schon sagte, manchmal recht empfindlich zu strafen, aber er verstand es so zu machen, daß man ihm nicht nur nicht böse war, sondern auch später, in meiner Zeit, als alles schon in der Vergangenheit lag, seiner »Späße« bei den Exekutionen mit Lachen und Freude gedachte. Er kannte übrigens nicht viele Späße: dazu fehlte es ihm an künstlerischer Phantasie. Eigentlich verfügte er nur über ein einziges Späßchen, von dem er bei uns fast ein ganzes Jahr lebte; vielleicht gefiel es aber gerade aus dem Grunde, weil es das einzige war. Es steckte in ihm viel Naivität. Da wird der zu einer Strafe verurteilte Arrestant gebracht. Smjekalow kommt selbst zur Exekution, er kommt mit einem Lächeln, mit einem Scherz, fragt den Delinquenten nach etwas Abseitsliegendem, nach seinen persönlichen, häuslichen oder Arrestantenangelegenheiten, und zwar nicht mit irgendeiner versteckten Absicht, nicht zum Spaß, sondern ganz einfach, weil er von diesen Dingen wirklich gern hören will. Man bringt die Ruten und einen Stuhl für Smjekalow; er setzt sich auf den Stuhl und steckt sich sogar eine Pfeife an. Er hatte eine lange Pfeife. Der Arrestant beginnt zu flehen... »Nein, Bruder, leg dich nur, ist nichts zu machen...« sagt Snljekalow; der Arrestant seufzt und legt sich hin. »Nun, mein Lieber, kennst du den und den Bibelvers auswendig?« – »Wie sollte ich ihn nicht kennen, Euer Wohlgeboren: ich bin ja getauft und habe von Kind auf gelernt:« – »Nun, dann sag ihn auf.« Der Arrestant weiß schon, was er aufsagen soll, und er weiß auch im voraus, was bei diesem Aufsagen geschehen wird, denn dieser Spaß ist schon dreißigmal mit anderen wiederholt worden. Auch Smjekalow selbst weiß, daß der Arrestant es weiß; auch die Soldaten, die mit erhobenen Ruten über dem liegenden Opfer stehen, sind über diesen Scherz längst unterrichtet, und dennoch wiederholt er ihn wieder, – so sehr gefällt er ihm, vielleicht aus literarischem Ehrgeiz, weil er ihn selbst erfunden hat. Der Arrestant beginnt den Vers aufzusagen, die Soldaten mit den Ruten warten, Smjekalow sitzt gebückt da, hebt die Hand, hört zu rauchen auf und wartet auf ein bestimmtes Wort. Endlich kommt der Arrestant zu dem Wort »im Himmel«. Smjekalow wartet nur darauf. »Halt!« schreit plötzlich der Leutnant, ganz Feuer und Flamme, und wendet sich sofort mit begeisterter Geste zu dem Soldaten mit der erhobenen Rute und ruft: »Gib's dem Lümmel!«
Und er fängt zu lachen an. Auch die ringsum stehenden Soldaten grinsen; der Schlagende grinst, auch der Geschlagene grinst, obwohl die Rute auf das Kommando »Gib's dem Lümmel« durch die Luft saust, um im nächsten Augenblick scharf wie ein Rasiermesser seinen sündhaften Körper zu treffen. Auch Smjekalow freut sich, er freut sich, weil er es so schön erfunden, weil er es selbst erdacht hat: »im Himmel« – »gib's dem Lümmel«, das reimt sich so schön. Smjekalow geht von der Exekution fort, vollkommen mit sich zufrieden, auch der Geschlagene ist fast zufrieden mit sich und auch mit Smjekalow, und schon nach einer halben Stunde erzählt er im Zuchthause, wie dieser schon dreißigmal wiederholte Scherz nun zum einunddreißigsten Mal wiederholt worden ist. »Mit einem Worte: eine Seele von einem Menschen und solch ein Spaßvogel!«
Die Erinnerungen an den gutmütigen Leutnant hatten zuweilen einen idyllischen Charakter. »Man geht mal vorbei, Brüder,« erzählt ein Arrestant, und sein ganzes Gesicht lächelt bei dieser Erinnerung, »man geht vorbei, er aber sitzt schon in seinem Schlafrock am Fenster, trinkt Tee und raucht die Pfeife. Man zieht vor ihm die Mütze. ›Wohin gehst du denn, Aksjonow?‹ «
» ›Zur Arbeit, Michail Wassiljitsch, zuerst muß ich in die Werkstatt.‹ Da lacht er... Eine Seele von einem Menschen! Mit einem Worte, eine Seele von einem Menschen!«
»Einen zweiten solchen erlebt man nicht!« fügt jemand von den Zuhörern hinzu.
Ich kam soeben auf die Strafen wie auch auf die verschiedenen Vollstrecker dieser interessanten Obliegenheiten eigentlich nur aus dem Grunde zu sprechen, weil ich erst nach meiner Übersiedlung ins Hospital den ersten anschaulichen Begriff von diesen Dingen erhielt. Bisher hatte ich sie nur vom Hörensagen gekannt. In unsere beiden Krankensäle kamen sämtliche mit Spießruten bestraften Angeklagten aus allen Bataillonen, Arrestantenabteilungen und sonstigen Militärkommandos, die in unserer Stadt wie auch im ganzen Kreise lagen. In dieser ersten Zeit, als ich alles, was um mich her geschah, mit solcher Gier studierte, machten alle diese für mich neuen Erscheinungen, alle diese Bestraften und der Bestrafung Entgegensehenden auf mich naturgemäß einen außerordentlich starken Eindruck. Ich war erregt, verwirrt und erschrocken. Ich erinnere mich noch, wie ich damals mit plötzlicher Ungeduld in alle Einzelheiten dieser für mich neuen Erscheinungen einzudringen und den Gesprächen und Berichten der anderen Arrestanten über dieses Thema zuzuhören anfing, wie ich selbst Fragen stellte und Antworten suchte. Unter anderem wollte ich unbedingt alle Abstufungen der Urteile und Exekutionen, alle Gradationen in der Vollstreckung und die Anschauungen der Arrestanten selbst kennenlernen; ich bemühte mich, mir den psychischen Zustand eines zur Exekution Gehenden vorzustellen. Ich sagte schon, daß vor der Exekution kaum jemand seine Kaltblütigkeit bewahrte, selbst diejenigen, die schon oft und stark geschlagen worden sind, nicht ausgeschlossen. Den Verurteilten überfällt hier eine eigene scharfe, schneidende, aber rein physische, unwillkürliche und unüberwindliche Angst, die das ganze sittliche Wesen des Menschen niederdrückt. Ich habe auch in den späteren Zuchthausjahren immer unwillkürlich diejenigen von den Verurteilten beobachtet, die, nachdem sie die erste Hälfte der Strafe verbüßt hatten, mit geheilten Rücken das Hospital verließen, um gleich am nächsten Tage die zweite Hälfte der ihnen zudiktierten Spießruten zu empfangen. Diese Teilung der Strafe in zwei Portionen geschieht immer auf Geheiß des Arztes, der der Exekution beiwohnt. Wenn die für das Verbrechen zudiktierte Zahl der Spießruten sehr groß ist, so daß der Arrestant sie nicht auf einmal überstehen könnte, teilt man ihm diese Anzahl in zwei und sogar drei Portionen, je nach der Meinung des Arztes während der Exekution selbst, d. h. ob der Delinquent imstande ist, noch weiter Spießruten zu laufen oder ob es mit Lebensgefahr für ihn verbunden ist. Fünfhundert, tausend und sogar fünfzehnhundert Spießruten werden gewöhnlich auf einmal verabfolgt; wenn aber das Urteil auf zwei- oder sogar dreitausend lautet, so wird die Vollstreckung in zwei oder sogar drei Teile geteilt. Diejenigen, deren Rücken nach der ersten Hälfte der Strafe wieder verheilt waren und das Hospital verließen, um die zweite Hälfte abzubüßen, waren am Tage ihrer Entlassung und auch schon am Vorabend derselben düster, mürrisch und schweigsam. Man merkte an ihnen eine gewisse Abstumpfung des Geistes, eine eigentümliche unnatürliche Zerstreutheit. So ein Mensch läßt sich in keine Gespräche ein und schweigt meistenteils; noch interessanter ist, daß die Arrestanten selbst mit einem solchen niemals sprechen und sich Mühe geben, die Rede nicht darauf zu bringen, was ihn erwartet. Man bekommt von ihnen weder ein überflüssiges Wort, noch einen Trost zu hören; sie bemühen sich sogar, dem Betreffenden überhaupt möglichst wenig Beachtung zu schenken. Für den Verurteilten ist das natürlich am besten. Es gab aber auch Ausnahmen, wie z.B. Orlow, von dem ich schon erzählte. Nachdem er die erste Hälfte seiner Strafe erhalten hatte, ärgerte er sich nur darüber, daß sein Rücken lange nicht heilen wollte und daß er nicht so schnell, wie er es wollte, das Hospital verlassen konnte, um den Rest der Spießruten zu absolvieren, mit einer Partie anderer Arrestanten verschickt zu werden und unterwegs durchzubrennen. Dieser wurde aber durch sein Ziel abgelenkt, und Gott allein weiß, was er sich alles dachte. Er war eine leidenschaftliche und vitale Natur. Er war sehr zufrieden und außerordentlich erregt, obwohl er seine Empfindungen unterdrückte. Er hatte nämlich vor der ersten Hälfte der Strafe geglaubt, man werde ihn nicht lebend die Spießruten passieren lassen, und er müsse sterben. Als er sich noch im Anklagezustande befand, erreichten ihn verschiedene Gerüchte über die Absichten der Behörden, und er bereitete sich schon damals auf den Tod vor. Als er aber die erste Hälfte absolviert hatte, faßte er neuen Mut. Er kam ins Hospital halb totgeschlagen; ich hatte noch nie solche Wunden gesehen; aber er kam mit freudigem Herzen und mit der Überzeugung, daß er am Leben bleiben werde, daß alle Gerüchte falsch gewesen seien: man habe ihn ja mit dem Leben davonkommen lassen, und so träumte er schon nach der langen Untersuchungshaft vom Marsche mit dem Arrestantentransport, von der Flucht, von der Freiheit, von Feldern und Wäldern... Zwei Tage nach seiner Entlassung starb er im gleichen Hospital auf seinem früheren Bette, da er die zweite Hälfte der Strafe nicht ausgehalten hatte. Aber ich habe davon schon erzählt.
Und doch ertrugen die gleichen Arrestanten, denen die Tage und die Nächte vor der Strafe so schwer fielen, die Strafe selbst höchst tapfer, auch die Kleinmütigsten nicht ausgeschlossen. Nur selten hörte ich sie, sogar die außerordentlich schwer Zugerichteten, selbst in der ersten Nacht nach ihrer Ankunft stöhnen; unser Volk versteht es überhaupt, Schmerzen zu ertragen. Über die Schmerzen habe ich mich bei vielen erkundigt. Ich wollte ungefähr wissen, wie groß diese Schmerzen seien und womit sie sich vergleichen ließen. Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich dafür so sehr interessierte. Ich weiß nur, daß es nicht müßige Neugier war. Ich wiederhole, daß ich erregt und erschüttert war. Aber wen ich auch befragte, konnte ich doch unmöglich eine befriedigende Antwort bekommen. »Es brennt, es brennt wie Feuer«, – das war alles, was ich erfahren konnte, und die einzige Antwort, die ich zu hören bekam. Es brennt und fertig. In der gleichen ersten Zeit befragte ich auch M–cki darüber, nachdem ich ihn näher kennengelernt hatte. »Es tut weh,« antwortete er, »es tut sehr weh, es brennt wie Feuer; es ist ein Gefühl, als würde der Rücken auf großem Feuer gebraten.« Mit einem Worte, alle sagten dasselbe aus. Ich erinnere mich übrigens, daß ich damals eine merkwürdige Beobachtung machte, für deren Richtigkeit ich jedoch nicht einstehe; aber das übereinstimmende Urteil der Arrestanten selbst scheint es zu bestätigen: nämlich, daß die Ruten, wenn sie in großer Anzahl verabfolgt werden, die schwerste von allen gebräuchlichen Strafen darstellen. Auf den ersten Blick müßte es unmöglich erscheinen. Aber man kann mit fünfhundert und sogar schon mit vierhundert Rutenhieben einen Menschen töten; bei mehr als fünfhundert ist der Tod sogar fast sicher. Tausend Rutenhiebe auf einmal kann selbst der kräftigste Mensch nicht ohne Lebensgefahr überstehen. Aber selbst zweitausend Spießruten vermögen einen Menschen von mittlerer Stärke und kräftiger Konstitution nicht zu töten. Alle Arrestanten sagten, daß die Ruten schlimmer als die Spießruten seien. »Die Ruten sind halt schärfer,« sagten die, »und schmerzen mehr.« Natürlich sind die Ruten qualvoller als die Spießruten. Sie reizen stärker, sie erregen maßlos die Nerven und erschüttern den Menschen mehr, als er es aushalten kann. Ich weiß nicht, wie es jetzt damit bestellt ist, aber in der noch gar nicht so weit zurückliegenden Zeit gab es Gentlemans, denen die Möglichkeit, ihr Opfer auszupeitschen, einen Genuß verschaffte, der an den eines Marquis de Sade oder einer Brinvilliers erinnerte. Ich glaube, daß in dieser Empfindung etwas liegt, was bei diesen Gentlemans das Herz, wonnig und zugleich schmerzlich erstarren läßt. Es gibt Menschen, die wie Tiger danach lechzen, Blut zu lecken. Wer nur einmal diese Gewalt, diese unumschränkte Herrschaft über den Leib, über das Blut und den Geist seines Mitmenschen, der so wie er selbst geschaffen ist, seines Bruders nach dem Gebote Christi gekostet hat; wer diese Gewalt und die Möglichkeit kennengelernt hat, ein anderes Geschöpf, das das Ebenbild Gottes in sich trägt, aufs Tiefste zu erniedrigen, – der hat keine Macht mehr über seine Empfindungen. Die Tyrannei wird zu einer Gewohnheit; sie hat die Fähigkeit, sich zu entwickeln, und schreitet wie eine Krankheit fort. Ich bestehe darauf, daß auch der beste Mensch infolge einer Gewöhnung so roh und stumpf wie ein Tier werden kann. Das Blut und die Macht berauschen den Menschen: unter ihrem Einflüsse entwickeln sich Roheit und Zügellosigkeit; dem Geiste und Gefühl werden selbst die unnormalsten Dinge zugänglich und zuletzt auch süß. Der Mensch und der Bürger gehen in dem Tyrannen fast immer zugrunde, und die Rückkehr zur Menschenwürde, zur Reue, zur Wiedergeburt wird ihm schließlich unmöglich. Außerdem wirken das Beispiel und die Möglichkeit einer solchen Willkür auch auf die ganze Gesellschaft ansteckend: in einer solchen Gewalt liegt etwas Verführerisches. Eine Gesellschaft, die sich solchen Erscheinungen gegenüber gleichgültig verhält, ist schon in ihrem tiefsten Kerne angesteckt. Mit einem Worte, das Recht seinen Mitmenschen einer Körperstrafe zu unterziehen, ist eine der Eiterbeulen der Gesellschaft, eines der stärksten Mittel, um in ihr jeden Keim und jeden Versuch einer Zivilisation zu vernichten, und ein ausreichender Grund zu ihrer unvermeidlichen und unbedingten Zersetzung.
Die Gesellschaft verabscheut einen gewöhnlichen Henker, aber einen Gentleman-Henker durchaus nicht. Erst vor kurzem ist eine entgegengesetzte Ansicht ausgesprochen worden, aber nur abstrakt, in Büchern. Sogar diejenigen, die diese Ansicht aussprechen, haben noch nicht alle in sich dieses Bedürfnis nach Willkür erstickt. Sogar jeder Fabrikbesitzer, jeder Unternehmer muß unbedingt ein eigentümliches, kitzelndes Vergnügen in dem Umstande finden, daß sein Arbeiter mit seiner ganzen Familie einzig von ihm abhängt. Es ist sicher so; eine Generation kann sich nicht so schnell von dem losreißen, was in ihr als eine Erbschaft früherer Generationen sitzt; der Mensch sagt sich nicht so schnell von dem los, was ihm ins Blut eingedrungen ist, was er sozusagen mit der Muttermilch eingesogen hat. Es gibt keine so plötzlichen Wandlungen. Seine Schuld und seine Erbsünde zu bekennen, genügt noch lange nicht; man muß sich ihrer gänzlich entwöhnen. Das geschieht aber nicht so schnell.
Ich brachte eben die Rede auf den Henker. Die Eigenschaften eines Henkers sind im Keime in fast jedem Menschen unserer Zeit vorhanden. Aber diese tierischen Eigenschaften entwickeln sich nicht in allen Menschen im gleichen Maße. Wenn sie in jemand, sich stetig entwickelnd, alle seine anderen Eigenschaften besiegen, so wird ein solcher Mensch natürlich schrecklich und abstoßend. Es gibt Henker von zwei Arten: die einen sind freiwillige, die andern unfreiwillige, die dazu gezwungen werden. Ein freiwilliger Henker steht natürlich in allen Beziehungen tiefer als ein unfreiwilliger, den das Volk jedoch bis zu einem Grauen, bis zum Ekel, bis zu einer instinktiven, fast mystischen Angst verabscheut. Woher kommt denn diese fast abergläubische Angst vor dem einen Henker und diese fast gutheißende Gleichgültigkeit gegen den andern? Es gibt außerordentlich seltsame Fälle: ich kannte gutmütige, anständige Menschen, die in der Gesellschaft sogar Achtung genossen, die es jedoch nicht ruhig ertragen konnten, wenn der Delinquent unter den Ruten nicht schrie und nicht um Gnade flehte. Die Delinquenten müssen unbedingt schreien und um Gnade flehen. Das ist einmal Sitte: es gilt als angemessen und notwendig, und als das Opfer einmal nicht schreien wollte, so fühlte sich der Vollstrecker, den ich kannte und der in anderen Beziehungen vielleicht sogar als guter Mensch angesehen werden konnte, persönlich gekränkt. Er wollte anfangs die Strafe auf eine leichte Weise vollstrecken lassen; als er aber die gewohnten Worte: »Euer Wohlgeboren, gnädiger Vater, haben Sie Erbarmen, lassen Sie mich ewig für Sie zu Gott beten usw.« nicht hörte, geriet er in Wut und ließ dem Betreffenden noch weitere fünfzig Rutenhiebe geben, um von ihm das Schreien und Flehen zu erreichen, und er erreichte es auch. »Es geht eben nicht anders, der Mann ist zu verstockt«, erklärte er mir sehr ernsthaft. Was aber den echten, unfreiwilligen, verpflichteten Henker betrifft, so weiß man ja, daß er ein zur Verbannung verurteilter Arrestant ist, den man aber als Henker dabehalten hat, der anfangs bei einem anderen Henker in der Lehre gewesen und nach absolvierter Lehrzeit für immer im Zuchthaus angestellt worden ist, wo er ein besonderes Zimmer für sich allein hat und sogar eine eigene Wirtschaft führt, aber doch fast immer unter militärischer Bewachung steht. Der lebendige Mensch ist natürlich keine Maschine: der Henker schlägt zwar aus Pflicht, gerät aber zuweilen auch in Rage; er schlägt zwar nicht ohne einen gewissen Genuß für sich selbst, hegt aber doch fast niemals einen persönlichen Haß gegen sein Opfer. Die Geschicklichkeit im Schlagen, die Kenntnis dieser Wissenschaft, der Wunsch, sich vor seinen Kollegen und vor dem Publikum zu zeigen, reizen seinen Ehrgeiz. Es ist ihm hauptsächlich um die Kunst als solche zu tun. Außerdem weiß er sehr gut, daß er von allen verstoßen ist, daß er überall mit abergläubischer Angst empfangen und begleitet wird, und es ist sehr wohl möglich, daß dies auf ihn einen gewissen Einfluß hat und seine Wut und seine tierischen Neigungen verstärkt. Sogar die Kinder wissen, daß er »sich von Vater und Mutter losgesagt hat«. Seltsam: alle Henker, die ich traf, waren geistig gut entwickelte Menschen, mit Verstand und Vernunft, mit einem ungewöhnlichen Ehrgeiz und sogar Stolz. Ob sich dieser Stolz als Reaktion gegen die allgemeine Verachtung entwickelt, oder ob er durch das Bewußtsein der Angst, die sie ihren Opfern einflößen, und durch das Gefühl der Herrschaft über sie gesteigert wird, weiß ich nicht zu sagen. Vielleicht begünstigt auch das parademäßige und theatralische Zeremoniell, mit dem sie vor dem Publikum auf dem Schafott erscheinen, in ihnen die Entwicklung eines gewissen Hochmuts. Ich erinnere mich, wie ich eine Zeitlang recht häufig mit einem Henker zusammenkam, den ich aus der Nähe beobachten konnte. Er war ein Kerl von mittlerem Wuchs, muskulös, hager, an die vierzig Jahre alt, mit einem recht angenehmen und klugen Gesicht und Lockenhaar. Er war immer ungewöhnlich ernst und ruhig; äußerlich benahm er sich wie ein Gentleman, beantwortete alle Fragen kurz, vernünftig und sogar freundlich, aber mit einer hochmütigen Freundlichkeit, als sähe er auf mich von oben herab. Die Wachoffiziere knüpften mit ihm oft in meinem Beisein Gespräche an und taten es wirklich mit einer gewissen Achtung ihm gegenüber. Er fühlte es und verdoppelte daher im Gespräch mit einem Vorgesetzten absichtlich seine Höflichkeit, Trockenheit und Würde. Je freundlicher ein Vorgesetzter mit ihm sprach, um so unzugänglicher wurde er selbst; obwohl er dabei nicht im geringsten von der raffiniertesten Höflichkeit abwich, bin ich doch überzeugt, daß er sich in einem solchen Augenblick hoch über den mit ihm redenden Vorgesetzten stellte. Das stand in seinem Gesicht geschrieben. Manchmal wurde er an heißen Sommertagen unter Bewachung, mit einer langen dünnen Stange bewaffnet, in die Stadt geschickt, um die Hunde totzuschlagen. In dieser kleinen Stadt gab es ungewöhnlich viel Hunde, die niemand gehörten und sich mit einer auffallenden Schnelligkeit vermehrten. In der heißen Jahreszeit wurden sie gefährlich, und dann wurde auf Befehl der Obrigkeit der Henker ausgesandt, um sie zu vertilgen. Aber selbst dieses erniedrigende Amt schien ihn in keiner Weise zu erniedrigen. Man muß gesehen haben, mit welcher Würde er durch die Straßen der Stadt spazierte, von einem müden Begleitsoldaten bewacht, schon durch seinen bloßen Anblick die ihm begegnenden Weiber und Kinder erschreckend; wie ruhig und sogar von oben herab er alle Begegnenden ansah. Die Henker haben übrigens ein gutes Leben. Sie besitzen Geld, essen sehr gut und trinken Branntwein. Das Geld bekommen sie als Schmiergeld. Ein Angeklagter aus dem Zivilstande, der nach dem Gerichtsurteil eine Körperstrafe abzubüßen hat, schenkt immer vorher etwas, und sei es auch sein Letztes, dem Henker. Von den andern, von den reichen Angeklagten verlangen sie aber selbst Geld, wobei sie den Betrag in einem gewissen Verhältnis zu dem vermuteten Vermögen des Arrestanten festsetzen: zuweilen lassen sie sich auch dreißig Rubel geben und sogar mehr. Mit sehr reichen feilschen sie sogar tüchtig. Die Strafe in einer sehr milden Form kann der Henker natürlich nicht verabreichen; er haftet ja dafür mit seinem eigenen Rücken. Aber er verspricht dem Opfer für ein gewisses Schmiergeld, nicht allzu schmerzhaft zu schlagen. Man geht auf seinen Vorschlag fast immer ein, sonst kann er tatsächlich barbarisch schlagen; das liegt fast ganz in seiner Gewalt. Es kommt vor, daß er sogar von einem sehr armen Angeklagten eine bedeutende Summe verlangt; die Verwandten desselben gehen zu ihm, handeln, suchen ihn zu erweichen, und wehe dem Armen, wenn sie ihn nicht befriedigen. In solchen Fällen kommt ihm die abergläubische Angst, die er allen einflößt, sehr zu statten. Was für Wunderdinge erzählt man sich nicht über die Henker! Übrigens versicherten mir die Arrestanten selbst, daß der Henker die Möglichkeit habe, den Delinquenten schon mit dem ersten Schlage zu töten. Aber wann ist das schon beobachtet worden? Übrigens ist es auch möglich. Man spricht davon allzu bestimmt. Der Henker selbst versicherte mich, daß er es wohl tun könne. Man erzählte sich auch, daß er die Fertigkeit habe, mit aller Wucht die Knute auf den Rücken des Arrestanten niedersausen zu lassen, aber so, daß sich nach dem Schlage auch nicht die kleinste Strieme zeigte und daß der Verbrecher nicht den geringsten Schmerz empfinde. Übrigens hat man über alle diese Kunststücke und Finessen schon allzu viel Geschichten gehört. Aber wenn der Henker sogar ein Geldgeschenk angenommen hat, um die Strafe in einer milden Weise zu vollziehen, so versetzt er dennoch den ersten Schlag aus aller Kraft und mit voller Wucht. Das ist bei ihnen Sitte. Die folgenden Schläge führt er immer leichter, besonders wenn man ihn vorher bestochen hat. Aber der erste Schlag gehört, ganz gleich, ob man ihn bezahlt hat oder nicht, ihm. Ich weiß wirklich nicht, warum sie es so machen. Um das Opfer sofort an die folgenden Schläge zu gewöhnen, mit der Berechnung, daß nach einem schweren Schlag die leichteren weniger schmerzhaft erscheinen, oder einfach aus dem Wunsche heraus, das Opfer ihre Gewalt fühlen zu lassen, ihm Angst einzujagen, es gleich beim ersten Schlage zu verblüffen, damit es sehe, mit wem es zu tun habe; mit einem Worte, um ihre ganze Kunst und Bedeutung zu zeigen? In jedem Falle befindet sich der Henker vor Beginn der Exekution in erregter Stimmung, er ist sich seiner Gewalt bewußt und fühlt sich als Herrscher; in diesem Augenblick ist er ein Schauspieler; das Publikum staunt über ihn und ist von ihm erschreckt, und er schreit natürlich nicht ohne Genuß seinem Opfer vor dem ersten Schlage zu: »Paß auf, es brennt!« – die üblichen, fatalen Worte in einem solchen Falle. Man kann sich schwer einen Begriff davon machen, wie entsetzlich sich die Menschennatur verunstalten läßt!
In der ersten Zeit im Hospital konnte ich von allen diesen Arrestantenerzählungen gar nicht genug hören. Es war uns allen furchtbar langweilig, so zu liegen. Ein jeder Tag glich so sehr dem andern! Des Morgens zerstreute uns noch der Besuch der Ärzte, und gleich darauf kam das Mittagessen. Das Essen bedeutete bei dieser ewigen Eintönigkeit natürlich eine erhebliche Zerstreuung. Die Kost war verschieden, je nach den Krankheiten der Patienten bestimmt. Die einen bekamen bloß Suppe mit irgendwelchen Graupen; die andern nur einen dünnen Brei, die dritten nur Grießbrei, für den es viele Liebhaber gab. Die Arrestanten waren nach dem langen Liegen verwöhnt und legten großen Wert auf feinere Kost. Die Genesenden und die fast Gesunden bekamen ein Stück gekochtes Rindfleisch, »einen Ochsen«, wie man es bei uns nannte. Am besten war die Kost der Skorbutkranken – Rindfleisch mit Zwiebel, Meerrettich usw., manchmal mit einem Becher Branntwein. Auch das Brot wurde je nach der Krankheit schwarz oder halbweiß ausgegeben und war sehr anständig ausgebacken. Diese offiziellen feinen Unterschiede in der Kost machten den Kranken viel Spaß. Bei manchen Krankheiten aß der Patient natürlich nichts. Dafür aßen die Kranken, die Appetit hatten, was sie wollten. Manchmal tauschten sie ihre Portionen, und so kam die Portion, die für eine bestimmte Krankheit paßte, zu einem Patienten, der etwas ganz anderes hatte. Andere, denen eine herabgesetzte Ration vorgeschrieben war, kauften sich Rindfleisch von den Skorbutkranken und tranken Kwas und Hospitalbier, das sie von denen kauften, denen es verordnet war. Manche verzehrten auch zwei Portionen. Diese Portionen wurden für Geld gekauft und weiterverkauft. Die Rindfleischportion stand recht hoch im Preise; sie kostete fünf Kopeken in Assignaten. Wenn es in unserem Krankensaal niemand gab, dem man etwas abkaufen konnte, so schickte man den Wärter in den anderen Arrestantensaal, und wenn es auch dort niemand gab, so in die Soldatensäle, oder »freien« Säle, wie man sie bei uns nannte. Man konnte immer Liebhaber finden, etwas zu verkaufen. Sie aßen dann nichts als Brot, verdienten sich aber etwas Geld. Im allgemeinen herrschte natürlich Armut, aber die, die Geld hatten, schickten auf den Markt nach Semmeln, sogar Süßigkeiten usw. Unsere Wärter führten alle solche Aufträge vollkommen uneigennützig aus. Nach dem Mittagessen begann die langweiligste Zeit; der eine schlief vor lauter Nichtstun, der andere schwatzte, andere stritten sich und andere wieder erzählten laut irgend etwas. Wenn keine neuen Kranken kamen, war es noch langweiliger. Das Erscheinen eines Neulings machte immer einigen Eindruck, besonders wenn er noch allen unbekannt war. Man musterte ihn genau und bemühte sich zu erfahren, wer und woher er sei und weshalb er ins Zuchthaus komme. Besonders interessierte man sich in solchem Falle für die auf dem Transport befindlichen Arrestanten; diese erzählten immer irgend etwas, übrigens nichts von ihren intimen Angelegenheiten. Wenn der Betreffende nicht selbst die Rede auf solche brachte, fragte man niemals danach aus; man richtete an ihn vielmehr nur solche Fragen wie: Woher des Weges? mit wem? wie ist der Weg? wohin geht es weiter? usw. Manche erinnerten sich beim Anhören eines solchen Berichts ihrer eigenen Erlebnisse und erzählten von verschiedenen Transporten, Partien, Strafvollstreckern und Transportführern. Die mit Spießruten Bestraften erschienen gewöhnlich gegen Abend. Sie machten fast immer einen sehr starken Eindruck, was ich übrigens schon erwähnt habe; aber solche kamen nicht täglich, und an einem Tage, wo man keinen brachte, war es bei uns besonders langweilig; alle hatten einander furchtbar satt, es begannen sogar Streitigkeiten. Man freute sich bei uns sogar über die Verrückten, die man zu uns zur Beobachtung schickte. Das Manöver, Verrücktheit zu simulieren, um der Strafe zu entgehen, wurde von den Angeklagten ab und zu geübt. Die einen wurden sehr schnell entlarvt oder entschlossen sich, genauer gesagt, selbst, ihre Politik zu ändern, und es kam vor, daß ein Arrestant, nachdem er sich zwei oder drei Tage wie wahnsinnig gebärdet hatte, plötzlich gescheit und still wurde und mit düsterer Miene um Entlassung bat. Weder die Arrestanten noch die Ärzte machten einem solchen Vorwürfe wegen seiner bisherigen Kunststücke: man strich ihn stumm aus der Krankenliste, ließ ihn stumm abziehen, und nach zwei oder drei Tagen kam er wieder, bereits bestraft. Solche Fälle kamen übrigens selten vor. Aber die echten Verrückten, die zu uns zur Beobachtung kamen, bildeten für den ganzen Krankensaal eine wahre Strafe Gottes. Gewisse Arten von Verrückten, – die Lustigen, Kecken, Schreienden, Tanzenden und Singenden – wurden übrigens von den Arrestanten fast mit Begeisterung aufgenommen. »Ist das ein Spaß!« pflegten sie beim Eintritt so eines eben hereingebrachten Hanswursts zu sagen. Mir war es aber furchtbar schwer, diese Unglücklichen anzuschauen. Ich konnte einen Verrückten niemals ruhig ansehen.
Übrigens fielen die ununterbrochenen Faxen und unruhigen Streiche so eines mit Gelächter begrüßten Verrückten allen bald auf die Nerven, und schon nach zwei Tagen riß allen die Geduld. Einer von ihnen blieb bei uns im Saale an die drei Wochen, und es war einfach zum Davonlaufen. Wie gerufen erschien bei uns um dieselbe Zeit noch ein anderer Verrückter. Dieser machte auf mich einen sonderbaren Eindruck. Es war im dritten Jahre meines Zuchthauslebens. Im ersten Jahre, oder sogar in den ersten Monaten meines Aufenthaltes im Zuchthause ging ich im Frühjahr als Handlanger mit einer Partie Arrestanten zur Arbeit zwei Werst weit auf eine Ziegelei. Wir mußten für die im Sommer bevorstehende Ziegelfabrikation die Öfen ausbessern. An diesem Morgen machten mich M–cki und B. auf der Ziegelei mit einem dort wohnenden Aufseher, dem Unteroffizier Ostrozski bekannt. Er war Pole, an die sechzig Jahre alt, großgewachsen, hager, von einem äußerst anständigen und sogar respektgebietenden Äußern. Er diente in Sibirien schon seit langer Zeit; obwohl er aus dem einfachen Volke stammte und als Soldat des Heeres vom Jahre 1830 hergekommen war, behandelten ihn M–cki und B. mit Liebe und Achtung. Er las immer in einer katholischen Bibel. Ich unterhielt mich mit ihm, und er sprach freundlich und vernünftig, erzählte interessant und hatte einen gutmütigen und ehrlichen Blick. Nachher sah ich ihn zwei Jahre lang nicht mehr und hörte bloß, daß er unter irgendwelcher Anklage stehe; plötzlich brachte man ihn zu uns in den Krankensaal als einen Verrückten. Er erschien mit einem Gewinsel und Gelächter und fing an, mit den unverständigsten und gemeinsten Gebärden herumzutanzen. Die Arrestanten waren entzückt, mir wurde es aber traurig zu Mute... Nach drei Tagen wußten wir alle nicht mehr, was mit ihm anzufangen. Er zankte, raufte, kreischte, sang selbst in der Nacht und machte so abscheuliche Sachen, daß es uns alle ekelte. Er hatte vor niemand Angst. Man steckte ihn in eine Zwangsjacke, aber dann benahm er sich noch schlimmer, obwohl er ohne die Zwangsjacke stets mit allen zu raufen versuchte. In diesen drei Tagen erhob sich der ganze Krankensaal oft wie ein Mann und bat den Oberarzt, unsern Verrückten in einen anderen Saal zu versetzen. Als er wirklich versetzt wurde, baten die Insassen des anderen Saales schon nach zwei Tagen, man möchte ihn doch wieder zu uns zurückbringen. Da wir aber zufällig zwei Verrückte auf einmal hatten, die beide händelsüchtig und unruhig waren, so wechselten die Krankensäle miteinander ab und tauschten mit ihren Verrückten. Aber es zeigte sich, daß »beide schlimmer waren«. Alle atmeten erleichtert auf, als man sie schließlich von uns irgendwohin wegschaffte...
Ich erinnere mich auch noch an einen anderen merkwürdigen Verrückten. Einmal im Sommer brachte man zu uns einen Verurteilten, einen kräftigen und plumpen Kerl von etwa fünfundvierzig Jahren mit einem von Pocken verunstalteten Gesicht, kleinen, roten Augen und einem außerordentlich düstern und mürrischen Ausdruck. Er bekam einen Platz neben mir. Er erwies sich als ein stiller Mensch; er sprach mit niemand und saß immer so da, als überlege er etwas. Als es Abend wurde, wandte er sich plötzlich an mich.
Er begann mir ohne jede Einleitung, mit einer Miene, als teilte er mir ein außerordentliches Geheimnis mit, zu erzählen, daß er dieser Tage zweitausend Spießruten zu bekommen habe, daß aber daraus nichts werden würde, da sich für ihn die Tochter des Obersten G. verwende. Ich sah ihn erstaunt an und sagte, daß in einem solchen Falle, wie ich glaube, die Tochter des Obersten nichts erreichen könne. Ich ahnte noch nichts; man hatte ihn ja zu uns nicht als einen Verrückten, sondern als einen gewöhnlichen Kranken gebracht. Ich fragte ihn, was ihm fehle. Er antwortete, daß er es nicht wisse und daß man ihn aus irgendeinem Grunde hergebracht habe; er sei aber vollkommen gesund, und die Tochter des Obersten hätte sich in ihn verliebt; sie sei einmal vor vierzehn Tagen an der Hauptwache vorbeigefahren, und er hätte zufällig aus dem vergitterten Fensterchen herausgeschaut. Wie sie ihn erblickt hätte, habe sie sich in ihn sofort verliebt. Seit jener Zeit sei sie schon dreimal unter verschiedenen Vorwänden auf der Hauptwache gewesen; das erste Mal hätte sie mit ihrem Vater ihren Bruder besucht, der als Offizier auf der Hauptwache Dienst hatte; das zweite Mal wäre sie mit ihrer Mutter gekommen, um milde Gaben zu verteilen, und hätte ihm im Vorübergehen zugeflüstert, daß sie ihn liebe und ihn befreien würde. Es war auffallend, mit was für feinen Details er mir diesen ganzen Unsinn erzählte, der natürlich nur eine Ausgeburt seines armen kranken Hirns war. An seine Befreiung von der Strafe glaubte er heilig. Von der leidenschaftlichen Liebe des Fräuleins zu ihm sprach er ruhig und bestimmt, und es war, schon ganz abgesehen von der ganzen Sinnlosigkeit seiner Erzählung, so seltsam, die romantische Geschichte vom verliebten Mädchen aus dem Munde eines bald fünfzigjährigen Mannes mit einem so tristen, erbitterten und abstoßenden Gesicht zu hören. Es ist auffallend, was für einen Eindruck die Furcht vor der Strafe auf diese scheue Seele zu machen vermochte. Vielleicht hatte er wirklich jemand durch das Fensterchen gesehen, so daß der Wahnsinn, den die Angst in ihm zeugte, und der von Stunde zu Stunde anwuchs, plötzlich seinen Ausweg, seine Form fand. Dieser unglückliche Soldat, der vielleicht in seinem ganzen Leben noch nie an ein Fräulein gedacht hatte, erfand plötzlich einen ganzen Roman und klammerte sich instinktiv an diesen Strohhalm. Ich hörte ihn schweigend an und teilte alles den anderen Arrestanten mit. Als aber die andern ihn auszufragen versuchten, verstummte er keusch. Am nächsten Tage fragte ihn der Arzt lange aus, und da er ihm sagte, es fehle ihm nichts und er sich auch nach der Untersuchung als gesund erwies, wurde er aus dem Hospital entlassen. Daß man ihm auf die Liste »sanat.« geschrieben hatte, erfuhren wir erst, als die Ärzte den Saal bereits verlassen hatten und wir ihnen den Sachverhalt nicht mehr erklären konnten. Wir wußten damals auch selbst noch nicht genau, wie es mit ihm stand. Die ganze Sache beruhte aber auf einem Versehen der Obrigkeit, die ihn zu uns geschickt und es unterlassen hatte, zu erklären, weshalb sie ihn schickte. Es war hier eine Fahrlässigkeit passiert. Vielleicht verhielt es sich auch so, daß diejenigen, die ihn zu uns schickten, seine Geisteskrankheit nur vermuteten und von ihr nicht völlig überzeugt waren; vielleicht hatten sie nur dunkle Gerüchte darüber gehört und ihn deshalb zur Beobachtung geschickt. Wie dem auch sei, jedenfalls wurde der Unglückliche nach zwei Tagen zur Exekution geführt. Sie kam ihm anscheinend gänzlich unerwartet; er wollte bis zum letzten Augenblick nicht glauben, daß man ihn wirklich bestrafen würde, und als man ihn durch die Reihen führte, schrie er »Zur Hilfe!« Im Hospital legte man ihn aus Ermangelung eines freien Bettes nicht in unsern Saal, sondern in den andern. Aber ich erkundigte mich nach ihm und erfuhr, daß er im Laufe der ganzen acht Tage mit keinem Menschen ein Wort sprach und außerordentlich bestürzt und betrübt war... Dann schaffte man ihn irgendwohin weg, nachdem sein Rücken verheilt war. Ich habe wenigstens nichts mehr über ihn gehört.
Was aber die Behandlung und die Arzneien betrifft, so befolgten die Leichtkranken, soweit ich feststellen konnte, die ärztlichen Verordnungen nicht und nahmen auch die Arzneien nicht ein; aber die Schwerkranken wie überhaupt die wirklich Kranken ließen sich sehr gern behandeln und nahmen mit großer Pünktlichkeit ihre Mixturen und Pulver ein; besonders gern mochte man bei uns die äußeren Mittel. Schröpfköpfe, Blutegel, heiße Umschläge und Aderlässe, die bei unserem einfachen Volke so sehr beliebt sind und an die es so unerschütterlich glaubt, wurden bei uns gern und sogar mit Vergnügen genossen. Mich interessierte ein sonderbarer Umstand. Diese selben Menschen, die die entsetzlichen Schmerzen unter den Ruten und Stöcken so geduldig ertrugen, jammerten, klagten und stöhnten sogar bei einem paar Schröpfköpfen. Ob sie hier so verzärtelt worden waren oder einfach Komödie spielten, vermag ich nicht zu erklären. Allerdings waren unsere Schröpfköpfe von besonderer Art. Der kleine Apparat, mit dem die Haut in einem Augenblicke durchschnitten wird, hatte der Feldscher vor undenklichen Zeiten verloren oder verdorben, oder vielleicht war er von selbst kaputt gegangen. So mußte man die notwendigen Einschnitte mit der Lanzette machen. Mit dem Apparat tut es gar nicht weh: die zwölf kleinen Messer schlagen plötzlich und gleichmäßig ins Fleisch, und man spürt daher keinen Schmerz. Aber das Einschneiden mit der Lanzette ist eine andere Sache. Die Lanzette schneidet verhältnismäßig langsam, und man spürt den Schmerz; da man aber bei zehn Schröpfköpfen hundertzwanzig solche Einschnitte machen muß, ist das Ganze natürlich sehr empfindlich. Ich habe es selbst erprobt; es war zwar sehr schmerzhaft und unangenehm, aber immerhin nicht so schlimm, daß man sich nicht des Stöhnens enthalten könnte. Es war sogar komisch, manchem großen, kräftigen Kerl zuzusehen, wenn er sich vor Schmerzen wand und zu greinen anfing. Diese ganze Erscheinung läßt sich übrigens mit einer anderen vergleichen: mancher charakterfeste und in ernsten Dingen sogar ruhige Mensch fängt bei sich zu Hause vor lauter Nichtstun Grillen und macht Geschichten, will die ihm angebotenen Speisen nicht essen, schimpft und flucht; nichts will ihm passen, alle ärgern ihn, alle behandeln ihn grob, alle quälen ihn, mit einem Worte, er ist vor lauter Fett toll geworden, wie man von solchen Herren zu sagen pflegt, die übrigens auch im gemeinen Volke vorkommen; in unserem Zuchthause kamen sie aber beim engen Zusammenleben sogar allzu häufig vor. Manchmal fing man in einem der Krankensäle einen solchen Zärtling zu necken an, mancher schimpfte ihn sogar einfach aus; jener wurde sofort still, als hätte er nur darauf gewartet, daß man ihn ausschimpfe, damit er verstummen könne. Solche Geschichten konnte am allerwenigsten Ustjanzew leiden, und er ließ sich keine Gelegenheit entgehen, mit so einem Zärtling Streit anzufangen. Er ließ überhaupt keine Gelegenheit vorüber, sich in Händel einzulassen. Das war für ihn ein Genuß, ein Bedürfnis, natürlich infolge seiner Krankheit, zum Teil auch infolge seiner geistigen Beschränktheit. Er pflegte in solchen Fällen den Betreffenden erst unverwandt und ernst anzusehen und ihm dann mit ruhiger Stimme und Überzeugung eine Predigt zu halten. Alles war seine Sache; als hätte man ihn angestellt, um über die Ordnung und die allgemeine Moral zu wachen.
»Um alles kümmert er sich,« sagten manchmal die Arrestanten lachend. Man schonte ihn übrigens und vermied es, mit ihm zu streiten, sondern machte sich über ihn nur manchmal lustig.
»Wieviel er zusammengeredet hat! Das kann man auch nicht mit drei Fuhren wegschaffen.«
»Was habe ich denn zusammengeredet? Man darf doch nicht vor einem Dummkopf die Mütze ziehen. Warum schreit er so wegen der Lanzette? Liebst du kaltes Bier, so mußt du auch das Eis leiden.«
»Was geht es aber dich an?«
»Nein, Brüder,« unterbrach ihn einer von unseren Arrestanten, »die Schröpfköpfe sind noch nicht so schlimm; ich habe sie gekostet; es gibt keinen ärgeren Schmerz, als wenn man lange am Ohre gezogen wird.«
Alle lachten.
»Hat man dich denn schon am Ohre gezogen?«
»Was glaubst du denn? Natürlich hat man mich am Ohre gezogen.«
»Darum stehen dir die Ohren auch so ab!«
Dieser kleine Arrestant, namens Schapkin, hatte tatsächlich ungewöhnlich lange, auf beiden Seiten abstehende Ohren. Er gehörte zu den Landstreichern, war ein noch junger, tüchtiger und stiller Bursche und sprach immer mit einem eigentümlichen, versteckten Humor, was manchen seiner Erzählungen viel Komisches verlieh.
»Warum hätte ich glauben sollen, daß man dich am Ohre gezogen hat? Wie soll ich darauf kommen, du Dickschädel?« mischte sich wieder Ustjanzew ein, sich empört an Schapkin wendend, obwohl jener gar nicht zu ihm, sondern zu allen gesprochen hatte; Schapkin sah ihn aber nicht einmal an.
»Wer hat dich denn am Ohre gezogen?« fragte jemand.
»Wer? Natürlich der Isprawnik. Es war, als ich mich als Landstreicher herumtrieb, Brüder. Wir kamen damals nach K., wir waren unser zwei, ich und ein anderer, gleichfalls ein Landstreicher, ein gewisser Jefim ohne Familiennamen. Unterwegs hatten wir bei einem Bauern im Dorfe Tolmina unsern Schnitt gemacht. Es gibt so ein Dorf Tolmina. Wir kommen also nach K. und sehen uns um, ob wir nicht auch hier unsern Schnitt machen und dann verduften könnten. Im Felde fühlt man sich frei, in der Stadt hat man aber bekanntlich immer Angst. Vor allen Dingen gehen wir in eine Kneipe und sehen uns um. Da geht auf uns so ein heruntergekommener Kerl zu mit durchlöcherten Ellbogen, in städtischer Kleidung. Ein Wort gibt das andere.
›Wie steht es bei euch, wenn ich fragen darf, mit den Papieren?‹
›Wir haben,‹ sagen wir, ›keine Papiere.‹
›So. Auch ich hab keine. Ich habe hier noch zwei Freunde,‹ sagt er, ›die dienen auch beim General Kuckuck.Das heißt im Walde, wo der Kuckuck ruft. Er will damit sagen, daß auch sie Landstreicher sind. Anm. Dostojewskijs. Also erlaube ich mir die Bitte: wir haben ein wenig gebummelt und sitzen augenblicklich auf dem Trockenen. Wollt ihr uns nicht für eine halbe Flasche Schnaps spendieren?‹
›Mit unserem größten Vergnügen,‹ sagen wir ihm. So tranken wir zusammen. Und da machten sie uns auf eine Sache aufmerksam, auf einen Einbruch, also etwas von unserem Fach. Am Rande der Stadt stand ein Haus, darin wohnte ein Kleinbürger, ein reicher Mann; also nahmen wir uns vor, ihn nachts aufzusuchen. Bei diesem reichen Kleinbürger wurden wir nun alle fünf in dieser selben Nacht erwischt. Man brachte uns aufs Revier und führte uns vor den Isprawnik in eigener Person. ›Ich will sie selbst vernehmen,‹ sagte er. Er kommt mit seiner Pfeife zu uns heraus, man trägt ihm eine Tasse Tee nach, ist ein kräftiger Kerl mit Backenbart. Er setzte sich. Außer uns hatte man aber noch drei andere Landstreicher hingebracht. Ein komischer Mensch ist so ein Landstreicher, Brüder: er kann sich auf nichts besinnen, und wenn man ihm auch den Schädel einschlägt; er hat alles vergessen und weiß von nichts. Der Isprawnik wendet sich zuerst an mich. ›Wer bist du?‹ Es klang so hohl, wie aus einem Fasse. Natürlich sage ich dasselbe wie alle: ›Ich kann mich auf nichts besinnen, Euer Hochwohlgeboren, ich habe alles vergessen.‹
›Wart,‹ sagt er, ›ich werde mit dir noch reden, deine Visage kommt mir bekannt vor.‹ Dabei glotzt er mich an. Ich habe ihn aber vorher noch nie gesehen. Dann wendet er sich an einen andern: ›Wer bist du?‹
›Reißaus, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Heißt du so: Reißaus?‹
›Ja, ich heiße so, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Na, gut, Reißaus. Und du?‹ fragt er einen dritten.
›Auch ich, Euer Hochwohlgeboren‹
›Ist das dein Name: Auch ich?‹
›Ja, so heiße ich: Auch ich, Euer Hochwohlgeboren‹
›Wer hat dich denn so genannt, Schurke?‹
›Die guten Menschen haben mich so genannt, Euer Hochwohlgeboren. Es gibt auf der Welt, wie man weiß, genug gute Menschen, Euer Hochwohlgeboren‹
›Wer sind denn diese guten Menschen?‹
›Die habe ich alle vergessen, Euer Hochwohlgeboren, verzeihen Sie es mir großmütig.‹
›Hast alle vergessen?‹
›Alle vergessen, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Du hast aber doch Vater und Mutter gehabt?... Kannst dich wenigstens ihrer erinnern?‹
›Es ist anzunehmen, daß ich welche gehabt habe, Euer Hochwohlgeboren, übrigens habe ich auch das vergessen; vielleicht hab ich wirklich welche gehabt, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Wo hast du denn bisher gelebt?‹
›Im Walde, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Immer im Walde?‹
›Immer im Walde.‹
›Nun, und im Winter?‹
›Vom Winter habe ich nichts gemerkt, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Nun und du, wie heißt du?‹
›Beil, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Und du?'
›Schleif-es-schnell, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Und du?‹
›Mach-es-scharf, Euer Hochwohlgeboren.‹
›Ihr könnt euch alle auf nichts besinnen?‹
›Wir können uns auf nichts besinnen, Euer Hochwohlgeboren.‹
»Er steht da und lacht, und auch sie lächeln bei seinem Anblick. Ein anderes Mal kann er ja einen auch in die Zähne hauen, wenn man gerade Pech hat. Es sind aber lauter kräftige, stämmige Burschen. Man führe sie alle ins Zuchthaus, sagt er, ›ich werde mit ihnen noch später reden; du aber bleibst hier!‹ Damit meint er mich. ›Komm her und setz dich!‹ Ich sehe einen Tisch, Papier und eine Feder. Was hat er wohl vor? frage ich mich. ›Setz dich,‹ sagt er, ›auf den Stuhl, nimm die Feder und schreib!‹ Mit diesen Worten packt er mich am Ohr und beginnt zu ziehen. Ich schaue ihn an, wie der Teufel einen Popen anschaut. ›Ich versteh nicht zu schreiben,‹ sage ich, ›Euer Hochwohlgeboren.‹ – ›Schreib!‹
›Haben Sie Erbarmen, Euer Hochwohlgeboren!‹ – ›Schreib, wie du es eben verstehst, schreib!‹ Dabei zieht er mich immer am Ohr und fängt es plötzlich zu drehen an! Es wäre mir lieber, wenn er mir dreihundert Rutenhiebe gegeben hätte, es tat so weh, daß mir die Funken aus den Augen sprühten. Er aber schreit immerzu: ›Schreib!‹
»War er denn verrückt geworden?«
»Nein, gar nicht verrückt. Vor kurzem hatte aber in T–sk ein Schreiber einen üblen Streich angestellt: hatte Staatsgelder gestohlen und war damit durchgebrannt, auch er hatte abstehende Ohren. Das teilte man natürlich allen Behörden mit. Das Signalement schien auf mich zu passen, darum wollte er mich prüfen, ob ich zu schreiben verstehe und wie ich schreibe.«
»Solche Sachen, Bursche! Tat es weh?«
»Ich sage ja, es tat sehr weh.«
Es erscholl allgemeines Gelächter
»Nun, und hast du was geschrieben?«
»Was habe ich schreiben können? Ich fuhr mit der Feder lange auf dem Papier herum und gab es dann auf. Er versetzte mir so an die zehn Ohrfeigen und ließ mich abführen, d. h. natürlich ins Zuchthaus.«
»Verstehst du überhaupt zu schreiben?«
»Früher einmal habe ich es gekonnt, als man aber anfing, mit Federn zu schreiben, da habe ich es verlernt...«
Unter solchen Erzählungen oder, genauer gesagt, unter solchem Geschwätz verging manchmal unsere langweilige Zeit. Mein Gott, war das eine Langeweile! Die Tage waren lang und schwül und einer genau wie der andere. Wenn man wenigstens irgendein Buch hätte! Indessen kam ich aber, besonders in der ersten Zeit, recht oft ins Hospital, manchmal wirklich krank, und manchmal, um einfach zu liegen; so kam ich für eine Zeit aus dem Zuchthause heraus. Schwer war es dort, noch schwerer als im Hospital, seelisch schwer. Bosheit, Feindschaft, Streitigkeiten, Neid, ewige Schikanen gegen uns Adlige, böse, drohende Gesichter. Aber hier im Hospital stand man mehr auf dem gleichen Fuß und vertrug sich besser. Die traurigste Tageszeit war immer am Abend, wenn das Licht brannte, vor Anbruch der Nacht. Man legte sich früh schlafen. Das trübe Nachtlicht leuchtet in der Ferne bei der Tür als ein heller Punkt, aber an unserm Ende herrscht Halbdunkel. Es wird immer stickiger und schwüler. Mancher kann nicht einschlafen; er steht auf und sitzt an die anderthalb Stunden auf dem Bette, den Kopf mit der Nachtmütze gesenkt, als denke er über etwas nach. Man schaut ihm eine ganze Stunde zu und bemüht sich zu erraten, worüber er wohl nachdenken mag, um auf diese Weise die Zeit totzuschlagen. Oder man beginnt zu phantasieren, sich der Vergangenheit zu erinnern, in der Phantasie entstehen große, leuchtende Bilder; man besinnt sich auf solche Einzelheiten, die einem zu einer anderen Zeit niemals eingefallen wären und die man auch nicht so empfunden hätte wie jetzt. Oder aber man stellt Vermutungen über seine Zukunft an: Wie werde ich das Zuchthaus verlassen? Wohin werde ich mich wenden? Wann wird es geschehen? Werde ich je in meine Heimat zurückkehren? Man denkt und denkt, und im Herzen regt sich eine Hoffnung... Manchmal zählt man aber einfach eins, zwei, drei usw., um bei diesem Zählen einzuschlafen. Zuweilen zählte ich bis dreitausend und schlief doch nicht ein. Da beginnt einer sich im Bette herumzuwälzen. Ustjanzew hustet krank und schwindsüchtig, fängt dann leise zu stöhnen an und spricht jedesmal: »Mein Gott, ich habe gesündigt« Es ist so seltsam, seine kranke, gerissene, jammernde Stimme inmitten der allgemeinen Stille zu hören. Auch in einem anderen Winkel schläft man noch nicht und unterhält sich, auf den Betten liegend. Der eine fängt etwas aus seinem Vorleben zu erzählen an, von ferner Vergangenheit, von seiner Landstreicherei, von Frau und Kindern, von der alten Zeit. Und man hört es schon dem fernen Geflüster an, daß er das, wovon er erzählt, niemals wieder erlebt und daß er selbst, der Erzähler, wie ein von einem Laibe abgeschnittenes Stück Brot ist; ein anderer hört ihm zu. Man hört nur ein leises, eintöniges Geflüster, es klingt wie das Nieseln eines fernen Wassers... Ich erinnere mich, wie ich in einer langen Winternacht eine Erzählung hörte. Sie erschien mir im ersten Augenblick wie ein Fiebertraum, als läge ich im Fieber und hörte alles nur in der Phantasie...
(Eine Erzählung)
Es war recht spät in der Nacht, wohl gegen zwölf. Ich war schon einmal eingeschlafen, wachte aber plötzlich auf. Der Krankensaal war von der trüben, kleinen Flamme eines fernen Nachtlichts kaum erleuchtet... Fast alle schliefen schon. Selbst Ustjanzew schlief, und ich konnte in der Stille hören, wie schwer er atmete und wie in seinem Halse bei jedem Atemzuge der Schleim schäumte. Im fernen Flur erklangen plötzlich die schweren Schritte der Nachtrunde. Ein Gewehrkolben schlug am Boden auf. Die Türe zu unserm Saal wurde aufgemacht: der Gefreite ging auf den Fußspitzen von Bett zu Bett und zählte die Kranken. Nach einer Minute wurde der Saal wieder geschlossen, ein neuer Wachtposten trat vor die Türe, die Ablösung entfernte sich, und alles war wieder still. Jetzt erst merkte ich, daß zwei Sträflinge links in meiner Nähe nicht schliefen und miteinander zu tuscheln schienen. Es kam in den Krankensälen nicht selten vor, daß zwei monatelang nebeneinander lagen, ohne auch nur ein Wort zu sagen und plötzlich in einer so herausfordernden Nachtstunde ins Gespräch kamen, in dem sie ihre ganze Vergangenheit auskramten.
Ihr Gespräch hatte offenbar schon seit langem begonnen. Der Anfang war mir unbekannt, und ich konnte auch jetzt nicht alles hören. Allmählich gewöhnte ich mich aber an den Tonfall und begann jedes Wort zu verstehen. Ich lag schlaflos da, – was sollte ich denn anders tun, als zuhören?... Der eine erzählte mit großem Eifer, auf seinem Bette halb liegend, den Kopf erhoben und den Hals in der Richtung nach seinem Freunde vorgestreckt. Er war offenbar erhitzt und erregt und hatte das Bedürfnis, zu erzählen. Der andere saß aber mürrisch und durchaus gleichgültig mit ausgestreckten Beinen auf seinem Bett, brummte ab und zu etwas als Antwort oder als Zeichen der Teilnahme, eher aber nur des Anstandes wegen und stopfte sich jeden Augenblick eine neue Portion Tabak in die Nase. Es war der Soldat der Strafkompagnie Tscherewin, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, ein mürrischer Pedant, kalter Raisonneur und eingebildeter Narr. Der Erzähler Schischkow war ein noch junger Bursche von etwa dreißig Jahren, ein Zivilsträfling von den unsrigen und arbeitete in der Nähstube. Ich hatte ihm bisher wenig Beachtung geschenkt und spürte auch während meines ferneren Zuchthauslebens wenig Lust, mich mit ihm abzugeben. Er war ein hohler, etwas verdrehter Kerl. Manchmal schwieg er, hielt sich abseits von allen, war unfreundlich und sprach wochenlang kein Wort. Manchmal mischte er sich aber in irgendeine Geschichte ein, begann zu intrigieren, fuhr wegen irgendeines Unsinns ans der Haut, rannte aus der einen Kaserne in die andere, verbreitete allerlei Klatschgeschichten und tat furchtbar aufgeregt. Wenn man ihn verprügelte, wurde er wieder still. Er war ein feiger und charakterloser Mensch. Alle behandelten ihn mit einer gewissen Geringschätzung. Er war klein gewachsen, ziemlich hager und hatte unruhige Augen, die aber manchmal auch blöde und versonnen blickten. Wenn er etwas erzählen wollte, begann er immer mit großem Feuer und lebhaften Handbewegungen, brach aber die Erzählung entweder plötzlich ab oder kam unvermittelt auf andere Dinge zu sprechen, ließ sich von neuen Einzelheiten hinreißen und vergaß, wovon er hatte sprechen wollen. Er fluchte oft, und wenn er fluchte, so warf er dem andern immer irgendein Vergehen vor und sprach dabei mit großem Gefühl, beinahe mit Tränen... Er spielte gern und recht gut die Balalaika und pflegte an Feiertagen sogar zu tanzen. Er tanzte gar nicht schlecht, wenn man ihn dazu zwang... Man konnte ihn sehr leicht bewegen, irgendetwas zu tun... Er tat es weniger aus Gehorsam als aus dem Bestreben, sich den andern anzufreunden und aus Freundschaft gefällig zu sein.
Ich konnte lange nicht verstehen, wovon er erzählte. Anfangs hatte ich auch den Eindruck, als ob er sein Thema immer wechselte und sich von Nebensächlichkeiten hinreißen ließe. Vielleicht sah er auch, daß Tscherewin sich für seine Erzählung gar nicht interessierte; er schien sich aber selbst einreden zu wollen, daß sein Zuhörer ganz Ohr sei, und es täte ihm vielleicht sehr weh, wenn er sich vom Gegenteil überzeugt hätte.
»... Und wenn er mal auf den Markt kam,« sagte er fortfahrend, »so verneigten sich alle vor ihm, und alle fühlten, daß er ein reicher Mann ist.«
»Du sagst, er hätte einen Handel gehabt?«
»Na ja, einen Handel. Sonst sind die Kleinbürger bei uns lauter Bettler. Die Weiber schleppen das Wasser vom Fluß das steile Ufer Gott weiß wie weit hinauf, um die Gemüsegärten zu begießen; sie rackern sich furchtbar ab und haben im Herbst doch kaum soviel, daß sie sich eine Kohlsuppe kochen können. Er hatte aber große Äcker, hielt sich drei Ackerknechte, hatte auch eine eigene Imkerei, handelte mit Honig und Vieh, genoß also bei unseren Verhältnissen das größte Ansehen. War schon recht alt, an die siebzig, hatte schwere Knochen, war ganz schwer und grau. Wenn er in seinem Fuchspelz auf den Markt kam, erwiesen ihm alle große Ehren. ›Guten Tag, Väterchen, Ankudim Trofimytsch!‹ – ›Und wie geht es dir?‹ fragte er drauf. ›Schlecht wie immer, und Euch, Väterchen?‹ – ›Es geht,‹ sagte er, ›soweit es unsere Sünden erlauben, auch wir machen den Himmel russig.‹ – ›Gott gebe Euch ein langes Leben, Ankudim Trofimytsch!‹ Niemand war ihm zu gering, wenn er aber etwas sagte, so galt jedes seiner Worte einen Rubel. War ein Schriftgelehrter, konnte lesen und las immer in göttlichen Büchern. Pflegte seine Alte vor sich hinzusetzen und zu sagen: ›Frau, hör zu!‹ Und begann ihr die Schrift zu erklären. Die Frau war aber gar nicht so alt: sie war seine zweite Frau, er hatte sie geheiratet, um Kinder zu kriegen, denn von der ersten Frau hatte er keine. Von der zweiten, von Marja Stepanowna hatte er aber zwei minderjährige Söhne; den Jüngsten, Wassja, kriegte er, als er schon in den Sechzigern war, die Älteste aber, Akuljka, war achtzehn.«
»War das deine Frau?«
»Wart einmal, zuerst hatte Filjka Morosow sie angeschwärmt. Dieser Filjka sagte einmal zu Ankudim: ›Du mußt mit mir ehrlich teilen und die ganzen vierhundert Rubel hergeben. Bin ich etwa dein Knecht? Ich will mit dir weder handeln noch deine Akuljka nehmen. Ich will mich jetzt‹, sagte er, ›meines Lebens freuen. Meine Eltern‹, sagte er, ›sind gestorben, also will ich das ganze Geld verputzen, dann mich für jemand andern als Soldat anwerben lassen und nach zehn Jahren als Feldmarschall zurückkehren.‹ Ankudim gab ihm das Geld und rechnete mit ihm alles ab: er hatte ja mit seinem Alten gemeinsame Geschäfte gehabt. ›Ein verlorener Mensch bist du!‹ sagte er ihm. Und jener drauf: ›Ob ich ein verlorener Mensch bin oder nicht, aber bei dir, du grauer Bart, kann man schon lernen, Milch mit einer Schusterahle zu löffeln. An jedem Pfennig‹, sagt er, ›willst du was verdienen und hebst dir jeden Dreck auf, ob du ihn nicht in deinen Brei tun kannst. Ich spucke‹, sagt er, ›drauf. Du sparst und sparst und kaufst dir schließlich den Teufel. Ich aber habe‹, sagt er, ›einen Charakter. Deine Akuljka nehme ich doch nicht: habe auch so schon mit ihr geschlafen...‹
›Wie wagst du es,‹ sagt Ankudim, ›die ehrliche Tochter eines ehrlichen Vaters so zu beschimpfen? Wann hast du mit ihr geschlafen, du Schlangentalg, du Hechtblut?‹ Und dabei zittert er am ganzen Leibe. So erzählte es Filjka selbst.
›Und nicht nur, daß ich selbst sie nicht nehme,‹ sagt er ihm, ›ich will es auch so einrichten, daß kein Mensch deine Akuljka nimmt, auch Mikita Grigorjitsch nicht, denn sie ist jetzt ein entehrtes Mädel. Ich hab mit ihr schon im Herbst zusammengelebt. Und jetzt gehe ich auch für hundert Krebse nicht darauf ein. Versuch's nur: gib mir hundert Krebse, – ich nehme sie nicht!‹
»Der Bursche fing also zu saufen an! So, daß die Erde stöhnte, daß die ganze Stadt dröhnte. Er warb sich ein Rudel Freunde an, hatte einen Haufen Geld, trieb es drei Monate so und versoff alles bis auf den letzten Heller. ›Wenn ich das ganze Geld versoffen habe,‹ pflegte er zu sagen, ›so versaufe ich auch noch das Haus, versaufe alles und geh dann entweder unter die Soldaten oder werde Landstreicher!‹ Den ganzen Tag vom Morgen bis zum Abend war er besoffen und fuhr zweispännig mit Schellengeläute herum. Und wie ihn erst die Mädels liebten, gar nicht zu sagen! Er verstand gut den Dudelsack zu spielen.«
»Er hat also mit der Akuljka auch vorher schon zu schaffen gehabt?«
»Wart'. Auch ich hatte damals meinen Vater beerdigt. Meine Mutter buk Kuchen, wir arbeiteten für den Ankudim und lebten davon. Das Leben war gar nicht gut. Wir hatten zwar hinter dem Walde einen Acker und säten Korn, verloren aber bald nach dem Tode des Vaters alles, denn auch ich fing um jene Zeit zu saufen an, mein Lieber. Von der Mutter erpreßte ich Geld mit Schlägen...«
»Das ist nicht schön, mit Schlägen; es ist eine große Sünde.«
»Oft war ich vom Morgen bis zum Abend besoffen, Bruder. Das Haus, das wir hatten, war gar nicht schlecht, und wenn auch durchfault, doch unser. Doch im Hause war es so leer, daß man darin Hasen jagen konnte. Manchmal hungerten wir ganze Wochen lang und hatten nichts als Lumpen zu kauen. Die Mutter schimpfte manchmal ordentlich, aber das rührte mich nicht. Damals war ich immer mit Filjka Morosow. Vom Morgen bis zum Abend war ich mit ihm. ›Spiel,‹ sagt er, ›mir auf der Gitarre auf und tanz', und ich werde liegen und mit Geldstücken nach dir werfen, denn ich bin jetzt der reichste Mann.‹ Was er nicht alles anstellte! Aber gestohlenes Gut nahm er nicht an: ›Ich bin‹, sagte er, ›ein ehrlicher Mensch und kein Dieb.‹ – ›Kommt‹, sagt er einmal, ›wir wollen der Akuljka das Tor mit Pech beschmieren,In russischen Dörfern pflegt man das Tor am Hause eines Mädchens, das gefehlt hat, mit Pech zu beschmieren. Anm. d. Ü. denn ich will nicht, daß Mikita Grigorjitsch sie kriegt. Das ist mir wichtiger als Haferbrei.‹ Der Alte wollte nämlich das Mädel schon vorher mit Mikita Grigorjitsch verheiraten. Mikita war auch ein alter Mann, Witwer, trug eine Brille und trieb Handel. Als er hörte, daß man von der Akuljka zu munkeln anfing, wollte er gleich zurücktreten: ›Das wird‹, sagte er, ›eine große Unehre für mich sein, Ankudim Trofimytsch, und ich will meines Alters wegen gar nicht heiraten.‹ Da beschmierten wir ihr das Tor mit Pech. Nun fing man sie deswegen zu prügeln an... Marja Stepanowna schrie: ›Ich mach ihr den Garaus!‹ Und der Alte: ›In alten Zeiten, unter den Patriarchen, würde ich,‹ sagte er, ›eine solche Tochter auf dem Scheiterhaufen in Stücke hauen; heute ist aber in der Welt nichts als Finsternis und Moder.‹ Die Nachbarn hörten Akuljka oft tagelang schreien: man schlug sie mit Ruten vom Morgen bis zum Abend. Filjka schreit aber auf dem Markte, daß es alle hören: ›Eine feine Dirne ist diese Akuljka, eine gute Saufschwester! Hält sich sauber, hält sich rein, trinkt mit jedem Bier und Wein! Ich hab den Leuten‹, sagt er, ›einen Brei eingebrockt, daß sie meiner lange denken werden.‹ Um jene Zeit traf ich einmal Akuljka, wie sie mit den Eimern zum Wasserholen ging, und rief ihr zu: ›Guten Tag, Akulina Kudimowna! Meine Hochachtung! Bist so sauber, bist so nett, sag, mit wem du gehst zu Bett!‹ Nun dieses sagte ich ihr. Sie blickte mich aber an und hatte so große Augen, war dabei mager wie ein Span. Sie sah mich nur an, aber ihre Mutter glaubte, daß sie mit mir scherzte, und schrie ihr aus dem Tore zu: ›Was grinst du wieder, du Schamlose?‹ Und sie fing sie wieder zu schlagen an. Eine ganze Stunde prügelte sie sie. ›Ich schlage sie tot,‹ schrie sie dabei, ›denn sie ist mir keine Tochter mehr!‹ «
»War also eine liederliche Dirne?«
»Hör' nur weiter, Onkelchen. Wie ich so mit dem Filjka saufe, kommt einmal meine Mutter zu mir. Ich liege aber besoffen da. ›Was liegst du herum, du Räuber?‹ sagt sie zu mir und fängt wieder zu schimpfen an. ›Heirate doch‹, sagt sie zu mir, ›die Akuljka. Die Leute werden jetzt froh sein, wenn du sie nimmst. Ganze dreihundert Rubel will man dir geben.‹ Ich sage ihr darauf: ›Sie ist ja vor der ganzen Welt entehrt!‹ – ›Bist ein Narr,‹ sagte sie, ›die Haube deckt alles zu. Und für dich ist es auch besser, wenn sie sich ihr Leben lang vor dir schuldig fühlt. Mit dem Gelde können wir aber wieder auf die Beine kommen. Ich hab' auch schon mit Marja Stepanowna gesprochen. Sie ist einverstanden.‹ – ›Wenn man mir gleich zwanzig Rubel auf den Tisch legt,‹ sage ich, ›so heirate ich.‹ Und nun war ich, du magst es mir glauben oder nicht, bis zur Hochzeit immerzu besoffen. Filjka Morosow drohte mir aber: ›Ich werde dir, du Akuljkas Mann, alle Rippen entzwei schlagen und mit deinem Weib, wenn's mir paßt, jede Nacht schlafen.‹ Ich ihm darauf: ›Du lügst, Hundeblut!‹ Da tat er mir auf offener Straße Schande an. Ich kam nach Hause gelaufen und sagte: ›Ich heirate nicht, wenn man mir nicht sofort noch fünfzig Rubel auf den Tisch legt.'«
»Wollte man sie dir denn hergeben?«
»Mir? Warum denn nicht? Wir waren doch nicht ehrlos! Mein Vater hatte ja erst kurz vor dem Tode sein Hab und Gut bei einer Feuersbrunst verloren, vorher waren wir aber reicher als Akuljkas Eltern. Ankudim sagt uns also: ›Ihr seid elende Bettler!‹ Und ich ihm drauf: ›Hat man bei euch etwa das Tor nicht mit Pech beschmiert?‹ – ›Tu nicht so stolz, beweise zuerst, daß sie wirklich ehrlos ist. Man kann doch nicht jedes Lästermaul verstopfen. Hier ist die Türe, kannst gehen. Brauchst sie nicht zu nehmen. Aber das Geld, das du schon bekommen hast, mußt du mir wieder herausgeben.‹ Da beschloß ich mit Filjka Morosow, dem Ankudim durch Mitjka Bykow anzusagen, daß ich ihm nun vor der ganzen Welt Schande antun werde. Und dann war ich bis zum Hochzeitstage besoffen. Erst kurz vor der Trauung wurde ich nüchtern. Als wir aus der Kirche heimkamen und uns hinsetzten, sagte Mitrofan Stepanytsch – das war ihr Onkel: ›Die Sache ist, wenn auch nicht in allen Ehren, aber fest und endgültig abgemacht.‹ Auch der alte Ankudim war besoffen und weinte; er saß da, und die Tränen liefen ihm den Bart herunter. Ich machte es aber so, Bruder: ich steckte mir eine Peitsche in die Tasche; die hatte ich mir noch vor der Trauung angeschafft und beschlossen, an Akuljka mein Mütchen zu kühlen, weil sie mich auf diese ehrlose Weise heiratete: Sollen nur die Leute wissen, daß ich nicht so dumm bin und mich nicht anschwindeln lasse...«
»Das war vernünftig! Sie sollte es also gleich von Anfang an zu spüren bekommen...«
»Nein, Onkelchen, schweig' und hör' zu. Bei uns ist es Sitte, daß die Neuvermählten gleich nach der Trauung in die Kammer gesperrt werden. Die Gäste bleiben aber da und trinken. So brachte man mich also mit der Akulina in die Kammer. Ganz blaß sitzt sie da, hat keinen Tropfen Blut im Gesicht. War wohl furchtbar erschrocken. Ihre Haare waren weiß wie Flachs. Große Augen hatte sie. Und sie schwieg immer, nie hörte man ihre Stimme: es war, wie wenn eine Stumme im Hause lebte. War auch sonst so eigen. Nun stelle es dir vor, Bruder: ich hatte die Peitsche angeschafft und neben dem Bett bereitgelegt, und sie... sie zeigte sich ohne jede Schuld vor mir!«
»Was du nicht sagst!«
»Ohne jede Schuld! Wie die ehrliche Tochter aus einem ehrlichen Hause. Und warum mußte sie all die Pein über sich ergehen lassen? Warum hatte sie Filjka Morosow vor der ganzen Welt entehrt?!«
»Ja, ja!«
»Ich springe also aus dem Bett, knie gleich vor ihr nieder und lege die Hände wie im Gebet zusammen. ›Mütterchen,‹ sag' ich ihr, ›Akulina Kudimowna, verzeih' mir, dem Dummen, daß auch ich dich für so eine hielt! Verzeih' mir,‹ sag' ich, ›dem gemeinen Kerl!‹ Sie aber sitzt vor mir auf dem Bett, schaut mich an, hat mir beide Hände auf die Schultern gelegt und lacht... Und dabei laufen ihr die Tränen die Wangen herunter, sie weint und sie lacht... Ich ging aber zu den Gästen hinaus und sagte: ›Wenn ich jetzt den Filjka Morosow erwische, so gnade ihm Gott!‹ Die Alten wußten vor Freude gar nicht, zu wem sie beten sollten. Die Mutter heulte und fiel vor ihr beinahe in die Knie. Der Alte aber sagte: ›Wenn wir es wüßten, so hätten wir dir einen ganz andern Mann gegeben, geliebte Tochter!‹ Am ersten Sonntag nach der Hochzeit ging ich aber mit ihr in die Kirche: ich habe eine Lammfellmütze auf und einen Kaftan vom feinsten Tuch und plüschene Pluderhosen an; und sie einen Pelz aus Hasenfellen und ein seidenes Kopftuch, – mit einem Worte – ich bin ihrer wert, und sie ist meiner wert! Ja, nobel sahen wir aus! Die Leute schauen und haben ihre Freude an uns. Ich bin eben ich, und was die Akulina betrifft, so kann ich sie doch vor den andern weder loben, noch tadeln: sie ist halt wie sie ist!..«
»Also gut.«
»Nun hör' weiter. Am andern Morgen nach der Hochzeit lief ich besoffen, wie ich war, aus dem Hause. Ich renne durch die Stadt und schreie: ›Gebt mir den Filjka Morosow her, zeigt mir mal den Schurken!‹ So schreie ich durch den Markt. Man fing mich erst vor dem Wlassowschen Hause ein, und drei Männer brachten mich mit Gewalt nach Hause. In der Stadt spricht man aber schon über die Sache. Die Mädchen auf dem Markte sagen zu einander: ›Wißt ihr, Mädels, das Neueste? Die Akuljka ist ja ehrlich gewesen!‹ Filjka sagt mir aber bald darauf vor anderen Leuten: ›Verkauf' mir dein Weib, dann kannst du immer besoffen sein. Bei uns,‹ sagt er, ›hat es den Soldaten Jaschka gegeben, der hat nur dazu geheiratet: hat mit seinem Weibe kein einziges Mal geschlafen, war aber dafür drei Jahre lang besoffen.‹ – ›Bist ein Schuft!‹ sage ich ihm. – ›Und du bist ein Narr!‹ antwortet er mir: ›Du warst ja besoffen, als man dich traute. Was konntest du in deinem Rausche sehen, ob sie ehrlich war oder nicht?‹ Ich kam nach Hause und schrie: ›Ihr habt mich im Rausche verheiratet!‹ Meine Mutter wollte für die Akulina eintreten, ich sagte ihr aber: ›Du hast dir die Ohren mit Gold verhängen lassen, Mütterchen. Gebt mir die Akuljka her!‹ Und nun fing ich sie zu prügeln an. Und ich prügelte sie, Bruder! Zwei Stunden lang prügelte ich sie, bis ich vor Müdigkeit umfiel; drei Wochen lang lag sie dann zu Bett.«
»Gewiß,« bemerkte Tscherewin phlegmatisch, »wenn man so ein Weibsbild nicht schlägt, so... Hast du sie denn mit einem Liebhaber erwischt?«
»Nein, das nicht,« erwiderte Schischkow nach einer Pause mit einiger Anstrengung. »Aber ich konnte es mir nicht gefallen lassen: auf Schritt und Tritt neckten mich die Leute, und Filjka stiftete alle dazu an. ›Du hast zur Frau einen Affen, damit die Leute gaffen!‹ sagte er mir. Einmal lud er uns alle zu Gast ein und hielt so eine Rede: ›Seine Gemahlin‹, sagte er, ›ist eine barmherzige Seele, edel und höflich, freundlich und zu jedermann gut, – so hoch schätzt er sie jetzt! Der Bursche hat wohl ganz vergessen, wie er ihr das Tor mit Pech beschmiert hat!‹ Ich saß besoffen da; er packte mich aber an den Haaren und drückte mir den Kopf hinunter. ›Tanz',‹ sagte er, ›Akuljkas Mann, tanz': ich werde dich bei den Haaren halten, du aber sollst tanzen und mein Herz erfreuen!‹ – ›Gemeiner Kerl!‹ schreie ich. Und er drauf: ›Ich will mit der ganzen Gesellschaft zu dir ins Haus kommen und deine Frau Akuljka vor deinen Augen mit Ruten peitschen, soviel es mir beliebt!‹ Du magst mir glauben oder nicht: ich fürchtete nachher einen ganzen Monat, aus dem Hause zu gehen, denn ich dachte mir, er könnte wirklich kommen und mir diese Schande antun. Dafür fing ich sie eben zu schlagen an...«
»Was nützt das Schlagen? Man kann dem Menschen Wohl die Hände binden, aber nicht die Zunge. Viel schlagen ist unvernünftig. Bestrafe die Frau, bring' ihr Respekt bei und sei dann wieder lieb zu ihr. Dafür ist sie ja dein Weib!«
Schischkow schwieg eine Weile.
»Es wurmte mich zu sehr,« begann er wieder, »und dann war es mir schon zur Gewohnheit geworden: manchmal schlug ich sie den ganzen Tag vom Morgen bis zum Abend. Es paßte mir nicht, wie sie stand, und es paßte mir nicht, wie sie ging. Wenn ich sie nicht schlug, langweilte ich mich. Sie sitzt meistens schweigend da, blickt zum Fenster hinaus und weint... Sie weint immerzu, es tut mir weh, zu sehen, wie sie weint, ich schlage sie aber doch. Meine Mutter schimpft mich zuweilen deswegen. ›Ein Schuft bist du,‹ sagt sie mir, ›ein Zuchthausbraten!‹ – ›Ich bringe sie um!‹ schreie ich darauf: ›Niemand darf mir was sagen, denn man hat mich mit ihr betrogen.‹ Anfangs nahm sich der alte Ankudim seiner Tochter an. Er kam selbst zu mir und sagte: ›Du bist doch nicht Gott weiß wer: gegen dich kann man schon einen Richter finden!‹ Dann gab er es auf. Marja Stepanowna wurde aber ganz kleinlaut. Einmal kommt sie zu mir und bittet unter Tränen: ›Verzeih die Belästigung, Iwan Sjemjonytsch, die Bitte ist nicht groß,‹ sagt sie und verbeugt sich vor mir: ›Laß mich wieder aufleben, beruhige dich und verzeihe ihr! Böse Menschen haben unsere Tochter verleumdet: du weißt ja selbst, daß sie ehrlich war, als du sie bekamst...‹ Sie verneigt sich vor mir bis zum Boden und weint. Ich aber schreie sie an: ›Ich will auf euch gar nicht hören! Jetzt tue ich, was mir paßt, denn ich habe keine Gewalt mehr über mich. Filjka Morosow‹ sage ich, ›ist aber mein bester Freund und Kumpan...‹ «
»Ihr habt wohl wieder zusammen gesoffen?« »Ach wo, mit ihm war nichts mehr anzufangen. Er war schon ganz heruntergekommen. Hatte seine ganze Habe verputzt und sich von einem Kleinbürger an Stelle seines ältesten Sohnes unter die Soldaten anwerben lassen. Bei uns ist es aber Sitte, daß einer, der sich an Stelle eines andern anwerben läßt, bis zu dem Tag, wo man ihn in die Kaserne abführt, der Herr im Hause ist und alle vor ihm auf dem Bauche liegen. Das ausbedungene Geld kriegt er erst in dem Augenblick, wo er einrückt; bis dahin lebt er aber oft ein halbes Jahr im Hause des Betreffenden und treibt es so, daß man einfach die Heiligenbilder hinaustragen kann! Es heißt eben: ›Ich gehe ja an Stelle eures Sohnes unter die Soldaten, also bin ich euer Wohltäter, und ihr müßt mir alle Ehren erweisen; sonst trete ich noch zurück!‹ So trieb es auch Filjka bei dem Kleinbürger: er schläft mit der Tochter, zerrt den Vater jeden Nachmittag am Barte herum und tut alles, was ihm einfällt. Jeden Tag muß man ihm das Dampfbad einheizen, statt Wasser Schnaps auf die glühenden Steine gießen, und die Weiber müssen ihn auf Händen in die Badestube tragen. Wie er von irgendeiner Sauferei heimkommt, bleibt er auf der Straße stehen und sagt: ›Durchs Tor gehe ich nicht: brecht mir den Zaun auf!‹ Und man bricht ihm wirklich den Zaun neben dem Tore auf, damit er passieren kann, Schließlich war diese Herrlichkeit zu Ende. Man machte Filjka nüchtern und setzte ihn in einen Wagen, um ihn in die Stadt zu bringen. Das Volk drängt sich auf den Straßen: Filjka Morosow wird abgeführt! Er verbeugt sich nach allen Seiten. Akuljka geht aber gerade vom Gemüsegarten heim. Wie Filjka sie vor unserem Hofe sieht, schreit er: ›Halt!‹, springt vom Wagen und verbeugt sich vor ihr bis zur Erde. ›Meine Seele,‹ sagt er ihr, ›liebster Schatz, zwei Jahre lang hab ich dich geliebt, und jetzt bringt man mich mit Musik unter die Soldaten. Vergib mir,‹ sagt er, ›du ehrliche Tochter eines ehrlichen Vaters, denn ich bin ein gemeiner Kerl und tief in deiner Schuld!‹ Und er verbeugte sich vor ihr wieder bis zur Erde. Akuljka blieb stehen, war anfangs wohl erschrocken, verbeugte sich aber dann vor ihm und sagte: ›Vergib auch du mir, du kühner Bursche, ich aber habe dir nichts vorzuwerfen.‹ Und sie geht ins Haus. Ich ihr nach. ›Was hast du ihm gesagt, du Hundefleisch?‹ Sie blickte mich aber an und sagte: ›Du magst mir glauben oder nicht: Ich liebe ihn ja jetzt mehr als das Leben!‹
»Das ist gut!«
»Den ganzen Tag sagte ich ihr kein Wort. Am Abend aber: ›Akuljka, jetzt bringe ich dich um.‹ Nachts kann ich nicht einschlafen. Wie ich in den Flur gehe, um etwas Kwas zu trinken, geht gerade die Sonne auf. Ich komme in die Stube zurück und sage: ›Akuljka, steh auf, wir fahren ins Feld.‹ Ich sprach aber auch schon vorher davon, daß ich am Morgen ins Feld fahren will, und meine Mutter wußte es. ›Das ist vernünftig,‹ hatte sie gesagt, ›denn es ist just die Erntezeit, der Knecht aber liegt seit drei Tagen krank und hat Bauchweh.‹ Ich spanne den Wagen an und sage kein Wort. Gleich vor unserer Stadt beginnt der Wald; er zieht sich fünfzehn Werst weit hin, und dann kommt auch unser Acker. Als wir drei Werst durch den Wald gefahren waren, ließ ich das Pferd halten. ›Akuljka‹, sage ich, ›steig aus: nun ist dein Ende gekommen.‹ Sie schaut mich erschrocken an, steht vor mir und schweigt, ›Ich habe dich satt,‹ sage ich ihr, ›sprich dein Gebet!‹ Und ich packe sie an den Zöpfen – sie hatte so lange, dicke Zöpfe –, wickele sie mir um die Hand, presse sie von hinten mit beiden Knien fest zusammen, hole mein Messer aus dem Busen, biege ihr den Hals zurück und fahre ihr mit dem Messer über die Kehle... Sie schreit auf, das Blut spritzt empor, ich werfe das Messer fort, umfasse sie vorne mit den Armen, falle nieder, halte sie umarmt und schreie, auf ihr liegend, was ich schreien kann... Sie schreit und ich schreie. Sie zappelt und will sich aus meinen Armen befreien, das Blut aber fließt und fließt mir aufs Gesicht und auf die Hände. Ich ließ sie liegen – so eine Angst kam über mich – ließ auch das Pferd stehen und fing zu laufen an. Ich lief und lief und kam schließlich nach Haus und verkroch mich in die Badestube. Wir hatten so eine alte Badestube, die man nicht mehr gebrauchte, im Hofe stehen. Ich versteckte mich unter eine Bank und liege da. Bis zum Abend lag ich unter der Bank.«
»Und Akuljka?«
»Sie stand wohl gleich nach mir auf und wollte auch nach Hause. Man fand sie später hundert Schritte von jener Stelle liegen.«
»Hast sie also nicht fertig geschlachtet?«
»Ja...« Schischkow schwieg eine Weile.
»Es gibt so eine Ader,« bemerkte Tscherewin, »wenn man die nicht sofort durchschneidet, so wird der Mensch lange zappeln und kann, so viel Blut er auch verliert, niemals sterben.«
»Sie starb aber doch. Abends fand man sie tot liegen. Man zeigte es gleich an, begann mich zu suchen und fand mich in derselben Nacht in der Badestube!... So lebe ich hier schon fast vier Jahre,« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu.
»Hm... Gewiß, wenn man sein Weib nicht prügelt, erlebt man nichts Gutes,« bemerkte Tscherewin kühl und belehrend, seine Schnupftabakdose hervorholend. Er schnupfte lange und umständlich. »Du aber, Bursche,« sagte er fortfahrend, »bist einfach dumm, wie ich sehe. Ich habe auch einmal mein Weib mit einem Liebhaber erwischt. Ich ließ sie in die Scheune kommen, legte eine Pferdeleine doppelt zusammen und fragte: ›Wem willst du Treue schwören? Wem willst du Treue schwören?‹ Und ich schlug sie und schlug sie mit der Pferdeleine; an die anderthalb Stunden schlug ich sie. ›Die Füße werde ich dir waschen‹, schrie sie, ›und das Wasser trinken!‹ Awdotja hat sie geheißen.«
Nun haben wir schon Anfang April, und die Osterwoche naht heran. Allmählich beginnen auch die Sommerarbeiten. Die Sonne scheint von Tag zu Tag wärmer und heller; die Luft duftet nach Frühling und reizt den ganzen Organismus. Die nahenden schönen Tage regen auch den in Fesseln geschmiedeten Menschen auf und wecken in ihm irgendwelche Wünsche, ein Drängen, eine Sehnsucht. Ich glaube, daß man unter hellen Sonnenstrahlen noch starker um die Freiheit trauert als an einem trüben Winter- oder Herbsttage, und das kann man allen Arrestanten ansehen. Sie scheinen sich über die heiteren Tage zu freuen, zugleich steigert sich aber in ihnen eine gewisse Ungeduld und Unruhe. Ich glaube wirklich bemerkt zu haben, daß es im Frühjahre im Zuchthause mehr Streit gab. Man hörte öfter Lärm, Geschrei und Radau, alle machten Geschichten; zugleich fiel mir aber manchmal während der Arbeit mancher nachdenkliche Blick auf, der unverwandt in die blaue Ferne, auf das andere Irtyschufer gerichtet war, wo die freie kirgisische Steppe begann, die sich in unermeßlicher Ausdehnung, vielleicht anderthalbtausend Werst weit hinzog; ich hörte manchen tiefen Seufzer aus voller Brust, als wollte der Mensch diese ferne, freie Luft einatmen und mit ihr seine erdrückte, gefesselte Seele erleichtern. »Ach ja!« sagt schließlich der Arrestant und packt plötzlich, als hätte er sich von seinen Träumen und Gedanken losgerissen, ungeduldig und mürrisch das Grabscheit oder die Tracht Ziegelsteine, die er von einem Ort nach einem anderen schleppen muß. Nach einer Minute hat er diese plötzliche Empfindung schon vergessen und beginnt zu lachen oder zu schimpfen, je nach seinem Charakter; oder aber er macht sich mit einem ungewöhnlichen, der Notwendigkeit gar nicht entsprechenden Eifer an das ihm aufgegebene Pensum und beginnt zu arbeiten, aus aller Kraft, als wollte er durch die Last der Arbeit etwas erdrücken, was ihn in seinem Innern bedrückt und bedrängt. Es sind ja lauter kräftige Leute, zum größten Teil in der Blüte der Jahre und der Kraft... Schwer sind die Fesseln um diese Zeit! Ich sage das nicht als Poet und bin von der Richtigkeit meiner Wahrnehmung vollkommen überzeugt. Außerdem kommen einem in der Wärme, bei hellem Sonnenschein, wenn man mit seinem ganzen Wesen die ringsum mit unbändiger Kraft wiedererwachende Natur fühlt, das zugesperrte Gefängnis, die Bewachung und der fremde Wille noch schwerer vor; zudem beginnt um diese Frühlingszeit, zugleich mit dem ersten Lerchengesang, in ganz Sibirien und in ganz Rußland die Landstreicherei: die Menschen Gottes fliehen aus den Zuchthäusern und retten sich in die Wälder. Nach dem schwülen Loch, nach den Gerichtsverhandlungen, Fesseln und Spießruten wandern sie nach ihrem freien Willen, wo sie nur wollen, wo es ihnen schöner und freier erscheint; sie trinken und essen was sich gerade trifft, was ihnen Gott schickt, und schlafen nachts friedlich irgendwo im Walde, ohne große Sorgen, ohne die Schwermut des Zuchthauses, wie die Vögel des Waldes, vor dem Einschlafen unter dem Auge Gottes nur den Sternen des Himmels gute Nacht sagend. Wer wird es bestreiten: manchmal ist dieser »Dienst beim General Kuckuck« schwer, hungrig und erschöpfend. Manchmal bekommt man tagelang kein Stück Brot zu sehen; man muß sich vor allen in acht nehmen und verstecken, man muß auch stehlen und rauben, zuweilen auch morden. »Ein Ansiedler ist wie ein kleines Kind: was er auch sieht, muß er sofort haben,« sagt man in Sibirien von den Ansiedlern. Dieses Sprichwort kann in seinem ganzen Umfange und sogar in noch höherem Grade auf die Landstreicher angewandt werden. Der Landstreicher ist nur in seltenen Fällen kein Räuber und fast immer ein Dieb, natürlich mehr aus Not als aus Beruf. Es gibt eingefleischte Landstreicher. Manche werden es sogar nach Absolvierung der Zwangsarbeit, nachdem sie aus dem Zuchthause entlassen worden und Ansiedler geworden sind. Man sollte doch meinen, der Mensch könne als Ansiedler froh sein und sich versorgt fühlen. Aber nein! Etwas lockt ihn immer irgendwohin. Das Leben in den Wäldern, dieses dürftige, schreckliche, aber freie und an Abenteuern reiche Leben hat etwas Verführerisches und übt einen geheimnisvollen Zauber auf alle aus, die es schon einmal gekostet haben. So flieht manchmal ein bescheidener, zuverlässiger Mensch, der ein guter, seßhafter Ansiedler und ein tüchtiger Landwirt zu werden versprach, und wird Landstreicher. Mancher hat sogar geheiratet und Kinder gezeugt, hat schon fünf Jahre an einem Platze gelebt und ist plötzlich an einem schönen Morgen verschwunden, zum Erstaunen seiner Frau und seiner Kinder und der ganzen Landgemeinde, der er zugeteilt ist. Man zeigte mir bei uns im Zuchthause einmal so einen eingefleischten Ausreißer. Er hatte keinerlei besondere Verbrechen begangen, man hatte jedenfalls nichts davon gehört, floh aber immerzu und verbrachte sein ganzes Leben auf der Flucht. Er war schon an der Südrussischen Grenze jenseits der Donau gewesen, in der Kirgisischen Steppe, in Ostsibirien, im Kaukasus, überall. Wer weiß, vielleicht wäre aus ihm unter anderen Umständen bei seiner leidenschaftlichen Wanderlust ein zweiter Robinson Crusoe geworden. Dies alles habe ich übrigens von anderen gehört, er selbst sprach im Zuchthause sehr wenig und nur das Allernotwendigste. Er war ein kleines Männchen, schon an die fünfzig Jahre alt, außerordentlich friedlich mit einem ungewöhnlich ruhigen, sogar stumpfen Gesichtsausdruck, dessen Ruhe schon an Idiotie grenzte. Im Sommer saß er gern in der Sonne und summte dabei irgendein Liedchen vor sich hin, doch so leise, daß man es fünf Schritte weit nicht mehr hörte. Seine Gesichtszüge waren irgendwie starr; er aß wenig, hauptsächlich Brot; noch niemals hatte er sich eine Semmel oder ein Gläschen Branntwein gekauft, er besaß wohl auch kaum jemals Geld, ich bezweifele sogar, ob er zu zählen verstand. Er nahm alles vollkommen gleichgültig hin. Die Zuchthaushunde fütterte er manchmal aus eigener Hand, was bei uns sonst niemand tat. Wie auch der Russe überhaupt nicht gern Hunde füttert. Man erzählte sich, er sei verheiratet gewesen, sogar zweimal, und habe irgendwo Kinder... Aus welchem Grunde er ins Zuchthaus geraten war, ist mir gänzlich unbekannt. Wir alle erwarteten, daß er aus dem Hospital durchbrennen würde, aber entweder war seine Zeit noch nicht gekommen, oder er war schon zu alt dazu geworden; er lebte friedlich dahin und nahm die ganze seltsame Umgebung beschaulich auf. Garantieren konnte man für ihn übrigens nicht, obwohl man meinen sollte, daß er keinen Grund zum Durchbrennen hätte und auch keinen Vorteil davon haben würde. Im großen Ganzen ist aber das Landstreicherleben im Walde ein Paradies im Vergleich zum Zuchthausleben. Das ist ja sehr begreiflich, und ein Vergleich ist überhaupt nicht möglich. Das Landstreicherleben ist zwar schwer, aber frei. Darum überkommt jeden Arrestanten in Rußland, wo er auch sitzen mag, im Frühjahr, zugleich mit den ersten freundlichen Strahlen der Frühlingssonne eine eigentümliche Unruhe. Obwohl bei weitem nicht jeder Fluchtabsichten hat: man darf positiv behaupten, daß dazu sich infolge der großen Schauerigkeiten und des Risikos nur einer von hundert Arrestanten entschließt; dafür geben sich aber die übrigen neunundneunzig wenigstens Träumen darüber hin, wie und wohin sie fliehen könnten, und verschafften sich durch den bloßen Wunsch, durch die bloße Vorstellung der Flucht einen gewissen Trost. Mancher erinnert sich dabei, wie er früher einmal geflohen ist... Ich spreche jetzt nur von den endgültig Verurteilten. Natürlich entschließen sich aber zur Flucht viel häufiger solche, die sich im Anklagezustand befinden. Die für eine bestimmte Frist Verurteilten fliehen höchstens nur ganz am Anfang ihres Zuchthauslebens. Nachdem ein Arrestant zwei oder drei Jahre Zuchthaus absolviert hat, fängt er an, diese Jahre zu schätzen, und entschließt sich allmählich, lieber die ihm zudiktierte Zeit der Zwangsarbeit auf eine gesetzliche Weise zu absolvieren und dann Ansiedler zu werden, als ein so böses Ende im Falle eines Mißerfolges zu riskieren. Ein Mißerfolg ist aber so sehr möglich. Höchstens einem von zehn gelingt es, »sein Los zu verändern«. Von den Verurteilten entschließen sich zur Flucht am häufigsten solche, die eine lange Strafzeit vor sich haben. Fünfzehn oder zwanzig Jahre erscheinen als eine Unendlichkeit, und ein zu dieser Frist Verurteilter ist immer geneigt, an die Veränderung seines Loses zu denken, selbst wenn er schon zehn Jahre im Zuchthause verbracht hat. Schließlich bilden auch die Brandmale ein gewisses Hindernis für die Flucht. »Sein Los verändern« ist ein technischer Ausdruck. So antwortet auch ein Arrestant bei gerichtlicher Vernehmung, wenn er bei einem Fluchtversuch erwischt worden ist, daß er »sein Los habe verändern wollen«. Dieser etwas literarisch klingende Ausdruck ist für die Sache im buchstäblichen Sinne bezeichnend. Jeder Ausreißer hat weniger die Absicht, vollkommene Freiheit zu erlangen, – er weiß, daß dies fast unmöglich ist, – sondern entweder das Zuchthaus zu wechseln oder Ansiedler zu werden oder unter einer neuen Anklage wegen eines Verbrechens, das er bereits als Landstreicher begangen hat, vors Gericht zu kommen, mit einem Worte, an einen beliebigen Ort zu geraten, nur nicht in das alte, verhaßte Zuchthaus. Alle diese Ausreißer, wenn sie im Laufe des Sommers keinen zufälligen, ungewöhnlichen Ort gefunden haben, wo sie überwintern könnten, wenn sie z.B. nicht auf einen Hehler von Flüchtlingen gestoßen sind, der daraus ein Geschäft macht; oder wenn sie sich nicht durch einen Mord einen Paß verschafft haben, mit dem sie überall leben können, – so kommen sie alle im Herbst, wenn man sie nicht schon vorher eingefangen hat, haufenweise in die Städte, um als Landstreicher in den Zuchthäusern zu überwintern, natürlich nicht ohne Hoffnung, im Sommer wieder zu fliehen.
Auch ich empfand den Einfluß des Frühlings. Ich erinnere mich noch, mit welcher Gier ich zuweilen durch die Spalten in den Palisaden hinausspähte und lange, mit dem Kopf an unsern Zaun gelehnt, dastand, unverwandt und unersättlich hinausblickend, wie auf unserem Festungswalle das Gras sproßte und wie der ferne Himmel immer blauer wurde. Meine Unruhe und meine Sehnsucht wuchsen von Tag zu Tag an, und das Zuchthaus wurde mir immer verhaßter. Der Haß, den ich als Adliger im Laufe der ersten Jahre seitens der anderen Arrestanten zu spüren bekam, wurde mir unerträglich und vergiftete mein ganzes Leben. In diesen ersten Jahren begab ich mich oft, ohne krank zu sein, ins Hospital, nur um nicht im Zuchthause zu bleiben und mich von diesem allgemeinen hartnäckigen, durch nichts zu besänftigenden Haß zu befreien. »Ihr seid eiserne Schnäbel, ihr habt uns totgepickt!« sagten uns die Arrestanten. Wie beneidete ich da oft die einfachen Leute, die ins Zuchthaus kamen! Diese wurden sofort Kameraden der übrigen. Darum rief auch der Frühling, das Gespenst der Freiheit, der allgemeine Jubel in der Natur auch in mir eine traurige Stimmung und Gereiztheit hervor. Gegen Ende der großen Fasten, ich glaube in der sechsten Woche, hatte ich mich durch Beichte und Kirchenbesuch auf den Empfang des Abendmahles vorzubereiten. Unser ganzes Zuchthaus war schon in der ersten Fastenwoche vom ältesten Unteroffizier in sieben Gruppen, der Zahl der Fastenwochen entsprechend, eingeteilt worden. In jeder Gruppe waren an die dreißig Mann. Diese Woche des täglichen Kirchenbesuches gefiel mir sehr gut. Die sich auf das Abendmahl Vorbereitenden waren von aller Arbeit befreit. Wir gingen zwei- und dreimal täglich in die Kirche, die sich nicht weit vom Zuchthause befand. Ich war lange nicht mehr in der Kirche gewesen. Der Fastengottesdienst, der mir aus meiner fernen Kindheit im Elternhause so gut vertraut war, die feierlichen Gebete, die tiefen Verbeugungen, – dies alles weckte in meiner Seele längst Vergangenes und rief mir die Eindrücke meiner Kinderjahre in Erinnerung, und ich besinne mich noch, wie angenehm es war, wenn wir morgens über den im Laufe der Nacht leicht gefrorenen Erdboden, unter Bewachung von Soldaten mit geladenen Gewehren ins Gotteshaus geführt wurden. Die Wachen betraten die Kirche übrigens nicht. In der Kirche stellten wir uns in einem dichten Haufen am Eingang auf dem allerletzten Platze auf, so daß wir höchstens die laute Stimme des Diakons hören und ab und zu durch die Volksmenge den schwarzen Ornat und die Glatze des Geistlichen sehen konnten. Ich erinnerte mich, wie ich als Kind in der Kirche zuweilen das einfache Volk betrachtete, das sich an der Tür drängte und jedem Träger von dicken Epauletten, jedem dicken Herrn und jeder reichgeputzten, aber außerordentlich frommen Dame, die unbedingt zu den vordersten Plätzen gingen und bereit waren, sich um diese ersten Plätze zu streiten, den Weg freigab. Ich hatte damals den Eindruck, daß dort am Eingange anders gebetet wurde als bei uns; demütig, andächtig, mit tiefen Verbeugungen und mit vollem Bewußtsein der eigenen Erniedrigung.
Nun mußte auch ich auf denselben Platzen stehen, sogar auf einer tieferen Stufe: wir waren ja in Fesseln geschlagen und gebrandmarkt; alle wichen vor uns aus, man schien uns sogar zu fürchten; man gab uns jedesmal Almosen, und ich erinnere mich, wie angenehm es mir war und was für ein eigentümliches, raffiniertes Gefühl darin lag. »Wenn schon, denn schon!« dachte ich mir. Die Arrestanten beteten mit großer Andacht, und jeder von ihnen brachte jedesmal seine armselige Kopeke für die Kerzen oder für den Opferstock mit. »Auch ich bin ein Mensch,« dachte und fühlte er vielleicht, indem er sein Scherflein gab, »vor Gott sind wir ja alle gleich...« Wir empfingen das Abendmahl bei der Frühmesse. Als der Geistliche mit dem Kelch in der Hand die Worte sprach: »... aber nimm mich wie einen Schacher an,« – da fielen wir fast alle, mit den Fesseln klirrend, zu Boden, als bezöge jeder diese Worte auf sich selbst.
Nun kam auch schon die Osterwoche. Von der Behörde erhielten wir je ein Ei und je eine Scheibe feines Weizenbrot. Aus der Stadt wurde das Zuchthaus wieder mit Gaben überschüttet. Wieder kam der Geistliche mit dem Kreuz, wieder erschienen die Vorgesetzten, wir bekamen wieder fette Kohlsuppe, es gab wieder Sauferei und müßiges Umherschlendern, genau wie zu Weihnachten, bloß mit dem Unterschiede, daß man jetzt schon auf dem Zuchthaushofe herumspazieren und sich in der Sonne wärmen konnte. Es war irgendwie heller und nicht so eng wie im Winter, zugleich aber auch trauriger. So ein langer, nicht endenwollender Feiertag war besonders unerträglich. An Wochentagen wurde die Zeit wenigstens durch die Arbeit verkürzt.
Die Sommerarbeiten erwiesen sich wirklich als viel schwerer als die Winterarbeiten. Wir wurden vorwiegend mit Bauarbeiten beschäftigt. Die Arrestanten bauten, gruben die Erde und mauerten; andere machten die Schlosser-, Tischler- oder Malerarbeiten bei den Reparaturen der staatlichen Gebäude. Andere wieder gingen nach der Ziegelei, um Ziegel zu streichen. Diese letztere Arbeit galt bei uns als besonders schwer. Die Ziegelei lag drei oder vier Werst von der Festung entfernt. Im Laufe des ganzen Sommers wurde jeden Morgen gegen sechs Uhr eine ganze Partie von etwa fünfzig Arrestanten hingeschickt, um Ziegel zu streichen. Zu dieser Arbeit wurden die ungelernten Arbeiter ausgesucht, d. h. solche, die kein bestimmtes Handwerk ausübten. Sie nahmen Brot mit, da es infolge der weiten Entfernung unvorteilhaft war, zum Mittagessen ins Zuchthaus zurückzukehren und so unnötigerweise noch etwa acht Werst zurückzulegen, und aßen erst am Abend, nach der Rückkehr ins Zuchthaus. Das Pensum wurde für den ganzen Tag aufgegeben und war so groß, daß ein Arrestant nur bei ununterbrochener Arbeit es an einem Tage bewältigen konnte. Er mußte erst den Lehm graben und herbeischaffen, selbst das Wasser bringen, selbst den Lehm in der Grube stampfen und schließlich daraus eine große Menge von Ziegelsteinen herstellen, ich glaube an die zweihundert oder sogar zweiundeinhalbhundert. Ich bin nur zweimal auf der Ziegelei gewesen. Die Ziegelarbeiter kehrten erst am Abend müde und erschöpft heim und hielten es den ganzen Sommer allen anderen vor, daß sie die schwerste Arbeit machten. Dies schien ihnen ein Trost zu sein. Trotzdem gingen manche sogar mit einer gewissen Lust hin: erstens befand sich die Arbeitsstätte hinter der Stadt, an einem freien, offenen Platz, am Ufer des Irtysch. Man sah erfreulichere Bilder vor sich, etwas anderes als das ewige Festungseinerlei! Man durfte auch frei rauchen und sogar eine halbe Stunde mit großem Genusse liegen. Ich aber ging nach wie vor in die Werkstätte oder zum Alabasterbrennen, oder wurde schließlich als Ziegelträger bei den Bauarbeiten verwendet. Bei der letzteren Arbeit hatte ich einmal Ziegel vom Irtyschufer zu einer im Bau befindlichen Kaserne, etwa siebzig Klafter weit, über den Festungswall zu schleppen, und diese Arbeit dauerte an die zwei Monate hintereinander. Mir gefiel sie sogar gut, obwohl ich mir ständig mit dem Strick, an dem ich die Ziegel schleppte, die Schultern wundrieb. Mir gefiel daran, daß diese Arbeit meine Kräfte fühlbar steigerte. Anfangs konnte ich nur je acht Ziegel im Gewichte von je zwölf Pfund tragen. Dann gelangte ich aber auf zwölf und fünfzehn Ziegel, und das machte mir große Freude. Die physische Kraft ist im Zuchthause nicht weniger nötig als die moralische, um alle die materiellen Beschwerden dieses verfluchten Lebens tragen zu können.
Ich aber wollte auch nach der Entlassung aus dem Zuchthause noch leben...
Ich schleppte die Ziegel so gern übrigens nicht nur aus dem Grunde, weil diese Arbeit meinen Körper stärkte, sondern auch, weil sie am Ufer des Irtysch vor sich ging. Ich spreche so oft von diesem Ufer, weil es die einzige Stelle war, von der aus ich die Welt Gottes sehen konnte, die reine, klare Ferne und die freien, unbewohnten Steppen, deren Öde auf mich einen seltsamen Eindruck machte. Nur auf diesem Ufer hatte man die Möglichkeit, der Festung den Rücken zu kehren und sie nicht zu sehen. Alle unsere übrigen Arbeitsstätten befanden sich in der Festung oder neben ihr. Gleich in den ersten Tagen haßte ich diese Festung und besonders gewisse Gebäude. Das Haus unseres Platzmajors erschien mir als ein verfluchter, abscheulicher Ort, und ich sah es voller Haß an, sooft ich vorüberging. Am Ufer konnte man aber Vergessenheit finden: man blickte in diese grenzenlose, öde Weite hinaus, wie ein Gefangener aus dem Kerkerfenster in die Freiheit. Alles war mir dort lieb und wert: die helle, heiße Sonne im abgrundtiefen, blauen Himmel und das ferne Lied eines Kirgisen, das vom kirgisischen Ufer herüberklang. Wenn man lange hinsah, entdeckte man ein armseliges, verräuchertes Zelt eines Nomaden; man unterschied neben dem Zelte ein Rauchwölkchen und ein Kirgisenweib, das sich dort irgendwie bei ihren zwei Hammeln zu schaffen machte. Dies alles war armselig und wild, aber frei. Man unterschied in der durchsichtigen blauen Luft irgendeinen Vogel und verfolgte lange und hartnäckig seinen Flug: da blitzt er über dem Wasser auf, da verschwindet er in der Bläue und da erscheint er wieder als ein kaum sichtbarer Punkt... Selbst die armselige, kümmerliche Blume, die ich einmal im Vorfrühling in einer Spalte des steinigen Ufers fand, fesselte irgendwie krankhaft meine Aufmerksamkeit. Die traurige Stimmung dieses ersten Jahres meines Zuchthauslebens war unerträglich und wirkte auf mich aufreizend und erbitternd. In diesem ersten Jahre hatte ich infolge dieser Stimmung vieles von dem, was mich umgab, gar nicht bemerkt. Ich hielt die Augen geschlossen und wollte gar nicht hinschauen. Unter den bösen, verhaßten Zuchthausgenossen übersah ich die guten Menschen, die, trotz der abscheulichen Rinde, die sie von außen bedeckte, die Fähigkeit hatten, zudenken und zu fühlen. Unter den verletzenden Worten überhörte ich manches freundliche und liebevolle Wort, das um so wertvoller war, als es ohne jede besondere Absicht gesprochen wurde und aus dem Herzen kam, das vielleicht noch mehr als das meine gelitten und getragen hatte. Aber warum soll ich mich darüber verbreiten? Ich war sehr froh, wenn ich ordentlich müde wurde: wenn ich heimkomme, werde ich vielleicht einschlafen können!! Denn das Schlafen war bei uns im Sommer eine Qual, fast noch schlimmer als im Winter. Die Abende waren allerdings manchmal sehr schön. Die Sonne, die den ganzen Tag über nicht vom Zuchthaushofe gewichen war, ging endlich unter. Es kam die Abendkühle, und dieser folgte die fast kalte (verhältnismäßig kalte) Steppennacht. Die Arrestanten trieben sich in Erwartung, daß man sie einsperre, haufenweise auf dem Hofe herum. Die Hauptmasse drängte sich allerdings vorzugsweise in der Küche. Dort stand immer irgendeine brennende Zuchthausfrage zur Diskussion, man sprach von diesem und jenem und erörterte irgendein Gerücht, das oft unsinnig war, aber bei diesen von der Welt abgeschlossenen Menschen ein ungewöhnliches Interesse erweckte; z. B. daß die Nachricht eingetroffen sei, unser Platzmajor werde abgesetzt. Die Arrestanten sind leichtgläubig wie die Kinder; sie wissen selbst, daß die Nachricht absurd ist, daß sie von einem bekannten Schwätzer und »unsinnigen« Menschen, dem Arrestanten Kwassow gebracht worden ist, dem nicht zu glauben man schon längst beschlossen hatte und dessen jedes Wort Lüge war; trotzdem klammerten sich alle an diese Nachricht, erörterten und besprachen sie, fanden ihren Trost darin und ärgerten sich schließlich über sich selbst, daß sie dem Kwassow geglaubt hatten.
»Wer wird ihn denn absetzen!« schreit einer. »Er hat einen dicken Hals und läßt sich nicht so leicht unterkriegen!«
»Er hat doch auch seine Vorgesetzten über sich,« entgegnet ein anderer, ein temperamentvoller und gar nicht dummer Bursche, der schon manches erlebt hat, aber so streitsüchtig ist, wie niemand anderes auf der Welt.
»Ein Rabe hackt dem andern Raben nie die Augen aus!« versetzt mürrisch und wie vor sich hin ein Dritter, ein grauhaariger Mann, der in der Ecke einsam seine Kohlsuppe zu Ende ißt.
»Die Vorgesetzten werden wohl dich fragen, ob sie ihn absetzen sollen oder nicht?« fügt gleichgültig ein Vierter hinzu, leise auf seiner Balalaika klimpernd.
»Warum auch nicht mich?« entgegnete der Zweite voller Wut. »Wenn man uns alle befragt, müssen wir alle gegen ihn aussagen. Sonst aber schreien wir nur, und wenn es zur Sache kommt, tritt jeder zurück!«
»Wie stellst du es dir denn vor?« spricht der Balalaikaspieler. »Dafür ist es auch ein Zuchthaus.«
»Neulich,« fährt, ohne auf die andern zu hören, erregt der Streithammel fort, »war uns etwas Mehl übriggeblieben. Wir kratzten die letzten Reste zusammen und schickten sie zum Verkauf. Er aber erfuhr es: der Lagerverwalter hatte es angezeigt; man nahm uns das Mehl weg: es muß halt gespart werden. Ist das gerecht oder nicht?«
»Bei wem willst du dich denn beschweren?«
»Bei wem? Bei dem Revisor, der gefahren kommt.«
»Bei welchem Revisor?«
»Es stimmt, Brüder, daß ein Revisor herkommt,« sagt der junge, aufgeweckte, des Lesens und Schreibens kundige Bursche, der ehemalige Schreiber, der die »Herzogin Lavallière« oder etwas Ähnliches gelesen hat. Er ist immer lustig und zu Späßen aufgelegt, genießt aber wegen einer gewissen Sachkenntnis und Geriebenheit Achtung. Ohne der allgemeinen Neugier wegen des in Aussicht stehenden Revisors Beachtung zu schenken, geht er direkt zur »Köchin«, d.h. zum Koch, und verlangt von ihm ein Stück Leber. Unsere Köchinnen trieben oft mit solchen Dingen Handel. Sie kauften beispielsweise für eigenes Geld ein großes Stück Leber, brieten es und verkauften es im Ausschnitt an die Arrestanten.
»Für eine halbe oder eine ganze Kopeke?« fragt die Köchin.
»Schneide mir für eine ganze Kopeke herunter: sollen mich die Leute beneiden,« antwortet der Arrestant. »Es kommt so ein General aus Petersburg gefahren, Brüder, er wird ganz Sibirien revidieren. Das stimmt. Ich habe es von den Leuten des Kommandanten gehört.«
Die Nachricht bringt eine ungewöhnliche Aufregung hervor. Etwa eine Viertelstunde lang wird gefragt: wer ist der General, in welchem Range, und ob er höher steht als die hiesigen Generale? Die Arrestanten reden furchtbar gern von den verschiedenen Rangstufen, Vorgesetzten; wer im Range höher stehe, wer wen unterkriegen könne und wer sich selbst unterkriegen lasse; sie zanken sich und prügeln sich fast sogar wegen der Generale. Man sollte meinen: was haben sie davon? Aber die genaue Kenntnis der Generale und der Obrigkeit überhaupt dient als Kriterium für den Grad des Wissens, der Erfahrenheit und der früheren Bedeutung des Menschen in der Gesellschaft vor seinem Eintritt ins Zuchthaus. Überhaupt gilt ein Gespräch über die höchste Obrigkeit als das vornehmste und wichtigste von allen Zuchthausgesprächen.
»Es sieht wirklich so aus, Brüder, daß jemand gefahren kommt, um den Major abzusetzen,« bemerkt Kwassow, ein kleines, hitziges und äußerst unsolides Männchen mit rotem Gesicht. Er hat ja auch die erste Nachricht von der Absetzung des Majors gebracht.
»Er wird ihn schon bestechen!« entgegnet kurz der düstere, grauhaarige Arrestant, der inzwischen mit seiner Kohlsuppe fertig geworden ist.
»Er wird ihn wirklich bestechen,« sagt ein anderer. »Hat er denn wenig Geld zusammengestohlen? Bevor er zu uns kam, war er Bataillonskommandeur. Neulich hat er die Tochter des Protopopen heiraten wollen.«
»Hat sie aber doch nicht geheiratet. Man hat ihm die Türe gewiesen: ist zu arm. Was ist er auch für ein Freier! Sein ganzer Besitz ist, was er am Leibe trägt. In der Osterwoche hat er alles im Kartenspiel verloren. Fedjka hat es mir erzählt.«
»Ja, ist kein Verschwender, aber das Geld bleibt bei ihm halt nicht!«
»Ach, Bruder, ich bin ja auch verheiratet gewesen. Heiraten ist nichts für einen armen Menschen: kaum hast du geheiratet, ist die Freude schon aus!« bemerkt Skuratow, der sich nun auch ins Gespräch einmischt.
»Gewiß: man redet doch nur von dir,« sagt der freche ehemalige Schreiber. »Du bist einfach dumm, Kwassow, das muß ich dir sagen. Glaubst du wirklich, daß der Major einen solchen General bestechen kann, und daß so ein General absichtlich aus Petersburg gefahren kommt, um den Major zu revidieren? Bist ein dummer Kerl, das sage ich dir.«
»Warum denn nicht? Nimmt ein General etwa nicht?« ruft jemand skeptisch aus der Menge.
»Natürlich nimmt er nicht, und wenn er schon was nimmt, dann viel.«
»Versteht sich, viel: seinem Range entsprechend.«
»Hast mal selbst einem etwas gegeben?« sagt mit Verachtung der plötzlich eintretende Bakluschin. »Hast du überhaupt je einen General gesehen?«
»Gewiß habe ich einen gesehen!«
»Du lügst.«
»Nein, du lügst.«
»Kinder, wenn er mal einen gesehen hat, so soll er gleich allen sagen, was für einen General er kennt. Na, sag's, denn ich kenne alle Generäle.«
»Ich habe den General Siebert gesehen,« antwortete Kwassow etwas unsicher.
»Siebert? Einen solchen General gibt's ja gar nicht. Er hat wohl nur deinen Rücken gesehen, dieser Siebert, und damals war er nur Oberstleutnant, dir kam es aber vor Angst vor, er sei ein General.«
»Nein, hört mal auf mich,« schreit Skuratow, »denn ich bin ein verheirateter Mensch. Einen solchen General hat es wirklich in Moskau gegeben, Siebert hat er geheißen, war deutscher Abstammung, aber Russe. Jedes Jahr beichtete er in den Fasten vor Mariä Himmelfahrt beim russischen Popen und trank immer Wasser, Brüder, wie ein Enterich. Jeden Tag trank er vierzig Glas Moskwawasser. Man sagte, daß er sich mit diesem Wasser von irgendeiner Krankheit kurierte; ich habe es von seinem Kammerdiener selbst gehört.«
»In seinem Bauche haben sich wohl von diesem Wasser Karauschen angesiedelt,« bemerkt der Arrestant mit der Balalaika.
»Na, genug! Hier ist die Rede von so wichtigen Dingen, und ihr... Was ist es nun für ein Revisor, Brüder?« fragt besorgt der ewig unruhige Arrestant Martynow, ein alter ehemaliger Husar.
»Was die Leute nicht alles zusammenlügen!« bemerkt einer der Skeptiker. »Wo nehmen sie es bloß her? Ist ja lauter Unsinn!«
»Nein, es ist kein Unsinn,« erwidert dogmatisch Kulikow, der bisher stolz geschwiegen hat. Er ist ein Mann von ziemlichem Gewicht, etwa fünfzig Jahre alt, mit einem außerordentlich wohlgestalteten Gesicht und herablassend hochmütigen Manieren. Er weiß es und ist stolz darauf. Er ist ein halber Zigeuner, übt das Handwerk eines Roßarztes aus, verdient sich in der Stadt Geld durch Kurieren von Pferden und treibt bei uns im Zuchthause Branntweinhandel. Ist ein kluger Kerl und hat manches erlebt. Er geizt mit den Worten, als ob jedes seiner Worte einen Rubel wert wäre.
»Er hat recht, Brüder,« fährt er ruhig fort, »ich hab es schon in der vorigen Woche gehört; ein General kommt gefahren, einer von den höchsten, wird ganz Sibirien revidieren. Natürlich werden sie auch ihn bestechen, aber unser Achtäugiger nicht: der wird es nicht mal wagen, an ihn heranzutreten. Ein General ist nicht wie der andere, Brüder. Es gibt verschiedene Generale. Aber eines sage ich euch: unser Major bleibt in jedem Falle auf seinem jetzigen Posten. Das stimmt. Wir sind doch ein Volk ohne Zunge, und von den Vorgesetzten wird doch niemand einen der ihrigen angeben. Der Revisor wird ins Zuchthaus hineinschauen, dann wieder abreisen und melden, er habe alles in bester Ordnung gefunden...«
»Darum hat ja der Major solche Angst bekommen: ist vom frühen Morgen an betrunken.«
»Am Abend kommt dann seine zweite Ladung. Fedjka hat es erzählt.«
»Einen schwarzen Hund kann man nicht weiß waschen. Ist er denn zum ersten Mal betrunken?«
»Nein, das gibt's doch nicht, daß auch der General nichts ausrichten kann! Es ist genug, zu allen ihren Streichen zu schweigen!« sprechen die Arrestanten gekränkt untereinander.
Die Nachricht von dem Revisor verbreitete sich im Nu durch das ganze Zuchthaus. Auf dem Hofe treiben sich die Leute umher und teilen einander erregt die Nachricht mit. Andere schweigen absichtlich und bewahren ihre Kaltblütigkeit, um sich auf diese Weise mehr Würde zu verleihen. Andere wieder bleiben gleichgültig. Auf den Stufen vor den Kasernen setzen sich die Arrestanten mit den Balalaikas. Manche schwatzen noch weiter. Andere stimmen Lieder an, aber im ganzen befinden sich alle an diesem Abend in einer außergewöhnlichen Aufregung.
Um die zehnte Stunde pflegte man uns alle zu zählen, in die Kasernen zu treiben und für die Nacht einzusperren. Die Nächte waren kurz; man weckte uns gegen fünf Uhr früh, wir schliefen aber niemals vor elf ein. Bis zu dieser Stunde gab es noch immer ein Getue und Gerede; manchmal taten sich auch, wie im Winter, Maidans auf. In der Nacht war es unerträglich heiß und schwül. Durch das offene Fenster drang zwar die nächtliche Kühle ein, aber die Arrestanten wälzten sich die ganze Nacht auf ihren Pritschen wie im Fieber. Die Flöhe wimmelten myriadenweise herum. Wir hatten sie auch im Winter in genügender Anzahl, aber vom Frühjahr an vermehrten sie sich in solchen Mengen, von denen ich zwar früher schon gehört hatte, an die ich aber nicht glauben wollte, ehe ich es nicht am eigenen Leibe erfahren. Je weiter wir in den Sommer kamen, um so wütender wurden sie. An die Flöhe kann man sich allerdings gewöhnen, ich habe es selbst erfahren, aber man hat von ihnen doch schwer zu leiden. Manchmal plagen sie einen so entsetzlich, daß man wie im Fieber daliegt und selbst fühlt, daß man nicht schläft, sondern nur phantasiert. Wenn endlich kurz vor Tagesanbruch auch die Flöhe zur Ruhe kommen und gleichsam erstarren und man in der Morgenkühle wirklich süß einschläft, ertönt plötzlich vor dem Zuchthaustore der erbarmungslose Trommelwirbel: es ist der Morgenzapfenstreich. Man hört, fluchend in seinen Halbpelz gehüllt, die lauten, scharfen Töne, und zählt sie gleichsam, während einem durch den Schlaf hindurch der unerträgliche Gedanke in den Kopf dringt, daß es auch morgen so sein werde, auch übermorgen, mehrere Jahre hintereinander, bis zur Befreiung. Wann kommt denn diese Befreiung, fragt man sich, und wo ist sie? Indessen muß man aber aufstehen; es beginnt das alltägliche Laufen und Drängen... Die Leute ziehen sich an und eilen zur Arbeit. Allerdings konnte man noch eine Stunde gegen Nachmittag schlafen.
Die Nachricht über den Revisor erwies sich als wahr. Die Gerüchte klangen von Tag zu Tag bestimmter, und schließlich wußten alle schon ganz sicher, daß ein hochstehender General unterwegs sei, um ganz Sibirien zu revidieren; daß er schon eingetroffen sei und sich in Tobolsk befinde. Jeden Tag kamen neue Gerüchte ins Zuchthaus. Man hörte auch aus der Stadt, daß dort alle in großer Angst seien, sehr geschäftig täten und sich von der besten Seite zeigen wollten. Man erzählte sich, daß die höchsten Vorgesetzten Empfänge, Bälle und Festlichkeiten vorbereiteten. Man schickte die Arrestanten in ganzen Trupps, um die Straßen in der Festung zu ebnen, Erdbuckel zu entfernen, die Zäune und Pfähle anzustreichen, die Gebäude nachzutünchen und zu reparieren; mit einem Worte, man wollte in einem Nu alles ausbessern, was von der besten Seite gezeigt werden sollte. Unsere Arrestanten verstanden den Sachverhalt sehr gut und sprachen immer eifriger und erregter miteinander. Ihre Phantasie verstieg sich zu kolossalen Vorstellungen. Man beabsichtigte sogar, »eine Beschwerde vorzubringen«, wenn der General fragen würde, ob man zufrieden sei. Indessen aber stritt und zankte man sich untereinander. Der Platzmajor war in großer Aufregung. Er kam häufiger als sonst ins Zuchthaus, schrie häufiger, stürzte sich häufiger über die Leute, schickte sie häufiger auf die Hauptwache und sah mit großem Eifer auf Reinlichkeit und Ordnung. Um diese Zeit passierte im Zuchthaus wie gerufen eine kleine Geschichte, die den Major, entgegen allen Erwartungen, gar nicht aufregte, sondern ihm im Gegenteil Freude machte. Ein Arrestant stach bei einem Handgemenge einen andern mit einer Ahle in die Brust, ganz nahe am Herzen.
Der Arrestant, der dieses Verbrechen begangen hatte, hieß Lomow: der Verletzte wurde bei uns Gawrilka genannt; er gehörte zu den eingefleischten Landstreichern. Ich kann mich nicht erinnern, ob er einen Zunamen besaß; bei uns hieß er einfach Gawrilka.
Lomow stammte von bemittelten Bauern des K–schen Kreises im T–schen Gouvernement ab. Alle Lomows hatten als eine Familie zusammengelebt: der alte Vater, drei Söhne und deren Onkel, Lomow. Sie waren reiche Bauern. Man erzählte sich im ganzen Gouvernement, daß sie ein Vermögen von fast dreihunderttausend Rubeln in Assignaten besäßen. Sie trieben Ackerbau, gerbten Häute, handelten, befaßten sich aber vorzugsweise mit Wucher, mit Verbergen von Landstreichern, mit Hehlen von gestohlenem Gut und ähnlichen Künsten. Die Bauern des halben Landkreises waren bei ihnen verschuldet und hingen von ihrer Gnade ab. Sie galten als kluge und schlaue Leute, wurden aber schließlich doch zu stolz, besonders nachdem eine sehr hochstehende Persönlichkeit der dortigen Gegend bei ihnen auf ihren Reisen abzusteigen anfing, den Alten persönlich kennenlernte und ihn wegen seines Verstandes und seiner Geschäftstüchtigkeit liebgewann. Sie bildeten sich plötzlich ein, daß niemand gegen sie etwas unternehmen könne, und riskierten immer mehr gesetzwidrige Unternehmungen. Alle murrten über sie; alle wünschten ihnen, sie mögen in die Erde versinken; aber sie taten immer stolzer. Vor den Isprawniks und niederen Beamten hatten sie überhaupt keinen Respekt mehr. Zuletzt brachen sie sich doch den Hals, aber nicht wegen eines wirklichen geheimen Verbrechens, sondern infolge einer Verleumdung. Sie besaßen etwa zehn Werst vom Dorfe entfernt ein großes Vorwerk. Dort lebten einmal im Herbst sechs kirgisische Arbeiter, die sie schon seit längerer Zeit gedungen hatten. In einer Nacht wurden diese Kirgisen sämtlich ermordet. Es begann eine Untersuchung. Sie dauerte lange. Bei dieser Gelegenheit kamen viele andere üble Dinge an den Tag. Die Lomows wurden angeklagt, ihre Arbeiter ermordet zu haben. Sie selbst erzählten es, und das ganze Zuchthaus wußte es; man hatte gegen sie den Verdacht, sie wären den Arbeitern den Lohn für längere Zeit schuldig geblieben; da sie aber trotz ihres großen Vermögens geizig und geldgierig gewesen seien, hätten sie die Kirgisen ermordet, um ihnen die Schuld nicht bezahlen zu müssen. Während der Untersuchung und der Gerichtsverhandlungen ging ihr ganzer Besitz zugrunde. Der Alte starb. Die Kinder wurden nach verschiedenen Orten verschickt. Einer der Söhne und sein Onkel kamen für zwölf Jahre in unser Zuchthaus. Nun waren sie aber am Tode der Kirgisen völlig unschuldig. Im gleichen Zuchthause tauchte später Gawrilka auf, ein bekannter Gauner und Landstreicher, ein lustiger und aufgeweckter Bursche, der diese ganze Sache begangen haben sollte. Ich habe übrigens nicht gehört, ob er es selbst eingestanden hatte, aber das ganze Zuchthaus war tief davon überzeugt, daß er die Kirgisen auf dem Gewissen hatte. Gawrilka hatte mit den Lomows schon als Landstreicher zu tun gehabt. Er war ins Zuchthaus für eine kurze Frist als Deserteur und Landstreicher gekommen. Die Kirgisen hatte er gemeinsam mit drei andern Landstreichern abgeschlachtet; sie hatten geglaubt, daß es auf dem Vorwerke viel zu stehlen und zu plündern geben würde.
Die Lomows waren bei uns unbeliebt, ich weiß nicht weshalb. Der eine von ihnen, der Neffe, war ein tüchtiger, gescheiter Bursch von verträglichem Charakter; aber sein Onkel, der nach Gawrilka mit der Ahle gestochen hatte, war ein unsolider und dummer Kerl. Er hatte sich schon vorher mit vielen gezankt und war mehr als einmal verprügelt worden. Gawrilka war bei allen wegen seines lustigen und verträglichen Charakters beliebt. Die Lomows wußten zwar, daß er der eigentliche Verbrecher war und daß sie wegen seines Verbrechens ins Zuchthaus gekommen waren, aber sie zankten sich mit ihm nicht; sie kamen übrigens auch nie mit ihm zusammen; auch er schenkte ihnen gar keine Aufmerksamkeit. Plötzlich verzankte er sich mit dem Onkel wegen einer abscheulichen Dirne. Gawrilka hatte mit ihrer Gunst geprahlt; der andere wurde eifersüchtig und stach an einem schönen Nachmittag nach ihm mit der Ahle.
Die Lomows hatten zwar während des Prozesses ihr ganzes Vermögen verloren, lebten aber im Zuchthause wie reiche Leute. Offenbar besaßen sie Geld. Sie hielten sich einen Samowar und tranken Tee. Unser Major wußte es und haßte die beiden Lomows bis zum äußersten. Er schikanierte sie ganz offensichtlich und hatte es überhaupt auf sie abgesehen. Die Lomows erklärten es mit dem Wunsche des Majors, sich von ihnen bestechen zu lassen. Aber sie gaben ihm nichts.
Hätte Lomow die Ahle etwas tiefer hineingestoßen, so hätte er Gawrilka natürlich getötet. Gawrilka kam aber mit einer unbedeutenden Kratzwunde davon. Man meldete es dem Major. Ich erinnere mich, wie er atemlos und sichtlich zufrieden gelaufen kam. Er behandelte Gawrilka ungewöhnlich freundlich, wie einen leiblichen Sohn.
»Nun, Freund, kannst du zu Fuß ins Hospital gehen oder nicht? Nein, man soll für ihn lieber einen Wagen anspannen lassen. Sofort einen Wagen anspannen!« schrie er hastig dem Unteroffizier zu.
»Ich spüre ja nichts, Euer Hochwohlgeboren. Er hat mich ja nur ein wenig gekratzt, Euer Hochwohlgeboren.«
»Du weißt es nicht, du weißt es nicht, mein Lieber; nun wirst du es sehen... Es ist ja eine gefährliche Stelle; alles hängt von der Stelle ab; dicht am Herzen hat er dich getroffen, der Räuber! Aber dir werde ich es schon zeigen!« brüllte er, sich an Lomow wendend: »Auf die Hauptwache!«
Und er zeigte es ihm wirklich. Lomow kam vors Gericht, und obwohl die Wunde sich als eine leichte Stichwunde herausstellte, war die Absicht dennoch erwiesen. Der Verbrecher bekam eine Verlängerung der Strafzeit und tausend Spießruten. Der Major war vollkommen zufrieden.
Endlich kam auch der Revisor.
Gleich am nächsten Tage nach seiner Ankunft kam er zu uns ins Zuchthaus. Es war ein Feiertag. Schon einige Tage vorher war bei uns alles gewaschen, geputzt und gereinigt worden. Alle Arrestanten waren frisch rasiert. Alle hatten saubere weiße Anzüge an. Im Sommer trugen alle nach der Vorschrift weiße leinene Jacken und Hosen. Ein jeder hatte auf dem Rücken einen schwarzen Kreis von etwa zwei Werschok im Durchmesser aufgenäht. Man richtete die Arrestanten eine ganze Stunde ab, wie sie zu antworten hätten, falls die hochstehende Persönlichkeit sie begrüßen sollte. Es wurden Proben veranstaltet. Der Major lief wie verrückt umher. Eine Stunde vor Erscheinen des Generals stand jeder auf seinem Platz, unbeweglich wie eine Bildsäule, und hielt die Hände an der Hosennaht. Endlich, gegen ein Uhr nachmittags, erschien der General. Es war ein so wichtiger General, daß wohl alle Vorgesetztenherzen in ganz Westsibirien bei seinem Erscheinen erzitterten. Er trat mit strenger und majestätischer Miene ein. Ihm folgte eine große Suite aus Vertretern der lokalen Behörden: mehrere Generale und Obersten. Es war auch ein Zivilist dabei, ein schlanker, hübscher Herr in Frack und Schnallenschuhen, der gleichfalls aus Petersburg mitgekommen war und sich äußerst ungeniert und unabhängig benahm. Der General wandte sich oft an ihn, und zwar mit auffallender Höflichkeit. Dieser Umstand erregte bei den Arrestanten ungewöhnliches Interesse: bloß ein Zivilist, genießt aber solches Ansehen und dazu noch von einem solchen General! Später erfuhr man seinen Namen und wer er war, indessen wurde darüber furchtbar viel geredet. Unser Major, in seine Uniform gepreßt, mit orangegelbem Rockkragen, den blutunterlaufenen Augen und dem blauroten, von Finnen besäten Gesicht, schien auf den General keinen besonders angenehmen Eindruck gemacht zu haben. Aus besonderer Achtung gegen den hohen Gast trug er diesmal keine Brille. Er stand abseits, stramm, und sein ganzes Wesen drückte die fieberhafte Erwartung des Augenblicks aus, wo man ihn zu irgendetwas brauchen würde und er hinfliegen könnte, um den Wunsch seiner Exzellenz zu erfüllen. Aber man brauchte ihn zu nichts. Der General machte schweigend eine Runde durch die Kaserne, sah in die Küche hinein und kostete, wie ich glaube, von der Kohlsuppe. Man machte ihn auf mich aufmerksam: so und so, ich sei adliger Abstammung.
»Ah!« antwortete der General. »Und wie führt er sich jetzt auf?«
»Vorläufig befriedigend, Exzellenz,« antwortete man ihm.
Der General nickte mit dem Kopf und verließ nach zwei Minuten das Zuchthaus. Die Arrestanten waren natürlich geblendet und verblüfft, aber doch irgendwie unbefriedigt. Von irgendeiner Beschwerde gegen den Major war natürlich nicht die Rede. Der Major war davon natürlich auch schon im voraus überzeugt gewesen.
Der bald darauf erfolgte Ankauf eines Braunen für das Zuchthaus beschäftigte und zerstreute die Arrestanten weit angenehmer als der hohe Besuch. Nach dem Etat gehörte zum Zuchthaus ein Pferd zum Wasserführen und zum Wegschaffen des Unrats usw. Zur Wartung des Pferdes wurde immer einer der Arrestanten bestimmt. Er fuhr auch mit ihm, natürlich unter Bewachung. Unser Pferd hatte genug Arbeit, sowohl morgens, wie abends. Der alte Braune hatte bei uns schon sehr lange gedient. Das Pferdchen war gut, aber abgearbeitet. Eines schönen Morgens, kurz vor dem Petritage, fiel der Braune, nachdem er seine Abendtonne gebracht hatte, um und gab nach wenigen Minuten seinen Geist auf. Man betrauerte ihn, alle versammelten sich um ihn, redeten und debattierten. Die bei uns vorhandenen ehemaligen Kavalleristen, Zigeuner, Roßärzte usw. zeigten bei dieser Gelegenheit eine Menge von besonderen Kenntnissen im Pferdefache; sie gerieten sogar in Streit miteinander, vermochten aber den Braunen nicht lebendig zu machen. Er lag tot da, mit aufgedunsenem Bauche, und alle hielten es für ihre Pflicht, mit dem Finger an ihn zu tippen; man meldete dem Major von dem nach Gottes Ratschluß geschehenen Ereignis, und er befahl, unverzüglich ein neues Pferd zu kaufen. Am Morgen des Petritages, gleich nach der Messe, als wir alle versammelt waren, begann man uns verschiedene Pferde zum Kauf vorzuführen. Selbstverständlich mußte man die Anschaffung des Pferdes den Arrestanten selbst überlassen. Es gab bei uns große Kenner, und es wäre schwer gewesen, zweihundertfünfzig Mann, die sich vorher mit nichts anderem befaßt hatten, anzuführen. Es kamen Kirgisen, Roßhändler, Zigeuner, Kleinbürger. Die Arrestanten erwarteten mit Ungeduld das Erscheinen jedes neuen Pferdes. Sie waren vergnügt wie Kinder. Am meisten schmeichelte ihnen die Vorstellung, daß sie wie freie Menschen, wie aus eigener Tasche für sich ein Pferd kauften und ein volles Recht zu diesem Kaufe hatten. Drei Pferde waren vorgeführt und wieder abgeführt worden, ehe wir beim vierten den Kauf abschlossen. Die eintretenden Roßhändler sahen sich mit einem gewissen Erstaunen und sogar einer Art von Scheu um und schielten sogar ab und zu nach den Wachsoldaten, die sie hereinführten. Ein Haufen von zweihundert solchen Menschen mit rasierten Köpfen und gebrandmarkten Gesichtern, in Ketten, bei sich zu Hause, in ihrem Zuchthausnest, über dessen Schwelle sonst niemand treten durfte, flößte einen gewissen Respekt ein. Unsere Kenner ergingen sich aber bei der Prüfung eines jeden neu erscheinenden Pferdes in allerlei Kunstgriffen. Wohin blickten sie ihm nicht, was betasteten sie an ihm nicht, und alles machten sie mit einer so ernsten und geschäftigen Miene, als hinge davon das ganze Wohl des Zuchthauses ab. Die Kaukasier sprangen sogar auf jedes Pferd hinauf; ihre Augen funkelten, und sie schwatzten schnell in ihrer unverständlichen Sprache, wobei sie ihre weißen Zähne fletschten und mit ihren braunen, hakennasigen Köpfen nickten. Mancher Russe richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf ihren Streit und sah sie so gespannt an, als wollte er ihnen in die Augen springen. Da er ihre Worte nicht verstand, wollte er wenigstens an ihrem Gesichtsausdruck erraten, was sie beschlossen hätten: ob das Pferd etwas tauge oder nicht? Diese krampfhafte Aufmerksamkeit hätte einem abseitsstehenden Beobachter sonderbar erscheinen können. Man sollte doch meinen, daß so ein bescheidener, schüchterner Arrestant, der vor manchen seiner Genossen nicht zu mucken wagte, keinen besonderen Grund hatte, sich für diese Angelegenheit so sehr zu interessieren. Aber ein jeder tat so, als kaufte er das Pferd für sich selbst, als wäre es ihm nicht vollkommen gleich, was für ein Pferd gekauft würde. Neben den Kaukasiern zeichneten sich besonders die ehemaligen Roßhändler und Zigeuner aus: ihnen ließ man das erste Wort. Dabei kam es zu einem edlen Zweikampf zwischen zwei Arrestanten: dem ehemaligen Zigeuner, Pferdedieb und Roßhändler Kulikow und dem autodidaktischen Roßarzte, dem schlauen sibirischen Bauern, der vor kurzem ins Zuchthaus gekommen war, aber schon Zeit gehabt hatte, Kulikow seine ganze Stadtpraxis wegzunehmen. Die autodidaktischen Tierärzte aus unserem Zuchthause wurden nämlich in der Stadt hoch geschätzt, und zwar nicht nur bei den Kleinbürgern und Kaufleuten, sondern auch bei den höchsten Beamten, die sich ans Zuchthaus wandten, wenn bei ihnen ein Pferd erkrankte, obwohl es in der Stadt mehrere echte Veterinärärzte gab. Kulikow hatte vor der Ankunft des sibirischen Bauern Jolkin gar keine Konkurrenz und besaß eine große Praxis, die ihm natürlich Geld einbrachte. Er wandte verschiedene Zigeunerkniffe an, schwindelte viel und wußte viel weniger, als er sich den Anschein gab. Seinen Einkünften nach war er ein Aristokrat unter den übrigen. Dank seinem Verstand, seiner Kühnheit und Entschlossenheit hatte er sich schon längst eine unwillkürliche Achtung aller Insassen des Zuchthauses erworben. Alle hörten auf ihn und gehorchten ihm. Er sprach aber sehr wenig und nur in den wichtigsten Fällen, als sei jedes seiner Worte einen Rubel wert. Er war ein ausgesprochener Geck, aber es steckte in ihm auch viel wirkliche, unverfälschte Energie. Er war schon bejahrt, aber sehr hübsch und sehr klug. Uns Adlige behandelte er mit einer raffinierten Höflichkeit und zugleich mit einem betonten Bewußtsein der eigenen Würde. Ich glaube, daß wenn man ihn, entsprechend gekleidet, als einen Grafen in irgendeinen hauptstädtischen Klub eingeführt hätte, er auch hier den richtigen Ton gefunden, eine Partie Whist gespielt und, wenn auch nicht viel, aber doch mit großem Gewicht mitgesprochen hätte, so daß es vielleicht während des ganzen Abends niemand eingefallen wäre, daß er kein Graf, sondern ein Vagabund sei. Ich sage das in allem Ernst: er war so klug, verständig und von einer so raschen Auffassungsgabe. Außerdem hatte er wunderschöne, elegante Manieren. Offenbar hatte er schon manches erlebt. Seine Vergangenheit war übrigens in Dunkel gehüllt. Er befand sich in der Besonderen Abteilung. Aber nach der Ankunft Jolkins, der zwar ein einfacher Bauer, aber ein schlauer Kerl von etwa fünfzig Jahren, ein Raskolnik war, begann der Ruhm Kulikows als eines Roßarztes zu verblassen. In kaum zwei Monaten hatte er ihm fast die ganze Stadtpraxis weggenommen. Er kurierte, und zwar sehr leicht auch solche Pferde, die Kulikow schon langst aufgegeben hatte. Er kurierte sogar die von den städtischen Veterinären aufgegebenen Tiere. Dieser Bauer war mit anderen wegen Falschmünzerei ins Zuchthaus gekommen. Was mußte er sich auch auf seine alten Tage als Kompagnon in so eine Sache einmischen! Er erzählte, über sich selbst spottend, daß er aus drei echten Goldstücken nur ein einziges echtes hergestellt hätte. Seine Erfolge in der Tierarzneikunst kränkten Kulikow w gewissem Maße, auch sein Ruhm unter den Arrestanten begann zu verblassen. Er hielt sich eine Geliebte in der Vorstadt, trug eine ärmellose Plüschjacke, einen silbernen Ohrring und eigene Stiefel mit elegantem Besatz; da mußte er aber infolge des Rückganges seiner Einkünfte Branntweinverkäufer werden; darum erwarteten alle, daß die beiden jetzt, beim Ankauf eines neuen Braunen sich in die Haare geraten würden. Man wartete darauf mit Spannung. Ein jeder von ihnen hatte seine Partei. Die Anführer der beiden Parteien waren schon in Aufregung geraten und begannen sich allmählich Schimpfworte zuzurufen. Jolkin selbst hatte schon sein schlaues Gesicht zu einem höchst sarkastischen Lächeln verzogen. Es kam aber doch nicht so, wie alle es erwartet hatten: Kulikow dachte gar nicht daran, zu schimpfen, benahm sich aber auch ohne zu schimpfen wie ein Meister. Er begann mit Nachgiebigkeit, hörte die kritischen Äußerungen seines Konkurrenten sogar mit Hochachtung an, ertappte ihn aber auf einem unrichtigen Worte, bemerkte ihm bescheiden, aber mit Nachdruck, daß er sich irre, und bewies ihm, noch ehe Jolkin Zeit gefunden hatte, sich zu besinnen und zu berichtigen, daß er sich in dem und dem Punkte geirrt habe. Mit einem Worte, Jolkin war äußerst unerwartet und mit großer Kunst geschlagen. Obwohl er trotzdem den Vorrang behielt, war die Kulikowsche Partei sehr zufrieden.
»Nein, Kinder, ihn kann man nicht so schnell konfus machen, der steht schon für sich ein, mit ihm ist eben nichts auszurichten!« sagten die einen.
»Jolkin weiß mehr,« erwiderten die andern, aber recht nachgiebig. Beide Parteien sprachen plötzlich in einem sehr nachgiebigen Tone.
»Es ist weniger sein Wissen, er hat bloß eine leichtere Hand. Was aber das Vieh betrifft, so stellt auch Kulikow seinen Mann.«
»Der stellt schon seinen Mann!«
»Aber gewiß...«
Endlich war der neue Braune ausgesucht und gekauft. Es war ein nettes, junges, hübsches, kräftiges Pferdchen mit einem sehr lieben und lustigen Gesicht. Natürlich war es in allen Hinsichten makellos. Nun begann man zu handeln: der Händler verlangte dreißig Rubel, die Unsrigen boten nur fünfundzwanzig. Man handelte lange und mit großem Eifer hin und her, man ließ etwas nach und legte etwas zu. Endlich wurde es den Arrestanten selbst zu dumm.
»Mußt du das Geld etwa aus deiner eigenen Tasche auslegen?« fragten die einen. »Warum handelst du so?« »Tut dir die Staatskasse leid?« schrien die andern.
»Das Geld gehört aber doch der Gesamtheit, Brüder...«
»Der Gesamtheit! Offenbar braucht man solche Dummköpfe, wie es sie bei uns gibt, nicht zu säen, sie wachsen von selbst...«
Endlich kam der Kauf mit achtundzwanzig Rubeln zustande. Man meldete es dem Major, und das Geschäft war bestätigt. Natürlich brachte man sofort Brot und Salz und führte den neuen Braunen mit allen Ehren ins Zuchthaus ein. Ich glaube, es gab keinen Arrestanten, der ihn bei dieser Gelegenheit nicht am Halse getätschelt oder am Maule gestreichelt hätte. Am gleichen Tage wurde der Braune angespannt, um Wasser zu führen, und alle sahen interessiert zu, wie der neue Braune seine Tonne ziehen würde. Unser Wasserführer Roman blickte das neue Pferdchen mit außerordentlicher Zufriedenheit an. Er war ein etwa fünfzigjähriger Bauer von schweigsamem und gesetztem Charakter. Übrigens sind alle russischen Kutscher außerordentlich gesetzt und schweigsam, wie wenn es wirklich stimmte, daß der ständige Umgang mit Pferden dem Menschen eine besondere Gesetztheit und Würde verleihe. Roman war still, gegen alle freundlich, wortkarg, schnupfte Tabak und gab sich seit undenklichen Zeiten mit allen Braunen des Zuchthauses ab. Der soeben gekaufte war schon der dritte. Alle waren bei uns überzeugt, daß fürs Zuchthaus nur braune Pferde passen, daß nur solche bei uns gedeihen. Dasselbe bestätigte auch Roman. Einen Schecken z.B. hätte man niemals gekauft. Das Amt des Wasserführers versah nach irgendeinem Rechte ständig Roman, und niemand würde es einfallen, es ihm streitig zu machen. Als der letzte Braune eingegangen war, war es niemand, selbst dem Major nicht, in den Sinn gekommen, Roman irgendwelche Vorwürfe zu machen: es war eben Gottes Wille, Roman ist aber ein guter Kutscher. Der Braune wurde bald zum Liebling des Zuchthauses. Die Arrestanten waren zwar mürrische Leute, kamen aber oft zu ihm, um ihn zu streicheln. Wenn Roman vom Flusse heimkehrte und das ihm vom Unteroffizier aufgemachte Tor wieder zusperrte, stand der Braune mit seiner Tonne da, wartete auf ihn und sah sich nach ihm um. »Geh allein!« rief ihm Roman zu, und der Braune fuhr die Tonne allein bis zur Küche und wartete bis die »Köchinnen« und die Paraschniks mit ihren Wassereimern kamen. »Klug bist du, Brauner!« rief man ihm zu, »hast das Wasser allein gebracht!... So schön folgst du!«
»Nein wirklich, ist nur ein Tier und versteht doch alles!«
»Brav, Brauner!«
Der Braune schüttelte den Kopf und schnaubte, als verstünde er wirklich alles und sei mit dem Lobe zufrieden. Jedesmal brachte ihm jemand ein Stück Brot und Salz. Der Braune fraß und nickte wieder mit dem Kopf, als wollte er sagen: »Ich kenne dich! Ich kenne dich! Ich bin ein liebes Pferdchen, und du bist ein guter Mensch!«
Auch ich brachte dem Braunen gern Brot. Es war so angenehm, auf seine hübsche Schnauze zu schauen und auf der Handfläche seine weichen, warmen Lefzen zu fühlen, die das Dargebotene schnell auflasen.
Überhaupt wären unsere Arrestanten wohl imstande gewesen, Tiere zu lieben, und wenn man es ihnen gestattete, so hätten sie im Zuchthause eine Menge von Haustieren und Geflügel gehalten. Was hätte auch den harten und rohen Charakter so sehr mildern und veredeln können als gerade eine solche Beschäftigung? Aber es war nicht erlaubt. Weder die Vorschriften, noch der Ort gestatteten es.
Dennoch hatte es im Zuchthause in meiner Zeit einige Tiere gegeben. Außer dem Braunen hatten wir noch Hunde, Gänse, den Ziegenbock Wassjka; außerdem lebte bei uns eine Zeitlang ein Adler.
Als ständiger Zuchthaushund lebte bei uns, wie ich schon früher sagte, Scharik, ein guter, kluger Hund, mit dem ich immer gut befreundet war. Da aber der Hund bei unserem einfachen Volk allgemein als ein unreines Tier gilt, das man nicht mal beachten darf, so schenkte dem Scharik bei uns fast niemand Beachtung. Da lebte so ein Hund, schlief auf dem Hofe, fraß Küchenabfälle und erregte bei niemand ein besonderes Interesse, obwohl er alle kannte und alle Leute im Zuchthause als seine Herren ansah. Wenn die Arrestanten von der Arbeit heimkehrten, lief er, sobald er den Ruf »Gefreiter!« an der Hauptwache hörte, zum Tore, begrüßte freundlich jeden Trupp, wedelte mit dem Schwanz und blickte jedem Eintretenden freundlich in die Augen, in Erwartung irgendeiner Liebkosung. Aber im Laufe vieler Jahre hatte er eine solche nur von mir erlebt. Dafür liebte er mich auch mehr als alle andern. Ich erinnere mich nicht mehr, auf welche Weise in unserem Zuchthause später ein anderer Hund namens Bjelka auftauchte. Den dritten Hund, Kultjapka, brachte ich einmal selbst als ein junges Hündchen von der Arbeit ins Haus. Bjelka war ein sonderbares Geschöpf. Jemand hatte ihn einmal mit einem Wagen überfahren, und sein Rücken war in der Mitte eingeknickt, so daß, wenn er lief, es von Weitem so aussah, als ob zwei miteinander verwachsene weiße Tiere liefen. Außerdem war er räudig und hatte eitrige Augen; der Schwanz war fast ganz nackt und immer eingeklemmt. Auf diese Weise vom Schicksal beleidigt, hatte er sich offenbar entschlossen, sich zu demütigen. Er bellte und knurrte niemanden an, als wagte er es nicht. Er lebte hauptsächlich, der Nahrung wegen, hinter der Kaserne; wenn er aber jemand von den Arrestanten erblickte, so legte er sich sofort auf den Rücken, als wollte er sagen: »Tu mit mir, was du willst, du siehst ja, daß ich gar nicht daran denke, mich zu wehren.« Jeder Arrestant, vor dem er sich auf den Rücken warf, gab ihm einen Fußtritt, als wäre es eine Pflicht. »Dieses gemeine Vieh!« pflegten die Arrestanten von ihm zu sagen. Bjelka wagte aber nicht einmal zu winseln, und wenn der Schmerz schon gar zu heftig war, so heulte er dumpf und jämmerlich. Auch vor Scharik und jedem andern Hund, auf den er stieß, wenn dieser in seinen Geschäften hinter das Zuchthaus kam, legte er sich ebenso auf den Rücken. So lag er demütig da, wenn sich irgendein großer Köter mit hängenden Ohren knurrend und bellend auf ihn stürzte. Aber die Hunde lieben die Demut und Unterwürfigkeit bei ihresgleichen. Der wütende Köter wurde sofort still, blieb nachdenklich vor dem mit den nach oben gerichteten Beinen liegenden Hunde stehen und begann ihn langsam mit großem Interesse an allen Körperteilen zu beschnüffeln. Was mochte sich indessen der am ganzen Leibe zitternde Bjelka denken? Er dachte sich wohl: »Was, wenn der Kerl Ernst macht und mich beißt?« Der große Köter ließ ihn aber, nachdem er ihn aufmerksam beschnüffelt hatte, liegen, da er an ihm wohl nichts Interessantes gefunden hatte. Bjelka sprang sofort auf und schloß sich zuweilen hinkend dem langen Zuge der Hunde an, die irgendeiner Shutschka nachliefen. Er wußte zwar ganz genau, daß es ihm niemals gelingen würde, eine intimere Bekanntschaft mit der Shutschka zu machen, folgte aber dennoch von weitem dem Zuge, – das schien für ihn eine Art Trost im Unglück zu sein. Alle ehrgeizigen Gedanken hatte er wohl schon längst aufgegeben. Er erhoffte sich keinerlei Besserung seiner Lage, lebte nur des Brotes wegen und war sich dessen vollkommen bewußt. Ich versuchte ihn einmal zu liebkosen; das war für ihn so neu und unerwartet, daß er sich plötzlich auf alle vier Beine niederduckte, am ganzen Körper erzitterte und vor Rührung laut zu winseln anfing. Aus Mitleid liebkoste ich ihn häufiger. Dafür erhob er auch ein Gewinsel, sooft er mich sah. Wenn er mich von weitem erblickte, winselte er krankhaft und jämmerlich. Sein Ende war, daß er draußen hinter dem Festungswall von anderen Hunden zerrissen wurde.
Einen ganz anderen Charakter hatte Kultjapka. Ich weiß nicht mehr, warum ich ihn als blindes Hündchen aus der Werkstatt ins Zuchthaus mitgebracht hatte. Es war mir angenehm, ihn zu füttern und großzuziehen. Scharik nahm ihn sofort unter seinen Schutz und schlief mit ihm zusammen. Als Kultjapka größer wurde, gestattete ihm Scharik, ihn an den Ohren zu beißen, am Fell zu zupfen und mit ihm so zu spielen, wie eben junge Hunde mit erwachsenen zu spielen pflegen. Kultjapka wuchs seltsamerweise fast gar nicht in die Höhe, sondern fast nur in die Länge und in die Breite. Sein Fell war zottig, von einer hellen mausgrauen Farbe; das eine Ohr wuchs nach oben, das andere nach unten. Er hatte ein feuriges und exaltiertes Temperament; wie jeder junge Hund pflegte er, wenn er seinen Herrn wiedersah, vor Freude ein Gewinsel und ein Gebell zu erheben, den Herrn ins Gesicht zu lecken und auch alle seine übrigen Gefühle zu äußern: »Soll er nur meine Begeisterung sehen, Anstandsregeln sind aber nicht so wichtig!« Wo ich mich auch befand, erschien der Hund auf den bloßen Anruf »Kultjapka!« sofort hinter einer Ecke, wie aus der Erde geschossen, und flog mit begeistertem Gewinsel auf mich zu, wie eine Kugel rollend und sich unterwegs überschlagend. Ich gewann dieses kleine Ungeheuer schrecklich lieb. Das Schicksal schien ihm nichts als Annehmlichkeiten und Freuden zu verheißen. Aber eines schönen Tages schenkte ihm der Arrestant Nëustrojew, der sich mit der Anfertigung von Frauenschuhen und dem Gerben von Fellen befaßte, seine besondere Aufmerksamkeit. Er rief Kultjapka zu sich heran, betastete sein Fell und wälzte ihn liebkosend auf den Rücken. Kultjapka, der keinen Argwohn schöpfte, winselte vor Vergnügen. Aber am nächsten Morgen war er verschwunden. Ich suchte ihn lange; er war wie in die Erde versunken; erst nach zwei Wochen fand die Sache ihre Aufklärung: Kultjapkas Fell hatte dem Rëustrojew außerordentlich gefallen. Er zog es ihm ab, gerbte es und fütterte damit das Paar samtene Winterhalbschuhe, die ihm die Frau des Auditors bestellt hatte. Er zeigte mir diese Halbschuhe, als sie fertig waren. Das Fell wirkte wunderschön. Der arme Kultjapka!
Bei uns im Zuchthause beschäftigten sich viele mit der Bearbeitung von Fellen und brachten oft Hunde mit schönem Fell mit, die dann augenblicklich verschwanden. Die einen waren gestohlen, die andern sogar gekauft. Ich erinnere mich, wie mir einmal hinter dem Küchengebäude zwei Arrestanten auffielen, die sich über etwas berieten und sehr geschäftig taten. Der eine von ihnen hielt an einem Strick einen prachtvollen großen schwarzen Hund, von offenbar teurer Rasse. Irgendein Schuft von einem Lakaien hatte den Hund seinem Herrn gestohlen und unserm Schuhmacher für dreißig Kopeken in Silber verkauft. Die Arrestanten hatten die Absicht, ihn aufzuhängen. Die Sache war sehr einfach: man zog dem Tier das Fell ab und warf den Kadaver in die große und tiefe Abfallgrube, die sich im hintersten Winkel unseres Zuchthaushofes befand und die im Sommer bei großer Hitze unerträglich stank. Sie wurde nur selten ausgeräumt. Der arme Hund schien das ihm bevorstehende Schicksal zu ahnen. Er blickte fragend und unruhig uns drei, einen nach dem andern an und wagte nur ab und zu, mit seinem buschigen Schwanze zu wedeln, den er dann gleich wieder einklemmte, als wollte er durch dieses Zeichen seines Vertrauens uns milder stimmen. Ich beeilte mich fortzugehen, sie aber erledigten ihr Unternehmen natürlich auf die glücklichste Weise.
Auch Gänse hatten sich bei uns irgendwie zufällig eingefunden. Wer sie eingeführt hatte und wem sie eigentlich gehörten, weiß ich nicht, aber sie dienten eine Zeitlang den Arrestanten zur Unterhaltung und wurden sogar in der Stadt bekannt. Sie waren im Zuchthause ausgebrütet worden und lebten in der Küche. Als die Brut herangewachsen war, gewöhnten sie sich, die Arrestanten als ganzer Haufe zur Arbeit zu begleiten. Sowie die Trommel erklang und die Zuchthäusler zum Ausgangstor gingen, liefen unsere Gänse mit ausgebreiteten Flügeln schnatternd uns nach, sprangen eine nach der andern über die hohe Schwelle der Eingangspforte und begaben sich stets an den rechten Flügel, wo sie sich aufstellten und warteten, bis die einzelnen Trupps abmarschierten. Sie schlossen sich immer dem größten Trupp an und weideten während der Arbeit irgendwo in der Nähe. Sobald der Trupp zur Heimkehr aufbrach, machten auch sie sich auf den Weg. In der Festung verbreitete sich das Gerücht, daß die Arrestanten, von Gänsen begleitet, zur Arbeit gingen. »Schau nur, da gehen die Arrestanten mit ihren Gänsen!« sagten manchmal die Leute, denen wir begegneten: »Wie habt ihr sie bloß dazu abgerichtet?« – »Da habt ihr was für eure Gänse,« sagte ein anderer, indem er uns ein Almosen reichte. Aber trotz ihrer ganzen Anhänglichkeit wurden sie einmal sämtlich zu irgendeinem Fest geschlachtet.
Unsern Ziegenbock Wassjka hätte man dagegen um nichts in der Welt geschlachtet, wenn nicht etwas Besonderes passiert wäre. Ich weiß nicht, woher er plötzlich aufgetaucht war und wer ihn gebracht hatte, aber eines Tages befand sich im Zuchthause ein entzückendes kleines weißes Böckchen. Im Laufe einiger Tage war er zum Liebling des ganzen Zuchthauses, zur Unterhaltung und sogar zum Trost für die Arrestanten geworden. Man fand auch einen Vorwand, um ihn halten zu müssen: am Zuchthause gab es doch einen Pferdestall, und die Sitte verlangt, daß man im Pferdestalle einen Ziegenbock halte. Er lebte jedoch nicht im Stalle, sondern erst in der Küche und dann im ganzen Zuchthause. Er war ein ungemein graziöses und possierliches Geschöpf. Er kam gelaufen, wenn man ihn rief, sprang auf Bänke und Tische, stieß sich mit den Arrestanten herum und war immer lustig und amüsant. Als er schon recht ordentliche Hörnchen hatte, fiel es eines Abends dem Lesghier Babai, der mit den anderen Arrestanten auf den Stufen vor der Kaserne saß, ein, sich mit ihm zu stoßen. Sie schlugen schon lange mit den Stirnen gegeneinander – das war das Lieblingsspiel des Arrestanten mit dem Bocke, – als Wassjka plötzlich auf die oberste Stufe sprang, sich in einem Augenblick, als Babai sich zur Seite wandte, auf die Hinterbeine stellte, die Vorderhufe einzog und Babai aus aller Kraft in den Nacken stieß, so daß dieser zur größten Freude aller Anwesenden und, vor allem, Babais selbst, von den Stufen hinunterpurzelte. Wassjka war mit einem Worte bei allen schrecklich beliebt. Als er herangewachsen war, wurde an ihm nach einer allgemeinen und ernsthaften Beratung eine gewisse Operation vollzogen, welche unsere Veterinäre vorzüglich auszuführen verstanden. »Sonst wird er nach einem Bock stinken,« sagten die Arrestanten. Nach dieser Operation begann Wassjka furchtbar fett zu werden. Man fütterte ihn auch wie zur Mast. Schließlich wurde aus ihm ein wunderschöner großer Bock von ungewöhnlicher Dicke mit außergewöhnlich langen Hörnern. Beim Gehen watschelte er von der einen Seite auf die andere. Auch er gewöhnte sich an, uns zur Erheiterung der Arrestanten und des Publikums, das uns begegnete, zur Arbeit zu begleiten. Alle kannten den Zuchthausbock Wassjka. Wenn die Arbeit am Flußufer stattfand, pflegten die Arrestanten zuweilen biegsame Weidenzweige abzuschneiden, noch andere Blätter zu pflücken, auf dem Festungswall Blumen zu sammeln und mit allen diesen Dingen Wassjka zu schmücken: man umwand seine Hörner mit Zweigen und Blumen und schmückte seinen ganzen Körper mit Girlanden. So geht Wassjka bei der Heimkehr ins Zuchthaus geschmückt und geputzt vor allen Arrestanten einher, sie aber gehen ihm nach und sind auf ihn ordentlich stolz. Diese Bewunderung für den Bock ging so weit, daß manchen zuweilen wie den Kindern der Gedanke kam: »Soll man unserm Wassjka nicht die Hörner vergolden?« Aber das wurde nur so besprochen, doch nicht ausgeführt. Ich fragte übrigens, wie ich mich erinnere, einmal Akim Akimytsch, der neben Issai Fomitsch unser bester Vergolder war, ob es tatsächlich möglich sei, dem Bock die Hörner zu vergolden. Er sah sich erst aufmerksam den Bock an, überlegte die Frage ernst und antwortete, daß es vielleicht zu machen sei, »aber die Vergoldung wird nicht dauerhaft sein und wäre außerdem völlig zwecklos.« Damit endete auch die Sache. Wassjka hatte wohl noch lange im Zuchthause gelebt und wäre höchstens an Atemnot gestorben; als er aber einmal an der Spitze der Arrestanten, geschmückt und geputzt von der Arbeit heimkehrte, fiel er dem Major in die Augen, der in einer Droschke vorüberfuhr. »Halt!« brüllte er: »Wem gehört der Ziegenbock?« Man erklärte es ihm. – »Was! Ein Bock im Zuchthause ohne meine Erlaubnis! Unteroffizier!« Der Unteroffizier erschien, und der Major gab sofort Befehl, den Bock zu schlachten, das Fell abzuziehen und auf dem Markte zu verkaufen, den Kauferlös zu den staatlich verwalteten Arrestantengeldern zu tun, das Fleisch aber den Arrestanten für ihre Suppe auszufolgen. Man besprach im Zuchthause die Sache, weinte dem Bock manche Träne nach, wagte es aber doch nicht, den Befehl nicht auszuführen. Man schlachtete Wassjka über unserer Abfallgrube. Das Fleisch kaufte einer der Arrestanten auf einmal, der dafür der Gemeinschaft anderthalb Rubel bezahlte. Für dieses Geld kaufte man sich Semmeln, und derjenige, der den Wassjka gekauft hatte, verkaufte das Fleisch stückweise an seine Genossen zum Braten. Das Fleisch erwies sich als ungewöhnlich schmackhaft.
Eine Zeitlang lebte bei uns im Zuchthause auch ein Adler (Karagusch), von der Art der kleinen Steppenadler. Jemand hatte ihn verwundet und halbtot ins Zuchthaus gebracht. Das ganze Zuchthaus umringte ihn; er konnte gar nicht fliegen: der rechte Flügel hing zu Boden, das eine Bein war verrenkt. Ich erinnere mich, mit welcher Wut er um sich blickte, die neugierige Menge musternd, und wie er seinen krummen Schnabel aufriß, offenbar gefaßt, sein Leben nicht so billig herzugeben. Als alle sich an ihm sattgesehen hatten und auseinandergingen, watschelte er, auf dem einen Beine hinkend und den unversehrten Flügel schwingend, in die entfernteste Ecke des Zuchthauses, wo er sich in einen Winkel verkroch und sich fest an die Palisaden schmiegte. Hier lebte er bei uns an die drei Monate und verließ während dieser ganzen Zeit kein einziges Mal seinen Winkel. Anfangs kamen die Arrestanten recht oft, um ihn zu sehen, und hetzten auf ihn den Hund. Scharik stürzte sich voller Wut auf ihn, hatte aber offenbar Angst, näher zu kommen, was die Arrestanten sehr amüsierte. »So ein wildes Tier!« sagten sie, »will sich nicht anfassen lassen!« Später fing aber auch Scharik an, ihm arg zuzusetzen; er fürchtete ihn nicht mehr, und wenn man ihn auf den Adler hetzte, packte er ihn geschickt am kranken Flügel. Der Adler wehrte sich aus aller Kraft mit dem Schnabel und musterte stolz und wild, wie ein verwundeter König, in seine Ecke gedrückt, die Neugierigen, welche kamen, um ihn sich anzusehen. Schließlich interessierte sich niemand mehr für ihn; alle hatten ihn aufgegeben und vergessen, und doch sah man jeden Tag in seiner Nähe Stückchen frisches Fleisch und eine Scherbe mit Wasser. Also sorgte doch jemand für ihn. Anfangs wollte er nicht mal fressen und fraß auch einige Tage nicht; endlich fing er an, das Futter anzunehmen, doch niemals aus der Hand und niemals vor Menschenaugen. Mir gelang es öfters, ihn aus der Ferne zu beobachten. Wenn er niemand sah und glaubte, daß er allein sei, entschloß er sich zuweilen, etwas aus seiner Ecke herauszukommen, humpelte längs der Palisaden etwa zwölf Schritte weit von seinem Platz, kehrte wieder zurück und kam wieder heraus, als wollte er bloß Bewegung machen. Wenn er mich erblickte, eilte er sofort, so schnell er konnte, hinkend und hüpfend auf seinen Platz zurück, warf den Kopf in den Nacken, sperrte den Schnabel auf, sträubte die Federn und machte sich kampfbereit. Ich konnte ihn durch keinerlei Liebkosungen zähmen: er biß und schlug um sich, nahm von mir kein Fleisch an und sah mich, solange ich über ihm stand, starr und unverwandt mit seinen bösen, durchdringenden Blicken an. Er wartete einsam und haßerfüllt auf seinen Tod, ohne jemand zu vertrauen und ohne sich mit jemand zu versöhnen. Endlich erinnerten sich die Arrestanten seiner, und obwohl an ihn fast zwei Monate lang niemand gedacht hatte, erwachte plötzlich in allen ein Mitgefühl mit ihm. Man begann darüber zu sprechen, daß man den Adler aus dem Zuchthause hinausschaffen müsse. »Mag er verrecken, aber nur nicht im Zuchthause,« sagten die einen.
»Gewiß, ist ja ein freier, wilder Vogel, läßt sich nicht ans Zuchthaus gewöhnen,« stimmten die andern bei.
»Ist wohl anders als wir,« bemerkte jemand.
»Das war gescheit von dir: er ist doch ein Vogel, und wir sind immerhin Menschen.«
»Der Adler ist der König der Wälder...« begann Skuratow, aber diesmal wollte ihm niemand zuhören.
An einem Nachmittag, als die Trommel zur Arbeit rief, nahm man den Adler, hielt ihm den Schnabel mit der Hand zu, da er wütend um sich schlug, und trug ihn aus dem Zuchthause. Man brachte ihn auf den Festungswall. Die zwölf Mann, die diesen Trupp bildeten, waren neugierig zu sehen, wohin nun der Adler gehen würde. Seltsam: alle waren irgendwie zufrieden, als ob sie selbst die Freiheit wiedererlangten.
»Dieses verdammte Vieh: man tut ihm Gutes, er aber beißt!« sagte derjenige, der ihn hielt, den bösen Vogel fast liebevoll anblickend.
»Laß ihn los, Mikitka!«
»Der läßt sich nicht anführen. Er verlangt nach der wirklichen, echten Freiheit.«
Man warf den Adler vom Wall in die Steppe hinunter. Es war im Spätherbst, an einem kalten, trüben Tage. Der Wind pfiff durch die nackte Steppe und rauschte im gelben, trockenen, zottigen Steppengras. Der Adler lief geradeaus, seinen gesunden Flügel schwingend, als beeilte er sich, von uns, ganz gleich wohin, wegzukommen. Die Arrestanten verfolgten mit neugierigen Blicken, wie sein Kopf durch das Gras huschte.
»Sieh ihn mal einer an!« versetzte nachdenklich der eine.
»Blickt nicht mal zurück!« fügte ein anderer hinzu. »Hat sich kein einziges Mal umgeschaut, läuft immer weiter!«
»Hast du vielleicht geglaubt, daß er umkehrt, um sich zu bedanken?« bemerkte ein dritter.
»Natürlich, es ist die Freiheit. Er hat die Freiheit gespürt.«
»Ja, die Freiheit.«
»Jetzt ist er nicht mehr zu sehen, Brüder...«
»Was steht ihr noch herum? Marsch!« schrien die Wachsoldaten, und alle trabten schweigsam zur Arbeit.
Der Herausgeber der Aufzeichnungen des verstorbenen Alexander Petrowitsch Gorjantschikow hält es für seine Pflicht, zu Beginn dieses Kapitels seinen Lesern folgendes mitzuteilen:
Im ersten Kapitel der »Aufzeichnungen aus dem toten Hause« sind einige Worte über einen Adligen, der einen Vatermord begangen hatte, gesagt. Unter anderem wurde er als ein Beispiel für die Gefühllosigkeit hingestellt, mit der manche Arrestanten von ihren Verbrechen sprechen. Es hieß darin ferner, daß der Mörder sein Verbrechen vor Gericht nicht eingestanden habe, daß aber die Tatsachen nach den Aussagen der Menschen, die alle Einzelheiten seiner Geschichte kannten, dermaßen klar gewesen seien, daß es unmöglich gewesen sei, an das Verbrechen nicht zu glauben. Diese selben Menschen erzählten dem Verfasser der »Aufzeichnungen«, daß der Verbrecher früher einen höchst liederlichen Lebenswandel geführt hätte, tief in Schulden steckte und seinen Vater aus Gier nach der Erbschaft ermordet habe. Übrigens wurde diese Geschichte von allen Bewohnern der Stadt, in der dieser Vatermörder einst gedient hatte, vollkommen gleichlautend erzählt. Über diese letztere Tatsache besitzt der Herausgeber der »Aufzeichnungen« recht zuverlässige Nachrichten. Schließlich heißt es in den »Aufzeichnungen,« daß der Mörder sich im Zuchthause ständig in der besten und heitersten Gemütsverfassung befunden habe; daß er ein überspannter, leichtsinniger und im höchsten Grade unsolider Mensch, aber durchaus kein Dummkopf gewesen sei, und daß der Verfasser der »Aufzeichnungen« an ihm niemals irgendeine besondere Grausamkeit wahrgenommen habe. Gleich dabei standen die Worte: »natürlich glaubte ich an dieses Verbrechen nicht«.
Dieser Tage erhielt der Herausgeber der »Aufzeichnungen aus dem toten Hause« die Nachricht aus Sibirien, daß der Verbrecher tatsächlich unschuldig war und unverdienterweise zehn Jahre in der Zwangsarbeit geschmachtet hatte; daß seine Unschuld offiziell vom Gericht anerkannt worden ist; daß die wirklichen Verbrecher sich gefunden und alles gestanden haben und daß der Unglückliche bereits aus dem Zuchthause befreit worden ist. Der Herausgeber kann an der Richtigkeit dieser Nachricht unmöglich zweifeln...
Es ist dem nichts mehr hinzuzufügen. Es hat keinen Zweck, sich über die ganze tiefe Tragik dieses Falles und über das in einem so jugendlichen Alter unter einer so furchtbaren Anklage zugrunde gerichtete Leben zu verbreiten. Die Tatsache ist allzu verständlich und schon an sich allzu erschütternd.
Wir glauben auch, daß schon die bloße Möglichkeit einer solchen Tatsache einen neuen und außerordentlich grellen Zug zur Charakteristik und zur Vervollständigung des Bildes des toten Hauses beiträgt. Indessen fahren wir aber fort.
Ich sagte schon früher, daß ich mich endlich in meine Lage im Zuchthause hineingefunden hatte. Aber dieses »endlich« geschah sehr langsam und qualvoll und gar zu allmählich. Eigentlich brauchte ich dazu fast ein ganzes Jahr, und dieses Jahr war das schwerste Jahr meines ganzen Lebens. Darum blieb es auch als etwas Ganzes in meinem Gedächtnisse erhalten. Mir scheint, daß ich mich auf jede Stunde dieses Jahres der Reihe nach besinnen kann. Ich sagte ferner, daß auch die andern Arrestanten sich an dieses Leben niemals wirklich gewöhnen konnten. Ich erinnere mich noch, wie ich mich in diesem ersten Jahre oft fragte: »Und wie steht es mit ihnen? Sind sie denn ruhig?« Solche Fragen beschäftigten mich sehr. Ich erwähnte schon, daß alle diese Arrestanten hier nicht wie bei sich zu Hause, sondern wie in einer Herberge, auf einem Marsche, auf einer Etappe gelebt hatten. Selbst die auf Lebenszeit verschickten Menschen waren unruhig oder voller Sehnsucht, und ein jeder von ihnen gab sich zweifellos Träumereien über etwas fast Unmögliches hin. Diese ewige Unruhe, die sich zwar stumm, aber sichtbar äußerte, diese seltsame Hitzigkeit und die Ungeduld, mit der manche Hoffnung unwillkürlich ausgesprochen wurde, eine Hoffnung, die zuweilen dermaßen grundlos war, daß sie eher einem Fieberwahne glich, und die manchmal, was gerade das Seltsamste war, auch in den anscheinend praktischsten Köpfen lebte, – dies alles verlieh diesem Orte einen ungewöhnlichen Anstrich und Charakter, und diese Züge bildeten vielleicht seine charakteristischste Eigentümlichkeit. Man fühlte irgendwie auf den ersten Blick, daß es außerhalb des Zuchthauses nichts Ähnliches gab. Hier waren alle Menschen Träumer, und das fiel sofort auf. Man erkannte es mit einem gewissen Schmerz, und zwar gerade daran, daß diese Verträumtheit den meisten Zuchthausbewohnern ein eigentümliches mürrisches, düsteres, ungesundes Aussehen verlieh. Die überwiegende Mehrheit war schweigsam und boshaft bis zum Haß und liebte es nicht, ihre Hoffnungen zu äußern. Offenherzigkeit und Aufrichtigkeit wurden stets verachtet. Je unerfüllbarer die Hoffnungen waren und je mehr der Träumer selbst von ihrer Unerfüllbarkeit überzeugt war, um so hartnäckiger und schamhafter trug er sie in seinem Innern, konnte aber auf sie niemals verzichten. Wer weiß, vielleicht schämte sich mancher in seinem Innern dieser Hoffnungen. Im russischen Charakter liegt ja so viel Nüchternes und Positives, so viel Spott über sich selbst... Vielleicht beruhten gerade auf dieser fortwährenden heimlichen Unzufriedenheit mit sich selbst diese ungewöhnliche Unduldsamkeit dieser Leute in ihren täglichen Beziehungen, diese Unversöhnlichkeit und diese Vorliebe, über einander zu spotten. Und wenn manchmal einer von ihnen, der naiver als die anderen war, es wagte, laut auszusprechen, was sich alle anderen bloß dachten, und sich über die Hoffnungen und Träumereien zu ergehen, so wurde er von den anderen sofort auf eine rohe Weise zurechtgewiesen, unterbrochen und ausgelacht; aber ich glaube, daß dabei gerade diejenigen die Unduldsamsten waren, die in ihren Träumereien und Hoffnungen noch weiter gingen als er. Die Naiven und Einfältigen wurden bei uns überhaupt, wie ich schon sagte, als die größten Dummköpfe angesehen und mit der tiefsten Verachtung behandelt. Ein jeder war so düster und egoistisch, daß er einen jeden gutmütigen und nicht egoistischen Menschen verachtete. Alle, außer diesen naiven und einfältigen Schwätzern, d.h. die Schweigsamen zerfielen in zwei scharf getrennte Kategorien: in Gutmütige und Böse, in Düstere und Heitere. Von den Düsteren und Bösen gab es unvergleichlich mehr; wenn es unter diesen auch solche gab, die ihrer Natur nach gesprächig waren, so waren sie alle unbedingt unruhige Klatschbasen und Neidhammel. Sie kümmerten sich um alle fremden Angelegenheiten, obwohl sie ihre eigene Seele, ihre eigenen heimlichen Angelegenheiten vor niemand enthüllten. Das war nicht Mode und nicht Sitte. Die Gutmütigen – eine sehr kleine Gruppe – waren still, trugen ihre Hoffnungen stumm in sich und waren natürlich mehr als die Düsteren geneigt, an sie zu glauben. Mir scheint übrigens, daß es im Zuchthause auch noch eine Kategorie der vollständig Verzweifelten gab. Zu diesen zähle ich z.B. den Alten aus den Siedlungen von Starodub; jedenfalls gab es ihrer sehr wenig. Der Alte war äußerlich ruhig (ich sprach schon von ihm), aber ich schließe aus verschiedenen Anzeichen, daß sein Seelenzustand ein entsetzlicher war. Übrigens hatte er ja seine Rettung und seinen Ausweg: das Gebet und die Idee des Märtyrertums. Der verrückte Arrestant, den ich auch schon erwähnt habe, der sich an der Bibel überlesen und sich mit einem Ziegelstein gegen den Major gestürzt hatte, gehörte wohl auch zu den Verzweifelten, zu denen, die von der allerletzten Hoffnung verlassen waren; da man aber ohne jede Hoffnung unmöglich leben kann, so ersann er sich einen Ausweg in dem freiwilligen, fast künstlichen Martyrertum. Er erklärte auch, er hätte sich gegen den Major nicht aus Bosheit gestürzt, sondern einzig vom Wunsche beseelt, Leiden auf sich zu nehmen. Wer weiß, was für ein psychologischer Prozeß sich damals in seiner Seele abspielte! Ohne ein Ziel und ohne ein Streben lebt kein einziger lebender Mensch. Wenn der Mensch jedes Ziel und jede Hoffnung verloren hat, so verwandelt er sich häufig vor Gram in ein Ungeheuer... Wir alle hatten das eine Ziel: frei zu werden und aus dem Zuchthause herauszukommen.
Übrigens versuchte ich soeben, die ganze Bevölkerung unseres Zuchthauses in Kategorien zu teilen; ist das aber möglich? Die Wirklichkeit ist von einer unendlichen Mannigfaltigkeit im Vergleich mit allen, selbst den kompliziertesten Schlüssen des abstrakten Denkens und leidet keine scharfen und groben Einteilungen. Die Wirklichkeit strebt nach Zersplitterung in einzelne Individuen. Wir hatten ja auch ein eigenes Leben. Mochte unser Leben sein, wie es wollte, aber es war ein nicht bloß offizielles, sondern inneres, persönliches Leben.
Aber, wie ich zum Teil schon erwähnte, konnte ich am Anfang meines Zuchthausaufenthaltes in die innere Tiefe dieses Lebens nicht eindringen; mir fehlte noch die Fähigkeit dazu, und darum quälten mich alle äußeren Erscheinungen dieses Lebens in einer unbeschreiblichen Weise. Zuweilen haßte ich einfach diese Menschen, die dasselbe litten wie ich. Ich beneidete sie darum, daß sie wenigstens unter sich in einem gewissen kameradschaftlichen Verhältnisse lebten und einander verstanden, obwohl ihnen allen im Grunde genommen diese Kameradschaft unter der Knute und dem Stock, dieses erzwungene Zusammenleben ebenso wie mir widerlich geworden war und ein jeder von ihnen nach der Seite schielte. Ich wiederhole, daß dieser Neid, der mich in Augenblicken der Erbosung überkam, wohl seine Berechtigung hatte. Entschieden unrecht haben diejenigen, die da behaupten, daß ein Adliger, Gebildeter usw. es in unseren Strafanstalten und Zuchthäusern ebenso schwer habe wie jeder Bauer. Ich habe diese Behauptung gehört und in der letzten Zeit auch gelesen. Der tiefste Grund dieser Idee ist wohl richtig und human. Wir sind eben alle Menschen. Doch die Idee selbst ist allzu abstrakt. Es sind dabei sehr viele praktische Umstände außer acht gelassen worden, die man nur in der Praxis wirklich begreifen kann. Ich sage es nicht, weil der Adlige und Gebildete alles etwa feiner und schmerzhafter empfänden, weil ihre Gefühle vollkommener ausgebildet seien. Die Seele und ihre Entwicklung lassen sich schwer unter irgendein Maß bringen. Selbst die Bildung ist in diesem Falle kein Maßstab. Ich will als der erste bezeugen, daß ich selbst unter den ungebildetsten und niedergedrücktesten Menschen, unter diesen Duldern Züge der feinsten seelischen Entwicklung getroffen habe. Im Zuchthause kam es häufig vor, daß man einen Menschen mehrere Jahre hintereinander kannte und für keinen Menschen, sondern für ein Tier hielt und verachtete. Plötzlich kam aber zufällig ein Augenblick, wo seine Seele sich unwillkürlich auftat und man in ihr einen solchen Reichtum, ein so großes und herzliches Gefühl, eine so klare Vorstellung von seinem eigenen und auch von fremdem Leide erblickte, daß es einem förmlich wie Schuppen von den Augen fiel, und man im ersten Augenblick gar nicht glauben wollte, was man selbst sah und hörte. Es gibt auch entgegengesetzte Erscheinungen: Bildung paart sich zuweilen mit solcher Barbarei, mit solchem Zynismus, daß man einen Ekel davor empfindet und, selbst wenn man noch so gutmütig und für den Betreffenden eingenommen ist, in seiner Seele keinerlei Entschuldigung oder Rechtfertigung für ihn findet.
Ich sage auch nichts von der Veränderung der Gewohnheiten, der Lebensweise, der Kost usw., was für einen Menschen aus den höheren Gesellschaftsschichten natürlich schwerer ist, als für einen Bauern, der in der Freiheit oft gehungert hat und sich im Zuchthause wenigstens satt essen kann. Ich will auch darüber nicht streiten. Nehmen wir an, daß es für einen einigermaßen willensstarken Menschen immer noch eine Bagatelle ist im Vergleich mit den anderen Unannehmlichkeiten, obwohl die Veränderung der gewohnten Lebensweise eigentlich durchaus keine Kleinigkeit ist. Aber es gibt Unannehmlichkeiten, vor denen dies alles dermaßen verblaßt, daß man weder auf den Schmutz, noch auf den Druck, noch auf die magere, unappetitliche Kost achtet. Der verwöhnteste und verzärtelteste Faulenzer wird, nachdem er im Schweiße seines Angesichts so gearbeitet hat, wie er es früher in der Freiheit niemals tat, auch grobes Schwarzbrot und Kohlsuppe mit Schaben essen. Daran kann man sich gewöhnen, wie es auch in dem humoristischen Arrestantenliede vom einstigen verzärtelten Nichtstuer, der ins Zuchthaus geraten ist. heißt:
Gibt man mir Kohl mit kaltem Wasser,
So freß ich, daß die Backe kracht.
Nein, viel wichtiger als dieses alles ist, daß jeder andere Neuankömmling schon zwei Stunden nach seiner Ankunft im Zuchthause zum gleichen Arrestanten wird, wie es die anderen sind, gleichsam bei sich zu Hause ist und ein gleichberechtigtes Mitglied der Arrestantengenossenschaft wird. Er versteht alle, und alle verstehen ihn; alle kennen ihn und halten ihn für den ihrigen. Ganz anders ist es mit dem Vornehmen, mit dem Adligen. Mag er noch so gerecht, gütig und klug sein, die ganze Masse wird ihn dennoch jahrelang hassen und verachten; man wird ihn nicht verstehen und ihm, vor allem, nicht glauben. Er ist kein Freund und kein Kamerad der andern, und selbst wenn er es mit den Jahren endlich erreicht, daß man ihn zu verfolgen aufhört, so wird er ihnen dennoch ewig ein Fremder bleiben und ewig schmerzvoll seine Isolierung und Einsamkeit empfinden. Diese Isolierung geschieht zuweilen ohne jede Gehässigkeit seitens der Arrestanten, sondern irgendwie unbewußt. Man hat es eben mit einem fremden Menschen zu tun und fertig. Es gibt nichts Schrecklicheres, als in einer solchen Umgebung zu leben, in die man nicht hineinpaßt. Ein Bauer, der von Taganrog am Asowschen Meer nach Petropawlowsk auf der Kamtschatka übersiedelt wird, findet dort sofort einen gleichen russischen Bauern, mit dem er sich sofort verständigt und mit dem er vielleicht schon nach zwei Stunden auf die friedlichste Weise im gleichen Zelt oder Haus leben wird. Anders verhält es sich mit den Adligen. Sie sind vom gemeinen Volk durch eine tiefe Kluft getrennt, und das fühlt man erst dann im vollen Umfange, wenn der »Adlige« plötzlich durch die Gewalt äußerer Umstände seine früheren Vorrechte verliert und sich in gemeines Volk verwandelt. Sonst kann man sein ganzes Leben lang mit dem Volke verkehren, man kann mit ihm vierzig Jahre lang täglich zusammenkommen, z.B. dienstlich, in den konventionellen amtlichen Formen, oder sogar einfach freundschaftlich als Wohltäter oder gewissermaßen als Vater, und dabei die Wirklichkeit doch nicht erfahren. Alles wird nur eine optische Täuschung sein und sonst nichts. Ich weiß ja, daß alle, absolut alle, beim Lesen dieser Bemerkung sagen werden, daß ich übertreibe. Aber ich bin überzeugt, daß meine Bemerkung richtig ist. Ich habe diese Überzeugung nicht aus Büchern, nicht aus Spekulationen, sondern aus der Wirklichkeit geschöpft und habe genügend Zeit gehabt, um meine Überzeugungen nachzuprüfen. Vielleicht werden später einmal alle erfahren, wie richtig meine Anschauung ist.
Die Ereignisse bestätigten zufällig gleich vom ersten Schritt an meine Wahrnehmungen und wirkten auf mich krankhaft und enervierend. In diesem ersten Sommer trieb ich mich im Zuchthause fast immer mutterseelenallein herum. Ich sagte schon, daß ich mich in einer solchen Gemütsverfassung befand, daß ich selbst diejenigen Zuchthäusler nicht unterscheiden und schätzen konnte, die später imstande waren, mich zu lieben, obwohl sie sich doch niemals wie meinesgleichen gaben. Ich hatte auch unter den Adligen Kameraden, aber diese Kameradschaft vermochte von meiner Seele nicht die Last zu nehmen. Am liebsten hätte ich überhaupt nichts von meiner Umgebung gesehen, aber ich konnte sie doch nicht fliehen. Da ist z.B. einer der Fälle, die mir sofort meine besondere und isolierte Lage im Zuchthause zu fühlen gaben. An einem heiteren und heißen Wochentage, es war schon im August, gegen ein Uhr nachmittags, als sonst alle vor der Nachmittagsarbeit auszuruhen pflegten, erhoben sich plötzlich alle Zuchthausinsassen wie ein Mann und begannen sich im Hofe aufzustellen. Ich hatte bis zu diesem Augenblicke noch nichts gewußt. Um jene Zeit war ich zuweilen so sehr in meine eigenen Gedanken vertieft, daß ich fast nichts davon merkte, was um mich herum vorging. Das ganze Zuchthaus befand sich aber schon seit drei Tagen in einer dumpfen Aufregung. Vielleicht hatte diese Erregung sogar schon viel früher angefangen, wie ich später vermutete, als ich mich mancher Gespräche der Arrestanten erinnerte und zugleich der gesteigerten Zanksucht, Verbissenheit und der besonderen Gereiztheit, die sie in der letzten Zeit gezeigt hatten. Ich schrieb das der schweren Arbeit zu, den langen, langweiligen Sommertagen, den unwillkürlichen Träumereien von Wäldern und Freiheit und den kurzen Nächten, in denen es schwer war, ordentlich auszuschlafen. Vielleicht hatte sich dies alles zu einer einzigen Explosion angesammelt, aber der unmittelbare Anlaß zu dieser Explosion war die Kost. Die Arrestanten beklagten und entrüsteten sich schon seit mehreren Tagen in den Kasernen und besonders, wenn sie sich in der Küche beim Mittagessen oder Abendbrot trafen; sie waren unzufrieden mit den »Köchinnen«, versuchten sogar eine von ihnen abzusetzen, jagten aber die neue fort und stellten wieder die alte an. Mit einem Worte, alle befanden sich in einer unruhigen Gemütsverfassung.
»Die Arbeit ist so schwer, aber sie füttern uns mit Därmen,« brummte einer von den Arrestanten in der Küche.
»Wenn's dir nicht gefällt, so bestell dir einen blanc-manger,« fiel ihm ein anderer ins Wort.
»Kohlsuppe mit Därmen eß ich sehr gern, Brüder,« bemerkt ein Dritter, »denn sie schmeckt sehr gut.«
»Wenn man dich aber ewig mit Därmen füttert, wird dir das ebensogut schmecken?«
»Jetzt ist natürlich die richtige Zeit zum Fleischessen,« sagt ein Vierter: »Wir mühen uns auf der Ziegelei furchtbar ab, und nach der Arbeit hat man ordentlich Hunger. Aber Därme – was ist das für ein Essen!«
»Und wenn es keine Därme gibt, so gibt es Lunge.«
»Ja, auch noch Lunge. Därme und Lunge, – das ist alles, was sie uns geben. Was ist das für ein Essen! Ist das gerecht?«
»Gewiß, die Kost ist schlecht.«
»Er füllt sich wohl die Tasche.«
»Das geht doch dich nichts an.«
»Wen geht es denn an? Es handelt sich doch um meinen Magen. Wenn wir alle gemeinsam eine Beschwerde vorbringen, so wird es schon helfen.«
»Eine Beschwerde?«
»Ja.«
»Man hat dich wohl wegen solcher Beschwerden wenig geprügelt, du Klotz!«
»Es stimmt,« wendet brummig ein anderer ein, der bisher geschwiegen hat; »das mit der Beschwerde ist schnell gemacht, führt aber zu nichts. Was wirst du denn bei der Beschwerde sagen, das überleg dir mal, du kluger Kopf!«
»Ich werde schon was sagen. Wenn alle hingehen, so spreche ich mit den andern. Ich meine die Armut. Der eine hat bei uns sein eigenes Essen, der andere aber nichts als Kommiß.«
»Du scheeläugiger Neidhammel! Wie dir die Augen nach fremdem Gut brennen!«
»Sei nicht neidisch, sondern sieh zu, daß du dir selbst was schaffst.«
»Jawohl, da kann man viel schaffen! Ich werde mit dir darüber streiten, bis ich grau werde. Du bist wohl reich, wenn du nicht mittun willst?«
»Reich ist der Gevatter: hat einen Hund und einen Kater.«
»Warum sollen wir es wirklich noch länger dulden, Brüder! Das heißt ja ihre Mißbräuche begünstigen. Sie schinden uns die Haut. Warum sollen wir uns nicht wehren?«
»Warum? Man muß dir wohl alles vorkauen und in den Mund legen: bist gewohnt, Vorgekautes zu fressen. Wir sind eben im Zuchthause, darum!«
»Wißt ihr, was dabei herauskommt? Gott bringt unter das Volk Uneinigkeit, damit die Vorgesetzten fett werden.«
»Das stimmt. Der Achtäugige ist zu dick geworden. Hat sich ein Paar Graue angeschafft.«
»Auch trinkt er gern über den Durst.«
»Neulich hat er sich mit dem Veterinär beim Kartenspiel geprügelt. Die ganze Nacht hatten sie gespielt. Der Unsrige hat zwei Stunden lang die Fäuste des Veterinärs kosten müssen, Fedjka hat es mir erzählt.«
»Darum kriegen wir auch Kohlsuppe mit Lunge.«
»Ach, ihr Dummköpfe! Unsere Stellung ist nicht so, daß wir uns eine Beschwerde erlauben dürften.«
»Wenn wir aber alle kommen, so wirst du schon sehen, wie er sich rechtfertigen wird. Darauf müssen wir bestehen.«
»Ja, rechtfertigen! Er haut dich einfach in die Fresse und geht wieder weg.«
»Außerdem kommt man vors Gericht...«
Mit einem Worte, alle waren in Aufregung. Um jene Zeit hatten wir tatsächlich schlechte Kost. Es kam überhaupt eines zum andern. Vor allem war es aber die trübe Stimmung, die ständige, heimliche Qual. Der Zuchthäusler ist schon von Natur streitsüchtig und aufrührerisch; aber es kommt doch selten vor, daß sich alle zusammen oder wenigstens in großer Menge auflehnen. Der Grund dafür ist die ewige Uneinigkeit. Dieses fühlte auch ein jeder von ihnen selbst: darum wurde bei uns auch mehr geschimpft als gehandelt. Diesmal blieb aber die allgemeine Aufregung nicht ohne Folgen. Man fing an, sich in kleinen Gruppen zu versammeln, in den Kasernen zu diskutieren, zu schimpfen und das ganze Regiment unseres Majors gehässig zu kritisieren; man erinnerte sich jeder Kleinigkeit. Einige regten sich ganz besonders auf. Bei jeder ähnlichen Gelegenheit treten immer Anstifter und Rädelsführer auf. Diejenigen, die in solchen Fällen, d.h. bei Beschwerden, die Führer spielen, sind überhaupt sehr merkwürdige Menschen, und zwar nicht im Zuchthaus allein, sondern in allen Genossenschaften, Kommandos usw. Das ist ein besonderer Typus, der überall gleich ist. Es sind hitzige Menschen, die nach Gerechtigkeit lechzen und auf die naivste und ehrlichste Weise von der Möglichkeit und sogar Unausbleiblichkeit derselben überzeugt sind. Diese Leute sind nicht dümmer als die andern, unter ihnen gibt es sogar sehr kluge, aber sie sind allzu hitzig, um schlau zu sein und die Folgen zu berechnen. Wenn in solchen Fällen zuweilen auch wirklich Menschen auftreten, die es verstehen, die große Masse geschickt zu lenken und das Spiel zu gewinnen, so stellen diese einen ganz anderen Typus von geborenen Volksführern dar, einen Typus, der bei uns äußerst selten vorkommt. Aber die Anstifter und Urheber von Beschwerden, von denen ich jetzt spreche, verlieren fast immer das Spiel und kommen dann deswegen in die Gefängnisse und Zuchthäuser. Sie verlieren das Spiel durch ihre Hitzigkeit, aber dieselbe Hitzigkeit ist der Grund ihres Einflusses auf die Masse. Man folgt ihnen gern. Ihr Feuer und ihre aufrichtige Empörung wirken auf alle, und zuletzt schließen sich ihnen selbst die Unentschlossensten an. Ihr blinder Glaube an den Erfolg verführt sogar die eingefleischtesten Skeptiker, obwohl er zuweilen so kindlich unsichere Grundlagen hat, daß man sich wundern muß, wie sie überhaupt jemand haben mitreißen können. Das wichtigste aber ist, daß sie allen vorangehen und nichts fürchten. Sie stürzen sich wie die Stiere mit gesenkten Hörnern vor, oft ohne jede Kenntnis des Sachverhalts, ohne jede Vorsicht, ohne den praktischen Jesuitismus, der oft sogar dem gemeinsten und schmutzigsten Menschen hilft, eine Sache zu gewinnen, sein Ziel zu erreichen und trocken aus dem Wasser herauszukommen. Diese aber zerbrechen sich immer die Hörner. Im normalen Leben sind sie gallig, empfindlich, reizbar und unduldsam; in den meisten Fällen furchtbar beschränkt, worin übrigens zum Teil ihre Stärke liegt. Das Ärgerlichste an ihnen aber ist, daß sie, statt gerade auf das Ziel loszusteuern, von diesem abschweifen und sich verzetteln. Das richtet sie eben zugrunde. Doch die große Masse versteht sie sehr gut, und darauf beruht ihre Gewalt... übrigens muß ich noch ein paar Worte darüber sagen, was eigentlich eine »Beschwerde« ist...
Bei uns befanden sich mehrere Leute, die wegen Beschwerden ins Zuchthaus geraten waren. Diese regten sich jetzt auch am meisten auf. Besonders einer von ihnen, der ehemalige Husar Martynow, ein hitziger, unruhiger und argwöhnischer, dabei aber anständiger und wahrheitsliebender Mensch. Der andere war Wassilij Antonow, in dem sich Kaltblütigkeit und Gereiztheit paarten, ein Kerl mit einem frechen Blick und einem hochmütigen sarkastischen Lächeln, geistig hochentwickelt, übrigens gleichfalls anständig und wahrheitsliebend. Alle kann ich übrigens gar nicht aufzählen; es gab ihrer gar zu viele. Unter anderm rannte Petrow immer hin und her, hörte überall zu, sprach wenig, befand sich aber in sichtlicher Aufregung und sprang als erster aus der Kaserne heraus, als man sich im Hofe aufstellte.
Unser Zuchthausunteroffizier, der bei uns das Amt eines Feldwebels versah, erschien sofort, aufs höchste erschrocken. Nachdem sich die Zuchthäusler aufgestellt hatten, baten sie ihn höflich, dem Major zu sagen, daß das Zuchthaus mit ihm zu sprechen wünsche und eine Bitte wegen einiger Punkte vorbringen möchte. Gleich nach dem Unteroffizier kamen auch alle Invaliden heraus und stellten sich auf der anderen Seite, den Arrestanten gegenüber, auf. Der Auftrag, der dem Unteroffizier erteilt worden war, war ein ganz außerordentlicher und versetzte ihn in Schrecken. Er wagte aber nicht, es nicht sofort dem Major zu melden. Erstens, wenn das Zuchthaus sich schon einmal erhoben hat, so kann daraus immer noch etwas Schlimmeres werden. Die ganze Obrigkeit war den Arrestanten gegenüber ungewöhnlich feige. Zweitens, selbst wenn daraus nichts geworden wäre und alle sich sofort besonnen und zurückgezogen hätten, so müßte der Unteroffizier auch in diesem Falle alles der Obrigkeit melden. Blaß und vor Angst zitternd begab er sich eilig zum Major, ohne sogar einen Versuch zu unternehmen, die Arrestanten selbst zu befragen und zu ermahnen. Er sah, daß sie jetzt mit ihm gar nicht reden würden.
Ich hatte keine Ahnung davon, was los war, und trat gleichfalls in den Hof, um mich mit den andern aufzustellen. Alle Einzelheiten der Sache erfuhr ich erst später. Jetzt dachte ich bloß, daß irgendeine Kontrolle vorgenommen werde; als ich aber die Wachsoldaten vermißte, die die Kontrolle vorzunehmen pflegten, wunderte ich mich und begann mich umzusehen. Die Gesichter waren erregt und gereizt. Manche waren sogar blaß. Alle waren besorgt und schweigsam in Erwartung des Augenblicks, wo sie mit dem Major sprechen würden. Ich merkte, daß viele mich außerordentlich erstaunt ansahen und sich dann schweigend von mir wegwandten. Es kam ihnen offenbar seltsam vor, daß ich mich mit ihnen aufstellte. Sie glaubten offenbar nicht, daß auch ich mich an der Beschwerde beteiligen würde. Bald wandten sich aber alle, die um mich herum standen, wieder nach mir um. Alle blickten mich fragend an.
»Was suchst du hier?« fragte mich grob und laut Wassilij Antonow, der in einiger Entfernung von mir stand. Sonst pflegte er mir immer »Sie« zu sagen und mit mir höflich zu sprechen.
Ich sah ihn erstaunt an und gab mir noch immer Mühe, zu begreifen, was eigentlich los war. Ich ahnte schon, daß etwas Ungewöhnliches vor sich ging.
»Nein, wirklich, was sollst du hier herumstehen? Geh doch in die Kaserne,« sagte mir ein junger Bursche aus der Militärabteilung, mit dem ich bis dahin noch nie gesprochen hatte, ein gutmütiger und stiller Bursche. »Es ist nichts für dich.«
»Man stellt sich doch auf,« antwortete ich ihm, »ich glaubte, es sei eine Kontrolle.«
»Mußt auch dabei sein!« rief einer.
»Eiserner Schnabel!« fügte ein anderer hinzu.
»Fliegenmörder!« versetzte ein dritter mit unsagbarer Verachtung. Dieser neue Spitzname rief allgemeines Gelächter hervor.
»Der ist aus Gnade in der Küche angestellt,« fügte noch ein anderer hinzu.
»Für sie ist überall ein Paradies. Hier im Zuchthause essen sie Semmeln und kaufen sich Ferkel. Du ißt doch deine eigene Kost, was hast du dann hier zu suchen?«
»Hier ist kein Platz für Sie,« sagte Kulikow, mit einer ungenierten Miene auf mich zugehend; er faßte mich an der Hand und führte mich aus den Reihen hinaus.
Er selbst war blaß, seine schwarzen Augen funkelten, und er biß sich in die Unterlippe. Er erwartete den Major nicht so kaltblütig. Ich mochte es übrigens sehr gern, Kulikow in allen ähnlichen Fällen, d.h. wenn er sich hervortun wollte, zu beobachten. Er spielte Theater, handelte dabei aber auch wirklich. Ich glaube, daß er selbst zum Schafott mit einer gewissen Eleganz gegangen wäre. Jetzt, wo alle zu mir »du« sagten und auf mich schimpften, verdoppelte er sichtlich seine Höflichkeit gegen mich, zugleich waren aber seine Worte besonders energisch und sogar hochmütig und ließen keinen Widerspruch zu.
»Es sind unsere eigenen Angelegenheiten, Alexander Petrowitsch, und Sie haben hier nichts zu suchen. Gehen Sie doch irgendwo hin und warten Sie ab... Alle ihre Kameraden sind doch in der Küche, gehen Sie auch hin.«
»Zu des Teufels Großmutter!« fiel ihm jemand ins Wort.
Durch das offene Küchenfenster erblickte ich wirklich unsere Polen; es kam mir übrigens vor, als wäre dort auch außer ihnen eine Menge Leute. Gelächter, Schimpfworte und Schnalzen mit der Zunge (das bei den Zuchthäuslern das Pfeifen ersetzt) klangen hinter mir her.
»Es hat ihm hier nicht gefallen!... Faß ihn...«
Ich war im Zuchthause noch nie so schwer gekränkt worden, und es tat mir sehr weh. Aber ich hatte eben einen solchen Augenblick getroffen. Im Küchenvorraum traf ich T–wski, einen Adligen, einen energischen und edlen jungen Mann, ohne besondere Bildung, der an B. mit außerordentlicher Liebe hing. Die Zuchthäusler zeichneten ihn vor allen anderen aus und liebten ihn sogar auf ihre Weise. Er war tapfer, kühn und stark, und das äußerte sich in jeder seiner Gesten.
»Was ist mit Ihnen, Gorjantschikow,« rief er mir zu, »kommen Sie doch her!«
»Was ist denn dort los?«
»Die Leute bringen eine Beschwerde vor, wissen Sie es denn nicht? Es wird ihnen natürlich nicht gelingen: wer wird den Zuchthäuslern glauben? Man wird nach den Anstiftern suchen, und wenn wir dabei sind, wird man uns natürlich zu allererst der Meuterei anklagen. Vergessen Sie doch nicht, weswegen wir hergekommen sind. Die andern kommen einfach mit einer Rutenstrafe davon, uns stellt man aber vors Gericht. Der Major haßt uns alle und ist froh, uns zugrunde zu richten. Wir würden für ihn die beste Rechtfertigung bedeuten.«
»Auch die Zuchthäusler werden uns sofort ausliefern,« fügte M–cki hinzu, als wir in die Küche traten.
»Haben Sie keine Sorge: die werden mit uns kein Mitleid haben!« fiel ihm T–wski ins Wort.
In der Küche befanden sich außer den Adligen noch viele andere Leute, im ganzen an die dreißig Mann. Diese alle wollten sich an der Beschwerde nicht beteiligen; die einen aus Feigheit, die andern infolge der Überzeugung, daß alle solche Beschwerden völlig nutzlos seien. Auch Akim Akimytsch war in der Küche, der eingefleischte und geborene Feind aller derartigen Beschwerden, die den regelmäßigen Gang des Dienstes und den Anstand stören. Er wartete schweigend und außerordentlich ruhig auf den Ausgang der Sache, über den er sich nicht die geringsten Sorgen machte; er war vielmehr vollkommen vom unausbleiblichen Triumph der Ordnung und des Willens der Obrigkeit überzeugt. Auch Issai Fomitsch war dabei; er stand außerordentlich bestürzt da, ließ den Kopf hängen und lauschte gierig und feige unserem Gerede. Er war in großer Unruhe. Es waren hier auch alle einfachen Polen des Zuchthauses, die sich den Adligen angeschlossen hatten. Es waren ferner einige ängstliche, immer schweigsame und eingeschüchterte Russen dabei. Sie hatten keinen Mut, mit den andern aufzutreten, und warteten kummervoll ab, wie die Sache enden würde. Schließlich waren auch einige stets finstere und mürrische, durchaus nicht ängstliche Arrestanten dabei. Diese blieben aus Starrsinn und in der Überzeugung da, daß das Ganze ein Unsinn sei und zu nichts Gutem führen würde. Mir scheint aber, daß sie sich doch etwas unbehaglich fühlten und nicht sehr selbstbewußt waren. Sie wußten zwar, daß ihre Ansicht über den Mißerfolg der Beschwerde richtig war, was sich ja auch später bestätigte, aber sie fühlten sich dennoch gleichsam als Abtrünnige, die sich aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und ihre Genossen an den Platzmajor verraten hätten. Jolkin hatte sich ebenfalls hier eingefunden, der sibirische Bauer, der wegen Falschmünzerei hergekommen war und dem Kulikow seine tierärztliche Praxis weggenommen hatte. Den alten Mann aus den Siedlungen bei Starodub traf ich gleichfalls hier. Die »Köchinnen« waren sämtlich in der Küche geblieben, wohl in der Ansicht, daß sie ebenfalls zur Verwaltung gehörten und daß es sich ihnen folglich nicht zieme, gegen dieselbe aufzutreten.
»Sonst sind ja aber fast alle draußen,« sagte ich unsicher, mich an M–cki wendend.
»Was geht es aber uns an?« brummte B.
»Wir würden hundertmal mehr als die anderen riskieren, wenn wir uns daran beteiligten. Wozu? Je haïs ces brigands. Glauben Sie denn auch einen Augenblick daran, daß aus ihrer Beschwerde etwas wird? Was ist es auch für ein Vergnügen, sich in solche Dummheiten einzumischen?«
»Es wird daraus nichts werden,« fiel ihm einer der Zuchthäusler, ein trotziger und verbitterter alter Mann, ins Wort. Auch Almasow, der dabei war, beeilte sich zu bestätigen:
»Außer daß fünfzig Mann Ruten kriegen, – sonst wird aus der Sache nichts.«
»Der Major ist angekommen!« rief jemand, und alle stürzten gespannt zu den Fenstern.
Der Major kam böse, wütend, rot, mit der Brille auf der Nase hereingestürzt. In solchen Fällen war er tatsächlich mutig und verlor nicht die Geistesgegenwart. Übrigens war er fast immer halb betrunken. Sogar seine schmierige Mütze mit dem orangegelben Rand und seine schmutzigen silbernen Epaulettes machten in diesem Augenblick einen unheimlichen Eindruck. Ihm folgte der Schreiber Djatlow, eine sehr wichtige Persönlichkeit in unserem Zuchthause, die in Wirklichkeit alles verwaltete und sogar einen Einfluß auf den Major hatte, ein schlauer, auf seine eigenen Vorteile bedachter Bursche, aber kein schlechter Mensch. Die Arrestanten waren mit ihm zufrieden. Gleich nach ihm kam unser Unteroffizier, der offenbar ein fürchterliches Donnerwetter erhalten hatte und ein zehnmal schlimmeres erwartete; und ihm folgten drei oder vier Wachsoldaten. Die Arrestanten, die, wie ich glaube, schon von dem Augenblick an, wo sie nach dem Major geschickt, ohne Mütze gestanden hatten, richteten sich jetzt auf; ein jeder trat von dem einen Fuß auf den andern, und dann erstarrten sie alle in ihren Stellungen, in Erwartung des ersten Wortes oder, richtiger gesagt, des erstens Schreis des höchsten Vorgesetzten.
Dieser Schrei erfolgte unverzüglich: gleich nach dem zweiten Worte begann der Major aus voller Kehle zu brüllen, diesmal sogar zu kreischen: so wütend war er. Wir konnten aus den Fenstern sehen, wie er die Front entlang lief, wie er sich auf die Leute stürzte und an einzelne Fragen richtete. Übrigens konnten wir seine Fragen wegen der weiten Entfernung ebensowenig wie die Antworten der Arrestanten verstehen. Wir hörten nur, wie er mit hoher Stimme schrie:
»Meuterer!... Spießruten laufen!... Rädelsführer! Du bist der Rädelsführer! Du bist der Rädelsführer!« schrie er einen an.
Die Antwort war nicht zu hören. Aber wir sahen nach einem Augenblick, wie ein Arrestant sich von der ganzen Masse löste und sich nach der Hauptwache begab. Nach einem weiteren Augenblick folgte ihm ein zweiter, dann ein dritter. »Alle kommen vors Gericht! Ich werde euch! Wer ist dort in der Küche?« kreischte er, als er uns in den offenen Fenstern gewahrte. »Alle sollen sofort herkommen! Man treibe alle sofort her!«
Der Schreiber Djalow ging zu uns in die Küche. In der Küche erklärte man ihm, man hätte keine Beschwerde vorzubringen. Er ging sofort zurück und meldete es dem Major.
»So, sie haben keine Beschwerde vorzubringen!« versetzte jener sichtbar erfreut, zwei Töne tiefer. »Es ist ganz gleich, alle sollen sofort her!«
Wir kamen heraus. Ich fühlte, daß es uns etwas peinlich war, herauszukommen. Wir gingen auch alle mit gesenkten Köpfen.
»Aha, Prokofjew! Auch du, Jolkin, und das bist du, Almasow... Stellt euch auf, stellt euch auf, in einen Haufen,« sagte der Major zu uns in einem beschleunigten, aber milden Tone, uns freundlich anblickend. »M–cki, du bist auch hier... man soll sie alle aufschreiben. Djatlow! Schreib sofort alle auf, die Zufriedenen besonders und die Unzufriedenen besonders, alle ohne Ausnahme, und die Liste bekomme ich. Ich werde euch alle anzeigen... vors Gericht! Ich werde euch, Schurken!«
Die Erwähnung der Liste tat ihre Wirkung.
»Wir sind zufrieden!« rief plötzlich eine einzelne mürrische Stimme aus der Menge der Unzufriedenen, ziemlich unsicher.
»So, zufrieden! Wer ist zufrieden? Wer zufrieden ist, der soll vortreten.«
»Wir sind zufrieden, wir sind zufrieden!« meldeten sich noch einige Stimmen.
»Ihr seid zufrieden? Also hat man euch aufgewiegelt? Folglich gibt es unter euch Rädelsführer und Rebellen? Um so schlimmer für euch!...«
»Mein Gott, was ist denn das!« ertönte in der Menge eine einzelne Stimme.
»Wer, wer hat eben geschrien, wer?« brüllte der Major, nach der Seite stürzend, von der die Stimme ertönt war. »Hast du das geschrien, Rastorgujew? Auf die Hauptwache!«
Rastorgujew, ein etwas aufgedunsener, großgewachsener Bursche, trat vor und begab sich langsam nach der Hauptwache. Es war gar nicht er, der geschrien hatte, da man aber auf ihn hinwies, so widersprach er nicht.
»Ihr seid wohl vor lauter Fett toll geworden!« brüllte der Major ihm nach. »Du dicke Fratze, du wirst mir drei Tage nicht... Ich werde euch alle herausfinden! Die Zufriedenen sollen vortreten!«
»Wir sind zufrieden, Euer Hochwohlgeboren!« riefen einige Dutzend mürrische Stimmen; die übrigen schwiegen hartnäckig. Das war aber alles, was der Major haben wollte. Es war ihm offenbar vorteilhaft, die Sache möglichst schnell zu erledigen, und zwar auf eine gütliche Weise.
»Aha, jetzt seid ihr alle zufrieden!« rief er hastig. »Ich habe es gesehen... ich habe es gewußt. Das sind die Rädelsführer! Unter diesen befinden sich die Rädelsführer!« fuhr er fort, sich an Djatlow wendend. »Das muß man genauer untersuchen. Und jetzt... jetzt ist es Zeit zur Arbeit. Man schlage die Trommel!«
Er wohnte selbst dem Abmarsche der einzelnen Gruppen zur Arbeit bei. Die Arrestanten gingen schweigend und traurig zu ihren Arbeiten, wenigstens damit zufrieden, daß sie ihm aus den Augen kamen. Aber gleich nach dem Abmarsche ging der Major sofort auf die Hauptwache und diktierte den »Rädelsführern« ihre Strafen zu, die jedoch nicht zu grausam waren. Er hatte sogar Eile. Wie man sich später erzählte, bat ihn einer von ihnen um Verzeihung, die er ihm auch sofort gewährte. Der Major fühlte sich sichtlich nicht sehr behaglich und hatte vielleicht sogar einige Angst bekommen. Eine Beschwerde war in jedem Falle eine heikle Sache, und obwohl die Klage der Arrestanten eigentlich gar keine Beschwerde war, da sie nicht an die höhere Behörde, sondern an den Major selbst gerichtet wurde, war sie doch eine unangenehme, üble Geschichte. Besondere Bedenken machte ihm, daß alle, ohne Ausnahme, sich gegen ihn erhoben hatten. Nun galt es, die Sache so schnell wie möglich zu vertuschen. Die »Rädelsführer« wurden bald entlassen. Gleich am nächsten Tag war schon die Beköstigung besser, aber diese Besserung hielt nicht lange an. Der Major besuchte in der ersten Zeit häufiger das Zuchthaus und fand häufiger Unordnungen vor. Unser Unteroffizier ging besorgt, wie vor den Kopf geschlagen umher, als könnte er sich von seinem Erstaunen nicht erholen. Was aber die Arrestanten betrifft, so konnten sie sich lange nachher nicht beruhigen; aber sie waren nicht mehr so aufgeregt wie früher, sondern eher aus dem Konzept gebracht. Manche ließen sogar den Kopf hängen. Andere äußerten sich brummig und wortkarg über die Sache. Viele machten sich gehässig und laut über sich selbst lustig, als wollten sie sich für ihre Beschwerde bestrafen.
»Da hast du es erlebt, Bruder!« sagte manchmal einer.
»Was man eingebrockt hat, muß man selbst auslöffeln!« fügte ein anderer hinzu.
»Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle umhängt?« fragte ein dritter.
»Wir lassen uns ohne einen Knüppel nicht belehren. Es ist noch gut, daß er nicht alle hat durchpeitschen lassen.«
»Man soll eben mehr vorher denken und weniger schwatzen, das ist immer besser!« bemerkte einer boshaft.
»Wie kommst du dazu, uns zu lehren, wer hat dich als Lehrer angestellt?«
»Ich lehre euch Vernunft.«
»Ja, wer bist du überhaupt?«
»Ich bin vorläufig noch ein Mensch, wer aber bist du?«
»Ein Hundefraß bist du.«
»Das bist du selbst.«
»Genug! Was lärmt ihr so!« schrie man den Streitenden von allen Seiten zu...
Am gleichen Abend, d.h. am Abend des Tages, an dem die Beschwerde vorgebracht wurde, traf ich, von der Arbeit zurückgekehrt, hinter der Kaserne Petrow. Er hatte mich schon gesucht. Er ging auf mich zu, murmelte etwas vor sich hin, machte zwei oder drei unbestimmte Ausrufe, verstummte dann aber zerstreut und ging automatisch neben mir her. Diese ganze Sache lag mir noch schwer auf dem Herzen, und ich glaubte, Petrow würde mir einiges davon erklären.
»Sagen Sie, Petrow,« fragte ich ihn, »sind Ihre Leute uns nicht böse?«
»Wer soll böse sein?« fragte er, gleichsam aus dem Schlafe erwachend.
»Ob die Arrestanten nicht uns... den Adligen böse sind.«
»Warum sollten sie Ihnen böse sein?«
»Nun, weil wir uns an der Beschwerde nicht beteiligten.«
»Weshalb sollten sie sich an der Beschwerde beteiligen?« fragte er, als bemühe er sich, mich zu verstehen. »Sie haben ja Ihre eigene Beköstigung!«
»Ach, mein Gott! Es gibt ja auch unter Ihren Kameraden solche, die ihre eigene Kost essen, und die waren doch alle dabei. Also hätten auch wir dabei sein müssen... aus Kameradschaft.«
»Ja... was sind Sie uns denn für ein Kamerad?« fragte er erstaunt.
Ich sah ihn rasch an: er verstand mich absolut nicht, er begriff nicht, was ich wollte. Dafür hatte aber ich ihn in diesem Augenblick vollkommen verstanden. Ein Gedanke, der sich in mir schon längst dunkel geregt und mich verfolgt hatte, wurde mir nun zum erstenmal vollkommen klar, und ich begriff plötzlich das, was ich bis dahin nur vermutet hatte. Ich begriff, daß sie mich niemals in ihre Kameradschaft aufnehmen würden, selbst wenn ich ein noch so gemeingefährlicher, für Lebenszeit verurteilter Arrestant, sogar einer aus der Besonderen Abteilung wäre. Besonders deutlich blieb mir das Gesicht, das Petrow dabei machte, in Erinnerung. In seiner Frage: »Was sind Sie uns für ein Kamerad?« tönte eine so echte Naivität, ein so einfältiges Erstaunen. Ich fragte mich sogar: ist hier nicht auch Ironie, Bosheit, Spott dabei? Es war aber nichts von alledem der Fall: ich war ihnen einfach kein Kamerad und basta. Geh du deinen Weg, wir gehen den unsrigen; du hast deine eigenen Geschäfte, und wir haben unsere Geschäfte.
Ich hatte schon geglaubt, daß sie uns nach der Geschichte mit der Beschwerde einfach auffressen und uns das Leben vergiften würden. Aber es geschah nichts Derartiges: wir bekamen nicht den geringsten Vorwurf, nicht die leiseste Spur eines Vorwurfes zu hören und auch kein bißchen Bosheit mehr als sonst zu spüren. Sie quälten uns einfach bei Gelegenheit, wie sie uns auch schon vorher gequält hatten, aber weiter nichts. Sie waren übrigens auch auf diejenigen ihrer Kameraden nicht böse, die sich an der Beschwerde nicht hatten beteiligen wollen und in der Küche geblieben waren, ebensowenig auch auf die, die als die ersten gerufen hatten, daß sie mit allem zufrieden seien. Das wurde überhaupt von niemand erwähnt. Das letztere war mir besonders unbegreiflich.
Ich fühlte mich natürlich mehr zu meinesgleichen, d.h. zu den »Adligen«, hingezogen, namentlich in der ersten Zeit. Aber von den drei ehemaligen russischen Adligen, die sich bei uns im Zuchthause befanden (es waren dies: Akim Akimytsch, der Spion A–w und derjenige, der als Vatermörder galt), verkehrte ich nur mit Akim Akimytsch. Offen gestanden, verkehrte ich mit Akim Akimytsch nur aus Verzweiflung, in Augenblicken der äußersten Langeweile, wenn ich keine Möglichkeit sah, mit jemand anderem außer ihm zu sprechen. Im vorigen Kapitel hatte ich versucht, alle unsere Leute in Kategorien einzuteilen, aber wenn ich mich jetzt an Akim Akimytsch erinnere, glaube ich noch eine Kategorie hinzufügen zu können. Diese bestand allerdings aus ihm allein. Es ist die Kategorie der völlig gleichgültigen Zuchthäusler. Völlig gleichgültige Menschen, d.h. solche, denen es gleich gewesen wäre, in der Freiheit oder im Zuchthause zu leben, gab es bei uns natürlich nicht und konnte es auch nicht geben, aber Akim Akimytsch bildete, glaube ich, eine Ausnahme. Er hatte sich im Zuchthause sogar so eingerichtet, als hätte er die Absicht, lebenslänglich da zu bleiben: alles, was er um sich hatte, mit den Kissen, der Matratze und sonstigem Hausrat angefangen, war so fest, stabil und dauerhaft. Vom Biwakmäßigen, Provisorischen war nicht die Spur zu merken. Er hatte allerdings noch viele Jahre im Zuchthaus zuzubringen, aber er dachte wohl kaum je an den Tag seiner Entlassung. Wenn er sich mit der Wirklichkeit abgefunden hatte, so nicht aus Herzensneigung, sondern nur aus Subordination, was für ihn übrigens dasselbe war. Er war ein guter Mensch und half mir sogar in der ersten Zeit mit seinen Ratschlägen und einigen Dienstleistungen, aber ich muß gestehen, daß er mich, besonders in der ersten Zeit, ungeheuer trübsinnig machte und meine schon ohnehin drückende Melancholie noch vergrößerte. Es war aber gerade diese melancholische Stimmung, die mich trieb, mit ihm zu sprechen. Ich erwartete von ihm zuweilen ein lebendiges Wort, wenn auch ein erbittertes, unduldsames, sogar gehässiges: dann würden wir uns wenigstens zusammen über unser Schicksal ärgern; er aber schwieg, klebte seine Laternchen oder erzählte, was für eine Truppenparade sie in dem und dem Jahre gehabt hätten, wer der Divisionskommandeur gewesen sei, wie dieser mit seinem Namen und Vatersnamen geheißen habe, ob die Truppenparade ihn befriedigt hätte oder nicht, wie die Plänklersignale einmal abgeändert worden seien usw. Dies alles erzählte er mit einer so gleichmäßigen Stimme, wie wenn Wasser Tropfen auf Tropfen herunterfiele. Er äußerte sogar fast keine Begeisterung, als er mir erzählte, wie er wegen Teilnahme an der und der Schlacht im Kaukasus mit dem Orden der heiligen Anna und dem Ehrendegen ausgezeichnet worden sei. Nur klang seine Stimme in solchen Augenblicken ungewöhnlich wichtig und solid; er dämpfte sie ein wenig, so daß es sogar irgendwie geheimnisvoll klang, als er das Wort »heilige Anna« aussprach, und dann blieb er an die drei Minuten besonders schweigsam und gesetzt... In diesem ersten Jahre hatte ich manchmal dumme Augenblicke, wo ich (und zwar immer ganz unvermittelt) Akim Akimytsch, ich weiß selbst nicht warum, zu hassen anfing und stumm mein Schicksal verfluchte, weil es mich auf der Pritsche Kopf an Kopf mit ihm untergebracht hatte. Gewöhnlich machte ich mir deswegen schon nach einer Stunde Vorwürfe. Aber das kam nur im ersten Jahre vor; später versöhnte ich mich in meinem Herzen gänzlich mit Akim Akimytsch und schämte mich meiner früheren dummen Anwandlungen. Äußerlich haben wir uns aber, wie ich mich erinnere, niemals gezankt.
Außer diesen drei Russen waren zu meiner Zeit bei uns acht polnische politische Verbrecher. Mit einigen von ihnen verkehrte ich freundschaftlich, sogar mit Vergnügen, aber nicht mit allen. Sogar die besten von ihnen waren krankhafte, exklusive und im höchsten Grade unduldsame Charaktere. Mit zwei von ihnen hörte ich später einfach zu sprechen auf. Gebildete gab es unter ihnen nur drei: B–ki, M–cki und den alten Z–ki, der früher einmal irgendwo Professor der Mathematik gewesen war. Er war ein gutmütiger, prächtiger Alter, ein großer Sonderling und, trotz seiner Bildung, anscheinend äußerst beschränkt. Ganz anders waren M–cki und B–ki. Mit M–cki knüpfte ich sofort gute Beziehungen an; ich stritt mich mit ihm niemals, achtete ihn, brachte es aber niemals fertig, ihn wirklich lieb zu gewinnen und mich ihm mit ganzem Herzen anzuschließen. Er war ein äußerst mißtrauischer und verbissener Mensch, der sich aber vorzüglich zu beherrschen verstand. Diese allzu große Selbstbeherrschung mißfiel mir eben an ihm: man hatte immer den Eindruck, daß er niemals und vor niemand sein Herz ganz ausschütten würde. Vielleicht irre ich mich auch. Er war eine starke und im höchsten Grade vornehme Natur. Seine außerordentliche und sogar etwas jesuitische Geschicklichkeit und Vorsicht im Umgange mit den Menschen ließ auf einen heimlichen, tiefen Skeptizismus schließen. Dabei litt seine Seele gerade unter diesem Zwiespalte: zwischen dem Skeptizismus und dem tiefen, unerschütterlichen Glauben an gewisse Überzeugungen und Hoffnungen. Aber trotz aller seiner Lebenserfahrung stand er in unversöhnlicher Feindschaft zu B–ki und zu dessen Freund T–wski. B–ki war ein kranker, zur Schwindsucht geneigter, reizbarer und nervöser, aber im Grunde genommen herzensguter und sogar großmütiger Mensch. Seine Reizbarkeit grenzte zuweilen an äußerste Unduldsamkeit und Launenhaftigkeit. Ich konnte diesen Charakter nicht vertragen und brach später den Verkehr mit B–ki ab, hörte ihn aber nie zu lieben auf; mit M–cki stritt ich mich dagegen niemals, liebte ihn aber auch nicht. Als ich mit B–ki brach, mußte ich sofort auch mit T–wski brechen, dem jungen Mann, den ich im vorigen Kapitel, als ich von unserer Beschwerde erzählte, erwähnt habe. Dies tat mir sehr leid. T–wski war zwar ungebildet, aber ein guter, mannhafter, mit einem Worte prächtiger junger Mann. Er liebte und achtete den B–ki nämlich so sehr und betete ihn dermaßen an, daß er einen jeden, der es nur irgendwie mit B–ki verdarb, sofort als seinen Feind ansah. Ich glaube, er hat später auch mit M–cki wegen des gleichen B–ki gebrochen, wie sehr er sich dagegen auch gewehrt hatte. Übrigens waren sie alle moralisch krankhafte, gallige, reizbare und mißtrauische Menschen. Das ist begreiflich: sie hatten es sehr schwer, viel schwerer als wir. Sie waren so fern von ihrer Heimat. Einige von ihnen waren für lange Zeit, für zehn und zwölf Jahre verschickt; vor allem betrachteten sie aber ihre ganze Umgebung mit einem tief eingewurzelten Vorurteile; sie sahen in den Zuchthäuslern nur das Tierische und hatten weder die Fähigkeit noch den Willen, in ihnen auch nur einen guten Zug, auch nur etwas Menschliches zu erkennen, und auch das war sehr begreiflich: auf diesen unglückseligen Standpunkt waren sie durch die Macht der Ereignisse und des Schicksals getrieben worden. Darum ist es klar, daß sie im Zuchthause schwer unter Trübsinn litten. Gegen die Kaukasier, die Tataren und Issai Fomitsch waren sie freundlich und höflich, gingen aber allen andern Zuchthäuslern voller Ekel aus dem Wege. Nur der Altgläubige aus Starodub hatte ihre volle Achtung erworben. Es ist übrigens bemerkenswert, daß während meiner ganzen Zuchthauszeit keiner der Zuchthäusler ihnen ihre Nationalität, ihren Glauben oder ihre Denkweise vorgeworfen hatte, was doch in unserem einfachen Volke den Ausländern, vorwiegend den Deutschen gegenüber wohl passiert, wenn auch nur selten. Die Deutschen übrigens werden höchstens nur ausgelacht: der Deutsche stellt für den einfachen Russen etwas außerordentlich Komisches dar. Unsere polnischen Adligen wurden aber von den Zuchthäuslern sogar mit viel größerem Respekt behandelt als wir Russen, und man krümmte ihnen kein Haar. Aber die Polen wollten es anscheinend gar nicht merken und in Betracht ziehen. Ich sprach eben von T–wski. Es war derselbe, der auf dem Transport vom ursprünglichen Verbannungsort nach unserer Festung den B–ki fast den ganzen Weg auf den Armen getragen hatte, da dieser, der von schwacher Gesundheit und Konstitution war, fast immer schon nach der Hälfte einer Etappe vor Müdigkeit nicht weiter gehen konnte. Ursprünglich waren sie nach U–gorsk verschickt worden. Sie erzählten, daß sie es dort sehr gut gehabt hätten, d.h. viel besser als in unserer Festung. Aber sie hatten dort eine, übrigens harmlose Korrespondenz mit anderen Verbannten in einer anderen Stadt angeknüpft, und man hielt es deswegen für nötig, diese drei nach unserer Festung zu versetzen, damit sie sich näher unter der Aufsicht der höchsten Behörde befänden. Ihr dritter Kamerad war Z–ki. Vor ihrer Ankunft war M–cki der einzige polnische Adlige im Zuchthause. Wie schwer ist ihm wohl das erste Jahr seiner Verbannung gewesen!
Dieser Z–ki war eben jener ewig zu Gott betende alte Mann, den ich schon einmal erwähnt habe. Alle unsere politischen Verbrecher waren junge Leute, einige sogar sehr jung; nur Z–ki war schon über fünfzig Jahre alt. Er war ein zwar anständiger, aber doch etwas sonderbarer Mensch. Seine Genossen B–ki und T–wski mochten ihn nicht sehr leiden, sie sprachen sogar nicht mit ihm und sagten von ihm, er sei trotzig und dumm. Ich weiß nicht, inwiefern sie in diesem Falle recht hatten. Im Zuchthause wie in jedem anderen Orte, wo Menschen nicht nach freiem Willen, sondern unter einem Zwange zu einem Haufen versammelt sind, kann man sich, glaube ich, viel leichter verzanken und sogar einander hassen als in der Freiheit. Viele Umstände tragen dazu bei. Z–ki war in der Tat ein ziemlich bornierter und vielleicht auch unangenehmer Mensch. Auch alle seine übrigen Genossen vertrugen sich nicht mit ihm. Ich stritt mich niemals mit ihm, schloß mich ihm aber auch niemals an. Sein Fach, die Mathematik, schien er gut zu können. Ich erinnere mich noch, wie er sich bemühte, mir in seiner halb-russischen Sprache ein eigenes, von ihm selbst erfundenes astronomisches System zu erklären. Man erzählte mir, er hätte es einmal auch gedruckt, die gelehrte Welt hätte ihn aber nur ausgelacht. Ich glaube, er war nicht ganz normal. Tagelang betete er kniend zu Gott, wodurch er sich die Achtung des ganzen Zuchthauses erwarb, die er dann bis zu seinem Tode genoß. Er starb in unserem Hospital nach schwerer Krankheit vor meinen Augen. Die Achtung der Zuchthäusler hatte er übrigens gleich bei seinem Eintritt ins Zuchthaus, nach seinem Zusammenstoß mit unserem Major erworben. Auf dem Transport aus U–gorsk nach unserer Festung waren sie alle nicht rasiert worden und hatten Bärte bekommen; als man sie nun zu unserem Platzmajor führte, geriet er in höchste Wut wegen einer solchen Verletzung der Disziplin, an der sie gänzlich unschuldig waren.
»Wie sehen die aus!« brüllte er. »Es sind doch Landstreicher und Räuber!«
Z–ki, der damals noch schlecht russisch verstand und glaubte, man frage sie, wer sie seien, ob Landstreicher oder Räuber, antwortete:
»Wir sind keine Landstreicher, sondern politische Verbrecher.«
»Wa–a–as! Du bist noch grob?« brüllte der Major. »Auf die Hauptwache! Hundert Rutenhiebe, sofort, augenblicklich!«
Der alte Mann bekam die Strafe. Er legte sich ohne ein Wort der Widerrede auf die Bank, biß die Zähne in den Arm und empfing die Züchtigung ohne den leisesten Schrei oder Seufzer, ohne die leiseste Bewegung. B–ki und T–wski waren indessen ins Zuchthaus gegangen, wo sie am Tore von M–cki erwartet worden waren, der ihnen sofort um den Hals viel, obwohl er sie vorher nie gesehen hatte. Durch den Empfang beim Platzmajor aufgeregt, erzählten sie ihm alles über Z–ki. Ich erinnere mich noch, wie M–cki mir darüber berichtete: »Ich war ganz außer mir. Ich wußte gar nicht, was mit mir geschah, und zitterte wie im Fieber. Ich erwartete Z–ki am Tore. Er mußte direkt von der Hauptwache kommen, wo er seine Rutenstrafe bekommen hatte. Plötzlich ging das Pförtchen auf: Z–ki schritt, ohne jemand anzusehen, mit blassem Gesicht und zitternden blassen Lippen zwischen den auf dem Hofe versammelten Arrestanten, die schon wußten, daß ein Adliger eine körperliche Strafe bekäme, trat in die Kaserne, ging direkt auf seinen Platz zu, kniete, ohne ein Wort zu sagen, nieder und begann zu beten. Die Zuchthäusler waren frappiert und sogar gerührt. »Als ich diesen Greis erblickte,« erzählte M–cki, »mit den grauen Haaren, der in seiner Heimat Frau und Kinder zurückgelassen hatte, als ich ihn auf den Knien liegen sah, wie er nach der schmählichen Züchtigung betete, rannte ich hinter die Kaserne und war zwei Stunden lang wie bewußtlos; ich war rasend...« Die Zuchthäusler begannen den Z–ki seit jener Zeit außerordentlich zu achten und behandelten ihn immer mit Respekt. Am meisten hatte ihnen gefallen, daß er unter den Ruten nicht geschrien hatte.
Ich muß aber doch die ganze Wahrheit sagen: nach diesem einen Beispiele darf man keineswegs über die Behandlung der verbannten Adligen, ganz gleich, ob Russen oder Polen, durch die Behörden urteilen. Dieses Beispiel beweist nur, daß man auf einen bösen Menschen stoßen kann, und wenn dieser böse Mensch irgendwo die Stelle eines unabhängigen und höchsten Vorgesetzten bekleidet, so ist es um das Schicksal eines Verbannten, falls er diesem Vorgesetzten mißfällt, schlecht bestellt. Aber es darf nicht verschwiegen werden, daß die höchste Behörde in Sibirien, von der der Ton und die Stimmung sämtlicher Vorgesetzten abhängen, in bezug auf die verbannten Adligen sehr rücksichtsvoll ist und in manchen Fällen sogar dazu neigt, ihnen gewisse Begünstigungen den einfachen Zuchthäuslern gegenüber einzuräumen. Die Gründe sind ja klar: erstens sind diese höchsten Vorgesetzten selbst Adlige, zweitens kam es früher vor, daß manche Adligen sich der körperlichen Züchtigung nicht unterziehen wollten und sich auf die Vollstrecker stürzten, was zu schrecklichen Auftritten führte; drittens, und das scheint mir das Wichtigste, hat die große Masse der verbannten Adligen, die vor fünfunddreißig Jahren auf einmal nach Sibirien kam, [Gemeint sind die zahlreichen Dekabristen, die 1826 auf einmal nach Sibirien verbannt worden sind. Anm. d. Übers.] sich während dieser Zeit in ganz Sibirien eine solche Stellung und ein solches Renommee verschafft, daß die Obrigkeit in meiner Zeit die adligen Verbrecher von der gewissen Kategorie schon gewohnheitsmäßig und aus Tradition mit anderen Augen ansah als alle anderen Verbannten. Diesen Standpunkt übernahmen dann auch die niederen Vorgesetzten, die sich den höheren fügten. Viele von diesen niederen Vorgesetzten waren übrigens sehr beschränkt, kritisierten im stillen die Anordnungen von oben und wären außerordentlich froh, wenn sie nach eigenem Ermessen verfahren dürften. Aber das wurde ihnen doch nicht ganz gestattet. Ich darf dies positiv behaupten, und zwar aus folgendem Grunde. Die zweite Kategorie der Zuchthäusler, zu der ich gehörte und die aus zur Zwangsarbeit verurteilten Arrestanten unter militärischer Oberaufsicht bestand, hatte es unvergleichlich schwerer als die beiden anderen Kategorien, d.h. als die dritte (die in den Fabriken arbeitete) und als die erste (in den Bergwerken). Sie war nicht nur für die Adligen, sondern auch für alle anderen Arrestanten schwerer, gerade aus dem Grunde, weil die Oberaufsicht und die ganze Einrichtung dieser Kategorie militärisch war und an die Strafkompagnien im europäischen Rußland erinnerte. Die militärische Obrigkeit ist strenger, die Disziplin ist straffer, man ist immer in Ketten, immer unter Bewachung, immer hinter Schloß und Riegel; dies wird aber in den beiden anderen Kategorien nicht so streng gehandhabt. Das behaupteten wenigstens alle unsere Arrestanten, unter denen es sehr sachverständige Leute gab. Sie alle wären mit Freude in die erste Kategorie gegangen, die nach dem Gesetze als die schwerste gilt, und gaben sich oft diesbezüglichen Träumereien hin. Von den Strafkompagnien im europäischen Rußland sprachen aber alle unsere Arrestanten, die in denselben gewesen waren, mit Grauen und behaupteten, daß es in ganz Rußland keinen schlimmeren Ort gäbe als die Strafkompagnien in den Festungen und daß das Leben in Sibirien im Vergleich mit dem dortigen ein Paradies sei. Wenn also bei einem so strengen Regime wie in unserem Zuchthause, unter der militärischen Oberleitung, unter den Augen des Generalgouverneurs und schließlich angesichts solcher Fälle, die zuweilen vorkamen, daß gewisse abseitsstehende, aber beamtete Menschen aus Bosheit oder aus übertriebenem Eifer heimlich an die höhere Stelle meldeten, daß die und die unzuverlässigen Vorgesetzten den Verbrechern der und der Kategorie Begünstigungen gewährten, – ich sage also, wenn an einem solchen Ort die verschickten Adligen doch mit etwas anderen Augen angesehen wurden als die übrigen Zuchthäusler, so war das doch sicher in der ersten und in der dritten Kategorie in einem weit größeren Maße der Fall. Ich glaube also nach dem Orte, an dem ich mich befunden hatte, über die entsprechenden Zustände in ganz Sibirien urteilen zu dürfen. Alle Gerüchte und Erzählungen, die ich darüber von den Verbannten der ersten und der dritten Kategorie hörte, bestätigten meine Annahme. In unserem Zuchthause behandelten die Vorgesetzten uns, die Adligen, in der Tat aufmerksamer und vorsichtiger. Begünstigungen in bezug auf die Arbeit und die Beköstigung genossen wir nicht: wir mußten dieselbe Arbeit tun, dieselben Fesseln tragen und hinter denselben Riegeln sitzen, – mit einem Worte, alles war genau so wie bei den anderen Arrestanten. Erleichterungen waren ja überhaupt unmöglich. Ich weiß, daß es in jener Stadt, in jener noch nicht weit zurückliegenden, aber längst vergangenen Zeit soviele Denunzianten und Intriganten gab, die einander eine Grube gruben, daß die Vorgesetzten natürlich stets Denunziationen fürchteten. Was konnte es aber in jener Zeit Schrecklicheres geben als eine Denunziation, daß die Verbrecher einer gewissen Kategorie Begünstigungen genießen! So hatte jeder Angst, und wir lebten unter dem gleichen Regime wie die übrigen Zuchthäusler; aber in bezug auf die Körperstrafe gab es für uns doch gewisse Ausnahmen. Freilich hätte man uns mit dem größten Vergnügen durchpeitschen lassen, wenn wir es verdient, d.h. uns wirklich irgendwie vergangen hätten. Dies erforderten doch der Diensteid und die Gleichheit aller vor der Körperstrafe. Aber so ganz ohne jeden Grund, aus leichtsinniger Laune wurden wir doch nicht gepeitscht; diese leichtsinnige Behandlung wurde jedoch den einfachen Arrestanten oft zuteil, besonders seitens gewisser subalterner Vorgesetzter, welche es liebten, bei jeder Gelegenheit Ordnung zu schaffen und ein Exempel zu statuieren. Es war uns bekannt, daß der Kommandant, als er die Geschichte mit dem alten Z–ki erfuhr, über unseren Major sehr empört war und ihm eingeschärft hatte, sich in Zukunft zu mäßigen. So berichteten mir alle. Man wußte bei uns auch, daß der Generalgouverneur selbst, der unserem Major vertraute und ihn als Vollstrecker und einen Menschen mit gewissen Fähigkeiten zum Teil auch schätzte, als er von dieser Geschichte gehört, ihm ebenfalls eine Rüge erteilt hatte. Unser Major nahm dies auch zur Kenntnis. Wie gern hatte er doch mal den M–cki durchpeitschen lassen, den er infolge der Denunziation des A–w haßte, aber er konnte es doch unmöglich fertigbringen, wie eifrig er auch nach einem Vorwande suchte, ihn stets verfolgte und belauerte. Von der Geschichte mit Z–ki erfuhr bald die ganze Stadt, und die allgemeine Meinung war gegen den Major; viele machten ihm Vorwürfe, manche sogar auf eine höchst unangenehme Weise. Ich erinnere mich jetzt auch meiner ersten Begegnung mit dem Platzmajor. Man hatte uns, d.h. mir und dem anderen Verbannten adliger Abstammung, mit dem ich gleichzeitig die Strafe antrat, schon in Tobolsk durch Berichte über den unangenehmen Charakter dieses Menschen Angst gemacht. Die alten verbannten Adligen, die schon eine fünfundzwanzigjährige Strafzeit hinter sich hatten und die sich damals dort befanden, empfingen uns mit der größten Sympathie und verkehrten mit uns während der ganzen Zeit unseres Aufenthaltes im Etappengefängnis: sie warnten uns vor unserem zukünftigen Kommandeur und versprachen uns, durch ihre Bekannten alles zu tun, um uns vor seinen Verfolgungen zu schützen. Und in der Tat: die drei Töchter des Generalgouverneurs, die aus dem europäischen Rußland gekommen waren und bei ihrem Vater zu Besuch weilten, erhielten von ihnen Briefe und verwendeten sich, wie es scheint, für uns. Was konnte er aber tun? Er sagte bloß dem Major, er solle in der Zukunft etwas vorsichtiger sein. Gegen drei Uhr nachmittags trafen wir, d.h. ich und mein Genosse, in dieser Stadt ein, und die Wachsoldaten führten uns direkt zu unserem Gebieter. Wir standen im Vorzimmer und warteten auf sein Erscheinen. Indessen hatte man schon nach dem Zuchthausunteroffizier geschickt. Sobald dieser gekommen war, erschien auch der Platzmajor. Sein blaurotes, von Finnen übersätes, böses Gesicht machte auf uns einen höchst bedrückenden Eindruck: es war, als ob eine böse Spinne auf eine arme Fliege losginge, die in ihr Nest geraten war.
»Wie heißt du?« fragte er meinen Genossen. Er sprach schnell, scharf, abrupt und wollte uns offenbar imponieren.
»So und so.«
»Und du?« fuhr er fort, sich an mich wendend und mich durch seine Brille anschauend.
»So und so.«
»Unteroffizier! Die Beiden kommen sofort ins Zuchthaus, werden auf der Hauptwache unverzüglich nach der Zivilvorschrift rasiert, den halben Kopf; die Fesseln sind gleich morgen umzuschmieden. Was sind das für Mäntel? Wo habt ihr sie bekommen?« fragte er uns plötzlich, seine Aufmerksamkeit auf die uns in Tobolsk ausgefolgten grauen Mäntel mit den gelben Kreisen auf den Rücken richtend, in denen wir vor seine lichten Augen getreten waren. »Das ist doch eine neue Uniform! Ist sicher eine neue Uniform... Wird wohl erst projektiert... in Petersburg,...« sprach er, indem er uns einen nach dem andern umdrehte. »Haben sie nichts bei sich?« fragte er plötzlich den uns eskortierenden Gendarmen.
»Sie haben ihre eigene Kleidung bei sich, Euer Hochwohlgeboren,« antwortete der Gendarm, sich plötzlich aufrichtend und sogar zusammenfahrend. Alle kannten den Major, alle hatten von ihm gehört, alle hatten vor ihm Angst.
»Alles wegnehmen! Sie behalten nur ihre Wäsche und zwar nur die weiße; aber die farbige, falls sie welche haben, ist ihnen wegzunehmen. Alles übrige öffentlich versteigern und den Erlös für die Staatskasse einziehen. Ein Arrestant darf kein Eigentum haben!« fuhr er fort mit einem strengen Blick auf uns. »Paßt auf, führt euch gut auf! Daß mir nichts zu Ohren kommt! Sonst gibt's kör-per-liche Züch-ti-gung! Für das geringste Vergehen – Rrruten!...«
Nach diesem ganz ungewohnten Empfang war ich den ganzen ersten Abend fast krank. Der schwere Eindruck wurde übrigens auch noch durch alles, was ich im Zuchthause zu sehen bekam, verstärkt; aber von meinem Eintritt ins Zuchthaus habe ich schon berichtet.
Ich erwähnte soeben, daß man uns keinerlei Vergünstigungen oder Erleichterungen bei der Arbeit den anderen Arrestanten gegenüber zu gewähren wagte. Aber einmal wurde es doch versucht: ich und B–ki wurden ganze drei Monate auf der Ingenieurkanzlei als Schreiber beschäftigt. Dies wurde jedoch in aller Heimlichkeit, und zwar von der Ingenieurbehörde gemacht. Die übrigen, die es wissen mußten, wußten es wahrscheinlich, taten aber so, als wüßten sie es nicht. Dies geschah unter dem Kommandeur G–kow. Der Oberstleutnant G–kow war zu uns wie vom Himmel gefallen, blieb aber nur eine sehr kurze Zeit, – wenn ich nicht irre, nicht länger als ein halbes Jahr – und zog dann wieder ins europäische Rußland, einen ungewöhnlichen Eindruck bei allen Arrestanten hinterlassend. Die Arrestanten liebten ihn nicht nur, sie vergötterten ihn förmlich, wenn man dieses Wort hier überhaupt anwenden darf. Wie er das machte, weiß ich nicht, aber er eroberte ihre Sympathie gleich im ersten Augenblick. »Er ist unser Vater, unser Vater! Besser als ein Vater!« sagten die Arrestanten jeden Augenblick, solange er an der Spitze des Ingenieurressorts stand. Ich glaube, er war ein furchtbarer Trinker. Er war nicht groß von Wuchs und hatte einen frechen und selbstbewußten Blick. Dabei war er aber gegen die Arrestanten freundlich, beinahe zärtlich und liebte sie buchstäblich wie ein Vater. Weshalb er die Arrestanten so sehr liebte, weiß ich nicht zu sagen, aber er konnte einfach keinen Arrestanten sehen, ohne ihm ein freundliches, lustiges Wort zu sagen, mit ihm zu scherzen und zu lachen; vor allem lag aber darin keine Spur vom Tone eines Vorgesetzten, nichts, was auf die Ungleichheit der Stellungen hinweisen konnte. Er behandelte sie wie ein Kamerad, ganz wie seinesgleichen. Aber trotz dieses seines ganzen instinktiven Demokratismus ließen sich die Arrestanten in ihrem Benehmen ihm gegenüber niemals zu einer Respektlosigkeit oder Familiarität herbei. Im Gegenteil. Das ganze Gesicht des Arrestanten erstrahlte, wenn er diesem Kommandeur begegnete; er zog die Mütze und blickte lächelnd, wenn er auf ihn zuging. Wenn er aber einen ansprach, so war es, wie wenn er ihm einen Rubel schenkte. Es gibt eben solche populären Menschen. Er hatte ein schneidiges Auftreten und einen aufrechten, munteren Gang. »Ein Adler!« pflegten die Arrestanten von ihm zu sagen. Ihre Lage konnte er natürlich nicht erleichtern, da er nur die Ingenieurarbeiten unter sich hatte, die wie bei allen anderen Kommandeuren in einer gleichen, ein für alle Mal eingeführten, gesetzlichen Ordnung vor sich gingen. Es kam höchstens vor, daß, wenn er zufällig eine Partie bei der Arbeit traf und sah, daß die Arbeit erledigt war, sie nicht länger aufhielt und vor dem Trommelschlag heimgehen ließ. Den Leuten gefiel sein Vertrauen zu den Arrestanten, der Mangel an jeder Kleinlichkeit und Reizbarkeit, das vollkommene Fehlen gewisser verletzender Formen in seinem Auftreten als Vorgesetzter. Hätte er tausend Rubel verloren, so hätte sie ihm selbst der schlimmste Dieb aus unserem Zuchthause, falls er sie fände, zurückgegeben. Ich bin davon überzeugt. Die Arrestanten waren aufs tiefste betrübt, als sie einmal erfuhren, daß ihr adlergleicher Kommandeur sich mit dem verhaßten Major tödlich verzankt hatte. Dies geschah gleich im ersten Monat nach seiner Ankunft. Unser Major war früher einmal sein Regimentskamerad gewesen. Nach der langen Trennung trafen sie sich wie Freunde und begannen zusammen zu trinken. Aber plötzlich kam es zu einem Bruch zwischen ihnen. Sie verzankten sich, und G–kow wurde zu einem Todfeinde des Majors. Man erzählte sich sogar, daß sie sich bei dieser Gelegenheit in die Haare geraten waren, was mit unserem Major sehr leicht passieren konnte: er pflegte oft handgreiflich zu werden. Als die Arrestanten es hörten, kannte ihre Freude keine Grenzen: »Wie kann der Achtäugige neben einem solchen Menschen bestehen! Dieser ist ein Adler, der unsrige aber ist ein...« und hier folgte gewöhnlich ein Wort, das man im Druck nicht gut wiedergeben kann. Man interessierte sich bei uns furchtbar dafür, wer den andern verprügelt hatte. Wenn das Gerücht von ihrer Prügelei sich als unwahr herausgestellt hätte (was wahrscheinlich der Fall war), so hätte es unseren Arrestanten wohl sehr leid getan. »Nein,« sagten sie, »sicher blieb unser Kommandeur der Sieger: er ist zwar klein, doch tapfer, der Major soll sich aber vor ihm unter das Bett verkrochen haben.« Aber G–kow kam bald von uns weg, und die Arrestanten versanken wieder in Trauer. Übrigens waren alle unsere Ingenieurkommandeure gut: zu meiner Zeit hatte es ihrer drei oder vier gegeben. »Aber einen solchen erleben wir nicht mehr,« sagten die Arrestanten: »er war ein Adler, ein Adler und Fürsprecher.« Dieser G–kow mochte uns Adlige besonders gern leiden und befahl schließlich mir und B–ki, ab und zu in seine Kanzlei zu kommen. Nach seiner Abreise nahm diese Tätigkeit eine regelmäßigere Formen an. Unter den Ingenieuren gab es Leute (besonders einen), die mit uns sympathisierten. Wir gingen in die Kanzlei, schrieben die Akten ab, und unsere Handschrift fing sich sogar zu vervollkommnen an, als plötzlich von der höchsten Behörde der Befehl kam, uns sofort zu unseren früheren Arbeiten zurückzuschicken: jemand hatte es bereits denunziert! Das war übrigens gut: die Kanzlei war uns beiden schon langweilig geworden! Die folgenden zwei Jahre ging ich fast immer unzertrennlich mit B–ki zu derselben Arbeit, am häufigsten in die Werkstätte. Wir plauderten miteinander und sprachen von unseren Hoffnungen und Anschauungen. Er war ein prachtvoller Mensch, aber von sonderbaren, exklusiven Überzeugungen. Eine gewisse Abart sehr kluger Menschen eignet sich oft durchaus paradoxe Anschauungen an. Aber man hat wegen dieser Anschauungen schon so viel gelitten, man hat sie um einen so teueren Preis gewonnen, daß es allzu schmerzhaft und sogar unmöglich wäre, sich von ihnen loszureißen. B–ki nahm jeden meiner Einwände mit tiefem Schmerz auf und antwortete mir bissig. In vielen Dingen hatte er vielleicht übrigens mehr recht als ich, ich weiß es nicht; aber schließlich gingen wir ganz auseinander, und dies tat mir sehr weh: wir hatten schon so vieles zusammen erlebt.
Indessen wurde M–cki mit den Jahren immer trauriger und düsterer. Der Gram erdrückte ihn. Früher, in der ersten Zeit meines Aufenthaltes im Zuchthause, war er mitteilsamer gewesen und hatte sein Herz viel häufiger ausgeschüttet. Als ich ins Zuchthaus eintrat, war er schon das dritte Jahr da. Anfangs interessierte er sich für vieles davon, was während dieser zwei Jahre in der Welt geschehen war und wovon er im Zuchthause keine Ahnung gehabt hatte; er fragte mich aus, hörte mir zu und regte sich auf. Aber später, mit den Jahren, zog sich alles in sein Innerstes zurück. Die Kohlenglut verschwand unter der Asche. Seine Gehässigkeit wuchs immer mehr. »Je haïs ces brigands.« sagte er mir immer öfter, mit Haß auf die Zuchthäusler blickend, die ich indessen näher kennengelernt hatte, und was ich auch zu ihren Gunsten sagte, machte auf ihn nicht den geringsten Eindruck. Er verstand einfach nicht, was ich ihm sagte; zuweilen stimmte er mir übrigens zerstreut zu, sagte aber schon am nächsten Tage wieder: »Je haïs ces brigands.« Wir sprachen übrigens oft französisch miteinander, und ein Arbeitsaufseher, der Geniesoldat Dranischnikow, nannte uns aus diesem Grunde »Feldschere«; ich weiß nicht, was er sich dabei dachte. M–cki geriet nur dann in Feuer, wenn er von seiner Mutter sprach. »Sie ist alt, sie ist krank,« sagte er mir, »sie liebt mich über alles in der Welt, und ich weiß nicht mal, ob sie noch am Leben ist. Es ist schon viel, daß sie weiß, daß ich habe Spießruten laufen müssen...« M–cki war kein Adliger und hatte vor der Verschickung eine Körperstrafe bekommen. Wenn er davon sprach, biß er die Zähne aufeinander und blickte zur Seite. In der letzten Zeit ging er immer öfter allein. Eines Morgens gegen zwölf wurde er zum Kommandanten berufen. Der Kommandant empfing ihn mit einem lustigen Lächeln.
»Nun, M–cki, was hat dir heute geträumt?« fragte er ihn. »Ich fuhr zusammen,« berichtete M–cki, als er zu uns zurückkehrte. »Seine Worte durchbohrten mir das Herz.«
»Es träumte mir, ich hätte einen Brief von meiner Mutter bekommen,« antwortete er.
»Noch etwas Schöneres!« entgegnete der Kommandant. »Du bist frei! Deine Mutter hat sich für dich verwendet... ihre Bitte fand Gehör. Hier ist ein Brief von ihr und hier ein Befehl über dich. Du wirst sofort das Zuchthaus verlassen!«
Er kam blaß und noch nicht ganz zum Bewußtsein gekommen zurück. Wir gratulierten ihm. Er drückte uns die Hände mit seinen zitternden, kalt gewordenen Händen. Auch viele andere Arrestanten beglückwünschten ihn und freuten sich über sein Glück.
Er wurde nun Ansiedler und blieb in unserer Stadt. Bald darauf bekam er eine Stellung. In der ersten Zeit kam er häufig vor unser Zuchthaustor, um uns verschiedene Neuigkeiten mitzuteilen. Die politischen interessierten ihn ganz besonders.
Von den übrigen vier, d.h. außer M–cki, T–wski, B–ki und Z–ki waren zwei noch sehr junge Leute, die für kurze Zeit verschickt worden waren, wenig gebildete, aber ehrliche, aufrichtige und einfache Menschen. Der dritte, A–cukowski, war schon gar zu einfältig und stellte nichts Besonderes dar; dafür machte der vierte, B–m, ein schon bejahrter Mensch, auf uns alle den schlechtesten Eindruck. Ich weiß nicht, wie er in diese Verbrecherkategorie hineingeraten war; auch leugnete er selbst seine Beteiligung an den entsprechenden Vergehen. Es war eine rohe Spießbürgerseele mit den Gewohnheiten und Anschauungen eines Krämers, der sich durch kleine Schwindelgeschäfte bereichert hat. Er besaß nicht die geringste Bildung und interessierte sich für nichts als für sein Handwerk. Er war Zimmermaler, aber ein ganz hervorragender Meister in diesem Fach. Die Obrigkeit erfuhr bald von seinen Talenten, und die ganze Stadt verlangte nach B–m zur Ausmalung der Wände und Decken. In zwei Jahren hatte er fast alle Amtswohnungen ausgemalt. Die Inhaber dieser Wohnungen bezahlten ihn aus eigener Tasche, und er lebte in guten Verhältnissen. Das beste aber war, daß man auch andere seiner Kameraden mit ihm zur Arbeit schickte. Von denen, die ihn ständig begleiteten, erlernten zwei sein Handwerk, und einer von ihnen, T–wski, malte bald nicht schlechter als er. Unser Platzmajor, der ein ganzes Amtsgebäude bewohnte, berief auch B–m zu sich und befahl ihm, alle Wände und Decken auszumalen. B–m gab sich dabei besondere Mühe: selbst die Wohnung des Generalsgouverneurs war nicht so schön ausgemalt. Es war ein hölzernes, einstöckiges, ziemlich baufälliges und von außen unansehnliches Haus; innen war es aber ausgemalt wie ein Palast, und der Major war entzückt... Er rieb sich die Hände und sagte immer wieder, daß er jetzt unbedingt heiraten werde: »Wenn man eine solche Wohnung hat, ist es einfach unmöglich, nicht zu heiraten,« fügte er vollkommen ernst hinzu. Mit B–m war er immer mehr zufrieden und dann auch mit den andern, die ihm bei der Arbeit halfen. Die Arbeit dauerte einen ganzen Monat. In diesem Monat änderte der Major seine Meinung über die Leute unserer Klasse vollständig und begann sie zu protegieren. Das ging so weit, daß er eines Tages den Z–ki aus dem Zuchthause zu sich berief.
»Z–ki,« sagte er, »ich habe dich schwer gekränkt. Ich habe dich ohne Grund mit Ruten bestrafen lassen, ich weiß es. Ich bereue es. Begreifst du es? Ich, ich, ich bereue es!?«
Z–ki antwortete, daß er es begreife.
»Begreifst du, daß ich, dein Vorgesetzter, dich hergerufen habe, um dich um Verzeihung zu bitten? Fühlst du es? Was bist du vor mir? Ein Wurm! Weniger als ein Wurm: ein Arrestant! Ich aber bin von Gottes Gnaden Major. Er äußerte sich buchstäblich so; diesen Ausdruck gebrauchten übrigens zu meiner Zeit außer unserem Major viele niedere Vorgesetzte, vorwiegend solche, die sich aus dem Soldatenstande hinaufgedient hatten. Anmerkung Dostojewskis. Ein Major! Begreifst du das?«
Z–ki antwortete, daß er auch das begreife.
»Nun, jetzt will ich mich mit dir versöhnen. Fühlst du es aber auch richtig, in vollem Umfange? Bist du fähig, es zu begreifen und zu fühlen? Bedenke bloß: ich, der Major!...« usw.
Z–ki erzählte mir selbst diese ganze Szene. Also wohnte auch in diesem versoffenen, dummen und unordentlichen Menschen ein menschliches Gefühl. Wenn man seine Anschauungen und seinen Bildungsgrad berücksichtigt, muß man eine solche Handlung fast edelmütig nennen. Übrigens hatte vielleicht auch sein betrunkener Zustand viel dazu beigetragen.
Sein Traum ging jedoch nicht in Erfüllung: er heiratete nicht, obwohl er sich dazu fest entschlossen hatte, als seine Wohnung neu ausgemalt war. Statt zu heiraten, kam er vors Gericht und mußte seinen Abschied nehmen. Bei dieser Gelegenheit kamen auch alle seine alten Sünden heraus. Vorher war er, wie ich glaube, in dieser selben Stadt Stadthauptmann gewesen... Der Schlag traf ihn ganz unerwartet. Im Zuchthause rief diese Nachricht eine maßlose Freude hervor. Es war ein Fest, ein Triumph! Man erzählte sich, der Major hätte wie ein altes Weib geheult und geweint. Es war aber nichts zu machen. Er nahm seinen Abschied, verkaufte erst sein Paar Graue, dann auch seinen übrigen Besitz und verfiel sogar in Armut. Wir trafen ihn später öfters in einem abgetragenen Zivilrock, mit einer Kokarde auf der Mütze. Er blickte die Arrestanten bei solchen Begegnungen boshaft an. Aber sein ganzer Zauber war dahin, sobald er die Uniform abgelegt hatte. In der Uniform war er ein Ungewitter, eine Gottheit gewesen. Im Zivilrock war er plötzlich nichts und erinnerte an einen Lakaien. Es ist merkwürdig, wieviel bei diesen Leuten die Uniform bedeutet.
Bald nach der Absetzung unseres Platzmajors gingen in unserem Zuchthause wichtige Veränderungen vor sich. Das Zivilzuchthaus wurde aufgehoben und an seiner Statt eine Strafkompagnie des Militärressorts nach dem Muster der Strafkompagnien im Europäischen Rußland gegründet. Dies bedeutete, daß in unser Zuchthaus keine Verbannten der zweiten Kategorie mehr kamen. Von nun an wurde das Zuchthaus ausschließlich mit militärischen Arrestanten bevölkert, also mit Leuten, die ihre Standesrechte noch nicht verloren hatten und sich von den andern Soldaten nur dadurch unterschieden, daß sie eine Strafe abbüßten; sie kamen für kurze Fristen (höchstens für sechs Jahre) ins Zuchthaus und kehrten nach dem Austritt aus dem Zuchthause in ihre Bataillone als die gleichen Soldaten zurück, wie sie früher waren. Übrigens bekamen diejenigen, die wegen eines neuen Vergehens ins Zuchthaus zurückkehrten, genau wie früher eine zwanzigjährige Strafzeit zudiktiert. Wir hatten übrigens auch schon vor dieser Veränderung eine eigene Abteilung von Militärarrestanten gehabt, aber diese lebten mit uns zusammen, da für sie kein eigener Raum da war. Nun wurde das ganze Zuchthaus in eine einzige Militärabteilung verwandelt. Selbstverständlich blieben die schon vorhandenen Zivilarrestanten, die aller Bürgerrechte beraubten, gebrandmarkten, echten Zuchthäusler mit den zur Hälfte rasierten Köpfen, auch noch weiter im Zuchthause, bis zur Abbüßung ihrer vollen Straffristen; neue kamen nicht, die Verbliebenen absolvierten aber einer nach dem andern ihre Strafzeiten und wurden entlassen, so daß nach etwa zehn Jahren in unserem Zuchthause kein einziger Zivilarrestant mehr bleiben konnte. Auch die Besondere Abteilung am Zuchthause blieb bestehen, und in diese kamen von Zeit zu Zeit die schwersten militärischen Verbrecher, »bis zur Einführung der schwersten Zwangsarbeit in Sibirien«, wie es im Gesetz hieß. So ging unser Leben eigentlich seinen früheren Gang: dieselbe Ordnung, dieselbe Verpflegung, dieselbe Arbeit, nur war die Aufsichtsbehörde eine andere und kompliziertere geworden. Es wurde ein Stabsoffizier als Kommandeur der ganzen Strafkompagnie ernannt, und neben ihm vier Offiziere, die abwechselnd den Dienst im Zuchthause versahen. Die Invaliden wurden abgeschafft und statt ihrer zwölf Unteroffiziere und ein Oberaufseher angestellt. Der ganze Bestand an Arrestanten wurde in Gruppen von je zehn Mann eingeteilt; es wurden Gefreite aus der Zahl der Arrestanten selbst ernannt, natürlich nur nominell; selbstverständlich wurde Akim Akimytsch sofort Gefreiter. Diese ganze neue Einrichtung und das ganze Zuchthaus mit allen seinen Beamten und Arrestanten blieb nach wie vor unter dem Oberbefehl des Kommandanten. Das ist alles, was geschah. Die Arrestanten regten sich anfangs natürlich sehr auf; sie besprachen die Veränderungen und stellten Vermutungen über die neuen Vorgesetzten an; als sie aber sahen, daß alles eigentlich beim alten blieb, so beruhigten sie sich sofort, und unser Leben nahm seinen alten Gang. Das wichtigste aber war, daß alle nun von dem früheren Major erlöst waren; alle atmeten erleichtert auf und faßten neuen Mut. Das verängstigte Wesen verschwand; ein jeder wußte jetzt, daß er sich im Notfalle mit seinem Vorgesetzten auseinandersetzen durfte und daß ein Unschuldiger höchstens nur aus Versehen statt eines Schuldigen bestraft werden konnte. Selbst der Branntweinhandel wurde bei uns in der alten Form weiter betrieben, obwohl statt der früheren Invaliden Unteroffiziere eingesetzt waren. Diese Unteroffiziere erwiesen sich in den meisten Fällen als anständige, vernünftige Menschen, die für ihre Stellung volles Verständnis hatten. Einige von ihnen versuchten übrigens in der ersten Zeit, sich wichtig zu machen und die Arrestanten, natürlich aus Unerfahrenheit, wie Soldaten zu behandeln. Aber auch sie begriffen bald die Sachlage. Die andern, die sie lange nicht begreifen wollten, wurden aber von den Arrestanten selbst aufgeklärt. Es gab ziemlich heftige Zusammenstöße: man verführte z.B. so einen Unteroffizier, machte ihn betrunken und meldete hinterher ihm selbst, natürlich in der entsprechenden Form, daß er mit den Arrestanten getrunken hätte und folglich... Schließlich sahen die Unteroffiziere gleichgültig zu oder sahen, richtiger gesagt, überhaupt nicht, wie man die Därme einschmuggelte und den Branntwein verkaufte. Noch mehr als das: sie gingen wie die früheren Invaliden auf den Markt und kauften für die Arrestanten Semmeln, Fleisch und alles übrige, d.h. solche Dinge, die sie ohne großes Risiko ins Zuchthaus bringen konnten. Welchen Zweck alle diese Veränderungen hatten, wozu die Arrestantenkompagnie eingeführt wurde, weiß ich nicht zu sagen. Dies geschah in den letzten Jahren meines Zuchthauslebens. Aber zwei Jahre mußte ich noch unter diesen neuen Verhältnissen leben...
Soll ich dieses ganze Leben, alle meine Zuchthausjahre schildern? Ich glaube nicht. Wenn ich der Reihe nach alles beschreiben wollte, was in diesen Jahren geschah, was ich sah und erlebte, so könnte ich natürlich damit drei- und viermal mehr Kapitel füllen, als ich bis jetzt geschrieben habe. Aber eine solche Schilderung muß auf die Dauer allzu eintönig werden. Alle Erlebnisse erscheinen auf den gleichen Ton gestimmt, besonders für den Leser, der schon aus den niedergeschriebenen Kapiteln ein einigermaßen genügendes Bild vom Leben eines Zuchthäuslers der zweiten Kategorie gewonnen hat. Ich wollte nur unser ganzes Zuchthaus und alles, was ich in diesen Jahren erlebt habe, in einem anschaulichen und farbenreichen Bilde schildern. Ob ich dies erreicht habe, weiß ich nicht. Ich bin auch wohl nicht berufen, darüber zu urteilen. Aber ich bin überzeugt, daß ich hier aufhören kann. Außerdem überkommt mich selbst bei diesen Erinnerungen zuweilen eine trübe Stimmung. Ich kann mich auch nicht auf alles besinnen. Die späteren Jahre sind irgendwie meinem Gedächtnisse entschwunden. Ich bin überzeugt, daß ich viele Umstände vollständig vergessen habe. Ich erinnere mich nur, daß alle diese Jahre, die einander so ähnlich waren, matt und traurig dahingingen. Diese langen, langweiligen Tage waren so eintönig, wie wenn Regenwasser vom Dach tropft. Ich weiß nur noch, daß nur das leidenschaftliche Verlangen nach einer Auferstehung, nach einer Erneuerung, nach einem neuen Leben mir die Kraft gab, zu warten und zu hoffen. Und ich fand schließlich diese Kraft: ich wartete, ich zählte jeden Tag, und obwohl mir ihrer noch tausend blieben, strich ich jeden einzelnen aus der Gesamtzahl, trug ihn zu Grabe und freute mich beim Anbruch eines neuen Tages, daß ihrer nicht mehr tausend, sondern nur neunhundertneunundneunzig blieben. Ich erinnere mich, daß ich mich während dieser ganzen Zeit, trotz der Hunderte von Genossen, furchtbar vereinsamt fühlte und diese Vereinsamung zuletzt lieb gewann. Seelisch vereinsamt, unterzog ich mein ganzes bisheriges Leben einer Revision, nahm alles, bis zum geringsten Detail darin durch, versenkte mich in meine Vergangenheit, hielt über mich ein unbarmherziges und strenges Gericht und segnete sogar zuweilen mein Schicksal dafür, daß es mir diese Vereinsamung gesandt hatte, ohne die weder dieses strenge Gericht über mich selbst, noch die strenge Durchsicht meines früheren Lebens möglich gewesen wäre. Was für Hoffnungen füllten damals mein Herz! Ich glaubte, ich hatte beschlossen und mir den Eid abgenommen, daß es in meinem künftigen Leben keine solche Fehler und Verirrungen mehr geben solle, die dann früher waren. Ich stellte mir ein Programm für die ganze Zukunft auf und nahm mir vor, es streng zu befolgen. In mir erwachte von neuem der blinde Glaube, daß ich dies alles erfüllen würde und auch erfüllen könne... Ich wartete auf die Freiheit und rief sie so schnell wie möglich herbei; ich wollte mich wieder in einem neuen Kampf erproben. Zuweilen bemächtigte sich meiner eine krampfhafte Ungeduld... Aber es ist mir jetzt schmerzhaft, an meine damalige Stimmung zurückzudenken. Natürlich geht dies alles nur mich allein an... Aber darum habe ich auch dies alles aufgezeichnet, weil ich glaube, daß jeder es begreifen wird und es einem jeden ebenso gehen wird, wenn er in der Blüte seiner Jahre und Kräfte für eine bestimmte Zeit ins Gefängnis kommt.
Aber was soll ich darüber reden!... Ich will lieber noch etwas berichten, um meine Schilderung nicht allzu gewaltsam abzubrechen.
Es ist mir eingefallen, daß vielleicht jemand fragen wird, ob es denn ganz unmöglich gewesen sei, aus dem Zuchthause zu fliehen, und ob bei uns während dieser ganzen Jahre niemand entflohen wäre. Ich sagte schon, daß ein Arrestant, der zwei oder drei Jahre im Zuchthause zugebracht hat, diese Jahre zu schätzen anfängt und unwillkürlich zur Einsicht gelangt, daß es besser sei, den Rest ohne Sorgen und Gefahren zu absolvieren, um dann auf gesetzliche Weise als Ansiedler entlassen zu werden. Dieser Einsicht ist aber nur ein Arrestant zugänglich, der für eine nicht allzu lange Frist verschickt worden ist. Ein für viele Jahre Verurteilter ist mitunter bereit, zu riskieren... Aber es kam bei uns im allgemeinen nicht vor. Ich weiß nicht, ob sie zu feige waren, oder ob die Aufsicht allzu streng oder die Lage unserer Stadt (in der offenen Steppe) allzu ungünstig gewesen ist. Ich glaube, alle diese Ursachen wirkten zusammen. Es war tatsächlich recht schwer zu entfliehen. Und doch ereignete sich zu meiner Zeit ein solcher Fall: zwei Arrestanten riskierten es, dazu noch zwei von den schwersten Verbrechern...
Nach der Absetzung des Majors blieb A–w (derjenige, der ihm als Spion im Zuchthause diente) ganz allein, ohne jede Protektion. Er war noch sehr jung, aber sein Charakter hatte sich mit den Jahren gefestigt. Er war überhaupt ein frecher, entschlossener und sogar sehr intelligenter Mensch. Wenn er die Freiheit erlangt hätte, so wäre er wohl imstande gewesen, noch weiter zu spionieren und sich durch ähnliche gemeine Dienste zu ernähren, aber er wäre doch nicht so dumm und unvernünftig hereingefallen wie bei seinen ersten Versuchen, als er seine Dummheit mit der Verschickung hatte büßen müssen. Er übte sich unter anderem auch in der Anfertigung von falschen Pässen. Dieses will ich jedoch nicht positiv behaupten. Ich habe es nur von unseren Arrestanten gehört. Man erzählte sich, daß er sich auf diesem Gebiete schon früher betätigt habe, als er noch zum Platzmajor in die Küche ging, und daß er davon entsprechende Einnahmen gehabt hätte. Mit einem Worte, er wäre wohl zu allem fähig gewesen, um sein Schicksal zu verändern. Ich hatte einmal die Gelegenheit, in seine Seele hineinzublicken: sein Zynismus ging bis zu einer empörenden Frechheit, bis zur kältesten Verhöhnung und erregte einen unüberwindlichen Ekel. Mir scheint, wenn er große Lust gehabt hätte, ein Gläschen Branntwein zu trinken und dieses Gläschen auf keine andere Weise hätte bekommen können, als daß er dazu einen Menschen ermorden müßte, so hätte er unbedingt den Menschen ermordet, wenn es nur möglich gewesen wäre, es in aller Heimlichkeit zu machen. Im Zuchthause hatte er Vorsicht gelernt. Auf diesen Menschen richtete nun seine Aufmerksamkeit der Arrestant Kulikow aus der Besonderen Abteilung.
Von Kulikow habe ich schon gesprochen. Er war nicht mehr jung, aber leidenschaftlich, zäh, stark, mit außerordentlichen und mannigfaltigen Fähigkeiten begabt. In ihm steckte eine ungebrochene Kraft, und er wollte sich noch ausleben; solche Menschen haben bis ins hohe Alter das Bedürfnis, sich auszuleben. Wenn ich mich darüber gewundert hätte, daß bei uns keine Fluchtversuche unternommen wurden, so würde ich mich natürlich zu allererst über diesen Kulikow gewundert haben. Aber Kulikow entschloß sich dazu. Wer von den beiden den größeren Einfluß auf den andern hatte, ob A–w auf Kulikow oder Kulikow auf A–w, weiß ich nicht, aber beide waren einander wert und ergänzten sich bei diesem Unternehmen in der besten Weise. Sie schlossen Freundschaft. Mir scheint, Kulikow rechnete darauf, daß A–w die nötigen Pässe herstellen würde. A–w war adliger Abstammung, aus guten Gesellschaftskreisen – dieses versprach eine reiche Abwechslung in den künftigen Abenteuern, wenn sie nur erst Rußland erreicht haben würden. Wer weiß, was für Verabredungen sie unter sich trafen und was für Hoffnungen sie hatten; wahrscheinlich gingen aber ihre Hoffnungen über die gewöhnliche Routine der sibirischen Landstreicher hinaus. Kulikow war von Natur ein Schauspieler und konnte sich im Leben viele verschiedene Rollen wählen; er durfte auf vieles hoffen, jedenfalls auf Abwechslung. Auf solchen Leuten lastet das Zuchthausleben besonders schwer. Sie verabredeten zu fliehen.
Aber ohne Mitwirkung des Begleitsoldaten konnte man nicht fliehen. Man mußte auch diesen zur Flucht überreden. In einem der Bataillone, die in der Festung lagen, diente ein Pole, ein energischer Mensch, der vielleicht ein besseres Schicksal verdiente, ein schon bejahrter, tapferer und ernster Mann. In seinen jungen Jahren war er, gleich nachdem er als Soldat nach Sibirien gekommen war, aus tiefem Heimweh geflohen. Er wurde eingefangen, gezüchtigt und für zwei Jahre in die Strafkompagnie eingereiht. Als er dann wieder ins Regiment kam, besann er sich eines Besseren, tat seinen Dienst gewissenhaft und eifrig und wurde zur Belohnung zum Gefreiten befördert. Er war ein Mensch mit Ehrgeiz und Selbstvertrauen. Er blickte und sprach immer wie ein Mensch, der sich seines Wertes bewußt ist. Ich hatte ihn während dieser Jahre einige Male unter unseren Begleitsoldaten getroffen. Auch unsere Polen hatten mir einiges über ihn erzählt. Ich hatte den Eindruck, daß sein früheres Heimweh sich in ihm in einen ständigen, dumpfen, versteckten Haß verwandelt habe. Dieser Mensch war zu allem fähig, und Kulikow hatte sich nicht getäuscht, als er ihn sich zum Genossen wählte. Sein Name war Koller. Sie einigten sich und setzten den Tag fest. Es war im Juni, in der heißesten Jahreszeit. Das Klima in dieser Stadt ist ziemlich gleichmäßig; im Sommer herrscht beständiges warmes Wetter, und das ist für einen Landstreicher sehr vorteilhaft. Natürlich konnten sie die Flucht nicht direkt von der Festung aus unternehmen; die ganze Stadt lag frei und von allen Seiten offen. Ringsum gab es ziemlich weit keine Wälder. Man mußte sich also bürgerliche Kleidung verschaffen und zu diesem Zweck in die Vorstadt kommen, wo Kulikow von früher her einen Unterschlupf hatte. Ich weiß nicht, ob seine Freunde in der Vorstadt in das Geheimnis eingeweiht waren. Es ist anzunehmen, daß es wohl der Fall war, obwohl sich dies später bei der Untersuchung nicht völlig aufklären ließ. In jenem Jahre begann in einem Winkel dieser Vorstadt ein junges, recht hübsches Mädchen, mit dem Spitznamen Wanjka-Tanjka ihre Laufbahn; sie berechtigte damals zu großen Hoffnungen, die sie später zum Teil auch erfüllte. Man nannte sie auch »Feuer«. Auch sie scheint an der Sache beteiligt gewesen zu sein. Kulikow hatte sich ihr zuliebe schon seit einem ganzen Jahr ruiniert. Die Gesellschaft richtete es des Morgens beim Abmarsch zur Arbeit so ein, daß man sie mit dem Arrestanten Schilkin, einem Ofensetzer und Maurer, schickte, um die leeren Bataillonskasernen, aus denen die Soldaten für den Sommer in ein Zeltlager gezogen waren, neu zu tünchen. A–w und Kulikow wurden ihm als Handlanger mitgegeben. Koller ließ sich ihnen als Begleitsoldat beigeben, da aber drei Arrestanten nach den Vorschriften zwei Wachsoldaten erfordern, so gab man dem Koller als einem alten Soldaten und Gefreiten einen jungen Rekruten mit, damit er ihn im Wachdienste unterweise. Unsere Flüchtlinge haben also einen außerordentlich starken Einfluß auf Koller haben müssen, wenn dieser kluge, solide und berechnende Mann sich nach einer so langjährigen und in der letzten Zeit so erfolgreichen Dienstkarriere entschlossen hatte, ihnen zu folgen.
Sie kamen in die Kaserne. Es war sechs Uhr früh. Außer ihnen war niemand da. Nachdem sie etwa eine Stunde gearbeitet hatten, sagten Kulikow und A–w zu Schilkin, daß sie nach der Werkstätte gehen wollten, erstens um jemand zu sprechen, und zweitens, um bei dieser Gelegenheit einige fehlende Werkzeuge mitzunehmen. Mit Schilkin mußten sie es sehr schlau anfangen, d.h. möglichst natürlich. Er war ein Moskauer Kleinbürger, ein Ofensetzer vom Fach, ein schlauer, durchtriebener, kluger und wortkarger Mensch. Von Aussehen war er schwächlich und hager. Er hätte wohl sein Lebtag eine Weste und einen Hausrock, die Tracht eines Moskauer Handwerkers tragen sollen, aber das Schicksal hatte es anders gewollt, und er kam nach langen Irrfahrten zu uns auf Lebenszeit in die Besondere Abteilung, d.h. in die Klasse der schwersten militärischen Verbrecher. Womit er diese Karriere verdient hatte, weiß ich nicht; aber eine besondere Unzufriedenheit war an ihm niemals wahrzunehmen; er benahm sich friedlich und gleichmäßig, betrank sich nur ab und zu wie ein Schuster, betrug sich aber auch im Rausche anständig. Ins Geheimnis war er natürlich nicht eingeweiht, aber er hatte scharfe Augen. Kulikow machte ihm natürlich eine Andeutung, daß sie den Branntwein abholen wollten, den sie in der Werkstätte schon einen Tag vorher vorbereitet hatten. Dies machte auf Schilkin Eindruck; er ließ sie ohne Argwohn gehen und blieb mit dem jungen Rekruten zurück, während Kulikow, A–w und Koller sich in die Vorstadt begaben.
Es verging eine halbe Stunde; sie kamen noch immer nicht zurück, und das fiel Schilkin auf. Er selbst war ja mit allen Wassern gewaschen. Er begann sich zu besinnen: Kulikow hatte eine eigentümliche Stimmung gezeigt, A–w hatte mit ihm zweimal geflüstert oder ihm mindestens zugeblinzelt, das hatte er gesehen; nun konnte er sich auf alles besinnen. Auch Koller war ihm aufgefallen; er hatte vor dem Weggehen dem Rekruten einen Vortrag gehalten, wie er sich in seiner Abwesenheit zu benehmen habe, und dies war bei Koller nicht recht natürlich. Mit einem Worte, je mehr Schilkin über die Sache nachdachte, um so verdächtiger erschien sie ihm. Es wurde indessen immer später, sie kehrten nicht zurück, und seine Unruhe erreichte den höchsten Grad. Er wußte sehr gut, was er dabei selbst riskierte: der Verdacht der Obrigkeit mußte ja auch auf ihn fallen. Man konnte ja annehmen, daß er die Genossen in Kenntnis ihrer Absicht und im Einverständnis mit ihnen habe fortgehen lassen, und wenn er noch länger wartete und keine Anzeige erstattete, müßte dieser Verdacht eine noch größere Wahrscheinlichkeit gewinnen. Er durfte also keine Zeit verlieren. Jetzt erinnerte er sich auch, daß Kulikow und A–w in der letzten Zeit besonders intim mit einander waren, oft getuschelt hatten und häufig hinter den Kasernen, fern von allen Augen, herumgegangen waren. Es fiel ihm ein, daß er sich auch schon damals Gedanken über sie gemacht hatte... Er blickte seinen Bewacher prüfend an; dieser gähnte, auf das Gewehr gestützt, und putzte sich auf die unschuldigste Weise mit dem Finger die Nase; Schilkin erwies ihm daher nicht einmal die Ehre, ihn in seinen Verdacht einzuweihen, sondern sagte ihm ganz einfach, er solle ihn in die Ingenieurwerkstätte begleiten. In der Werkstätte wollte er fragen, ob sie dort angekommen seien. Es erwies sich aber, daß sie dort niemand gesehen hatte. Nun bestanden für Schilkin keine Zweifel mehr: Selbst daß sie sich einfach in die Vorstadt begeben haben, um da zu trinken und zu bummeln, was Kulikow manchmal zu tun pflegte, dachte sich Schilkin, ist unwahrscheinlich. Dann würden sie es ihm gesagt haben, denn so etwas würden sie vor ihm nicht verheimlichen. Schilkin brach seine Arbeit ab und begab sich, ohne erst nach der Kaserne zurückzukehren, direkt ins Zuchthaus.
Es war schon fast neun Uhr, als er zum Feldwebel kam und ihm meldete, was geschehen war. Der Feldwebel bekam natürlich große Angst und wollte es anfangs gar nicht glauben. Schilkin teilte ihm dies alles natürlich nur als einen Verdacht mit. Der Feldwebel stürzte sofort zum Major. Der Major begab sich unverzüglich zum Kommandanten. Nach einer Viertelstunde hatte man schon alle notwendigen Maßregeln ergriffen. Man meldete es sofort dem Generalgouverneur. Es waren ja besonders wichtige Verbrecher, und ihretwegen konnte aus Petersburg eine heftige Rüge kommen. A–w wurde, ob mit Recht oder Unrecht, zu den politischen Verbrechern gerechnet; Kulikow aber gehörte der »Besonderen Abteilung« an, war also ein Erzverbrecher und dazu noch ein militärischer. Es war bisher noch nie vorgekommen, daß jemand aus der Besonderen Abteilung entwichen wäre. Bei dieser Gelegenheit erinnerte man sich, daß die Vorschrift für jeden Arrestanten aus der Besonderen Abteilung bei der Arbeit zwei oder wenigstens einen Wachsoldaten verlangte. Diese Vorschrift war also hier verletzt worden. Die Sache konnte also recht unangenehm werden. Es wurden Extraboten nach allen Dorfgemeinden, nach allen Flecken in der Umgegend geschickt, um die Nachricht von der Flucht zu verbreiten und überall das Signalement der Flüchtlinge zu hinterlassen. Man sandte Kosaken aus, um sie einzuholen und einzufangen; man schrieb nach allen benachbarten Landkreisen und Gouvernements... Mit einem Worte, man bekam ordentlich Angst.
Indessen begann bei uns im Zuchthause eine Aufregung anderer Art. Die Arrestanten erfuhren, als sie von den Arbeiten zurückkehrten, von der Sache. Die Nachricht hatte bald alle erreicht. Alle nahmen sie mit einer außerordentlichen, heimlichen Freude auf. Einem jeden erzitterte das Herz... Außerdem hatte dieses Ereignis die Eintönigkeit des Zuchthauslebens unterbrochen und den Ameisenhaufen aufgewühlt; eine Flucht, noch dazu eine solche Flucht weckte in jeder Seele einen Widerhall und brachte längst vergessene Saiten zum Klingen; in allen Herzen regte sich etwas wie Hoffnung, Unternehmungslust, der Gedanke an die Möglichkeit, sein Schicksal zu ändern. »Da sind sie wirklich entflohen; warum sollten wir es nicht auch?...« Und ein jeder faßte bei diesem Gedanken neuen Mut und sah die andern herausfordernd an. Jedenfalls fingen plötzlich alle an, die Unteroffiziere stolz und von oben herab anzusehen. Selbstverständlich eilten die Vorgesetzten sofort ins Zuchthaus. Auch der Kommandant selbst kam gefahren. Unsere Arrestanten blickten kühn, sogar etwas verächtlich, mit einem eigentümlichen stummen und strengen Ernst, als wollten sie sagen: »Ja, wir verstehen wohl, so eine Sache zu deichseln!« Natürlich hatte man bei uns das Erscheinen sämtlicher Vorgesetzter schon vorhergesehen. Man hatte auch mit Durchsuchungen gerechnet und alles rechtzeitig versteckt. Man wußte, daß die Vorgesetzten in solchen Fällen eine verspätete Voraussicht zu zeigen pflegen. So kam es auch: es gab ein großes Durcheinander, alles wurde durchsucht und durchwühlt, aber natürlich nichts gefunden. Zur Nachmittagsarbeit wurden die Arrestanten unter verstärkter Bewachung geschickt. Abends sahen die Wachsoldaten jeden Augenblick ins Zuchthaus hinein und zählten die Leute einmal mehr als sonst. Dabei verrechneten sie sich zweimal mehr als sonst. Es gab daher ein neues Durcheinander: man trieb alle auf den Hof hinaus und zählte sie noch einmal durch. Dann zählte man noch einmal in den Kasernen nach... Mit einem Worte, die Obrigkeit hatte alle Hände voll zu tun.
Aber die Arrestanten machten sich nichts daraus. Alle blickten äußerst selbstbewußt drein und benahmen sich wie immer in solchen Fällen den ganzen Abend ungewöhnlich solid. »Es ist an unserem Benehmen nichts auszusetzen.« Die Vorgesetzten dachten sich natürlich, ob im Zuchthause nicht Helfershelfer der Flüchtlinge zurückgeblieben seien, und gaben den Befehl, bei den Arrestanten herumzuhorchen. Aber die Arrestanten lachten nur darüber. »Bei einem solchen Unternehmen läßt man doch keine Helfershelfer zurück!« – »So eine Sache wird mit unhörbaren Schritten gemacht.« – »Sind denn Kulikow und A–w solche Menschen, daß sie dabei irgendwelche Spuren hinterlassen könnten? Sie haben es meisterhaft, in aller Stille gemacht. Die Leute sind eben mit allen Wassern gewaschen und können durch verschlossene Türen gehen!« Mit einem Worte, der Ruhm Kulikows und A–ws war gewachsen; alle waren auf sie stolz. Man fühlte, daß der Bericht von ihrer Heldentat die entfernteste Generation der Arrestanten erreichen und das Zuchthaus überleben würde.
»Geschickte Burschen!« sagten die einen.
»Man glaubte, bei uns könne niemand davonlaufen. Nun sind diese doch davongelaufen!...« fügten andere hinzu.
»Ja, davongelaufen!« meldete sich ein dritter und sah sich mit Überlegenheit um. »Wer ist aber davongelaufen?... Etwa so ein Mensch wie du?«
Zu einer andern Zeit hätte der Arrestant, an den diese Worte gerichtet waren, sicher auf die Herausforderung reagiert und seine Ehre verteidigt. Jetzt aber ließ er sich das schweigend gefallen. »Nicht alle sind doch so wie Kulikow und A–w; man muß erst zeigen, was man kann...«
»Warum leben wir noch hier, Brüder?« unterbricht das Schweigen ein vierter, der bescheiden am Küchenfenster sitzt und die Backe mit der Hand stützt. Vor lauter Rührung und Selbstzufriedenheit spricht er in einem singenden Tone. »Was sind wir hier? Solange wir hier leben, sind wir keine Menschen, und wenn wir gestorben sind, sind wir keine Leichen. Ach!«
»Das Zuchthausleben ist kein Stiefel: du kannst es nicht vom Fuße werfen. Brauchst nicht zu ächzen!«
»Aber Kulikow...« mischte sich ein Gelbschnabel, ein junger, hitziger Bursche ein.
»Ja, Kulikow!« fiel ihm sofort ein anderer ins Wort, ihn voller Verachtung anschielend. »Kulikow!«
Das sollte bedeuten: Gibt es viele Kulikows?
»Aber auch A–w ist ein tüchtiger Kerl, Brüder!«
»Und ob! Dieser wickelt sich auch den Kulikow um die Finger. Wenn der etwas macht, so läßt er keine Spur zurück!«
»Es wäre doch interessant zu wissen, Brüder, ob sie wohl schon weit weg sind...«
Sofort begann ein Gespräch darüber, wie weit sie schon sein mögen. Nach welcher Richtung sie wohl gegangen seien? Welche Dorfgemeinde die nächste sei? Es fanden sich Leute, die die Umgegend kannten. Man hörte ihnen mit Interesse zu. Man sprach von den Bewohnern der nächsten Dörfer und stellte fest, daß diese ungeeignet seien: in der Nähe der Stadt wohnen doch lauter geriebene Leute! Die werden den Arrestanten nicht helfen, sondern sie einfangen und ausliefern.
»Da wohnen böse Bauern, Brüder! Sehr böse Bauern!«
»Unverläßliche Bauern.«
»So ein Sibirier hat gesalzene Ohren. Man komme ihm nicht in die Quere, er schlägt einen tot.«
»Aber die unsrigen sind doch auch nicht auf den Kopf gefallen...«
»Selbstverständlich, man kann nicht wissen, es hängt davon ab, wer wen unterkriegt. Die unsrigen sind auch nicht so dumm.«
»Wenn wir nicht sterben, so hören wir noch, wie die Sache ausgegangen ist.«
»Was denkst du dir? Daß man sie einfängt?«
»Ich glaube, daß man sie nie und nimmer einfängt!« ruft einer von den Hitzigen, mit der Faust auf den Tisch hauend.
»Hm! Es kommt darauf an, wie die Sache geht.«
»Ich denke mir aber Brüder,« ergreift plötzlich Skuratow das Wort: »Wenn ich Landstreicher wäre, würden sie mich niemals einfangen!«
»Ja, dich!«
Die einen beginnen zu lachen; die andern tun so, als wollten sie überhaupt nicht mehr zuhören. Aber Skuratow ist schon in Schwung gekommen.
»Nie im Leben werden sie mich fangen!« wiederholt er mit aller Energie. »Ich denke oft darüber nach, Brüder, und muß mich über mich selbst wundern: ich glaube, ich würde durch jede Ritze kriechen, aber fangen würden sie mich nicht.«
»Wenn du Hunger kriegst, gehst du zum Bauern und bittest um Brot.«
Alle lachen.
»Um Brot? Unsinn!«
»Was schwatzt du überhaupt? Du und Onkel Wassja habt eine Dorfhexe erschlagen und seid deswegen hergekommen.«
Das Lachen wird noch stärker. Die Ernsten blicken noch entrüsteter.
»Es ist gelogen!« schreit Skuratow: »Das hat Mikitka erfunden, und auch gar nicht über mich, sondern über Wassja; mich hat man dann in das Märchen hineingezogen. Ich bin Moskauer und von Kind auf in der Landstreicherei erfahren. Als mich der Küster lesen lehrte, pflegte er mich am Ohr zu ziehen und zu sagen: ›Sprich mir nach: Erbarme dich meiner, Herr, und verzeih!...‹ Ich sprach aber: ›Gendarm, führe mich auf die Polizei...‹ So habe ich es schon als Kind getrieben.«
Alle lachten wieder. Das war aber alles, was Skuratow wollte. Es war ihm unmöglich, keine Dummheiten zu machen. Bald hörte man nicht mehr auf ihn und vertiefte sich wieder in ernste Gespräche. Es waren vorwiegend die Alten und Erfahrenen, die sich am Gespräch beteiligten. Die Jüngeren und Bescheideneren freuten sich nur beim Zuhören und steckten ihre Köpfe vor; in der Küche hatte sich eine große Menge angesammelt. Die Unteroffiziere waren natürlich nicht dabei. Unter denen, die sich besonders freuten, fiel mir der Tatare Mahmetka auf, ein kleingewachsener Kerl mit breiten Backenknochen, eine außergewöhnlich komische Figur. Er sprach fast kein Wort Russisch und verstand fast nichts davon, was die andern sprachen, aber er streckte auch seinen Kopf vor und hörte mit Genuß zu.
»Nun, Mahmetka, jakschi?« wandte sich an ihn vor lauter Langweile der von allen verschmähte Skuratow.
»Jakschi! Ach, jakschi!« murmelte ganz aufgeregt Mahmetka, wobei er Skuratow mit seinem drolligen Kopfe zunickte: »Jakschi!«
»Man wird sie doch nicht einfangen? Jok?«
»Jok, jok!« Mahmetka begann wieder zu nicken und diesmal auch mit den Armen zu fuchteln.
»Also sind wir uns einig, was?«
»Ja, ja, jakschi!« bestätigte Mahmetka, mit dem Kopfe nickend.
»Na, also jakschi!«
Skuratow schlug ihn auf die Mütze, stülpte sie ihm über die Augen und ging in der lustigsten Stimmung aus der Küche, den Tataren in einigem Erstaunen zurücklassend.
Eine ganze Woche dauerte die strenge Ordnung im Zuchthause und die angestrengteste Suche in der Umgegend. Ich weiß nicht, auf welche Weise, aber die Arrestanten waren stets über alle Manöver der Obrigkeit außerhalb des Zuchthauses aufs genaueste unterrichtet. In den ersten Tagen lauteten die Nachrichten für die Flüchtlinge günstig: es war von ihnen nichts zu sehen und zu hören, sie waren spurlos verschwunden. Die Arrestanten lächelten nur. Jede Sorge über das Schicksal der Flüchtlinge war verschwunden. »Man wird nichts finden und niemand einfangen!« sagte man bei uns mit Befriedigung.
»Die sind wie in die Erde versunken!«
»Leben Sie wohl, essen Sie Kohl!«
Man wußte bei uns, daß man alle Bauern der ganzen Gegend auf die Beine gebracht hatte und alle verdächtigen Orte, alle Wälder und Schluchten bewachen ließ.
»Das nützt alles nichts!« sagten die Unsrigen lächelnd. »Die haben sicher einen Helfer, bei dem sie sich jetzt aufhalten.«
»Sicher haben sie einen!« sagten die andern. »Die sind nicht so dumm, haben sich alles vorher überlegt.«
Man ging in den Mutmaßungen noch weiter: man sagte sich, die Flüchtlinge hielten sich vielleicht noch immer in der Vorstadt auf und warteten in irgendeinem Keller ab, bis die Aufregung sich gelegt habe und ihnen die Haare gewachsen seien. So würden sie ein halbes oder ein ganzes Jahr warten und sich dann auf die Beine machen...
Mit einem Worte, alle fühlten sich wie an einem Roman beteiligt. Plötzlich kam aber acht Tage nach der Flucht das Gerücht, daß man ihnen auf der Spur sei. Das unsinnige Gerücht wurde natürlich sofort mit Verachtung zurückgewiesen. Aber am gleichen Abend wurde es von neuem bestätigt. Die Arrestanten wurden unruhig. Am nächsten Morgen verbreitete sich in der Stadt die Nachricht, man hätte sie bereits eingefangen und sei mit ihnen unterwegs. Am Nachmittag erfuhr man noch mehr Einzelheiten: man hätte sie in einer Entfernung von siebzig Werst im Dorfe so und so eingefangen. Endlich kamen ganz zuverlässige Nachrichten. Als der Feldwebel vom Major zurückkam, erklärte er auf das bestimmteste, daß man sie gegen Abend auf die Hauptwache am Zuchthaus bringen würde. Nun durfte man nicht länger zweifeln. Der Eindruck, den diese Nachricht auf die Arrestanten machte, läßt sich schwer wiedergeben. Anfangs gerieten alle in Wut, darauf wurden sie traurig. Dann machte sich eine Art Spottlust bemerkbar. Man begann zu spotten, aber nicht mehr über die Verfolger, sondern über die Gefangenen; zuerst spotteten nur wenige, dann fast alle, mit Ausnahme einiger ernster und solider Leute, die selbständig dachten und sich durch die Spöttereien nicht aus dem Konzept bringen ließen. Sie blickten mit Verachtung auf den Leichtsinn der Masse und schwiegen.
Mit einem Worte, Kulikow und A–w wurden jetzt im gleichen Maße herabgesetzt, sogar mit Genuß herabgesetzt, in dem man sie früher gerühmt hatte. Es war, wie wenn sich alle durch irgend etwas gekränkt fühlten. Die Arrestanten erzählten sich voller Verachtung, daß die Flüchtlinge Hunger bekommen hätten; sie hätten ihn nicht ertragen können und seien ins Dorf zu den Bauern gegangen, um Brot zu bitten. Dies war aber schon die tiefste Stufe der Erniedrigung für einen Landstreicher. Diese Berichte erwiesen sich übrigens als unwahr. Man hatte die Flüchtlinge aufgespürt; sie hatten sich in einem Walde versteckt, und man hatte diesen von allen Seiten umstellt. Als sie nun keine Möglichkeit sahen, zu entkommen, ergaben sie sich selbst. Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig.
Als man sie aber am Abend wirklich brachte, an Händen und Füßen gebunden, von Gendarmen bewacht, lief das ganze Zuchthaus zu den Palisaden hinaus, um zu sehen, was man mit ihnen tun würde. Natürlich bekam man außer den Equipagen des Majors und des Kommandanten vor der Hauptwache nichts zu sehen. Die Flüchtlinge wurden in eine sogenannte »geheime« Zelle gesperrt, in Fesseln geschmiedet und gleich am nächsten Tage vors Gericht gestellt. Die Spöttereien und die Verachtung der Arrestanten schwanden bald von selbst. Man erfuhr den Sachverhalt genauer und stellte fest, daß den Flüchtlingen nichts anderes geblieben war, als sich zu ergeben. Nun verfolgten alle mit Teilnahme den Gang der Sache vor Gericht.
»Tausend Spießruten werden sie wohl kriegen,« sagten die einen.
»Ach, was, tausend!« meinten andere. »Man wird ihnen einfach den Garaus machen. A–w wird vielleicht wirklich mit einem Tausend davonkommen, den andern wird man aber totschlagen, denn er ist doch von der Besonderen Abteilung, Brüder.«
Die Vermutungen erwiesen sich jedoch als unrichtig. A–w bekam bloß fünfhundert; man zog nämlich sein bisheriges befriedigendes Betragen in Betracht und auch, daß die Flucht sein erstes Vergehen war. Kulikow bekam, glaube ich, fünfzehnhundert Spießruten. Die Exekution wurde ziemlich gnädig durchgeführt. Als kluge Menschen verwickelten sie vor Gericht niemand anderen in die Sache, machten ihre Aussagen klar und genau und behaupteten, daß sie direkt aus der Festung, ohne sich vorher irgendwo aufzuhalten, geflohen seien. Am meisten tat mir Koller leid: er verlor alles, seine letzten Hoffnungen, bekam mehr als die andern, ich glaube zweitausend Spießruten, und wurde in irgendein anderes Zuchthaus als Arrestant verschickt. A–w wurde mild, mit Mitleid bestraft; die Ärzte hatten sich seiner angenommen. Er aber prahlte und redete im Hospital laut, daß er jetzt alles riskieren werde, zu allem bereit sei und noch etwas ganz anderes unternehmen wolle. Kulikow benahm sich wie immer, d.h. solid und anständig, und sah, als er nach der Exekution ins Zuchthaus zurückkehrte, so aus, als ob er es niemals verlassen hätte. Die Arrestanten sahen ihn aber doch mit anderen Augen an: obwohl Kulikow immer und überall für sich einzutreten verstand, hörten die Arrestanten in der Tiefe ihres Herzens ihn zu achten auf und behandelten ihn von nun an mehr wie ihresgleichen. Mit einem Worte, nach diesem Fluchtversuch war der Ruhm Kulikows erheblich verblaßt. Der Erfolg hat ja bei den Menschen so viel zu bedeuten!
Dies alles begab sich schon im letzten Jahre meines Zuchthauslebens. Dieses letzte Jahr habe ich fast ebenso lebhaft in Erinnerung wie das erste, besonders die allerletzte Zeit im Zuchthause. Aber was soll ich von Einzelheiten reden? Ich erinnere mich nur, daß mir in diesem letzten Jahre trotz meiner ganzen Ungeduld, meine Frist möglichst schnell zu absolvieren, das Leben viel leichter fiel als in allen vorhergehenden Jahren meiner Verbannung. Erstens hatte ich schon unter den Arrestanten viele Bekannte und Freunde, die endgültig eingesehen hatten, daß ich ein guter Mensch sei. Viele von ihnen waren mir ergeben und hingen an mir mit aufrichtiger Liebe. Der »Pionier« weinte beinahe, als er mich und meinen Genossen aus dem Zuchthause hinausbegleitete, und als wir später, nach dem Austritt aus dem Zuchthause noch einen ganzen Monat in dieser Stadt in einem ärarischen Gebäude lebten, kam er fast jeden Tag zu uns, nur um uns zu sehen. Es gab aber auch einige Menschen, die bis ans Ende mürrisch und unfreundlich blieben, denen es wohl schwer fiel, mit mir ein Wort zu sprechen, – Gott weiß warum. Es war, als ob zwischen uns eine Mauer stünde.
In der letzten Zeit genoß ich überhaupt mehr Vergünstigungen als während meines ganzen vorhergehenden Zuchthauslebens. Unter den in dieser Stadt dienenden Militärs fanden sich Bekannte von mir, sogar alte Schulkameraden. Ich nahm meine Beziehungen zu ihnen wieder auf. Durch ihre Vermittlung konnte ich mir mehr Geld verschaffen, nach der Heimat schreiben und sogar Bücher bekommen. Ich hatte schon seit mehreren Jahren kein einziges Buch mehr gelesen, und ich kann nur schwer den seltsamen und aufregenden Eindruck wiedergeben, den auf mich das erste Buch machte, das ich im Zuchthause las. Ich erinnere mich, daß ich am Abend, als die Kaserne geschlossen wurde, mit dem Lesen begann und die ganze Nacht bis zum Tagesanbruch las. Es war das Heft irgendeiner Zeitschrift. Mir war es, als hätte mich eine Nachricht aus einer anderen Welt erreicht; mein ganzes früheres Leben erstand grell und leuchtend vor meinen Augen, und ich bemühte mich mit Hilfe dessen, was ich las, zu erraten, wie weit ich hinter jenem Leben zurückgeblieben war. Ob sie dort ohne mich viel erlebt hätten, was sie jetzt aufrege, was für Fragen sie beschäftigten? Ich klammerte mich an jedes Wort, ich las zwischen den Zeilen, bemüht, einen geheimnisvollen Sinn, Andeutungen über das Frühere herauszulesen; ich suchte Spuren dessen, was früher, zu meiner Zeit, die Menschen erregt hatte, und es war mir nun in der Tat furchtbar traurig, zu erkennen, wie fremd ich diesem neuen Leben gegenüberstand: ich war zu einem vom Brotlaibe abgeschnittenen Stück geworden. Nun mußte ich mich an das Neue gewöhnen, Bekanntschaft mit der neuen Generation machen. Mit besonderer Spannung las ich den Artikel, unter dem ich die Unterschrift eines mir einst bekannten und nahen Menschen fand... Aber es tönten auch schon neue Namen: es waren neue Menschen aufgetreten, und ich beeilte mich voller Ungeduld, sie kennen zu lernen, und ärgerte mich, daß ich mir so wenig Bücher verschaffen konnte. Vorher, unter dem früheren Platzmajor war es sogar gefährlich gewesen, Bücher ins Zuchthaus zu bringen. Im Falle einer Durchsuchung wurde man totsicher gefragt: »Woher sind diese Bücher? Wo hast du sie her? Du unterhältst also Beziehungen mit der Außenwelt?...« Was hätte ich aber auf solche Fragen antworten können? Darum vertiefte ich mich, ohne die Bücher lebend, unwillkürlich in mich selbst, stellte mir Fragen, bemühte mich, sie zu lösen, und quälte mich zuweilen mit ihnen... Aber alles läßt sich doch nicht so einfach wiedergeben!...
Ich war ins Zuchthaus im Winter eingetreten und mußte daher auch im Winter in die Freiheit kommen, an demselben Datum, an dem ich eingetreten war. Mit welcher Ungeduld wartete ich auf den Winter, mit welchem Genuß sah ich am Ende des Sommers, wie das Laub an den Bäumen welkte und das Gras in der Steppe verblich. Da war auch schon der Sommer vorbei, die Herbstwinde heulten; da wirbelte auch schon der erste Schnee... Endlich war dieser längst erwartete Winter angebrochen! Mein Herz klopfte nun zuweilen dumpf und heftig im großen Vorgefühl der Freiheit. Aber seltsam: je mehr Zeit verstrich und je näher die Frist herankam, um so geduldiger wurde ich. In den allerletzten Tagen wunderte ich mich sogar darüber und machte mir Vorwürfe: es kam mir vor, als ob ich völlig kaltblütig und gleichgültig geworden wäre. Viele Arrestanten, die mir in der arbeitsfreien Zeit im Hofe begegneten, sprachen mich an und gratulierten mir:
»Nun kommen Sie bald in die Freiheit, Väterchen, Alexander Petrowitsch, bald, bald! Und uns lassen Sie hier allein.«
»Haben Sie denn noch lange zu sitzen, Martynow?« fragte ich.
»Ich, was soll ich von mir reden! Noch an die sieben Jahre werde ich mich hier quälen...«
Er seufzte, blieb stehen und blickte zerstreut vor sich hin, als versuchte er, in die Zukunft einzudringen... Ja, viele beglückwünschten mich aufrichtig und freudig. Es kam mir vor, als hätten alle angefangen, mich freundlicher zu behandeln. Sie sahen mich offenbar schon als einen Fremden an und nahmen von mir Abschied. K–cinski, ein polnischer Adliger, ein stiller und sanfter junger Mann, pflegte genau wie ich in der arbeitsfreien Zeit viel auf dem Hofe umherzugehen. Er wollte sich durch die reine Luft und die Bewegung seine Gesundheit erhalten und die schädliche Wirkung der stickigen Nächte in der Kaserne wettmachen.
»Ich warte ungeduldig auf Ihren Austritt,« sagte er mir mit einem Lächeln, als er mir einmal beim Spazierengehen begegnete. »Wenn Sie herauskommen, ;werde ich schon wissen, daß ich noch genau ein Jahr zu warten habe.«
Ich möchte hier nebenbei bemerken, daß die Freiheit, infolge der ewigen Träumereien und der langen Entwöhnung, uns im Zuchthause irgendwie freier erschien als die echte Freiheit, d.h. als diejenige, die es in Wirklichkeit gab. Die Arrestanten übertrieben den Begriff der wirklichen Freiheit, und das ist bei jedem Arrestanten so natürlich und begreiflich. Irgendein abgerissener Offiziersbursche wurde bei uns beinahe als ein König, als das Ideal eines freien Menschen im Vergleich mit den Arrestanten angesehen, weil er mit unrasiertem Kopf, ohne Fesseln und ohne Bewachung umherging.
Am Vorabend des letzten Tages ging ich in der Dämmerung zum ;letztenmal längs der Palisaden um unser ganzes Zuchthaus herum. Wie viel tausend Mal hatte ich in diesen Jahren die Runde längs des Zaunes gemacht! Hier hinter den Kasernen hatte ich mich im ersten Jahre meines Zuchthauslebens verwaist und niedergeschlagen herumgetrieben. Ich erinnere mich noch, wie ich damals zählte, wie viel tausend Tage mir noch blieben. Mein Gott, wie lange war das her! Hier in dieser Ecke hatte unser Adler in der Gefangenschaft gelebt; hier pflegte mich oft Petrow zu treffen. Er ließ auch jetzt nicht von mir ab. Er kam oft, als erriete er meine Gedanken, zu mir gelaufen, ging schweigend neben mir her und schien sich über etwas zu wundern. In Gedanken verabschiedete ich mich von diesen schwarzgewordenen Balkenwänden unserer Kasernen. Wie unfreundlich waren sie mir ;damals, in der ersten Zeit vorgekommen. Nun waren sie wohl noch viel älter geworden; aber ich konnte es nicht merken. Wieviel Jugend war hier in diesen Wänden nutzlos begraben, wieviel große Kräfte gingen hier zwecklos zugrunde! Ich muß doch die Wahrheit sagen: diese Leute waren keine gewöhnlichen Leute. Es waren vielleicht die begabtesten und kräftigsten Vertreter unseres ganzen Volkes. Aber die mäch *** [*** Druckfarbe fehlt auf der Buchseite. Anm. d. Buchverlages]
*** hier unnormal, widernatürlich, ... Und wer hat die Schuld?
*** Schuld?
*** gleich bei Tagesanbruch, machte ich, noch... Arbeit abmarschiert war, eine Runde durch alle *** mich von allen Arrestanten zu verabschieden. *** kräftige Hände streckten sich mir freundlich entgegen. *** mir die Hand ausgesprochen kameradschaftlich, *** waren nur wenige. Die anderen sahen allzu gut ein, daß ich nun ein ganz anderer Mensch werden würde als sie. Sie wußten, daß ich in der Stadt Bekannte hatte, daß ich mich aus dem Zuchthause zu den Herrschaften begeben und neben ihnen als gleicher sitzen würde. Sie begriffen es und verabschiedeten sich von mir zwar höflich und freundlich, aber doch nicht wie von einem Kameraden, sondern wie von einem Herrn. Andere wandten sich sogar mürrisch weg und reagierten überhaupt nicht auf meine Abschiedsworte. Einige sahen mich sogar mit einem eigentümlichen Haß an.
Die Trommel schlug, alle begaben sich zur Arbeit, aber ich blieb daheim. Ssuschilow war an diesem Morgen früher als alle aufgestanden und tat sehr geschäftig, um mir Tee zu kochen. Der arme Ssuschilow! Er weinte, als ich ihm meine abgetragenen Arrestantenkleider, Hemden, Unterfesseln und etwas Geld schenkte. »Ich brauche nicht das, nicht das!« sprach er, mit Mühe das Zittern seiner Lippen bemeisternd. »Aber wie ist es mir, Sie zu verlieren, Alexander Petrowitsch? Wer bleibt mir dann hier noch?« Zuletzt nahm ich auch von Akim Akimytsch Abschied.
»Nun haben Sie auch nicht mehr lange zu warten!« sagte ich ihm.
»Ich bleibe noch lange, sehr lange hier,« murmelte er, mir die Hand drückend. Ich fiel ihm um den Hals, und wir küßten uns.
Etwa zehn Minuten nach dem Abmarsche der Arrestanten verließen auch wir das Zuchthaus, um nie mehr dahin zurückzukehren, – ich und mein Genosse, mit dem ich einst angekommen war. Wir mußten nun nach der Schmiede gehen, um uns unsere Fesseln abnehmen zu lassen. Uns begleitete aber kein Wachsoldat mit geladenem Gewehr mehr: wir gingen mit dem Unteroffizier. Die Fesseln wurden uns von unseren eigenen Arrestanten in der Ingenieurwerkstätte abgenommen. Ich wartete, bis sie meinen Genossen von ihnen befreit hatten, und trat erst dann an den Amboß. Die Schmiede stellten mich mit dem Rücken zu sich auf, hoben von hinten meinen Fuß und legten ihn auf den Amboß... Sie taten sehr geschäftig und wollten es möglichst geschickt und gut machen.
»Die Niete, dreh zuerst die Niete herum!...« kommandierte der Älteste. »Stelle sie so hin, ja, so... Jetzt schlag mit dem Hammer los...«
Die Fesseln fielen. Ich hob sie auf... Ich wollte sie in der Hand halten, sie zum letztenmal sehen. Ich wunderte mich fast, daß sie eben erst an meinen Beinen gewesen waren.
»Nun, mit Gott! Mit Gott!« sprachen die Arrestanten mit rauhen, abgerissenen Stimmen, in denen aber doch etwas wie Zufriedenheit klang.
Ja, mit Gott! Freiheit, neues Leben, Auferstehung von den Toten... Welch ein herrlicher Augenblick!