Ivan Sergejevich Turgenev
Aufzeichnungen eines Jägers

Erster Band

Chorj und Kalinytsch


Wer einmal Gelegenheit hatte, aus dem Bolchowschen Kreise in den Shisdrinschen zu kommen, dem ist wohl sicher der scharfe Unterschied zwischen dem Menschenschlag im Orjolschen Gouvernement und dem Kalugaschen aufgefallen. Der Orjolsche Bauer ist klein von Wuchs, untersetzt, mürrisch, blickt unfreundlich, lebt in elenden Hütten aus Espenholz, tut den Frondienst, treibt keinen Handel, nährt sich schlecht und trägt Bastschuhe; der Kalugasche Zinsbauer wohnt in geräumigen Häusern aus Fichtenbalken, ist groß gewachsen, blickt verwegen und lustig, hat eine reine und weiße Gesichtsfarbe, handelt mit Öl und Teer und trägt an Feiertagen Stiefel. Das Orjolsche Dorf (wir meinen den östlichen Teil des Orjolschen Gouvernements) liegt gewöhnlich mitten im Ackerland, in der Nähe einer Vertiefung, die man mit den dürftigsten Mitteln in einen schmutzigen Teich verwandelt hat. Außer einigen, stets dienstbereiten Bachweiden und zwei oder drei mageren Birken sieht man auf eine Werst weit keinen einzigen Baum; Hütte klebt an Hütte, die Dächer sind mit faulem Stroh gedeckt … Ein Dorf im Kalugaschen Gouvernement ist hingegen meistens von Wald umgeben; die Hütten stehen freier und gerader da und sind mit Schindeln gedeckt; die Tore schließen fest, die Zäune hinter dem Hofe sind nicht zerstört, fallen nicht nach außen um und laden nicht jedes vorbeigehende Schwein ein … Auch der Jäger hat es im Kalugaschen Gouvernement besser. Im Orjolschen Gouvernement werden die letzten Wälder und Plätze in vielleicht fünf Jahren verschwinden, von Sümpfen gibt es aber keine Spur. Im Kalugaschen Gouvernement dagegen ziehen sich die Gehege Hunderte und die Sümpfe Dutzende von Werst hin, und das edle Federwild, das Birkhuhn, ist hier noch nicht ausgerottet; es gibt auch noch gutmütige Doppelschnepfen, und das geschäftige Rebhuhn erfreut und erschreckt durch sein plötzliches Aufschwirren den Jäger und den Hund.

Als ich zur Jagd in den Shisdrinschen Kreis kam, lernte ich im Feld einen kleinen Kalugaschen Gutsbesitzer namens Polutykin kennen, einen leidenschaftlichen Jäger und folglich vortrefflichen Menschen. Er hatte allerdings einige Schwächen: Er freite zum Beispiel um alle reichen Bräute des Gouvernements; wenn ihm die Hand und das Haus versagt wurden, vertraute er sein Leid zerknirschten Herzens allen seinen Freunden und Bekannten, fuhr aber fort, den Eltern der Bräute saure Pfirsiche und andere unreife Produkte seines Gartens zum Geschenk zu schicken; er liebte es, immer wieder den gleichen Witz zu erzählen, der, wie hoch ihn Herr Polutykin auch schätzte, keinen Menschen zum Lachen brachte; er lobte die Werke Akim Nachimows und die Erzählung Pinna; er stotterte; er nannte seinen Hund Astronom; sagte statt ›aber‹ – ›allein‹ und hatte in seinem Hause die französische Küche eingeführt, deren Geheimnis nach Auffassung seines Koches darin bestand, daß man den natürlichen Geschmack einer jeden Speise auf das radikalste veränderte: Fleisch schmeckte bei diesem Künstler nach Fisch, Fische nach Pilzen, Makkaroni nach Schießpulver; dafür kam bei ihm keine einzige Mohrrübe in die Suppe, ohne vorher die Gestalt eines Rhombus oder eines Trapezes angenommen zu haben. Aber abgesehen von diesen wenigen und unerheblichen Mängeln war Herr Polutykin, wie schon gesagt, ein vortrefflicher Mensch.

Gleich am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit Herrn Polutykin lud er mich zum Übernachten ein.

»Bis zu mir sind es an die fünf Werst«, fügte er hinzu. »Zu Fuß ist es zu weit; wollen wir zuerst bei Chorj einkehren.« (Der Leser möge mir erlauben, sein Stottern nicht wiederzugeben.)

»Wer ist Chorj?«

»Einer meiner Bauern … Er wohnt ganz nahe von hier …«

Wir begaben uns zu ihm. Mitten im Walde erhob sich auf einer ausgerodeten und gepflügten Lichtung, das einsame Gehöft Chorjs. Es bestand aus einigen aus Fichtenbalken gezimmerten, durch Zäune verbundenen Gebäuden; vor dem Hauptgebäude zog sich ein von dünnen Säulchen gestütztes Schutzdach hin. Wir traten ein. Uns empfing ein junger, etwa zwanzigjähriger, hübscher Bursche.

»Ah, Fedja! Ist Chorj daheim?« fragte ihn Herr, Polutykin.

»Nein. Chorj ist in die Stadt gefahren«, antwortete der Bursche lächelnd und seine schneeweißen Zähne zeigend. »Befehlen ein Wägelchen anzuspannen?«

»Ja, Bruder, ein Wägelchen. Und bring uns Kwaß.«

Wir traten in die Stube. Kein einziges Susdalsches Bild klebte an den sauberen Balken der Wände; in der Ecke vor dem massiven Heiligenbild mit silbernem Beschlag brannte ein Lämpchen; der Tisch aus Lindenholz war frisch gescheuert und gewaschen; zwischen den Balken und an den Fensterrahmen trieben sich keine flinken Schaben herum und hingen keine nachdenklichen Kakerlaken. Der junge Bursche erschien bald mit einem großen, weißen, mit gutem Kwaß gefüllten Kruge, mit einer riesengroßen Scheibe Weizenbrot und einem Dutzend Salzgurken in einer hölzernen Schüssel. Er stellte alle diese Produkte auf den Tisch, lehnte sich an die Tür und begann uns lächelnd zu betrachten. Wir waren mit dem Imbiß noch nicht fertig, als vor der Tür schon das Wägelchen polterte. Wir gingen hinaus. Ein etwa fünfzehnjähriger, lockiger und rotbäckiger Junge saß als Kutscher da und hatte Mühe, den satten, scheckigen Hengst zu halten. Um den Wagen herum standen an die sechs junge Riesen, die miteinander und mit Fedja große Ähnlichkeit hatten. »Lauter Kinder Chorjs!« bemerkte Polutykiri.

»Lauter Iltisjungen!« fiel ihm Fedja ins Wort, der uns vors Haus gefolgt war. »Aber es sind noch nicht alle: Potap ist im Wald, und Sidor ist mit dem alten Chorj in die Stadt gefahren … Paß auf, Waßja«, fuhr er fort, sich an den Kutscher wendend. »Fahr schnell, du fährst doch den Herrn. Aber wo der Weg schlecht ist, sollst du langsamer fahren, sonst machst du den Wagen kaputt und bringst auch die Eingeweide des Herrn in Unruhe!«

Die übrigen Iltisjungen lächelten über diesen Witz Fedjas.

»Man setze den Astronomen herein!« rief Herr Polutykin feierlich aus.

Fedja hob nicht ohne Vergnügen den gezwungen lächelnden Hund in die Höhe und setzte ihn auf den Boden des Wagens nieder. Waßja ließ die Zügel locker. Wir rollten davon.

»Das da ist mein Kontor«, sagte mir plötzlich Herr Polutykin, auf ein kleines, niedriges Häuschen weisend, »wollen Sie hineinschauen?«

»Gerne.«

»Es ist jetzt aufgehoben«, bemerkte er, aus dem Wagen steigend, »aber es lohnt sich doch hineinzublicken.«

Das Kontor bestand aus zwei leeren Zimmern. Der Wächter, ein einäugiger Alter, kam vom Hinterhof herbeigelaufen.

»Grüß Gott, Minjajitsch«, versetzte Herr Polutykin. »Wo ist denn das Wasser?«

Der einäugige Alte verschwand und kam sofort mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern wieder.

»Versuchen Sie doch«, sagte mir Polutykin, »ich habe hier ein ausgezeichnetes Quellwasser.«

Wir tranken je ein Glas, während der Alte sich vor uns tief verbeugte.

»Nun, jetzt können wir, glaube ich, fahren«, versetzte mein neuer Freund. »In diesem Kontor habe ich dem Kaufmann Allilyjew vier Deßjatinen Wald um einen guten Preis verkauft.«

Wir setzten uns in den Wagen und fuhren schon nach einer halben Stunde in den Hof des Herrenhauses ein.

»Sagen Sie mir bitte«, fragte ich Polutykin beim Abendessen, »warum wohnt Ihr Chorj getrennt von den anderen Bauern?«

»Sehen Sie, er ist ein gescheiter Kerl. Vor fünfundzwanzig Jahren ist ihm sein Haus abgebrannt; da kam er zu meinem seligen Vater und sagte: ›Erlauben Sie mir, Nikolai Kusmitsch, mich in Ihrem Wald auf dem Sumpfgrund anzusiedeln. Ich werde Ihnen einen guten Zins zahlen!‹ – ›Warum willst du dich denn auf dem Sumpfgrund ansiedeln?‹ – ›Ich möchte es halt; aber bitte, Väterchen Nikolai Kusmitsch, verwenden Sie mich zu keiner anderen Arbeit mehr, legen Sie mir nur einen Zins auf, so hoch Sie wollen.‹ – ›Fünfzig Rubel im Jahr!‹ – ›Gut.‹ – ›Aber daß du pünktlich zahlst, paß auf!‹ – ›Natürlich pünktlich …‹ – So siedelte er sich auf dem Sumpfboden an. Seitdem nennt man ihn Chorj.«

»Und da wurde er reich?« fragte ich.

»Ja, er wurde reich. Jetzt zahlt er mir ganze hundert Rubel Zins, und ich werde ihn vielleicht noch steigern. Ich habe ihm schon mehr als einmal gesagt: ›Chorj, kaufe dich los …!‹ Aber der Gauner behauptet, er hätte kein Geld … Ja, wer's glaubt …!«

Am nächsten Tag begaben wir uns gleich nach dem Morgentee wieder auf die Jagd. Als wir durchs Dorf fuhren, ließ Herr Polutykin seinen Kutscher vor einem niederen Hause halten und rief laut: »Kalinytsch, Kalinytsch!«

»Sofort, Väterchen, sofort«, erklang es vom Hof her; »ich binde mir nur den Bastschuh fest.«

Wir fuhren im Schritt weiter; hinter dem Dorf holte uns ein etwa vierzigjähriger, großgewachsener, hagerer Mann mit einem kleinen, in den Nacken geworfenen Kopf ein. Es war Kalinytsch. Sein gutmütiges, bräunliches, hier und da pockennarbiges Gesicht gefiel mir auf den ersten Blick. Kalinytsch ging (wie ich später erfuhr) jeden Tag mit seinem Herrn auf die Jagd, trug ihm die Tasche, manchmal auch das Gewehr, paßte auf, wo sich das Wild niedersetzte, brachte Wasser, sammelte Erdbeeren, baute Jagdhütten und lief den Jagdwagen holen; ohne ihn tat Herr Polutykin keinen Schritt. Kalinytsch war ein Mann vom heitersten und sanftesten Charakter, summte stets mit halber Stimme vor sich hin, blickte sorglos nach allen Seiten, sprach etwas durch die Nase, kniff beim Lächeln seine hellblauen Augen zusammen und packte oft mit der Hand seinen dünnen, keilförmigen Bart. Er ging nicht schnell, aber mit großen Schritten, und stützte sich dabei auf einen langen, dünnen Stecken. Im Laufe des ganzen Tages sprach er mich kein einziges Mal an, bediente mich ohne Unterwürfigkeit, gab aber auf seinen Herrn acht wie auf ein kleines Kind. Als die unerträgliche Mittagsglut uns zwang, Schutz zu suchen, führte er uns in seinen Bienengarten tief im Waldesdickicht. Kalinytsch sperrte uns die kleine Hütte auf, in der überall Bündel trockener, wohlriechender Gräser hingen, bettete uns in das frische Heu, zog sich eine Art Sack mit einem Netz vorne über den Kopf, nahm ein Messer, einen Topf und eine glimmende Kohle und begab sich in seinen Bienengarten, um uns eine Honigwabe zu schneiden. Wir tranken zu dem durchsichtigen, warmen Honig Quellwasser und schliefen beim eintönigen Summen der Bienen und dem geschwätzigen Rauschen der Blätter ein.

Ein leichter Windstoß weckte mich … Ich schlug die Augen auf und erblickte Kalinytsch; er saß auf der Schwelle der halbgeöffneten Tür und schnitzte sich mit dem Messer einen Holzlöffel. Ich bewunderte lange sein Gesicht, das so mild und heiter war wie der Abendhimmel. Auch Herr Polutykin erwachte. Wir standen nicht sogleich auf. Es war so angenehm, nach dem langen Marsch und dem tiefen Schlaf unbeweglich im Heu zu liegen: Der Körper ist so wonnig ermattet, das Gesicht atmet eine leichte Hitze, und eine süße Trägheit schließt die Augen. Endlich standen wir auf und trieben uns wieder bis zum Abendessen umher. Beim Abendessen brachte ich wieder die Rede auf Chorj und Kalinytsch.

»Kalinytsch ist ein guter Bauer«, sagte mir Herr Polutykin, »ein eifriger und dienstfertiger Mann; aber er kann seine Wirtschaft nicht in Ordnung halten, ich reiße ihn immer heraus. Jeden Tag geht er mit mir auf die Jagd … Wie soll er da seine Wirtschaft versehen können, urteilen Sie doch selbst.«

Ich stimmte ihm zu, und wir legten uns schlafen.

Am anderen Tag mußte Herr Polutykin wegen eines Prozesses mit seinem Nachbar Pitschukow in die Stadt. Der Nachbar Pitschukow hatte ihm ein Stück Land weggepflügt und auf dieser Stelle auch noch eines von Polutykins Bauernweibern mit Ruten züchtigen lassen. So begab ich mich allein auf die Jagd und kehrte gegen Abend bei Chorj ein. An der Schwelle des Hauses empfing mich ein kahlköpfiger, kleingewachsener, breitschultriger und stämmiger Alter – es war Chorj selbst. Ich sah diesen Chorj mit Neugierde an. Seine Gesichtszüge erinnerten an Sokrates: die gleiche hohe Stirne voller Beulen, die gleichen kleinen Äuglein und die gleiche Stumpfnase. Wir traten zusammen in die Stube. Der gleiche Fedja brachte mir Milch und Schwarzbrot. Chorj setzte sich auf die Bank, strich sich seinen krausen Bart und begann ein Gespräch mit mir. Er schien sich seiner Würde bewußt zu sein, sprach und bewegte sich langsam und lächelte manchmal unter seinem langen Schnurrbart hervor.

Wir sprachen über die Aussaat, über die Ernte, über das ganze Bauernleben. Er tat so, als ob er mir zustimmte, aber, ich fühlte mich nachher irgendwie geniert, und ich merkte, daß ich nicht das Richtige sprach … Es kam so sonderbar heraus. Chorj drückte sich zuweilen, wohl aus Vorsicht, schwer verständlich aus … Hier ist eine Probe unseres Gesprächs:

»Hör mal, Chorj«, sagte ich ihm, »warum kaufst du dich nicht von deinem Herrn frei?«

»Warum soll ich mich freikaufen? Jetzt kenne ich meinen Herrn und weiß, was ich ihm zu zahlen habe … Wir haben einen guten Herrn.«

»Aber die Freiheit ist doch besser«, bemerkte ich. Chorj sah mich von der Seite an.

»Gewiß«, versetzte er.

»Warum kaufst du dich dann nicht frei?«

Chorj schüttelte den Kopf.

»Womit soll ich mich freikaufen, Väterchen?«

»Tu doch nicht so, Alter …«

»Kommt Chorj unter die freien Leute«, fuhr er halblaut, wie vor sich hin, fort, »so ist jeder, der keinen Bart trägt, ein Herr über Chorj.«

»Nimm dir doch auch den Bart ab.«

»Was ist der Bart? Der Bart ist Gras, man kann ihn abmähen.«

»Also was denn?«

»Chorj wird wohl gleich unter die Kaufleute kommen; die Kaufleute haben ja ein gutes Leben, auch tragen sie Bärte.«

»Sag, du treibst doch auch Handel?« fragte ich ihn.

»Wir handeln wohl ein wenig mit Öl und auch mit Teer … Nun, Väterchen, soll ich dir das Wägelchen anspannen?«

Du verstehst deine Zunge im Zaume zu halten und bist wohl gar nicht so dumm, dachte ich mir.

»Nein«, sagte ich laut, »ich brauche kein Wägelchen; ich will morgen hier in der Nähe jagen und bleibe, wenn du erlaubst, in deinem Heuschuppen über Nacht.«

»Bitte sehr. Wirst du es aber im Schuppen bequem haben? Ich will den Weibern sagen, daß sie dir ein Laken und ein Kissen hinlegen. – He, Weiber!« rief er aufstehend. »Weiber, hierher …! Und du, Fedja, geh mit ihnen mit: Die Weiber sind doch ein dummes Volk.«

Eine Viertelstunde später geleitete mich Fedja mit einer Laterne zum Schuppen. Ich warf mich auf das duftende Heu; der Hund rollte sich zu meinen Füßen zusammen; Fedja wünschte mir gute Nacht, die Tür knarrte und fiel ins Schloß. Ich konnte recht lange nicht einschlafen. Eine Kuh trat vor die Tür und schnarchte zweimal laut; mein Hund knurrte sie mit Würde an; ein Schwein ging, nachdenklich grunzend, vorbei; irgendwo in der Nähe fing ein Pferd an, Heu zu kauen und zu schnauben … endlich schlummerte ich ein.

Fedja weckte mich beim Sonnenaufgang. Dieser lustige, aufgeweckte Bursche gefiel mir sehr gut; soviel ich merken konnte, war er auch ein Liebling des alten Chorj. Sie neckten sich beide in der freundschaftlichsten Weise. Der Alte kam mir entgegen. Kam es daher, weil ich die Nacht unter seinem Dach verbracht hatte, oder aus einem anderen Grund, jedenfalls behandelte er mich diesmal viel freundlicher als am Abend vorher.

»Der Samowar ist für dich bereit«, sagte er mir mit einem Lächeln. »Komm Tee trinken.«

Wir setzten uns an den Tisch. Ein kräftiges Frauenzimmer, eine seiner Schwiegertöchter, brachte einen Topf Milch. Seine Söhne kamen einer nach dem andern in die Stube.

»Was hast du für riesengroße Kerle!« bemerkte ich dem Alten.

»Ja«, versetzte er, indem er ein winziges Stück Zucker abbiß. »Über mich und meine Alte haben sie sich wohl nicht zu beklagen.«

»Und leben alle bei dir?«

»Alle. Sie wollen es selbst so.«

»Sind alle verheiratet?«

»Nur ein Schlingel will nicht heiraten«, antwortete er, auf Fedja zeigend, der wie früher an der Tür lehnte. »Waßja ist jung, der kann noch warten.«

»Warum soll ich heiraten?« entgegnete Fedja. »Ich hab's auch so. gut. Was brauche ich ein Weib? Vielleicht um mich mit ihr herumzuzanken?«

»Ach, du …! Ich kenne dich schon! Silberne Ringe trägst du … Hast nur die Hausmädchen im Sinn … ›Hören Sie auf, Sie Unverschämter!«« fuhr der Alte fort, ein Stubenmädchen nachäffend. »Ich kenne dich schon, du Müßiggänger!«

»Was taugt denn ein Weib?«

»Das Weib ist eine Arbeiterin«, versetzte Chorj mit Würde. »Das Weib ist des Mannes Dienerin.«

»Was brauche ich aber eine Dienerin?«

»Das ist es eben, du liebst mit fremden Händen die Glut zusammenzuscharren. Wir kennen euch.«

»Nun, so verheirate mich. Wie? Was? Was schweigst du jetzt?«

»Hör auf, Spaßvogel. Du siehst doch, wir langweilen den Herrn. Ich werde dich schon verheiraten … Nimm's nicht übel, Väterchen, du siehst doch, er ist noch ein dummes Kind, hat noch nicht Zeit gehabt, zu Verstand zu kommen.« Fedja schüttelte den Kopf …

»Ist Chorj daheim?« erklang hinter der Tür eine mir bekannte Stimme, und in die Stube trat Kalinytsch mit einem Büschel Walderdbeeren in der Hand, die er für seinen Freund gepflückt hatte. Der Alte begrüßte ihn herzlich. Ich sah Kalinytsch erstaunt an: Offen gestanden, ich hätte von einem Bauern eine solche zarte Aufmerksamkeit nicht erwartet.

An diesem Tag ging ich vier Stunden später als gewöhnlich auf die Jagd und verbrachte die folgenden drei Tage bei Chorj. Meine neuen Bekannten interessierten mich. Ich weiß nicht, wodurch ich ihr Vertrauen gewonnen hatte, aber sie sprachen mit mir ganz ungezwungen. Es machte mir Vergnügen, ihnen zuzuhören und sie zu beobachten. Die beiden Freunde sahen einander gar nicht ähnlich. Chorj war ein positiver Mensch, ein praktischer, administrativer Kopf und ein Rationalist; Kalinytsch dagegen gehörte zu den Idealisten, Romantikern, begeisterten und träumerischen Naturen. Chorj hatte Verständnis für die Wirklichkeit, das heißt, er hatte sich ein Haus gebaut und etwas Geld gespart und kam mit dem Herrn und den anderen Obrigkeiten gut aus; Kalinytsch trug Bastschuhe und schlug sich mit knapper Not durch. Chorj hatte eine große Familie, die einträchtig lebte und ihm gehorsam war; Kalinytsch hatte einmal eine Frau gehabt, die er fürchtete, Kinder hatte er aber keine. Chorj durchschaute den Herrn Polutykin; Kalinytsch vergötterte seinen Herrn. Chorj liebte Kalinytsch und protegierte ihn; Kalinytsch liebte und verehrte Chorj. Chorj sprach wenig, lächelte spöttisch und wußte, was er wollte; Kalinytsch sprach immer mit großem Feuer, obwohl er auch nicht verstand, gleich manchem durchtriebenem Fabrikarbeiter, ›wie eine Nachtigall zu singen …‹ Aber Kalinytsch hatte Vorzüge, die sogar Chorj anerkannte; er verstand zum Beispiel das Blut, den Schreck und die Tollwut, zu besprechen und die Würmer abzutreiben; die Bienen gediehen bei ihm gut, er hatte, was man so nennt, eine leichte Hand. Chorj bat ihn in meiner Gegenwart, er möchte sein neugekauftes Pferd zuerst in den Stall führen, und Kalinytsch erfüllte die Bitte des alten Skeptikers mit gewissenhafter Würde. Kalinytsch stand der Natur näher, Chorj dagegen den Menschen und der Gesellschaft; Kalinytsch liebte nicht zu räsonieren und glaubte alles blind; Chorj erhob sich sogar zu einer ironischen Lebensauffassung. Er hatte viel gesehen, wußte viel, und ich lernte von ihm eine Menge Dinge. So erfuhr ich zum Beispiel, daß jeden Sommer vor der Ernte in den Dörfern ein kleines Wägelchen von besonderem Aussehen erscheint. In diesem Wägelchen sitzt ein Mann im Kaftan und verkauft Sensen. Bei Barzahlung kostet die Sense von einundeinviertel bis einundeinhalb Rubel in Assignaten, auf Kredit aber drei Papier- und einen Silberrubel. Alle Bauern nehmen die Sensen natürlich auf Kredit. Nach zwei oder drei Wochen kommt er wieder und verlangt sein Geld. Der Bauer hat seinen Hafer eben gemäht und ist also bei Geld; er geht mit dem Händler in die Schenke und rechnet dort mit ihm ab. Einige Gutsbesitzer kamen auf den Gedanken, die Sensen selbst für bares Geld zu kaufen und an die Bauern zum Selbstkostenpreis auf Kredit abzugeben; die Bauern waren aber damit unzufrieden und grämten sich sogar: Man nahm ihnen das Vergnügen, die Sense mit den Fingern zu beklopfen, zu hören, wie sie klingt, sie in den Händen hin und her zu wenden und an die zwanzigmal den schlauen Händler zu fragen: »Was meinst du, Bursch, ist die Sense auch nicht zu … du weißt wohl, was ich meine?« Dasselbe wiederholt sich auch beim Ankauf von Sicheln, bloß mit dem Unterschied, daß sich hier auch die Weiber hineinmischen und den Händler oft sogar in die Notwendigkeit versetzen, sie zu ihrem eigenen Nutzen zu prügeln. Am meisten haben aber die Weiber bei folgender Gelegenheit zu leiden. Die Lieferanten des Materials für die Papierfabriken beauftragen mit dem Ankauf der Hadern eigene Personen, die man in manchen Landkreisen ›Adler‹ nennt. So ein ›Adler‹ bekommt vom Geschäftsmann etwa zweihundert Rubel in Assignaten und zieht damit auf Beute aus. Aber im Gegensatz zu dem edlen Vogel, von dem er seinen Namen hat, überfällt er seine Opfer nicht offen und kühn; im Gegenteil: der › Adler ‹ wendet List und Schlauheit an. Er läßt sein Wägelchen irgendwo im Gesträuch hinter dem Dorf stehen und begibt sich zu Fuß hintenherum ins Dorf wie ein zufälliger Wanderer oder ein müßiger Spaziergänger. Die Weiber wittern sein Nahen und schleichen ihm entgegen. Das Geschäft wird in der größten Eile abgeschlossen. So ein Bauernweib gibt dem ›Adler‹ für einige Kupfermünzen nicht nur alle ihre unnützen Lumpen her, sondern oft sogar das Hemd des Mannes und den eigenen Rock. In der letzten Zeit haben es die Weiber vorteilhaft gefunden, sich selbst den Hanf zu stehlen und auf diese Weise zu‹ verkaufen, besonders den Sommerhanf – das ist eine wichtige Erweiterung und Vervollkommnung der › Adler‹-lndustrie! Dafür sind nun auch die Bauern ihrerseits schon gewitzigt und greifen beim leisesten Verdacht oder beim bloßen Gerücht, daß ein ›Adler‹ in der Nähe sei, zu Korrektions- und Vorbeugungsmaßregeln. Und in der Tat, das ist doch kränkend! Der Hanfverkauf ist ihre Sache, und sie verkaufen ihn wirklich, doch nicht denen in der Stadt – in die Stadt müßten sie sich doch selbst schleppen –, sondern durchfahrenden Aufkäufern, welche in Ermangelung einer Waage das Pud zu vierzig Handvoll rechnen – aber man weiß doch, was für eine Handfläche der Russe hat und was bei ihm ›eine Handvoll‹ bedeutet, besonders wenn er sich Mühe gibt!

Ich, der ich unerfahren war und nur wenig auf dem Lande gelebt hatte, bekam viele solche Erzählungen zu hören. Chorj erzählte aber nicht nur, sondern fragte auch mich über vieles aus. Als er erfuhr, daß ich im Ausland gewesen war, entbrannte seine Neugierde … Kalinytsch blieb hinter ihm nicht zurück; aber ihn rührten mehr Beschreibungen der Natur, der Berge und Wasserfälle, der ungewöhnlichen Gebäude und der großen Städte; Chorj interessierte sich mehr für administrative und politische Fragen. Er nahm alles der Reihe nach durch: »Haben die es dort wie wir oder anders…? Sag doch, Väterchen, wie ist es nun…?«

»Ach, Herr,, dein Wille geschehe!« rief Kalinytsch während meiner Erzählungen.

Chorj schwieg, zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und ließ nur ab und zu die Bemerkung fallen: »Das würde bei uns nicht gehen, das aber ist gut, das ist Ordnung.«

Alle seine Fragen kann ich nicht wiedergeben, und es hat auch keinen Zweck; aber aus unseren Gesprächen gewann ich eine Überzeugung, die meine Leser wohl nicht erwarten – die Überzeugung, daß Peter der Große im Grunde genommen ein echter Russe gewesen ist, Russe gerade in seinem Reformwerk. Der Russe ist so sehr von seiner eigenen Kraft und Stärke überzeugt, daß er bei Gelegenheit nicht abgeneigt ist, sich selbst Gewalt anzutun: Er interessiert sich wenig für seine Vergangenheit und blickt kühn in die Zukunft. Was gut ist, das gefällt ihm, was vernünftig ist, das will er haben, woher es aber kommt, ist ihm vollkommen gleich. Sein gesunder Menschenverstand macht sich gern über die trockene Vernunft des Deutschen lustig; aber die Deutschen sind, nach den Worten Chorjs, ein interessantes Völkchen, bei dem er sogar manches lernen möchte. Infolge seiner besonderen Stellung und seiner faktischen Unabhängigkeit sprach Chorj mit mir über vieles, was man aus einem anderen – wie sich die Bauern noch ausdrücken – mit keinem Hebel herausbringen oder mit keinem Mühlstein herausmahlen könnte. Er hatte für seine Stellung volles Verständnis. In meinen Gesprächen mit Chorj hörte ich zum erstenmal die einfache, kluge Rede des russischen Bauern. Seine Kenntnisse waren in ihrer Art sehr umfassend, aber lesen konnte er nicht; Kalinytsch konnte wohl lesen. »Dieser Gauner hat es gelernt«, bemerkte Chorj. »Ihm sind auch niemals Bienen eingegangen.«

»Hast du deinen Kindern das Lesen beibringen lassen?«

Chorj schwieg eine Weile. »Fedja kann es.«

»Und die anderen?«

»Die anderen nicht.«

»Warum?«

Der Alte antwortete nicht und brachte das Gespräch auf etwas anderes. Wie klug er übrigens war, hatte er doch viele Vorurteile und manchen Aberglauben. Die Weiber verachtete er zum Beispiel aus tiefster Seele und machte sich, wenn er gut aufgelegt war, über sie lustig. Seine Frau, eine zänkische Alte, lag den ganzen Tag auf dem Ofen und tat nichts als brummen und keifen; die Söhne schenkten ihr keine Beachtung, aber ihre Schwiegertöchter hielt sie in der Furcht des Herrn. Nicht umsonst singt im russischen Volkslied die Schwiegermutter: ›Was bist du mir für ein Sohn, was für ein Herr im Haus! Du schlägst nicht dein Weib, deine junge Frau …‹ Einmal versuchte ich für die Schwiegertöchter einzutreten und in Chorj Mitleid zu erwecken; aber er entgegnete mir ruhig: »Was brauchen Sie sich mit diesem … Unsinn abzugeben, sollen sich die Weiber nur herumschlagen … Wenn man sie auseinanderzubringen versucht, so wird es noch schlimmer, es lohnt auch nicht, sich die Hände zu beschmutzen.« Die böse Alte kroch manchmal vom Ofen herunter, rief den Hofhund aus dem Flur herein und bearbeitete seinen mageren Rücken mit der Ofengabel; oder sie stellte sich unter den Dachvorsprung und ›kläffte‹, wie sich Chorj ausdrückte, alle Vorbeigehenden an. Ihren Mann fürchtete sie jedoch und zog sich, wenn er es befahl, wieder auf den Ofen zurück. Besonders interessant war es, dem Streit zwischen Chorj und Kalinytsch zuzuhören, wenn die Rede auf Herrn Polutykin kam. – »Den sollst du mir nicht anrühren, Chorj«, sagte Kalinytsch.

»Warum läßt er dir aber keine Stiefel machen?« entgegnete jener.

»Ach, Stiefel …! Was brauche ich Stiefel? Ich bin ein Bauer …«

»Auch ich bin ein Bauer, aber sieh …«

Bei diesem Worte hob Chorj seinen Fuß und zeigte Kalinytsch einen Stiefel, der wohl aus Mammutshaut zugeschnitten war.

»Ach, du bist doch was ganz anderes!« antwortete Kalinytsch.

»Nun, er hätte dir wenigstens Geld für Bastschuhe geben können, du gehst doch mit ihm auf die Jagd und brauchst wohl jeden Tag ein neues Paar.«

»Er gibt mir Geld für Bastschuhe.«

»Gewiß, im vorigen Jahre hat er dir ein Zehnkopekenstück geschenkt.«

Kalinytsch wandte sich geärgert weg, und Chorj wälzte sich vor Lachen, wobei seine kleinen Äuglein ganz verschwanden.

Kalinytsch sang recht angenehm und spielte die Balalaika. Chorj hörte ihm lange zu, neigte dann den Kopf auf die Seite und fiel mit klagender Stimme in seinen Gesang ein. Besonders gern hatte er das Lied ›Du mein Schicksal, Schicksal!‹ Fedja ließ sich keine Gelegenheit entgehen, den Alten zu necken. »Was bist du so trübsinnig, Alter?«

Aber Chorj stützte die Wange in die Hand, schloß die Augen und fuhr fort, sein Schicksal zu beklagen … Dafür gab es zu anderen Zeiten keinen fleißigeren Menschen als ihn: Ewig machte er sich zu schaffen – entweder besserte er den Wagen aus oder stützte den Zaun oder sah das Pferdegeschirr nach. Auf besondere Reinlichkeit hielt er übrigens nichts und sagte mir einmal auf meine diesbezügliche Bemerkung, daß es in der Stube doch nach einer Menschenwohnung riechen müsse.

»Schau nur«, entgegnete ich ihm, »wie sauber es Kalinytsch in seinem Bienengarten hat.«

»Sonst würden die Bienen nicht leben, Väterchen«, sagte er mit einem Seufzer.

»Sag doch«, fragte er mich ein anderes Mal, »hast du auch dein eigenes Erbgut?«

»Ja.«

»Ist es weit von hier?«

»An die hundert Werst.«

»Nun, wohnst du auch auf deinem Erbgute, Väterchen?«

»Ja «

»Aber du ziehst wohl meistens mit dem Gewehr herum?«

»Die Wahrheit zu sagen, ja.«

»Du tust recht daran, Väterchen; schieß nur zur Gesundheit recht viele Birkhähne und wechsele recht oft den Dorfschulzen.«

Am Abend des vierten Tages schickte Herr Polutykin nach mir. Es tat mir leid, mich von dem Alten zu trennen. Ich setzte mich mit Kalinytsch in den Wagen. »Nun, leb wohl, Chorj, bleibe gesund«, sagte ich. »Leb auch du wohl, Fedja.«

»Leb wohl, Väterchen, leb wohl, vergiß uns nicht.«

Wir fuhren ab; das Abendrot begann eben zu glühen. – »Wir werden morgen schönes Wetter haben«, sagte ich, auf den heiteren Himmel blickend.

»Nein, es wird regnen«, entgegnete Kalinytsch. »Die Enten plätschern, und auch das Gras duftet so stark.«

Wir fuhren ins Gebüsch. Kalinytsch begann mit halber Stimme zu singen, indem er auf dem Bock auf und nieder hüpfte und in einem fort auf das Abendbrot schaute …

Am anderen Tag verließ ich das gastfreundliche Dach des Herrn Polutykin.


Jermolai und die Müllerin


Am Abend ging ich mit dem Jäger Jermolai auf den Schnepfenstrich … Meine Leser wissen vielleicht nicht, was der Schnepfenstrich ist. Hören Sie also.

Eine Viertelstunde vor Sonnenuntergang im Frühjahr gehen Sie mit dem Gewehr, doch ohne Hund in den Wald. Sie suchen sich am Waldsaum einen Platz aus, sehen sich um, untersuchen das Zündhütchen und wechseln Blicke mit Ihrem Begleiter. Die Viertelstunde ist vorüber. Die Sonne ist untergegangen, aber im Wald ist es noch hell; die Luft ist rein und durchsichtig; die Vögel zwitschern geschwätzig; das junge Gras glänzt lustig und smaragden … Sie warten. Im Wald wird es allmählich dunkler; das rote Licht der scheidenden Sonne gleitet langsam über die Wurzeln und Stämme der Bäume, steigt immer höher hinauf und geht von den unteren, fast noch nackten Zweigen zu den unbeweglichen, einschlafenden Wipfeln über … Nun sind auch die Wipfel selbst erloschen; der Himmel, der eben rötlich war, wird immer blauer. Der Wald duftet stärker, ein warmer feuchter Hauch kommt gezogen; der Wind erstirbt um Sie herum. Die Vögel schlafen ein, nicht alle zugleich, sondern je nach der Gattung: Da sind die Finken verstummt, einige Augenblicke später die Grasmücken, dann die Ammern. Im Wald wird es immer dunkler und dunkler. Die Bäume fließen zu großen schwarzen Massen zusammen; am blauen Himmel treten scheu die ersten Sternchen hervor. Alle Vögel schlafen. Die Rotschwänzchen und die kleinen Spechte allein zwitschern noch leise und verschlafen … Nun sind auch sie verstummt. Noch einmal erklingt über Ihnen die helle Stimme des Weidenzeisigs; irgendwo schreit kläglich eine Goldamsel; die Nachtigall läßt ihren ersten Triller erklingen. Ihr Herz ist vor Erwartung ganz matt, und plötzlich – doch nur ein Jäger wird mich verstehen – plötzlich ertönt in der tiefen Stille ein leises, eigentümliches Krächzen und Zischen, das gleichmäßige Schlagen schneller Flügel, und die Waldschnepfe fliegt, den langen Schnabel schön geneigt, hinter der dunklen Birke langsam Ihrem Schuß entgegen.

Das heißt ›auf dem Schnepfenstrich stehen‹.

Also begab ich mich mit Jermolai auf den Schnepfenstrich; aber entschuldigen Sie, ich muß Sie erst mit Jermolai bekannt machen.

Stellen Sie sich einen Mann von etwa fünfundvierzig Jahren vor, großgewachsen, hager, mit einer langen und dünnen Nase, einer schmalen Stirn, kleinen grauen Augen, zerzausten Haaren und dicken, spöttischen Lippen. Dieser Mann trug Winter und Sommer einen gelblichen Nankingrock von deutschem Schnitt, doch mit einem Gürtel; dazu eine blaue Pluderhose und eine Lammfellmütze, die ihm in einer guten Stunde ein ruinierter Gutsbesitzer geschenkt hatte. Am Gürtel waren zwei Säcke angebunden; der eine vorn, kunstvoll in zwei Hälften geknüpft, für Pulver und für Schrot, der andere hinten für Wild; die Baumwolle für die Pfropfen holte sich Jermolai aus seiner eigenen, anscheinend unerschöpflichen Mütze. Er könnte wohl für das Geld, das er aus dem Verkauf des Wildes löste, sich eine Patronentasche und eine Jagdtasche kaufen, aber diese Anschaffung war ihm überhaupt nie in den Sinn gekommen, und er fuhr fort, sein Gewehr wie bisher zu laden, wobei er die Zuschauer durch die Kunst in Erstaunen setzte, mit der er der Gefahr, das Pulver zu verschütten oder es mit Schrot zu vermischen, aus dem Wege ging. Sein Gewehr hatte nur einen Lauf und ein Feuersteinschloß und dazu noch die üble Eigenschaft, stark zurückzuprallen, aus welchem Grunde Jermolais rechte Wange immer voller war als die linke. Wie er mit diesem Gewehr treffen konnte, begriff auch der Klügste nicht, aber er traf doch. Er hatte auch noch eine Hühnerhündin namens Valetka, ein sehr merkwürdiges Geschöpf. Jermolai fütterte sie niemals. »Fällt mir gar nicht ein, einen Hund zu füttern«, sagte er. »Außerdem ist der Hund ein kluges Tier und kann selbst Nahrung finden.« Und so war es auch in der Tat: Valetka setzte zwar einen selbst gleichgültigen Vorübergehenden durch ihre ungewöhnliche Magerkeit in Erstaunen, blieb aber doch am Leben und lebte lange; trotz ihrer unseligen Lage war sie sogar kein einziges Mal entlaufen und hatte auch nie den Wunsch geäußert, ihren Herrn zu verlassen. Einmal in ihren jungen Jahren war sie wohl, von Liebe hingerissen, für zwei Tage verschwunden, aber diese Dummheiten hatte sie schon längst aufgegeben. Die hervorragendste Eigenschaft Valetkas war ihre absolute Gleichgültigkeit gegen alles in der Welt … Wäre die Rede nicht von einem Hund, so hätte ich wohl den Ausdruck ›Blasiertheit‹ gewählt. Gewöhnlich saß sie, den kurzen Schwanz untergeschlagen, da, blickte finster drein, zuckte manchmal zusammen und lächelte niemals. (Die Hunde haben bekanntlich die Fähigkeit zu lächeln, sie machen es sogar sehr nett.) Sie war außerordentlich häßlich, und kein müßiger Vertreter des Hofgesindes ließ sich die Gelegenheit entgehen, giftige Bemerkungen über ihr Äußeres zu machen; Valetka ertrug aber allen Spott und sogar Schläge mit ungewöhnlicher Kaltblütigkeit. Ein besonderes Vergnügen gewährte sie den Köchen, die sofort ihre Arbeit liegenließen und ihr schreiend und schimpfend nachsetzten, wenn sie aus einer Schwäche, die nicht nur Hunden allein eigen ist, ihre hungrige Schnauze durch die halbgeöffnete Türe der verführerisch warmen und wohlriechenden Küche steckte. Auf der Jagd zeichnete sie sich durch Unermüdlichkeit aus und hatte eine recht gute Witterung; wenn sie aber einmal einen angeschossenen Hasen erwischte, so fraß sie ihn mit Genuß bis zum letzten Knöchelchen auf, irgendwo im kühlen Schatten, unter einem grünen Busch, in einer respektvollen Entfernung von Jermolai, der in allen bekannten und unbekannten Dialekten schimpfte.

Jermolai gehörte einem meiner Nachbarn, einem Gutsbesitzer von altem Schrot und Korn. Die Gutsbesitzer von altem Schrot und Korn mögen keine Schnepfen und halten sich an das Hausgeflügel. Höchstens in außergewöhnlichen Fällen wie bei Geburtstagen, Namenstagen und Adelswahlen schreiten die Köche solcher Gutsbesitzer zur Zubereitung der langschnäbeligen Vögel; sie geraten dabei in die dem russischen Menschen so eigene Rage und erfinden so komplizierte Zutaten, daß die Gäste zum größten Teil die aufgetischten Gerichte mit Neugierde und Aufmerksamkeit betrachten, sich aber nicht entschließen, von ihnen zu versuchen. Jermolai hatte den Auftrag, für die herrschaftliche Küche einmal monatlich zwei Paar Birkhühner und Rebhühner zu liefern, durfte aber im übrigen leben, wie er wollte und wovon er wollte. Man hatte ihn aufgegeben als einen zu keiner Arbeit fähigen Menschen, als einen Schwächling, wie man bei uns in Orjol sagt. Pulver und Schrot wurden ihm nicht geliefert, wobei man dieselbe Regel befolgte, nach der er seinen Hund nicht fütterte. Jermolai war ein Mensch von besonderem Schlag: sorglos wie ein Vogel, ziemlich geschwätzig, zerstreut und dem Aussehen nach unbeholfen. Er trank gerne über den Durst, hielt es niemals lange auf einem Platz aus, schlurrte und watschelte beim Gehen und legte dabei doch an die fünfzig Werst in vierundzwanzig Stunden zurück. Er hatte schon die verschiedenartigsten Abenteuer erlebt: in Sümpfen, auf Bäumen, auf Dächern, unter Brücken genächtigt, mehr als einmal in Kellern, Schuppen und auf Dachböden eingesperrt gesessen, oft sein Gewehr, seinen Hund und die notwendigsten Kleidungsstücke eingebüßt, reichliche und kräftige Prügel bekommen, war aber nach einiger Zeit doch immer gekleidet und mit Gewehr und Hund nach Hause zurückgekehrt. Man konnte ihn keinen lustigen Menschen nennen, obwohl er fast immer guter Laune war; er machte überhaupt den Eindruck eines Sonderlings. Jermolai schwatzte manchmal gerne mit einem guten Bruder, besonders bei einem Glas Schnaps, aber nicht zu lange; mitten im Gespräch stand er auf und ging. »Wo willst du denn hin, Teufel? Es ist ja Nacht.«

»Nach Tschaplino.«

»Was sollst du dich nach Tschaplino schleppen, es sind ja zehn Werst.«

»Ich will beim Bauern Sofron übernachten.«

»Übernachte doch hier.«

»Nein, es geht nicht.«

Und so geht Jermolai mit seiner Valetka in die finstere Nacht durch Gebüsch und Sumpf; der Bauer Sofron wird ihn aber vielleicht gar nicht hereinlassen und haut ihm vielleicht auch noch den Buckel voll: »Laß anständige Leute in Ruhe!« Dafür konnte sich niemand mit Jermolai in der Kunst messen, im Frühjahr bei Hochwasser Fische zu fangen, die Krebse mit den Händen herauszuholen, das Wild mit der Nase zu wittern, Wachteln heranzulocken, Habichte abzurichten, Nachtigallen mit der ›Teufelspfeife‹ und dem »Kuckucksüberschlag‹ zu fangen … Eines verstand er aber nicht: Hunde zu dressieren; dazu hatte er keine Geduld. Er hatte auch eine Frau. Einmal in der Woche besuchte er sie. Sie wohnte in einer elenden, halbzerfallenen Hütte, schlug sich mit knapper Not durch, wußte niemals, ob sie morgen satt zu essen haben werde, und hatte überhaupt ein bitteres Los. Jermolai, dieser sorglose und gutmütige Mensch, behandelte sie roh und grob und nahm bei sich zu Hause eine finstere und drohende Miene an; seine arme Frau wußte gar nicht, wie sie es ihm recht machen sollte, zitterte vor seinem Blick, kaufte ihm für die letzte Kopeke Schnaps und bedeckte ihn unterwürfig mit ihrem Schafpelz, wenn er sich majestätisch auf dem Ofen ausstreckte und zu schnarchen anfing. Ich selbst hatte mehr als einmal Gelegenheit, an ihm unwillkürliche Äußerungen einer seltsamen, düsteren Wut wahrzunehmen: So gefiel mir sein Gesichtsausdruck nicht, wenn er einem angeschossenen Vogel mit den Zähnen den Garaus machte. Jermolai blieb aber nie länger als einen Tag zu Hause; außerhalb des Hauses verwandelte er sich aber wieder in den Jermolka, wie man ihn hundert Werst im Umkreis und wie er sich auch selbst manchmal nannte. Der letzte Mann im Hausgesinde fühlte seine Überlegenheit über diesen Landstreicher und behandelte ihn vielleicht gerade aus diesem Grunde freundschaftlich; die Bauern pflegten ihn anfangs mit Hochgenuß wie einen Hasen im Feld zu hetzten und zu fangen, ließen ihn aber dann in Gottes Namen laufen, rührten ihn, wenn sie den Sonderling einmal erkannt hatten, nicht mehr an, gaben ihm sogar Brot und unterhielten sich mit ihm … Diesen Menschen nahm ich mir zum Jagdgehilfen und begab mich mit ihm auf den Schnepfenstrich in einen großen Birkenwald am Ufer der Ista.

Viele russische Flüsse haben wie die Wolga ein hohes und ein flaches Ufer; so auch die Ista. Dieser kleine Fluß windet sich launisch wie eine Schlange dahin, fließt keine halbe Werst gerade und ist an manchen Stellen, von einem steilen Hügel herab, zehn Werst weit mit seinen Dämmen, Deichen, Mühlen und Gemüsegärten, von Bachweiden und dichten Gärten umgeben, zu sehen. In der Ista gibt es eine Unmenge Fische, besonders Äschen (die Bauern holen sie an heißen Tagen mit den Händen unter den Sträuchern hervor). Kleine Sandschnepfen schwirren pfeifend längs der steinigen, von kalten und hellen Quellen durchfurchten Ufer; Wildenten schwimmen in die Mitte der Teiche und sehen sich vorsichtig um; Reiher stehen in den Buchten im Schatten der überhängenden Ufer… Wir standen etwa eine Stunde auf dem Strich, schossen zwei Paar Waldschnepfen und entschlossen uns, da wir unser Glück vor Sonnenaufgang noch einmal versuchen wollten (man kann auf den Schnepfenstrich auch am frühen Morgen gehen), in der nächsten Mühle zu übernachten. Wir traten aus dem Wald und gingen den Hügel hinab. Der Fluß rollte dunkelblaue Wellen; die von nächtlicher Feuchtigkeit gesättigte Luft wurde immer dichter. Wir klopften ans Tor. Im Hofe bellten die Hunde. »Wer ist da?« ertönte eine heisere und verschlafene Stimme.

»Jägersleute, laß uns übernachten.«

Wir bekamen keine Antwort.

»Wir werden bezahlen.«

»Ich werde es dem Herrn sagen … Kusch, ihr Verfluchten …! Daß euch die Pest!« – Wir hörten, wie der Knecht in die Stube trat; bald kehrte er zum Tor zurück. »Nein«, sagte er, »der Herr erlaubt nicht, euch einzulassen.«

»Warum erlaubt er es nicht?«

»Er fürchtet, ihr seid ja Jägersleute; wie leicht könntet ihr die Mühle in Brand stecken; ihr habt ja solches Zeug bei euch.«

»Was für Unsinn!« »Bei uns ist schon vor zwei Jahren die Mühle abgebrannt: Viehhändler haben bei uns übernachtet und sie wohl in Brand gesteckt.«

»Was sollen wir tun, Bruder, wir können doch nicht draußen übernachten!«

»Tut, was ihr wollt…« Und er ging, mit den Absätzen klopfend.

Jermolai wünschte ihm allerlei Unannehmlichkeiten. »Wollen wir ins Dorf gehen«, sagte er endlich mit einem Seufzer. Aber bis zum Dorf waren es noch an die zwei Werst…

»Wollen wir doch hier übernachten«, sagte ich. »Die Nacht ist warm; der Müller wird uns für Geld wohl Stroh herausschicken.«

Jermolai willigte ohne Widerrede ein. Wir fingen wieder zu klopfen an.

»Was wollt ihr denn?« erklang wieder die Stimme des Knechtes. »Ich hab' euch doch schon einmal gesagt, daß es nicht geht.«

Wir erklärten ihm, was wir wollten. Er ging sich mit seinem Herrn beraten und kehrte mit diesem zurück. Die Pforte knarrte. Es erschien der Müller, ein großgewachsener Mann mit fettem Gesicht, einem Stiernacken und einem runden und dicken Bauch. Er ging auf meinen Vorschlag ein. Etwa hundert Schritt von der Mühle befand sich ein kleiner, von allen Seiten offener Schuppen. Man brachte uns Heu und Stroh heraus; der Knecht stellte im Gras am Fluß den Samowar für uns auf, kauerte sich hin und begann eifrig in den Schornstein zu blasen … Die knisternde Kohlenglut beleuchtete hell sein jugendliches Gesicht. Der Müller lief hin, seine Frau zu wecken, und schlug mir schließlich selbst vor, in der Stube zu übernachten; aber ich zog vor, im Freien zu bleiben. Die Müllerin brachte uns Milch, Eier, Kartoffeln und Brot. Bald kochte der Samowar, und wir machten uns ans Teetrinken. Vom Fluß stieg Nebel auf, die Luft war windstill; ringsum schrien die Schnarrwachteln; von den Mühlrädern kam ein leises Geräusch: Es waren die Tropfen, die von den Schaufeln fielen, und das Wasser, das durch die Schleuse sickerte. Wir legten ein kleines Feuer an. Während Jermolai in der Asche Kartoffeln briet, hatte ich Zeit, ein wenig einzuschlummern … Ein leises, verhaltenes Flüstern weckte mich. Ich hob den Kopf: Vor dem Feuer saß auf einem umgestürzten, Kübel die Müllerin und unterhielt sich mit meinem Jäger. Ich hatte in ihr schon früher an ihren Kleidern, an der Aussprache und den Körperbewegungen eine frühere Angehörige des Hausgesindes erkannt; sie war jedenfalls kein Bauernweib und keine Kleinbürgerin; aber erst jetzt konnte ich ihre Züge genau unterscheiden. Dem Aussehen nach mochte sie etwa dreißig Jahre alt sein; das schmächtige blasse Gesicht zeigte noch die Spuren einer außergewöhnlichen Schönheit; besonders gut gefielen mir ihre großen, traurigen Augen. Sie stützte beide Ellenbogen auf die Knie und das Gesicht in die Hände. Jermolai saß mit dem Rücken zu mir und legte Späne ins Feuer.

»In Sheltuchina ist wieder eine Viehseuche«, sagte die Müllerin. »Dem Popen Iwan sind beide Kühe eingegangen … Gott sei uns gnädig!«

»Und wie steht's mit euren Schweinen?« fragte Jermolai nach einer Pause.

»Die leben.«

»Wenn Ihr mir doch ein Ferkelchen schenken wolltet.«

Die Müllerin antwortete nichts, dann seufzte sie auf.

»Mit wem seid Ihr hier?« fragte sie.

»Mit dem Herrn von Kostomarowo.«

Jermolai warf einige Tannenzweige ins Feuer; die Zweige knisterten sofort laut, und ein dichter weißer Rauch stieg ihm gerade ins Gesicht.

»Warum hat uns dein Mann nicht in die Stube gelassen?«

»Er fürchtet sich.«

»Der Dickwanst… Liebste Arina Timofejewna, bring mir doch ein Gläschen Schnaps!«

Die Müllerin erhob sich und verschwand im Dunkeln. Jermolai sang mit halber Stimme:

»Als ich zu der Liebsten lief,

trat ich meine Stiefel schief …«

Arina kam mit einer kleinen Flasche und einem Glas zurück. Jermolai erhob sich, bekreuzigte sich und trank den Schnaps in einem Zuge. »Das habe ich gern«, fügte er hinzu.

Die Müllerin setzte sich wieder auf den Kübel.

»Du kränkelst wohl immer, Arina Timofejewna?«

»Ja, ich kränkele.«

»Was fehlt dir denn?«

»Jede Nacht quält mich der Husten.« »Der Herr ist, glaub' ich, eingeschlafen«, sagte Jermolai nach kurzem Schweigen. »Geh aber nicht zum Doktor, Arina, sonst wird es noch schlimmer.«

»Ich geh' auch nicht.«

»Komm lieber zu mir.«

Arina senkte den Kopf.

»Meine Frau jag' ich dann aus dem Hause«, fuhr Jermolai fort. »Wirklich!«

»Wecken Sie doch lieber den Herrn, Jermolai Petrowitsch; Sie sehen doch, die Kartoffeln sind fertig.«

»Soll er nur schnarchen«, bemerkte mein treuer Diener gleichgültig. »Er hat sich müde gelaufen, darum schläft er jetzt.«

Ich rührte mich auf meinem Heu. Jermolai erhob sich, trat zu mir und sagte: »Die Kartoffeln sind fertig, wollen Sie essen.«

Ich kam aus dem Schuppen heraus; die Müllerin erhob sich von ihrem Kübel und wollte weggehen. Ich zog sie ins Gespräch.

»Habt ihr die Mühle schon lange in Pacht?«

»Zu Pfingsten waren es zwei Jahre.«

»Wo stammt dein Mann her?«

Arina überhörte meine Frage.

»Woher ist dein Mann?« wiederholte Jermolai mit lauter Stimme.

»Aus Bjelew. Er ist ein Bjelewer Kleinbürger.«

»Bist du auch aus Bjelew?«

»Nein, ich bin eine Herrschaftliche … bin eine Herrschaftliche gewesen.«

»Wessen?«

»Des Herrn Swjerkow. Jetzt bin ich frei.«

»Welcher Swjerkow ist das?«

»Alexander Silytsch.«

»Warst du nicht Zofe bei seiner Frau?«

»Ich war es. Woher wissen Sie das?«

Ich sah Arina mit doppelter Neugierde und Teilnahme an.

»Ich kenne deinen Herrn«, fuhr ich fort.

»Sie kennen ihn?« fragte sie mit leiser Stimme und senkte die Augen.

Ich muß dem Leser erklären, warum ich Arina mit solcher Teilnahme ansah. Während meines Aufenthaltes in Petersburg hatte ich zufällig den Herrn Swjerkow kennengelernt. Er bekleidete einen ziemlich hohen Posten und galt als kenntnisreicher und erfahrener Mensch. Er hatte eine korpulente, empfindsame, zum Weinen aufgelegte und böse Frau, ein schwerfälliges Dutzendgeschöpf; er hatte auch ein Söhnchen, ein echtes, verzogenes und dummes Herrschaftskind. Das Äußere des Herrn Swjerkow nahm nicht zu seinen Gunsten ein: Aus seinem breiten, beinahe viereckigen Gesicht blickten listig zwei kleine Mauseaugen und ragte eine große und spitze Nase mit weitgeöffneten Nasenlöchern; die kurzgeschorenen grauen Haare stiegen wie Borsten über der gerunzelten Stirn empor, und die dünnen Lippen bewegten sich fortwährend und lächelten zuckersüß. Herr Swjerkow stand gewöhnlich mit gespreizten Beinen da, die dicken Hände in den Hosentaschen. Einmal mußte ich mit ihm im Wagen vor die Stadt fahren. Wir kamen ins Gespräch. Als erfahrener und tüchtiger Mensch fing Herr Swjerkow an, mir ›den rechten Weg‹ zu weisen.

»Gestatten Sie mir die Bemerkung«, sagte er schließlich mit seiner piepsenden Stimme. »Ihr jungen Leute urteilt und redet über alle Dinge aufs Geratewohl; ihr kennt euer Rußland nicht – das ist die Sache! Ihr lest ja nur deutsche Bücher. Sie sagen mir jetzt zum Beispiel dies und jenes von den Leibeigenen … Gut, ich will nicht streiten, das ist alles schön, aber Sie kennen sie nicht, Sie wissen gar nicht, was das für ein Volk ist.« Herr Swjerkow schneuzte sich geräuschvoll die Nase und nahm eine Prise. »Gestatten Sie mir zum Beispiel, Ihnen eine kleine Anekdote zu erzählen; sie kann Sie interessieren.« Herr Swjerkow räusperte sich. »Sie wissen ja, was ich für eine Frau habe. Eine gutmütigere Frau kann man wohl schwer finden, das werden Sie mir zugeben. Ihre Zofen haben ein paradiesisches Leben … Aber meine Frau hat es sich zum Grundsatz gemacht, keine verheirateten Zofen zu halten. Solche taugen auch wirklich nicht. Sie kriegen Kinder, bald dies, bald jenes; wie soll dann die Zofe so, wie es sich gehört, ihre Herrin bedienen und auf ihre Gewohnheiten achten? Sie hat dann ganz andere Sachen im Kopf. Man muß die Sache rein menschlich nehmen. So kamen wir einmal durch eines unserer Dörfer, es sind, wenn ich mich recht besinne, an die fünfzehn Jahre her. Da sehen wir, der Schulze hat eine Tochter, ein reizendes Mädel; sie hat sogar, wissen Sie, etwas Einschmeichelndes in den Manieren. Meine Frau sagt zu mir: ›Koko‹, wissen Sie, sie pflegte mich so zu nennen, ›wollen wir dieses Mädel nach Petersburg mitnehmen, sie gefällt mir, Koko …‹ Ich sage: ›Mit Vergnügen, nehmen wir sie nur mit.‹ Der Schulze fällt uns natürlich zu Füßen; dieses Glück, verstehen Sie, hatte er gar nicht erwartet. … Das dumme Mädel weinte natürlich. Es ist ja anfangs wirklich traurig: das Vaterhaus … und überhaupt … Es ist wirklich nicht zu verwundern. Aber sie gewöhnte sich bald an uns; zuerst steckten wir sie in die Mädchenkammer und ließen sie natürlich abrichten. Und was glauben Sie …? Das Mädel zeigt ungewöhnliche Fortschritte; meine Frau ist ganz verliebt in sie; schließlich macht sie sie mit Umgehung der anderen zu ihrer Kammerzofe … Beachten Sie es bloß … ! Man muß ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen: Eine solche Zofe hat meine Frau noch nie gehabt, dienstfertig, bescheiden, gehorsam – mit einem Wort alles, was man sich nur wünscht. Dafür verzog sie meine Frau offen gestanden in einer übertriebenen Weise: Sie kleidete sie vorzüglich, ließ sie von der herrschaftlichen Tafel essen, gab ihr Tee zu trinken – mit einem Wort alles, was Sie sich nur vorstellen können. Eines schönen Morgens kommt plötzlich Arina – sie hieß Arina – , denken Sie sich nur, ohne Anmeldung zu mir ins Kabinett und fällt mir zu Füßen … Offen gestanden kann ich das nicht leiden. Der Mensch soll nie seine Würde vergessen, nicht wahr? – ›Was willst du?‹. – ›Väterchen Alexander Silytsch, ich bitte um eine Gnade.‹ – ›Um was für eine Gnade?‹ – ›Erlauben Sie mir, zu heiraten.‹ – Offen gestanden war ich darüber erstaunt. ›Du weißt doch, dumme Gans, daß meine Frau keine andere Zofe hat?« – ›Ich will der Gnädigen weiter dienen.‹ – ›Unsinn! Unsinn! Die Gnädige hält sich keine verheirateten Zofen.‹ – ›Die Malanja kann an meine Stelle treten.‹ – ›Räsoniere bitte nicht!‹ – ›Wie Sie wollen…‹ – Offen gestanden war ich ganz starr vor Erstaunen. Ich muß Ihnen sagen, daß ich ein Mensch bin, den nichts so sehr kränkt wie Undankbarkeit … Ihnen brauche ich es nicht zu sagen, Sie wissen doch, was ich für eine Frau habe: Sie ist ein Engel in Menschengestalt, die Güte selbst. … Selbst ein Verbrecher müßte mit ihr Mitleid haben. Ich warf Arina hinaus. Ich dachte mir, sie würde zur Besinnung kommen; ich wollte, wissen Sie, an das Böse, an den schwarzen Undank im Menschen nicht glauben. Und was denken Sie? Nach einem halben Jahr kommt sie wieder zu mir mit der gleichen Bitte. Diesmal warf ich sie ganz wütend hinaus und drohte ihr, es meiner Frau zu sagen. Ich war empört … Stellen Sie sich nur mein Erstaunen vor: Einige Zeit später kommt zu mir meine Frau in Tränen und so aufgeregt, daß ich sogar erschrak. – ›Was ist denn geschehen?‹ – ›Arina …‹ Sie verstehen, ich schäme mich, es auszusprechen. – ›Es kann nicht sein …! Wer war es denn?‹ – ›Der Lakai Petruschka.‹ Ich geriet ganz außer mir. Ich bin mal so ein Mensch … ich liebe keine halben Maßregeln …! Petruschka … hat keine Schuld. Bestrafen kann man ihn wohl, aber er ist meiner Ansicht nach nicht der Schuldige. Arina … was soll man da noch viel reden? Ich befahl natürlich sofort, ihr die Haare abzuschneiden, sie in Zwillich zu kleiden und ins Dorf zu schicken. Meine Frau verlor eine vorzügliche Zofe, aber es war nichts zu machen: Man darf doch keine Unordnung im Hause dulden. Ein krankes Glied schneidet man lieber gleich ab … Nun urteilen Sie selbst, Sie kennen ja meine Frau, sie ist doch wirklich … ein Engel …! Sie hatte sich an Arina gewöhnt, und Arina wußte das und hatte sich doch nicht gescheut … Wie? Sagen Sie mir doch … Wie? Aber was soll man da viel reden! Jedenfalls war nichts zu machen. Was mich persönlich betrifft, so fühlte ich mich noch lange Zeit durch die Undankbarkeit dieses Mädchens gekränkt. Was Sie auch sagen mögen – Herz, Gefühl werden Sie in diesen Menschen nicht finden! Man mag den Wolf füttern, soviel man will, er schielt immer nach dem Wald … Das ist aber eine Lektion für die Zukunft! Ich wollte Ihnen nur beweisen …«

Herr Swjerkow beendete seine Rede nicht, wandte den Kopf weg, hüllte sich fester in seinen Mantel und unterdrückte männlich seine Aufregung.

Der Leser begreift jetzt wahrscheinlich, warum ich Arina mit Teilnahme betrachtete.

»Bist du schon lange mit dem Müller verheiratet?« fragte ich sie schließlich.

»Seit zwei Jahren.«

»Nun, hat es dir dein Herr erlaubt?«

»Man hat mich freigekauft.«

»Wer denn?«

»Sawelij Alexejewitsch.«

»Wer ist das?«

»Mein Mann.«

Jermolai lächelte vor sich hin. »Hat denn mein Herr Ihnen von mir erzählt?« fragte Arina nach kurzem Schweigen.

Ich wußte nicht, wie ich ihre Frage beantworten sollte.

»Arina!« rief der Müller aus der Ferne.

Sie erhob sich und ging.

»Hat sie einen guten Mann?« fragte ich Jermolai.

»Das nicht.«

»Haben sie Kinder?«

»Sie haben eins gehabt, es ist aber tot.«

»Hat sie dem Müller so gut gefallen? Wieviel Lösegeld hat er für sie bezahlt?«

»Ich weiß es nicht. Sie kann lesen und schreiben; in ihrem Geschäft ist das … gut. Sie gefiel ihm wohl.«

»Kennst du sie schon lange?«

»Lange. Einst pflegte ich zu ihrer Herrschaft zu kommen. Ihr Gut ist nicht weit von hier.«

»Kennst du auch den Lakai Petruschka?«

»Den Pjotr Wassiljewitsch? Gewiß, ich kannte ihn wohl.«

»Wo ist er jetzt?«

»Ist unter die Soldaten gekommen.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Sie scheint nicht ganz gesund zu sein?« fragte ich schließlich Jermolai.

»Ganz und gar nicht …! Morgen gibt es aber einen guten Schnepfenstrich. Sie sollten jetzt etwas ausschlafen.«

Ein Schwarm Wildenten flog sausend über uns vorbei, und wir hörten, wie sie sich auf dem Fluß nicht weit von uns niederließen. Es war schon ganz dunkel geworden, es begann auch kalt zu werden; im Gehölz schlug laut die Nachtigall. Wir vergruben uns ins Heu und schliefen ein.


Das Himbeerwasser


Anfang August herrscht bei uns oft eine unerträgliche Hitze. Um diese Zeit ist auch der entschlossenste und geduldigste Mensch in den Stunden zwischen zwölf und drei nicht imstande zu jagen, und selbst der ergebenste Hund beginnt ›dem Jäger die Sporen zu putzen ‹, d. h., er folgt ihm im Schritt, die Augen schmerzvoll zusammengekniffen und die Zunge übertrieben hervorgestreckt; auf die Vorwürfe seines Herrn wedelt er nur unterwürfig mit dem Schwanz und zeigt eine verlegene Miene, ist aber nicht vorwärtszubringen. Gerade an einem solchen Tag befand ich mich einmal auf der Jagd. Lange widerstand ich der Versuchung, mich irgendwo, wenn auch nur für einen Augenblick, in den Schatten zu legen; lange trieb sich mein unermüdlicher Hund in den Büschen herum, obwohl er von seiner fieberhaften Tätigkeit auch selbst nichts Vernünftiges erwartete. Die drückende Hitze zwang mich schließlich, an die Erhaltung unserer letzten Kräfte und Fähigkeiten zu denken. So gut es ging, schleppte ich mich zum Flüßchen Ista, den meine geneigten Leser schon kennen, stieg den steilen Abhang hinunter und ging über den gelben, feuchten Sand in der Richtung auf eine Quelle, die in der ganzen Gegend unter dem Namen Himbeerwasser bekannt ist. Die Quelle sprudelt aus einer Uferspalte hervor, die sich allmählich in eine kleine, aber tiefe Schlucht verwandelt hat, und ergießt sich zwanzig Schritte weiter mit lustigem, geschwätzigem Geräusch in den Fluß. Die Abhänge der Schlucht sind mit Eichengebüsch bewachsen; in der Nähe der Quelle grünt ein kurzer, samtweicher Rasen; die Sonnenstrahlen berühren fast nie ihr silbernes, kaltes Naß. So erreichte ich die Quelle; im Gras lag eine Schöpfkelle aus Birkenrinde, die irgendein vorübergehender Bauer zum allgemeinen Nutzen zurückgelassen hatte. Ich stillte meinen Durst, legte mich in den Schatten und sah mich um. An der Bucht, die der Ausfluß der Quelle in den Fluß bildete und deren Wasseroberfläche daher ständig gekräuselt war, saßen mit dem Rücken zu mir zwei Greise. Der eine, kräftig und groß gewachsen, in einem dunkelgrünen, sauberen Kaftan und einer warmen Mütze, angelte; der andere, klein, mager, in einem geflickten, halbseidenen Röckchen und ohne Mütze, hielt einen Topf mit Würmern auf den Knien und fuhr sich ab und zu mit der Hand über seinen grauen Kopf, als wollte er ihn vor der Sonne schützen. Ich sah ihn genauer an und erkannte in ihm den Stjopuschka aus Schumichino. Ich bitte den Leser um Erlaubnis, ihm diesen Menschen vorstellen zu dürfen.

Einige Werst von meinem Gut liegt das große Dorf Schumichino mit der steinernen, den Heiligen Kosmas und Damian geweihten Kirche. Dieser Kirche gegenüber prangte einst das große Herrenhaus, umgeben von allerlei Anbauten, Dienstgebäuden, Werkstätten, Pferdeställen, Wagenschuppen, Badestuben, Hilfsküchen, Flügeln für die Gäste und Verwalter, Treibhäusern, Schaukeln für das Volk und anderen mehr oder weniger nützlichen Baulichkeiten. In diesem Herrenhaus hatten einst reiche Gutsbesitzer gewohnt, und alles ging in der besten Ordnung, bis eines Morgens dieser ganze Segen bis auf den Grund niederbrannte. Die Herrschaft siedelte auf eine andere Besitzung über, und dieses Gut verödete. Die ausgedehnte Brandstätte verwandelte sich in ein Gemüsefeld, auf dem hier und da Ziegelhaufen, die Überreste der alten Fundamente ragten. Aus den unverbrannten Balken wurde in aller Eile ein Hüttchen zusammengezimmert und mit Planken gedeckt, die man zehn Jahre früher zur Errichtung eines Pavillons im gotischen Stil angeschafft hatte, und in diesem Hüttchen wurde der Gärtner Mitrofan mit seiner Frau Aksinja und mit sieben Kindern angesiedelt. Mitrofan hatte den Auftrag, für den Tisch der Herrschaften, die sich in einer Entfernung von hundertfünfzig Werst aufhielten, Grünzeug und Gemüse beizustellen; Aksinja wurde mit der Aufsicht über eine Tiroler Kuh betraut, die man in Moskau für teures Geld gekauft hatte, die aber leider vollkommen zeugungsunfähig war und daher seit dem Tag ihrer Anschaffung keinen Tropfen Milch gegeben hatte; außerdem wurde ihr ein rauchgrauer Enterich mit dem Schopfe anvertraut, das einzige ›herrschaftliche‹ Geflügel; die Kinder bekamen infolge ihres jugendlichen Alters keinerlei Ämter, was sie übrigens nicht hinderte, furchtbar faul zu werden. Bei diesem Gärtner hatte ich an die zweimal übernachtet und pflegte bei ihm im Vorbeigehen Gurken zu kaufen, die, Gott weiß warum, selbst im Hochsommer sich durch ihre Größe, durch ihren schlechten wässerigen Geschmack und ihre dicke gelbe Rinde auszeichneten. Bei ihm hatte ich auch zum erstenmal Stjopuschka gesehen. Außer Mitrofan mit seiner Familie und dem alten, tauben Küster Gerassim, den eine einäugige Soldatenfrau in einem winzigen Kämmerchen beherbergte, war in Schumichino kein Mensch vom Hofgesinde zurückgeblieben, denn Stjopuschka, mit dem ich den Leser bekannt zu machen beabsichtige, konnte weder als Mensch im allgemeinen noch als einer vom Hausgesinde im besonderen gelten.

Jeder Mensch hat doch sonst irgendeine Stellung in der Gesellschaft oder irgendwelche Beziehungen zu anderen Menschen; jeder Mensch im Hofgesinde bekommt, wenn auch kein Gehalt, so doch wenigstens ein sogenanntes Deputat; Stjopuschka erhielt aber keinerlei Unterstützung, war mit niemandem verwandt, und niemand wußte etwas von seiner Existenz. Dieser Mensch hatte nicht mal eine Vergangenheit; man sprach von ihm nicht; selbst in den Revisionslisten wurde er kaum geführt. Es gingen dunkle Gerüchte, er sei einmal bei jemandem Kammerdiener gewesen; aber wer er war, woher er stammte, wessen Sohn er war, auf welche Weise er unter die Untertanen von Schumichino geraten war, wie er zu seinem halbseidenen Röckchen, das er seit undenklichen Zeiten trug, kam, wo und wovon er lebte – davon hatte absolut niemand eine Ahnung, und offen gestanden kümmerte sich auch niemand um diese Fragen. Großvater Trofimytsch, der den Stammbaum des ganzen Hofgesindes in aufsteigender Linie bis ins vierte Geschlecht hinauf kannte, hatte nur einmal gesagt, daß Stepan, soweit er sich erinnere, mit der Türkin verwandt sei, die der selige Herr, der Brigadier Alexej Romanytsch, aus dem Feldzug mit seiner Bagage heimgebracht hatte. Selbst an Feiertagen, an denen alle Leute beschenkt und nach altrussischer Sitte mit Brot und Salz, mit Buchweizenkuchen – und Schnaps bewirtet wurden, selbst an diesen Tagen kam Stjopuschka nicht zu den aufgestellten Tischen und Fässern, bückte sich nicht vor dem Gutsherrn, küßte ihm nicht die Hand und trank nicht auf das Wohl und vor den Augen des Herrn das Glas, das der Gutsverwalter mit seiner fettigen Hand gefüllt hatte; höchstens gab ihm irgendeine gute Seele im Vorbeigehen den Rest eines Kuchens. Am Ostersonntag tauschte man mit ihm zwar den Osterkuß, aber er schlug seinen fettigen Ärmel nicht zurück und holte nicht aus seiner rückwärtigen Tasche ein rotes Ei hervor, um es, schwer atmend und mit den Augen zwinkernd, den jungen Herrschaften oder sogar der Gnädigen selbst anzubieten. Im Sommer wohnte er in einer kleinen Vorratskammer hinter dem Hühnerstall, im Winter aber in der Vorbadestube; bei strengem Frost nächtigte er auf dem Heuboden. Man hatte sich an seinen Anblick gewöhnt, manchmal gab man ihm auch einen Fußtritt, aber niemand sprach ihn an, und auch er selbst hatte wohl noch nie den Mund aufgemacht. Nach dem Brand hatte dieser vergessene Mensch beim Gärtner Mitrofan Unterschlupf gefunden. Der Gärtner rührte ihn nicht an, sagte ihm nicht: »Wohne bei mir«, jagte ihn aber auch nicht hinaus. Stjopuschka wohnte auch nicht beim Gärtner; er hielt sich nur im Gemüsefeld auf. Er ging und bewegte sich ohne jedes Geräusch; nieste und hustete in die vorgehaltene Hand und nicht ohne Scheu; immer machte er sich wie eine Ameise zu schaffen; und alles nur des Essens wegen. Und in der Tat, hätte sich Stjopuschka nicht von früh bis spät um seinen Lebensunterhalt gekümmert, so wäre er wohl Hungers gestorben. Es ist schlimm, des Morgens nicht zu wissen, wie man am Abend satt werden soll. Stjopuschka sitzt bald am Zaun und nagt an einem Rettich oder saugt an einer Mohrrübe oder zerbröckelt einen schmutzigen Kohlstrunk; ein anderes Mal schleppt er krächzend einen Eimer voll Wasser; bald macht er Feuer unter einem Töpfchen an, in das er irgendwelche schwarze Bröckchen, die er aus seinem Busen holt, hineinwirft; bald klappert er in seiner Kammer mit einem Holz, schlägt einen Nagel ein, um ein Wandbrett für sein Brot anzubringen. Das alles macht er schweigend, gleichsam aus einem Winkel heraus. Wenn man nur hinblickt, ist er schon verschwunden. Plötzlich verschwindet er auch für zwei Tage; seine Abwesenheit wird natürlich von niemandem bemerkt… Ehe man sich's versieht, ist er schon wieder da und legt verstohlen Späne unter einen Dreifuß. Er hat ein kleines Gesicht, gelbe Äuglein, Haare, die bis zu den Augenbrauen herabreichen, ein spitzes Näschen, ungewöhnlich große, wie bei einer Fledermaus durchsichtige Ohren; der Bart sieht so aus, als ob er ihn vor zwei Wochen rasiert hätte und ist niemals länger oder kürzer. Diesen selben Stjopuschka traf ich in Gesellschaft des anderen Greises am Ufer der Ista.

Ich ging auf sie zu, begrüßte sie und setzte mich zu ihnen. Auch im Genossen Stjopuschkas erkannte ich einen Bekannten: Es war der Freigelassene der Grafen Pjotr Iljitsch, Michailo Saweljew, mit dem Zunamen Tuman (Nebel). Er wohnte bei einem schwindsüchtigen Kleinbürger aus Bolchow, dem Besitzer einer Herberge, in der ich recht oft abstieg. Junge Beamte und andere unbeschäftigte Menschen, die durch die Orjolsche Landstraße fahren (die in ihre gestreiften Federbetten vergrabenen Kaufleute haben andere Dinge im Sinn) – können auch jetzt noch in einer geringen Entfernung vom großen Kirchdorf Troïtzkoje ein riesengroßes, zweistöckiges, verfallenes, hölzernes Haus mit eingestürztem Dach und vernagelten Fenstern sehen, das in die Landstraße hineinragt. Zur Mittagsstunde, an einem hellen, sonnigen Tag kann man sich nichts Traurigeres als diese Ruine denken. Hier lebte einst der Graf Pjotr Iljitsch, der durch seine Gastfreundschaft berühmte, reiche Grandseigneur einer alten Zeit. Zuweilen versammelte sich bei ihm das ganze Gouvernement, um bei der betäubenden Musik der Hauskapelle, unter dem Knattern von Schwärmern und römischen Kerzen zu tanzen und sich zu amüsieren; manches alte Mütterchen seufzt wohl jetzt noch, wenn es an diesem verfallenen Herrensitz vorbeifährt, bei der Erinnerung an die vergangenen Zeiten und an die entschwundene Jugend. Lange gab der Graf seine Festmahle, lange ging er mit einem freundlichen Lächeln durch die Schar unterwürfiger Gäste; aber sein Vermögen reichte ihm leider nicht für das ganze Leben. Nachdem er das Letzte verloren hatte, ging er nach Petersburg, um sich eine Stelle zu suchen, und starb in einem Gasthaus, ohne irgendeine Entscheidung erwartet zu haben. Tuman, der sein Haushofmeister gewesen war, hatte noch bei Lebzeiten des Grafen den Freibrief bekommen. Er war ein Mann von etwa siebzig Jahren mit einem regelmäßigen und angenehmen Gesicht. Er lächelte fast fortwährend, wie nur die Menschen aus dem Zeitalter Katharinas zu lächeln verstehen: gutmütig und majestätisch; beim Sprechen spitzte er langsam die Lippen und zog sie wieder ein, blinzelte freundlich mit den Augen und sprach ein wenig durch die Nase. Auch wenn er sich schneuzte oder eine Prise nahm, so tat er es langsam, wie ein wichtiges Werk.

»Nun, Michailo Saweljitsch«, fing ich an, »hast du viel Fische gefangen?«

»Belieben Sie nur ins Körbchen zu schauen: Zwei Barsche habe ich erwischt und an die fünf Stück Äschen … Zeig es, Stjopa.«

Stjopuschka hielt mir das Körbchen hin.

»Wie geht es dir, Stepan?« fragte ich ihn.

»Es … es … es … es geht, Väterchen, man schlägt sich durch«, antwortete Stepan stotternd, als müßte er mit seiner Zunge zentnerschwere Lasten umdrehen.

»Geht es auch Mitrofan gut?«

»Es geht ihm gut, gew… gewiß, Väterchen.«

Der Ärmste wandte sich weg.

»Die Fische wollen nicht recht anbeißen«, begann Tuman, »es ist viel zu heiß; alle Fische haben sich unters Gebüsch verkrochen und schlafen … Stjopa, tu mir mal einen Wurm an den Haken.« Stjopuschka holte einen Wurm aus dem Topf, legte ihn sich auf die flache Hand, schlug einigemal darauf, zog ihn über den Haken, spuckte darauf und reichte ihn Tuman.

»Ich danke dir, Stjopa . .. Und Sie, Väterchen«, fuhr er fort, sich an mich wendend, »Sie belieben zu jagen?«

»Wie du siehst.«

»So, so … Was haben Sie für einen Hund? Ist's ein englischer oder ein kurländischer?«

Der Alte liebte es, sich zuweilen von seiner vorteilhaften Seite zu zeigen: »Auch ich habe etwas von der Welt gesehen!«

»Ich weiß nicht, was es für eine Rasse ist, aber er ist gut.«

»So, so … Belieben Sie auch mit Hetzhunden zu jagen?«

»Ja, ich habe an die zwei Meuten.«

Tuman lächelte und schüttelte den Kopf.

»Das stimmt. Der eine liebt die Hunde, der andere will sie nicht geschenkt. Ich denke es mir mit meinem einfachen Verstand so: Hunde soll man sich sozusagen mehr des Ansehens wegen halten … Dann soll aber alles so, wie es sich gehört, sein: Die Pferde, die Piqueure, alles muß in bester Ordnung sein. Der verstorbene Graf – Gott hab' ihn selig! – war, die Wahrheit zu sagen, niemals Jäger gewesen; aber er hielt sich doch Hunde und fuhr zweimal im Jahr auf die Jagd. Im Hof versammeln sich die Piqueure in roten Röcken mit Tressen und blasen ins Horn; Seine Durchlaucht geruhen zu erscheinen, man führt Seiner Durchlaucht das Pferd vor; Seine Durchlaucht steigen in den Sattel, und der Oberjägermeister steckt die Füße Seiner Durchlaucht in die Bügel, nimmt sich die Mütze vom Kopf und reicht ihm die Zügel in der Mütze. Seine Durchlaucht knallen mit der Hetzpeitsche, die Piqueure schreien, und alle reiten aus dem Hof. Der Leibjäger reitet hinter dem Herrn; er hat an einer seidenen Leine die beiden Lieblingshunde des Herrn und paßt, wissen Sie, auf … Der Leibjäger sitzt hoch im Kosakensattel, hat so rote Backen und rollt die Augen … Natürlich sind auch Gäste dabei. Es ist ein Zeitvertreib, und auch die Würde ist gewahrt… Ach, da hat er sich losgerissen, der Asiate!« rief er plötzlich, die Angel herausziehend.

»Nun, man sagt, der Graf hätte ein lustiges Leben geführt?« fragte ich.

Der Alte spuckte auf den Wurm und warf die Angel aus.

»Er war ein großmächtiger Herr, das weiß man ja. Ihn besuchten, man darf wohl sagen, die vornehmsten Leute aus Petersburg. Gar oft saßen sie mit blauen Ordensschärpen bei Tisch und speisten. Er war aber auch ein Meister im Bewirten. Manchmal läßt er mich kommen und sagt: ›Tuman, ich brauche für morgen lebenden Sterlett; laß welchen anschaffen, hörst du?‹ – ›Zu Befehl, Durchlaucht!‹ – Gestickte Röcke, Perücken, Rohrstöcke, Parfüms, Eau de Cologne erster Sorte, Tabatieren, riesengroße Bilder, die hatte er sich direkt aus Paris verschrieben. Wenn er so ein Bankett gibt – Herr meines Lebens! – Feuerwerk, Spazierfahrten! Man schoß sogar aus Kanonen. An Musikern allein waren vierzig Mann vorhanden. Einen deutschen Kapellmeister hielt er sich; aber der Deutsche bildete sich zu viel ein: wollte mit dem Herrn am gleichen Tisch essen; also befahlen Seine Durchlaucht, ihn mit Gott hinauszujagen: ›Meine Musiker‹, sagte er, ›kennen auch so ihre Sache.‹ Man weiß ja: die Gewalt eines solchen Herrn. Wenn sie zu tanzen anfingen, so tanzten sie bis zum Morgengrauen, und meistens Ecossaise-Matradure … »He, he! Da hab' ich dich, Bruder!« Der Alte zog aus dem Wasser einen kleinen Barsch. »Nimm ihn, Stjopa. – Er war ein Herr, ein wirklicher Herr«, fuhr er fort, die Angel von neuem auswerfend, »und hatte auch ein gutes Herz. Manchmal verprügelte er einen, aber eh man sich's versah, hatte man's schon vergessen. Nur eins ist zu tadeln: Er hielt sich Mätressen. Ach, diese Mätressen, Gott verzeih' mir! Die haben ihn auch zugrunde gerichtet. Meistens wählte er sie sich aus dem niederen Stande. Man müßte meinen, die sollten zufrieden sein. Aber nein, sie verlangten just das Teuerste, was es in Europien gibt! Andererseits: Warum soll er sein Leben nicht genießen? Ist doch ein Herr … aber er hätte sich doch nicht ruinieren sollen. Besonders eine, Akulina hieß sie; jetzt ist sie tot, Gott hab' sie selig! War ein einfaches Mädel, die Tochter eines Zehntmannes von Sitowo – war die böse! Den Grafen ohrfeigte sie sogar. Sie hatte ihn ganz behext. Einen Neffen von mir steckte sie unter die Soldaten, weil er Schokolade auf ihr neues Kleid ausschüttete … und nicht nur ihn allein steckte sie unter die Soldaten. Ja … Und doch war es eine gute Zeit!« fügte der Alte mit einem tiefen Seufzer hinzu. Dann senkte er die Augen und verstummte.

»Euer Herr war aber streng, wie ich sehe?« fragte ich nach kurzem Schweigen.

»Das war damals Sitte, Väterchen«, entgegnete der Alte und schüttelte den Kopf.

»Heute gibt's das nicht mehr«, bemerkte ich, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Er sah mich von der Seite an.

»Natürlich ist es jetzt besser«, murmelte er, indem er die Angel weit auswarf.

Wir saßen im Schatten, aber auch im Schatten war es schwül. Die schwere, glühende Luft war unbeweglich; das heiße Gesicht sehnte sich nach einem Windhauch, aber es kam keiner. Die Sonne stach förmlich vom blauen, dunkel gewordenen Himmel; gerade vor uns, auf dem arideren Ufer leuchtete gelb ein hier und da mit Wermut durchwachsenes Haferfeld, und kein Halm rührte sich. Etwas weiter unten stand ein Bauernpferd bis an die Knie im Wasser und schlug träge mit seinem nassen Schweif; ein großer Fisch schwamm unter einem überhängenden Strauch hervor, ließ Luftblasen aufsteigen und sank langsam in die Tiefe, auf der Wasseroberfläche ein leises Gekräusel zurücklassend. Die Grillen zirpten im bräunlichen Gras, die Wachteln schrien wie widerwillig; Habichte zogen ihre Kreise über den Feldern und blieben ab und zu an einer Stelle schweben, schnell die Flügel schlagend und den Schwanz zu einem Fächer gesträubt. Wir saßen unbeweglich da, wie erdrückt von der Glut. Plötzlich ertönte in der Schlucht hinter uns ein Geräusch: Jemand stieg zur Quelle hinunter. Ich sah mich um und erblickte einen Bauern von etwa fünfzig Jahren. Er war mit Staub bedeckt, mit einem Hemd und Bastschuhen bekleidet und hatte ein geflochtenes Körbchen und einen Bauernkittel am Rücken. Er ging auf die Quelle zu, stillte gierig seinen Durst und erhob sich.

»He, Wlas!« rief Tuman, als er ihn erkannt hatte. »Grüß Gott, Bruder, woher des Weges?«

»Grüß Gott, Michailo Saweljitsch«, erwiderte der Bauer, zu uns herantretend. »Von weit her.«

»Wo hast du denn gesteckt?« fragte ihn Tuman.

»Ich war nach Moskau gegangen, zum Herrn.«

»Wozu?«

»Wollte ihn um was bitten.«

»Um was wolltest du ihn bitten?«

»Daß er mir den Erbzins ermäßigt oder mich auf Frondienst setzt oder mich anderswo ansiedelt. Mein Sohn ist mir gestorben, so werde ich allein nicht fertig.«

»Dein Sohn ist dir gestorben?«

»Er ist gestorben. – Der Selige«, fuhr der Bauer nach kurzem Schweigen fort, »hat in Moskau als Droschkenkutscher gelebt und hat für mich, die Wahrheit zu sagen, den Erbzins bezahlt.«

»Seid ihr denn jetzt auf Erbzins gesetzt?«

»Ja, auf Erbzins.«

»Was hat der Herr gesagt?«

»Was er gesagt hat? Weggejagt hat er mich! ›Wie wagst du es‹, sagt er, ›so einfach zu mir zu kommen? Dazu gibt es den Verwalter! Du bist«, sagt er, verpflichtet, es dem Verwalter zu melden. Und wo soll ich dich ansiedeln? Bezahl«, sagt er, ›erst den rückständigen Zins.‹ Ganz böse ist er geworden.«

»Nun, so gingst du zurück?«

»So ging ich zurück. Ich wollte mich erkundigen, ob der Selige nicht etwas hinterlassen hatte, konnte aber nichts erfahren. Ich sage zu seinem Herrn: ›Ich bin Philipps Vater«, und er sagt drauf: ›Woher soll ich das wissen? Dein Sohn hat auch nichts hinterlassen, er schuldet mir sogar noch Geld.« So ging ich zurück.«

Der Bauer erzählte uns das alles mit einem Lächeln, als wäre die Rede von etwas ganz anderm; aber in seine kleinen, zusammengekniffenen Augen traten Tränen, und seine Lippen zuckten.

»Nun, und jetzt gehst du nach Hause?«

»Wohin denn sonst? Versteht sich, nach Hause. Mein Weib pfeift jetzt wohl vor Hunger in die Faust.«

»Du hättest doch … ich meine …«, begann plötzlich Stjopuschka. Aber er wurde verlegen, verstummte und begann in seinem Topf zu wühlen.

»Wirst du nun zum Verwalter gehen?« fragte Tuman, Stjopoischka nicht ohne Erstaunen ansehend.

»Was soll ich zu ihm gehen? Ich bin ja mit dem Zins im Rückstand. Mein Sohn war vor dem Tode ein ganzes Jahr krank und hat darum für mich den Zins nicht bezahlt. Aber das macht mir nicht viel Sorge: Von mir ist doch nichts zu holen. Magst es noch so schlau anfangen, Bruder, aber holen kannst du von mir nichts!« Der Bauer lachte. »Was du auch anstellst, Kintiljan Semjonytsch, von mir ist nichts zu …«

Wlas fing wieder zu lachen an.

»Nun, das ist aber gar nicht gut, Bruder Wlas«, sagte Tuman gedehnt.

»Warum soll es nicht gut sein? Nein …« Wlas versagte die Stimme. »So heiß ist's«, fuhr er fort, sich das Gesicht mit dem Ärmel abwischend.

»Wer ist euer Herr?« fragte ich.

»Graf Valerian Petrowitsch.«

»Der Sohn des Pjotr Iljitsch?«

»Der Sohn des Pjotr Iljitsch«, antwortete Tuman. »Der selige Pjotr Iljitsch hat ihm das Dorf, in dem Wlas wohnt, schon bei Lebzeiten geschenkt.«

»Ist er gesund?«

»Ja, Gott sei Dank«, antwortete Wlas. »Ist ganz rot geworden, hat viel Fett im Gesicht.«

»Ja, Väterchen«, fuhr Tuman, sich zu mir wendend, fort, »wenn er ihn noch in der Nähe von Moskau halten wollte; aber er läßt ihn hier sitzen und verlangt von ihm den Zins.«

»Wieviel zahlt ihr denn pro Hof?«

»Fünfundneunzig Rubel«, murmelte Wlas.

»Da sehen Sie es: Die Leute haben fast kein Land, alles, was da ist, ist der herrschaftliche Wald.«

»Und auch der ist, sagt man, verkauft«, bemerkte der Bauer.

»Da sehen Sie es… Stjopa, gib mir mal einen Wurm her. Du, Stjopa! Bist du eingeschlafen?«

Stjopuschka fuhr zusammen. Der Bauer setzte sich zu uns. Wir verstummten wieder. Am ändern Ufer stimmte plötzlich jemand ein Lied an, aber ein so trauriges… Mein armer Wlas machte ein bekümmertes Gesicht…

Nach einer halben Stunde gingen wir auseinander.


Einmal im Herbst hatte ich mich auf der Rückfahrt von der Jagd erkältet und war krank geworden. Glücklicherweise ergriff mich das Fieber erst in der Kreisstadt, im Gasthaus, und ich schickte nach dem Arzt. In einer halben Stunde erschien der Kreisarzt, ein kleingewachsener hagerer Mann mit schwarzen Haaren. Er verschrieb mir das übliche schweißtreibende Mittel, verordnete ein Senfpflaster, steckte sehr geschickt den Fünfrubelschein in den Umschlag seines Ärmels, wobei er jedoch trocken hüstelte und zur Seite blickte, und wollte sich schon endgültig nach Hause begeben, fing aber plötzlich zu reden an und blieb. Das Fieber quälte mich; ich sah eine schlaflose Nacht voraus und war froh, mit einem Menschen sprechen zu können. Man brachte uns Tee. Mein Arzt kam ins Gespräch. Er war gar nicht dumm und drückte sich geschickt und recht amüsant aus. Es ist so merkwürdig auf der Welt: Mit manchem Menschen lebt man lange zusammen und in den freundschaftlichsten Beziehungen, und doch spricht man mit ihm niemals ganz offen, vom Grunde der Seele; einen andern hat man kaum kennengelernt, und schon sagt man ihm oder er uns wie in der Beichte alles, was auf dem Herzen ist.

Ich weiß nicht, womit ich das Vertrauen meines neuen Freundes gewonnen hatte, aber er erzählte mir, so mir nichts, dir nichts, einen recht interessanten Fall; ich aber bringe ihn zur Kenntnis des geneigten Lesers, wobei ich mir die Mühe gebe, die Worte des Arztes wiederzugeben.

»Sie kennen wohl nicht«, begann er mit schwacher, zitternder Stimme (das ist die Wirkung des unvermischten Berjosowschen Tabaks) – »Sie kennen wohl nicht den hiesigen Richter Pawel Lukitsch Mylow? Sie kennen ihn nicht… Nun, es ist ja gleich.« Er räusperte sich und rieb sich die Augen. »Die Sache passierte, wenn ich mich recht besinne, in den großen Fasten, beim richtigen Tauwetter. So sitze ich also bei ihm, dem Richter, und spiele Préférence. Unser Richter ist ein guter Mensch und spielt gerne Préférence. Plötzlich –«; mein Arzt gebrauchte sehr oft das Wort plötzlich, »– meldet man mir: ›Ein Mann will Sie sprechen.‹ – Ich frage: ›Was will er denn?‹ – ›Einen Zettel hat er gebracht, sagt man mir, ›wahrscheinlich von einem Kranken.‹ – ›Gib den Zettel her‹, sage ich. Es stimmt, es ist von einem Kranken. Nun gut, Sie verstehen doch: Das ist ja unser Brot. Die Sache ist aber die: Mir schreibt eine Gutsbesitzerin, eine Witwe, ihre Tochter liege im Sterben, ich solle um Gottes Willen hinfahren, auch Pferde seien nach mir geschickt. Das wäre alles noch gar nichts … Sie wohnt aber zwanzig Werst von der Stadt, es ist Nacht, und die Wege – nicht zu sagen! Auch ist's eine bettelarme Witwe, höchstens zwei Rubel habe ich zu erwarten, und auch das ist noch zweifelhaft; werde mich wohl mit Leinwand oder Graupen bezahlen lassen. Aber Sie verstehen doch: Die Pflicht geht über alles. Da liegt ja ein Mensch im Sterben. Also übergebe ich plötzlich meine Karten dem Gerichtsrat Kalliopin und gehe nach Hause. Ich sehe, vor dem Haus steht ein Bauernwägelchen, furchtbar dicke Bauernpferde, die Haare sind wie Filz, und der Kutscher sitzt vor Ehrfurcht ohne Mütze da. Ich denke mir: Nun, Bruder, deine Herrschaft speist wohl nicht von goldenen Tellern … Sie belieben zu lachen, aber ich muß Ihnen sagen, daß unsereins, armer Mensch, alles in Erwägung ziehen muß … Wenn der Kutscher wie ein Fürst dasitzt, die Mütze gar nicht abnimmt, dazu in den Bart lächelt und auch noch mit der Peitsche spielt – dann kann man sicher zwei Depositenscheine verlangen! Aber hier sehe ich, es riecht nicht danach. Doch ich denke mir: Es ist nichts zu machen, die Pflicht geht über alles. Ich nehme die notwendigsten Arzneien und fahre davon. Glauben Sie mir, wir kamen kaum an. Der Weg ist höllisch: Bäche, Schnee, Schmutz, ausgespülte Stellen, und an einer Stelle hat das Wasser gar den Damm durchbrochen – ein wahres Unglück! Ich komme aber doch an. Ein kleines Häuschen, mit Stroh gedeckt. In den Fenstern ist Licht: Also erwartet man mich. Mich empfängt ein ehrwürdiges, altes Mütterchen, mit einer Haube. ›Retten Sie sie‹, sagt sie, ›sie stirbt.‹ Ich sage: ›Beunruhigen Sie sich nicht. Wo ist die Kranke?« – ›Bitte, hier.‹ – Ich sehe ein sauberes Zimmerchen, in der Ecke brennt ein Lämpchen, im Bett liegt ein Fräulein, vielleicht zwanzig Jahre alt, bewußtlos. Sie glüht förmlich, und sie atmet schwer: hohes Fieber. Da sind auch zwei andere junge Mädchen dabei, ihre Schwestern – ganz erschrocken, in Tränen aufgelöst. ›Gestern‹, sagen sie, ›war sie noch gesund und aß mit Appetit; heute früh klagte sie über Kopfweh, und plötzlich gegen Abend ist sie in diesem Zustand.‹ Ich sage wieder: ›Beunruhigen Sie sich bitte nicht …‹. Es ist, wissen Sie, die Pflicht des Arztes – und mache mich an die Arbeit. Ich lasse sie zur Ader, verordne ein Senfpflaster und verschreibe eine Mixtur., Indessen sehe ich sie an, und wissen Sie: Bei Gott, so ein Gesicht habe ich noch nie gesehen – mit einem Wort, eine Schönheit! Das Mitleid schneidet mir das Herz entzwei. Die Gesichtszüge sind so angenehm, die Augen … Da wird sie, Gott sei Dank, ruhiger; es tritt Schweiß ein, sie kommt zu sich, sieht sich um, lächelt und fährt sich mit der Hand übers Gesicht… Die Schwestern beugen sich über sie und fragen: ›Was ist mit dir?‹ – ›Nichts‹, sagt sie und wendet sich weg … Ich sehe: Sie ist eingeschlafen. Nun sage ich, daß man die Kranke in Ruhe lassen solle. So gingen wir alle auf den Zehenspitzen hinaus, nur ein Dienstmädchen blieb für alle Fälle bei ihr. Im Gastzimmer steht aber schon der Samowar auf dem Tisch, auch Jamaikarum ist dabei: In unserem Berufe geht es eben nicht anders. Man gibt mir Tee und bittet mich, über Nacht dazubleiben … Ich willige ein. Wohin soll ich jetzt noch fahren? Das alte Mütterchen stöhnt immer. ›Was haben Sie?‹ sage ich ihr. ›Sie wird am Leben bleiben, machen Sie sich keine Sorgen und ruhen Sie sich lieber selbst aus, es ist schon nach zwei.‹ – ›Aber Sie werden mich doch wecken lassen, wenn was passiert?‹ – ›Gewiß, gewiß.‹ – Die Alte begab sich zur Ruhe, und auch die jungen Mädchen gingen auf ihr Zimmer; mir richtete man im Gastzimmer ein Bett her. So legte ich mich hin, konnte aber nicht einschlafen – merkwürdig! Ich war doch wirklich müde genug. Aber meine Kranke ging mir nicht aus dem Sinn. Endlich hielt ich es nicht länger aus, stand plötzlich auf; ich denke mir: Ich will mal hingehen und nachschauen, was die« Patientin macht. Ihr Schlafzimmer ist aber neben dem Gastzimmer. Ich stehe also auf und öffne leise die Tür; das Herz klopft mir dabei. Ich sehe, das Dienstmädchen schläft, hat den Mund offen und schnarcht sogar, die Bestie! Die Kranke aber liegt mit dem Gesicht zu mir und hat die Hände nach beiden Seiten geworfen, die Ärmste. Ich komme näher. .. Da öffnet sie plötzlich die Augen und sieht mich an! ›Wer ist das? Wer ist das?‹ – Ich wurde verlegen. – ›Fürchten Sie sich nicht‹, sage ich ihr, ›gnädiges Fräulein, ich bin der Arzt und will nachsehen, wie Sie sich fühlen.‹ – ›Sind Sie der Arzt?‹ – ›Gewiß … Ihre Frau Mama hat mich aus der Stadt holen lassen; wir haben Sie zur Ader gelassen, gnädiges Fräulein; wollen Sie jetzt schlafen, und in zwei Tagen werden wir Sie, so Gott will, wieder auf die Füße bringen.‹ – ›Ach, ja, ja, Doktor, lassen Sie mich, nicht sterben … bitte, bitte.‹ – ›Was haben Sie, Gott sei mit Ihnen!‹ – Sie hat wohl wieder Fieber, denke ich mir; ich fühle ihr den Puls, sie hat wirklich Fieber. Sie sah mich an und ergreift plötzlich meine Hand. ›Ich will Ihnen sagen, warum ich nicht sterben will, ich will es Ihnen sagen, ich will es Ihnen sagen … wir sind jetzt allein; aber bitte, Sie dürfen es niemand … hören Sie …‹ Ich beugte mich über sie; sie nähert ihre Lippen meinem Ohr, ihre Haare berühren dabei meine Wange … ich muß gestehen, mir schwindelte der Kopf – und sie fängt zu flüstern an … Gar nichts verstehe ich … Ach, sie phantasiert ja … Sie flüstert und flüstert so schnell, und es klingt gar nicht wie Russisch. Als sie fertig war, fuhr sie zusammen, ließ den Kopf in die Kissen sinken und drohte mir mit dem Finger. ›Also passen Sie auf, Doktor, keinem Menschen …‹ Ich beruhigte sie einigermaßen, gab ihr zu trinken, weckte das Dienstmädchen und ging hinaus.«

Der Kreisarzt nahm mit wütender Gebärde eine Prise und blieb einen Augenblick lang starr.

»Indessen«, fuhr er fort, »ging es der Kranken am anderen Tag, gegen meine Erwartung, nicht besser. Ich überlegte und überlegte und entschloß mich plötzlich, zu bleiben, obwohl mich andere Patienten erwarteten … Sie wissen doch, man darf seine Patienten nicht negligieren, die Praxis leidet darunter. Erstens befand sich aber die Kranke wirklich in einem verzweifelten Zustand; und zweitens fühlte ich mich, offen gestanden, zu ihr stark hingezogen. Außerdem gefiel mir auch die ganze Familie. Die Leute waren zwar arm, aber doch von einer seltenen Bildung … Der Vater war ein gelehrter Mann und sogar Schriftsteller gewesen; er war natürlich arm gestorben, hatte aber seinen Kindern eine ausgezeichnete Erziehung gegeben, hatte auch viele Bücher hinterlassen. Kam es daher, weil ich mich mit besonderem Eifer um die Kranke bemühte, oder aus einem anderen Grunde, jedenfalls darf ich sagen, daß sie mich im Hause liebgewonnen hatten wie einen Verwandten. Die Wege waren indessen noch schlechter geworden, jede Kommunikation hatte sozusagen aufgehört; selbst die Arzneien konnte man nur mit großer Mühe aus der Stadt beschaffen … Der Kranken ging es nicht besser … Ein Tag verging nach dem anderen … Und da … da …«

Der Kreisarzt schwieg eine Weile. »Ich weiß wirklich nicht wie ich es Ihnen sagen soll …« Er nahm wieder eine Prise, räusperte sich und trank einen Schluck Tee. »Ich will es Ihnen ohne Umschweife sagen, daß sich meine Patientin … in mich, wie man es so nennt … daß sie sich in mich verliebt hat … oder nein, eigentlich nicht verliebt … übrigens aber … wirklich …«

Der Kreisarzt senkte den Kopf und errötete.

»Nein«, fuhr er lebhaft fort, »von Verliebtheit war natürlich nicht die Rede! Jeder Mensch muß doch seinen Wert kennen. Sie war ein gebildetes, kluges und belesenes Mädchen, ich habe sogar mein Latein fast ganz vergessen. Und was das Äußere betrifft« – der Kreisarzt sah mich mit einem Lächeln an, »so kann ich damit wohl nicht prahlen. Aber als Dummkopf hat mich der liebe Gott auch nicht in die Welt gesetzt: Was weiß ist, werde ich nicht schwarz nennen; ich verstehe einiges von den Dingen. Ich hatte zum Beispiel sehr gut begriffen, daß Alexandra Andrejewna – keine Liebe zu mir empfand, sondern nur eine sozusagen freundschaftliche Zuneigung, eine Art Achtung. Es ist zwar möglich, daß sie sich selbst darin täuschte, aber sie befand sich in einer solchen Lage, Sie können es sich selbst denken … Übrigens«, fügte der Kreisarzt hinzu, der alle diese abgebrochenen Sätze in einem Atem und in sichtlicher Verwirrung gesprochen hatte, »ich bin, glaube ich, zu weit abgeschweift … So werden Sie nichts verstehen … gestatten Sie, daß ich Ihnen alles der Reihe nach erzähle.«

Er trank sein Glas Tee aus und fuhr mit ruhigerer Stimme fort.

»So war es also. Meiner Kranken ging es immer schlimmer und schlimmer. Sie sind kein Mediziner, verehrter Herr, und können nicht begreifen, was in der Seele unsereines vorgeht, besonders in der ersten Zeit, wenn wir zu merken anfangen, daß die Krankheit uns über den Kopf wächst. Wo bleibt dann unser Selbstvertrauen! Man verliert plötzlich jeden Mut. Man glaubt, alles vergessen zu haben, was man einmal gewußt hat, man glaubt, daß der Kranke kein Vertrauen mehr hat und daß auch die anderen schon unsere Ratlosigkeit merken, daß sie uns widerwillig die neuen Symptome mitteilen und uns scheel ansehen, daß sie miteinander tuscheln – mit einem Wort, es ist schlimm! Es gibt doch wohl eine Arznei, sagt man sich, gegen diese Krankheit, und es gilt nur, sie zu finden. Ist es vielleicht diese? Man macht den Versuch, nein, es ist nicht die richtige. Man läßt der Arznei keine Zeit, ordentlich zu wirken … bald greift man nach dieser, bald nach jener. Man nimmt das Rezeptbuch zur Hand und denkt sich, das richtige Mittel steht doch drin! Bei Gott, manchmal schlägt man das Buch aufs Geratewohl auf und denkt sich, vielleicht hilft das Schicksal … Der Mensch liegt indessen im Sterben; ein anderer Arzt könnte ihn sicher retten. Du sagst, es sei ein Konsilium nötig, du wollest die Verantwortung nicht allein tragen. So dumm schaust du aber in solchen Fällen aus! Doch mit der Zeit gewöhnst du dich daran, und es macht dir nichts. Der Kranke ist gestorben, es ist nicht deine Schuld, du bist nach allen Regeln vorgegangen. Noch qualvoller ist aber dieses: Du siehst das blinde Vertrauen, das man dir entgegenbringt, und fühlst dabei, daß du nicht helfen kannst. So ein Vertrauen setzte eben die ganze Familie Alexandra Andrejewnas auf mich: Sie hatten ganz vergessen, daß ihre Tochter in Lebensgefahr schwebte. Ich suche sie auch meinerseits zu überzeugen, daß es nichts Ernstes sei, aber das Herz krampfte sich mir vor Gram zusammen. Um das Unglück voll zu machen, waren die Wege so schlecht geworden, daß der Kutscher mit den Arzneien oft ganze Tage ausblieb. Ich verlasse das Krankenzimmer nicht, kann mich von ihr nicht losreißen, erzähle ihr, wissen Sie, allerlei lustige Anekdoten, spiele Karten mit ihr. Durchwache ganze Nächte. Die Alte dankt mir mit Tränen in den Augen, ich aber denke mir: Ich verdiene diesen Dank nicht. Ich gestehe es Ihnen offen, jetzt brauche ich es nicht mehr zu verheimlichen – ich verliebte mich in meine Kranke. Auch Alexandra Andrejewna hing an mir; außer mir ließ sie niemand zu sich ins Zimmer. Sie spricht mit mir, fragt mich aus, wo ich studiert habe, wie ich lebe, wer meine Verwandten seien, mit wem ich verkehre. Ich weiß, daß sie nicht sprechen darf, aber ich bringe es nicht übers Herz, es ihr zu verbieten. Manchmal fasse ich mich beim Kopf und rufe: ›Was tust du, Verbrecher …?‹ Oder sie nimmt mich bei der Hand, hält meine Hand fest, sieht mich an, sieht mich lange, lange an, seufzt und sagt: ›Wie gut sind Sie!‹ Sie hat so heiße Hände, große, schmachtende Augen. ›Ja‹, sagt sie, ›Sie sind ein guter Mensch, ganz anders als unsere Nachbarn … nein, Sie sind ganz anders… Warum habe ich Sie nicht schon früher kennengelernt – ›Alexandra Andrejewna, beruhigen Sie sich‹, sage ich ihr, ›glauben Sie mir, ich fühle es, ich weiß nicht, womit ich es verdient habe … aber beruhigen Sie sich … alles wird gut werden, Sie werden gesund werden.‹ – Indessen muß ich Ihnen sagen«, fügte der Kreisarzt hinzu, indem er sich etwas vorbeugte und die Augenbrauen hob, »die Leute verkehrten mit den Nachbarn fast gar nicht, weil die kleineren Leute zu ihnen nicht paßten, aber mit den Reichen zu verkehren ihnen der Stolz nicht erlaubte. Ich sage Ihnen ja: Es war eine außerordentlich gebildete Familie; ich fühlte mich sogar geschmeichelt. Nur aus meinen Händen nahm sie die Arznei … die Ärmste setzte sich mit meiner Hilfe im Bett auf, schluckte die Arznei herunter und sah mich so an, daß mir das Herz stillstand. Indessen ging es ihr immer schlimmer und schlimmer; sie wird sterben, denke ich mir, sie wird ganz gewiß sterben. Glauben Sie es mir, ich könnte selbst ins Grab steigen. Ihre Mutter und die Schwestern beobachten mich und sehen mir in die Augen … und das Vertrauen schwindet. ›Nun? Wie geht es?‹ – ›Es geht nicht schlecht!‹ Aber von ›nicht schlecht« ist nicht die Rede, der Verstand steht mir still. So sitze ich eines Nachts wieder allein neben der Kranken. Das Dienstmädel sitzt auch da und schnarcht, was sie schnarchen kann … Dem unglücklichen Mädel konnte man keine Vorwürfe machen: Sie war zu abgehetzt. Alexandra Andrejewna hatte sich den ganzen Abend sehr schlecht gefühlt: Das Fieber quälte sie. Bis zur Mitternacht hatte sie sich hin und her gewälzt; endlich schien sie eingeschlafen zu sein; jedenfalls lag sie unbeweglich da. In der Ecke vor dem Heiligenbild brennt das Lämpchen. Ich sitze da, das Gesicht gesenkt, schlummere ebenfalls ein wenig. Plötzlich ist es mir, als stieße mich jemand in die Seite; ich wende mich um … Du lieber Gott! Alexandra Andrejewna starrt mich an … die Lippen stehen offen, die Wangen glühen förmlich. ›Was ist Ihnen?‹ – ›Doktor, ich werde doch sterben?‹ – ›Gott bewahre!‹ – ›Nein, Doktor, sagen Sie mir bitte nicht, daß ich leben werde … sagen Sie es nicht … wenn Sie nur wüßten … hören Sie, um Gottes willen, verheimlichen Sie vor mir meinen Zustand nicht!‹ Und dabei atmet sie so schnell. ›Wenn ich sicher wissen werde, daß ich sterben muß … dann werde ich Ihnen alles, alles sagen!‹ – ›Alexandra Andrejewna, ich bitte Sie!‹ – ›Hören Sie, ich habe ja gar nicht geschlafen, ich sehe Sie schon lange an … um Gottes willen … ich vertraue Ihnen, Sie sind ein guter Mensch, ein prächtiger Mensch, ich beschwöre Sie bei allem, was Ihnen heilig ist, sagen Sie mir die Wahrheit! Wenn Sie wüßten, wie wichtig es für mich ist … Doktor, um Gottes willen, sagen Sie mir, mein Zustand ist doch gefährlich?‹ – ›Was soll ich Ihnen sagen, Alexandra Andrejewna, ich bitte Sie!‹ – ›Um Gottes willen, ich flehe Sie an!‹ – »Ich kann es Ihnen nicht verhehlen, Alexandra Andrejewna, daß Ihr Zustand wirklich gefährlich ist, aber Gott ist gnädig …‹ – ›Ich werde sterben, ich werde sterben…‹ Und es schien, als freute sie sich darüber, ihr Gesicht wurde so heiter; ich erschrak. – ›Aber fürchten Sie sich nicht, fürchten Sie sich nicht, der Tod schreckt mich nicht.‹ Sie erhob sich plötzlich und stützte sich auf einen Ellenbogen. ›Jetzt … jetzt kann ich Ihnen sagen, daß ich Ihnen von ganzem Herzen dankbar bin, daß Sie ein guter, prachtvoller Mensch sind, daß ich Sie liebe …‹ Ich sehe sie wie wahnsinnig an; es ist mir ganz unheimlich zumute … ›Hören Sie es, ich liebe Sie …‹ – ›Alexandra Andrejewna, womit habe ich es verdient!‹ – ›Nein, nein, Sie verstehen mich nicht … du versteht mich nicht …‹ Und plötzlich streckte sie die Hände aus, umfaßte meinen Kopf und küßte mich … Glauben Sie mir, ich hätte beinahe aufgeschrien …! Ich fiel in die Knie und barg den Kopf ins Kissen. Sie schweigt; ihre Finger zittern in meinen Haaren; ich höre, sie weint. Ich beginne, sie zu trösten, ihr zuzureden … ich weiß wirklich nicht mehr, was ich ihr alles sagte. – ›Sie werden das Mädel wecken, Alexandra Andrejewna … ich danke Ihnen … glauben Sie mir … beruhigen Sie sich.‹ – »Ist schon gut, ist schon gut‹, sagte sie immer wieder. ›Gott sei mit ihnen allen; gut, sie werden erwachen, gut, sie werden herkommen, es ist mir ganz gleich: Ich werde doch sterben … Aber was fürchtest du? Heb doch den Kopf … Oder Sie lieben mich vielleicht nicht, vielleicht habe ich mich getäuscht … in diesem Falle verzeihen Sie mir.‹ – ›Alexandra Andrejewna, was sagen Sie …? Ich liebe Sie, Alexandra Andrejewna.‹ Sie blickte mir gerade in die Augen und öffnete die Arme. – ›Umarme mich denn …‹ Ich will es Ihnen offen sagen: Ich verstehe nicht, wie ich in jener Nacht nicht den Verstand verloren habe. Ich fühle, meine Patientin richtet sich selbst zugrunde; ich sehe, sie ist nicht bei Besinnung; ich verstehe auch, daß wenn sie nicht glaubte, sie müsse gleich sterben, sie an mich gar nicht gedacht hätte. Wie Sie wollen, es ist doch unheimlich, mit fünfundzwanzig Jahren zu sterben, ohne jemand geliebt zu haben. Das war es, was sie quälte, darum klammerte sie sich in ihrer Verzweiflung an mich – verstehen Sie es jetzt? Aber, sie läßt mich nicht aus ihren Armen los. ›Erbarmen Sie sich meiner, Alexandra Andrejewna, erbarmen Sie sich auch Ihrer selbst!‹ sage ich ihr. – ›Warum‹, sagt sie, ›soll ich mich erbarmen? Ich muß ja doch sterben ….‹ Das wiederholte sie in einem fort. – ›Wenn ich wüßte, daß ich am Leben bleibe und daß ich ein anständiges junges Mädchen sein werde, dann würde ich mich schämen, ich würde mich wirklich schämen … aber so?‹ – ›Wer hat Ihnen denn gesagt, daß Sie sterben werden ?‹ – ›Ach, hör auf, du wirst mich nicht betrügen, du verstehst gar nicht zu lügen, sieh mich nur an.‹ – ›Sie werden am Leben bleiben, Alexandra Andrejewna, ich werde Sie gesund machen; wir werden Ihre Frau Mama um ihren Segen bitten … wir werden uns durch das Band der Ehe verbinden, wir werden glücklich sein.‹ – ›Nein, nein, ich habe Ihr Wort, ich muß sterben … du hast mir versprochen … du hast mir gesagt …‹ Es war mir so bitter, aus vielen Gründen bitter. Urteilen Sie selbst, was man nicht alles erlebt. Man könnte meinen, es sei nichts Wichtiges, und doch tut es weh. Es fiel ihr ein, mich nach meinem Namen zu fragen, nicht nach dem Familiennamen, sondern nach dem Vornamen. Nun habe ich das Unglück, Trifon zu heißen. Jawohl: Trifon, Trifon Iwanowitsch. Alle im Hause nannten mich einfach Doktor. Es ist nichts zu machen, ich sage ihr: ›Ich heiße Trifon, gnädiges Fräulein.‹ Sie kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und flüsterte etwas auf französisch, sicher etwas gar nicht Gutes; und dann lachte sie auch, und auch das Lachen war nicht gut. So verbrachte ich mit ihr fast die ganze Nacht. Am Morgen ging ich wie betrunken aus dem Zimmer; erst am Tag, nach dem Tee, kam ich wieder zu ihr. Mein Gott, mein Gott! Sie war nicht mehr zu erkennen, eine Leiche sieht besser aus. Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß ich jetzt absolut nicht verstehe, wie ich diese Marter habe aushalten können. Drei Tage und drei Nächte quälte sich noch meine Kranke … und was waren es für Nächte! Und was sie mir alles sagte …! Aber in der letzten Nacht, denken Sie sich nur, ich sitze neben ihr und bitte Gott nur um das eine: Nimm sie schneller zu dir, und auch mich dazu … Plötzlich tritt die alte Mutter ins Zimmer … Ich hatte der Mutter schon am Tag vorher gesagt, daß nur wenig Hoffnung vorhanden sei und daß es gut wäre, den Geistlichen zu holen. Als die Kranke die Mutter erblickte, sagte sie: ›Es ist gut, daß du gekommen bist … schau uns an, wir lieben einander, wir haben einander das Wort gegeben.‹ – ›Was hat sie, Doktor, was redet sie?‹ Ich war ganz starr. ›Sie phantasiert‹ sage ich, ›es ist das Fieber …‹ Sie aber sagt: ›Hör doch auf, eben hast du mir doch ganz was anderes gesagt und hast meinen Ring angenommen … Warum verstellst du dich? Meine Mutter ist gut, sie wird verzeihen, sie wird verstehen; ich aber sterbe, ich brauche nicht zu lügen … gib mir die Hand …‹ Ich sprang auf und lief hinaus. Die Alte erriet natürlich alles.

Ich will Sie jedoch nicht länger ermüden, und es fällt mir auch selbst schwer, mich daran zu erinnern. Meine Kranke starb am nächsten Tag. Gott hab' sie selig!« fügte der Kreisarzt schnell und mit einem Seufzer hinzu. »Vor dem Tode bat sie ihre Angehörigen, hinauszugehen und sie mit mir allein zu lassen. ›Entschuldigen Sie‹, sagte sie mir, ›vielleicht habe ich Ihnen unrecht getan … meine Krankheit … aber glauben Sie mir, ich habe niemand mehr als Sie geliebt … vergessen Sie mich nicht … bewahren Sie meinen Ring …‹«

Der Kreisarzt wandte sich ab; ich faßte seine Hand.

»Ach«, sagte er, »wollen wir doch von etwas anderem reden, oder spielen wir vielleicht eine kleine Partie Préférence? Es ist für unsereinen nicht gut, sich so erhabenen Gefühlen hinzugeben. Unsereins hat nur an das eine zu denken – daß seine Kinder nicht schreien und daß seine Frau nicht schimpft. Ich bin nämlich seither in eine legitime Ehe getreten … Gewiß … Eine Kaufmannstochter habe ich genommen mit siebentausend Rubel Mitgift. Sie heißt Akulina, das paßt gut zu Trifon. Sie ist, offen gestanden, ein böses Frauenzimmer, schläft aber glücklicherweise den ganzen Tag … Nun, wie wäre es mit dem Préférence …?«

Wir setzten uns ans Préférencespiel zu einer Kopeke das Point. Trifon Iwanowitsch gewann zwei und einen halben Rubel und ging spät heim, sehr zufrieden mit seinem Sieg.


Mein Nachbar Radilow


Im Herbst halten sich die Waldschnepfen oft in alten Lindengärten auf. Solche Gärten gibt es bei uns im Orjolschen Gouvernement ziemlich viel. Wenn unsere Urgroßväter sich einen Wohnsitz einrichteten, teilten sie immer an die zwei Desjatinen guter Erde für einen Obstgarten mit Lindenalleen ab. Nach fünfzig oder höchstens siebzig Jahren verschwanden diese Güter, diese ›Adelsnester‹, allmählich vom Angesicht der Erde; die Häuser verfaulten oder wurden auf Abbruch verkauft, die steinernen Dienstgebäude verwandeltes sich in Trümmerhaufen, die Apfelbäume gingen ein und wurden verheizt, die Zäune und Hecken wurden vernichtet. Nur die Linden allein wuchsen wunderbar fort und künden noch jetzt, von Ackerland umgeben, unserem wetterwendischen Geschlecht von unseren ›in Gott verschiedenen Vätern und Brüdern‹. Ein herrlicher Baum ist so eine alte Linde; selbst die unbarmherzige Axt des russischen Bauern verschont sie. Ihr Blatt ist klein, die mächtigen Äste strecken sich nach allen Seiten aus, und unter ihnen herrscht ewiger Schatten.

Als ich mich einmal mit Jermolai in den Feldern auf der Jagd nach Rebhühnern herumtrieb, bemerkte ich seitwärts einen verwilderten Garten und ging auf ihn zu. Kaum hatte ich seinen Saum betreten, als aus einem Gebüsch schnarrend eine Waldschnepfe aufflog; ich schoß, und in demselben Augenblick ertönte einige Schritte von mir ein Schrei: Das erschrockene Gesicht eines jungen Mädchens blickte zwischen den Bäumen hervor und verschwand gleich wieder. Jermolai lief auf mich zu. »Schießen Sie doch nicht, hier wohnt ein Gutsbesitzer.«

Ich hatte ihm noch nicht geantwortet; mein Hund hatte noch nicht Zeit gehabt, mir mit edler Würde den getöteten Vogel zu apportieren, als ich rasche Schritte vernahm und ein Mann von hohem Wuchs mit einem Schnurrbart aus dem Dickicht trat und mit unzufriedener Miene vor mir stehenblieb. Ich entschuldigte mich so gut ich konnte, nannte meinen Namen und bot ihm den Vogel an, den ich in seinem Besitz geschossen hatte.

»Gut«, sagte er mir mit einem Lächeln, »ich will Ihren Vogel annehmen, aber nur unter der Bedingung, daß Sie bei uns zum Essen bleiben.«

Aufrichtig gesagt, war ich über seine Aufforderung nicht sehr erfreut, aber es war unmöglich, sie auszuschlagen.

»Ich bin der Besitzer dieses Gutes und Ihr Nachbar, Radilow; vielleicht haben Sie von mir schon gehört«, fuhr mein neuer Bekannter fort. »Heute ist Sonntag, und das Mittagessen wird wahrscheinlich gut sein, sonst würde ich Sie nicht eingeladen haben.«

Ich antwortete ihm, was man in solchen Fällen zu antworten pflegt, und folgte ihm. Ein frischgesäuberter Weg führte uns bald aus dem Lindenwäldchen, und wir kamen in den Gemüsegarten. Zwischen den alten Apfelbäumen und verwilderten Stachelbeerstauden leuchteten runde, hellgrüne Kohlköpfe; der Hopfen wand sich schraubenartig um die hohen Stangen; braune Stäbe, von vertrockneten Erbsenranken umwunden, standen in den Beeten eng beieinander; große flache Kürbisse lagen wie hingeworfen auf der Erde; die Gurken leuchteten gelb unter den verstaubten, eckigen Blättern; links, längs des Zaunes aus Flechtwerk, wogten hohe Nesselstauden; an zwei oder drei Stellen wuchsen gruppenweise tatarisches Geißblatt, Holunder und Hagebutten, die Überbleibsel der einstigen Anlagen. Neben dem kleinen, mit rötlichem und schleimigem Wasser angefüllten Fischkasten sah man einen von Pfützen umgebenen Brunnen. Enten plätscherten und watschelten geschäftig in diesen Pfützen; ein Hund lag auf der Wiese und nagte, am ganzen Körper zitternd und mit den Augen blinzelnd, an einem Knochen; eine gescheckte Kuh rupfte in der Nähe Gras und warf zuweilen den Schwanz auf ihren mageren Rücken. Der Weg bog seitwärts ab; zwischen dicken Weiden und Birken blickte uns ein altes graues Häuschen mit Schindeldach und einer schiefen Treppe entgegen. Radilow blieb stehen.

»Übrigens«, sagte er, indem er mir gutmütig und offen ins Gesicht blickte, »ich habe mir's überlegt; vielleicht haben Sie keine Lust, bei mir einzukehren, in diesem Falle …«

Ich ließ ihn nicht zu Ende sprechen und versicherte ihm, im Gegenteil, es werde mir ein Vergnügen sein, bei ihm zu essen.

»Nun, wie Sie wollen.«

Wir traten ins Haus. Ein junger Bursche in einem langen Kaftan aus grobem blauem Tuch kam uns auf der Treppe entgegen. Radilow befahl ihm sogleich, Jermolai ein Glas Schnaps zu reichen; mein Jäger verbeugte sich respektvoll hinter dem Brücken des großmütigen Spenders. Aus dem mit allerlei bunten Bildern austapezierten und mit Vogelbauern behängten Vorzimmer kamen wir in ein kleines Zimmer, das Kabinett Radilows. Ich legte meine Jagdausrüstung ab, stellte mein Gewehr in die Ecke, und der Bursche im langen Kaftan bürstete mich sorgfältig ab.

»Nun wollen wir ins Gastzimmer«, versetzte Radilow freundlich, »ich will Sie mit meiner Mutter bekannt machen.«

Ich folgte ihm. Im Gastzimmer saß auf dem mittleren Sofa eine kleine Alte in braunem Kleid und weißer Haube, mit einem gutmütigen, schmächtigen Gesicht und einem scheuen und traurigen Blick.

»Hier, Mamachen, stelle ich Ihnen unseren Nachbarn vor.« Die Alte erhob sich und verbeugte sich vor mir, ohne den dicken, gehäkelten, sackähnlichen Strickbeutel aus den Händen zu lassen.

»Sind Sie schon lange in unserer Gegend?« fragte sie mit einer schwachen und leisen Stimme, mit den Augen zwinkernd.

»Nein, erst seit kurzem.«

»Haben Sie die Absicht, hier lange zu bleiben?«

»Ich denke bis zum Winter.«

Die Alte verstummte.

»Dieser da«, fiel ihr Radilow ein, auf einen langen und hageren Mann weisend, den ich beim Betreten des Gastzimmers gar nicht bemerkt hatte, »dieser da ist Fjodor Michejitsch … Nun, Fedja, zeig mal dem Gast deine Kunst. Warum hast du dich in den Winkel verkrochen?«

Fjodor Michejitsch erhob sich sofort von seinem Stuhl, nahm vom Fensterbrett eine elende Geige, faßte den Bogen, aber nicht am Ende, wie es sich gehört, sondern in der Mitte, stemmte die Geige gegen die Brust, schloß die Augen und fing an zu tanzen, wobei er ein Liedchen sang und auf den Saiten kratzte. Dem Aussehen nach mochte er siebzig Jahre alt sein; sein langer Nankingrock schlotterte traurig um seine trockenen, knochigen Glieder. Er tanzte; bald schüttelte er übermütig seinen kleinen, kahlen Kopf, bald bewegte er ihn wie ersterbend, bald reckte er den langen, sehnigen Hals, trampelte mit den Füßen auf einer Stelle und beugte ab und zu mit sichtbarer Anstrengung seine Knie. Aus seinem zahnlosen Mund kam eine altersschwache Stimme. Radilow hatte wohl an meinem Gesichtsausdruck erraten, daß die ›Kunst‹ Fedjas mir kein besonderes Vergnügen bereitete.

»Nun, schon gut, Alter, genug«, sagte er, »du darfst dir jetzt deine Belohnung holen.«

Fjodor Michejitsch legte sofort die Geige aufs Fensterbrett, verbeugte sich zuerst vor mir, als dem Gast, dann vor der Alten und zuletzt vor Radilow und ging hinaus.

»Der war auch einmal Gutsbesitzer«, fuhr mein neuer Bekannter, fort, »sogar ein reicher, aber er hat sich ruiniert und lebt jetzt bei mir … Zu seiner Zeit galt er aber als ein Hauptkerl im ganzen Gouvernement; zwei Frauen hat er ihren Männern entführt, hat sich einen Sängerchor gehalten und auch selbst meisterhaft gesungen und getanzt … Aber ist Ihnen vielleicht ein Schnäpschen gefällig? Das Essen steht ja schon auf dem Tisch.«

Ein junges Mädchen, dasselbe, das ich flüchtig im Garten gesehen hatte, trat ins Zimmer.

»Ah, da ist ja die Olja!« bemerkte Radilow, den Kopf leicht zur Seite wendend. »Ich empfehle sie Ihrem Wohlwollen … Nun wollen wir zu Tisch.«

Wir begaben uns ins Eßzimmer und nahmen Platz. Während wir aus dem Gastzimmer gingen und Platz nahmen, sang Fjodor Michejitsch, dem nach der Belohnung die Äuglein glänzten und die Nase leicht gerötet war: »Siegesdonner soll erschallen!« Man hatte für ihn in einem Winkel auf einem kleinen Tischchen ohne Serviette eigens gedeckt. Der arme Alte zeichnete sich durch keine besondere Reinlichkeit aus, und darum hielt man ihn immer in einiger Entfernung von der Gesellschaft. Er bekreuzigte sich, seufzte auf und fing an zu essen wie ein Haifisch. Das Mittagessen war in der Tat nicht schlecht und lief, da es Sonntag war, nicht ohne zitterndes Gelee und spanischen Wind (ein Backwerk) ab. Während des Essens erging sich Radilow, der an die zehn Jahre in einem Infanterieregiment gedient und den türkischen Feldzug mitgemacht hatte, in Erzählungen; ich hörte ihm aufmerksam zu und beobachtete verstohlen Olga. Sie war nicht sehr hübsch; aber ihr energischer und ruhiger Gesichtsausdruck, ihre breite weiße Stirne, das dichte Haar, besonders ihre braunen, kleinen, aber klugen, leuchtenden und lebhaften Augen würden wohl auch auf jeden anderen an meiner Stelle Eindruck gemacht haben. Es schien mir, als verfolgte sie jedes Wort Radilows, wobei ihr Gesicht nicht Teilnahme, sondern eine leidenschaftliche, gespannte Aufmerksamkeit ausdrückte; Radilow konnte dem Alter nach ihr Vater sein; er sagte zu ihr ›du‹, aber ich begriff sofort, daß sie nicht seine Tochter sei. Im Laufe des Gesprächs erwähnte er seine verstorbene Frau. »Ihre Schwester …«, fügte er hinzu, auf Olga weisend. Sie errötete rasch und schlug die Augen nieder. Radilow schwieg eine Weile und brachte das Gespräch auf andere Dinge. Die Alte sprach während der ganzen Mahlzeit kein einziges Wort; sie aß selbst nichts und bot auch mir nichts an. Ihre Gesichtszüge atmeten eine gewisse furchtsame und hoffnungslose Erwartung, jene Alterstrauer, die das Herz des Beobachters so schmerzvoll zusammenpreßt. Gegen Ende der Mahlzeit begann Fjodor Michejitsch ein Loblied auf die Gastgeber und auf den Gast zu singen, aber Radilow sah mich an und bat ihn zu schweigen; der Alte fuhr sich mit der Hand über die Lippen, zwinkerte mit den Augen, verbeugte sich und setzte sich wieder, jetzt aber auf den äußersten Rand des Stuhles. Nach dem Essen begab ich mich mit Radilow in sein Kabinett.

Menschen, die dauernd und stark von einem Gedanken oder von einer Leidenschaft in Anspruch genommen sind, haben alle etwas Gemeinsames, eine eigentümliche äußere Ähnlichkeit im Benehmen, wie verschieden sonst ihre Eigenschaften; Fähigkeiten, ihre Stellung in der Welt und ihre Erziehung auch sein mögen. Je länger ich Radilow beobachtete, um so mehr gewann ich den Eindruck, daß er gerade zu solchen Menschen gehöre. Er sprach von der Landwirtschaft, von der Ernte, vom Heuschlag, vom Krieg, vom Klatsch des Landkreises und von den bevorstehenden Wahlen; er sprach ungezwungen, sogar mit Teilnahme, seufzte aber oft plötzlich auf und ließ sich in seinen Sessel sinken wie ein von schwerer Arbeit ermüdeter Mensch, wobei er sich mit der Hand übers Gesicht fuhr. Seine warme und gute Seele schien ganz von einem Gedanken durchdrungen und erfüllt zu sein. Mich wunderte, daß ich bei ihm keinerlei Leidenschaft entdecken konnte, weder fürs Essen noch fürs Trinken, weder für die Jagd noch für die Kursker Nachtigallen, noch für die an der Fallsucht leidenden Tauben, noch für die russische Literatur, noch für Paßgänger, noch für ungarische Joppen, noch für Karten- oder Billardspiel, noch für Tanzabende, noch für Fahrten in die Gouvernements- und Residenzstädte, noch für Papier- und Zuckerfabriken, noch für buntbemalte Gartenpavillons, noch für Tee, noch für die sich beinahe unnatürlich biegenden Troikapferde, noch für die dicken Kutscher, die ihre Gürtel fast unter den Achseln trugen, für die großartigen Kutscher, bei, denen, Gott weiß warum, die Augen sich bei jeder Bewegung des Halses verdrehen und heraustreten … Was ist denn das für ein Gutsbesitzer!, dachte ich mir. Indessen spielte er durchaus nicht einen düsteren und mit seinem Schicksal unzufriedenen Menschen; im Gegenteil, sein ganzes Wesen atmete ein wahlloses Wohlwollen, Leutseligkeit und eine fast beleidigende Neigung, sich jedem Menschen, der ihm in den Weg kam, anzubiedern. Allerdings hatte man zu gleicher Zeit das Gefühl, daß er gar nicht imstande sei, sich jemandem in wahrer Freundschaft anzuschließen, und das nicht etwa, weil er keiner Menschen bedurfte, sondern weil sein ganzes Leben für eine Zeitlang nach innen gekehrt war. Wenn ich Radilow genauer betrachtete, konnte ich ihn mir unmöglich glücklich denken, weder jetzt noch überhaupt einmal. Schön war er auch nicht; aber in seinem Blick, in seinem Lächeln, in seinem ganzen Wesen war etwas außerordentlich Anziehendes verborgen, im buchstäblichen Sinn: verborgen. Man hatte unwillkürlich den Wunsch, ihn näher kennenzulernen, ihn liebzugewinnen. Allerdings kehrte er zuweilen doch den Gutsbesitzer und Steppenbewohner heraus; aber er war dennoch ein prächtiger Mensch.

Wir waren eben in ein Gespräch über den neuen Kreis-Adelsmarschall gekommen, als plötzlich hinter der Tür Olgas Stimme erklang: »Der Tee ist aufgetragen.«

Wir gingen ins Gastzimmer. Fjodor Michejitsch saß wie früher in seinem Winkelchen zwischen dem Fenster und der Tür, die Beine bescheiden eingezogen. Radilows Mutter strickte einen Strumpf. Durch die offenen Fenster zogen aus dem Garten herbstliche Frische und der Duft von Äpfeln herein. Olga schenkte geschäftig den Tee ein. Ich betrachtete sie jetzt aufmerksamer als beim Mittagessen. Sie sprach überhaupt sehr wenig, wie alle Provinzmädchen, aber man merkte an ihr wenigstens nicht das Bestreben, unbedingt etwas Gutes zu sagen, das sich gewöhnlich mit einem qualvollen Gefühl innerer Leere und Ohnmacht paart; sie seufzte nicht wie im Überschwang unaussprechlicher Empfindungen, rollte nicht die Äugen, lächelte nicht träumerisch und rätselhaft. Sie blickte ruhig und gleichgültig wie ein Mensch, der von einem großen Glück oder einer großen Erregung ausruht. Ihr Gang und ihre Bewegungen waren energisch und frei. Sie gefiel mir sehr gut.

Ich kam mit Radilow wieder ins Gespräch. Ich weiß nicht mehr, wie wir auf die bekannte Bemerkung kamen, daß oft die unbedeutendsten Dinge auf den Menschen einen größeren Eindruck machen als die wichtigsten.

»Ja«, sagte Radilow, »das habe ich an mir selbst erfahren. Sie wissen, ich war verheiratet. Nicht lange … drei Jahre; meine Frau starb an einer Geburt. Ich glaubte, ich würde sie nicht überleben; ich war furchtbar betrübt, wie erschlagen, konnte aber nicht weinen, ich ging immer wie betäubt umher. Man hatte sie, wie es sich gehört, eingekleidet und auf den Tisch gelegt, hier in diesem selben Zimmer. Es kam der Geistliche; es kamen auch die Küster, sie fingen an zu singen, zu beten und zu räuchern; ich verneigte mich vor dem Sarg bis zur Erde, und doch kam mir keine einzige Träne. Mein Herz war wie versteinert, auch der Kopf, ich war ganz schwer geworden. So verging der erste Tag. Werden Sie es mir glauben? Nachts schlief ich sogar ein. Am anderen Morgen ging ich zu meiner Frau ins Zimmer – es war im Sommer, die Sonne beleuchtete sie vom Kopf bis zu den Füßen so furchtbar hell. Plötzlich sah ich …«

Radilow fuhr hier unwillkürlich zusammen.

»Was glauben Sie? Eines ihrer Augen war nicht ganz geschlossen, und auf diesem Auge ging eine Fliege auf und ab… Ich fiel hin wie eine Garbe, und als ich zu mir kam, fing ich zu weinen an, ich weinte, weinte und konnte gar nicht aufhören …«

Radilow verstummte. Ich sah ihn an und dann Olga … Niemals vergesse ich ihren Gesichtsausdruck. Die Alte hatte den Strickstrumpf auf den Schoß gelegt, aus dem Strickbeutel ein Taschentuch geholt und wischte sich verstohlen die Augen. Fjodor Michejitsch stand plötzlich auf, ergriff seine Geige und stimmte mit heiserer, wilder Stimme ein Lied an. Er wollte uns offenbar zerstreuen; wir fuhren aber alle beim ersten Ton zusammen, und Radilow bat ihn aufzuhören.

»Übrigens«, fuhr er fort, »was geschehen, ist geschehen; das Vergangene läßt sich nicht mehr umkehren, und schließlich … alles ist in dieser Welt doch zum Besten, wie es, wenn ich nicht irre, Voltaire gesagt hat«, fügte er schnell hinzu.

»Ja«, entgegnete ich, »gewiß. Außerdem kann man jedes Unglück ertragen, und es gibt keine so schlimme Lage, aus der man sich nicht befreien könnte.«

»Glauben Sie?« bemerkte Radilow. »Nun, vielleicht haben Sie recht. Ich erinnere mich noch, wie ich in der Türkei halbtot im Hospital lag: Ich hatte das Faulfieber. Nun, die Einrichtung war nicht schön, natürlich, es war ja Krieg – man mußte auch so Gott danken! Plötzlich bringt man uns noch mehr Kranke – wo soll man die hinlegen? Der Arzt läuft hin und her – es ist kein Platz da. So geht er auf mich zu und fragt den Feldscher: ›Lebt er?‹ Jener antwortete: ›Am Morgen lebte er noch.‹ Der Arzt beugte sich über mich und hörte, daß ich noch atmete. Der gute Mann konnte sich nicht beherrschen. ›Ist die Natur aber dumm!« sagte er. ›Der Mensch wird doch sterben, wird unbedingt sterben, aber er zieht es noch in die Länge und pfeift auf dem letzten Loch, nimmt nur den anderen den Platz weg.‹ – Schlecht steht es mit dir, Michailo Michailowitsch, denke ich mir… Und doch bin ich genesen und lebe noch heute, wie Sie zu sehen belieben. Folglich haben Sie recht.«

»Ich habe in jedem Fall recht«, entgegnete ich: »Wären Sie sogar gestorben, so wären Sie immerhin aus Ihrer schlimmen Lage befreit.«

»Natürlich, natürlich«, fügte er hinzu und schlug heftig mit der Hand auf den Tisch. »Es kostet nur den Entschluß… Was hat man von seiner elenden Lage…? Warum soll man zögern, die Sache in die Länge ziehen …

Olga erhob sich rasch und ging in den Garten.

»Nun, Fedja, ein Tanzlied!« rief Radilow.

Fedja sprang auf, ging einmal durchs Zimmer mit jenem gezierten, besonderen Gang, wie die bekannte ›Ziege‹ neben dem Tanzbären einhergeht, und fing zu singen an: »Vor dem Tor, vor unserm Tor …«

Draußen vor der Treppe rasselte ein Jagdwagen, und nach einigen Augenblicken trat ein großgewachsener, breitschultriger und korpulenter Greis, der Einhöfer Owsjanikow, ins Zimmer… Owsjanikow ist aber eine so bemerkenswerte und originelle Person, daß wir mit Erlaubnis des Lesers von ihm in einem anderen Abschnitt sprechen wollen. Jetzt will ich von mir aus nur noch hinzufügen, daß ich mich am nächsten Tag in aller Frühe mit Jeriaolai auf die Jagd begab und von der Jagd nach Hause zurückkehrte; daß ich nach acht Tagen wieder Radilow aufsuchte, aber weder ihn noch Olga zu Hause antraf, und daß ich nach zwei Wochen erfuhr, er sei plötzlich verschwunden, habe seine Mutter verlassen und sei mit seiner Schwägerin irgendwohin weggereist. Das ganze Gouvernement geriet in Aufregung und sprach nur noch von diesem Ereignis, und nun begriff ich erst den Ausdruck in Olgas Gesicht während der Erzählung Radilows. Es hatte damals nicht nur Mitleid gezeigt, sondern war auch in Eifersucht erglüht.

Vor meiner Abreise in die Stadt besuchte ich die alte Mutter Radilows. Ich fand sie im Gastzimmer sitzend; sie spielte mit Fjodor Michejitsch Schafskopf.

»Haben Sie Nachrichten von Ihrem Sohn?« fragte ich sie schließlich.

Die Alte brach in Tränen aus. Ich fragte sie nicht mehr nach Radilow.


Der Einhöfer Owsjanikow


Geneigter Leser, stellt euch einen vollen, hochgewachsenen, etwa siebzigjährigen Mann vor mit einem Gesicht, das einige Ähnlichkeit mit dem Gesicht Krylows hat, einem hellen und klugen Blick unter überhängenden Brauen, einer wichtigen Haltung, einer gemessenen Redeweise und langsamen Bewegungen: Da habt ihr den Owsjanikow. Er trug einen weiten blauen Rock mit langen Ärmeln, bis oben zugeknöpft, ein lila Seidentuch um den Hals und blankgeputzte Stiefel mit Troddeln; er sah überhaupt eher wie ein wohlhabender Kaufmann aus. Er hatte schöne, weiche und weiße Hände und pflegte beim Sprechen oft an die Knöpfe seines Rockes zu greifen. Owsjanikow erinnerte mich durch sein wichtiges Wesen und seine Unbeweglichkeit, seinen scharfen Verstand und seine Faulheit, seine Offenherzigkeit und seine Hartnäckigkeit an die russischen Bojaren der vorpetrinischen Zeit … Die Bojarentracht. würde ihm sehr gut stehen. Er war einer der letzten Männer der alten Zeit. Alle Nachbarn achteten ihn hoch und hielten es für eine Ehre, mit ihm zu verkehren. Seine Standesgenossen, die anderen Einhöfer, beteten ihn beinahe an, zogen die Mützen schon, wenn sie ihn aus der Ferne sahen, und waren stolz auf ihn. Im allgemeinen ist es bei uns auch heute noch schwer, einen Einhöfer von einem Bauern zu unterscheiden: Seine Wirtschaft sieht beinahe noch schlechter aus als eine Bauerwirtschaft; seine Kälber kommen gar nicht aus dem Buchweizenfeld heraus, die Pferde sind kaum noch lebendig, das Pferdegeschirr besteht aus Stricken. Owsjanikow bildete eine Ausnahme von dieser allgemeinen Regel, obwohl er nicht als reich galt. Er lebte mit seiner Frau allein in einem gemütlichen, sauberen Häuschen, hielt sich nur wenige Dienstboten, kleidete sie alle russisch und nannte sie Knechte. Sie pflügten ihm auch sein Land. Er gab sich nicht für einen Edelmann aus, spielte nicht den Gutsbesitzer, vergaß sich nie, setzte sich niemals auf die erste Aufforderung hin und stand beim Erscheinen eines jeden neuen Gastes unbedingt auf, aber mit solcher Würde, mit einer solchen majestätischen Leutseligkeit, daß der Gast sich vor ihm unwillkürlich tief verbeugte. Owsjanikow beobachtete die alten Sitten nicht aus Aberglauben (er hatte eine ziemlich freie Gesinnung), sondern aus Gewohnheit. Er liebte z.B. keine Federequipagen, die er unbequem fand, und fuhr entweder in einer Jagddroschke oder in einem hübschen kleinen Wägelchen mit einem Lederkissen und lenkte selbst seinen guten braunen Traber. (Er hielt sich nur braune Pferde.) Der Kutscher, ein junger Bursche mit roten Backen, mit rundgeschnittenem Haar, saß in einem blauen Mantel und einer niederen Lammfellmütze, mit einem Riemen umgürtet; respektvoll an seiner Seite. Owsjanikow schlief immer nach dem Essen, ging des Sonnabends ins Dampfbad, las ausschließlich Bücher geistlichen Inhalts (wobei er sich mit großer Würde eine runde silberne Brille auf die Nase setzte), ging früh zu Bett und stand früh auf. Seinen Bart rasierte er sich jedoch und trug das Haar nach deutscher Mode. Seine Gäste empfing er überaus freundlich und herzlich, verbeugte sich aber nicht allzu tief vor ihnen, zeigte keine übertriebene Geschäftigkeit und traktierte sie nicht mit allerlei Gedörrtem und Eingesalzenem. »Frau!« pflegte er langsam, ohne von seinem Platz aufzustehen und den Kopf leicht zu ihr wendend, zu sagen. »Bring doch den Herren etwas Leckeres.« Er hielt es für Sünde, Korn, die Gabe Gottes, zu verkaufen, und verschenkte im Jahre 1840 bei der großen Hungersnot und Teuerung seinen ganzen Vorrat an die benachbarten Gutsbesitzer und Bauern; im nächsten Jahr zahlten sie ihm diese Schuld mit Dank in natura zurück. An Owsjanikow wandten sich oft die Nachbarn mit der Bitte, ihre Streitigkeiten zu schlichten, sie miteinander zu versöhnen; sie fügten sich fast immer seinem Urteilsspruch und folgten seinem Rat. Viele Grenzstreitigkeiten waren dank ihm endgültig erledigt … Aber nach zwei oder drei Zusammenstößen mit Gutsbesitzerinnen erklärte er, daß er sich weigere, je wieder eine Vermittlung zwischen Personen weiblichen Geschlechts zu übernehmen. Er konnte keinerlei Eile, Hast, Weibergeschwätz und Getue ertragen. Einmal brach in seinem Haus Feuer aus. Der Knecht lief zu ihm atemlos herein und schrie: »Es brennt! Es brennt!«

»Aber warum schreist du so?« entgegnete Owsjanikow ruhig: »Gib mir mal meine Mütze und meinen Stock.«

Er liebte es, selbst seine Pferde einzufahren. Einmal sauste ein hitziger Bitjuk einen Berg hinunter, auf einen Graben zu, »Hör doch auf, hör doch auf, du dummes Füllen, du schlägst dich noch tot!« sagte Owsjanikow gutmütig zu ihm; einen Augenblick später flog er mit dem Jagdwagen, mit dem Jungen, der rückwärts saß, und mit dem Pferd in den Graben. Zum Glück lag auf dem Grund des Grabens ein Sandhaufen. Niemand nahm Schaden, nur der Bitjuk verrenkte sich ein Bein. »Nun siehst du es«, fuhr Owsjanikow mit ruhiger Stimme fort, vom Boden aufstehend, »ich habe es dir doch gesagt!«

Auch eine Frau hatte er sich gewählt, die zu ihm paßte. Tatjana Iljinitschna Owsjanikowa war eine großgewachsene, ernste und schweigsame Frau und trug immer ein braunseidenes Kopftuch. Es ging von ihr eine Kälte aus, obwohl sich niemand über ihre Strenge beklagen durfte; im Gegenteil: Viele arme Leute nannten sie ihre Mutter und Wohltäterin. Die regelmäßigen Gesichtszüge, die großen dunklen Augen und die feinen Lippen zeugten auch jetzt noch von ihrer einst berühmten Schönheit. Kinder hatte Owsjanikow nicht.

Ich lernte ihn, wie es der Leser schon weiß, bei Radilow kennen und fuhr schon zwei Tage später zu ihm. Ich traf ihn zu Hause. Er saß in einem großen Ledersessel und las in der Heiligenlegende. Eine graue Katze schnurrte auf seiner Schulter. Er empfing mich nach seiner Gewohnheit freundlich und mit Würde. Wir kamen ins Gespräch.

»Luka Petrowitsch, sagen Sie mir doch die Wahrheit«, fragte ich unter anderem. »Früher, zu Ihrer Zeit, war es doch besser?«

»Manches war wirklich besser, das muß ich Ihnen schon sagen«, entgegnete Owsjanikow, »das Leben war ruhiger, man war zufriedener, das stimmt… Jetzt ist es aber doch besser, und Ihre Kinder werden es noch besser haben, so Gott will.«

»Ich hätte aber erwartet, Luka Petrowitsch, daß Sie mir die alte Zeit loben würden.«

»Nein, ich habe keinen besonderen Grund, die alte Zeit zu loben. Sie sind z. B. ein Gutsbesitzer, der gleiche Gutsbesitzer wie Ihr seliger Großvater, aber Sie haben nicht mehr die Gewalt, die jener gehabt hat! Auch sind Sie ein ganz anderer Mensch. Allerdings werden wir jetzt auch von anderen Herren unterdrückt; anders geht es wohl nicht. Es wird aber schon einmal alles in Ordnung kommen. Nein, jetzt bekomme ich nicht mehr die Dinge zu sehen, an denen ich mich in meiner Jugend satt gesehen habe.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Nehmen wir wiederum Ihren Großvater. Das war ein großmächtiger Herr, unsereins hatte von ihm viel zu leiden. Sie kennen vielleicht – wie sollten Sie Ihr Land nicht kennen? – den Keil, der von Tscheplygino nach Malinino geht…? Sie haben darauf Hafer angebaut… Dieses Stück gehört ja Ihnen, gehört ganz Ihnen. Ihr Großvater hat es aber uns weggenommen; er kam geritten, zeigte mit der Hand, sagte: ›Das ist mein Besitz!‹ und eignete sich das Stück an. Mein verstorbener Vater, Gott hab' ihn selig, war ein gerechter und hitziger Mensch, der wollte es nicht dulden – wer hat auch Lust, sein Eigentum zu verlieren? – und reichte eine Klage bei Gericht ein. Nur er allein tat es, die anderen gingen nicht zu Gericht, sie fürchteten sich. So wurde Ihrem Großvater gemeldet, daß Pjotr Owsjanikow wegen des weggenommenen Stückes Land eine Klage gegen ihn eingereicht habe. .. Ihr Großvater schickte zu uns sofort seinen Oberjäger Bausch mit einem Kommando: Sie nahmen meinen Vater und führten ihn auf Ihr Erbgut. Ich war damals noch ein kleiner Junge und lief ihnen barfuß nach. Und was geschah …? Man führte ihn vor Ihr Haus und züchtigte ihn vor den Fenstern mit Ruten. Ihr Großvater stand auf dem Balkon und sah zu; die Großmutter saß am Fenster und sah ebenfalls zu. Mein Vater schrie: ›Mütterchen, Marja Wassiljewna, nehmen Sie sich meiner an, erbarmen Sie sich meiner !‹ Sie aber beugte sich zum Fenster hinaus und sah zu. So nahm er meinem Vater das Wort ab, daß er sich von seinem Besitz lossage, und er mußte sich bei Ihrem Großvater noch bedanken, daß er ihn lebendig laufen ließ. So blieb das Stück Land Ihnen. Gehen Sie mal hin und fragen Sie Ihre Bauern, wie das Stück Land heißt. Es heißt Prügelfeld, weil es mit Prügeln weggenommen wurde. Also dürfen wir kleinen Leute die alte Zeit nicht beweinen.«

Ich wußte nicht, was ich Owsjanikow antworten sollte, und wagte ihm nicht ins Gesicht zu schauen.

»Um die gleiche Zeit hatten wir auch noch einen anderen Nachbarn, Stepan Niktopolionytsch Komow. Der hatte meinen Vater fast zu Tode gequält, wenn auch auf eine andere Manier. Er war ein Trunkenbold und liebte Trinkgelage zu veranstalten. Wenn er mal getrunken hat, so sagt er auf französisch: ›C'est bon‹, leckt sich die Lippen und fängt zu fluchen an, daß man alle Heiligen hinaustragen könnte. Und er schickt Einladungen zu allen Nachbarn. Die Troikas standen bei ihm schon fertig; und wenn man nicht hinfährt, so kommt er zu einem gleich selbst ins Haus … War ein so merkwürdiger Mensch! Im nüchternen Zustand log er niemals, wenn er aber betrunken war, so pflegte er zu erzählen, daß er in Petersburg auf der Fontanka drei Häuser habe: ein rotes mit einem Schornstein, ein gelbes mit zwei Schornsteinen und ein blaues ganz ohne Schornsteine; auch habe er drei Söhne (dabei war er niemals verheiratet gewesen): Der eine sei bei der Infanterie, der andere bei der Kavallerie und der dritte sei ganz für sich … Und er sagte, daß in jedem seiner Häuser ein Sohn von ihm wohne; den ältesten besuchten lauter Admirale, den zweiten lauter Generale und den dritten lauter Engländer! So erhebt er sich von seinem Platz und ruft: ›Auf das Wohl meines ältesten Sohnes, der ist der respektvollste!‹ und bricht in Tränen aus. Und wenn jemand sich weigert zu trinken, so gibt's ein Unglück. ›Ich werde dich totschießen!‹ sagt er: ›Und werde nicht erlauben, dich zu beerdigen …!‹ Oder er springt auf und schreit: ›Tanz, du Volk Gottes, zu deinem Vergnügen und mir zum Trost!‹ Und dann muß man tanzen; wenn man daran auch stirbt, muß man tanzen. Seine leibeigenen Mädeln hatte er fast zu Tode gequält. Oft mußten sie die ganze Nacht bis zum Morgen im Chor singen, und die die höchsten Töne singen konnte, bekam eine Belohnung. Wenn sie aber müde wurden, legte er den Kopf in die Hände und fing zu jammern an: ›Ach, ich armes Waisenkind! Alle haben mich verlassen!‹ Die Stallburschen mußten die Mädchen sofort durch Schläge ermuntern. Mußte ihm gerade mein Vater gefallen: Was kann man da machen? Er hätte meinen Vater beinahe ins Grab gebracht, hätte es wirklich getan, aber der starb Gott Sei Dank von selbst: fiel einmal betrunken vom Taubenschlag herunter … Ja, solche Nachbarn haben wir damals gehabt!«

»Wie sich die Zeiten doch verändert haben!« bemerkte ich.

»Ja, ja«, bestätigte Owsjanikow. »Aber das muß man schon sagen: In alten Zeiten lebten die Edelleute viel prachtvoller. Von den Magnaten spreche ich schon gar nicht: In Moskau habe ich von ihnen genug gesehen. Man sagt, die seien jetzt auch dort ausgestorben.«

»Sind Sie in Moskau gewesen?«

»Ja, vor langer, sehr langer Zeit. Ich stehe jetzt im dreiundsiebzigsten Jahr, und nach Moskau kam ich, als ich im sechzehnten war.«

Owsjanikow seufzte auf.

»Wen haben Sie dort gesehen?«

»Viele Magnaten habe ich gesehen, und jeder hat sie gesehen; sie führten ein offenes Haus und lebten in Pracht und zum Erstaunen aller. Nur die Pracht des verstorbenen Grafen Alexej Grigorjewitsch Orlow-Tschesmenskij erreichte niemand. Ich sah ihn aber oft: Mein Onkel diente bei ihm als Haushofmeister. Der Graf geruhte auf der Schabolowka am Kaluga-Tor zu wohnen. Das war ein Magnat! Diese Würde, diese freundliche Leutseligkeit kann man sich gar nicht vorstellen, kann sie auch nicht schildern. Schon sein Wuchs allein, seine Kraft, sein Blick! Solange du ihn nicht kennst und bei ihm noch nicht warst, fürchtest du dich und hast eine Scheu vor ihm; trittst du aber bei ihm ein, so ist es dir, als wärme dich die Sonne, und du wirst auf einmal lustig. Jeden Menschen ließ er vor und war von allem Liebhaber. Beim Pferderennen lenkte er selbst und fuhr mit jedem um die Wette; niemals überholte er einen gleich zu Anfang, kränkte niemand auf diese Weise; wenn er einen überholte, so tat er es erst dicht vor dem Ziel; dabei war er so freundlich, er tröstete seinen Gegner und lobte sein Pferd. Tauben hielt er sich von der ersten Sorte. Manchmal kommt er in den Hof hinunter, setzt sich in den Sessel und gibt den Befehl, die Tauben auffliegen zu lassen; auf den Dächern ringsum stehen aber Leute mit Gewehren gegen die Habichte. Zu Füßen des Grafen steht ein silbernes Becken mit Wasser, und er schaut auf die Spiegelung seiner Täubchen im Wasser. Die Armen und Bettler lebten zu Hunderten von seinem Brot … Und wieviel Geld hat er ausgeteilt! Wenn er aber zornig wird, so ist es, als dröhnte der Donner. Man zittert vor Angst, kann sich aber hinterher nicht beklagen: Eh man sich's versieht, lächelt er schon wieder! Wenn er ein Gastmahl gibt, so ist ganz Moskau betrunken …! Und dabei war er so klug! Er war es ja, der den Türken schlug. Er liebte auch zu ringen; man brachte zu ihm starke Männer aus Tula, aus Charkow, aus Tambow, von überallher. Wenn er wen besiegt, so belohnt er ihn; und wenn ihn der andere besiegt, so überschüttet er ihn förmlich mit Geschenken und küßt ihn auf den Mund. Als ich in Moskau war, veranstaltete er ein Hunderennen, wie man es in Rußland noch nicht gesehen hatte: Alle Hundeliebhaber aus dem ganzen Reiche lud er zu sich ein; er bestimmte den Tag und gab ihnen drei Monate Zeit. So kamen sie zusammen. Sie brachten eine Menge Hunde und Leibjäger mit, wie ein ganzes Heer sah es aus! Zuerst zechten sie, wie es sich gehört, und zogen dann vor die Stadt. Eine Unmenge von Leuten versammelte sich da …! Und was glauben Sie …? Eine Hündin Ihres Großvaters besiegte alle anderen.«

»War es nicht die Milowidka?« fragte ich.

»Ja, die Milowidka, die Milowidka … Der Graf fing an, ihn zu bitten: ›Verkauf mir deinen Hund, ich zahle dir, was du willst.‹ – ›Nein, Graf‹, sagte jener, ›ich bin kein Händler: Ich werde auch den unnützesten Lappen nicht verkaufen; um meinen Respekt zu bezeugen, bin ich bereit, meine Frau abzutreten, nur nicht die Milowidka … Eher würde ich mich selbst in Knechtschaft begeben.‹ Alexej Grigorjewitsch lobte ihn dafür und sagte: ›Das gefällt mir!‹ Ihr Großvater brachte dann die Hündin in seiner Equipage nach Hause; und als die Milowidka einging, ließ er sie im Garten mit Musik begraben und setzte der Hündin einen Stein mit einer Inschrift.«

»Alexej Grigorjewitsch tat also doch niemand was zuleide«, bemerkte ich.

»Es ist ja immer so: Nur wer selbst im seichten Wasser schwimmt, der greift die anderen an.«

»Und was für ein Mensch war dieser Bausch?« fragte ich nach einigem Schweigen.

»Wie kommt es, daß Sie von der Milowidka gehört haben und von Bausch nichts …? Es war der Jägermeister und Oberaufseher der Hunde Ihres Großvaters. Er war ein ganz toller Kerl, und was ihm Ihr Großvater auch befahl, führte er sofort aus, und wenn es auch aufs Messer gehen sollte … Wenn er die Hunde hetzte, so widerhallte es im ganzen Wald. Manchmal wurde er trotzig, stieg vom Pferd und legte sich auf die Erde … Sobald die Hunde seine Stimme nicht mehr hörten, so war es aus! Sie verließen die frischeste Spur und waren um nichts in der Welt weiterzubringen. Da geriet Ihr Großvater in Zorn: »Ich will nicht leben bleiben, wenn ich diesen Taugenichts nicht aufhänge! Ich will diesem Antichrist das Fell über die Ohren ziehen! Ich will diesem Mörder die Fersen durch die Gurgel ziehen!‹ Und die Sache endete damit, daß er zu ihm schickte und fragen ließ, warum er die Hunde nicht mehr antreibe? Bausch verlangte in solchen Fällen gewöhnlich Branntwein; er trank, stand auf und schrie wieder durch den Wald.«

»Sie lieben wohl sehr die Jagd, Luka Petrowitsch?«

»Ich liebte sie wohl … aber jetzt nicht mehr. Jetzt ist meine Zeit vorbei – aber in meinen jungen Jahren … Wissen Sie, es geht auch nicht gut meines Standes wegen. Mit den Edelleuten darf sich unsereins nicht messen. Es kommt zwar vor, daß ein Trinker und Taugenichts aus unserem Stand sich den Herren anbiedert … aber was hat er davon? Er tut sich nur Schande an. Man gibt ihm ein schlechtes Pferd, das jeden Augenblick stolpert; jeden Augenblick wirft man ihm die Mütze vom Kopf; man haut mit der Peitsche, als wollte man das Pferd treffen, und trifft ihn; er muß aber immer lachen und auch die anderen lachen machen. Nein, das muß ich sagen: Je niedriger der Stand, um so strenger muß man sich halten, sonst beschmutzt man nur seine Ehre.

Ja«, fuhr Owsjanikow mit einem Seufzer fort, »viel Wasser ist ins Meer geflossen, seitdem ich auf der Welt lebe. Es sind andere Zeiten angebrochen. Besonders bei dem Adel sehe ich große Veränderungen. Die Kleinbegüterten sind fast alle im Staatsdienst gewesen oder sitzen nicht auf einem Ort; die Großbegüterten kann man überhaupt nicht wiedererkennen. Bei Schlichtung von Grenzstreitigkeiten habe ich genug von diesen Großbegüterten gesehen. Und ich muß Ihnen sagen, das Herz freut sich einem im Leibe, wenn man sie ansieht: Sie sind leutselig und höflich. Aber eines erscheint mir erstaunlich: Alle Wissenschaften haben sie studiert, sie sprechen so vernünftig, daß man Andacht empfindet, aber von wirklichen Geschäften verstehen sie nichts, sogar für ihre eigenen Vorteile haben sie kein Verständnis; ihr eigener leibeigener Verwalter biegt sie, wohin er will. Sie kennen vielleicht den Alexander Wladimirowitsch Koroljow: Ist doch ein richtiger Edelmann? Ist ein hübscher Kerl, reich, hat auf der Universität studiert, ist, glaube ich, auch im Ausland gewesen, spricht schön, fließend, bescheiden, drückt jedem die Hand. Kennen Sie ihn? Also hören Sie einmal. In der vorigen Woche kamen wir auf Einladung des Vermittlungsrichters Nikifor Iljitsch in Berjosowka zusammen. Und der Vermittlungsrichter Nikifor Iljitsch sagt zu uns: ›Meine Herren, man muß doch endlich die Grenzen ziehen, es ist eine Schande, unser Bezirk ist hinter den anderen zurückgeblieben; machen wir uns ans Werk.‹ Und so machten wir uns ans Werk. Es begannen Gespräche, Streitigkeiten, wie es immer so geht; unser Bevollmächtigter fing an, Schwierigkeiten zu machen. Aber den ersten Krach machte Porfirij Owtschwinnikow … Warum macht bloß der Mann einen solchen Krach …? Er selbst besitzt keinen Zoll Erde; er handelt nur im Auftrag seines Bruders. Er schreit: ›Nein! Mich werdet ihr nicht anführen! Ihr seid an den Unrechten geraten! Die Pläne her! Gebt mir den Feldmesser, diesen Christusverkäufer her!‹ – ›Aber was fordern Sie eigentlich?‹ – ›Ihr glaubt wohl, einen Narren gefunden zu haben? Ihr glaubt wohl, ich werde euch gleich meine Forderung herzeigen …? Nein, gebt erst die Pläne her, das fordere ich!‹ Und dabei schlägt er mit der Hand auf die Pläne. Die Marfa Dmitrijewna hat er bis aufs Blut beleidigt. Jene schreit: ›Wie unterstehen Sie sich, meinen Ruf anzutasten?‹ – ›Ihren Ruf‹, sagt er ihr, ›wünsche ich meiner braunen Stute nicht.‹ Mit Mühe brachte man ihn durch Madeira zur Vernunft. Kaum hatte man ihn beruhigt, so fingen die anderen an, Krach zu machen. Alexander Wladimirowitsch Koroljow sitzt im Winkel, kaut an dem Knopf seines Stockes und schüttelt nur den Kopf. Ich schämte mich so, daß ich am liebsten davongelaufen wäre. Was wird sich wohl dieser Mensch von uns denken? Da sehe ich: Mein Alexander Wladimirowitsch richtet sich auf und tut so, als ob er sprechen wollte. Der Vermittlungsrichter ist ganz aufgeregt und sagt: ›Meine Herren, meine Herren, Alexander Wladimirowitsch will sprechen!‹ Das muß man den Edelleuten lassen: Alle wurden sofort still. So fing Alexander Wladimirowitsch zu sprechen an und sagte: »Wir haben wohl vergessen, wozu wir uns versammelt haben. Die Feldvermessung ist zwar für die Gutsbesitzer vorteilhaft, aber wozu hat man sie eigentlich eingeführt? Doch nur, damit es der Bauer leichter habe, damit er bequemer arbeiten und seinen Pflichten besser nachkommen könne; jetzt kennt er aber selbst seinen Besitz nicht und fährt oft fünf Werst weit, um zu pflügen – und das kann man ihm gar nicht zum Vorwurf machen.« Dann sagte Alexander Wladimirowitsch, es wäre eine Sünde, wenn der Gutsbesitzer sich nicht um den Wohlstand seiner Bauern kümmere, und daß, wenn man es ordentlich betrachte, ihre Vorteile auch die unsrigen seien: Wenn sie es gut hätten, so hätten wir es auch gut, und wenn sie es schlimm hätten, so hätten wir es auch schlimm … daher sei es sündhaft und unvernünftig, sich wegen Bagatellen zu streiten . .. Und er redete und redete . .. aber so, daß es einen zu Tränen rührte. Die Edelleute ließen alle die Nasen hängen; mir selbst kamen beinahe die Tränen. Mein Ehrenwort, selbst in alten Büchern findet man solche Reden nicht. .. Und womit das endete? Er selbst wollte vier Desjatinen moosiges Moorland weder abtreten noch verkaufen. Er sagte: »Ich will den Sumpf mit meinen eigenen Leuten trockenlegen und eine Tuchfabrik mit allerlei Verbesserungen darauf gründen. Ich habe«, sagte er, »schon den Platz gewählt, ich habe meine eigenen Erwägungen.« … »Wenn das wenigstens wahr gewesen wäre, aber die Sache war einfach die, daß der Nachbar Alexander Wladimirowitschs, Anton Karassikow, zu geizig war, dem Koroljowschen Verwalter hundert Rubel in Assignaten zu schenken. So gingen wir auseinander, ohne die Sache erledigt zu haben. Aber Alexander Wladimirowitsch glaubt auch heute noch, im Recht zu sein, und redet immer von seiner Tuchfabrik; doch mit der Trockenlegung des Sumpfes fängt er gar nicht an.«

»Wie verwaltet er denn sein Gut?«

»Er führt lauter Neuerungen ein. Die Bauern sind mit ihm nicht zufrieden, aber auf sie soll man nicht hören. Alexander Wladimirowitsch tut recht.«

»Wie ist es nun, Luka Petrowitsch? Ich glaubte, Sie seien mehr für die alte Zeit?«

»Ich bin doch etwas ganz anderes. Ich bin weder Edelmann noch Gutsbesitzer. Was bedeutet meine ganze Wirtschaft … ? Ich verstehe es auch nicht anders. Ich bemühe mich nur, nach Recht und Gesetz zu handeln, und danke dafür Gott! Die jüngeren Herren lieben die alte Ordnung nicht: Ich lobe sie … Es ist Zeit, zur Vernunft zu kommen. Aber leider klügeln die jungen Herren zuviel. Sie behandeln den Bauern wie eine Puppe: Sie wenden ihn hin und her, zerbrechen ihn und werfen ihn dann fort. Aber der leibeigene Verwalter oder der deutsche Gutsinspektor bekommt den Bauer wieder in seine Klauen. Wenn doch wenigstens einer von den jungen Herren mit dem Beispiel voranginge, wie man handeln solle …! Womit wird das alles enden? Werde ich denn wirklich sterben, ohne die neue Ordnung erlebt zu haben …? Wie ist das zu erklären: Das Alte ist ausgestorben, und das Neue will nicht kommen.«

Ich wußte nicht, was ich Owsjanikow antworten sollte. Er sah sich um rückte näher zu mir und fuhr leise fort: »Haben Sie schon von Wassilij Nikolajewitsch Ljuboswonow gehört?«

»Nein, nichts.«

»Erklären Sie mir bitte dieses Wunder. Ich kann es gar nicht begreifen. Seine eigenen Bauern haben es mir erzählt, aber ich kann daraus nicht klug werden. Sie wissen doch, er ist ein junger Mann und hat vor kurzem erst seine Mutter beerbt. Er kommt also auf sein Erbgut gefahren. Die Bauern versammeln sich, um ihren neuen Herrn zu sehen. Wassilij Nikolajewitsch kommt zu ihnen heraus. Die Bauern sehen – welch ein Wunder! – der Herr geht wie ein Kutscher in einer Plüschhose herum und trägt Stiefel mit einer Borte; hat sich ein rotes Hemd angezogen und einen Kutscherrock; den Bart hat er sich stehenlassen, trägt auf dem Kopf ein merkwürdiges Mützchen, und auch das Gesicht ist so merkwürdig; betrunken ist er wohl nicht, scheint aber nicht ganz bei Verstand zu sein. ›Grüß Gott, Kinder!‹ sagt er ihnen. ›Grüß Gott!‹ Die Bauern verbeugen sich vor ihm bis zur Erde, sagen aber kein Wort: So eingeschüchtert sind sie, wissen Sie. Und auch er selbst scheint schüchtern zu sein. Und er hält eine Rede: ›Ich bin Russe‹, sagt er, ›und auch ihr seid Russen; ich liebe alles Russische … Ich habe eine russische Seele und auch russisches Blut …‹ Und plötzlich kommandiert er: ›Nun, Kinder! Jetzt singt mir mal ein russisches, völkisches Lied!‹ Den Bauern zittern die Knie; sie sind ganz närrisch geworden. Einer, der etwas kühner war, fing wohl zu singen an, hockte sich aber gleich hin und versteckte sich hinter den anderen. Am meisten muß man sich darüber wundern: Wir haben wohl früher auch solche Gutsbesitzer gehabt, Tollköpfe und lustige Brüder; sie kleideten sich fast wie Kutscher, spielten die Gitarre, sangen und tranken mit ihrem Hofgesinde, mit ihren Leibeigenen; dieser Wassilij Nikolajewitsch ist aber wie ein junges Mädchen: Immer liest er in seinen Büchern oder schreibt oder sagt laut Gedichte auf – spricht mit keinem Menschen, geht allen aus dem Wege, spaziert immer im Garten und scheint sich zu langweilen oder zu grämen. Der frühere Verwalter hatte anfangs große Angst: Vor der Ankunft Wassilij Nikolajewitschs hatte er alle Bauernhäuser besucht und sich vor allen gebückt: Die Katze wußte wohl, wessen Fleisch sie gefressen hatte. Auch die Bauern hofften und dachten sich: »Jetzt ist es aus mit dir, Bruder! Man wird dich schon zur Verantwortung ziehen; nun wirst du tanzen, du Halsabschneider …!‹ Und was kam statt dessen heraus? Wie soll ich es Ihnen sagen. Der liebe Gott wird selbst nicht klug daraus, was da herauskam! Wassilij Nikolajewitsch ließ den Verwalter zu sich kommen und sagte ihm, ganz rot im Gesicht und vor Aufregung schnell atmend: ›Sei du mir gerecht, bedrücke niemand, hörst du es?‹ Und seit diesem Tag hat er ihn nicht mehr zu sich berufen! Auf seinem eigenen Erbgut lebt er wie ein Fremder. Der Verwalter hat sich also wieder beruhigt; die Bauern wagen sich aber gar nicht an Wassilij Nikolajewitsch heran, solche Angst haben sie. Und das ist auch erstaunlich: Der Herr grüßt sie und blickt sie freundlich an, und doch haben sie vor Furcht Magenkrämpfe. Was sind das für Wunder, Väterchen, erklären Sie es mir …? Ich bin entweder so dumm geworden oder zu alt, aber ich verstehe es nicht.«

Ich antwortete Owsjanikow, Herr Ljuboswonow sei wahrscheinlich krank.

»Ach was, krank! Er ist so breit wie lang und hat auch ein volles Gesicht. Gott sei mit ihm, obwohl er noch jung ist … Übrigens, Gott weiß!« Owsjanikow seufzte tief auf.

»Nun, lassen wir die Edelleute«, begann ich. »Was können Sie mir von den Einhöfern erzählen, Luka Petrowitsch?«

»Das müssen Sie mir erlassen«, versetzte er schnell. »Wirklich … ich würde Ihnen schon manches erzählen … aber wozu!« Owsjanikow machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wollen wir lieber Tee trinken … Sie sind Bauern, die reinen Bauern; aber, um die Wahrheit zu sagen, was sollen wir anderes sein?«

Er verstummte. Man brachte uns Tee. Tatjana Iljinitschna stand von ihrem Platz auf und setzte sich näher zu uns heran. Im Laufe des Abends war sie einige Male geräuschlos aus dem Zimmer gegangen und ebenso geräuschlos zurückgekehrt. Im Zimmer trat Schweigen ein. Owsjanikow trank ernst und langsam eine Tasse nach der anderen.

»Mitja war heute bei uns«, bemerkte Tatjana Iljinitschna mit leiser Stimme.

Owsjanikow runzelte die Stirn.

»Was will er denn?«

»Er kam um Verzeihung bitten.«

Owsjanikow schüttelte den Kopf.

»Ich bitte Sie«, fuhr er an mich gewandt fort. »Was soll man mit seinen Verwandten anfangen? Sich von ihnen lossagen kann man doch auch nicht … Da hat auch mich der liebe Gott mit einem Neffen gesegnet. Der Junge hat einen guten Kopf, ist aufgeweckt, das muß man ihm lassen; hat auch gut gelernt, aber ich werde doch nichts Gescheites von ihm erleben. Er war früher im Staatsdienst, hat aber den Dienst aufgesteckt; er sagt, er hätte da nicht vorwärtskommen können … Ist er denn ein Edelmann? Auch einen Edelmann befördert man doch nicht gleich zum General. So lebt er jetzt ohne Beschäftigung … Damit könnte man sich noch abfinden, aber er ist ein Denunziant geworden! Er verfaßt für die Bauern Bittschriften, schreibt Anzeigen, belehrt die Dorfvorsteher, bezichtigt die Feldmesser, schleppt sich in den Kneipen umher, verkehrt mit Kleinbürgern und Gastwirten. Wie leicht kann da ein Unglück geschehen! Die Land- und Kreispolizisten haben ihm schon mehr als einmal gedroht. Aber er versteht zu seinem Glück, Witze zu machen; er bringt sie zum Lachen und brockt ihnen dann eine Suppe ein … Hör mal, sitzt er nicht jetzt bei dir in der Kammer?« fügte er, an seine Frau gewandt, hinzu: »Ich kenne dich ja – du bist so weichherzig und hast ihn sicher in Schutz genommen.«

Tatjana Iljinitschna schlug die Augen nieder, lächelte und errötete.

»Also richtig!« fuhr Owsjanikow fort. »Ach, du Schelmin! Nun, sag ihm, er soll hereinkommen, unserem teuren Gaste zu Ehren will ich dem Dummkopf verzeihen … Nun, sag es ihm, sag es ihm …«

Tatjana Iljinitschna ging zur Tür und rief: »Mitja!«

Mitja, ein Bursche von etwa, achtundzwanzig Jahren, groß, schlank und lockig, trat ins Zimmer und blieb, als er mich sah, vor der Schwelle stehen. Er trug deutsche Kleidung, aber die unnatürlich großen Puffen an den Schultern waren ein klarer Beweis dafür, daß der Rock nicht nur von einem russischen, sondern von einem allrussischen Schneider zugeschnitten worden war.

»Nun, komm näher, komm näher«, begann der Alte. »Was schämst du dich? Danke deiner Tante: Es ist dir vergeben … Hier, Väterchen, ich stelle ihn Ihnen vor«, fuhr er fort, auf Mitja weisend; »ist zwar nicht mein leiblicher Neffe, aber ich kann mit ihm gar nicht fertig werden. Es sind die letzten Zeiten angebrochen!«

Wir begrüßten einander.

»Nun sag, was hast du wieder angestellt? Warum beklagt man sich über dich, erzähle!«

Mitja hatte offenbar keine Lust, in meiner Gegenwart Erklärungen abzugeben und sich zu entschuldigen.

»Später, Onkelchen«, murmelte er.

»Nein, nicht später, sondern jetzt gleich«, fuhr der Alte fort. »Ich weiß, du schämst dich vor dem Herrn Gutsbesitzer – um so besser, dies sei deine Strafe. Also erzähl nur, erzähl… Wir wollen es hören.«

»Ich brauche mich nicht zu schämen«, begann Mitja lebhaft und schüttelte den Kopf. »Urteilen Sie doch selbst, Onkelchen. Da kommen zu mir die Reschetilowschen Einhöfer und sagen: ›Bruder, nimm dich unser an.‹ – ›Was gibt's denn?‹ – ›Unsere Kornmagazine sind in bester Ordnung, wie man es sich gar nicht besser wünschen kann; plötzlich kommt zu uns ein Beamter und sagt, er hätte den Befehl, die Magazine zu besichtigen. Er besichtigt sie und sagt, unsere Magazine seien nicht in Ordnung, er hätte wichtige Vernachlässigungen festgestellt und sei verpflichtet, es der Obrigkeit zu melden. – Worin bestehen denn die Vernachlässigungen? – Das weiß ich schon, sagt er … Wir versammelten uns und beschlossen, dem Beamten, wie es sich gehört, ein Geschenk zu machen; aber der alte Prochorytsch hinderte uns daran und sagte, so mache man den Beamten nur Appetit… Und in der Tat: Ist man denn gegen so einen Beamten ganz wehrlos …? Wir hörten auf den Alten, der Beamte wurde aber böse und reichte eine Klage ein. Jetzt zieht man uns zur Verantwortung.‹ – ›Sind denn eure Magazine wirklich in Ordnung?‹ frage ich sie. – ›Gott sei unser Zeuge, alles ist in Ordnung, und auch die gesetzliche Menge Korn ist vorhanden…‹ – ›In diesem Falle‹, sage ich, ›braucht ihr nicht zu verzagen.« Und ich setzte ihnen ein Papier auf… Es ist noch unbekannt, zu wessen Gunsten die Sache sich entscheiden wird… Und daß man mich bei dieser Gelegenheit bei Ihnen verklagt hat, ist doch sehr verständlich: Jedem ist das Hemd näher als der Rock.«

»Jedem, dir aber wohl nicht«, sagte der Alte halblaut, »und was hast du für Geschichten mit den Schutolomowschen Bauern?«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Ich weiß es eben.«

»Auch hier bin ich im Recht, urteilen Sie doch selbst. Den Schutolomowschen Bauern hat der Nachbar Bespandin vier Desjatinen Land weggepflügt. Er sagt: ›Es ist mein Land.‹ Die Schutolomowschen sind auf Erbzins gesetzt, ihr Gutsbesitzer ist im Ausland, wer kann für sie eintreten – urteilen Sie doch selbst? Das Land gehört aber ihnen unstreitig seit ewigen Zeiten. So kamen sie zu mir und baten: »Schreib uns ein Gesuch.‹ Ich schrieb es ihnen. Als Bespandin es erfuhr, fing er mir zu drohen an: ›Ich werde diesem Mitja die Hinterbeine aus den Gelenken herausreißen oder auch den Kopf von den Schultern abtrennen…‹ Nun, wir wollen mal sehen, wie er ihn mir abtrennen wird; mein Kopf ist noch immer ganz.«

»Nun, prahle nur nicht: Dein Kopf wird kein gutes Ende nehmen «, versetzte der Alte. »Du bist ein ganz verrückter Mensch!«

»Wie ist es nun, Onkelchen, haben Sie mir denn nicht selbst gesagt. ..«

»Ich weiß, ich weiß, was du mir sagen willst«, unterbrach ihn Owsjanikow. »Es stimmt: Der Mensch soll in Gerechtigkeit leben und seinem Nächsten helfen. Es kommt vor, daß er auch nicht an sich selbst denken darf… Handelst du denn so? Führt man dich denn nicht in die Schenke? Gibt man dir nicht zu trinken, verbeugt man sich nicht vor dir und sagt: ›Dimitrij Alexejitsch, Väterchen, hilf uns, wir werden dir schon unseren Dank wissen !‹ und steckt dir einen Silberrubel oder einen blauen Schein in die Hand? Kommt denn das nie vor? Sag, kommt das nie vor?«

»Diese Schuld muß ich wirklich bekennen«, antwortete Mitja und senkte die Augen. »Aber von den Armen nehm' ich nichts und handele nie gegen mein Gewissen.«

»Jetzt nimmst du nichts, wenn es dir aber selbst schlecht gehen wird, so wirst du auch von den Armen nehmen. D« handelst nie gegen dein Gewissen … ach, du! Du trittst wohl für lauter Heilige ein …! Und den Borjka Perechodow hast du wohl vergessen…? Wer hat sich für ihn verwandt, wer hat ihn in Schutz genommen? Wie?«

»Perechodow hat sein Unglück verdient, das stimmt…«

»Er hat Staatsgelder veruntreut. .. Das ist ein Spaß!« »Bedenken Sie doch nur, Onkelchen: seine Armut, die Familie…« »Armut, Armut… Er ist ein Trinker, ein Spieler, das ist es!« »Er fing doch nur aus Not zu trinken an«, bemerkte Mitja, die Stimme senkend.

»Aus Not! Nun, dann hättest du ihm helfen sollen, wenn du schon so ein hitziges Herz hast, aber nicht mit dem betrunkenen Menschen in Schenken herumsitzen. Daß er schön zu sprechen versteht, ist noch kein Wunder!«

»Er ist aber ein herzensguter Mensch …«

»Alle sind bei dir herzensgut… Sag mal«, fuhr Owsjanikow, an seine Frau gewandt, fort, »hat man ihm geschickt… du weißt schon, was… ?«

Tatjana Iljinitschna nickte mit dem Kopf.

»Wo hast du diese Tage gesteckt?« begann der Alte wieder.

»Ich war in der Stadt.«

»Hast wohl immer Billard gespielt, Tee getrunken, auf der Gitarre geklimpert, dich in den Amtsstuben herumgetrieben, in den Hinterkämmerchen Gesuche aufgesetzt, mit den Kaufmannssöhnchen promeniert! Es ist doch so . .. ? Antworte!«

»Sie haben vielleicht recht«, sagte Mitja mit einem Lächeln. »Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen: Anton Parfenytsch Funtikow läßt Sie für Sonntag zum Essen bitten.«

»Ich will nicht zu diesem Dickwanst fahren. Er wird einen Fisch zu hundert Rubel vorsetzen und dazu ranzige Butter geben. Ich will von ihm nichts wissen!«

»Ich habe auch Fedosja Michailowna getroffen.«

»Was für eine Fedosja?«

»Die vom Gutsbesitzer Garpentschenko, desselben, der Mikulino bei der Auktion gekauft hat. Diese Fedosja ist aus Mikulino. Sie hat in Moskau gegen Zins als Näherin gelebt und pünktlich, einhundertzweiundachtzig und einen halben Rubel im Jahr Zins bezahlt … Sie versteht ihre Sache und hat in Moskau gute Aufträge gehabt. Jetzt hat Garpentschenko sie kommen lassen und hält sie bei sich, ohne ihr eine Beschäftigung zuzuweisen. Sie wäre bereit, sich freizukaufen, und hat es auch dem Herrn gesagt, er hat aber noch keine Entscheidung getroffen. Onkelchen, Sie sind doch mit dem Garpentschenko bekannt, können Sie nicht ein Wort für sie einlegen …? Die Fedosja will aber ein anständiges Lösegeld zahlen.«

»Vielleicht mit deinem Geld? Wie? Nun gut, ich will es ihm sagen. Ich weiß aber nicht«, fuhr der Alte mit unzufriedener Miene fort. »Dieser Garpentschenko ist, Gott verzeih' es mir, ein Schacherjude: Er kauft Wechsel zusammen, gibt Geld auf Wucherzinsen, erwirbt Güter unter dem Hammer … Wer hat ihn nur in unsere Gegend gebracht? Oh, diese Zugereisten! Man wird von ihm nicht so leicht etwas erreichen, aber ich will es dennoch versuchen.«

»Bemühen Sie sich doch, Onkelchen.«

»Gut, ich will mich bemühen. Aber paß auf, paß auf! Verteidige dich nur nicht… Gott sei mit dir…! Sieh dich in Zukunft vor, sonst wirst du ein schlimmes Ende nehmen, Mitja, bei Gott… Ich kann dich doch nicht immer auf meinen Schultern tragen … Ich habe auch keinen solchen Einfluß. Jetzt geh mit Gott.«

Mitja ging hinaus. Tatjana Iljinitschna folgte ihm.

»Gib ihm Tee, du Schelmin!« rief ihr Owsjanikow nach. »Ist gar kein dummer Bursche«, fuhr er fort, »hat auch ein gutes Herz, aber ich fürchte für ihn . .. Entschuldigen Sie übrigens, daß ich Sie solange mit diesen Dummheiten unterhalten habe.«

Die Vorzimmertür ging auf. Ins Zimmer trat ein kleiner grauhaariger Mann in einem Samtröckchen.

»Ah, Franz Iwanytsch!« rief Owsjanikow. »Guten Tag, wie geht es Ihnen?«

Gestatten Sie mir, lieber Leser, Sie auch mit diesem Menschen bekannt zu machen.

Franz Iwanytsch Lejeune, mein Nachbar und Orjolscher Gutsbesitzer, hatte den Ehrentitel eines russischen Edelmanns auf eine nicht ganz gewöhnliche Weise erlangt. Er war zu Orleans von französischen Eltern geboren und als Tambour, mit Napoleon zur Eroberung Rußlands ausgezogen. Anfangs ging alles wie geschmiert, und unser Franzose zog mit stolz erhobenem Haupt in Moskau ein. Aber auf dem Rückzug fiel der arme Monsieur Lejeune halb erfroren und ohne seine Trommel Smolensker Bauern in die Hände. Die Smolensker Bauern sperrten ihn für die Nacht in eine leere Walkmühle ein, führten ihn am nächsten Morgen zum Loch im Eise neben dem Mühlendamm und baten den Tambour ›de la grrrande armée‹ ihnen das Vergnügen zu machen und unter das Eis zu tauchen. Monsieur Lejeune konnte auf ihren Vorschlag nicht eingehen und begann seinerseits die Smolensker Bauern in französischem Dialekt zu bitten, ihn nach Orleans ziehen zu lassen. »Dort, Messieurs«, sagte er, »habe ich eine Mutter wohnen, une tendre mère.« Aber die Bauern, die wohl die geographische Lage der Stadt Orleans nicht kannten, fuhren fort, ihm die Fahrt unter dem Wasser, den windungsreichen Fluß Gnilotjorka hinunter, zu empfehlen; sie ermunterten ihn dazu schon durch leichte Rippen- und Nackenstöße, als plötzlich zur unbeschreiblichen Freude Lejeunes Schellengeläute erklang und ein ungeheurer Schlitten mit buntem Teppich auf dem übertrieben erhöhten Rücksitz, mit drei hellbraunen Wjatkaschen Pferden bespannt, auf dem Damm erschien. Im Schlitten saß ein dicker, rotbäckiger Gutsbesitzer in einem Wolfspelz.

»Was macht ihr da?« fragte er die Bauern.

»Wir ertränken den Franzosen, Väterchen.«

»Ah!« bemerkte gleichgültig der Gutsbesitzer und wandte sich weg.

»Monsieur! Monsieur!« schrie der Ärmste.

»Ah, ah!« begann der Mann im Wolfspelz vorwurfsvoll. »Mit zwölf Heidenvölkern bist du nach Rußland gezogen, hast Moskau verbrannt, du Verruchter, hast das Kreuz vom Iwan-Glockenturm geraubt, und jetzt winselst du: Mosjö, Mosjö! und hast den Schwanz eingezogen. Es geschieht dir ganz recht … Filjka, fahr zu!«

Die Pferde zogen an. »Übrigens, halt!« fügte der Gutsbesitzer hinzu. »He, du, Mosjö, verstehst du Musik zu machen?«

»Sauvez-moi, sauvez-moi, mon bon monsieur!« jammerte Lejeune.

»Ist das ein Volk! Keiner von ihnen versteht auch nur ein Wort Russisch! Mjusik, Mjusik, saweh mjusik wu? Saweh? Sprich doch! Kompreneh? Saweh mjusik wu? Auf dem Piano schue saweh?« Lejeune begriff endlich, was der Gutsbesitzer von ihm wollte, und begann bejahend mit dem Kopf zu nicken.

»Oui, monsieur, oui, oui, je suis musicien; je joue tous les instruments possibles! Oui, monsieur … Sauvez-moi, monsieur!«

»Du kannst deinem Gott danken«, entgegnete der Gutsbesitzer. »Kinder, laßt ihn los … da habt ihr zwanzig Kopeken für Schnaps.«

»Danke, Väterchen, danke. Nehmen Sie ihn nur!«

Man setzte Lejeune in den Schlitten. Er konnte vor Freude kaum atmen, er weinte, zitterte, verbeugte sich, dankte dem Gutsbesitzer, dem Kutscher, den Bauern. Er hatte nur eine grüne Unterjacke mit rosa Bändern an, der Frost war aber grimmig. Der Gutsbesitzer sah schweigend seine blau angelaufenen und erstarrten Glieder an, hüllte den Unglücklichen in seinen eigenen Pelz und brachte ihn nach Hause. Das Gesinde lief zusammen. Man beeilte sich, den Franzosen zu wärmen, zu füttern und anzukleiden. Der Gutsbesitzer führte ihn zu seinen Töchtern.

»Hier, Kinder«, sagte er, »da habe ich euch einen Lehrer gefunden. Ihr habt mir keine Ruhe gelassen: »Laß uns in Musik und in der französischen Sprache unterrichten;‹ da habt ihr einen: Er ist Franzose und versteht auch Piano zu spielen … Nun, Mosjö«, fuhr er fort, auf ein elendes Piano zeigend, das er vor fünf Jahren einem Juden abgekauft hatte, der sonst übrigens mit Eau de Cologne handelte, »zeig uns deine Kunst. Schue!«

Lejeune setzte sich mehr tot als lebendig auf den Stuhl: Er hatte in seinem Leben noch nie eine Taste angerührt.

»Schue, schue doch!« wiederholte der Gutsbesitzer.

Der Ärmste schlug verzweifelt in die Tasten wie auf eine Trommel und spielte aufs Geratewohl… »Ich hatte erwartet«, erzählte er später, »daß mein Retter mich am Kragen packen und aus dem Haus werfen würde.« Aber zum äußersten Erstaunen des unwillkürlichen Improvisators klopfte ihm der Gutsbesitzer nach einer Weile ermunternd auf die Schulter. »Gut, gut«, sagte er, »ich sehe, daß du es kannst; geh jetzt und ruh dich aus.«

Nach etwa zwei Wochen zog Lejeune von diesem Gutsbesitzer zu einem anderen, einem reichen und gebildeten Menschen. Dieser gewann ihn wegen seines lustigen und sanften Charakters lieb. Lejeune heiratete dessen Pflegetochter, trat in den Staatsdienst, erhielt den Adel, verheiratete seine Tochter mit dem Orjolschen Gutsbesitzer Lobysanjew, einem ehemaligen Dragoner und Dichter, und siedelte nach Orjol über.

Dieser selbe Lejeune oder Franz Iwanytsch, wie man ihn jetzt nennt, kam während meiner Anwesenheit zu Owsjanikow, mit dem er freundschaftliche Beziehungen unterhielt.

Dem Leser ist es vielleicht schon langweilig geworden, mit mir beim Einhöfer Owsjanikow zu sitzen, und darum verstumme ich.


Lgow


»Wollen wir doch mal nach Lgow fahren«, sagte mir einmal Jermolai, den meine Leser schon kennen, »wir können dort nach Herzenslust Enten schießen.«

Für den echten Jäger hat die Wildente zwar nichts besonders Anziehendes, aber in Ermangelung anderen Wildes (es war Anfang September; die Waldschnepfen waren noch nicht da, und den Rebhühnern auf den Feldern nachzulaufen, war mir zu dumm geworden) folgte ich dem Vorschlag meines Jägers und begab mich mit ihm nach Lgow.

Lgow ist ein großes Steppendorf mit einer sehr alten steinernen, einkuppeligen Kirche und zwei Mühlen an dem sumpfigen Flüßchen Rossota. Dieses Flüßchen verwandelte sich etwa fünf Werst von Lgow in einen breiten Teich, der an den Ufern und auch hier und da in der Mitte mit dichtem Schilf, das man im Orjolschen Gouvernement Maier nennt, bewachsen ist. Auf diesem Teiche, in den Buchten und den windstillen Verstecken zwischen dem Schilf brüteten und lebten zahllose Enten aller möglichen Gattungen: Krick-, Spieß-, Kriech-, Tauchenten usw. Kleine Ketten flogen jeden Augenblick über dem Wasser, bei einem Schuß aber erhoben sie sich in solchen Schwärmen, daß der Jäger unwillkürlich mit der Hand nach der Mütze griff und ›Ah!‹ ausrief. Ich ging mit Jermolai zuerst am Ufer entlang, aber die Enten sind erstens vorsichtige Vögel und halten sich niemals nahe am Ufer; zweitens, wenn schon eine zurückgebliebene und unerfahrene junge Kriechente getroffen wurde, so waren unsere Hunde gar nicht imstande, sie aus dem dichten Schilf zu holen: Trotz ihrer edlen Selbstaufopferung verstanden sie weder zu schwimmen noch zu waten und zerschnitten sich nur unnütz ihre kostbaren Nasen an den scharfen Rändern des Schilfes.

»Nein«, sagte endlich Jermolat, »so ist es nicht gut; wir müssen uns ein Boot verschaffen … Wollen wir nach Lgow zurückgehen.«

Wir kehrten auch um. Kaum hatten wir aber einige Schritte gemacht, als uns aus dem dichten Weidengebüsch ein ziemlich wertloser Hühnerhund entgegenlief; diesem folgte ein Mann von mittlerem Wuchs, in einem ziemlich abgeriebenen Rock, einer gelblichen Weste, einer Hose von Gris-de-laine- oder Bleu-d'amour-Farbe, die nachlässig in die zerrissenen Stiefel gesteckt war, mit einem roten Tuch um den Hals und einem einläufigen Gewehr hinter den Schultern. Während unsere Hunde mit dem ihrer Art eigenen chinesischen Zeremoniell die für sie neue Persönlichkeit beschnupperten, welche offenbar Angst hatte, den Schwanz einzog, die Ohren zurückwarf und, ohne die Knie zu biegen, sich zähnefletschend mit dem ganzen Körper herumdrehte, kam der Unbekannte auf uns zu und grüßte uns außerordentlich höflich. Dem Aussehen nach mochte er fünfundzwanzig Jahre alt sein; seine langen, dunkelblonden, stark mit Kwaß befeuchteten Haare bildeten unbewegliche Strähnen; die kleinen braunen Augen blinzelten freundlich; das ganze, mit einem schwarzen Tuch wie bei Zahnweh umbundene Gesicht lächelte süß.

»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle«, begann er mit weicher, einschmeichelnder Stimme; »ich bin der hiesige Jagdgehilfe Wladimir … Als ich von Ihrer Ankunft hörte und erfuhr, daß Sie an das Ufer unseres Teiches sich zu begeben geruhten, entschloß ich mich, wenn es Ihnen nicht unangenehm wäre, Ihnen meine Dienste anzubieten.«

Der Jagdgehilfe Wladimir sprach ganz wie ein junger Provinzschauspieler, der die Rollen der ersten Liebhaber spielt. Ich ging auf seinen Vorschlag ein und erfuhr, noch ehe wir Lgow erreichten, seine ganze Lebensgeschichte. Er war ein freigelassener Leibeigener, in seiner zartesten Jugend wurde er in Musik unterrichtet, war dann Kammerdiener gewesen, war des Lesens kundig, hatte, soviel ich bemerken konnte, einige Bücher gelesen und lebte jetzt, wie in Rußland viele Menschen leben, ohne einen Pfennig bares Geld, ohne eine ständige Beschäftigung, beinahe ausschließlich vom himmlischen Manna. Er drückte sich ungemein elegant aus und bildete sich nicht wenig auf seine Manieren ein; er war wohl auch ein schlimmer Schürzenjäger und hatte sicher Erfolg: Die russischen Mädchen lieben die Beredsamkeit. Unter anderem gab er mir zu verstehen, daß er zuweilen die Gutsbesitzer in der Nachbarschaft und auch die Bürger in der Stadt besuche, Préférence spiele und mit Personen aus den Residenzstädten verkehre. Er lächelte meisterhaft und mit großer Abwechslung; besonders gut stand ihm das bescheidene, reservierte Lächeln, das auf seinen Lippen spielte, wenn er fremden Reden lauschte. Er hörte einen an, stimmte vollkommen bei, verlor aber dabei doch nicht das Gefühl der eigenen Würde und gab einem gleichsam zu verstehen, daß auch er bei Gelegenheit seine eigene Ansicht aussprechen könne. Jermolai, der keinen übermäßigen Schliff hatte und durchaus nicht zart besaitet war, fing schon an, ihn zu duzen. Man muß das Lächeln gesehen haben, mit dem Wladimir ihm ›Sie‹ sagte.

»Warum haben Sie Ihr Gesicht mit einem Tuch umbunden« fragte ich ihn. »Haben Sie Zahnweh?«

»Nein«, antwortete er, »das ist eher eine verderbliche Folge der Unvorsichtigkeit. Ich hatte einen Freund, einen ganz guten Menschen, der aber durchaus kein Jäger war, wie es oft vorkommt. Eines Tages sagte er zu mir: ›Lieber Freund, nimm mich mal mit auf die Jagd; ich möchte gerne erfahren, worin dieses Vergnügen besteht.‹ Ich wollte es dem Freunde natürlich nicht abschlagen; ich verschaffte ihm meinerseits ein Gewehr und nahm ihn mit auf die Jagd. Wir jagten eine Zeitlang, wie es sich gehört, und wollten schließlich etwas ausruhen. Ich setzte mich unter einen Baum; er aber fing seinerseits an, mit seinem Gewehr allerlei Griffe zu üben und auf mich zu zielen. Ich bat ihn, aufzuhören, aber infolge seiner Unerfahrenheit hörte er nicht auf mich. Der Schuß krachte, und ich verlor das Kinn und den Zeigefinger der rechten Hand.«

Wir kamen nach Lgow. Wladimir und Jermolai erklärten beide, daß man ohne ein Boot nicht jagen könne.

»Der Sutschok hat einen Dostschannik«, bemerkte Wladimir, »ich weiß aber nicht, wo er ihn versteckt hat. Man müßte zu ihm hinüberlaufen.«

»Zu wem?« fragte ich.

»Hier wohnt ein Mann mit dem Namen Sutschok.«

Wladimir begab sich mit Jermolai zu Sutschok. Ich sagte ihnen, daß ich sie bei der Kirche erwarten würde. Indem ich die Gräber auf dem Kirchhof besah, stieß ich auf eine vierkantige, schwarz gewordene Urne mit folgenden Inschriften – auf der einen Seite stand in französischen Lettern: ›Ci gît Théophile-Henri, vicomte de Blangy‹, auf der anderen: ›Unter diesem Steine ruht der Leib des französischen Untertanen, Grafen von Blangyus, geboren im Jahre 1737, gestorben im Jahre 1799, im Alter von 62 Jahren‹, auf der dritten: ›Friede seiner Asche‹, auf der vierten:


›Hier unter diesem Steine liegt ein Emigrant Aus Frankreich; gleich berühmt durch Adel und Verstand. Ach, lange mußte er um die gemord'ten Seinen Wie um sein Vaterland, das wüstgelegte, weinen! Dann zog er eiligst fort, ging Rußlands Grenzen nach Und fand im Alter hier ein gastfreundliches Dach. Hier lehrt' er Kinder, gab den Eltern Trost und Frieden, Nun hat der höchste Herr ihm Frieden hier beschieden.‹


Das Erscheinen Jermolais, Wladimirs und des Mannes mit dem seltsamen Namen Sutschok (Ästchen) unterbrach meine Betrachtungen.

Der barfüßige, zerlumpte und zerzauste Sutschok schien ein ehemaliger Hofknecht und etwa sechzig Jahre alt zu sein.

»Hast du ein Boot?« fragte ich ihn.

»Ich habe ein Boot«, antwortete er mit dumpfer und gebrochener Stimme, »aber es ist gar zu schlecht.«

»Wieso?«

»Es ist aus dem Leim gegangen; alle Nieten sind aus den Löchern herausgefallen.«

»Ein großes Unglück!« fiel ihm Jermolai ins Wort. »Man kann die Löcher mit Werg verstopfen.«

»Natürlich kann man das«, bestätigte Sutschok.

»Wer bist du denn?«

»Der herrschaftliche Fischer.«

»Was bist du für ein Fischer, wenn dein Boot kaputt ist?«

»In unserem Fluß gibt's ja auch keine Fische.«

»Die Fische lieben kein Sumpfwasser«, bemerkte mein Jagdgehilfe mit Wichtigkeit.

»Gut«, sagte ich zu Jermolai, »geh mal hin, treib etwas Werg auf und bring uns das Boot in Ordnung, aber schnell!«

Jermolai ging.

»So werden wir vielleicht gar untergehen?« fragte ich Wladimir.

»Gott ist gnädig«, antwortete er. »Jedenfalls muß man annehmen, daß der Teich nicht tief ist.«

»Er ist nicht tief«, bemerkte Sutschok, der eigentümlich, wie verschlafen, sprach, »aber auf dem Grund ist Schlamm und Gras, er ist ganz mit Gras verwachsen und hat auch Untiefen.«

»Wenn es so viel Gras gibt«, wandte Wladimir ein, »so wird man gar nicht rudern können.«

»Wer rudert auch auf einem Dostschannik? Man stößt einfach. Ich fahre mit Ihnen mit; ich habe eine Stange dabei, man kann es auch mit einer Schaufel machen.«

»Mit einer Schaufel geht es nicht gut, an mancher Stelle kann man vielleicht gar nicht den Grund erreichen«, sagte Wladimir.

»Das stimmt, es geht nicht gut.«

In Erwartung Jermolais setzte ich mich auf einen Grabhügel. Wladimir trat des Anstandes wegen etwas auf die Seite und setzte sich ebenfalls. Sutschok blieb auf demselben Fleck stehen, den Kopf auf die Brust gesenkt und die Hände nach alter Gewohnheit im Rücken.

»Sag bitte«, begann ich, »bist du schon lange hier Fischer?«

»Es ist das siebente Jahr«, antwortete er zusammenfahrend.

»Und was hast du früher getrieben?«

»Früher fuhr ich als Kutscher.«

»Wer hat dich dann zum Fischer degradiert?«

»Die neue Herrin.«

»Was für eine Herrin?«

»Die uns gekauft hat. Sie kennen sie nicht: Aljona Timofejewna, so eine dicke … nicht mehr jung.«

»Warum fiel es ihr ein, dich zu einem Fischer zu ernennen?«

»Das weiß Gott allein. Sie kam zu uns aus ihrem Erbgut, aus Tambow gefahren, ließ das ganze Hofgesinde versammeln und trat zu uns heraus. Wir küßten ihr erst die Hand, sie sagte nichts, nahm es nicht übel… Dann fing sie an, uns der Reihe nach auszufragen, wer sich womit beschäftigt, wer welches Amt versieht. Als die Reihe an mich kam, fragte sie: ›Was bist du gewesen?‹ Ich antwortete: ›Kutscher.‹ – ›Kutscher? Was bist du für ein Kutscher? Sieh dich nur an: Was bist du für ein Kutscher? Es paßt für dich gar nicht, Kutscher zu sein, du wirst bei mir Fischer sein und wirst dir den Bart abnehmen. Wenn ich herkomme, stellst du den Fisch für die herrschaftliche Tafel, hörst du es …?‹ Seit jener Zeit bin ich Fischer. ›Du sollst mir den Teich gut im Stande halten …‹ Wie soll ich ihn aber im Stande halten?«

»Wem habt ihr früher gehört?«

»Dem Sergej Sergejitsch Pechterew. Er hat uns geerbt. Aber er hat uns nicht lange besessen, im ganzen sechs Jahre. Bei dem war ich Kutscher … aber nicht in der Stadt, in der Stadt hatte er andere, sondern auf dem Land.«

»Bist du von Jugend auf immer Kutscher gewesen?«

»Ach wo, Kutscher! Kutscher bin ich erst bei Sergej Sergejitsch geworden, vorher war ich aber Koch, nicht in der Stadt, sondern auf dem Land.«

»Bei wem bist du Koch gewesen?«

»Beim früheren Herrn Afanassij Nefedytsch, dem Onkel Sergej Sergejitschs. Afanassij Nefedytsch hatte Lgow gekauft, und Sergej Sergejitsch hat das Gut geerbt.«

»Von wem hat er es gekauft?«

»Von Tatjana Wassiljewna.«

»Von was für einer Tatjana Wassiljewna?«

»Von der, die im vorigen Jahr bei Bolchowo gestorben ist, ich will sagen bei Karatschowo, als alte Jungfer … Die war niemals verheiratet gewesen. Haben Sie sie nicht gekannt? Wir kamen zu ihr von ihrem Vater Wassilij Semjonytsch. Sie hat uns lange besessen … an die zwanzig Jahre.«

»Nun, bist du bei ihr Koch gewesen?«

»Anfangs war ich wirklich Koch, dann machte sie mich zum Kaffeeschenken.«

»Zu was?«

»Zum Kaffeeschenken.«

»Was ist das für ein Amt?«

»Ich weiß es nicht, Väterchen. Ich war beim Büfett angestellt und wurde Anton und nicht Kusjma genannt. So hatte es die Gnädige zu befehlen geruht.«

»Ist dein richtiger Name Kusjma?«

»Ja, Kusjma.«

»Und bist du die ganze Zeit Kaffeeschenk gewesen?«

»Nein, nicht die ganze Zeit; ich war auch Schauspieler.«

»Wirklich?«

»Gewiß … ich spielte Theater. Unsere Gnädige hatte ein Theater eingeführt.«

»Was für Rollen hast du denn gespielt?«

»Wie meinen?«

»Was hast du auf dem Theater gemacht?«

»Wissen Sie es denn nicht? Man nimmt mich und kleidet mich an; so gehe ich angekleidet herum oder stehe oder sitze, wie es sich trifft. Man sagt mir: ›Sag dies und das‹, und ich sage es. Einmal stellte ich einen Blinden dar… Unter jedes Augenlid hat man mir eine Erbse gesteckt… Gewiß!«

»Und was bist du nachher gewesen?«

»Nachher wurde ich wieder Koch.«

»Warum hat man dich zum Koch degradiert?«

»Weil mein Bruder durchgebrannt war.«

»Und was bist du beim Vater deiner ersten Herrin gewesen?«

»Bei dem hatte ich verschiedene Ämter: Erst war ich Diener, dann Vorreiter, Gärtner, einmal auch Piqueur.«

»Piqueur …? Bist auch mit Hunden ausgeritten?«

»Bin auch mit Hunden ausgeritten, einmal stürzte ich aber mit dem Pferd, und das Pferd nahm Schaden. Der alte Herr war sehr streng: Er ließ mich mit Ruten züchtigen und nach Moskau zu einem Schuster in die Lehre bringen.«

»Wieso in die Lehre? Du warst doch wohl nicht als kleines Kind Piqueur geworden?«

»Ja, ich war einige und zwanzig.«

»Was ist es für eine Lehre mit zwanzig Jahren?«

»Das geht schon, wenn's der Herr befiehlt. Aber er starb zum Glück bald, und so kam ich wieder aufs Land.«

»Wann hast du denn die Kochkunst erlernt?«

Sutschok hob sein mageres gelbes Gesicht und lächelte.

»Braucht man denn das zu lernen …? Die Weiber kochen doch!«

»Nun«, sagte ich, »du hast schon manches erlebt, Kusjma! Was machst du nun als Fischer, wo es keine Fische gibt?«

»Ich kann mich nicht beklagen, Väterchen. Ich danke Gott, daß man mich zum Fischer gemacht hat. Einen anderen, einen ebenso alten Mann wie ich, Andrej Pupyrj, hat man in die Papierfabrik, an die Bütte gestellt, die Herrin hat es befohlen. Es sei Sünde, sein Brot umsonst zu essen… Pupyrj hatte aber auf Gnade gehofft: Sein Großneffe sitzt im herrschaftlichen Kontor als Kontorist; der hatte versprochen, es der Gnädigen zu melden, sie daran zu erinnern. So hat er sie daran erinnert…! Pupyrj hatte sich vor seinem Neffen bis zur Erde verbeugt, ich habe es selbst gesehen.«

»Hast du Familie? Bist du verheiratet gewesen?«

»Nein, Väterchen, niemals. Die selige Tatjana Wassiljewna, Gott schenke ihr ewige Ruhe, erlaubte niemandem zu heiraten. Gott bewahre! Sie pflegte zu sagen: ›Ich lebe doch auch unverheiratet, heiraten ist Dummheit! Was wollen die Leute?‹«

»Wovon lebst du denn jetzt? Bekommst du ein Gehalt?«

»Was für ein Gehalt, Väterchen … Ich kriege meine Verpflegung und muß auch dafür Gott danken! Ich bin sehr zufrieden. Gott schenke unserer Herrin ein langes Leben!«

Jermolai kam zurück.

»Das Boot ist in Ordnung«, sagte er düster. »Hol deine Stange, du!«

Sutschok lief nach der Stange. Während meines Gespräches mit dem armen Alten hatte der Jäger Wladimir ihn mit einem verächtlichen Lächeln angesehen.

»Ein dummer Mensch«, sagte er, als jener gegangen war, »ein durch und durch ungebildeter Mensch, ein Bauer und weiter nichts. Man kann ihn gar nicht als zum Hofgesinde gehörig ansehen … Er hat auch alles gelogen… Wie soll er Schauspieler gewesen sein, urteilen Sie doch selbst! Es war vergebliche Mühe, mit ihm zu sprechen.«

Nach einer Viertelstunde saßen wir schon in Sutschoks Flachboot. (Die Hunde hatten wir unter der Aufsicht des Kutschers Jehudiel in einem Haus zurückgelassen.) Wir hatten es nicht sehr bequem, aber die Jäger sind nicht wählerisch. Am hinteren stumpfen Ende stand Sutschok und ›stieß‹; ich und Wladimir saßen auf dem Querbänkchen; Jermolai hatte vorn an der äußersten Spitze Platz gefunden. Trotz des Werges befanden sich unsere Füße bald im Wasser. Zum Glück war es windstill, und der Teich lag wie schlafend da.

Wir bewegten uns langsam vorwärts. Der Alte hatte große Mühe,

aus dem zähen Schlamm seine lange Stange herauszuziehen, die ganz von den grünen Fäden der Wasserpflanzen umschlungen war; die dicht beieinander gedrängten runden Blätter der Sumpflilien hinderten auch die Bewegung unseres Bootes. Endlich erreichten wir das Schilf, und nun ging das Vergnügen los. Die Enten erhoben sich mit großem Lärm von der Teichoberfläche, durch unser plötzliches Erscheinen auf ihren Besitzungen erschrocken, und die Schüsse knallten ihnen nach. Es war lustig, zu sehen, wie die kurzschwänzigen Vögel sich in der Luft überschlugen und schwer auf das Wasser plumpsten. Wir konnten alle angeschossenen Enten natürlich nicht holen: Die leicht verwundeten tauchten unter; manche, die sofort getötet waren, fielen in einen so dichten Maier, daß selbst Jermolais Luchsaugen sie nicht entdecken konnten; dennoch füllte sich unser Boot um die Mittagsstunde bis an den Rand mit Wild.

Wladimir schoß, zum großen Trost Jermolais, gar nicht so vorzüglich; nach jedem Fehlschuß wunderte er sich, untersuchte seine Flinte, blies in den Lauf und erklärte uns schließlich den Grund, warum er fehlgeschossen habe. Jermolai schoß wie immer glänzend; ich, meiner Gewohnheit nach, ziemlich schlecht. Sutschok betrachtete uns mit den Augen eines Menschen, der von jung auf in herrschaftlichen Diensten steht; ab und zu rief er: »Da, da ist noch eine Ente!« und kratzte sich fortwährend den Rücken, aber nicht mit den Händen, sondern durch eine bloße Bewegung der Schulterblätter. Das Wetter war herrlich; weiße, runde Wolken schwebten langsam und hoch über unseren Köpfen dahin und spiegelten sich klar im Wasser; das Schilf rauschte um uns herum; der Teich glänzte stellenweise in der Sonne wie Stahl. Wir wollten schon ins Dorf zurückkehren, als wir plötzlich ein recht unangenehmes Abenteuer erlebten.

Wir hatten schon längst merken können, daß das Wasser allmählich in unser Flachboot hereinsickerte. Wladimir hatte den Auftrag, es mittels einer Schöpfkelle zu entfernen, die mein umsichtiger Jäger einem Bauernweib, das sich gerade auf etwas vergaffte, entwendet hatte. Die Sache ging ordentlich, solange Wladimir seine Pflicht nicht vernachlässigte. Aber gegen das Ende der Jagd stiegen die Enten wie zum Abschied in solchen Schwärmen auf, daß wir kaum Zeit hatten, unsere Gewehre zu laden. Im Eifer des Gefechts achteten wir nicht mehr auf den Zustand unseres Bootes, als plötzlich, infolge einer heftigen Bewegung Jermolais (er bemühte sich, einen erschossenen Vogel aus dem Wasser zu holen und beugte sich mit dem ganzen Körper über den Rand), unser altersschwaches Schiff sich auf die Seite neigte, sich mit Wasser füllte und feierlich sank, glücklicherweise an einer nicht tiefen Stelle. Wir schrien auf, aber es war schon zu spät. In einem Augenblick standen wir bis an den Hals im Wasser, umgeben von den schwimmenden Körpern der toten Enten. Heute kann ich mich nicht des Lachens enthalten, wenn ich an die erschrockenen und blassen Gesichter meiner Genossen zurückdenke (auch mein Gesicht zeichnete sich damals wohl kaum durch besondere Röte aus); aber damals kam es mir gar nicht in den Sinn, zu lachen. Ein jeder von uns hielt sein Gewehr über den Kopf, und Sutschok hob, wohl aus Gewohnheit, alles seinen Herren nachzumachen, seine Stange über den Kopf. Jermolai brach als erster das Schweigen.

»Verflucht!« murmelte er und spuckte ins Wasser. »Eine schöne Bescherung! Das hast du, alter Teufel, angestellt!« fügte er, wütend an Sutschok gewandt, hinzu. »Was hast du auch für ein Boot«

»Verzeihung!« stammelte der Alte.

»Auch du bist nett«, fuhr mein Jäger fort und wandte sein Gesicht Wladimir zu: »Wie hast du aufgepaßt? Warum hast du nicht das Wasser geschöpft? Du, du, du …«

Wladimir dachte aber gar nicht an eine Rechtfertigung: Er zitterte wie Espenlaub, seine Zähne klapperten, und er lächelte ganz blöde. Wo war jetzt seine Beredsamkeit, sein raffiniertes Anstandsgefühl, sein Bewußtsein der eigenen Würde!

Der verdammte Dostschannik schwankte leicht unter unseren Füßen … Im Augenblick des Schiffsunterganges kam uns das Wasser furchtbar kalt vor, aber wir gewöhnten uns bald daran. Als der erste Schreck vergangen war, sah ich mich um: Ringsum, zehn Schritte um uns, wuchs Schilf, in der Ferne, über den Spitzen des Schilfes war das Ufer zu sehen. Es ist schlimm, dachte ich mir.

»Was sollen wir anfangen?« fragte ich Jermolai.

»Das werden wir schon sehen; übernachten werden wir hier nicht«, antwortete er. »Du, halt mal das Gewehr«, sagte er zu Wladimir.

Jener gehorchte ohne Widerrede.

»Ich will gehen und eine Furt suchen«, fuhr Jermolai mit fester Überzeugung fort, als wenn in jedem Teich unbedingt eine Furt sein müßte; er nahm Sutschok die Stange aus der Hand und ging, den Boden vorsichtig betastend, in der Richtung zum Ufer.

»Verstehst du denn zu schwimmen?« fragte ich ihn.

»Nein, ich verstehe es nicht«, antwortete seine Stimme hinter dem Schilf.

»Nun, dann wird er ertrinken«, bemerkte Sutschok gleichgültig, der auch vorher schon nicht über die Gefahr, sondern nur über unseren Zorn erschrocken war und nun, vollkommen beruhigt, nur ab und zu pustete und keinerlei Bedürfnis nach einer Änderung seiner Lage äußerte.

»So ganz ohne Nutzen zugrunde gehen«, versetzte Wladimir mit klagender Stimme.

Jermolai blieb länger als eine Stunde aus. Diese Stunde erschien uns als eine Ewigkeit. Anfangs riefen wir uns mit großem Eifer an; dann beantwortete er immer seltener unsere Rufe und verstummte schließlich ganz. Im Dorf läutete man zum Abendgottesdienst. Wir sprachen nicht miteinander und vermieden sogar, einander anzusehen. Die Enten schwirrten über unseren Köpfen; einige von ihnen machten sogar Anstalten, sich neben uns niederzulassen, stiegen aber plötzlich schnurgerade auf und flogen mit Geschrei davon. Wir fingen an, vor Kälte steif zu werden. Sutschok bewegte schwer die Augenlider, als wollte er einschlafen.

Endlich kam zu unserer unbeschreiblichen Freude Jermolai wieder zurück.

»Nun?«

»Ich war am Ufer, habe eine Furt gefunden … Kommen Sie.«

Wir wollten uns sofort auf den Weg machen, aber er holte erst unter dem Wasser aus der Tasche einen Strick hervor, band die geschossenen Enten an den Beinen fest, nahm beide Enden des Strickes zwischen die Zähne und watete voraus; Wladimir folgte ihm und ich Wladimir. Sutschok beschloß den Zug. Bis ans Ufer waren es etwa zweihundert Schritt. Jermolai schritt tapfer und ohne stehenzubleiben voraus (so gut hatte er sich den Weg gemerkt) und rief nur ab und zu: »Mehr links, hier rechts ist eine Untiefe!« oder: »Mehr rechts, links kann man im Schlamme versinken …«

Das Wasser reichte uns zuweilen bis an den Hals, und der arme Sutschok, der kleiner als wir alle waren, mußte Wasser schlucken und ließ Blasen aufsteigen. »Nun, nun, nun!« schrie ihn dann Jermolai drohend an, und Sutschok krabbelte sich heraus, zappelte mit den Beinen, hüpfte und kam schließlich doch auf eine seichtere Stelle, aber selbst in höchster Not konnte er sich nicht entschließen, sich an meinem Rockschoß festzuhalten. Furchtbar müde, schmutzig und naß erreichten wir schließlich das Ufer.

Zwei Stunden später saßen wir schon alle, nach Möglichkeit getrocknet, in einem großen Heuschuppen und schickten uns an, zu Abend zu essen. Der Kutscher Jehudiel, ein außerordentlich langsamer, schwerfälliger, vernünftiger und verschlafener Mensch, stand am Tor und traktierte Sutschok eifrigst mit Tabak. (Ich habe bemerkt, daß die Kutscher in Rußland sich sehr schnell befreunden.) Sutschok schnupfte mit Wut bis zur Übelkeit; er spuckte, hustete und empfand wohl einen großen Genuß. Wladimir neigte den Kopf mit schmachtender Miene auf die Seite und sprach wenig. Jermolai rieb unsere Gewehre ab. Die Hunde wedelten mit übertriebener Geschwindigkeit mit ihren Schwänzen in Erwartung ihres Haferbreies; die Pferde stampften und wieherten unter dem Schutzdach … Die Sonne ging unter; ihre letzten Strahlen zogen sich als purpurrote, breite Streifen hin; goldene Wölkchen breiteten sich immer feiner wie gewaschene und gekämmte Wolle über den Himmel aus … Im Dorf erklangen Lieder.


Die Bjeschin-Wiese


Es war ein herrlicher Julitag, einer von den Tagen, die nur dann vorkommen, wenn kein Wetterumschlag zu erwarten ist. Der Himmel ist dann vom frühen Morgen an heiter; das Morgenrot flammt nicht wie eine Feuersbrunst; die Sonne ist nicht feurig und glühend wie zur Zeit einer Dürre, auch nicht trüb-blutrot wie vor einem Sturm, sondern schwebt hell und freundlich unter einer schmalen und langen Wolke hervor, leuchtet heiter und versinkt im lilagrauen Nebel. Der obere dünne Rand der langgestreckten Wolke glitzert wie voller feiner Schlangen; ihr Glanz erinnert an den Glanz getriebenen Silbers … Schon brechen aber die spielenden Strahlen aufs neue hervor, und das mächtige Gestirn steigt lustig, majestätisch, wie auffliegend empor. Um die Mittagsstunde erscheint gewöhnlich eine Menge runder, hoher, goldig-grauer Wolken mit zarten weißen Rändern. Gleich Inseln, auf einem uferlosen Fluß verstreut, der sie mit tiefen und durchsichtigen Armen einer tiefen Bläue umflutet, bewegen sie sich kaum von der Stelle; weiter unten am Horizont drängen sie sich mehr zusammen, und es ist kein Blau zwischen ihnen mehr zu sehen; aber sie sind selbst da so leuchtend blau wie der Himmel; sie sind ganz von Licht und Wärme durchtränkt. Die Farbe des Horizonts, leicht und blaßlila, ändert sich während des ganzen Tages nicht und ist in der ganzen Runde gleich; nirgends verdunkelt sie sich, nirgends sammelt sich ein Gewitter; höchstens ziehen sich hier und da bläuliche Streifen herab – es ist ein kaum bemerkbarer Regen, der wie eine Saat herabrieselt. Gegen Abend verschwinden diese Wolken; die letzten von ihnen, dunkel und formlos wie Rauch, ballen sich rosenrot der scheidenden Sonne gegenüber; an der Stelle, wo sie ebenso ruhig untergegangen ist wie sie emporgestiegen, bleibt das hellrote Leuchten nur eine kurze Zeit über der dunkelgewordenen Erde, und leise flimmernd, wie eine vorsichtig getragene Kerze, leuchtet darin der Abendstern auf. An solchen Tagen sind alle Farben gedämpft; sie sind leuchtend, aber nicht grell; auf allen Dingen liegt das Siegel einer eigenen rührenden Milde. An solchen Tagen ist die Hitze oft sehr groß, manchmal brütet sie an den Abhängen der Felder; aber der Wind vertreibt und verweht die angesammelte Glut, und Wirbel – sichere Anzeichen beständigen Wetters – ziehen als hohe weiße Säulen über die Wege und Äcker dahin. In der trockenen und reinen Luft duftet es nach Wermut, nach gemähtem Korn und Buchweizen; selbst eine Stunde vor Anbrach der Nacht spürt man keine Feuchtigkeit. Ein solches Wetter wünscht sich der Landmann für die Getreideernte.

An einem solchen Tag jagte ich einmal im Tschernschen Kreise des Tulaer Gouvernements auf Birkhühner. Ich hatte recht viel Wild aufgestöbert und geschossen; meine gefüllte Jagdtasche schnitt mir unbarmherzig in die Schulter; das Abendrot war aber schon im Verlöschen, und in der noch hellen, wenn auch von den Strahlen der untergegangenen Sonne nicht mehr erleuchteten Luft verdichteten sich schon kalte Schatten, als ich mich endlich entschloß, nach Hause zurückzukehren. Mit raschen Schritten durchstrich ich die lange, von Gebüsch bedeckte Strecke, stieg einen kleinen Hügel hinauf und erblickte statt der von mir erwarteten, mir bekannten Ebene mit dem Eichenwäldchen rechts und der niederen weißen Kirche in der Ferne eine mir völlig unbekannte Gegend. Zu meinen Füßen zog sich ein schmales Tal hin; gerade vor mir erhob sich als eine steile Wand ein dichtes Espengebüsch. Ich blieb erstaunt stehen und sah mich um … Aha! dachte ich mir – ich bin ganz woanders hingeraten: Ich bin viel zu weit nach rechts gekommen. – Mich über mein Versehen selbst wundernd, stieg ich den Hügel hinab. Mich umfing sofort eine unangenehme, unbewegliche Feuchtigkeit, als wäre ich in einen Keller geraten; das dichte, hohe Gras auf dem Grund des Tales breitete sich naß und weiß wie eine Decke aus; es war irgendwie unheimlich, es zu betreten. Ich stieg möglichst schnell an der anderen Seite wieder hinauf und schlug den Weg nach links, das Espengehölz entlang, ein. Die Fledermäuse flatterten schon über den schlafenden Wipfeln des Gehölzes, geheimnisvoll am dunklen und doch noch heiteren Himmel kreisend; schnell und geradeaus schoß in der Höhe ein verspäteter junger Habicht seinem Neste zu. – Wenn ich nur jene Ecke dort erreicht habe, dachte ich mir, so komme ich gleich auf die Straße; ich habe ja einen Umweg von einer Werst gemacht!

Endlich erreichte ich die Ecke des Waldes, aber dort war keinerlei Weg: Niedere Büsche breiteten sich vor mir aus, und hinter ihnen war in weiter Ferne ein leeres Feld zu sehen. Ich blieb wieder stehen. – Was ist das für ein Wunder …? Wo bin ich denn? – Ich fing an, mich zu besinnen, wie und wohin ich an diesem Tag gegangen war … – Ach! Das ist ja das Parachinsche Gebüsch! rief ich endlich aus. – Es stimmt! Das da muß ja das Sindejewsche Gehölz sein … Wie bin ich nur hergeraten? So weit …! Seltsam! Jetzt muß ich wieder nach rechts abbiegen.

Ich ging nach rechts durch die Büsche. Die Nacht senkte sich indessen und wuchs wie eine drohende Gewitterwolke; die Dunkelheit schien sich zugleich mit den Abenddünsten von überall zu erheben und sogar von der Höhe zu fallen. Ich stieß auf einen verwachsenen Fußpfad; ich schlug ihn ein und blickte aufmerksam vorwärts. Alles um mich her wurde schnell dunkel und still, nur die Wachteln schrien noch dann und wann. Ein kleiner Nachtvogel, der unhörbar und leicht auf seinen weichen Flügeln dahinflog, stieß beinahe auf mich und verschwand scheu seitwärts. Ich erreichte das Ende des Gebüsches und ging einen Feldrain entlang. Mit Mühe konnte ich schon die entfernten Gegenstände unterscheiden; das

Feld um mich her leuchtete weiß; hinter ihm erhob sich, mit jedem Augenblick zunehmend, die düstere Finsternis. Meine Schritte hallten dumpf in der erstarrenden Luft wider. Der bleichgewordene Himmel fing wieder an, blau zu werden, aber es war schon die Bläue der Nacht. In dieser Bläue regten sich und flimmerten die Sterne.

Was ich für ein Gehölz gehalten hatte, erwies sich jetzt als ein dunkler, runder Hügel. – Wo bin ich denn? fragte ich wieder laut; ich blieb zum drittenmal stehen und blickte fragend auf die Dianka, meinen englischen, gelbgefleckten Hund, entschieden das klügste von allen vierfüßigen Geschöpfen. Aber das klügste von allen vierfüßigen Geschöpfen wedelte nur mit seinem Schweif, zwinkerte traurig mit seinen müden Augen und gab mir keinerlei vernünftigen Rat. Ich schämte mich vor dem Hund und ging verzweifelt vorwärts, als wäre ich plötzlich dahintergekommen, wohin ich zu gehen hätte. Ich umging den Hügel und geriet in eine nicht sehr tiefe, von allen Seiten umpflügte Schlucht. Ein sonderbares Gefühl bemächtigte sich meiner sofort. Diese Schlucht sah wie ein fast regelmäßiger Kessel mit abschüssigen Wänden aus; auf dem Grund ragten einige aufrechtstehende, große weiße Steine – es sah so aus, als wären sie zu einer geheimen Beratung in die Schlucht hinabgestiegen, und alles war da so stumm und so öde, und der Himmel hing so flach und so traurig über der Schlucht, daß mein Herz sich zusammenkrampfte. Irgendein kleines Tier piepste schwach und jämmerlich zwischen den Steinen. Ich beeilte mich, wieder den Hügel zu erreichen. Bis jetzt hatte ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, den Weg nach Hause zu finden; nun überzeugte ich mich aber endgültig, daß ich mich gänzlich verirrt hatte, und ging nun weiter geradeaus, den Sternen nach, aufs Geratewohl, ohne mir die geringste Mühe zu geben, die Umgebung, die schon ganz in der Dunkelheit versunken war, wiederzuerkennen … Etwa eine halbe Stunde ging ich so, die Füße mit Mühe bewegend. Es war mir, als sei ich noch niemals in einer so öden Gegend gewesen; nirgends flimmerte ein Feuer, nirgends ließ sich ein Ton vernehmen. Ein abschüssiger Hügel folgte dem anderen, die Felder zogen sich in die Unendlichkeit hin, die Büsche wuchsen plötzlich aus dem Boden dicht vor meiner Nase empor. Ich ging immer weiter und hatte schon die Absicht, mich bis zum Morgen irgendwo hinzulegen, als ich vor mir plötzlich einen schrecklichen Abgrund erblickte. Ich zog den schon erhobenen Fuß schnell zurück und sah durch die kaum noch durchsichtige Dunkelheit der Nacht eine riesengroße Ebene vor mir. Ein breiter Strom umbog sie in einem Halbkreis; die stählernen Reflexe des Wassers, die hier und da trübe aufleuchteten, bezeichneten seinen Lauf. Der Hügel, auf dem ich mich befand, fiel beinahe senkrecht hinab; seine großen Umrisse hoben sich schwarz von der bläulichen, leeren Luft ab, und gerade vor mir, in der Ecke zwischen dem Abhang und der Ebene, am Flusse, der an dieser Stelle als dunkler Spiegel unbeweglich zu liegen schien, dicht unter dem Abhang des Hügels, brannten und rauchten zwei rote Feuer nahe nebeneinander. Um sie herum bewegten sich Menschen, schwankten Schatten, und zuweilen fiel das Licht auf den Vorderteil eines kleinen Lockenkopfes …

Endlich wußte ich, wo ich hingeraten war. Diese Stelle war in unserer Gegend als die ›Bjeschinwiese‹ bekannt … Aber es war schon ganz unmöglich, besonders jetzt in der Nacht, nach Hause zurückzukehren; die Beine knickten vor Müdigkeit ein. Ich entschloß mich, auf das Feuer loszusteuern und in Gesellschaft dieser Menschen, die ich für Rinderhirten hielt, auf den Morgen zu warten. Ich stieg glücklich hinunter, hatte aber noch nicht Zeit gehabt, den letzten Ast, an dem ich mich festhielt, loszulassen, als plötzlich zwei große, weiße, zottige Hunde mit bösem Bellen auf mich losstürzten. Helle Kinderstimmen klangen in der Nähe der beiden Feuer; einige Jungen erhoben sich rasch von der Erde. Ich antwortete auf ihre fragenden Rufe. Sie liefen auf mich zu, riefen sogleich ihre Hunde zurück, auf die das Erscheinen meiner Dianka solchen Eindruck gemacht hatte, und ich kam näher.

Ich hatte mich geriert, als ich die Menschen, die um die Feuer saßen, für Rinderhirten gehalten hatte. Es waren einfache Bauernkinder aus dem nächsten Dorf, die eine Pferdeherde hüteten. In der heißen Sommerzeit pflegt man bei uns die Pferde nachts auf die Weide zu treiben: Bei Tage würden ihnen die Fliegen und die Bremsen keine Ruhe lassen. Die Pferde abends hinauszutreiben und beim Morgengrauen wieder zurückzubringen, ist für die Bauernjungen ein großes Fest. Ohne Mützen, in alten Halbpelzen auf den lebhaftesten Mähren sitzend, jagen sie mit lustigem Geschrei, die Arme und Beine schwenkend, hoch aufspringend, und lachen, daß es nur so hallt. Der leichte Staub erhebt sich als gelbliche Wolke über der Straße; weit hallt das Gestampfe vieler Hufe, die Pferde rennen mit gespitzten Ohren; allen voran jagt irgendein rothaariger Gaul mit Kletten in der zerzausten Mähne, den Schweif hoch erhoben, ununterbrochen den Takt wechselnd.

Ich sagte den Jungen, daß ich mich verirrt habe, und setzte mich zu ihnen. Sie fragten, mich, woher ich sei, schwiegen eine Weile und machten mir Platz. Wir unterhielten uns eine Weile miteinander. Ich streckte mich unter einem angenagten Busch aus und sah mich um. Das Bild war wunderschön: Neben den Feuern zitterte und erstarb, an die Dunkelheit stoßend, ein runder rötlicher Widerschein; die Flamme warf aufflackernd über die Grenze des Kreises schnelle Reflexe hinaus; schmale Lichtzungen beleckten ab und zu die nackten Äste des Weidengebüschs, und sofort verschwand wieder alles; spitze, lange Schatten drangen für einen Augenblick in den Lichtkreis ein und erreichten die Flammen: Die Dunkelheit kämpfte mit dem Licht. Zuweilen, wenn das Feuer schwächer brannte und der Lichtkreis enger wurde, erschienen aus der Finsternis, die näher herantrat, plötzlich ein brauner Pferdekopf mit zackiger Blesse oder ein ganz weißer Kopf; er sah uns aufmerksam und stumpf an, an dem langen Gras kauend, und verschwand gleich wieder. Man hörte ihn nur noch kauen und schnauben. Von der erleuchteten Stelle aus war es schwer zu erkennen, was im Finstern geschah, und darum schien alles in der Nähe von einem fast schwarzen Vorhang verdeckt. Aber weiter, am, Horizont zeichneten sich die Hügel und Wälder als verschwommene, lange Flecken ab. Der dunkle, reine Himmel hing feierlich und unermeßlich hoch über uns in seiner ganzen geheimnisvollen Pracht. Die Brust fühlte sich wonnig beengt beim Einatmen dieses eigentümlichen, ermattenden und frischen Duftes, des Duftes der russischen Sommernacht. Ringsum gab es fast kein Geräusch … Nur ab und zu plätscherte im nahen Fluß plötzlich ein großer Fisch, oder das Uferschilf fing, von einer Welle kaum berührt, leise zu rauschen an … Nur die Feuer allein knisterten leise.

Die Jungen saßen um die Feuer. Neben ihnen lagen auch die beiden Hunde, die solche Lust hatten, mich zu fressen. Sie konnten sich noch lange mit meiner Anwesenheit nicht befreunden und knurrten, schläfrig nach dem Feuer blinzelnd und schielend, ab und zu mit einem ungewöhnlichen Ausdruck eigener Würde; anfangs knurrten sie, dann winselten sie leise, als beklagten sie die Unmöglichkeit, ihren Wunsch zu erfüllen. Es waren fünf Jungen da: Fedja, Pawluscha, Iljuscha, Kostja und Wanja. (Aus ihren Gesprächen erfuhr ich ihre Namen, und ich will den Leser mit ihnen gleich bekannt machen.)

Der erste, der älteste, Fedja, mochte vierzehn Jahre alt sein. Er war ein schlanker Junge mit hübschen, feinen, etwas zu schwach ausgeprägten Gesichtszügen, mit krausem, blondem Haar, hellen Augen und einem fortwährenden halb heiteren, halb zerstreuten Lächeln. Er gehörte allem Anschein nach einer wohlhabenden Familie an und war wohl nicht aus Notwendigkeit, sondern nur zum Zeitvertreib ins Feld hinausgeritten. Er trug ein buntes Kattunhemd mit gelbem Saum und einen kleinen, neuen Kittel übergeworfen, der sich kaum auf seinen schmalen Schultern hielt; am blauen Gürtel hatte er einen Kamm hängen. Seine Stiefel mit niedrigen Schäften waren tatsächlich seine Stiefel und nicht die seines Vaters. Der zweite Junge, Pawluscha, hatte zerzaustes, schwarzes Haar, graue Augen, breite Backenknochen, ein blasses, pockennarbiges Gesicht, einen großen, aber regelmäßigen Mund; sein ganzer Kopf war ungewöhnlich groß, wie ein Kessel; der Körper untersetzt und plump. Er war ein unansehnlicher Junge, das war nicht zu leugnen, und doch gefiel er mir gut: Er blickte klug und frei, und in seiner Stimme lag Kraft. Mit seiner Kleidung konnte er nicht prahlen: Sie bestand aus einem einzigen, schmutzigen Hemd und einer geflickten Hose. Der dritte, Iljuscha, hatte ein recht unbedeutendes Gesicht – mit der gebogenen Nase, lang und kurzsichtig, drückte es eine stumpfe, krankhafte Besorgnis aus; die zusammengepreßten Lippen bewegten sich nicht, die zusammengezogenen Brauen rückten nicht auseinander, es sah so aus, als blende ihn immer das Feuer. Seine hellgelben, fast weißen Haare ragten in spitzen Strähnen unter dem niederen Filzhütchen hervor, das er sich fortwährend mit beiden Händen über die Ohren zog. Er hatte neue Bastschuhe und Fußlappen an; ein dicker Strick, dreimal um seine Hüften geschlungen, hielt sorgfältig sein sauberes schwarzes Filzmäntelchen. Er sowohl als Pawluscha schienen nicht mehr als zwölf Jahre alt zu sein. Der vierte, Kostja, ein Junge von etwa zehn Jahren, erregte mein Interesse durch seinen nachdenklichen, traurigen Blick. Sein Gesicht war nicht groß, mager, von Sommersprossen bedeckt, nach unten zu spitz wie bei einem Eichhörnchen; die Lippen waren kaum zu unterscheiden; aber einen seltsamen Eindruck machten seine großen, schwarzen, schwachglänzenden Augen: Sie schienen etwas ausdrücken zu wollen, wofür es in der Sprache, jedenfalls in seiner Sprache, keine Worte gibt. Er war klein gewachsen, schmächtig und recht ärmlich gekleidet. Den letzten, Wanja, hatte ich anfangs gar nicht bemerkt: Er lag auf der Erde, mäuschenstill unter einer Bastdecke zusammengekauert, und streckte nur ab und zu seinen blonden Lockenkopf unter ihr hervor.

Ich lag also seitwärts unter einem Strauch und sah die Jungen an. Ein kleines Kesselchen hing über einem der Feuer, in ihm kochten Kartoffeln. Pawluscha sah nach ihnen und rührte, auf den Knien liegend, mit einem Span das Wasser, das eben zu brodeln anfing. Fedja lag, auf einen Ellenbogen gestützt, die Schöße seines Kittels auseinandergeschlagen. Iljuscha saß neben Kostja und zwinkerte gespannt mit den Augen. Kostja hatte den Kopf ein wenig gesenkt und blickte irgendwohin in die Ferne. Wanja lag unbeweglich unter seiner Bastdecke. Ich stellte mich schlafend. Die Jungen kamen allmählich wieder ins Gespräch.

Zuerst redeten sie von dem und jenem, von den Arbeiten des nächsten Tages und von den Pferden; plötzlich wandte sich aber Fedja an Iljuscha und fragte ihn, als setze er ein begonnenes Gespräch wieder fort: »Nun, hast du den Hausteufel wirklich gesehen?«

»Nein, gesehen habe ich ihn nicht, und man kann ihn auch gar nicht sehen«, antwortete Iljuscha mit einer heiseren und schwachen Stimme, deren Tonfall vollkommen seinem Gesichtsausdruck entsprach. »Aber ich habe ihn gehört … Und nicht ich allein.«

»Wo wohnt er denn bei euch?« fragte Pawluscha.

»In der alten Lumpenmühle.«

»Geht ihr denn auf die Fabrik?« »Gewiß. Ich und mein Bruder Awdjuscha arbeiten als Papierglätter.«

»Ihr seid also Fabrikarbeiter …!«

»Nun, wie hast du ihn gehört?« fragte Fedja.

»Es war so. Ich war mit meinem Bruder Awdjuscha und mit Fjodor von Michejewo und mit Iwaschka Kossoi und mit dem anderen Iwaschka, dem von den Roten Hügeln, und mit dem Iwaschka Suchorukow, es waren auch andere Jungen dabei, im ganzen an die zehn Mann, die ganze Schicht; wir mußten in der Lumpenmühle übernachten; wir mußten es eigentlich nicht, aber Nasarow, der Aufseher, sagte uns: ›Was sollt ihr noch nach Hause gehen, Jungens? Morgen ist viel Arbeit, bleibt dann lieber hier.‹ So blieben wir in der Lumpenmühle. Wir liegen zusammen, und Awdjuscha fragt plötzlich: ›Und wenn jetzt der Hausteufel kommt?‹ Kaum hatte Awdjuscha diese Worte gesprochen, als plötzlich jemand über unseren Köpfen zu gehen anfing; wir lagen aber unten, und er ging oben bei dem Rad. Wir hören – er geht herum, die Bretter biegen sich unter ihm und knarren; da geht er schon über unseren Köpfen; plötzlich fängt das Wasser an zu rauschen, das Rad klopft und dreht sich; aber die Schleusen sind heruntergelassen. Wir wundern uns: Wer hat die Schleusen geöffnet, daß das Wasser hindurchkann? Das Rad drehte sich aber eine Weile und blieb plötzlich stehen. Jener ging oben wieder zur Tür und fing an, die Treppe hinunterzusteigen, aber langsam, ohne Eile; die Stufen stöhnten unter seinen Tritten … So kam er zu unserer Tür, wartete eine Weile, und plötzlich ging die Tür weit auf. Wir fuhren zusammen, sahen hin – es ist nichts … Plötzlich bewegte sich eine Schöpfkelle bei einem der Kufen, sie hob sich, bewegte sich durch die Luft, als tauchte sie jemanden unter, und kehrte wieder auf ihren Platz zurück. Dann hob sich der Haken an einer anderen Kufe und schloß sich wieder; dann klang es, als ginge jemand wieder zur Tür, und plötzlich hustete er und pustete wie ein Schaf, so laut … Wir fielen alle auf einen Haufen zusammen und krochen einer unter den anderen … So erschrocken waren wir damals!«

»So, so!« versetzte Pawel. »Warum fing er aber zu husten an?«

»Ich weiß nicht, vielleicht von der Feuchtigkeit.«

Alle schwiegen.

»Nun«, fragte Fedja, »sind die Kartoffeln gar?«

Pawluscha untersuchte sie.

»Nein, sie sind noch roh … Wie der Fisch plätschert«, fügte er hinzu, das Gesicht zum Fluß wendend, »ist wohl ein Hecht … Und dort fiel ein Sternchen vom Himmel.«

»Nein, Brüder, ich will euch etwas ganz anderes erzählen«, begann Kostja mit feiner Stimme. »Hört mal, was Vater neulich erzählt hat.«

»Wir hören«, sagte Fedja mit herablassender Miene.

»Ihr kennt doch Gawrilo, den Zimmermann aus der Vorstadt?«

»Gewiß kennen wir ihn.«

»Wißt ihr aber, warum er immer so traurig ist und schweigsam, wißt ihr es? Er ist darum so traurig: Einmal ging er, so hat's Vater erzählt, einmal ging er, Brüder, in den Wald nach Nüssen. Er ging also in den Wald nach Nüssen und verirrte sich; er kam Gott weiß wohin. Er geht und geht, Brüder, und kann den Weg nicht finden; es ist aber schon Nacht. So setzte er sich unter einen Baum: ›Ich will auf den Morgen warten.‹ Er setzte sich hin und schlief ein. Er schlief ein und hörte plötzlich, wie ihn jemand rief. Er sieht hin: Es ist niemand da. Er schlief wieder ein, und wieder rief man ihn. Er sieht wieder hin: Vor ihm sitzt auf einem Ast eine Nixe, sie schaukelt hin und her, ruft ihn zu sich und schüttelt sich vor Lachen … Der Mond leuchtet aber hell, so hell, so klar, Brüder, daß alles zu sehen ist. So ruft sie ihn zu sich und ist so hell und weiß, wie sie auf dem Ast sitzt, wie eine Plötze oder ein Gründling, oder es gibt auch solche weißliche, silberne Karauschen … Der Zimmermann Gawrilo war ganz starr vor Schreck, Brüder, aber sie lacht immer und lockt ihn mit der Hand zu sich. Gawrilo stand schon auf, wollte auf die Nixe hören, aber der liebe Gott gab es ihm ein, ein Kreuz zu schlagen … Es war ihm aber furchtbar schwer, das Kreuz zu schlagen, Brüder; er sagt, die Hand sei wie aus Stein gewesen, er hätte sie kaum bewegen können … Hast du es gesehen …! Als er das Kreuz geschlagen hatte, hörte die Nixe zu lachen auf und fing zu weinen an … Sie weint, Brüder, wischt sich mit den Haaren die Tränen aus den Augen, ihre Haare sind aber grün wie Hanf. Gawrilo guckte sie an und fing an, sie zu fragen: ›Was weinst du, du Waldkraut?‹ Die Nixe aber antwortete ihm: ›Hättest du kein Kreuz geschlagen, Mensch, so hättest du bis ans Ende deiner Tage mit mir in Freuden gelebt; ich weine aber und gräme mich, weil du das Kreuz geschlagen hast; aber ich werde mich nicht allein grämen: Auch du sollst bis ans Ende deiner Tage trauern.‹ – Da verschwand sie, und Gawrilo sah sofort, wie er aus dem Wald herauskommen konnte … Aber seitdem geht er so traurig herum.«

»Ach!« sagte Fedja nach kurzem Schweigen. »Wie kann bloß so ein Waldspuk eine Christenseele verderben! Er hat auf sie doch nicht gehört?«

»Was soll man machen!« sagte Kostja, »Gawrilo erzählte, sie hätte eine so feine und klagende Stimme gehabt wie eine Kröte.«

»Hat das dein Vater selbst erzählt?«

»Er selbst. Ich lag auf der Pritsche und hörte alles.«

»Eine merkwürdige Sache! Warum soll er traurig sein …? Er hat ihr wohl gefallen, daß sie ihn rief.«

»Ja, er hat ihr gefallen!« bestätigte Iljuscha. »Gewiß! Sie wollte ihn zu Tode kitzeln, das wollte sie. Das machen die Nixen immer!«

»Es muß doch auch hier Nixen geben«, bemerkte Fedja.

»Nein«, antwortete Kostja, »hier ist ein reiner, freier Ort. Eines nur: Der Fluß ist nah.«

Alle verstummten. Plötzlich ertönte irgendwo in der Ferne ein gedehnter, klingender, fast klagender Laut, einer der unerklärlichen nächtlichen Laute, die manchmal in der tiefsten Stille entstehen, aufsteigen, anhalten und endlich, langsam verhallend, ersterben. Wenn man genauer hinhorcht, so ist es nichts, und doch klingt es. Es war, als habe jemand ferne dicht unter dem Himmelsgewölbe geschrien, und ein anderer habe ihm im Walde mit einem feinen, scharfen Gelächter geantwortet, und ein schwacher, zischender Pfiff zog über den Fluß dahin. Die Jungen wechselten Blicke und fuhren zusammen …

»Gott steh uns bei!« flüsterte Ilja.

»Ach, ihr Maulaffen!« rief Pawel. »Was seid ihr so erschrocken? Schaut nur, die Kartoffeln sind gar.«

Alle rückten näher zum Kesselchen heran und begannen die dampfenden Kartoffeln zu verzehren; nur Wanja allein regte sich nicht.

»Nun, und du?« fragte Pawel.

Aber er kam unter seiner Bastdecke nicht hervor. Das Kesselchen war bald ganz leer.

»Habt ihr gehört, Kinder«, begann Iljuscha, »was sich neulich bei uns in Warnawizy zugetragen hat?«

»Auf dem Damm?« fragte Fedja.

»Ja, ja, auf dem durchbrochenen Damm. Das ist schon wirklich ein unreiner Ort, so unrein und öde. Ringsherum sind lauter Klüfte und Gräben, und in den Gräben lauter Schlangen.«

»Nun, was ist denn geschehen? Erzähl …« »Was da geschehen ist? Du weißt es vielleicht nicht, Fedja, daß bei uns dort ein Ertrunkener begraben ist. Er hat sich da vor sehr langer Zeit ertränkt, als der Teich noch tief war; jetzt ist nur noch sein Grab zu sehen, und auch das kaum; es ist nur ein Hügelchen … Dieser Tage ruft der Verwalter den Hundeknecht Jermil zu sich und sagt ihm: ›Jermil, reite mal auf die Post.‹ Jermil pflegt bei uns immer auf die Post zu reiten; die Hunde sind ihm alle eingegangen: Sie leben bei ihm nicht und haben auch niemals gelebt, sonst ist er aber ein guter Hundeknecht, das muß man ihm lassen. So ritt Jermil nach der Post, hielt sich aber in der Stadt auf, und als er heimritt, war er etwas betrunken. Die Nacht ist aber hell, und der Mond scheint. So reitet Jermil über den Damm: Diesen Weg hat er eben genommen. So reitet der Hundeknecht Jermil und sieht: Am Grabhügel des Ertrunkenen geht ein Schäfchen auf und ab, ein weißes, lockiges, hübsches Schäfchen. Da denkt sich Jermil: Ich will es mitnehmen, was soll es unnütz umkommen … Er stieg vom Pferd und nahm das Schäfchen auf die Arme. Das Schäfchen wehrte sich nicht. So geht Jermil zum Pferd, das Pferd weicht aber vor ihm zurück, es schnaubt und schüttelt den Kopf; er brachte es aber zum Stehen, stieg mit dem Schäfchen in den Sattel und ritt weiter, das Schäfchen hielt er vor sich. Er sieht es an, und auch das Schäfchen sieht ihm gerade in die Augen. Da wurde es ihm unheimlich, dem Hundeknecht Jermil: Er konnte sich nicht erinnern, daß ein Schaf jemand so in die Augen geblickt hätte; aber er machte sich nichts draus; er fing an, das Schäfchen zu streicheln und sagte ihm: ›Bä! Bä!‹ Das Schaf fletscht aber plötzlich die Zähne und sagt ihm auch: ›Bä! Bä.. !‹«

Der Erzähler hatte das letzte Wort noch nicht gesprochen, als die beiden Hunde plötzlich zugleich aufsprangen, mit krampfhaftem Gebell vom Feuer wegstürzten und in der Finsternis verschwanden. Alle Jungen erschraken. Wanja sprang unter seiner Bastdecke hervor. Pawluscha stürzte schreiend den Hunden nach. Das Gebell entfernte sich rasch … Man hörte das unruhige Rennen der aufgescheuchten Pferdeherde. Pawluscha schrie laut: »Grauer! Schutschka …!« Nach einigen Augenblicken verstummte das Gebell; Pawels Stimme klang aus der Ferne … Es verging noch einige Zeit; die Jungen sahen einander verständnislos an, als warteten sie auf etwas … Plötzlich ertönten die Hufschläge eines heransprengenden Pferdes; es machte dicht vor dem Feuer halt, und Pawluscha sprang, sich an der Mähne festhaltend, schnell herab. Die beiden Hunde kamen gleichfalls in den Lichtschein zurück und setzten sich sofort, die roten Zungen herausgestreckt, nieder.

»Was ist los? Was ist los?« fragten die Jungen.

»Nichts«, antwortete Pawluscha, mit der Hand nach dem Pferde winkend. »Die Hunde haben wohl etwas gewittert. Ich glaubte, es sei ein Wolf«, fügte er mit gleichgültiger Stimme hinzu, während seine Brust schnell atmete.

Ich sah Pawluscha mit unwillkürlicher Bewunderung an. Er war in diesem Augenblick herrlich. Sein unschönes, vom schnellen Ritt belebtes Gesicht glühte vor kühner Unternehmungslust und fester Entschlossenheit. Ohne auch nur einen Stecken in der Hand, war er allein in der Nacht auf einen Wolf losgeritten … Was für ein prachtvoller Junge! dachte ich mir, ihn betrachtend.

»Habt ihr denn die Wölfe gesehen?« fragte der Hasenfuß Kostja.

»Hier gibt es ihrer immer viele«, antwortete Pawel. »Aber sie sind nur im Winter unruhig.«

Er hockte sich wieder am Feuer hin. Indem er sich auf die Erde setzte, ließ er eine Hand auf den zottigen Nacken eines der Hunde fallen, und das erfreute Tier wandte seinen Kopf lange nicht weg und blickte Pawluscha dankbar und stolz von der Seite an.

Wanja verkroch sich wieder unter die Bastdecke.

»Du hast uns solche Gruselgeschichten erzählt, Iljuscha«, begann Fedja, der, als der Sohn eines reichen Bauern, in der Unterhaltung den Ton angab (er selbst sprach wenig, als fürchtete er, sich etwas an seiner Würde zu vergeben). – »Da mußten auch die Hunde zu bellen anfangen … Aber das stimmt, ich habe gehört, dieser Ort ist bei Nacht nicht recht geheuer.«

»Warnawizy …? Das will ich meinen! So unrein ist der Ort! Man sagt, man hätte dort mehr als einmal den alten Herrn, den verstorbenen Gutsherrn, gesehen. Er geht, sagt man, in einem langschößigen Kaftan herum, stöhnt immer und sucht etwas auf der Erde. Einmal traf ihn Großvater Trofimytsch: ›Was suchst du, Väterchen Iwan Iwanytsch, auf der Erde?‹«

»So fragte er ihn?« unterbrach ihn Fedja erstaunt.

»Nun, dann ist Trofimytsch ein tapferer Kerl … Und was geschah dann weiter?« »›Ich suche das Sprengkraut‹, sagte er ihm. So dumpf sagte er das: ›Sprengkraut‹. – ›Was brauchst du denn, Väterchen Iwan Iwanytsch, das Sprengkraut?‹ – ›Es drückt mich‹, antwortete er, ›das Grab drückt mich, Trofimytsch; ich will hinaus, hinaus …‹«

»Seht ihn einmal an!« bemerkte Fedja. »Er hat wohl zuwenig gelebt.«

»Was für ein Wunder!« versetzte Kostja. »Ich hätte geglaubt, man könnte die Verstorbenen nur am Gedächtnis-Sonnabend sehen.«

»Die Toten kann man zu jeder Stunde sehen«, erklärte Iljuscha mit Überzeugung; wie ich merkte, kannte er besser als die anderen alle ländlichen Aberglauben … »Aber am Gedächtnis-Sonnabend kannst du auch einen Lebendigen sehen, das heißt, einen solchen, der im kommenden Jahr sterben soll … Man braucht sich nur nachts vor die Kirchentür zu setzen und immer auf die Straße zu schauen. Dann gehen alle vorbei, die in dem Jahr sterben sollen. Bei uns ging so im vergangenen Jahr die alte Uljana vor die Kirchentür.«

»Nun, sah sie jemand?« fragte Kostja neugierig.

»Gewiß. Erst saß sie lange, lange, sah und hörte niemand. dann war es ihr, als belle irgendwo ein Hündchen … Plötzlich sieht sie: Auf dem Weg geht ein Junge im bloßen Hemdchen. Sie sieht hin, es ist Iwaschka Fedossejew …«

»Der im Frühjahr gestorben ist?« unterbrach ihn Fedja.

»Derselbe. Er geht und hebt sein Köpfchen nicht … Aber Uljana erkannte ihn … Später sieht sie: Da kommt eine Frau. Sie sieht hin, sieht hin – ach du mein Gott! – , es ist die Uljana selbst, die auf der Straße daherkommt.«

»War es denn wirklich sie selbst?« fragte Fedja.

»Bei Gott, sie selbst.«

»Sie ist aber doch noch gar nicht gestorben?«

»Das Jahr ist noch nicht um. Sieh sie aber bloß an: Sie lebt kaum.«

Alle wurden wieder still. Pawel warf eine Handvoll trockene Zweige ins Feuer. Sie hoben sich erst schwarz von der plötzlich auflodernden Flamme ab, begannen zu knistern, zu rauchen, warfen sich und streckten die angebrannten Enden empor. Der Schein des Feuers verbreitete sich zitternd nach allen Seiten, besonders nach oben. Plötzlich kam ein weißes Täubchen, niemand wußte woher, gerade in den Lichtschein hereingeflogen; es drehte sich ängstlich auf einer Stelle, vom heißen Glanz übergossen, und verschwand dann mit lautem Flügelschlag.

»Hat sich wohl verirrt«, bemerkte Pawel. »Jetzt wird sie fliegen, bis sie auf etwas stößt; dort übernachtet sie dann bis zum Morgengrauen.«

»Was meinst du, Pawluscha«, versetzte Kostja. »Vielleicht war es eine gerechte Seele, die in den Himmel flog, wie?«

Pawel warf eine neue Handvoll Reisig ins Feuer.

»Kann sein«, sagte er endlich.

»Sag mal bitte, Pawluscha«, versetzte Fedja, »hat es auch bei euch in Schalamowo ein Himmelszeichen gegeben?«

»Als man die Sonne plötzlich nicht sah? Gewiß.«

»Da wart ihr auch erschrocken?«

»Nicht wir allein. Unser Herr hat uns zwar vorher gesagt, daß es ein Himmelszeichen geben wird, als es aber finster wurde, da erschrak auch er, sagen die Leute. In der Gesindestube schlug aber die Köchin, als es finster wurde, mit der Ofengabel alle Töpfe entzwei: ›Wer soll jetzt essen?‹ hat sie gesagt. ›Es ist der Jüngste Tag.‹ So lief die ganze Kohlsuppe heraus. Bei uns im Dorf ging aber das Gerücht, Bruder, daß weiße Wölfe auf die Erde gelaufen kommen und die Menschen auffressen, daß Raubvögel geflogen kommen; auch daß man den Trischka selbst sehen würde.«

»Was für einen Trischka?« fragte Kostja.

»Weißt du das nicht?« begann Iljuscha mit Eifer. »Wo kommst du denn her, Bruder, wenn du nichts von Trischka weißt? Ihr sitzt wohl bei euch im Dorf wie die Tölpel und wißt von nichts! Trischka wird so ein wunderbarer Mensch sein, der einmal kommen wird – so wunderbar, daß man ihn weder ergreifen noch ihm etwas antun kann: So ein wunderbarer Mensch wird er eben sein. Die Bauern werden ihn zum Beispiel ergreifen wollen; sie werden mit Knüppeln auf ihn losgehen und ihn umstellen, er wird sie aber blenden, so daß sie einander verprügeln. Oder man wird ihn zum Beispiel ins Gefängnis sperren; er wird um Wasser bitten; man wird ihm einen Krug mit Wasser bringen, er wird aber darin untertauchen und verschwinden. Man wird ihn in Ketten legen, er wird aber bloß in die Hände klatschen, und die Ketten werden von ihm herunterfallen. So wird dieser Trischka über die Dörfer und Städte ziehen; und dieser Trischka, der arglistige Mensch, wird das christliche Volk verführen … aber tun kann man ihm nichts … So ein wunderbarer, arglistiger Mensch wird er sein.«

»Ja, gewiß«, fuhr Pawel mit seiner bedächtigen Stimme fort, »so wird er sein. So hat man ihn auch bei uns erwartet. Die Alten sagten, Trischka würde kommen, sobald das Himmelszeichen beginnt. So begann das Himmelszeichen. Das ganze Volk lief auf die Straße, aufs Feld und wartete, was wohl kommen würde. Unser Ort liegt aber, wie ihr wißt, hoch und frei. Sie sehen: Vom Berg her kommt ein seltsamer Mensch, hat einen so merkwürdigen Kopf … Da schreien alle: ›Ach, Trischka kommt! Ach, Trischka kommt!‹ Und jeder rettete sich, wohin er konnte. Der Schulze verkroch sich in den Straßengraben; die Schulzenfrau blieb im Spalt unter dem Tor stecken; sie schrie mit wilder Stimme und erschreckte ihren eigenen Hofhund so, daß er sich von der Kette losriß, über den Zaun sprang und in den Wald davonrannte. Kusjkas Vater, Dorofejitsch, sprang aber in den Hafer, hockte sich hin und fing an wie eine Wachtel zu schreien: ›Vielleicht wird der Seelenverderber mit dem Vogel Erbarmen haben.‹ So waren wir alle erschrocken …! Der Mann aber war der Böttcher Wawila: Er hatte sich eine neue Holzwanne gekauft und sie über den Kopf gestülpt.«

Alle Jungen fingen zu lachen an und verstummten wieder für eine Weile, wie es oft mit Menschen passiert, die sich unter freiem Himmel unterhalten. Ich sah mich um: Feierlich herrschte die Nacht; an die Stelle der feuchten Frische des späten Abends war die trockene mitternächtliche Wärme getreten, die noch lange als weiche Decke auf den schlafenden Fluren ruhen sollte; es war noch lange bis zum ersten Laut des Lebens, bis zu den ersten Tautropfen des Morgens.

Der Mond stand nicht am Himmel: Um diese Zeit ging er spät auf. Zahllose goldene Sterne schienen sämtlich, um die Wette flimmernd, in der Richtung der Milchstraße langsam zu ziehen, und wenn man sie ansah, fühlte man wirklich den ungestümen, unaufhörlichen Flug der Erde … Ein seltsamer, scharfer, schmerzvoller Schrei erklang plötzlich zweimal nacheinander über dem Fluß und wiederholte sich einige Augenblicke später etwas weiter …

Kostja fuhr zusammen … »Was ist das?«

»Ein Reiher schreit«, antwortete Pawel ruhig.

»Ein Reiher«, wiederholte Kostja … »Was war es aber, Pawluscha, was ich gestern abend gehört habe?« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu. »Vielleicht weißt du es …«

»Was hast du gehört?«

»Das habe ich gehört. Ich ging von der Steinernen Zeile nach Schaschkino; zuerst ging ich durch unsere Haselbüsche, dann durch die Wiese, weißt du, wo sie eine scharfe Wendung macht – dort ist ein Sumpfloch, weißt du, das ganz mit Schilf bewachsen ist; so ging ich, Brüder, an diesem Sumpfloch vorbei, und plötzlich stöhnt jemand so jämmerlich, ach so jämmerlich aus dem Loch: ›Uh … Uh … Uh …‹ Da packte mich die Angst, Brüder: die späte Stunde, und eine so jämmerliche Stimme. Ich hätte selbst weinen können … Was mag es wohl gewesen sein? Wie?«

»In diesem Sumpfloch haben die Diebe im vorvorigen Jahr den Waldhüter Akim ertränkt«, bemerkte Pawluscha. »Vielleicht ist es seine Seele, die da klagt.«

»Das muß ich sagen, Brüder«, entgegnete Kostja, seine ohnehin großen Augen weit aufreißend. »Ich wußte gar nicht, daß man den Akim in diesem Loch ertränkt hatte, dann hätte ich noch viel mehr Angst gekriegt.«

»Man sagt auch, es gäbe solche kleine Frösche«, fuhr Pawel fort, »die so jämmerlich schreien.«

»Frösche? Nein, das waren keine Frösche … was sind das für …«

Der Reiher schrie wieder über dem Fluß.

»Wie der schreit!« sagte Kostja unwillkürlich: »Wie ein Waldteufel.«

»Der Waldteufel schreit nicht, er ist stumm«, fiel ihm Iljuscha ins Wort. »Er klatscht nur in die Hände und kracht …«

»Hast du ihn denn gesehen, den Waldteufel?« unterbrach ihn Fedja spöttisch.

»Nein, ich hab' ihn nicht, gesehen, und Gott beschütze mich davor; aber andere haben ihn gesehen. Neulich hat er bei uns einen Bauer irregeleitet: Er führte ihn immer im Wald herum, immer um die gleiche Waldwiese herum … Mit Not kam er erst am Morgen heim.«

»Hat er ihn gesehen?«

»Er hat ihn gesehen. Er sagt, er habe so riesengroß, finster, eingehüllt dagestanden, hinter einem Baum, gut hätte er ihn nicht unterscheiden können; er hätte sich vor dem Mond versteckt und dabei mit seinen großen Augen geguckt und geblinzelt, und geblinzelt …«

»Ach, du!« rief Fedja, leicht zusammenfahrend und mit den Schultern zuckend. »Pfui …!«

»Wozu gibt es nur diese unsauberen Mächte in der Welt?« bemerkte Pawel. »Wirklich!«

»Schimpfe nicht, paß auf, sie hören dich noch«, bemerkte Ilja.

Wieder trat Schweigen ein.

»Schaut nur, schaut nur, Kinder«, erklang plötzlich Wanjas Kinderstimme. »Schaut nur auf die lieben Sternlein Gottes – wie die Bienen schwärmen sie!«

Er streckte sein frisches Gesichtchen unter der Bastdecke hervor, stützte es auf seine Faust und hob langsam seine großen stillen Augen zum Himmel. Alle Jungen hoben ihre Blicke gen Himmel und ließen sie nicht sobald sinken.

»Sag mal, Wanja«, begann Fedja freundlich. »Wie geht es deiner Schwester Anjutka, geht es ihr gut?«

»Es geht ihr gut«, antwortete Wanja kindlich lallend.

»Frage sie doch, warum sie nicht mehr zu uns kommt …«

»Ich weiß es nicht.«

»Sag ihr, sie möchte doch kommen.«

»Ich werde es ihr sagen.«

»Sag ihr, daß ich ihr was schenke.«

»Wirst du auch mir was schenken?«

»Ja, auch dir.«

Wanja holte tief Atem.

»Nein, ich brauche nichts. Gib es lieber ihr: Sie ist so gut.«

Wanja legte seinen Kopf wieder auf die Erde. Pawel stand auf und nahm das leere Kesselchen in die Hand.

»Wo willst du hin?« fragte ihn Fedja.

»Zum Fluß, Wasser schöpfen: Ich will Wasser trinken.«

Die Hunde erhoben sich und folgten ihm.

»Paß auf, fall nur nicht in den Fluß!« rief ihm Iljuscha nach.

»Warum soll er in den Fluß fallen?« versetzte Fedja. »Er wird sich doch in acht nehmen.«

»Ja, in acht nehmen. Es kommt verschiedenes vor: Er wird sich bücken und Wasser schöpfen, da wird ihn aber der Wassergeist bei der Hand packen und hinunterziehen. Später werden die Leute sagen, der Junge sei ins Wasser gefallen … Ja, ins Wasser gefallen …! Da ist er eben ins Schilf gestiegen«, fügte er hinzu, aufhorchend.

Man hörte wirklich das Schilf rascheln.

»Ist es wahr«, fragte Kostja, »daß die blöde Akulina um ihren Verstand gekommen ist, seit sie im Wasser war?«

»Ja, seit damals … Wie sieht sie jetzt aus! Man sagt aber, sie sei früher eine Schönheit gewesen. Der Wassergeist hat sie verdorben. Er hatte wohl nicht erwartet, daß man sie sobald herausziehen würde. Da hat er sie bei sich auf dem Grund verdorben.«

(Ich selbst habe diese Akulina mehr als einmal gesehen. In Lumpen gekleidet, furchtbar mager, mit einem kohlschwarzen Gesicht, trüben Blicken und ewig gefletschten Zähnen trappelt sie stundenlang irgendwo auf der Landstraße auf dem gleichen Fleck herum, die knöchernen Hände fest auf die Brust gepreßt und langsam von einem Fuß auf den anderen tretend, wie ein wildes Tier im Käfig. Sie versteht nichts, was man ihr auch sagt, und lacht nur zuweilen krampfhaft.)

»Man sagt auch«, fuhr Kostja fort, »Akulina hätte sich in den Fluß gestürzt, weil ihr Schatz sie betrogen hat.«

»Ja, darum.«

»Erinnerst du dich noch an Waßja?« unterbrach ihn Kostja traurig.

»An was für einen Waßja?« fragte Fedja.

»An den, der ertrunken ist«, antwortete Kostja, »in diesem selben Fluß. Das war eine Junge! Mein Gott, war das ein Junge! Seine Mutter Feklista liebte ihren Waßja so. Die Feklista ahnte wohl, daß er sein Ende im Wasser finden würde. Wenn Waßja mit uns anderen Jungen im Sommer an den Fluß zum Baden ging, so zitterte sie am ganzen Leibe. Die anderen Weiber waren ruhig und watschelten mit ihren Waschzubern vorüber; die Feklista stellte aber ihren Waschzuber auf die Erde und rief: ›Kehr zurück, kehr zurück, Liebster! Kehr zurück, mein Söhnchen!‹ Wie er aber ertrunken ist, das weiß nur Gott allein. Er spielte am Ufer, und seine Mutter harkte gleich in seiner Nähe das Heu zusammen; plötzlich hört sie, wie im Wasser Blasen aufsteigen; sie sieht hin, auf dem Wasser schwimmt aber nur noch Waßjas Mützchen. Seit damals ist auch Feklista nicht bei Sinnen: Sie geht an die Stelle, wo er ertrunken ist, legt sich, Brüder, auf die Erde und singt das Liedchen, das Waßja immer zu singen pflegte – ihr wißt es noch – , sie singt das Liedchen und weint dabei und klagt zu Gott …«

»Da kommt schon Pawluscha«, sagte Fedja.

Pawel kam mit vollem Kessel zum Feuer.

»Jungens«, begann er nach einem Schweigen, »die Sache ist schlimm.«

»Was gibt es denn?« fragte Kostja schnell.

»Ich habe Waßjas Stimme gehört.«

Alle fuhren zusammen.

»Was sagst du, was sagst du?« stammelte Kostja.

»Bei Gott. Als ich mich über das Wasser beugte, hörte ich, wie mich Waßjas Stimme unter dem Wasser rief: ›Pawluscha, Pawluscha, komm mal her.‹ Ich ging zurück. Aber ich habe doch Wasser geschöpft.«

»Ach, mein Gott! Ach, mein Gott!« riefen die Jungen, sich bekreuzigend.

»Dich hat doch der Wassergeist gerufen, Pawel«, versetzte Fedja… »Wir sprachen eben von ihm, von Waßja.«

»Ach, das ist ein schlimmes Zeichen«, sprach Iljuscha langsam.

»Nun, das macht nichts!« sagte Pawel entschlossen und setzte sich wieder. »Seinem Schicksal entgeht man nicht.«

Die Jungen verstummten. Die Worte Pawels hatten auf sie offenbar einen tiefen Eindruck gemacht. Sie fingen an, sich um das Feuer zu lagern, als wollten sie schlafen.

»Was ist das?« fragte plötzlich Kostja, den Kopf hebend.

Pawel horchte auf.

»Es sind die Schnepfen, die im Flug pfeifen.«

»Wo fliegen sie denn hin?«

»Dorthin, wo es keinen Winter gibt.«

»Gibt es denn solch ein Land?«

»Gewiß.«

»Ist es weit?«

»Weit, sehr weit, hinter den warmen Meeren.«

Kostja seufzte auf und schloß die Augen.

Es waren schon mehr als drei Stunden vergangen, seit ich mich zu den Jungen gesetzt hatte. Der Mond war endlich aufgegangen; ich hatte ihn nicht sogleich bemerkt; er war so klein und schmal. Diese mondlose Nacht schien ebenso prächtig wie früher … Aber viele Sterne, die erst vor kurzem hoch am Himmel gestanden hatten, neigten sich schon dem dunklen Rand der Erde zu; alles ringsum wurde so vollkommen still, wie es nur vor Tagesanbruch still wird: Alles schlief einen festen, unbeweglichen Morgenschlaf. Die Luft duftete nicht mehr so stark, sie schien wieder von Feuchtigkeit erfüllt … Kurz sind die Sommernächte …! Das Gespräch der Jungen erlosch zugleich mit den Feuern … Sogar die Hunde schlummerten; auch die Pferde lagen, soweit ich beim schwachflimmernden Licht der Sterne unterscheiden konnte, mit gesenkten Köpfen … Ein Vergessen bemächtigte sich meiner und ging in Schlummer über.

Ein frischer Lufthauch streifte mein Gesicht. Ich schlug die Augen auf: Es tagte. Der Himmel rötete sich noch nirgends, aber im Osten war es schon weiß. Alles ringsum wurde, wenn auch noch verschwommen, sichtbar. Der blaßgrüne Himmel wurde immer heller, kälter, blauer; die Sterne flimmerten bald schwach und verschwanden bald ganz; die Erde wurde naß, die Blätter schwitzten, hier und da erklangen lebendige Töne und Stimmen, und ein leiser Frühwind strich flatternd über die Erde. Mein Körper antwortete ihm mit einem leichten, freudigen Zittern. Ich stand schnell auf und ging zu den Jungen. Sie schliefen wie tot um das verglimmende Feuer herum; Pawel allein richtete sich halb auf und sah mich aufmerksam an.

Ich nickte ihm zu und ging, den dampfenden Fluß entlang, nach Hause. Ich hatte kaum zwei Werst zurückgelegt, als sich rings um mich herum über die weite Wiese und die grünenden Hügel von Wald zu Wald und hinter mir über die lange, staubige Landstraße, über die glitzernden, geröteten Büsche und über den Fluß, der unter dem sich verziehenden Nebel schamhaft blaute, erst hellrote, dann dunkelrote und goldene Ströme eines jungen, glühenden Lichts ergossen … Alles regte sich, alles erwachte, begann zu singen, zu rauschen, zu sprechen. Überall leuchteten wie strahlende Diamanten große Tautropfen; rein und heiter, wie von der Morgenfrische gewaschen, zogen mir Glockentöne entgegen, und plötzlich jagte die ausgeruhte, von den mir schon bekannten jungen angetriebene Pferdeherde an mir vorbei …

Leider muß ich hinzufügen, daß Pawel noch im gleichen Jahr starb. Er ertrank nicht: Er stürzte von einem Pferd und schlug sich tot. Schade, er war ein prächtiger Junge!


Kassjan aus Krassiwaja-Metsch


Ich kehrte in einem Wägelchen, das stark rüttelte, von der Jagd zurück, schlummerte, von der schwülen Hitze des bewölkten Sommertages erdrückt (bekanntlich ist die Hitze an solchen Tagen noch unerträglicher als an heiteren, besonders wenn es windstill ist), ein wenig ein und schaukelte hin und her, mich mit düsterer Geduld dem feinen, weißen Staub preisgebend, der sich von der ausgefahrenen Straße unter den ausgetrockneten und ratternden Rädern unaufhörlich erhob – , als meine Aufmerksamkeit plötzlich von der ungewöhnlichen Unruhe und den krampfhaften Körperbewegungen meines Kutschers erregt wurde, der bis dahin noch fester geschlummert hatte als ich. Er zupfte an den Zügeln, rückte auf seinem Sitz hin und her und fing an, die Pferde anzuschreien, jeden Augenblick nach der einen Seite blickend. Ich sah mich um. Wir fuhren durch eine weite, gepflügte Ebene; in außerordentlich flachen Wellen liefen zu ihr gleichfalls gepflügte, niedere Hügel herab; der Blick umfing höchstens fünf Werst des leeren Raumes; nur die kleinen Birkengehölze in der Ferne unterbrachen mit ihren rundgezackten Wipfeln die gerade Linie des Horizonts. Schmale Wege zogen sich über die Felder hin, verloren sich in den Hohlwegen, wanden sich die Hügel hinauf, und auf einem von ihnen, der etwa fünfhundert Schritt vor uns unsere Fahrstraße durchschneiden sollte, unterschied ich einen Zug. Diesen Zug betrachtete eben mein Kutscher.

Es war ein Leichenzug. Vorne fuhr in einem mit nur einem Pferdchen bespannten Wagen im Schritt der Geistliche; der Küster saß neben ihm und lenkte; dem Wagen folgten vier Bauern mit entblößten Köpfen, die den mit einem weißen Leinentuch bedeckten Sarg trugen; zwei Weiber gingen hinter dem Sarg. Die feine, klagende Stimme des einen von ihnen schlug plötzlich an mein Ohr; ich horchte auf: Die Frau jammerte. Traurig klang inmitten der leeren Felder diese eintönige, hoffnungslos klagende Weise. Der Kutscher trieb die Pferde an: Er wollte diesem Zug zuvorkommen. Unterwegs einer Leiche zu begegnen, gilt als schlimmes Zeichen. Es gelang ihm tatsächlich, über die Straße zu jagen, ehe der Leichenzug sie erreichte; wir waren aber noch keine hundert Schritt weit gefahren, als unser Wagen plötzlich einen heftigen Stoß bekam, sich auf die eine Seite neigte und beinahe umfiel. Der Kutscher hielt die ins Laufen gekommenen Pferde an, winkte hoffnungslos mit der Hand und spuckte aus.

»Was gibt es denn?« fragte ich ihn.

Mein Kutscher stieg schweigsam und ohne Übereilung vom Bock.

»Was ist denn los?«

»Die Achse ist gebrochen … ist durchgebrannt«, antwortete er düster und schob plötzlich mit solcher Wut den Rückenriemen des Seitenpferdes zurecht, daß es wankte, schließlich aber doch nicht hinfiel; es schnaubte, schüttelte sich und fing mit der größten Ruhe an, sich mit einem Zahn das Vorderbein unterhalb des Knies zu kratzen.

Ich stieg ab und stand eine Weile auf der Straße, vom dunklen Gefühl einer unangenehmen Ratlosigkeit erfüllt. Das rechte Rad war fast ganz unter den Wagen geraten und hob seine Nabe wie in stummer Verzweiflung in die Höhe.

»Was ist jetzt zu tun?« fragte ich endlich.

»Der da hat schuld!« sagte mein Kutscher, mit der Peitsche auf den Leichenzug weisend, der schon auf die Fahrstraße gekommen war und sich uns näherte. »Das habe ich immer gemerkt«, fuhr er fort, »es ist ein sicheres Zeichen, wenn man einer Leiche begegnet … Ja …«

Und er belästigte wieder das Seitenpferd, das, da es seine Mißstimmung und Strenge sah, sich entschloß, unbeweglich zu bleiben, und nur ab und zu schüchtern den Schweif bewegte. Ich ging ein wenig auf und ab und blieb wieder vor dem Rad stehen.

Der Leichenzug holte uns indessen ein. Die Trauerprozession bog vorsichtig von der Straße aufs Gras ab und ging an unserem Wagen vorbei. Der Kutscher und ich zogen die Mützen, begrüßten den Geistlichen und wechselten mit den Trägern Blicke. Sie gingen mit Mühe, und ihre breiten Brüste hoben sich schwer. Von den beiden Weibern, die dem Sarg folgten, war das eine sehr alt und blaß; ihre unbeweglichen, vom Schmerz grausam entstellten Züge hatten den Ausdruck strenger, feierlicher Würde. Sie ging schweigend einher und führte zuweilen die magere Hand an die dünnen, eingefallenen Lippen. Die andere, eine junge Frau von etwa fünfundzwanzig Jahren, hatte rote und feuchte Augen und ein vom Weinen geschwollenes Gesicht; als sie an uns vorbeikam, hörte sie zu jammern auf und bedeckte das Gesicht mit dem Ärmel … Die Leiche war aber schon an uns vorbei wieder auf die Landstraße gekommen; wieder erklang der jämmerliche, herzzerreißende Gesang. Mein Kutscher begleitete den gleichmäßig schwankenden Sarg mit einem stummen Blick und wandte sich an mich: »Es ist der Zimmermann Martyn, der da beerdigt wird«, sagte er, »der aus Rjabowo.«

»Woher weißt du das?«

»An den Weibern hab ich's erkannt. Die Alte ist seine Mutter und die Junge die Frau.«

»Ist er denn krank gewesen?«

»Ja … Fieber hat er gehabt … Vorgestern hat der Verwalter nach dem Doktor geschickt, aber sie trafen ihn nicht an … Er war ein guter Zimmermann. Wie seine Frau jammert … Nun, das weiß man ja: Die Weiber haben wohlfeile Tränen, Weibertränen sind wie Wasser … Ja.«

Er bückte sich, kroch unter den Zügeln des Seitenpferdes durch und faßte mit beiden Händen das Krummholz.

»Aber«, bemerkte ich, »was sollen wir dennoch tun?«

Mein Kutscher stemmte erst das Knie gegen die Schulter des Mittelpferdes, schüttelte zweimal das Krummholz, schob das Rückenkissen zurecht, kroch dann wieder unter dem Zügel des Seitenpferdes durch, stieß es im Vorbeigehen in die Schnauze und ging auf das Rad zu; er ging auf das Rad zu, holte langsam, ohne es aus dem Auge zu lassen, unter dem Rockschoß seine Tabaksdose hervor, nahm ebenso langsam den Deckel am Riemen heraus, steckte langsam seine zwei dicken Finger hinein (selbst die zwei fanden in ihr kaum Platz), knetete den Tabak, zog seine Nase schon im vorhinein schief, schnupfte langsam, jede Prise mit einem gedehnten Krächzen begleitend, und versank, mit den tränenden Augen schmerzhaft blinzelnd und zwinkernd, in tiefe Nachdenklichkeit.

»Nun, was?« fragte ich endlich.

Mein Kutscher steckte die Dose behutsam in die Tasche, rückte sich den Hut, ohne eine Hand zu rühren, durch eine bloße Kopfbewegung in die Brauen und stieg nachdenklich auf den Bock.

»Wo willst du denn hin?« fragte ich erstaunt.

»Steigen Sie nur ein«, erwiderte er ruhig und nahm die Zügel in die Hand.

»Wie werden wir denn fahren?«

»Wir werden schon fahren.«

»Aber die Achse …«

»Nehmen Sie nur Platz.«

»Die Achse ist aber entzwei …«

»Sie ist freilich entzwei, aber bis zur Siedlung kommen wir schon … das heißt im Schritt. Hier rechts hinter dem Gehölz ist eine Siedlung, Judino heißt sie.«

»Und du glaubst, daß wir hinkommen?«

Mein Kutscher würdigte mich keiner Antwort.

»Ich geh' lieber zu Fuß«, sagte ich.

»Wie Sie wünschen …«

Er schwang die Peitsche. Die Pferde zogen an.

Wir erreichten wirklich die Siedlung, obwohl das rechte Vorderrad kaum hielt und sich höchst seltsam drehte. Auf einem Hügel wäre es beinahe heruntergeflogen, aber mein Kutscher schrie mit wütender Stimme, und wir fuhren den Hügel glücklich hinunter.

Die Judinsche Siedlung bestand aus sechs niederen, kleinen Häuschen, die sich bereits auf die Seite geneigt hatten, obwohl sie wahrscheinlich erst seit kurzem erbaut worden waren: Nicht alle Höfe waren umzäunt. Als wir in diese Siedlung einfuhren, begegneten wir keiner lebenden Seele; nicht einmal Hühner, sogar keine Hunde ließen sich auf der Straße blicken; nur ein einziger schwarzer Hund mit kurzem Schwanz sprang vor unseren Augen aus einem vollkommen trockenen Trog heraus, in den ihn offenbar der Durst getrieben hatte, und rannte sofort, ohne zu bellen, unter ein Tor. Ich ging ins erste Haus, machte die Tür zum Flur auf und rief die Bewohner – niemand antwortete mir. Ich rief noch einmal – hinter der andern Tür erklang das hungrige Miauen einer Katze. Ich stieß die Tür mit dem Fuß auf: Eine hungrige Katze lief, mit den grünen Augen im Dunkeln funkelnd, an mir vorbei. Ich steckte den Kopf in die Stube und sah hinein: dunkel, dunstig und leer. Ich begab mich auf den Hof, auch dort war niemand … Hinter einem Verschlag brüllte ein Kalb; eine lahme graue Gans wackelte ein wenig zur Seite. Ich ging ins zweite Haus, auch im zweiten Haus war keine Seele. Ich ging in den Hof …

Mitten im hellerleuchteten Hof in der schlimmsten Glut lag, das Gesicht zur Erde und den Kopf mit einem Kittel bedeckt, wie mir schien, ein Junge. Einige Schritt von ihm stand neben einem elenden Wägelchen unter einem Schutzdach aus Stroh ein mageres Pferdchen mit abgerissenem Geschirr. Das Sonnenlicht, das durch die schmalen Öffnungen im schadhaften Schutzdach flutete, zeichnete kleine helle Flecken auf seinem zottigen rotbraunen Fell. Gleich daneben schwatzten in einem auf einer hohen Stange angebrachten Starenhäuschen Stare und blickten mit ruhiger Neugierde aus ihrem luftigen Häuschen herab. Ich ging auf den Schlafenden zu und begann ihn zu wecken …

Er hob den Kopf, erblickte mich und sprang gleich auf die Beine … »Was ist gefällig? Was ist los?« murmelte er verschlafen.

Ich antwortete ihm nicht sogleich: Dermaßen war ich über sein Äußeres erstaunt. Stellt euch einen Zwerg vor von etwa fünfzig Jahren mit einem kleinen, dunklen, gerunzelten Gesicht, einem spitzen Näschen, braunen, kaum sichtbaren Äuglein und krausen, dichten schwarzen Haaren, die auf seinem winzigen Kopf so breit wie der Hut auf einem Pilz sitzen. Sein ganzer Körper war ungewöhnlich schmächtig und mager, und man kann mit Worten gar nicht wiedergeben, wie ungewöhnlich und seltsam sein Blick war.

»Was ist gefällig?« fragte er mich wieder.

Ich erklärte ihm, um was es sich handelte; er hörte mich an, ohne seine langsam zwinkernden Augen von mir zu wenden.

»Könnten wir nicht eine neue Achse bekommen?« fragte ich ihn schließlich. »Ich würde gerne bezahlen.«

»Wer sind Sie? Ein Jäger, nicht?« fragte er, mich mit einem Blick vom Kopf bis zu den Füßen musternd. – »Ja, Jäger.«

»Sie schießen wohl die Vöglein des Himmels …? Die Tiere des Waldes? Ist es keine Sünde, die Vöglein Gottes zu töten, unschuldiges Blut zu vergießen?«

Der seltsame Alte sprach sehr gedehnt. Der Ton seiner Stimme setzte mich gleichfalls in Erstaunen. Es war nicht nur nichts Greisenhaftes in seiner Stimme, sie war sogar ungewöhnlich süß, jugendlich und von einer beinahe weiblichen Zartheit.

»Ich hab' keine Achse«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu. »Diese da taugt nicht,« Er wies auf sein Wägelchen. »Sie haben wohl einen großen Wagen.«

»Kann man im Dorf eine finden?«

»Was ist hier für ein Dorf …! Hier hat niemand eine … Es ist auch niemand daheim: Alle sind auf der Arbeit. Gehen Sie!« sagte er plötzlich und legte sich wieder auf die Erde.

Ich hatte diesen Schluß gar nicht erwartet.

»Hör mal, Alter«, sagte ich, seine Schulter berührend, »tu mir den Gefallen und hilf mir.«

»Gehen Sie mit Gott! Ich bin müde, bin in der Stadt gewesen«, sagte er, indem er sich den Kittel über den Kopf zog.

»Tu mir doch den Gefallen«, fuhr ich fort, »ich … ich will bezahlen!«

»Ich brauche dein Geld nicht.«

»Ich bitte dich, Alter …«

Er setzte sich halb auf und kreuzte seine dünnen Beinchen.

»Ich werde dich vielleicht zur abgeholzten Stelle begleiten. Hier haben bei uns Kaufleute einen Wald gekauft – Gott sei ihr Richter, sie vernichten den Wald, haben ein Kontor erbaut, Gott sei ihr Richter …! Dort könntest du dir eine Achse machen lassen oder eine fertige kaufen.«

»Sehr schön!« rief ich erfreut. »Sehr schön …! Gehen wir.«

»Eine gute Achse, eine eichene«, fuhr er fort, ohne aufzustehen.

»Ist es weit bis zur abgeholzten Stelle?«

»Drei Werst.«

»Nun, wir können ja in deinem Wägelchen hinfahren!«

»Das geht nicht …«

»Komm doch«, sagte ich, »komm, Alter! Der Kutscher wartet auf uns auf der Straße.«

Der Alte stand unwillig auf und folgte mir auf die Straße. Mein Kutscher war in gereizter Stimmung: Er wollte die Pferde tränken, aber im Brunnen war nur sehr wenig Wasser, und es schmeckte schlecht; das ist aber, wie die Kutscher behaupten, außerordentlich wichtig … Als er aber den Alten erblickte, grinste er, nickte mit dem Kopf und rief: »Ah, Kaßjanuschka! Grüß Gott!«

»Grüß Gott, Jerofej, du gerechter Mensch«, antwortete Kaßjan mit trauriger Stimme.

Ich teilte dem Kutscher sofort seinen Vorschlag mit; Jerofej erklärte sich damit einverstanden und fuhr in den Hof ein. Während er mit überlegter Geschäftigkeit die Pferde ausspannte, stand der Alte mit der Schulter ans Tor gelehnt und sah mißmutig bald ihn und bald mich an. Er schien irgendwie verdutzt: Soviel ich merken konnte, hatte ihn unser plötzlicher Besuch nicht sonderlich erfreut.

»Hat man denn auch dich hierher übersiedelt?« fragte ihn plötzlich Jerofej, das Krummholz abnehmend.

»ja, auch mich.«

»Ach!« versetzte mein Kutscher durch die Zähne. »Weißt du, der Zimmermann Martyn … du kennst doch den Martyn aus Rjabowo?«

»Gewiß.«

»Also er ist gestorben. Wir sind eben seinem Sarg begegnet.«

Kaßjan fuhr zusammen.

»Gestorben?« fragte er und senkte die Augen.

»Ja, gestorben. Warum hast du ihn nicht gesund gemacht? Man sagt doch, du behandelst Kranke, bist ein Doktor.«

Mein Kutscher machte sich offenbar über den Alten lustig.

»Ist das dein Wagen, wie?« fragte er, mit einer Schulter auf ihn weisend.

»Ja, mein Wagen.«

»Ist das ein Wagen!« sagte mein Kutscher, indem er das Fuhrwerk bei den Deichselstangen packte und beinahe umdrehte … »Ein Wagen …! Worauf wollt ihr denn in den Wald fahren …? In diese Deichselstangen kann man unser Pferd gar nicht einspannen, unser Pferd ist groß – aber was ist das da?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Kaßjan, »worauf ihr fahren werdet; vielleicht mit diesem Tierchen«, fügte er mit einem Seufzer hinzu.

»Mit diesem?« fiel ihm Jerofej ins Wort. Er ging auf Kaßjans elendes Pferdchen zu und stieß es mit dem Mittelfinger der rechten Hand in den Hals. »Sieh mal an«, fügte er vorwurfsvoll hinzu, »eingeschlafen ist sie, die Krähe!«

Ich bat Jerofej, schneller einzuspannen. Ich hatte selbst Lust, mit Kaßjan zur abgeholzten Stelle zu fahren: An solchen Stellen gibt es oft Birkhühner. Als das Wägelchen ganz fertig war und ich mit meinem Hund auf dem höckerigen Boden aus Birkenrinde Platz genommen hatte und auch Kaßjan, zu einem Knäuel zusammengekauert, mit dem früheren traurigen Gesichtsausdruck auf dem vorderen Bänkchen saß, kam Jerofej auf mich zu und flüsterte mit geheimnisvoller Miene: »Sie tun gut, Väterchen, daß Sie mit ihm fahren. Er ist ja ein Narr und hat auch den Zunamen ›Floh‹. Ich weiß gar nicht, wie Sie ihn haben verstehen können …«

Ich wollte Jerofej bemerken, daß Kaßjan auf mich bisher den Eindruck eines recht vernünftigen Menschen gemacht habe, aber mein Kutscher fuhr im gleichen Ton fort: »Passen Sie nur auf, daß er Sie an die richtige Stelle hinbringt. Wählen Sie auch die Achse selbst; wollen Sie eine recht kräftige Achse nehmen … Nun, Floh«, fuhr er laut fort, »kann man bei euch etwas Brot kriegen?«

»Such, vielleicht findest du was«, antwortete Kaßjan. Er zupfte an den Zügeln, und wir rollten davon.

Sein Pferdchen lief zu meinem aufrichtigen Erstaunen gar nicht schlecht. Kaßjan bewahrte während der ganzen Fahrt hartnäckiges Schweigen und beantwortete meine Fragen abgerissen und unwillig. Wir erreichten bald die abgeholzte Stelle und fanden dort das Kontor, ein hohes Bauernhaus, das einsam am Rande einer nicht sehr tiefen Schlucht ragte, die man in aller Eile eingedämmt und in einen Teich verwandelt hatte. Ich traf in diesem Kontor zwei junge Kaufmannsangestellte mit schneeweißen Zähnen, süßen Augen, einer süßen und gewandten Redeweise und einem süßen und schlauen Lächeln, machte mit ihnen den Preis für die Achse aus und begab mich auf die Lichtung. Ich dachte, Kaßjan würde auf mich beim Pferd warten, aber er kam plötzlich auf mich zu.

»Du gehst wohl die Vöglein schießen?« fragte er mich. »Was?«

»Ja, wenn ich welche finde.«

»Ich geh' mit dir … Darf ich?«

»Du darfst, du darfst.«

Und wir gingen. Die ganze abgeholzte Stelle war nur etwa eine Werst breit. Ich gab, offen gestanden, mehr auf Kaßjan als auf meinen Hund acht. Nicht umsonst nannte man ihn Floh. Sein schwarzes, bloßes Köpfchen (seine Haare konnten übrigens jede Mütze ersetzen) flog nur so durch die Büsche. Er ging ungewöhnlich flink und schien im Gehen immer zu hüpfen, beugte sich in einem fort, pflückte irgendwelche Halme, steckte sie in den Busen, murmelte sich etwas in den Bart und sah immer mich und meinen Hund mit eigentümlichen, forschenden Blicken an. Im niederen Gebüsch und an abgeholzten Stellen hausen oft kleine graue Vöglein, die in einem fort von einem Bäumchen auf das andere flattern und pfeifen, indem sie in der Luft im Flug untertauchen. Kaßjan äffte sie nach und wechselte mit ihnen Rufe; eine junge Wachtel flog zwitschernd unter seinen Füßen auf, er piepste ihr nach; eine Lerche ließ sich auf bebenden Flügeln laut schmetternd über ihn herab, Kaßjan fiel auch in dieses Lied ein. Mit mir sprach er gar nicht.

Das Wetter war herrlich, noch herrlicher als früher, aber die Hitze ließ immer noch nicht nach. Am heiteren Himmel zogen kaum sichtbar hohe, dünne Wölkchen, gelblichweiß, wie verspäteter Frühlingsschnee, flach und länglich wie eingezogene Segel. Ihre zierlichen Ränder, flockig und leicht wie Watte, änderten sich langsam, aber merklich mit jedem Augenblick; diese Wolken schmolzen und warfen keinen Schatten. Lange streifte ich mit Kaßjan durch die Lichtungen. Junge Schößlinge, die noch nicht einen Arschin lang waren, umgaben mit ihren feinen, glatten Stengeln die schwarzgewordenen niedrigen Baumstümpfe; runde, schwammige Wucherungen mit grauen Rändern, wie man sie zur Herstellung von Feuerschwamm benutzt, klebten an diesen Stümpfen; die Erdbeerpflanzen umrankten sie mit ihren rosa Sprossen; Pilze saßen in ganzen Familien um sie herum. Die Füße verwickelten sich ununterbrochen im langen, von der glühenden Sonne übersättigten Gras; überall flimmerte es vor dem grellen metallischen Glänzen der jungen rötlichen Blätter der Bäumchen; überall leuchteten die blauen Dolden der Wicken, die goldenen Kelche des Hahnenfußes und die halb lila und halb gelben Blüten der wilden Stiefmütterchen; hier und da erhoben sich neben verlassenen Wegen, auf denen die Räderspuren sich durch Streifen rötlichen, niederen Grases abzeichneten, von Wind und Regen geschwärzte Brennholzstapel; sie warfen schwache, schräge, viereckige Schatten, und einen andern Schatten gab es hier nicht. Ein leichter Wind erhob sich ab und zu und legte sich wieder: Er haucht einem plötzlich ins Gesicht und scheint anzuwachsen – alles ringsum beginnt zu rauschen, zu nicken und sich zu bewegen, und die biegsamen Spitzen der Farnkräuter schwanken graziös – man freut sich über diesen Wind … aber plötzlich ist er erstorben, und alles ist wieder still. Nur die Grashüpfer allein zirpen laut und wie wütend im Chor, und dieser unaufhörliche, gleichmäßig scharfe Lärm ist ermüdend. Er paßt gut zu der unerträglichen Mittagsglut; er ist von ihr gleichsam erzeugt und aus der glühenden Erde hervorgerufen. Wir stießen auf keinen einzigen Vogel und erreichten schließlich eine neue Lichtung. Vor kurzem gefällte Espen beugten sich traurig zur Erde herab und erdrückten das Gras und die kleinen Sträucher; von den unbeweglichen Zweigen einiger von ihnen hingen die Blätter noch grün, aber schon tot und welk herab; an anderen waren sie schon trocken zusammengeschrumpft. Den frischen goldigweißen Spänen, die haufenweise neben den grellfeuchten Stümpfen lagen, entströmte ein eigener, ungewöhnlicher, angenehmer, bitterer Duft. In der Ferne, neben dem Wald, klopften dumpf die Äxte; ab und zu sank feierlich und still, wie sich verneigend und die Arme ausbreitend, ein lockiger Baum zur Erde.

Lange fand ich kein Wild; endlich flog aus einem breiten, ganz mit Wermut durchwachsenen Gebüsch ein Wachtelkönig auf. Ich drückte los; er überschlug sich in der Luft und fiel herab. Als Kaßjan den Schuß hörte, bedeckte er schnell die Augen mit der Hand und rührte sich nicht, bis ich mein Gewehr wieder geladen und den Wachtelkönig aufgehoben hatte. Als ich aber weiterging, trat er an die Stelle, auf die der getötete Vogel niedergefallen war, bückte sich zum Gras, das von einigen Tropfen Blut benetzt war, schüttelte den Kopf und sah mich scheu an … Später hörte ich ihn flüstern: »Diese Sünde … ! Ach, diese Sünde!«

Die Hitze zwang uns endlich, in den Wald zu gehen. Ich warf mich unter einen hohen Haselstrauch, über den ein junger, schlanker Ahorn seine leichten Zweige breitete. Kaßjan setzte sich auf das dicke Ende einer gefällten Birke. Ich sah ihn an. Die Blätter schwankten leise in der Höhe, und ihre dünnen grünlichen Schatten glitten still über seinen hageren, nachlässig in einen dunklen Kittel gehüllten Körper und über sein kleines Gesicht. Er hob den Kopf nicht. Sein Schweigen langweilte mich, und ich legte mich auf den Rücken und begann dem friedlichen Spiel des Blättergewirrs auf dem Grund des fernen hellen Himmels zuzuschauen. Es ist eine ungewöhnlich angenehme Beschäftigung, im Wald auf dem Rücken zu liegen, und nach oben zu schauen. Es ist euch, als schauet ihr in ein abgrundtiefes Meer, das sich unter euch ausbreitet, daß die Bäume sich nicht von der Erde erheben, sondern sich wie die Wurzeln riesengroßer Pflanzen senkrecht in die glashellen Fluten senken; die Blätter an den Zweigen glänzen bald wie durchsichtige Smaragde, bald verdichten sie sich zu einem goldigen, fast schwarzen Grün. Ein unbewegliches, einsames Blatt irgendwo hoch oben, am Ende eines dünnen Zweiges, hebt sich vom blauen Fetzen des durchsichtigen Himmels ab; gleich daneben wiegt sich ein anderes, und seine Bewegung erinnert an das Spiel eines Fischschwanzes, als sei die Bewegung willkürlich und nicht vom Winde erzeugt. Zauberhaften Unterwasserinseln ähnliche, weiße, runde Wolken kommen leise gezogen und schweben leise vorbei – und plötzlich beginnt dieses Meer, diese strahlende Luft, beginnen diese vom Sonnenlicht übergossenen Zweige und Blätter und alles zu rieseln und in einem flüchtigen Glanz zu zittern, und es erhebt sich ein frisches, bebendes Flüstern, gleich dem unaufhörlichen feinen Plätschern einer plötzlich heranrollenden Brandung. Ihr rührt euch nicht, ihr schaut, und es läßt sich mit Worten gar nicht ausdrücken, wie freudig, still und süß euch ums Herz wird. Ihr schaut, und das tiefe, reine Blau weckt auf euren Lippen ein Lächeln, so unschuldig wie dieses Blau selbst; wie die Wolken am Himmel, und gleichsam zugleich mit den Wolken zieht euch langsam eine lange Reihe glücklicher Erinnerungen durch den Sinn, und es ist euch, als dringe euer Blick immer tiefer und tiefer ein und ziehe auch euch in den ruhigen, strahlenden Abgrund mit sich, und es ist unmöglich, sich von dieser Höhe, von dieser Tiefe loszureißen …

»Herr, du, Herr!« sagte plötzlich Kaßjan mit seiner lauten Stimme.

Ich richtete mich erstaunt auf: Bisher hatte er meine Fragen kaum beantwortet, nun fing er aber selbst zu reden an.

»Was willst du?« fragte ich.

»Sag, warum hast du das Vöglein getötet?« begann er, mir gerade ins Gesicht blickend.

»Wieso? Warum …? Der Wachtelkönig ist Wild, man kann ihn essen.«

»Nicht dazu hast du ihn getötet, Herr; du wirst ihn doch nicht essen! Du hast ihn zu deinem Vergnügen getötet.«

»Aber du selbst ißt doch zum Beispiel Hühner und Gänse?«

»Dieses Geflügel ist von Gott für den Menschen bestimmt, der Wachtelkönig ist aber ein freier Vogel, ein Waldvogel. Und nicht nur er allein: Es gibt viele solche Geschöpfe im Wald, im Feld und im Fluß, im Sumpf und auf der Wiese, in der Höhe und in der Tiefe, und es ist Sünde, sie zu töten; sollen sie auf Erden so lange leben, wie ihnen beschieden ist … Dem Menschen ist aber eine andere Nahrung bestimmt: Brot, die Gabe Gottes, und das Wasser vom Himmel, und Haustiere von den Urvätern her.«

Ich sah Kaßjan erstaunt an. Seine Worte kamen ihm ganz frei von den Lippen; er suchte sie nicht, er sprach mit stiller Begeisterung und milder Würde und schloß ab und zu die Augen.

»Du hältst es also für Sünde, auch einen Fisch zu töten?« fragte ich.

»Der Fisch hat kaltes Blut«, entgegnete er mit Überzeugung, »der Fisch ist ein stummes Geschöpf. Er kennt keine Furcht und keine Freude; der Fisch ist eine stumme Kreatur. Der Fisch fühlt nichts, sein Blut ist nicht lebendig … Das Blut«, fuhr er nach einem Schweigen fort, »das Blut ist eine heilige Sache! Das Blut sieht die Sonne Gottes nicht, das Blut versteckt sich vor dem Licht … es ist eine große Sünde, dem Licht Blut zu zeigen, eine große und schreckliche Sünde … Ach, eine sehr große!«

Er seufzte und schlug die Augen nieder. Ich sah den merkwürdigen Alten, offen gestanden, mit großem Erstaunen an. Seine Rede klang nicht wie die eines Bauern: So sprechen die einfachen Menschen nicht, und auch die Schönsprecher nicht … Ich hatte nie etwas Ähnliches gehört.

»Sag bitte, Kaßjan«, begann ich, ohne meinen Blick von seinem leicht geröteten Gesicht zu wenden, »was hast du für ein Gewerbe?«

Er beantwortete meine Frage nicht gleich. Sein Blick schweifte eine Weile unruhig umher.

»Ich lebe, wie Gott es befiehlt«, sagte er schließlich. »Ein Gewerbe habe ich aber nicht. Ich bin gar zu unverständig, von Kindheit an; ich arbeite, solange ich kann – ich bin ein schlechter Arbeiter … wie soll ich auch! Es fehlt mir an Gesundheit, und die Hände sind ungeschickt. Nun, im Frühjahr fange ich Nachtigallen.«

»Du fängst Nachtigallen …? Hast du aber nicht selbst gesagt, daß man kein Tier des Waldes oder des Feldes oder ein anderes Geschöpf anrühren darf?«

»Töten darf man sie wohl nicht, das stimmt; der Tod holt auch so das Seine. Nehmen wir zum Beispiel den Zimmermann Martyn: Der Zimmermann Martyn hat gelebt, hat gar nicht lange gelebt und ist gestorben. Seine Frau weint jetzt um den Mann und um die kleinen Kinder … Den Tod kann weder der Mensch noch das Tier überlisten. Der Tod läuft nicht, aber man kann ihm nicht entlaufen; man darf ihm auch nicht helfen … Die Nachtigallen töte ich ja nicht – Gott bewahre! Ich fange sie nicht, um sie zu quälen und nicht zu ihrem Verderben, sondern dem Menschen zum Vergnügen, zum Trost und zur Freude.«

»Gehst du auch nach Kursk, um sie zu fangen?«

»Ich gehe nach Kursk und auch weiter, wie es sich trifft. Ich übernachte in Sümpfen und in Wäldern, bleibe über Nacht ganz allein im Feld und in der Einöde: Da pfeifen die Schnepfen, da schreien die Hasen, da schnattern die Enten … Des Abends merke ich sie mir, des Morgens belausche ich sie, beim Morgengrauen werfe ich die Netze auf die Büsche aus … Manche Nachtigall singt so rührend, so süß, daß es sogar weh tut.«

»Und verkaufst sie?«

»Ich gebe sie den guten Leuten.«

»Was treibst du sonst?«

»Was ich treibe?«

»Was hast du sonst noch für eine Beschäftigung?«

Der Alte schwieg eine Weile.

»Ich habe keine Beschäftigung. Ich bin ein schlechter Arbeiter. Aber lesen kann ich.«

»Du kannst lesen?«

»Ja. Gott hat mir dazu verholfen, auch die guten Menschen.«

»Hast du Familie?«

»Nein, keine.«

»Wieso …? Sind dir alle gestorben?«

»Nein, ich hab' einfach kein Glück im Leben gehabt. Das hängt aber alles von Gott ab, wir sind alle in Gottes Hand; doch der Mensch muß gerecht sein – das ist es! Das heißt, gottgefällig.«

»Hast du keine Verwandten?«

»Ja … aber …«

Der Alte wurde verlegen.

»Sag bitte«, begann ich, »es kam mir vor, als hätte dich mein Kutscher gefragt, warum du den Martyn nicht gesund gemacht hast. Verstehst du denn Kranke zu behandeln?«

»Dein Kutscher ist ein gerechter Mensch«, antwortete Kaßjan nachdenklich, »aber auch er ist nicht ohne Sünde. Man nennt mich einen Doktor … Was bin ich für ein Doktor …! Und wer kann einen Kranken heilen? Das alles ist von Gott. Aber es gibt … Kräuter, Blumen; Diese helfen wirklich. Da ist zum Beispiel das Kraut Wasserdost sehr gut für den Menschen, auch der Wegerich; es ist keine Schande, von ihnen zu sprechen, es sind ja reine Kräuter Gottes. Die andern sind aber nicht so: Sie helfen zwar, aber es ist Sünde; es ist Sünde, von ihnen zu sprechen. Höchstens mit einem Gebet … Es gibt natürlich auch gewisse Worte … Wer aber glaubt, der wird gerettet«, fügt er mit gedämpfter Stimme hinzu.

»Hast du dem Martyn nichts eingegeben?« fragte ich.

»Ich hab' es zu spät erfahren«, antwortete der Alte. »Aber was soll man machen, es ist einem jeden schon bei seiner Geburt bestimmt. Dem Zimmermann Martyn war es nicht beschieden, lange auf dieser Erde zu leben, nein, es war ihm nicht beschieden. Und wenn es einem Menschen nicht beschieden ist zu leben, so wärmt ihn die Sonne nicht wie einen anderen, und das Brot schlägt ihm nicht an – es ist, als ob man ihn abriefe … Ja, Gott schenke seiner Seele die ewige Ruhe!«

»Ist es lange her, daß man euch hierher übersiedelt hat?« fragte ich nach kurzem Schweigen. Kaßjan fuhr zusammen.

»Nein, es ist nicht lange her, nur vier Jahre. Beim alten Herrn lebten wir alle auf unseren alten Wohnsitzen, das Vormundschaftsgericht hat uns aber übersiedelt. Unser alter Herr war eine gute Seele, ein bescheidener Mensch, Gott hab' ihn selig! Nun, das Vormundschaftsgericht wußte wohl, was es tat; es mußte wohl so sein.«

»Wo habt ihr früher gelebt?«

»Wir sind aus Krassiwaja-Metsch.«

»Ist es weit von hier?«

»An die hundert Werst.«

»Nun, habt ihr es dort besser gehabt?«

»Ja, besser … besser. Die Gegend ist dort freier und wasserreicher, es war unser Nest, hier ist es aber eng und trocken … Hier sind wir verwaist. Wenn man dort, in Krassiwaja-Metsch, auf einen Hügel steigt, mein Gott, was sieht man nicht alles …! Den Fluß, Wiesen und Wald; die Kirche, und dann wieder Wiesen. Weit, weit kann man dort sehen. So weit … man schaut, man schaut mein Gott! Hier ist freilich der Boden besser, Lehmboden, guter Lehmboden, sagen die Bauern; aber für mich gedeiht überall Brot genug.«

»Sag mal, Alter, die Wahrheit, du möchtest wohl gern die Heimat wiedersehen?« »Ja, das möchte ich gern. Übrigens ist es überall gut. Ich habe keine Familie, bin ein unruhiger Mensch. Was hat man auch, wenn man immer zu Hause hockt? Wenn man aber wandert, wenn man wandert«, fuhr er mit erhobener Stimme fort, »so ist es gleich leichter ums Herz. Die Sonne wärmt dich, Gott sieht dich überall, und es singt sich besser. Hier siehst du, was für ein Kraut da wächst, du merkst es und pflückst es dir. Dort fließt ein Wasser, Quellwasser, es ist heiliges Wasser, du trinkst davon und merkst es dir. Die Vögel des Himmels singen … Hinter Kursk beginnt aber die Steppe, ein wahres Wunder, eine Augenweide für den Menschen – diese Freiheit, dieser Segen Gottes! Die Steppe zieht sich, wie die Leute sagen, bis zum warmen Meere hin, wo der Vogel Gamajun mit der süßen Stimme lebt, wo das Laub von den Bäumen weder im Winter noch im Herbste fällt, wo goldene Äpfel auf silbernen Ästen wachsen und jeder Mensch in Zufriedenheit und Gerechtigkeit lebt … Dorthin wäre ich wohl gern gegangen … Ich bin schon viel herumgekommen! Bin in Romny gewesen, in der schönen Stadt Simbirsk und auch in Moskau mit den goldenen Kuppeln; ich war an der Oka, der Ernährerin, an der Zna, dem Täubchen, und an der Mutter Wolga, habe viele Menschen gesehen, gute Christen, habe viele fromme Städte besucht … So würde ich gern hingehen … Und nicht ich Sünder allein … viele andere Christen gehen in Bastschuhen durch die Welt und suchen die Wahrheit … ja …! Was hat man aber zu Hause? Es ist keine Gerechtigkeit im Menschen, das ist es …«

Die letzten Worte sprach Kaßjan sehr schnell, fast unverständlich; dann sagte er noch etwas, was ich gar nicht hören konnte, sein Gesicht nahm aber einen so merkwürdigen Ausdruck an, daß ich unwillkürlich an das Wort ›Narr in Christo‹ denken mußte. Er schlug die Augen nieder, hüstelte und kam gleichsam zu sich.

»Diese Sonne!« sagte er halblaut. »Dieser Segen, mein Gott! So warm im Walde!«

Er zuckte die Achseln, schwieg eine Weile, sah zerstreut um sich und stimmte ein leises Lied an. Ich konnte nicht alle Worte seines gedehnten Liedes verstehen; folgendes hörte ich:

»Doch mein Name ist Kaßjan,

bei den Leuten heiß' ich Floh …«

Ah! dachte ich mir – er dichtet auch! – Plötzlich fuhr er zusammen, verstummte und blickte unverwandt ins Waldesdickicht. Ich wandte mich um und sah ein kleines Bauernmädchen von etwa acht Jahren, in einem blauen Sarafan, mit einem gewürfelten Tuch auf dem Kopf und einem geflochtenen Körbchen auf dem sonnenverbrannten, bloßen Arm. Sie hatte wohl nicht erwartet, uns hier zu treffen; sie war auf uns sozusagen gestoßen und stand unbeweglich im grünen Schatten des Haselgebüsches, auf der schattigen Waldwiese und betrachtete mich scheu mit ihren schwarzen Augen. Ich hatte kaum Zeit gehabt, sie mir näher anzusehen, denn sie verschwand gleich hinter einem Baum.

»Annuschka! Annuschka! Komm mal her, fürchte dich nicht«, rief ihr der Alte freundlich zu.

»Ich fürchte mich«, antwortete ein dünnes Stimmchen.

»Fürchte dich nicht, komm zu mir.«

Annuschka verließ schweigend ihr Versteck, ging langsam herum – ihre kindlichen Füße traten kaum hörbar auf das dichte Gras – und kam dicht neben dem Alten aus dem Dickicht heraus. Das Mädchen war nicht acht Jahre alt, wie ich anfangs, da sie so klein war, geglaubt hatte, sondern dreizehn oder vierzehn. Ihr Körper war klein und schmächtig, aber biegsam und gewandt; das hübsche Gesichtchen hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Gesicht Kaßjans, obwohl Kaßjan durchaus kein schöner Mann war. Die gleichen scharfen Züge, der gleiche seltsame Blick, schlau und zutraulich, nachdenklich und durchdringend, auch die gleichen Bewegungen … Kaßjan sah sie an; sie stand seitwärts zu ihm.

»Nun, hast du Pilze gesammelt?« fragte er.

»Ja, Pilze«, antwortete sie mit einem schüchternen Lächeln.

»Hast du viel gefunden?«

»Ja, viel.« Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und lächelte wieder.

»Sind auch weiße dabei?«

»Auch weiße.«

»Zeig mal, zeig mal…«

Sie ließ das Körbchen vom Arme gleiten und hob das große Blatt, mit dem die Pilze bedeckt waren, halb in die Höhe.

»Ach!« sagte Kaßjan, sich über das Körbchen beugend: »So schöne Pilze! Brav, Annuschka!«

»Ist es deine Tochter, Kaßjan, wie?« fragte ich.

Annuschkas Gesicht rötete sich leicht.

»Nein, eine Verwandte«, versetzte Kaßjan mit geheuchelter Gleichgültigkeit. »Nun, Annuschka, geh«, fügte er sofort hinzu, »geh mit Gott. Paß aber auf …«

»Warum soll sie zu Fuß gehen?« unterbrach ich ihn. »Wir können sie doch im Wagen mitnehmen …«

Annuschka wurde rot wie eine Mohnblüte, faßte mit beiden Händen die Schnur des Körbchens und sah den Alten unruhig an.

»Nein, sie kommt auch zu Fuß hin«, antwortete er mit derselben gleichgültigen und trägen Stimme. »Was macht es ihr …? Sie kommt auch so hin … Geh.«

Annuschka verschwand schnell im Wald. Kaßjan blickte ihr nach, schlug dann die Augen nieder und lächelte. In diesem langen Lächeln, in den wenigen Worten, die er zu Annuschka gesagt, und selbst im Ton seiner Stimme, mit der er zu ihr gesprochen hatte, lag eine unsagbare leidenschaftliche Liebe und Zärtlichkeit. Er blickte noch einmal in die Richtung, wo sie verschwunden war, lächelte wieder, rieb sich das Gesicht und schüttelte einige Male den Kopf.

»Warum hast du sie so schnell weggeschickt?« fragte ich ihn. »Ich hätten ihr die Pilze abgekauft …«

»Sie können sie auch zu Hause kaufen, wenn Sie mögen«, antwortete er mir; er sprach mich zum ersten Male mit Sie an.

»Das Mädel ist aber wunderhübsch.«

»Nein … wo …«, antwortete er gleichsam widerwillig und verfiel von diesem Augenblick an in seine frühere Schweigsamkeit.

Als ich sah, daß alle meine Bemühungen, ihn zum Sprechen zu bringen, vergeblich blieben, ging ich wieder an die abgeholzte Stelle. Außerdem hatte die Hitze etwas nachgelassen; aber mein Mißgeschick hielt an, und ich kehrte mit einem einzigen Wachtelkönig und mit der neuen Achse zur Siedlung zurück. Kurz vor seinem Hof wandte sich Kaßjan plötzlich zu mir um.

»Herr, du, Herr!« sagte er: »Ich bin vor dir schuldig: Ich habe dir das ganze Wild vertrieben.«

»Wieso?«

»Das weiß ich schon. Du hast einen guten, gelehrten Hund, aber auch er konnte nichts ausrichten. Man denkt sich, was kann so ein Mensch, wie? Da ist auch ein Tier, was hat man aber aus ihm gemacht?«

Es wäre vergebens, Kaßjan von der Unmöglichkeit zu überzeugen, das Wild zu besprechen. Darum antwortete ich ihm nichts. Auch fuhren wir schon zum Tor hinein.

Annuschka war nicht in der Stube; sie war schon dagewesen und hatte das Körbchen mit den Pilzen zurückgelassen. Jerofej brachte die neue Achse an, nachdem er sie zuvor einer strengen und ungerechten Kritik unterworfen hatte; nach einer Stunde fuhr ich ab und ließ Kaßjan etwas Geld zurück, das er erst nicht annehmen wollte, dann aber, nachdem er es eine Zeitlang auf der flachen Hand gehalten, doch in den Busen steckte. Im Laufe dieser Stunde sprach er fast kein einziges Wort; er stand wie früher ans Tor gelehnt, beantwortete die Vorwürfe meines Kutschers nicht und nahm von mir recht kühl Abschied.

Gleich nach meiner Rückkehr merkte ich, daß mein Jerofej sich wieder in einer düsteren Gemütsstimmung befand … Er hatte in der Tat im ganzen Dorf nichts Eßbares auftreiben können, und auch das Wasser für die Pferde war schlecht. Wir fuhren ab. Er saß mit einem Mißvergnügen, das sich sogar in seinem Nacken spiegelte, auf dem Bock und hatte furchtbar große Lust, mit mir zu reden; aber in Erwartung, daß ich an ihm zuerst eine Frage richte, beschränkte er sich auf ein leises Brummen und auf belehrende, mitunter auch beißende Worte, die er an die Pferde richtete. »Das nennt sich auch ein Dorf!« murmelte er. »Ein schönes Dorf! Ich fragte nach Kwaß, sie haben nicht mal Kwaß … Du, mein Gott! Das Wasser ist aber einfach zum Speien!« Er spuckte laut aus. »Weder Gurken noch Kwaß, gar nichts … Du, du!« fügte er laut hinzu, sich an das rechte Seitenpferd wendend: »Ich kenne dich, du Heuchler! Du machst es dir leicht …« Er versetzte ihm einen Schlag mit der Peitsche. »Das Pferd hat seine ganze Rechtschaffenheit verloren, war aber früher ein so gehorsames Tier … Nun, nun, sieh dich nur um!«

»Sag mal bitte, Jerofej«, begann ich, »was ist dieser Kaßjan für ein Mensch?«

Jerofej gab mir nicht sogleich Antwort. Er war überhaupt ein Mann, der sich alles lange überlegte und sich nicht übereilte; aber ich konnte gleich merken, daß meine Frage ihn erheiterte und beruhigte.

»Der Floh?« begann er endlich, indem er an den Zügeln zupfte: »Ein merkwürdiger Mensch, ein Narr in Christo; einen so merkwürdigen Menschen findet man nicht leicht wieder. Er ist ganz wie unser Brauner: Auch er ist ganz aus Rand und Band geraten … das heißt, er will gar nicht arbeiten. Freilich, was ist er auch für ein Arbeiter …? Er atmet ja kaum, aber dennoch … Er ist von Kind auf so. Anfangs war er mit seinen Onkeln Fuhrmann; seine Onkel hielten Troikas; dann wurde es ihm aber zu dumm, und er gab es auf. Er lebte zu Hause, konnte aber zu Hause nicht lange aushalten: So unruhig ist er wie ein Floh. Zum Glück hatte er einen guten Herrn, der zwang ihn zu nichts. Seitdem treibt er sich immer herum wie ein herrenloses Schaf. Ein merkwürdiger Mensch, weiß Gott: Bald schweigt er wie ein Baumstumpf, bald fängt er zu reden an; was er aber zusammenredet, das weiß Gott allein. Ist das eine Manier? Das ist doch keine Manier. Ein unsinniger Mensch, wirklich. Aber er singt gut. So feierlich, da ist nichts zu sagen.«

»Behandelt er Kranke?«

»Ach was …! Wie kommt er dazu! So ein Mensch! Mich hat er übrigens von den Skrofeln geheilt … Wie kommt er dazu! Ein ganz dummer Mensch«, fügte er nach einer Pause hinzu.

»Kennst du ihn schon lange?«

»Schon lange. Wir waren in Sytschowka Nachbarn an der Krassiwaja-Metsch.«

»Und das Mädel, das wir im Walde sahen, die Annuschka, ist sie mit ihm verwandt?«

Jerofej sah mich über die Schulter an und grinste übers ganze Gesicht.

»Ha …! Ja, verwandt. Sie ist ein Waisenkind; sie hat keine Mutter, und man weiß auch nicht, wer ihre Mutter war. Muß aber mit ihm verwandt sein, sie sieht ihm gar zu ähnlich … Sie lebt bei ihm. Ein flinkes Mädel, das muß man wohl sagen, ein gutes Mädel, der Alte liebt sie mit ganzer Seele, ein nettes Mädel. Sie werden es mir nicht glauben, aber er ist imstande, seine Annuschka lesen zu lehren. Bei Gott, das sieht ihm ähnlich, so ein ungewöhnlicher Mensch ist er eben. Ein unbeständiger, unberechenbarer Mensch … He, he, he!« unterbrach mein Kutscher plötzlich sich selbst. Er hielt die Pferde an, neigte sich auf die Seite und begann in der Luft zu schnuppern. »Ich glaube, es ist Brandgeruch? Wirklich! Diese neuen Achsen … Dabei habe ich sie so geschmiert … Ich muß schauen, daß ich etwas Wasser auftreibe: Da ist auch ein kleiner Teich.«

Jerofej kletterte langsam vom Bock, band den Eimer ab, ging zum Teich, kehrte zurück und hörte mit Vergnügen zu, wie die plötzlich mit Wasser übergossene Radbuchse zischte … Auf der Strecke von zehn Werst mußte er an die sechsmal die heißgelaufene Achse begießen, und es war schon ganz finster, als wir nach Hause zurückkehrten.


Burmistr


Etwa fünfzehn Werst von meinem Gut wohnt ein Bekannter von mir, ein junger Gutsbesitzer, der Gardeoffizier a.D. Arkadij Pawlytsch Pjenotschkin. Auf seiner Besitzung gibt es viel Wild, sein Haus ist nach dem Plan eines französischen Architekten errichtet, seine Leute sind englisch gekleidet, er gibt ausgezeichnete Diners und empfängt seine Gäste gastfreundlich, und doch fährt man nicht gern zu ihm hin. Er ist ein vernünftiger und solider Mensch, hat, wie es so geht, eine ausgezeichnete Erziehung genossen, hat gedient und sich in der höchsten Gesellschaft bewegt, und nun treibt er mit großem Erfolg Landwirtschaft. Arkadij Pawlytsch ist, um mit seinen eigenen Worten zu reden, streng, aber gerecht; er sorgt für das Wohl seiner Untertanen und straft sie nur zu ihrem eigenen Besten. »Man muß sie behandeln wie die Kinder«, pflegt er in solchen Fällen zu sagen. »Die Unbildung, mon cher; il faut prendre cela en considération.« Selbst im Fall einer sogenannten traurigen Notwendigkeit vermeidet er hastige und heftige Bewegungen und erhöht nicht gern den Ton seiner Stimme; er stößt vielmehr direkt mit der Faust und spricht dabei ruhig: »Ich habe dich ja gebeten, mein Lieber«, oder: »Was hast du, mein Freund? Besinne dich doch!« Dabei drückt er nur die Zähne aufeinander und verzieht den Mund. Er ist nicht groß gewachsen, elegant gebaut und recht hübsch; seine Hände und Nägel hält er sehr sauber; seine roten Lippen und Wangen atmen Gesundheit. Er lacht laut und sorglos und blinzelt freundlich mit seinen hellen braunen Augen. Er kleidet sich vorzüglich und geschmackvoll; er verschreibt sich französische Bücher, Bilder und Zeitungen, ist aber kein großer Freund vom Lesen: Nur mit Mühe ist er mit dem Ewigen Juden fertig geworden. Im Kartenspiel ist er Meister. Arkadij Pawlytsch gilt überhaupt als einer der gebildetsten Edelleute und eine der begehrenswertesten Partien in unserem Gouvernement; die Damen sind bezaubert von ihm und loben insbesondere seine Manieren. Er hat ein wunderbares Benehmen, ist vorsichtig wie eine Katze und ist während seines ganzen Lebens in keine einzige Geschichte verwickelt gewesen, obwohl er es bei Gelegenheit liebt, seine Meinung zu sagen und einen schüchternen Menschen zu verblüffen und zum Schweigen zu bringen. Schlechte Gesellschaft meidet er auf die entschiedenste Weise, da er fürchtet, sich irgendwie zu kompromittieren; dafür erklärt er sich oft in einer heiteren Stunde für einen Jünger Epikurs, obwohl er im allgemeinen über die Philosophie abfällig urteilt und sie eine neblige Nahrung deutscher Geister, manchmal auch einfach einen Unsinn nennt. Er liebt auch Musik und singt beim Kartenspiel durch die Zähne, aber mit Gefühl; er kennt einige Stellen aus der Lucia und aus der Somnambule, singt sie aber etwas zu hoch. Im Winter fährt er immer nach Petersburg. Sein Haus ist in einer wunderbaren Ordnung; selbst die Kutscher haben sich seinem Einfluß gefügt und putzen nicht nur alle Tage die Kumte und ihre Röcke, sondern waschen sich auch täglich ihre Gesichter. Die Leibeigenen Arkadij Pawlytschs blicken zwar etwas finster drein, aber bei uns in Rußland kann man einen mürrischen Menschen nur schwer von einem verschlafenen unterscheiden. Arkadij Pawlytsch spricht mit einer weichen, angenehmen Stimme, in Absätzen, und scheint jedes Wort mit Vergnügen durch seinen schönen, parfümierten Schnurrbart hindurchzulassen; er gebraucht auch viele französische Ausdrücke, wie: »Mais c'est impayable!« »Mais comment donc!« und so weiter. Trotz alledem besuche ich ihn nicht allzu gern, und wären nicht die Birk- und Rebhühner, so hätte ich wohl jeden Verkehr mit ihm abgebrochen. Eine seltsame Unruhe bemächtigt sich euer in seinem Haus; selbst der Komfort freut euch nicht, und wenn vor euch am Abend der Kammerdiener mit gekräuseltem Haar, in blauer Livree mit Wappenknöpfen, erscheint und euch mit knechtischer Dienstfertigkeit die Stiefel auszuziehen beginnt, fühlt ihr, daß, wenn statt dieses bleichen und ausgemergelten Menschen vor euch plötzlich die erstaunlich breiten Backenknochen und die unwahrscheinlich stumpfe Nase eines kräftigen jungen Bauernburschen erschiene, den der Herr soeben vom Pflug geholt hat, der aber schon Zeit gefunden hat, den ihm vor kurzem verliehenen Nankingrock an zehn Stellen zu zerreißen – ihr euch unsagbar freuen und euch gern der Gefahr aussetzen würdet, zugleich mit dem Stiefel auch das ganze Bein bis zum Gelenk zu verlieren …

Trotz meiner Abneigung gegen Arkadij Pawlytsch traf es sich einmal doch, daß ich bei ihm über Nacht bleiben mußte. Am nächsten Morgen ließ ich meinen Wagen anspannen, er wollte mich aber nicht ohne ein Frühstück nach englischer Manier fortlassen und führte mich in sein Kabinett. Mit dem Tee reichte man uns Koteletts, weiche Eier, Butter, Honig, Käse usw. Zwei Kammerdiener in sauberen weißen Handschuhen kamen rasch und stumm unseren geringsten Wünschen zuvor. Wir saßen auf einem persischen Diwan. Arkadij Pawlytsch trug eine weite, seidene Pluderhose, eine schwarze Samtjoppe, einen hübschen Fez mit blauer Quaste und gelbe, chinesische, hinten offene Pantoffeln. Er trank seinen Tee, lachte, betrachtete seine Fingernägel, rauchte, schob sich Kissen hinter den Rücken und fühlte sich überhaupt in der besten Laune. Nachdem er ausgiebig und mit sichtbarem Vergnügen gefrühstückt hatte, schenkte sich Arkadij Pawlytsch ein Glas Rotwein ein, führte es an die Lippen und runzelte plötzlich die Stirn.

»Warum ist der Wein nicht gewärmt?« fragte er ziemlich barsch einen der Kammerdiener.

Der Kammerdiener verlor die Fassung, blieb wie angewurzelt stehen und erbleichte.

»Ich habe dich gefragt, mein Bester!« fuhr Arkadij Pawlytsch ruhig fort, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

Der unglückliche Kammerdiener trat von einem Fuß auf den anderen, drehte die Serviette in der Hand und versetzte kein Wort. Arkadij Pawlytsch senkte den Kopf und sah ihn nachdenklich mit krauser Stirn an.

»Pardon, mon cher«, versetzte er mit einem angenehmen Lächeln, mein Knie freundschaftlich mit der Hand berührend, und richtete dann den Blick wieder auf den Kammerdiener. »Nun, geh«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu. Dann zog er die Brauen hoch und schellte.

Ein dicker, brauner, schwarzhaariger Mann mit niedriger Stirn und im Fett verschwindenden Augen trat ins Zimmer.

»Wegen Fjodor … ist ein Befehl zu erteilen«, sagte Arkadij Pawlytsch halblaut mit vollkommener Selbstbeherrschung. »Zu Befehl«, antwortete der Dicke und ging hinaus.

»Voilà, mon cher, les désagréments de la campagne«, bemerkte Arkadij Pawlytsch lustig. – »Wo wollen Sie denn hin? Bleiben Sie doch, sitzen Sie noch ein Weilchen da.«

»Nein«, antwortete ich, »ich muß fort.«

»Immer auf die Jagd! Ach, diese Jäger! Wo fahren Sie denn jetzt hin?«

»Vierzig Werst von hier, nach Rjabowo.«

»Nach Rjabowo? Ach, mein Gott, in diesem Fall fahre ich mit Ihnen. Rjabowo liegt nur fünf Werst von meinem Gut Schipilowka entfernt; in Schipilowka bin ich aber schon lange nicht gewesen, ich kam einfach nicht dazu … So trifft es sich ausgezeichnet: Heute können Sie in Rjabowo jagen und kommen am Abend zu mir. Ce sera charmant. Wir werden zusammen zum Abend essen – wir nehmen den Koch mit. Sie werden bei mir übernachten. Wunderschön! Ausgezeichnet!« fügte er hinzu, ohne erst meine Antwort abzuwarten. »C'est arrangé … He, wer ist da? Laßt uns den Wagen anspannen, aber schnell. Sind Sie noch nie in Schipilowka gewesen? Ich würde mich schämen, Ihnen vorzuschlagen, die Nacht im Hause meines Burmistrs zu verbringen, aber ich weiß, Sie sind nicht heikel, auch in Rjabowo müßten Sie in einem Heuschuppen übernachten … Also wir fahren!«

Und Arkadij Pawlytsch stimmte irgendein französisches Lied an.

»Sie wissen vielleicht nicht«, fuhr er fort, sich auf beiden Beinen wiegend, »meine Bauern sind dort auf Zins gesetzt. Konstitution, was soll man machen? Aber sie zahlen den Zins pünktlich. Ich hätte sie, offen gestanden, schon längst auf Frondienst gesetzt, aber ich habe zu wenig Land! Ich wundere mich auch so, wie sie auskommen. Übrigens, c'est leur affaire. Mein Burmistr ist ein tüchtiger Kerl, une forte tête, ein Staatsmann! Sie werden es sehen … Es trifft sich wirklich ausgezeichnet.«

Es war nichts zu machen. Statt um neun Uhr früh fuhren wir erst um zwei ab. Die Jäger werden meine Ungeduld begreifen. Arkadij Pawlytsch liebte es, wie er sich ausdrückte, sich bei Gelegenheit zu verwöhnen, und nahm eine solche Menge Wäsche, Vorräte, Kleider, Parfüms, Kissen und allerlei Necessaires mit, daß dieser Gottessegen manchem sparsamen und sich beherrschenden Deutschen wohl für ein Jahr gereicht haben würde. Sooft es bergab ging, hielt Arkadij Pawlytsch eine kurze, aber eindringliche Rede an seinen Kutscher, woraus ich ersehen konnte, daß mein Bekannter ein ordentlicher Hasenfuß war. Die Reise ging aber sehr glücklich vonstatten; nur auf einem vor kurzem ausgebesserten Brückchen stürzte der Wagen mit dem Koch um, und das Hinterrad drückte ihm den Magen ab.

Als Arkadij Pawlytsch den Sturz seines selbstgezogenen Carêmes sah, erschrak er ernstlich und ließ sich sogleich erkundigen, ob seine Hände ganz seien. Als er eine bejahende Antwort erhielt, beruhigte er sich sofort. So fuhren wir ziemlich lange; ich saß im gleichen Wagen mit Arkadij Pawlytsch und empfand gegen das Ende der Fahrt eine tödliche Langeweile, um so mehr, als mein Bekannter im Laufe der einigen Stunden am Ende seiner Weisheit war und zu liberalisieren anfing. Endlich kamen wir an, aber nicht in Rjabowo, sondern direkt in Schipilowka: So hatte es sich irgendwie gefügt. An diesem Tag konnte ich ohnehin nicht mehr jagen und ergab mich daher wohl oder übel in mein Schicksal.

Der Koch war einige Minuten vor uns angekommen und hatte offenbar schon verschiedene Anordnungen getroffen und die in Betracht kommenden Personen benachrichtigt, denn gleich an der Dorfgrenze empfing uns der Schulze (ein Sohn des Burmistrs), ein kräftiger, rothaariger Bauer von Klaftergröße, zu Pferde, ohne Mütze, mit einem neuen, vorne offenstehenden Kittel angetan. – »Wo ist denn Sofron?« fragte ihn Arkadij Pawlytsch. Der Schulze sprang schnell vom Pferd, verbeugte sich tief vor dem Herrn und sagte: »Guten Tag, Väterchen Arkadij Pawlytsch!« Dann hob er den Kopf, schüttelte sich und meldete, Sofron sei nach Perow gefahren, man habe aber schon nach ihm geschickt. – »Nun, komm mit uns«, sagte Arkadij Pawlytsch. Der Schulze führte sein Pferd aus Anstand auf die Seite, schwang sich hinauf und folgte, die Mütze in der Hand, in leichtem Trab unserem Wagen. Wir fuhren durchs Dorf. Wir begegneten einigen Bauern in leeren Wagen; sie kamen von der Dreschtenne und sangen Lieder, wobei sie mit dem ganzen Körper wackelten und mit den Beinen in der Luft zappelten; aber als sie unseren Wagen und den Schulzen sahen, verstummten sie plötzlich, zogen ihre Wintermützen ab (es war im Sommer) und erhoben sich, als warteten sie auf Befehle. Arkadij Pawlytsch grüßte sie gnädig. Durch das ganze Dorf verbreitete sich sichtlich eine Unruhe und Aufregung. Weiber in gewürfelten Röcken warfen Holzscheite nach den unverständigen und allzu eifrigen Hunden; ein lahmer Greis mit einem Bart, der dicht unter den Augen anfing, riß ein Pferd, das seinen Durst noch nicht gestillt hatte, vom Brunnen weg, schlug es ohne jeden Grund auf die Seite und machte erst dann seine Verbeugung; Jungen in langen Hemden rannten heulend in die Häuser, legten sich mit dem Bauch auf die Schwellen, ließen die Köpfe herabhängen, hoben die Beine in die Höhe und rollten auf diese Weise recht geschickt hinter die Tür in den dunklen Flur, aus dem sie nicht mehr zum Vorschein kamen. Zwei Hühner liefen in beschleunigtem Trab unter ein Tor; ein tapferer Hahn mit schwarzer Brust, die wie eine Atlasweste aussah, und einem roten Schwanz, der sich beinahe bis zum Kamm krümmte, blieb auf der Straße stehen und wollte sogar zu krähen anfangen, wurde aber plötzlich verlegen und lief gleichfalls davon. Das Haus des Burmistrs stand mitten in einem dichten, grünen Hanffelde. Wir hielten vor dem Tore. Herr Pjenotschkin erhob sich, warf sich malerisch den Mantel von den Schultern und stieg aus dem Wagen, freundliche Blicke um sich werfend. Die Frau des Burmistrs empfing uns mit tiefen Bücklingen und küßte dem Herrn die Hand. Arkadij Pawlytsch erlaubte ihr, sich satt zu küssen, und trat auf die Treppe. In einem dunklen Winkel des Flures stand die Frau des Schulzen und verneigte sich gleichfalls, wagte aber nicht, die Hand zu küssen. In der sogenannten kalten Stube, rechts vom Flur, machten sich schon zwei andere Weiber zu schaffen: Sie trugen von dort allerlei Plunder heraus, leere Zuber, wie Holz steife Schafspelze, Buttertöpfe, eine Wiege mit einem Haufen Lumpen und einem bunten Kind und fegten mit Badebesen den Kehricht aus. Arkadij Pawlytsch schickte sie hinaus und ließ sich auf der Bank unter den Heiligenbildern nieder. Die Kutscher fingen an, die Kasten, Schatullen und die übrigen Bequemlichkeiten hereinzutragen, wobei sie sich die größte Mühe gaben, den Lärm, den ihre schweren Stiefel machten, zu dämpfen.

Arkadij Pawlytsch fragte indessen den Schulzen nach der Ernte, nach der Saat und anderen Wirtschaftsangelegenheiten aus. Der Schulze gab befriedigende Antwort, sprach aber irgendwie matt und ungeschickt, als knöpfte er mit erfrorenen Fingern einen Kaftan zu. Er stand bei der Tür und sah sich fortwährend unruhig um, um dem schnellen, flinken Kammerdiener den Weg freizulassen. Hinter seinen mächtigen Schultern konnte ich sehen, wie die Frau des Burmistrs im Flur irgendein anderes Weib prügelte. Plötzlich polterte ein Wagen und hielt vor der Tür: Der Burmistr trat in die Stube.

Dieser Staatsmann, wie ihn Arkadij Pawlytsch nannte, war nicht groß von Wuchs, breitschultrig, grauhaarig und stämmig; er hatte eine rote Nase, kleine blaue Augen und einen fächerförmigen Vollbart. Bei dieser Gelegenheit wollen wir bemerken, daß es, seitdem Rußland besteht, noch keinen Fall gab, daß ein zum Reichtum gelangter Mensch nicht einen breiten Vollbart hätte; mancher trug sein Leben lang ein dünnes, keilförmiges Bärtchen, und plötzlich sieht man sein Gesicht wie von einem Heiligenschein eingefaßt – man wundert sich bloß, wo die Haare herkommen! Der Burmistr hatte in Perow wohl getrunken: Sein Gesicht war ordentlich aufgedunsen, auch roch er nach Schnaps.

»Ach, unser Väterchen, unser gnädigster Herr!« begann er singend und mit einem so andächtigen Ausdruck, als wollte er in Tränen ausbrechen. »Da sind Sie endlich gekommen …! Ihr Händchen, Väterchen, Ihr Händchen!« fügte er hinzu, die Lippen schon vorher zum Kusse spitzend.

Arkadij Pawlytsch erfüllte diesen Wunsch.

»Nun, Bruder Sofron, wie stehen deine Sachen?« fragte er freundlich.

»Ach, unser Väterchen!« rief Sofron. »Wie sollten unsere Sachen schlecht stehen? Sie, Väterchen, haben ja geruht, unser Dorf durch Ihren Besuch zu erleuchten, haben uns bis ans Ende unserer Tage glücklich gemacht. Gott sei Dank, Arkadij Pawlytsch, Gott sei Dank! Alles ist dank Ihrer Gnade in bester Ordnung.«

Hier machte Sofron eine Pause, sah seinen Herrn an und verlangte, wie unter einem neuen Ansturm von Gefühlen (auch der Rausch war mit im Spiel), zum zweitenmal nach dem Händchen; dann sang er noch schöner als vorhin: »Ach, Sie unser Vater, unser gnädigster Herr … und … was soll ich noch sagen! Bei Gott, ich bin vor Freude ganz närrisch geworden … Bei Gott, ich sehe und traue meinen Augen nicht … Ach, Sie unser Vater …!«

Arkadij Pawlytsch warf mir einen Blick zu, lächelte und fragte: »N'est-ce pas que c'est touchant?«

»Ja, Väterchen Arkadij Pawlytsch«, fuhr der unermüdliche Burmistr fort, »wie ist es nun? Sie haben mir solchen Kummer gemacht, Väterchen: Sie haben gar nicht geruht, mich von Ihrem Besuch zu benachrichtigen. Wo wollen Sie denn die Nacht zubringen? Hier ist es ja schmutzig und nicht gekehrt …«

»Es macht nichts, Sofron, es macht nichts«, antwortete Arkadij Pawlytsch mit einem Lächeln. »Hier ist es gut.«

»Aber, Väterchen, für wen ist es gut? Für unsereinen, für einen Bauern ist es gut; aber Sie … Ach, Väterchen, gnädigster Herr, ach, Väterchen …! Verzeihen Sie mir altem Narren, ich bin vor Freude, bei Gott, ganz närrisch geworden.«

Indessen brachte man uns das Abendbrot; Arkadij Pawlytsch begann zu speisen. Der Alte jagte seinen Sohn hinaus: »Du verdirbst hier nur die Luft.«

»Nun, Alter, hast du dich mit den Nachbarn wegen der Grenzen geeinigt?« fragte Herr Pjenotschkin, der sich sichtlich bemühte, den Ton der Bauernsprache zu treffen, und mir zublinzelte.

»Wir haben uns geeinigt, Väterchen, alles durch deine Gnade. Vorgestern haben wir das Papier unterschrieben. Die Chlynowschen machten anfangs Schwierigkeiten … sie machten Schwierigkeiten, Väterchen. Sie verlangten … sie verlangten … Gott weiß, was sie alles verlangten. Sie sind ja Narren, Väterchen, ganz dumme Menschen. Wir aber, Väterchen, haben durch deine Gnade unseren Dank bezeugt und Mikolai Mikolajitsch, den Schiedsrichter, zufriedengestellt; alles machten wir nach deinem Befehl, Väterchen; wie du uns zu befehlen geruhtest, so handelten wir; auch mit Wissen des Jegor Dmitritsch wurde alles gemacht.«

»Jegor hat es mir gemeldet«, bemerkte Arkadij Pawlytsch wichtig.

»Gewiß, Väterchen, gewiß – Jegor Dmitritsch.«

»Nun, seid ihr zufrieden?«

Sofron hatte nur darauf gewartet. »Ach, unser Väterchen, unser gnädigster Herr!« sang er von neuem. »Erbarmen Sie sich meiner … wir beten ja für Sie, Väterchen, Tag und Nacht zu Gott … Nur haben wir etwas zu wenig Land …«

Pjenotschkin unterbrach ihn. »Ist schon recht, ist schon recht, Sofron, ich weiß, du bist ein treuer Diener … Und wie ist der Ausdrusch?«

Sofron seufzte.

»Ach, Väterchen, der Ausdrusch ist nicht allzu gut. Erlauben Sie aber, Väterchen Arkadij Pawlytsch, Ihnen zu melden, was für eine Sache hier passiert ist.« Er näherte sich bei diesen Worten mit aufgeregten Handbewegungen Herrn Pjenotschkin, bückte sich und kniff ein Auge zusammen. »Man hat auf unserem Grund eine Leiche gefunden.«

»Wieso?«

»Ich kann es gar nicht begreifen, Väterchen; der Teufel hat wohl die Hand im Spiel gehabt. Zum Glück lag sie dicht an einer fremden Grenze; aber doch, offen gestanden, auf unserem Grund. Ich ließ sie sogleich, solange es noch ging, auf den fremden Keil schleppen, stellte Wachen auf und befahl unseren Leuten, den Mund zu halten. Dem Kreispolizisten meldete ich es aber für jeden Fall: Solche Dinge geschehen halt, sagte ich ihm; ich traktierte ihn auch mit Tee und erwies ihm auch sonst meine Erkenntlichkeit … Und was glauben Sie, Väterchen? Die Sache blieb den Fremden auf dem Halse; so eine Leiche kostet aber der Gemeinde gleich zweihundert Rubel, nicht mehr und nicht weniger.«

Herr Pjenotschkin lachte viel über den schlauen Einfall seines Burmistrs und sagte mir einige Male, mit dem Kopf auf ihn weisend: »Quel gaillard, ah?«

Draußen war es indessen ganz dunkel geworden; Arkadij Pawlytsch ließ vom Tisch abräumen und Heu hereinbringen. Der Kammerdiener breitete Laken aus und verteilte die Kissen; wir legten uns nieder. Sofron entfernte sich, nachdem er Befehle für den folgenden Tag erhalten hatte. Arkadij Pawlytsch sprach vor dem Einschlafen noch etwas von den vorzüglichen Eigenschaften des russischen Bauern und bemerkte mir bei dieser Gelegenheit, daß seit der Amtseinsetzung Sofrons die Schipilowschen Bauern mit keinem Groschen im Rückstand seien … Der Nachtwächter klopfte auf sein Brett; ein Kind, das noch nicht vom Gefühl der nötigen Selbstlosigkeit durchdrungen war, schrie irgendwo im Hause … Wir schliefen ein.

Am nächsten Morgen standen wir ziemlich früh auf. Ich wollte schon nach Rjabowo fahren, aber Arkadij Pawlytsch äußerte den Wunsch, mir sein Gut zu zeigen, und bewog mich zu bleiben. Ich hatte auch selbst Lust, mich von den herrlichen Eigenschaften des ›Staatsmannes‹ Sofron zu überzeugen. Der Burmistr erschien. Er trug einen blauen Rock mit einem roten Gürtel. Er sprach viel weniger als gestern, sah aufmerksam und fest seinem Herrn in die Augen und gab vernünftige und zusammenhängende Antworten. Wir begaben uns mit ihm zur Dreschtenne. Sofrons Sohn, der klafterlange Schulze, allem Anschein nach ein höchst dummer Kerl, begleitete uns; ferner gesellte sich zu uns der Gemeindeschreiber Fedossejitsch, ein verabschiedeter Soldat mit riesigem Schnurrbart und einem sehr sonderbaren Gesichtsausdruck: Er sah aus, als hätte ihn vor vielen Jahren etwas in außergewöhnliches Erstaunen gesetzt, so daß er seitdem noch nicht zu sich gekommen wäre. Wir besichtigten die Tenne, die Riege, die Schuppen, die Scheunen, die Windmühle, den Viehhof, die Wintersaat, die Hanffelder; alles war tatsächlich in bester Ordnung; nur die trübseligen Gesichter der Bauern machten mich etwas stutzig. Sofron sorgte nicht nur für das Nützliche, sondern auch für das Angenehme: Er hatte alle Gräben mit Bachweiden bepflanzt, zwischen den Schobern auf der Tenne Wege angelegt und mit Sand bestreut, auf der Windmühle eine Windfahne in Gestalt eines Bären mit offenem Rachen und einer roten Zunge angebracht, an den Backsteinbau des Viehhofes eine Art griechischen Giebels angeklebt und darunter mit weißer Farbe hingeschrieben: ›Errichtet imdorfe Schipilowka imjahre tausend Acht hundert undfierzig. Dieser Fiehhof.‹ Arkadij Pawlytsch war ganz gerührt und begann mir auf französisch die Vorteile des Zinsstandes der Bauern auseinanderzusetzen, wobei er jedoch bemerkte, daß der Frondienst für die Gutsbesitzer vorteilhafter sei – aber alles könne man doch nicht haben …! Er fing an, dem Burmistr Ratschläge zu erteilen, wie die Kartoffeln zu pflanzen, wie das Viehfutter zuzubereiten sei und so weiter. Sofron hörte die Worte seines Herrn aufmerksam an, machte manchmal Einwände, titulierte aber Arkadij Pawlytsch weder Väterchen noch gnädigster Herr mehr und pochte immer darauf, daß sie zuwenig Land hätten und daß man welches hinzukaufen sollte.

»Nun, kauft welches dazu«, sagte Arkadij Pawlytsch, »auf meinen Namen, ich habe nichts dagegen.«

Sofron antwortete darauf nichts und strich sich nur den Bart.

»Jetzt sollten wir eigentlich in den Wald«, bemerkte Herr Pjenotschkin.

Man brachte uns sofort Reitpferde, und wir ritten in den Wald oder, wie man ihn bei uns nennt, Bannforst. In diesem Bannforst fanden wir eine furchtbare Wildnis, und Arkadij Pawlytsch lobte dafür Sofron und klopfte ihm auf die Schulter. In bezug auf das Forstwesen folgte Herr Pjenotschkin den russischen Anschauungen und erzählte mir bei dieser Gelegenheit einen, wie er ihn nannte, komischen Fall, wo ein Spaßvogel von einem Gutsbesitzer seinem Förster den halben Bart ausraufte, um ihm zu beweisen, daß der Wald nicht dichter wachse, wenn man ihn lichte … Aber in anderen Beziehungen waren weder Sofron noch Arkadij Pawlytsch gegen Neuerungen abgeneigt. Nach unserer Rückkehr ins Dorf führte uns der Burmistr zur Besichtigung der vor kurzem aus Moskau verschriebenen Getreideschwinge. Die Schwinge funktionierte wirklich gut, aber wenn Sofron gewußt hätte, welche Unannehmlichkeit ihn und seinen Herrn auf diesem letzten Gang erwartete, so wäre er wahrscheinlich mit uns zu Hause geblieben.

Es ereignete sich nämlich dieses. Als wir den Schuppen verließen, bot sich uns folgendes Schauspiel: Einige Schritte vor der Tür knieten neben einer schmutzigen Pfütze, in der sorglos drei Enten plätscherten, zwei Bauern: ein Greis von etwa sechzig Jahren und ein zwanzigjähriger Bursch, beide in geflickten Hemden, barfuß und mit Stricken umgürtet. Der Gemeindeschreiber Fedossejitsch bemühte sich um sie und hätte sie wohl überredet, sich zu entfernen, wenn wir noch etwas länger im Schuppen geblieben wären. Als er uns aber erblickte, richtete er sich auf und erstarrte. Gleich daneben stand der Schulze mit aufgerissenem Mund und geballten Fäusten, mit denen er nun nichts anzufangen wußte. Arkadij Pawlytsch runzelte die Stirne, biß sich auf die Lippen und ging auf die Bittsteller zu. Beide verneigten sich vor ihm schweigend bis zur Erde.

»Was wollt ihr? Worum bittet ihr?« fragte er mit strenger Stimme und ein wenig durch die Nase.

Die Bauern sahen einander an und versetzten kein Wort, sie kniffen nur die Augen wie vor der Sonne zusammen und atmeten schneller.

»Nun, was gibt's?« fuhr Arkadij Pawlytsch fort und wandte sich sogleich an Sofron: »Aus welcher Familie sind sie?«

»Aus der Tobolejewschen«, antwortete langsam der Burmistr.

»Nun, was wollt ihr?« begann Herr Pjenotschkin von neuem. »Habt ihr keine Zungen? Sag, was willst du?« fügte er hinzu und wies mit dem Kopf auf den Alten. »Fürchte dich nicht, Dummkopf.«

Der Alte reckte seinen dunkelbraunen, runzligen Hals, öffnete schief die bläulichen Lippen, sprach mit heiserer Stimme: »Nimm dich unser an, Herr!« und berührte mit der Stirne den Boden. Der junge Bauer verbeugte sich gleichfalls. Arkadij Pawlytsch blickte mit Würde auf ihre Nacken, warf den Kopf zurück und spreizte die Beine.

»Was ist das? Über wen beschwerst du dich?«

»Erbarme dich, Herr! Laß uns aufatmen … Wir sind zu Tode gequält.« Der Alte sprach nur mit Mühe.

»Wer hat dich zu Tode gequält?«

»Sofron Jakowlewitsch, Väterchen.«

Arkadij Pawlytsch schwieg.

»Wie heißt du?«

»Antip, Väterchen.«

»Und wer ist der da?«

»Mein Sohn, Väterchen.«

Arkadij Pawlytsch schwieg wieder und bewegte seinen Schnurrbart.

»Nun, wodurch hat er dich zu Tode gequält?« fragte er, den Alten durch den Schnurrbart hindurch anblickend.

»Väterchen, er hat mich ganz zugrunde gerichtet. Zwei Söhne hat er außer der Reihe unter die Rekruten gesteckt, und nun will er mir den dritten nehmen. Gestern, Väterchen, hat er mir meine letzte Kuh weggeführt und meine Alte verprügelt – das hat seine Gnaden getan.« Er zeigte auf den Schulzen.

»Hm!« versetzte Arkadij Pawlytsch.

»Laßt nicht zu, daß er uns ganz zugrunde richtet, Ernährer!«

Herr Pjenotschkin runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?« fragte er den Burmistr halblaut mit unzufriedener Stimme.

»Er ist halt ein Trinker«, antwortete der Burmistr, indem er zum erstenmal das Wort ›halt‹ gebrauchte: »Ein arbeitsscheuer Mensch. Seit fünf Jahren ist er mit dem Zins im Rückstand.«

»Sofron Jakowlewitsch hat für mich die Rückstände bezahlt, Väterchen«, fuhr der Alte fort. »Es ist schon das fünfte Jahr, daß er sie bezahlt hat, aber dann machte er mich zu seinem Knecht, Väterchen, und …«

»Warum warst du aber im Rückstand?« fragte Herr Pjenotschkin streng.

Der Alte senkte den Kopf.

»Du liebst wohl zu trinken und in der Schenke zu sitzen?« Der Alte öffnete den Mund.

»Ich kenne euch«, fuhr Arkadij Pawlytsch zornig fort, »ihr versteht nur zu saufen und auf dem Ofen zu liegen, ein guter Bauer muß aber für euch aufkommen.«

»Er ist auch frech«, fiel der Burmistr seinem Herrn in die Rede.

»Nun, das versteht sich von selbst. Es ist immer so, ich habe es schon mehr als einmal bemerkt. Das ganze Jahr ist er besoffen und grob und dann wälzt er sich zu meinen Füßen.«

»Väterchen Arkadij Pawlytsch«, begann der Alte in seiner Verzweiflung, »erbarme dich! Wann bin ich denn frech gewesen? Ich spreche wie vor dem Angesicht Gottes, es geht über meine Kraft. Sofron Jakowlewitsch mag mich nicht, warum er mich aber nicht mag, darüber ist Gott Richter! Er richtet mich ganz zugrunde … Meinen letzten Sohn, auch den …« In den gelben, runzligen Augen des Alten glänzten Tränen. »Erbarme dich, Herr, schütze mich …«

»Und nicht uns allein …«, fing der junge Bauer an. Arkadij Pawlytsch fuhr plötzlich auf: »Wer hat dich gefragt? Wenn man dich nicht fragt, so sollst du schweigen. Was ist denn das? Halt's Maul, sage ich dir! Halt's Maul …! Ach, mein Gott! Das ist ja eine Revolte! Nein, Bruder, ich rate dir, nicht zu revoltieren … ich …« Arkadij Pawlytsch machte einen Schritt vorwärts, erinnerte sich dann wohl an meine Anwesenheit, wandte sich weg und steckte die Hände in die Taschen … »Je vous demande bien pardon, mon cher«, sagte er mit einem gezwungenen Lächeln und senkte merklich die Stimme. »C'est le mauvais côté de la médaille … Nun, ist schon gut, ist schon gut«, fuhr er fort, ohne die Bauern anzublicken: »Ich will Befehl geben … ist schon gut, geht.«

Die Bauern standen nicht auf.

»Ich hab' euch ja gesagt … ist schon gut. Geht doch, ich werde Befehl geben, sage ich euch.«

Arkadij Pawlytsch wandte ihnen den Rücken zu. »Immer Unannehmlichkeiten«, sagte er zwischen den Zähnen und ging mit raschen Schritten ins Haus. Sofron folgte ihm. Der Gemeindeschreiber glotzte mit den Augen, als wäre er im Begriff, einen großen Sprung zu machen. Der Schulze verscheuchte die Enten aus der Pfütze. Die Bittsteller standen noch eine Weile auf dem gleichen Fleck, sahen dann einander an und schlichen, ohne sich umzuschauen, nach Hause.

Zwei Stunden später war ich schon in Rjabowo und bereit, mich mit Anpadist, einem mir bekannten Bauern, auf die Jagd zu begeben. Pjenotschkin hatte bis zu meiner Abreise auf Sofron geschmollt, Ich sprach mit Anpadist von den Schipilowschen Bauern und von Herrn Pjenotschkin und fragte ihn, ob er den dortigen Burmistr kenne.

»Den Sofron Jakowlewitsch …? Das glaube ich!«

»Was ist er für ein Mensch?«

»Er ist ein Hund und kein Mensch, einen solchen Hund findet man bis Kursk nicht wieder.«

»Wieso?«

»Schipilowka gehört ja doch nur auf dem Papier diesem, wie heißt er noch, Pjenkin; es gehört aber gar nicht ihm, sondern Sofron.«

»Wirklich?«

»Es gehört ihm wie ein eigenes Gut. Alle Bauern ringsherum sind bei ihm verschuldet; sie arbeiten für ihn wie die Knechte: Den einen schickt er mit einer Fuhre hierhin, den anderen dorthin … sie kommen bei ihm nie zur Ruhe.«

»Ich glaube, sie haben wenig Land?«

»Wenig Land? Bei den Chlynowschen allein hat er dreißig Desjatinen gepachtet und bei den unsrigen – hundertzwanzig; das sind schon gleich hundertfünfzig. Aber er handelt nicht nur mit dem Boden, er handelt auch mit Pferden, mit Vieh, mit Teer, mit Öl, mit Hanf und mit allem … Gescheit, furchtbar gescheit und reich ist die Bestie! Einen Fehler hat er nur: Er haut gleich drein. Er ist ein Tier und kein Mensch, wie ich gesagt habe: ein Hund, ein wahrer Hund.«

»Warum beschweren sie sich nicht über ihn?«

»Ach! Was kümmert es den Herrn! Rückstände gibt es nicht, also geht es ihn nichts an. Geh einmal hin«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »und beschwer dich! Nein, er wird dich … versuch es nur … Er wird dich gleich …«

Ich erinnerte mich an Antip und erzählte nun, was ich gesehen hatte.

»Nun«, versetzte Anpadist, »jetzt wird er ihn auffressen; er wird den Menschen mit Haut und Haar fressen. Der Schulze wird ihn totprügeln. So ein unglücklicher armer Teufel! Und wofür leidet er …? In einer Gemeindeversammlung hat er sich einmal mit dem Burmistr gestritten, er konnte es nicht länger aushalten … eine große Sache! Seitdem hat er angefangen, den Antip zu verfolgen. Jetzt wird er ihm ganz den Garaus machen. Er ist doch solch ein Hund, solch ein Hund, Gott verzeih' mir die Sünde, er weiß, wen er anpackt. Alte Männer, die reicher sind und viele Söhne haben, die rührt er nicht an, der kahlköpfige Teufel, hier hat er aber freies Spiel! Antips Söhne hat er ja außer der Reihe unter die Rekruten gesteckt, der unbarmherzige Schuft, der Hund, Gott verzeih' mir meine Sünde!«

Wir begaben uns auf die Jagd.

Salzbrunn in Schlesien, Juli 1847.

Das Kontor


Es war im Herbst. Seit einigen Stunden schon streifte ich mit dem Gewehr durch die Felder und wäre wohl nicht vor Abend in die Herberge an der Kursker Landstraße zurückgekehrt, wo mich meine Troika erwartete, wenn mich nicht der außerordentlich feine und kalte Regen, der mir vom frühen Morgen an so unablässig und unbarmherzig wie eine alte Jungfer zusetzte, schließlich gezwungen hätte, irgendwo in der Nähe eine wenn auch vorübergehende Zuflucht zu suchen. Während ich noch überlegte, welche Richtung ich einschlagen sollte, fiel mein Blick plötzlich auf eine niedere Strohhütte neben einem Erbsenfeld. Ich ging auf die Hütte zu, blickte unter das Strohdach und sah einen so altersschwachen Greis, daß mir sofort jener sterbende Bock in den Sinn kam, den Robinson in einer der Höhlen seiner Insel gefunden hatte. Der Alte hockte auf dem Boden, kniff seine dunkelgewordenen, kleinen Augen zusammen und kaute eilig, aber vorsichtig, gleich einem Hasen (der Arme hatte keinen einzigen Zahn im Mund) an einer trockenen und harten Erbse, die er unaufhörlich von der einen Seite in die andere rollen ließ. Er war in seine Beschäftigung dermaßen vertieft, daß er mein Erscheinen gar nicht bemerkte. »Großvater! Du, Großvater!« sagte ich. Er hörte zu kauen auf, zog die Brauen in die Höhe und öffnete mit Mühe die Augen.

»Was denn?« lallte er mit heiserer Stimme.

»Wo ist hier ein Dorf in der Nähe?« fragte ich.

Der Alte fing wieder zu kauen an. Er hatte mich nicht gehört. Ich wiederholte meine Frage lauter.

»Ein Dorf …? Was willst du denn?«

»Ich möchte mich vor dem Regen schützen.«

»Was?«

»Vor dem Regen schützen!«

»Ja!« Er kratzte sich seinen sonnenverbrannten Nacken. »Nun, geh mal so«, begann er plötzlich, die Worte durch unordentliche Handbewegungen begleitend. »So … wenn du am Wäldchen vorbeikommst, wenn du da vorbeikommst, so ist ein Weg; du sollst aber diesen Weg beiseite lassen und dich immer rechts halten, immer rechts, immer rechts … So kommst du nach Ananjewo. Oder du kommst auch nach Sitowka.«

Ich konnte den Alten nur mit Mühe verstehen. Sein Schnurrbart hinderte ihn am Sprechen, auch die Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen.

»Wo bist du denn her?« fragte ich ihn.

»Was?«

»Wo du her bist?«

»Aus Ananjewo.«

»Was tust du denn hier?«

»Was?«

»Was du hier tust?«

»Ich bin hier Wächter.«

»Was bewachst du denn?«

»Die Erbsen.«

Ich mußte lachen.

»Aber ich bitte dich, wie alt bist du?«

»Das weiß Gott allein.«

»Du siehst wohl schlecht?«

»Was?«

»Du siehst wohl schlecht?«

»Ja, schlecht. Es kommt auch vor, daß ich nichts höre.«

»Wie kannst du dann Wächter sein, ich bitte dich?«

»Das ist Sache der Vorgesetzten.«

Die Vorgesetzten! dachte ich mir und sah den armen Alten nicht ohne Bedauern an. Er betastete sich, holte aus dem Busen ein Stück trockenes Brot hervor und fing an, daran zu saugen wie ein Kind, die ohnehin eingefallenen Wangen mit Mühe einziehend.

Ich ging in die Richtung zum Wäldchen, bog nach rechts ab, immer nach rechts, wie mir der Alte geraten hatte, und erreichte endlich ein großes Dorf mit einer steinernen Kirche im neuen Geschmack, das heißt mit Säulen und einem ausgedehnten, gleichfalls säulengeschmückten Herrenhaus. Schon aus der Ferne hatte ich durch das engmaschige Netz des Regens ein Haus mit einem Schindeldach und zwei Schornsteinen bemerkt, das höher als die andern Bauernhäuser war, anscheinend das Wohnhaus des Schulzen. Ich richtete dorthin meine Schritte in der Hoffnung, bei ihm einen Samowar Tee, Zucker und nicht ganz saure Sahne zu finden. In Begleitung meines vor Kälte zitternden Hundes betrat ich die kleine Treppe, kam in den Flur, öffnete eine Tür, erblickte aber statt der gewöhnlichen Einrichtung einer Bauernstube mehrere, mit Papieren beladene Tische, zwei rote Schränke, bespritzte Tintenfässer, zinnerne Sandfässer, von denen ein jedes wohl einen Pud wiegen mochte, furchtbar lange Federn und dergleichen. Auf einem der Tische saß ein etwa zwanzigjähriger Bursche mit gedunsenem und kränklichem Gesicht, winzigen Äuglein, einer fettigen Stirne und unendlich langen Schläfen. Er trug, ganz wie es sich gehört, einen grauen Nankingkaftan mit Fettglanz auf Kragen und Bauch.

»Was wünschen Sie?« fragte er mich und fuhr mit dem Kopf in die Höhe, wie ein Pferd, das nicht erwartet hatte, daß man es an der Schnauze packen würde.

»Wohnt hier der Verwalter … oder …«

»Hier ist das herrschaftliche Hauptkontor«, unterbrach er mich. »Ich sitze als Diensthabender da … Haben Sie denn das Schild nicht gelesen? Dazu ist doch das Schild angebracht.«

»Wo könnte ich mich hier trocknen? Hat hier jemand im Dorf einen Samowar?«

»Wie sollte kein Samowar dasein«, entgegnete der Bursche im grauen Kaftan sehr wichtig: »Gehen Sie einmal zum Geistlichen P. Timofej oder in die Gesindestube oder zu Nasar Tarassytsch oder zur Geflügelwärterin Agrafena.«

»Mit wem redest du da, Dummkopf? Du läßt einen gar nicht schlafen, Tölpel!« erklang eine Stimme aus dem Nebenzimmer.

»Da ist ein Herr gekommen und fragt, wo er sich trocknen könnte.«

»Was für ein Herr?«

»Ich weiß es nicht. Einer mit einem Hund und einem Gewehr.«

Im Nebenzimmer knarrte ein Bett. Die Tür ging auf, und herein trat ein Mann von etwa fünfzig Jahren, dick, kleingewachsen, mit einem Stiernacken, hervorstehenden Augen, ungewöhnlich runden Wangen und glänzendem Gesicht.

»Was wünschen Sie?« fragte er mich.

»Ich möchte mich trocknen.«

»Hier ist nicht der Ort dafür.«

»Ich wußte nicht, daß es das Kontor ist; übrigens will ich gerne bezahlen …«

»Vielleicht wird es auch hier gehen«, antwortete der Dicke. »Wollen Sie sich vielleicht hierher bemühen?« Er führte mich ins Nebenzimmer, aus dem er soeben gekommen war. »Werden Sie es hier bequem haben?«

»Ja … Könnte ich nicht auch Tee mit Sahne haben?«

»Bitte sehr, sofort. Wollen Sie sich indessen ausziehen und ausruhen, der Tee wird im Moment fertig sein.«

»Wem gehört dieses Gut?«

»Der Frau Jelena Nikolajewna Losnjakowa.«

Er ging hinaus. Ich sah mich um: An der Bretterwand, die mein Zimmer vom Kontor trennte, stand ein riesengroßes Ledersofa; zwei gleichfalls lederne Sessel mit ungeheuer hohen Lehnen standen zu beiden Seiten des einzigen Fensters, das auf die Straße ging. An den mit grünen, rosagemusterten Tapeten beklebten Wänden hingen drei große Ölbilder. Auf dem einen war ein Hühnerhund mit blauem Halsband und der Inschrift ›Das ist meine Freude‹ dargestellt; zu Füßen des Hundes war ein Fluß, und am gegenüberliegenden Ufer saß unter einer Fichte ein Hase von ungewöhnlicher Größe, das eine Ohr gespitzt. Auf dem zweiten Bild verzehrten zwei alte Männer eine Wassermelone; hinter der Wassermelone war in der Ferne eine griechische Säulenhalle mit der Inschrift ›Tempel der Befriedung‹ zu sehen. Das dritte Bild stellte eine halbnackte Frau in liegender Pose en raccourci dar, mit roten Knien und sehr dicken Fersen. Mein Hund verkroch sich unverzüglich mit ungeheurer Mühe unter das Sofa und fand dort anscheinend viel Staub, denn er hörte gar nicht zu niesen auf. Ich trat ans Fenster. Schräg über die Straße waren vom Herrenhaus zum Kontor Bretter gelegt; eine höchst nützliche Vorsichtsmaßregel, da es ringsum, dank unserer russischen schwarzen Erde und dem anhaltenden Regen ein entsetzlicher Schmutz war. In der Nähe des Herrenhauses, das mit der Rückseite zur Straße stand, spielten sich Szenen ab, wie sie sich immer neben den Herrenhäusern abspielen: Mädchen in verschossenen Kattunkleidern liefen hin und her; Leibeigene wateten durch den Schmutz, blieben ab und zu stehen und kratzten sich nachdenklich den Rücken; das angebundene Pferd eines Zehentmannes bewegte träge den Schweif und nagte mit hocherhobener Schnauze am Zaun; Hühner gackerten; schwindsüchtige Truthennen riefen einander fortwährend etwas zu. Auf der Freitreppe eines dunklen, durchfaulten Gebäudes, wahrscheinlich der Badestube, saß ein kräftiger Bursche mit einer Gitarre und sang nicht ohne Schwung das bekannte Lied:

»Ich fli – iehe in die ferne Wü – üste aus diesem wu – underschö – önen Ort!«

Der Dicke trat zu mir ins Zimmer.

»Da bringt man Ihnen den Tee«, sagte er mir mit einem angenehmen Lächeln.

Der diensthabende Bursche im grauen Kaftan stellte auf einen alten Lombertisch den Samowar, die Teekanne, ein Glas mit zerschlagener Untertasse, ein Töpfchen Sahne und einen Kranz Bolchowscher Kringel, die so hart waren wie Kieselsteine. Der Dicke ging hinaus.

»Wer ist das?« fragte ich den Diensthabenden. »Der Verwalter?«

»Zu Befehl, nein: Er war bisher erster Kassierer und ist jetzt zum ersten Sekretär befördert.«

»Habt ihr denn hier keinen Verwalter?«

»Zu Befehl, nein. Wir haben einen Burmistr, Michailo Wikulow, aber einen Verwalter haben wir nicht.«

»Aber einen Gutsinspektor habt ihr doch?«

»Gewiß, einen Deutschen, Karl Karlowitsch Lindamandol, aber er redet nichts drein.«

»Wer redet denn drein?«

»Die Gnädige selbst.«

»So …! Nun, habt ihr im Kontor viele Menschen sitzen?«

Der Bursche dachte nach.

»Sechs Menschen sitzen da.«

»Wer denn?« fragte ich.

»Nun, da ist zuerst Wassilij Nikolajewitsch, der Hauptkassierer, dann der Schreiber Pjotr, Pjotrs Bruder Iwan – ein Schreiber – und ein anderer Iwan, auch ein Schreiber, Koskonkin Narkisow, auch ein Schreiber, dann ich – alle kann man gar nicht aufzählen.«

»Eure Gnädige hat wohl viele Leibeigene?«

»Nein, das kann man nicht sagen …«

»Wieviel sind es immerhin?«

»An die hundertfünfzig Seelen werden es sein.«

Wir beide schwiegen eine Weile.

»Nun, hast du eine schöne Handschrift?« fragte ich von neuem.

Der Bursche grinste mit dem ganzen Gesicht, nickte mit dem Kopf, ging ins Kontor und brachte ein beschriebenes Blatt.

»Das da ist meine Handschrift«, versetzte er, immerfort grinsend.

Ich sah hin – auf einem Viertelblatt grauen Papiers stand mit einer hübschen und großen Schrift geschrieben:

Verordnung

von dem herrschaftlichen Haupt-Hauskontor zu Ananjewo an den Burmistr Michailo Wikulow. Nr. 209.

Es wird dir befohlen, sofort nach Empfang dieses zu untersuchen, wer in der vergangenen Nacht in betrunkenem Zustand und mit unanständigen Liedern durch den Englischen Garten gegangen ist und die französische Gouvernante, Madame Eugenie, geweckt und belästigt hat. Wie haben die Wächter aufgepaßt und wer war Wächter im Garten und hatte diesen Unfug zugelassen? Über alles Obenerwähnte hast du eine genaue Untersuchung anzustellen und dem Kontor unverzüglich Meldung zu erstatten.

Der erste Sekretär Nikolai Chwostow

Dieser Verordnung war ein ungeheures Wappensiegel mit der Inschrift ›Siegel des herrschaftlichen Haupt-Hauskontors zu Ananjewo ‹ beigefügt; unten stand der Vermerk ›Genauest auszuführen, Jelena Losnjakowa.‹

»Das hat wohl die Gnädige selbst hingeschrieben?« fragte ich.

»Gewiß, sie selbst; sie tut es immer selbst. Sonst hat die Verordnung keine Wirkung.«

»Nun, werdet ihr jetzt diese Verordnung dem Burmistr zuschicken?«

»Nein. Er wird selbst herkommen und sie lesen. Das heißt, man wird sie ihm vorlesen; er versteht nicht zu lesen.« Der Diensthabende machte wieder eine Pause. »Nun«, fügte er grinsend hinzu, »es ist doch hübsch geschrieben?«

»Gewiß.«

»Aufgesetzt habe ich es, offen gestanden, nicht selbst. Darin ist Koskenkin Meister.«

»Wie …? Werden denn die Verordnungen bei euch erst aufgesetzt?«

»Wie denn sonst? Man kann sie doch nicht gleich ins reine schreiben.«

»Wieviel Gehalt bekommst du denn?« fragte ich.

»Fünfunddreißig Rubel und fünf Rubel für Stiefel.«

»Und bist damit zufrieden?«

»Natürlich bin ich zufrieden. Bei uns findet nicht jeder Anstellung im Kontor. Mich hat, offen gestanden, Gott selbst dazu bestimmt, mein Onkel ist der Haushofmeister.«

»Und hast du es gut?«

»Ja, gut. Um die Wahrheit zu sagen«, fuhr er mit einem Seufzer fort, »bei einem Kaufmann zum Beispiel hat es unsereiner besser. Bei einem Kaufmann hat es unsereiner sehr gut. Zu uns ist gestern abend ein Kaufmann aus Wenjew gekommen, sein Knecht hat es mir erzählt … Bei dem hat man es gut, da ist nichts zu sagen, sehr gut.«

»Zahlen denn die Kaufleute mehr Gehalt?«

»Gott bewahre! Er wird einen hinauswerfen, wenn man Gehalt verlangt. Nein, beim Kaufmann lebt man auf gut Glauben und in der Furcht des Herrn. Er gibt einem zu essen und zu trinken, gibt die Kleider und alles. Stellt man ihn zufrieden, so gibt er noch mehr … Was ist Gehalt? Man braucht gar kein Gehalt … Auch lebt so ein Kaufmann einfach nach russischer Sitte wie unsereins: Ist man mit ihm auf der Reise, und trinkt er Tee, so bekommst auch du Tee; was er ißt, das bekommst du auch. Der Kaufmann … wie kann man es nur vergleichen – der Kaufmann ist ganz anders als ein Gutsherr. Der Kaufmann hat keine Launen; wenn er böse wird, verprügelt er einen, und die Sache ist erledigt. Aber er schimpft nicht und brummt nicht … Mit einem Herrn ist es aber ein Unglück! Alles paßt ihm nicht, dieses ist nicht gut, und jenes ist schlecht. Reicht man ihm ein Glas Wasser oder eine Speise, so heißt es gleich: ›Ach, das Wasser stinkt! Ach, das Essen stinkt!‹ Man trägt es hinaus, steht eine Weile hinter der Tür: ›Nun, jetzt ist es gut, jetzt stinkt es nicht mehr.‹ Und erst so eine Gnädige! Oder erst ein gnädiges Fräulein …!«

»Fedjuschka!« ertönte die Stimme des Dicken im Kontor.

Der Diensthabende ging schnell hinaus. Ich trank mein Glas Tee zu Ende, legte mich aufs Sofa und schlief ein. Ich schlief zwei Stunden.

Als ich erwachte, wollte ich aufstehen, aber ich war zu faul; ich schloß die Augen, schlief aber nicht mehr ein. Hinter der Bretterwand im Kontor wurde leise gesprochen. Ich hörte unwillkürlich zu.

»Ja, so ist es, so ist es, Nikolai Jeremejitsch«, sagte die eine Stimme. »Ja. Das kann man nicht in Betracht ziehen; das geht wirklich nicht … Hm!« Der Sprechende hüstelte.

»Glauben Sie es mir, Gawrila Antonytsch«, entgegnete die Stimme des Dicken. »Wie sollte ich die hiesige Ordnung nicht kennen, urteilen Sie doch selbst.«

»Ja, wer sollte sie kennen, Nikolai Jeremejitsch; Sie sind hier, man kann wohl sagen, die erste Person. Wie ist es nun?« fuhr die mir unbekannte Stimme fort. »Was werden wir beschließen, Nikolai Jeremejitsch? Gestatten Sie mir die Frage.«

»Ja, was werden wir beschließen, Gawrila Antonytsch? Die Sache hängt doch sozusagen von Ihnen ab – Sie scheinen keine rechte Lust zu haben.«

»Aber ich bitte, Nikolai Jeremejitsch, was fällt Ihnen ein? Ich bin doch nur Kaufmann, unsere Sache ist der Handel. Wir leben ja davon, Nikolai Jeremejitsch, das kann man wohl sagen.«

»Acht Rubel«, sagte der Dicke langsam.

Ich hörte einen Seufzer.

»Nikolai Jeremejitsch, Sie fordern zuviel.«

»Es geht nicht anders, Gawrila Antoriytsch; ich sage es wie vor Gott, es geht nicht.«

Ein Schweigen trat ein.

Ich stand leise auf und blickte durch eine Spalte in der Bretterwand. Der Dicke saß mit dem Rücken zu mir. Mit dem Gesicht zu ihm saß ein Kaufmann von etwa vierzig Jahren, hager und bleich, wie mit Fastenöl eingerieben. Er kratzte sich ununterbrochen den Bart, blinzelte sehr schnell mit den Augen und zuckte die Lippen.

»Wunderbar steht heuer die Wintersaat, das kann man wohl sagen«, begann er wieder. »Ich habe sie während der ganzen Fahrt bewundert. Von Woronesh an ist eine wunderbare Wintersaat, man darf wohl sagen, erster Sorte.«

»Die Wintersaat ist wirklich nicht schlecht«, antwortete der erste Buchhalter. »Aber Sie wissen doch, Gawrila Antonytsch, der Herbst kann noch so schön sein, alles hängt vom Frühjahr ab.«

»Es ist wirklich so, Nikolai Jeremejitsch; alles ist in Gottes Hand; Sie haben die reine Wahrheit gesagt … Ihr Gast scheint aber schon erwacht zu sein.«

Der Dicke wandte sich um … horchte …

»Nein, er schläft. Übrigens kann man auch …«

Er trat an die Tür.

»Nein, er schläft«, sagte er wieder und kehrte auf seinen Platz zurück.

»Nun, wie ist es, Nikolai Jeremejitsch?« fing der Kaufmann von neuem an. »Man muß doch das Geschäft einmal abschließen … Also meinetwegen, Nikolai Jeremejitsch, meinetwegen«, fuhr er fort, ununterbrochen mit den Augen zwinkernd, »zwei graue Scheine und einen weißen Schein kriegen Euer Gnaden, und dort«, er wies mit einer Kopfbewegung auf das Herrenhaus, »heißt es: sechsundeinhalb. Schlagen Sie ein?«

»Vier graue«, entgegnete der Buchhalter.

»Drei!«

»Vier graue ohne einen weißen.«

»Drei, Nikolai Jeremejitsch.«

»Dreiundeinhalb, keine Kopeke weniger.«

»Drei, Nikolai Jeremejitsch.«

»Kommen Sie mir nicht damit, Gawrila Antonytsch.«

»Wie unnachgiebig Sie doch sind«, murmelte der Kaufmann.

»Dann schließe ich schon lieber mit der Gnädigen selbst ab.«

»Wie Sie wollen«, antwortete der Dicke, »hätten Sie das doch früher gesagt. Was sollen Sie sich beunruhigen …? So wäre es viel besser!«

»Ist schon gut, ist schon gut, Nikolai Jeremejitsch. Gleich werden Sie böse! Ich habe es doch nur so gesagt.«

»Nein, warum, im Ernst …«

»Ist schon gut, sage ich Ihnen … Ich sage Ihnen doch, daß es nur zum Spaß war. Nun, nimm deine dreiundeinhalb, was soll man mit dir machen.«

»Vier hätte ich nehmen sollen, habe mich aber, Dummkopf, übereilt«, brummte der Dicke.

»Also, dort, im Hause heißt es: sechsundeinhalb, Nikolai Jeremejitsch. Das Getreide wird also für sechsundeinhalb abgegeben?«

»Für sechsundeinhalb, das ist doch schon abgemacht.«

»Also, schlagen Sie ein, Nikolai Jeremejitsch.« Der Kaufmann schlug mit seinen gespreizten Fingern in die Handfläche des Buchhalters. »Mit Gott denn!« Der Kaufmann stand auf. »Ich gehe also jetzt, Väterchen Nikolai Jeremejitsch, zur Gnädigen, lasse mich anmelden und sage ihr: ›Nikolai Jeremejitsch hat zu sechsundeinhalb abgeschlossen.«

»Ja, sagen Sie es so, Gawrila Antonytsch.«

»Und jetzt wollen Sie es in Empfang nehmen.«

Der Kaufmann händigte dem Buchhalter ein kleines Päckchen Banknoten aus, verbeugte sich, schüttelte den Kopf, ergriff seinen Hut mit zwei Fingern, hob die Achseln, versetzte seinen Rumpf in eine wellenförmige Bewegung und verließ, angemessen mit den Stiefeln knarrend, das Zimmer. Nikolai Jeremejitsch ging zur Wand und begann, soweit ich sehen konnte, die Papiere, die ihm der Kaufmann eingehändigt hatte, durchzusehen. In der Tür erschien ein rothaariger Kopf mit dichtem Backenbart.

»Nun?« fragte der Kopf. »Alles, wie es sich gehört?«

»Wie es sich gehört.«

»Wieviel?«

Der Dicke winkte ärgerlich mit der Hand und wies auf mein Zimmer.

»Ach so, gut!« entgegnete der Kopf und verschwand.

Der Dicke ging zum Tisch, setzte sich, schlug ein Buch auf, holte ein Rechenbrett hervor und begann die Beinkugeln hin und her zu werfen; er machte es nicht mit dem Zeigefinger, sondern mit dem Mittelfinger: So ist es vornehmer.

Der Diensthabende trat ein.

»Was willst du?«

»Sidor ist aus Golopljoki gekommen.«

»Ah! Nun, ruf ihn her. Wart, wart… Geh erst hin und schau nach, ob der fremde Herr noch schläft oder schon aufgewacht ist.«

Der Diensthabende trat leise in mein Zimmer. Ich legte den Kopf auf die Jagdtasche, die mir ein Kissen ersetzte, und schloß die Augen.

»Er schläft«, flüsterte der Diensthabende, ins Kontor zurückkehrend.

Der Dicke brummte etwas zwischen den Zähnen.

»Nun, ruf Sidor her«, sagte er endlich.

Ich hob wieder den Kopf. Ein Bauer von Riesenwuchs, an die dreißig Jahre alt, kräftig, rotbackig, mit dunkelblondem Haar und kurzem, lockigem Vollbart, trat ins Kontor. Er verrichtete ein kurzes Gebet vor dem Heiligenbild, verneigte sich vor dem ersten Buchhalter, nahm seinen Hut in beide Hände und richtete sich auf.

»Guten Tag, Sidor«, sagte der Dicke, auf dem Rechenbrett klappernd.

»Guten Tag, Nikolai Jeremejitsch.«

»Nun, wie ist der Weg?«

»Gut, Nikolai Jeremejitsch. Ein wenig schmutzig.« Der Bauer sprach langsam und leise.

»Ist deine Frau gesund?«

»Was soll ihr fehlen!«

Der Bauer seufzte und streckte einen Fuß vor. Nikolai Jeremejitsch legte sich die Feder hinters Ohr und schneuzte sich.

»Nun, wozu bist du hergekommen?« fuhr er fort, das karierte Taschentuch wieder in die Tasche steckend.

»Sie wissen, Nikolai Jeremejitsch, man verlangt von uns Zimmerleute.«

»Habt ihr vielleicht keine?«

»Warum sollen wir keine haben, Nikolai Jeremejitsch? Es ist doch eine Waldgegend. Es gibt aber jetzt viel Arbeit, Nikolai Jeremejitsch.«

»Viel Arbeit! Das ist es eben, ihr arbeitet gerne für fremde Menschen, für eure Gutsherrin wollt ihr aber nicht arbeiten … Es ist doch alles eins!«

»Die Arbeit ist wohl die gleiche, Nikolai Jeremejitsch… aber…«

»Was denn?«

»Die Bezahlung ist etwas … ich meine …«

»Was euch nicht einfällt! Verwöhnt seid ihr, das ist es!«

»Auch muß ich noch das sagen, Nikolai Jeremejitsch, es ist nur für eine Woche Arbeit da, aber man wird uns einen Monat hierbehalten. Bald langt das Material nicht, bald schickt man uns in den Garten, um die Wege zu putzen.«

»Was dir nicht alles einfällt! Die Gnädige hat selbst zu befehlen geruht, also haben wir miteinander nichts zu reden.«

Sidor verstummte und begann von einem Fuß auf den andern zu treten.

Nikolai Jeremejitsch neigte den Kopf auf die Seite und begann mit besonderem Eifer mit den Beinkugeln zu klappern.

»Unsere … Bauern … Nikolai Jeremejitsch …«, begann endlich Sidor, bei jedem Wort stockend, »ließen Euer Gnaden… hier ist es …« Er steckte seine Riesenhand in den Busen seines Mantels und begann ein zusammengewickeltes Handtuch mit rotem Muster hervorzuholen.

»Was fällt dir ein, was fällt dir ein, Dummkopf, bist wohl verrückt?« unterbrach ihn der Dicke eilig. »Geh, geh zu mir ins Haus«, fuhr er fort, indem er den erstaunten Bauern beinahe hinauswarf, »frage dort nach meiner Frau … sie wird dir Tee geben; ich komm' auch gleich hin, geh. Man sagt dir doch, geh.«

Sidor ging hinaus.

»So ein… Bär!« murmelte der erste Buchhalter, während jener hinausging. Dann schüttelte er den Kopf und machte sich wieder ans Rechenbrett.

Plötzlich ertönten auf der Straße und der Treppe Schreie. »Kuprja! Kuprja! Mit Kuprja ist nicht zu spaßen!« und bald darauf trat ins Kontor ein kleingewachsener Mann von schwindsüchtigem Aussehen, mit einer ungewöhnlich langen Nase, großen, unbeweglichen Augen und einer außerordentlich stolzen Haltung. Bekleidet war er mit einem alten, zerrissenen, adelaidenfarbenen oder, wie man bei uns sagt, odelloidenfarbenen Rock mit Plüschkragen und winzigen Knöpfchen. Auf dem Buckel trug er eine Tracht Brennholz. Um ihn herum drängten sich an die fünf Leibeigene, und alle schrien: »Kuprja! Kuprja! Mit Kuprja ist nicht zu spaßen! Man hat Kuprja zum Heizer ernannt, zum Heizer!« Aber der Mann mit dem Plüschkragen schenkte dem Geschrei seiner Genossen nicht die geringste Beachtung und verzog keine Miene. Mit abgemessenen Schritten ging er auf den Ofen zu, lud seine Tracht ab, richtete sich auf, holte aus der rückwärtigen Tasche eine Tabaksdose hervor, riß die Augen weit auf und begann, sich den mit Asche vermengten Steinkleetabak in die Nase zu stopfen.

Beim Erscheinen der lärmenden Gesellschaft runzelte der Dicke erst die Brauen und erhob sich von seinem Platz; als er aber sah, was los war, lächelte er und befahl nur den Leuten, nicht so zu schreien, im Nebenzimmer schlafe ein Jäger. »Was für ein Jäger?« fragten zwei Männer gleichzeitig.

»Ein Gutsbesitzer.«

»Aha«

»Sollen sie nur lärmen«, begann, die Arme spreizend, der Mann mit dem Plüschkragen. »Was geht es mich an! Wenn sie mich nur nicht anrühren. Man hat mich zum Heizer ernannt …«

»Zum Heizer! Zum Heizer!« fielen die andern freudig ein.

»Die Gnädige hat es befohlen«, fuhr er fort, die Achseln zuckend. »Wartet nur … euch wird man noch zu Schweinehirten ernennen. Daß ich aber ein Schneider bin, ein guter Schneider, daß ich bei den ersten Meistern in Moskau in der Lehre war und für Generale genäht habe, das kann mir niemand nehmen. Was tut ihr so tapfer …? Ihr seid Müßiggänger und Taugenichtse und sonst nichts. Wenn man mich freiläßt, verhungere ich nicht und gehe nicht zugrunde; wenn man mir nur einen Paß gibt, werde ich einen guten Zins zahlen und die Herrschaften zufriedenstellen. Was seid aber ihr? Ihr werdet zugrunde gehen, zugrunde gehen wie die Fliegen, das ist alles!«

»Das war aber gelogen«, unterbrach ihn ein pockennarbiger, hellblonder Bursche mit roter Halsbinde und durchgewetzten Ellenbogen. »Du hast schon einen Paß gehabt, aber die Herrschaften haben von dir keine Kopeke Zins zu sehen bekommen, und hast auch für dich selbst nichts verdient; hast dich mit Mühe heimgeschleppt; seit damals trägst du immer noch den gleichen Rock.« »Was soll man machen; Konstantin Narkisytsch!« entgegnete Kuprian. »Wenn ein Mensch sich einmal verliebt hat, so ist er verloren. Mach erst durch, was ich durchgemacht habe, Konstantin Narkisytsch, und dann verurteile mich.«

»In wen hast du dich aber verliebt! In ein Scheusal!«

»Nein, das sollst du nicht sagen, Konstantin Narkisytsch.«

»Wem erzählst du das? Ich habe sie doch gesehen; im vergangenen Jahr habe ich sie in Moskau mit eigenen Augen gesehen.«

»Im vergangenen Jahr hat sie wirklich etwas von ihrer Schönheit verloren«, bemerkte Kuprian.

»Nein, meine Herren, was sollen wir darüber reden!« begann in einem rechtlichen und nachlässigen Ton ein hagerer, großgewachsener Mann mit einem Gesicht voller Pickel, mit gekräuseltem und öltriefendem Haar, wahrscheinlich ein Kammerdiener. »Kuprian Afanaßjitsch soll uns lieber sein Liedchen singen. Nun, fangen Sie an, Kuprian Afanaßjitsch!«

»Ja, ja!« riefen die anderen. »Bravo, Alexandra! Schön hat sie den Kuprja hereingelegt … das muß man schon sagen … Sing, Kuprja …! Bravo, Alexandra!« (Die Leibeigenen gebrauchen oft der Zärtlichkeit wegen, wenn sie von einem Mann sprechen, weibliche Endungen.) »Sing!«

»Hier ist kein Ort zum Singen«, entgegnete Kuprian fest. »Hier ist das herrschaftliche Kontor.«

»Was geht es dich an? Du willst doch selbst Kontorist werden?« antwortete Konstantin mit rohem Lachen. »So scheint es mir!«

»Alles hängt vom Willen der Herrschaft ab«, bemerkte der Arme.

»Seht ihr, was er werden will; wie gefällt er euch? Ah! Ah!«

Alle lachten, einzelne fingen sogar zu springen an. Am lautesten lachte ein fünfzehnjähriger Bengel, wahrscheinlich der Sohn eines Aristokraten unter den Leibeigenen. Er trug eine Weste mit Bronzeknöpfen, eine lilafarbene Halsbinde und hatte sich bereits ein Bäuchlein zugelegt.

»Gestehe doch, Kuprja«, begann selbstzufrieden Nikolai Jeremejitsch, dem die Sache wohl Spaß machte und der in Stimmung gekommen war, »es ist doch schlecht, Heizer zu sein? Ist wohl eine ganz dumme Beschäftigung?«

»Was soll ich sagen, Nikolai Jeremejitsch?« antwortete Kuprian. »Sie sind jetzt Sekretär, das stimmt; das wird niemand bestreiten; aber auch Sie waren einmal in Ungnade und haben auch in einem Bauernhaus wohnen müssen.«

»Paß auf, nimm dir nicht zu viel heraus!« unterbrach ihn der Dicke gereizt. »Narr, man macht doch nur Spaß mit dir; das müßtest du doch fühlen und dankbar sein, daß man sich mit dir abgibt, Dummkopf.«

»Das kam so zufällig, Nikolai Jeremejitsch, entschuldigen Sie …«

»Ja, zufällig!«

Die Tür ging auf, und ein kleiner Diener stürzte ins Zimmer.

»Nikolai Jeremejitsch, die Gnädige läßt Sie rufen.«

»Wer ist bei der Gnädigen?« fragte er den Diener.

»Aksinja Nikitischna und der Kaufmann aus Wenjew.«

»Ich komme sofort. Ihr aber, Brüder«, fuhr er eindringlich fort, »geht lieber mit dem neuernannten Heizer von hier fort; wie leicht kann der Deutsche hereinschauen und euch anzeigen.«

Der Dicke brachte sein Haar in Ordnung, hüstelte in die hohle Hand, die im Rockärmel fast ganz verschwand, knöpfte alle Knöpfe zu und begab sich breitbeinig zu der Gnädigen. Etwas später entfernte sich auch die ganze Gesellschaft mit Kuprian. Nur mein alter Bekannter, der Diensthabende, blieb zurück. Er begann erst die Gänsefedern zu schneiden, schlief aber im Sitzen ein. Mehrere Fliegen benutzten sofort diesen glücklichen Umstand und setzten sich ihm auf den Mund. Eine Mücke ließ sich auf seiner Stirn nieder, stellte ihre Beinchen symmetrisch auseinander und bohrte ihren Stachel langsam in sein weiches Fleisch. Der rothaarige Kopf mit dem Backenbart zeigte sich wieder in der Tür, sah sich um und trat zugleich mit seinem recht unschönen Körper ins Kontor.

»Fedjuschka! Du, Fedjuschka! Immer schläfst du!« versetzte der Kopf.

Der Diensthabende öffnete die Augen und erhob sich vom Stuhl.

»Ist Nikolai Jeremejitsch zur Gnädigen gegangen?«

»Ja, zur Gnädigen, Wassilij Nikolajewitsch.«

So, so, dachte ich mir, das ist er, der erste Kassierer.

Der erste Kassierer fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Es war übrigens mehr ein Schleichen als ein Gehen; überhaupt hatte er Ähnlichkeit mit einer Katze. Auf seinen Schultern schlotterte ein alter schwarzer Frack mit sehr schmalen Schößen; die eine Hand hielt er auf der Brust, mit der andern griff er aber jeden Augenblick an seine hohe, enge Halsbinde aus Roßhaar und drehte dabei angestrengt den Kopf. Er trug Stiefel aus Bockleder, die nicht knarrten, und trat sehr leise auf.

»Heute hat der Gutsbesitzer Jaguschkin nach Ihnen gefragt«, versetzte der Diensthabende.

»Hm, er hat nach mir gefragt? Was hat er denn gesagt?«

»Er hat gesagt, daß er am Abend zu Tjutjurew kommen und Sie dort erwarten wird. ›Ich muß‹, hat er gesagt, ›mit Wassilij Nikolajewitsch über eine Sache sprechen‹; über was für eine Sache, hat er aber nicht gesagt. ›Wassilij Nikolajewitsch weiß es schon‹, hat er gesagt.«

»Hm!« entgegnete der erste Kassierer und trat ans Fenster.

»Ist Nikolai Jeremejew im Kontor?« erklang im Flur eine laute Stimme, und ein großgewachsener Mensch mit einem unregelmäßigen, aber ausdrucksvollen und kühnen Gesicht, recht sauber gekleidet, trat, offenbar erzürnt, über die Schwelle.

»Ist er nicht hier?« fragte er, indem er sich schnell umsah.

»Nikolai Jeremejitsch ist bei der Gnädigen«, antwortete der Kassierer. »Sagen Sie mir, was Sie wollen, Pawel Andrejitsch. Sie können es mir sagen … Was wollen Sie?«

»Was ich will? Sie wollen wissen, was ich will?« Der Kassierer nickte schmerzvoll mit dem Kopf. »Ich will es ihm zeigen, dem nichtsnutzigen Dickwanst, dem gemeinen Angeber … Ich werde ihm das Angeben schon zeigen!«

Pawel ließ sich in einen Stuhl fallen.

»Was haben Sie, was haben Sie, Pawel Andrejitsch? Beruhigen Sie sich … Wie, schämen Sie sich nicht? Vergessen Sie doch nicht, von wem Sie sprechen, Pawel Andrejitsch!« stammelte der Kassierer.

»Von wem ich spreche? Was geht es mich an, daß man ihn zum ersten Sekretär ernannt hat! Da hat man gerade den richtigen gefunden. Man hat den Bock zum Gärtner gemacht!«

»Hören Sie auf, hören Sie auf, Pawel Andrejitsch, hören Sie auf! Lassen Sie es … was für Dummheiten!«

»Da wedelt er schon mit dem Schwanz, der Fuchs …! Ich will auf ihn hier warten«, sagte Pawel erbost und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ah, da kommt er ja«, fügte er hinzu, zum Fenster hinausschauend. »Wenn man vom Wolf spricht … Kommen Sie nur!« Er stand auf.

Nikolai Jeremejitsch trat ins Kontor. Sein Gesicht strahlte vor Freude, als er aber Pawel sah, wurde er etwas verlegen.

»Guten Tag, Nikolai Jeremejitsch«, sagte Pawel bedeutungsvoll, ihm langsam entgegenkommend. »Guten Tag!«

Der erste Sekretär antwortete nichts. In der Tür zeigte sich das Gesicht des Kaufmanns.

»Warum wollen Sie mir nicht antworten?« fuhr Pawel fort. »Übrigens, nein … nein«, fügte er hinzu, »so geht es nicht; mit Schreien und Schimpfen kann man nichts ausrichten. Sagen Sie mir lieber im guten, Nikolai Jeremejitsch, weshalb verfolgen Sie mich? Weshalb wollen Sie mich zugrunde richten? Nun, sprechen Sie doch, sprechen Sie doch.«

»Hier ist nicht der Ort, um sich mit Ihnen auseinanderzusetzen«, entgegnete nicht ohne Erregung der erste Sekretär, »es ist auch nicht die Zeit dazu. Aber ich wundere mich, offen gestanden, über das eine: Wie kommen Sie darauf, daß ich Sie zugrunde richten will oder Sie verfolge? Wie kann ich Sie schließlich verfolgen! Sie sind doch nicht bei mir im Kontor angestellt.«

»Das will ich meinen«, antwortete Pawel, »das fehlte noch gerade! Aber warum verstellen Sie sich, Nikolai Jeremejitsch …? Sie verstehen mich doch.«

»Nein, ich verstehe Sie nicht.«

»Nein, Sie verstehen mich wohl.«

»Bei Gott, ich verstehe nichts.«

»Sie schwören noch! Wenn es schon so weit gekommen ist, so sagen Sie mir doch, ob Sie Gott fürchten! Warum lassen Sie das arme Mädel nicht in Ruhe? Was wollen Sie von ihr?«

»Von wem sprechen Sie eigentlich, Pawel Andrejitsch?« fragte der Dicke mit erheucheltem Erstaunen.

»Ach, er weiß es wohl nicht! Ich spreche von Tatjana. Fürchten Sie doch Gott! Wofür rächen Sie sich an ihr? Schämen Sie sich doch; Sie sind ein verheirateter Mann, haben Kinder von meiner Größe … Ich aber habe was anderes im Sinn: Ich will heiraten, ich handele nach Ehre und Gewissen.«

»Was kann ich dafür, Pawel Andrejitsch? Die Gnädige erlaubt Ihnen das Heiraten nicht; so ist einmal ihr Wille! Was kann ich dafür?«

»Was Sie dafür können? Haben Sie sich vielleicht nicht mit der alten Hexe, der Haushälterin, verschworen? Haben Sie niemand verleumdet? Verbreiten Sie nicht Lügengeschichten über das schutzlose Mädel? Hat man sie nicht dank Ihnen von einer Wäscherin zu einer Spülmagd gemacht? Wird sie nicht dank Ihnen geschlagen und muß in Sackleinwand gehen …? Schämen Sie sich doch, schämen Sie sich, Sie alter Mann! Jeden Tag kann Sie doch der Schlag treffen … Sie werden es vor Gott zu verantworten haben.«

»Schimpfen Sie nur, Pawel Andrejitsch, schimpfen Sie nur … Sie werden nicht mehr lange schimpfen!«

Pawel fuhr auf.

»Was? Du willst mir drohen?« begann er wütend. »Du glaubst wohl, daß ich dich fürchte? Nein, Bruder, du bist an den Unrechten gekommen! Was soll ich fürchten …? Ich finde überall mein Auskommen. Mit dir ist es eine andere Sache! Du kannst nur hier leben, verleumden und stehlen …«

»Was der sich herausnimmt!« unterbrach ihn der Sekretär, der nun auch anfing, die Geduld zu verlieren. »Ein Feldscher, ein einfacher Feldscher, ein nichtsnutziger Quacksalber; wenn man ihm aber zuhört, kann man meinen, er sei eine wichtige Person!«

»Jawohl, ich bin Feldscher, aber ohne diesen Feldscher würden Euer Gnaden jetzt auf dem Friedhof faulen … Was hat mich auch der Teufel verführt, ihn zu heilen«, fügte er zwischen den Zähnen hinzu.

»Du hast mich geheilt …? Nein, du wolltest mich vergiften; du hast mir Aloe eingegeben«, fiel ihm der Sekretär ins Wort.

»Wenn aber bei dir nichts als Aloe wirkte?«

»Aloe ist von der Medizinalverwaltung verboten«, fuhr der Sekretär fort. »Ich werde mich noch beschweren … Du hast mich töten wollen, das ist es! Aber Gott hat es nicht zugelassen.«

»Hört doch auf, hört doch auf, meine Herren«, versuchte der Kassierer die beiden zu beschwichtigen …

»Laß mich in Ruh'!« schrie ihn der Sekretär an. »Er hat mich vergiften wollen! Verstehst du das?«

»Was brauche ich dich zu vergiften … Hör einmal, Nikolai Jeremejew«, sagte Pawel mit Verzweiflung. »Ich bitte dich zum letzten Male … du hast mich dazu getrieben, ich halte es nicht mehr aus. Laß uns in Ruhe, verstehst du? Sonst, bei Gott, geht es einem von uns schlecht. Dich meine ich!«

Der Dicke verlor die Fassung.

»Ich fürchte dich nicht«, schrie er auf, »hörst du, du Milchbart! Ich bin mit deinem Vater fertig geworden und habe ihm die Hörner gestutzt – das soll dir als Beispiel dienen, paß auf!«

»Sprich mir nicht von meinem Vater, Nikolai Jeremejew, sprich nicht von ihm!«

»So, so! Was bist du mir für ein Lehrmeister?«

»Ich sage dir, sprich mir nicht von ihm!«

»Und ich sage dir, vergiß dich nicht … Wie nötig dich auch die Gnädige nach deiner Ansicht braucht, aber wenn sie zwischen uns beiden zu wählen hat, so wirst du dich nicht halten können, Liebster! Niemand darf hier revoltieren, paß auf!« Pawel zitterte vor Wut. »Aber dem Mädel Tatjana geschieht ganz recht … Wart, sie wird noch was ganz anderes erleben!«

Pawel stürzte mit erhobenen Armen auf ihn los, und der Sekretär fiel schwer zu Boden.

»In Ketten mit ihm, in Ketten!« stöhnte Nikolai Jeremejew.

Das Ende dieser Szene kann ich nicht beschreiben; ich fürchte ohnehin, das Gefühl des Lesers verletzt zu haben.

Am gleichen Tag kehrte ich nach Hause zurück. Eine Woche später erfuhr ich, daß Frau Losnjakowa sowohl Pawel als Nikolai in ihren Diensten behalten, das Mädel Tatjana aber auf ein anderes Gut verschickt hatte; sie konnte sie wohl nicht brauchen.


Der Birjuk


Ich fuhr abends allein auf meinem Rennwagen von der Jagd. Bis nach Hause hatte ich an die acht Werst; meine gute Traberstute lief rüstig über die staubige Straße, indem sie ab und zu schnaubte und die Ohren bewegte; der müde Hund blieb wie angebunden keinen Schritt hinter den Hinterrädern zurück. Ein Gewitter war im Anzug. Vor mir erhob sich hinter dem Wald eine riesengroße lila Wolke; über mir und mir entgegen zogen langgestreckte graue Wolken; die Bachweiden rauschten und bewegten sich unruhig. Eine feuchte Kälte war plötzlich an Stelle der schwülen Hitze getreten; die Schatten verdichteten sich schnell. Ich schlug das Pferd mit der Leine, fuhr in eine Schlucht hinunter, kam über einen ausgetrockneten, ganz mit Weiden bewachsenen Bach, fuhr den andern Abhang hinauf und in den Wald hinein. Der Weg wand sich vor mir zwischen den dichten, schon in Dunkelheit gehüllten Haselsträuchern, ich kam nur mit Mühe vorwärts. Der Wagen hüpfte über die harten Wurzeln der hundertjährigen Eichen und Linden, die auf jedem Schritt die tiefen Spuren der Bauernwagen durchschnitten; mein Pferd begann zu stolpern. Plötzlich brauste in der Höhe ein heftiger Wind, die Bäume rauschten, und große Regentropfen prasselten und klatschten laut auf das Laub nieder; ein Blitz zuckte, und das Gewitter brach los. Es regnete in Strömen. Ich fuhr im Schritt weiter und mußte bald halten; mein Pferd blieb im Schmutz stecken, und ich konnte nichts sehen. So gut es ging fand ich Schutz unter einem breiten Strauch. Zusammengekrümmt und das Gesicht verhüllt, wartete ich geduldig auf das Ende des Unwetters, als ich plötzlich beim Leuchten des Blitzes vor mir auf dem Weg eine hohe Gestalt zu sehen glaubte. Ich blickte gespannt in die Richtung, und die gleiche Gestalt tauchte plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, dicht neben meinem Wagen auf.

»Wer ist da?« fragte eine laute Stimme.

»Und wer bist du?«

»Ich bin der hiesige Waldhüter.«

Ich nannte meinen Namen.

»Ach, ich kenne Sie! Fahren Sie nach Hause?«

»Ja, nach Hause. Aber dieses Gewitter …«

»Ja, das Gewitter«, antwortete die Stimme.

Ein weißer Blitz beleuchtete den Waldhüter vom Kopf bis zu den Füßen; ein lauter, kurzer Donnerschlag folgte gleich darauf. Der Regen strömte mit doppelter Kraft herab.

»Das endet nicht so bald«, versetzte der Waldhüter.

»Was soll ich machen?«

»Ich kann Sie in mein Haus führen«, sagte er kurz.

»Tue mir den Gefallen.«

»Bleiben Sie bitte sitzen.«

Er trat an den Kopf meines Pferdes, faßte es am Zaum und zog es von der Stelle. Wir setzten uns in Bewegung. Ich hielt mich am Kissen des Wagens fest, welcher schwankte wie ein Nachen im Meer, und rief meinen Hund. Meine arme Stute schlürfte schwer mit den Hufen durch den Schmutz, glitt aus und stolperte; der Waldhüter wankte vor den Deichselstangen wie ein Gespenst. Wir fuhren ziemlich lang; endlich blieb mein Führer stehen. »Nun sind wir daheim, Herr«, sagte er mit ruhiger Stimme. Ein Pförtchen knarrte, mehrere junge Hunde bellten. Ich hob den Kopf und sah beim Leuchten des Blitzes eine kleine Hütte in der Mitte eines großen, mit Flechtwerk' eingezäunten Hofes. In dem einen Fensterchen brannte trübes Licht. Der Waldhüter führte das Pferd dicht vor die Treppe und klopfte an die Tür. »Sofort, sofort!« antwortete ein feines Stimmchen, man hörte Tritte bloßer Füße, der Riegel knarrte, und ein etwa zwölfjähriges Mädchen in einem mit einem Tuchstreifen umgürteten Hemd erschien, mit einer Laterne in der Hand, an der Schwelle.

»Leuchte dem Herrn«, sagte er ihr. »Ihren Wagen will ich unter das Schutzdach stellen.«

Das Mädchen sah mich an und ging ins Haus. Ich folgte ihr.

Das Haus des Waldhüters bestand aus einem einzigen verräucherten, niedrigen und leeren Zimmer, ohne Pritsche und ohne jeden Verschlag. An der Wand hing ein zerrissener Schafspelz. Auf der Bank lag ein einläufiges Gewehr, in der Ecke ein Haufen Lumpen; zwei große Töpfe standen neben dem Ofen. Auf dem Tisch brannte ein Kienspan; bald leuchtete er traurig auf, bald schien er zu verlöschen. Mitten in der Stube hing vom Ende einer langen Stange eine Wiege herab. Das Mädchen blies die Laterne aus, setzte sich auf eine winzige Bank und begann mit der Rechten die Wiege zu schaukeln und mit der Linken den Kienspan zu putzen. Ich sah mich um – mein Herz krampfte sich zusammen: So traurig ist es nachts in einer Bauernstube. Das Kind in der Wiege atmete schwer.

»Bist du allein hier?« fragte ich das Mädchen.

»Ja, allein«, antwortete sie kaum hörbar.

»Bist du des Waldhüters Tochter?«

»Ja, des Waldhüters«, flüsterte sie.

Die Tür knarrte, und der Waldhüter trat mit gebücktem Kopf über die Schwelle. Er hob die Laterne vom Boden auf, trat an den Tisch und zündete den Docht an.

»Sie sind wohl nicht an einen Kienspan gewöhnt?« sagte er und schüttelte seine Locken.

Ich sah ihn an. Selten hatte ich einen so stattlichen Kerl gesehen. Er war großgewachsen, breitschultrig und herrlich gebaut. Unter dem feuchten Hemd wölbten sich seine mächtigen Muskeln. Der schwarze, lockige Vollbart verdeckte bis zur Hälfte sein ernstes, männliches Gesicht; unter den zusammengewachsenen Brauen blickten mutig kleine braune Augen. Er stemmte die Arme leicht in die Hüften und blieb vor mir stehen.

Ich dankte ihm und fragte ihn nach seinem Namen.

»Ich heiße Foma«, antwortete er, »und mit dem Zunamen Birjuk.«

»Ah, du bist Birjuk?«

Ich sah ihn mit doppelter Neugier an. Von meinem Jermolai und auch von andern hatte ich verschiedenes über den Waldhüter Birjuk gehört, den die Bauern in der Umgegend wie das Feuer fürchteten. Nach ihren Worten hat es in der ganzen Welt noch keinen solchen Meister in seinem Fach gegeben. »Der läßt keine Tracht Reisig fortschleppen; zu jeder Zeit, selbst um Mitternacht erwischt er einen, und man kann sich gegen ihn gar nicht wehren: Er ist stark und flink wie der Teufel… Man kann ihn auch mit nichts bestechen, weder mit Schnaps noch mit Geld, er läßt sich durch nichts verlocken. Die guten Leute haben ihn schon mehr als einmal aus der Welt schaffen wollen, aber er läßt sich nicht fangen.«

So urteilten die Bauern der Umgegend über Birjuk.

»Du bist also Birjuk«, wiederholte ich, »ich habe schon von dir gehört, Bruder. Man sagt, du gibst keinem Menschen Pardon, den du erwischst.«

»Ich tue nur meine Pflicht«, antwortete er düster; »ich will nicht das herrschaftliche Brot umsonst essen.«

Er holte aus seinem Gürtel ein Beil, hockte sich auf den Boden nieder und fing an, einen Kienspan zu spalten.

»Hast du keine Frau?« fragte ich ihn.

»Nein«, antwortete er und holte mit dem Beil aus.

»Sie ist wohl gestorben?«

»Nein … ja … gestorben«, fügte er hinzu und wandte sich weg.

Ich verstummte: Er hob die Augen und sah mich an.

»Sie ist mit einem Kleinbürger, der des Weges kam, durchgebrannt«, sagte er mit einem grausamen Lächeln.

Das Mädchen schlug die Augen nieder; das Kind erwachte und fing zu schreien an; das Mädchen trat zur Wiege.

»Hier, gib es ihm«, sagte, Birjuk und drückte dem Mädchen einen schmutzigen Lutschbeute! in die Hand. »Auch den hat sie verlassen«, fuhr er halblaut fort, auf das Kind weisend. Dann trat er an die Tür, blieb stehen und wandte sieh zu mir um.

»Herr«, begann er, »Sie werden wohl unser Brot nicht essen wollen, aber außer Brot habe ich nichts …«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Nun, wie Sie wollen. Einen Samowar würde ich Ihnen bereiten, aber ich habe keinen Tee … Ich will mal hingehen und nach Ihrem Pferd schauen.«

Er ging hinaus und schlug die Tür zu. Ich sah mich wieder um. Die Stube erschien mir noch trauriger als früher. Der bittere Geruch von kaltem Rauch benahm mir den Atem. Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle und hob auch die Augen nicht; ab und zu stieß es die Wiege und zog scheu das herabgleitende Hemd wieder auf die Schultern; ihre bloßen Beine hingen unbeweglich herab.

»Wie heißt du?« fragte ich.

»Ulita«, antwortete sie und senkte ihr trauriges Gesichtchen noch tiefer herab.

Der Waldhüter kam zurück und setzte sich auf die Bank.

»Das Gewitter verzieht sich«, sagte er nach einem kurzen Schweigen; »wenn Sie wollen, führe ich Sie aus dem Wald hinaus.«

Ich erhob mich. Birjuk nahm sein Gewehr und untersuchte die Pfanne.

»Warum das?« fragte ich ihn.

»Im Wald sind Diebe… Bei der Stuten-Höhe fällen sie einen Baum«, fügte er als Antwort auf meinen fragenden Blick hinzu.

»Hört man es denn von hier?«

»Vom Hof hört man es.«

Wir gingen zusammen hinaus. Der Regen hatte aufgehört. In der Ferne drängten sich noch schwere Wolken und zuckten lange Blitze; aber über unseren Köpfen war schon hier und da der dunkelblaue Himmel zu sehen, und die Sterne flimmerten durch die dünnen, schnell vorbeiziehenden Wolken. Die Umrisse der vom Regen besprengten und vom Wind durchschüttelten Bäume traten aus dem Dunkel hervor. Wir fingen an zu horchen. Der Waldhüter zog seine Mütze vom Kopf und senkte das Gesicht. »Schau, schau …«, versetzte er plötzlich, die Hand ausstreckend, »was er sich für eine Nacht gewählt hat.« Ich hörte nichts als das Rauschen der Blätter. Birjuk führte mein Pferd unter dem Schutzdach hinaus. »So werde ich ihn vielleicht verpassen«, sagte er laut.

»Ich geh' mit dir mit. … willst du?«

»Gut«, antwortete er und zog das Pferd zurück, »wir werden ihn im Nu erwischen, dann will ich Sie begleiten, kommen Sie.«

Wir gingen, Birjuk voran und ich hinter ihm. Gott allein weiß, wie er den Weg fand, aber er blieb nur selten stehen, und auch das nur, um auf die Schläge der Axt zu horchen. »Da schau«, murmelte er zwischen den Zähnen. »Hören Sie es?« – »Wo denn?«

Birjuk zuckte die Achseln. Wir stiegen in die Schlucht hinab, hier wurde es für einen Augenblick windstill, und ich hörte deutlich die gleichmäßigen Schläge. Birjuk sah mich an und schüttelte den Kopf. Wir gingen über nasses Farnkraut und Brennesseln weiter. Es ertönte ein dumpfes, anhaltendes Dröhnen …

»Nun hat er ihn umgeworfen …«, murmelte Birjuk.

Der Himmel wurde indessen immer reiner; im Wald dämmerte es leicht. Endlich kamen wir aus der Schlucht heraus.

»Warten Sie hier«, flüsterte mir der Waldhüter zu. Dann bückte er sich, hob sein Gewehr in die Höhe und verschwand im Wald. Ich fing an, gespannt zu horchen. Durch das anhaltende Rauschen des Windes glaubte ich in der Nähe schwache Töne zu hören: das vorsichtige Schlagen einer Axt auf die Äste, das Knarren von Rädern und das Schnauben eines Pferdes … »Wohin? Halt!« erdröhnte plötzlich die eiserne Stimme Birjuks. Eine andere Stimme schrie jämmerlich wie ein Hase. Es begann ein Kampf. – »Nein! Nein!« wiederholte Birjuk keuchend, »du entwischst mir nicht…« Ich eilte auf das Geschrei hin und erreichte, bei jedem Schritt stolpernd, den Kampfplatz. Auf dem Boden neben dem gefällten Baum machte sich der Waldhüter zu schaffen: Er hatte den Dieb unter sich und band ihm mit einem Gürtel die Hände auf den Rücken. Ich kam näher. Birjuk erhob sich und stellte auch ihn auf die Beine. Ich erblickte einen durchnäßten, abgerissenen Bauern mit einem langen, zerzausten Bart. Ein elendes, zur Hälfte mit einer Bastmatte bedecktes Pferd stand gleich daneben, an das Untergestell eines Leiterwagens gespannt. Der Waldhüter sprach kein Wort; auch der Bauer schwieg und schüttelte nur den Kopf.

»Laß ihn laufen«, flüsterte ich Birjuk ins Ohr, »ich will den Baum bezahlen.«

Birjuk ergriff das Pferd schweigend mit der Linken am Schopf; mit der Rechten hielt er den Dieb am Gürtel. »Na, rühr dich, du Maulaffe!« sagte er ihm streng.

»Nehmen Sie doch die Axt da«, murmelte der Bauer.

»Ja, warum soll sie hier verlorengehen!« versetzte der Waldhüter und nahm die Axt.

Wir machten uns auf den Weg. Ich ging hinter den beiden … Es begann wieder zu tropfen, und bald goß es in Strömen. Mit Mühe erreichten wir die Hütte. Birjuk ließ das gefangene Pferd auf dem Hof zurück, führte den Bauern in die Stube, löste ein wenig den Knoten im Gürtel und setzte ihn in eine Ecke. Das Mädchen, das neben dem Ofen eingeschlafen war, sprang auf und begann uns mit stummem Schreck anzustarren. Ich setzte mich auf die Bank.

»Wie es gießt!« sagte der Waldhüter. »Wir werden warten müssen. Wollen Sie sich nicht hinlegen?«

»Ich danke.«

»Ich würde ihn Ihretwegen in die Kammer sperren«, fuhr er fort, auf den Bauern zeigend, »aber der Riegel …«

»Laß ihn hier, tu ihm nichts«, unterbrach ich Birjuk.

Der Bauer sah mich finster an. Ich gab mir innerlich das Wort, den armen Teufel, was es auch kosten sollte, zu befreien. Er saß unbeweglich auf der Bank. Beim Schein der Laterne sah ich sein ausgemergeltes, runzliges Gesicht, die überhängenden gelben Brauen, die unruhigen Augen und die mageren Glieder . .. Das Mädchen legte sich auf den Boden dicht vor seinen Füßen nieder und schlief wieder ein. Birjuk saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt. In einer Ecke zirpte ein Heimchen; der Regen prasselte gegen das Dach und floß an den Fensterscheiben herunter; wir alle schwiegen.

»Foma Kusmitsch«, begann plötzlich der Bauer mit einer dumpfen, gebrochenen Stimme: »Du, Foma Kusmitsch!«

»Was willst du?«

»Laß mich laufen.«

Birjuk gab keine Antwort.

»Laß mich laufen … ich tat es aus Hunger … laß mich laufen.«

»Ich kenne euch«, antwortete der Waldhüter mürrisch, »euer ganzes Dorf ist so: lauter Diebe.«

»Laß mich laufen«, wiederholte der Bauer: »Der Verwalter … wir sind ganz verarmt … laß mich!«

»Verarmt …! Niemand darf stehlen.«

»Laß mich laufen, Foma Kusmitsch, richte mich nicht zugrunde. Euer Verwalter, du weißt es selbst, frißt einen auf …!«

Birjuk wandte sich weg. Der Bauer zitterte wie im Fieber. Er schüttelte den Kopf und atmete ungleichmäßig.

»Laß mich laufen«, wiederholte er mit trübseliger Verzweiflung, »laß mich, bei Gott! Ich werde bezahlen, ja, bei Gott! Bei Gott, ich tat es aus Hunger … die Kinder schreien, du weißt es selbst. So schwer hab' ich es.«

»Du sollst aber trotzdem nicht stehlen gehen.«

»Das Pferdchen«, fuhr der Bauer fort, »das Pferdchen, laß wenigstens das Pferdchen frei, ich hab' ja nur dies eine Tier!«

»Ich sag' dir doch, es geht nicht. Auch ich bin kein freier Mensch. Ich werde es verantworten müssen. Man darf euch nicht verwöhnen.«

»Laß mich laufen! Es ist die Not, Foma Kusmitsch, wahrhaftig die Not … laß mich laufen!«

»Ich kenne euch!«

»Laß mich laufen!«

»Ach, was soll ich mit dir reden! Sitz ruhig, sonst werd' ich dich, du weißt schon! Siehst du denn den Herrn nicht?«

Der Ärmste schlug die Augen nieder … Birjuk gähnte und legte den Kopf auf den Tisch. Der Regen wollte noch immer nicht aufhören. Ich wartete, was weiter kommen würde.

Der Bauer richtete sich plötzlich auf. Seine Augen brannten und sein Gesicht rötete sich. »Na, friß, erstick daran!« begann er, die Augen zusammenkneifend und die Mundwinkel senkend. »Hier, verruchter Seelenmörder, trink Christenblut, trink …«

Der Waldhüter wandte sich um.

»Zu dir spreche ich, Asiate, Blutsauger, zu dir!«

»Bist du betrunken, daß es dir einfällt, zu schimpfen?« rief der Waldhüter erstaunt. »Oder bist du von Sinnen?«

»Betrunken …! Nicht für dein Geld habe ich getrunken, verdammter Seelenmörder, du Tier, Tier, Tier!«

»Ach du …! Ich werde dich …«

»Was macht's? Ich gehe sowieso zugrunde! Was soll ich ohne Pferd anfangen? Mach mir den Garaus, es ist ja alles eins, ob ich vor Hunger oder so krepiere. Mag alles zum Teufel gehen: Frau, Kinder – mögen alle krepieren … Aber mit dir werden wir schon abrechnen!« Birjuk erhob sich.

»Hau zu, hau zu!« rief der Bauer mit wütender Stimme: »Hau, hier, hau zu …«

Das Mädchen sprang schnell vom Boden auf und starrte ihn an.

»Hau zu! Hau zu!«

»Schweig!« donnerte der Waldhüter und machte zwei Schritte auf ihn zu.

»Genug, genug, Foma«, schrie ich, »laß ihn… höre nicht auf ihn.«

»Ich will nicht schweigen«, fuhr der Unglückliche fort. »Ich muß doch sowieso krepieren. Du Seelenmörder, Tier, daß dich … Aber wart, wirst nicht mehr lange so stolz tun! Man wird dir schon die Gurgel zuschnüren, warte nur!«

Birjuk packte ihn an der Schulter… Ich stürzte dem Bauern zu Hilfe…

»Rühren Sie mich nicht an, Herr!« herrschte mich der Waldhüter an.

Ich hätte mich vor seiner Drohung nicht gefürchtet und hatte schon die Hand ausgestreckt, aber er riß, zu meinem größten Erstaunen, mit einem Ruck dem Bauern den Gürtel von den Ellbogen, packte ihn beim Kragen, drückte ihm die Mütze über die Augen, öffnete die Türe und stieß ihn hinaus.

»Scher dich zum Teufel mit deinem Pferd!« schrie er ihm nach … »Aber paß auf, wenn ich dich ein anderes Mal erwische …«

Er kehrte in die Stube zurück und machte sich in einer Ecke zu schaffen.

»Na, Birjuk«, sagte ich, »du hast mich in Erstaunen gesetzt: Wie ich sehe, bist du ein braver Kerl.«

»Hören Sie auf, Herr«, unterbrach er mich verdrießlich, »sagen Sie es bitte nur niemand. Ich will Sie lieber begleiten«, fügte er hinzu. »Sie werden wohl gar nicht abwarten, bis der Regen aufhört…«

Auf dem Hof knarrten die Räder des Bauernwagens.

»Da fährt er nach Hause!« murmelte er. »Ich werde ihm schon …« Eine halbe Stunde später verabschiedete er sich von mir am Waldsaum.



Zwei Gutsbesitzer


Ich habe schon die Ehre gehabt, Ihnen, geneigte Leser, einige meiner Herren Nachbarn vorzustellen; gestatten Sie mir jetzt, da sich gerade die Gelegenheit bietet (unsereinem, einem Schriftsteller, bietet sich aber immer eine Gelegenheit), Sie mit noch zwei Gutsbesitzern bekannt zu machen, bei denen ich oft zur Jagd war, zwei sehr geachteten, wohlmeinenden und die allgemeine Achtung mehrerer Landkreise genießenden Herren.

Zuerst will ich Ihnen den Generalmajor a. D. Wjatscheslaw Illarionowitsch Chwalynskij schildern. Stellen Sie sich einen großgewachsenen, früher einmal schlank gewesenen Mann vor, der schon etwas aufgedunsen, aber noch durchaus nicht greisenhaft, nicht einmal gealtert ist und im reifen Alter, sozusagen in der Blüte der Jahre steht. Seine einst regelmäßigen und auch jetzt noch angenehmen Gesichtszüge haben sich allerdings etwas verändert: Die Wangen hängen herab, dichte Runzeln haben sich strahlenförmig um die Augen gelegt, und auch mancher Zahn fehlt schon, wie Saadi, nach Puschkins Behauptung, gesagt haben soll; das Dunkelblond seiner Haare, jedenfalls der, die noch geblieben sind, hat sich dank einer Mixtur, die er auf dem Pferdemarkt zu Romny von einem Juden, der sich für einen Armenier ausgab, erstanden hatte, in ein Lila verwandelt; aber Wjatscheslaw Illarionowitsch schreitet rüstig, lacht laut, klirrt mit den Sporen, dreht seinen Schnurrbart und nennt sich einen alten Kavalleristen, während die wirklich alten Leute sich bekanntlich niemals alt nennen. Gewöhnlich trägt er einen bis oben zugeknöpften Rock, eine hohe Halsbinde mit steifem Kragen und eine militärisch zugeschnittene graue Hose mit Glanz; seinen Hut drückt er ganz in die Stirn, so daß der ganze Nacken frei bleibt. Er ist ein sehr guter Mensch, hat aber recht seltsame Begriffe und Angewohnheiten. Zum Beispiel: Er kann unmöglich die weniger reichen oder nicht in hohem Range stehenden Edelleute wie Menschen seinesgleichen behandeln. Wenn er mit ihnen spricht, so sieht er sie gewöhnlich von der Seite an und drückt dabei die eine Wange fest an den steifen weißen Kragen; oder er blendet sie plötzlich mit einem klaren und starren Blick, schweigt eine Weile und bewegt die ganze Kopfhaut unter den Haaren; er spricht sogar die Worte anders aus und sagt z.B. statt: »Bitte ergebenst, Pawel Wassiljitsch« oder »Bemühen Sie sich hierher, Michailo Iwanytsch« – »Bitt' gebenst, Pall' Assilitsch« oder: »Michal'Wanytsch.« Die Leute, welche auf den niedrigsten Stufen der Gesellschaft stehen, behandelt er noch merkwürdiger: Er sieht sie gar nicht an und wiederholt, ehe er ihnen seinen Wunsch äußert oder einen Befehl erteilt, einige Male hintereinander mit besorgter und nachdenklicher Miene: »Wie heißt du …? Wie heißt du?«, wobei er das erste Wort ›Wie‹ ungewöhnlich scharf betont, die übrigen Worte aber sehr schnell spricht, was dem ganzen Satz eine ziemliche Ähnlichkeit mit dem Schrei eines Wachtelmännchens verleiht. Er tut immer geschäftig und ist ziemlich geizig, dabei aber ein schlechter Wirt; zum Gutsverwalter hat er einen verabschiedeten Wachtmeister, einen Kleinrussen von ungewöhnlicher Dummheit. In puncto Wirtschaft hat bei uns übrigens noch niemand jenen hohen Petersburger Beamten übertroffen, der, als er aus den Berichten seines Verwalters ersah, daß die Kornspeicher auf seinem Gut oft Feuersbrünsten ausgesetzt werden, wodurch viel Getreide verlorengeht, den strengsten Befehl gab, in Zukunft die Garben niemals in die Speicher zu stellen, bevor das Feuer gänzlich erloschen ist. Derselbe Würdenträger kam einmal auf den Gedanken, alle seine Felder mit Mohn zu besäen, und zwar infolge einer anscheinend höchst einfachen Berechnung: Der Mohn ist teurer als Roggen, also ist es vorteilhafter, Mohn zu säen. Er hatte auch seinen leibeigenen Weibern befohlen, Kokoschniks nach einem aus Petersburg zugesandten Muster zu tragen; auf seinen Gütern tragen die Weiber auch heute noch Kokoschniks, haben aber den alten Kopfputz darunter behalten… Kehren wir aber zu Wjatscheslaw Illarionowitsch zurück. Wjatscheslaw Illarionowitsch ist ein großer Freund des schönen Geschlechts, und sooft er in seiner Kreisstadt, auf dem Boulevard, eine hübsche Person sieht, steigt er ihr sofort nach, fängt aber gleich zu hinken an – ein bemerkenswerter Umstand. Er spielt auch gern Karten, aber nur mit Menschen von niedrigerem Range; sie sagen zu ihm ›Exzellenz‹, er aber wäscht ihnen den Kopf und schimpft, soviel es ihm beliebt. Wenn es sich aber trifft, daß er mit dem Gouverneur oder einer anderen beamteten Person spielt, so geht mit ihm eine erstaunliche Veränderung vor: Dann lächelt er, nickt mit dem Kopf, schaut ihnen in die Augen – er fließt förmlich vor Honig über … Selbst wenn er verliert, beklagt er sich nicht. Wjatscheslaw Illarionowitsch liest wenig; beim Lesen bewegt er fortwährend den Schnurrbart und die Augenbrauen, als ob sein ganzes Gesicht von unten nach oben in wellenförmiger Bewegung wäre. Besonders auffallend ist diese wellenförmige Bewegung im Gesicht Wjatscheslaw Illarionowitschs, wenn er gelegentlich (natürlich nur in Gegenwart von Gästen) die Spalten des Journal des Débats durchfliegt. Bei den Wahlen spielt er eine recht bedeutende Rolle, lehnt aber aus Geiz das Amt eines Adelsmarschalls ab. »Meine Herren«, sagt er gewöhnlich zu den Edelleuten, die ihn zu überreden suchen, mit einer gönnerhaften und würdevollen Miene, »ich danke sehr für die Ehre; aber ich habe mich entschlossen, meine Muße der Einsamkeit zu widmen.« Nachdem er diese Worte gesprochen hat, bewegt er den Kopf einige Male nach rechts und nach links und drückt dann Kinn und Wangen mit Würde in seine Halsbinde. In seinen jungen Jahren war er Adjutant bei einer bedeutenden Persönlichkeit gewesen, die er nie anders als mit dem Vor- und Vaternamen nennt; man sagt, er hätte auch andere Pflichten als die eines Adjutanten auf sich genommen: So soll er z. B. in voller Paradeuniform und sogar bis oben zugeknöpft seinem Vorgesetzten im Dampfbad die Dienste eine Badedieners geleistet haben, aber man darf nicht jedem Gerücht glauben. Übrigens spricht auch General Chwalynskij selbst nicht gern von seiner dienstlichen Laufbahn, was doch sehr seltsam ist; er scheint auch nicht im Krieg gewesen zu sein. General Chwalynskij lebt allein in einem kleinen Häuschen; Eheglück hat er in seinem ganzen Leben nicht erfahren, und darum gilt er auch jetzt noch als eine Partie, sogar als eine gute Partie. Dafür trägt seine Haushälterin, eine etwa fünfunddreißigjährige, schwarzäugige, schwarzbrauige, volle und recht frische, mit einem Schnurrbart gesegnete Person an Wochentagen gestärkte Kleider, an Sonntagen aber Musselinärmel. Schön wirkt Wjatscheslaw Illarionowitsch bei den großen Diners, die die Gutsbesitzer zu Ehren des Gouverneurs und anderer Behörden geben; da ist er, man kann wohl sagen, ganz in seinem Element. Bei solchen Gelegenheiten sitzt er gewöhnlich, wenn auch nicht unmittelbar zur Rechten des Gouverneurs, so doch nicht allzu weit von ihm; zu Anfang des Diners ist er vorwiegend vom Bewußtsein seiner eigenen Würde erfüllt: Er lehnt sich etwas zurück und mustert, ohne den Kopf zu wenden, die Reihe der runden Nacken und steifen Kragen der Gäste; aber gegen das Ende der Tafel wird er lustig, lächelt nach allen Seiten (in der Richtung nach dem Gouverneur hat er schon seit Beginn des Diners gelächelt) und bringt sogar zuweilen einen Toast auf das schöne Geschlecht aus, den schönsten Schmuck unseres Planeten, wie er es nennt. Nicht übel ist General Chwalynskij auch bei allen anderen feierlichen und öffentlichen Akten, wie Schulprüfungen, Versammlungen und Ausstellungen; er versteht auch meisterhaft, an den Priester heranzutreten, um sich seinen Segen zu erbitten. Wenn sich nach Schluß einer solchen Veranstaltung oder bei der Überfahrt über einen Fluß die Wagen drängen, so pflegen die Leute Wjatscheslaw Illarionowytschs niemals zu lärmen und zu schreien; im Gegenteil, indem sie das Publikum zurückdrängen oder den Wagen herbeirufen, sagen sie in einem angenehmen, tiefen Bariton: »Gestatten Sie, gestatten Sie, lassen Sie den General Chwalynskij durch!« oder: »Die Equipage des Generals Chwalynskij – « Diese Equipage hat zwar eine recht altertümliche Form; die Livree der Diener ist ziemlich abgetragen (daß sie grau mit rotem Vorstoß ist, brauche ich wohl gar nicht zu erwähnen); auch die Pferde sind ziemlich abgelebt und haben viele Dienstjahre hinter sich; aber auf Eleganz erhebt Wjatscheslaw Illarionowitsch keinen Anspruch und hält es sogar unter seiner Würde, den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Über eine besondere Rednergabe verfügt Chwalynskij nicht, oder vielleicht findet er auch keine Gelegenheit, seine Beredsamkeit zu zeigen, denn er liebt nicht nur keine Debatten, sondern auch keine Einwände und vermeidet ängstlich jedes längere Gespräch, besonders mit jungen Leuten. So ist es in der Tat viel sicherer; denn mit den Leuten von heute ist es ein wahres Unglück: Sie versagen leicht jeden Gehorsam und verlieren die Achtung. Vor Personen höheren Ranges schweigt Chwalynskij meistens, und an Personen, die im Range tiefer stehen und die er zu verachten scheint, aber mit denen er doch ausschließlich verkehrt, richtet er kurze und scharfe Reden, wobei er ständig Ausdrücke wie die folgenden gebraucht: »Sie reden Unsinn.« Oder: »Ich sehe mich gezwungen, mein Herr, Ihnen vorzuhalten.« Oder: »Sie müssen schließlich wissen, mit wem Sie sprechen!« usw. Besondere Furcht haben vor ihm die Postmeister, die ständigen Beisitzer und die Stationsaufseher. Bei sich zu Hause empfängt er niemand und lebt, wie man behauptet, wie ein Geizhals. Bei alledem ist er ein prächtiger Gutsbesitzer. ›Ein alter Soldat, ein uneigennütziger Mensch von Grundsätzen, vieux grognard‹, nennen ihn seine Nachbarn. Nur der Gouvernements-Staatsanwalt allein erlaubt sich zu lächeln, wenn in seiner Gegenwart die vorzüglichen und soliden Eigenschaften des Generals Chwalynskij erwähnt werden – aber was vermag nicht alles der Neid …!

Wollen wir uns jetzt übrigens zu einem anderen Gutsbesitzer wenden.

Mardarij Apollonytsch Stjegunow hat mit Chwalynskij nicht die geringste Ähnlichkeit; er hat kaum irgendwo gedient und hat nie für einen schönen Mann gegolten. Mardarij Apollonytsch ist ein kleiner, kahlköpfiger, voller Greis mit Doppelkinn, weichen Händen und einem ordentlichen Bäuchlein. Er ist sehr gastfrei und ein großer Spaßmacher. Er lebt ganz seinem Vergnügen und trägt Winter und Sommer den gleichen gestreiften, wattierten Schlafrock. Nur in einer Beziehung stimmt er mit dem General Chwalynskij überein: Auch er ist Junggeselle. An Leibeigenen besitzt er fünfhundert Seelen. Mardarij Apollonytsch bewirtschaftet sein Gut in einer recht oberflächlichen Weise; um nicht hinter seiner Zeit zurückzubleiben, hat er vor zehn Jahren bei Botenop zu Moskau eine Dreschmaschine gekauft, sie aber dann gleich in einen Schuppen gesperrt und sich damit beruhigt. Höchstens an einem besonders schönen Sommertag läßt er seinen Jagdwagen einspannen und fährt ins Feld, um sich das Getreide anzusehen und Kornblumen zu pflücken. Mardarij Appllonytsch lebt ganz nach alter Sitte. Auch sein Haus ist von altertümlicher Einrichtung; im Vorzimmer riecht es wie üblich nach Kwaß, Talglichtern und Leder; gleich rechts steht dort ein Büfett mit Pfeifen und Handtüchern; im Eßzimmer gibt es Familienbildnisse, Fliegen, einen großen Geranientopf und ein verstimmtes Spinett; im Gastzimmer – drei Sofas, drei Tische, zwei Spiegel und eine heisere Uhr mit schwarzgewordener Emaille und durchbrochenen Bronzezeigern; im Kabinett – einen Tisch mit Papieren, eine spanische Wand von bläulicher Farbe mit aufgeklebten verschiedenen Werken des vorigen Jahrhunderts, ausgeschnittene Bildchen, Schränke mit übelriechenden Büchern, Spinnen und schwarzem Staub, einen dickgepolsterten Sessel, ein venezianisches Fenster und eine vernagelte Tür in den Garten … Mit einem Wort, alles, wie es sich gehört. Mardarij Apollonytsch hat eine Menge Dienstboten, und sie sind alle altmodisch gekleidet; sie tragen lange blaue Kaftans mit hohen Kragen, Beinkleider von unbestimmter Farbe und kurze gelbliche Westen. Zu den Gästen sagen sie ›Väterchen‹. Das Gut wird von einem Burmistr aus dem Bauernstand, einem Mann, dessen Vollbart seinen ganzen Schafspelz bedeckt, verwaltet, das Haus von einer runzligen und geizigen Alten mit einem braunen Kopftuch. In seinem Stall hat Mardarij Apollonytsch dreißig Pferde von verschiedenen Farben und Größen stehen; bei seinen, Ausfahrten bedient er sich eines im Hause gebauten Wagens von hundertfünfzig Pud Gewicht. Seine Gäste empfängt er sehr herzlich und bewirtet sie wunderbar, d.h., er nimmt ihnen, dank der verdummenden Wirkung der russischen Küche, bis zum Abend jede Fähigkeit, sich mit etwas außer Preference-Spiel zu beschäftigen. Er selbst beschäftigt sich aber niemals und mit nichts, er hat sogar aufgehört, das Traumbuch zu lesen. Solche Gutsbesitzer gibt es aber bei uns in Rußland noch ziemlich viele; nun fragt es sich: Warum und wozu habe ich die Rede auf ihn gebracht…? Erlauben Sie mir, statt darauf zu antworten, einen meiner Besuche bei Mardarij Apollonytsch zu beschreiben.

Ich kam zu ihm im Sommer gegen sieben Uhr abends. Bei ihm im Hause war eben die Abendmesse gelesen worden, und der Geistliche, ein noch junger Mann von schüchternem Aussehen, der wohl erst vor kurzem das Priesterseminar verlassen hatte, saß im Gastzimmer neben der Tür am äußersten Rande des Stuhles. Mardarij Apollonytsch empfing mich, seiner Gewohnheit gemäß, außerordentlich freundlich: Er freute sich aufrichtig über den Gast und war auch sonst ein herzensguter Mensch. Der Geistliche erhob sich und griff nach seinem Hut.

»Wart, wart, Väterchen«, sagte Mardarij Apollonytsch, ohne meine Hand loszulassen, »geh noch nicht… Ich habe befohlen, dir einen Schnaps zu bringen.«

»Ich trinke nicht«, murmelte der Geistliche verlegen und errötete bis über die Ohren.

»Was für Unsinn!« antwortete Mardarij Apollonytsch. »Mischka, Juschka! Einen Schnaps für Hochwürden!«

Juschka, ein langer, hagerer Greis von etwa achtzig Jahren, kam mit einem Gläschen Schnaps auf einem dunkelgestrichenen, mit fleischfarbenen Flecken besprenkelten Tablett herein. Der Geistliche versuchte, sich zu weigern.

»Trink, Väterchen, mach keine Geschichten, das ist nicht schön«, versetzte der Gutsbesitzer vorwurfsvoll.

Der arme junge Mann gehorchte.

»Jetzt, Väterchen, darfst du gehen.«

Der Geistliche fing an, sich zu verbeugen.

»Nun, gut, gut, geh … Ein prachtvoller Mensch«, fuhr Mardarij Apollonytsch fort, ihm nachblickend. »Ich bin mit ihm sehr zufrieden, das eine nur, er ist noch jung. Aber wie geht es Ihnen, Väterchen …? Was treiben Sie, wie leben Sie? Kommen Sie auf den Balkon, der Abend ist so schön.«

Wir traten auf den Balkon, setzten uns und kamen ins Gespräch. Mardarij Apollonytsch sah hinunter und geriet plötzlich in schreckliche Aufregung.

»Wessen Hühner sind das? Wessen Hühner sind das?« schrie er. »Wessen Hühner spazieren im Garten …? Juschka! Juschka …! Geh, erfahre, wessen Hühner im Garten spazieren …! Wessen Hühner sind das? Wie oft habe ich verboten, wie oft habe ich gesagt …«

Juschka lief hin.

»Was ist das für eine Unordnung!« wiederholte Mardarij Apollonytsch. »Das ist ja entsetzlich!«

Die unglücklichen Hühner – ich erinnere mich noch, es waren zwei gesprenkelte und ein weißes mit einem Schopf – fuhren ruhig fort, unter den Apfelbäumen zu spazieren und ihre Gefühle durch anhaltendes Gackern zu äußern, als plötzlich Juschka, ohne Mütze mit einem Stock in der Hand, und drei andere volljährige Leibeigene einmütig auf sie losstürzten. Der Spaß ging los. Die Hühner schrien, schlugen mit den Flügeln, sprangen und gackerten ohrenbetäubend; die Leibeigenen rannten, stolperten und fielen; der Herr schrie wie besessen vom Balkon herab: »Fang, fang! Fang, fang! Fang, fang, fang …! Wessen Hühner sind das, wessen Hühner sind das?« Endlich gelang es einem Leibeigenen, das Huhn zu fangen, indem er es mit der Brust an den Boden drückte; im gleichen Augenblick sprang ein etwa elfjähriges, ganz zerzaustes Mädel mit einer Rute in der Hand von der Straße her über den Gartenzaun.

»Aha, jetzt weiß ich, wessen Hühner es sind!« rief triumphierend der Gutsbesitzer. »Dem Kutscher Jermil gehören sie! Da hat er seine Natalka geschickt, um sie heimzutreiben … Die Parascha hat er sich nicht zu schicken getraut«, fügte der Gutsbesitzer halblaut und mit einem bedeutungsvollen Schmunzeln hinzu. »He, Juschka! Laß die Hühner, und fang mir die Natalka!«

Bevor aber der atemlose Juschka das erschrockene Mädel erreicht hatte, erschien wie aus dem Boden gewachsen die Haushälterin; sie packte sie bei der Hand und schlug sie einige Male auf den Rücken …

»Ja, so, ja, so«, rief der Gutsbesitzer. »Ta, ta, ta, ta …! Die Hühner nimm aber weg, Awdotja«, fügte er laut hinzu. Dann wandte er sich mit heiterem Gesicht an mich: »Nun, Väterchen, das war doch eine schöne Hetzjagd, was? Ich bin sogar ins Schwitzen gekommen, sehen Sie nur!«

Und Mardarij Apollonytsch fing zu lachen an.

Wir blieben auf dem Balkon. Der Abend war in der Tat ungewöhnlich schön.

Man brachte uns Tee.

»Sagen Sie mal, Mardarij Apollonytsch«, begann ich, »sind das Ihre Bauernhäuser, die dort an der Straße hinter der Schlucht vorgeschoben stehen?«

»Ja, das sind meine. Warum?«

»Wie können Sie so etwas tun, Mardarij Apollonytsch? Es ist doch Sünde. Die Bauern haben elende, enge Hütten, kein Bäumchen ist in der Nähe; nicht mal ein Teich ist dabei; sie haben nur einen Brunnen, und auch der taugt nichts. Haben Sie denn keinen anderen Platz finden können …? Man sagt auch, Sie hätten ihnen die alten Hanffelder weggenommen …«

»Was soll man mit diesen Grenzberichtigungen anfangen?« antwortete mir Mardarij Apollonytsch. »Diese Grenzberichtigungen sitzen mir hier.« Er zeigte auf seinen Nacken. »Ich sehe auch gar keinen Nutzen von diesen Grenzberichtigungen. Daß ich ihnen aber ihre Hanffelder genommen und keinen Teich gegraben habe, das, Väterchen, ist meine Sache. Ich bin ein einfacher Mensch und handele nach alter Sitte. Ich sage: Der Herr ist der Herr, und der Bauer ist halt der Bauer … So ist es.«

Auf solche klare und überzeugende Gründe konnte ich natürlich nichts erwidern.

»Außerdem«, fuhr er fort, »sind diese Bauern schlecht und in Ungnade. Da sind besonders zwei Familien; schon mein seliger Vater, Gott schenke ihm das Himmelreich, mochte sie nicht, mochte sie gar nicht. Ich aber habe folgendes Merkmal: Wenn der Vater ein Dieb ist, so ist auch der Sohn ein Dieb; Sie können sagen, was Sie wollen … Ja, Blut ist eine große Sache!«

Indessen war die Luft ganz still geworden. Nur ab und zu kam stoßweise ein Windhauch gezogen, und als er zum letztenmal neben dem Haus erstarb, trug er an unser Ohr den Widerhall gleichmäßiger und schnell aufeinanderfolgender Schläge vom Pferdestall her. Mardarij Apollonytsch hatte eben die volle Untertasse an die Lippen geführt und schon die Nasenflügel erweitert, ohne das bekanntlich kein echter Russe Tee zu trinken pflegt – hielt aber inne, lauschte, nickte mit dem Kopf, nahm einen Schluck, stellte die Untertasse auf den Tisch und sagte mit dem gutmütigsten Lächeln, im Takt mit den Schlägen: »Tsdiiki, tschiki! Tschiki, tschiki!«

»Was ist denn das?« fragte ich erstaunt.

»Dort wird auf meinen Befehl ein ausgelassener Junge bestraft… Kennen Sie den Büfettbeschließer Waßja?«

»Was für einen Waßja?«

»Der uns heute beim Mittagessen bedient hat. Es ist der mit dem langen Backenbart.«

Die grimmigste Entrüstung hätte dem heiteren, sanften Blicke Mardarij Apollonytschs nicht standhalten können.

»Was haben Sie, was haben Sie, junger Mann?« begann er kopfschüttelnd. »Bin ich ein Unmensch, daß Sie mich so anstarren? Wer seine Kinder liebt, der züchtigt sie; das wissen Sie doch selbst.«

Nach einer Viertelstunde verabschiedete ich mich von Mardarij Apollonytsch. Als ich durchs Dorf fuhr, erblickte ich den Büfettbeschließer Waßja. Er ging die Straße entlang und knackte Nüsse. Ich ließ den Kutscher halten und rief ihn heran.

»Nun, Bruder, man hat dich heute bestraft?« fragte ich ihn.

»Woher wissen Sie denn das?« erwiderte Waßja.

»Dein Herr hat es mir erzählt.«

»Der Herr selbst?«

»Wofür hat er dich bestrafen lassen?«

»Ich habe es verdient, Väterchen, ich habe es verdient. Ohne Grund wird man bei uns nicht bestraft, eine solche Einrichtung gibt es bei uns nicht, keine Spur. Unser Herr ist nicht so; unser Herr … einen solchen findet man im ganzen Gouvernement nicht wieder.«

»Fahr zu!« sagte ich dem Kutscher. – Das ist also das alte Rußland! dachte ich auf der Rückfahrt.


Lebedjanj


Einer der Hauptvorzüge der Jagd, meine lieben Leser, besteht darin, daß sie Sie zwingt, fortwährend von einem Ort zum anderen zu ziehen, was für einen müßigen Menschen recht angenehm ist. Allerdings ist es zuweilen (besonders in der Regenzeit) nicht sehr angenehm, sich auf den Feldwegen herumzutreiben, auch ohne Weg und Steg direkt übers Feld zu gehen, jeden vorübergehenden Bauern mit der Frage anzuhalten: »He, Liebster! Wie kommen wir nach Mordowka?«, und in Mordowka ein stumpfsinniges Weib (alle Männer sind auf der Feldarbeit) zu befragen, ob es noch weit sei bis zu den Herbergen an der großen Landstraße und wie man hinkomme; dann aber, nachdem man zehn Werst zurückgelegt hat, statt zu den Herbergen, in das gutsherrliche, arg ruinierte Dorf Chudobubnowo zu geraten, zum äußersten Erstaunen einer ganzen Herde von Schweinen, die mitten auf der Straße bis zu den Ohren im dunkelbraunen Dreck stecken und durchaus nicht erwartet haben, daß man sie stören würde. Wenig angenehm ist es auch, Brücken zu passieren, die unter unseren Füßen wie lebendig zittern, in Schluchten hinabzusteigen, sumpfige Bäche zu durchwaten, tagelang durch das grünliche Meer der Landstraßen zu fahren oder, Gott behüte, für einige Stunden vor einem bunt angemalten Werstpfahle steckenzubleiben, mit der Ziffer 22 auf der einen und 23 auf der anderen Seite, wochenlang nur von Eiern, Milch und dem gepriesenen Roggenbrot zu leben. Aber alle diese Unbequemlichkeiten und Mißerfolge werden durch die Vorteile und Vergnügungen anderer Art aufgewogen. Wollen wir übrigens mit der Erzählung selbst beginnen. Infolge des oben Gesagten brauche ich dem Leser nicht mehr zu erklären, auf welche Weise ich vor etwa fünf Jahren nach Lebedjanj mitten in den Pferdemarkt geriet. Uns Jägern kann es passieren, daß wir an einem schönen Morgen unser mehr oder weniger angestammtes Gut verlassen mit der Absicht, am Abend des nächsten Tages heimzukehren, aber allmählich, fortwährend auf Schnepfen schießend, die gesegneten Ufer der Petschora erreichen; zudem ist jeder Freund des Gewehrs und des Hundes zugleich auch ein leidenschaftlicher Verehrer des edelsten Tieres auf der Welt: des Pferdes. So kam ich nach Lebedjanj, stieg in einem Gasthaus ab, kleidete mich um und begab mich auf den Jahrmarkt. (Der Gasthausdiener, ein langer und hagerer Bursche von etwa zwanzig Jahren mit einer süßen, näselnden Tenorstimme, hatte mir schon mitgeteilt, daß Seine Durchlaucht, Fürst N., Remonteur des ***schen Regiments, in ihrem Gasthaus abgestiegen sei; noch viele andere Herren seien angekommen, am Abend sängen Zigeuner, und im Theater werde Tan Twardowski gegeben; die Preise für die Pferde seien zwar hoch, man habe aber auch vorzügliche Pferde angetrieben.)

Auf dem Jahrmarktsplatz standen in endlosen Reihen Wagen und hinter den Wagen Pferde aller möglichen Sorten: Traber, Zuchtpferde, Bitjuks, Wagenpferde, Postpferde und gewöhnliche Bauernpferde. Manche von ihnen, wohlgenährt und glatt, nach den Farben zusammengestellt, mit bunten Decken bedeckt und an die hohen Rückwände der Wagen kurz angebunden, schielten ängstlich auf die ihnen allzugut bekannten Peitschen ihrer Besitzer, der Roßhändler; Gutsbesitzerpferde, von in der Steppe wohnenden Edelleuten aus einer Entfernung von hundert und zweihundert Werst unter der Aufsicht eines altersschwachen Kutschers und zweier oder dreier dickköpfiger Stallknechte hergeschickt, bewegten ihre langen Hälse, stampften mit den Füßen und nagten aus Langeweile an den Geländerbalken; hellbraune Wjatkapferde drängten sich aneinander; in majestätischer Unbeweglichkeit wie die Löwen standen die Traber mit breiten Kruppen, gewellten Schweifen und zottigen Füßen: Apfelschimmel, Rappen und Braune. Die Kenner blieben vor ihnen respektvoll stehen. In den von den Wagen gebildeten Straßen drängten sich Leute jeden Standes, Alters und Aussehens: Roßhändler in blauen Kaftans und hohen Mützen schauten pfiffig nach den Käufern aus; glotzäugige, kraushaarige Zigeuner rannten wie besessen hin und her, besahen die Zähne der Pferde, hoben ihnen Schweife und Beine, schrien, fluchten, dienten als Vermittler, warfen das Los und scharwenzelten vor irgendeinem Remonteur in Mütze und Militärmantel mit Biberkragen. Ein kräftiger Kosake saß auf einem mageren Wallach, der einen Hals wie ein Hirsch hatte, und verkaufte ihn ›mit allem‹, das heißt mit Sattel und Zaum. Bauern in unter den Achseln zerrissenen Schafspelzen bahnten sich stürmisch einen Weg durch die Menge, setzten sich zu Dutzenden in einen Wagen, um das vorgespannte Pferd zu ›probieren‹, oder feilschten irgendwo abseits mit Hilfe eines flinken Zigeuners, feilschten bis zur Erschöpfung, gaben sich hundertmal hintereinander den Handschlag, wobei ein jeder aber auf seinem Preise bestand, während das Objekt ihres Streites, eine elende, mit einer schadhaften Bastmatte bedeckte Mähre nur mit den Augen zwinkerte, als ob die Rede gar nicht von ihr wäre … Und in der Tat, es ist ihr doch ganz gleich, wer sie schlagen wird! Gutsbesitzer mit breiten Stirnen und gefärbten Schnurrbärten, mit dem Ausdruck großer Würde in den Mienen, in polnischen Mützen und Kamelottröcken nur auf einem Arm angezogen, sprachen herablassend mit dicken Kaufleuten in Filzhüten und grünen Handschuhen. Offiziere von verschiedenen Regimentern trieben sich überall herum; ein ungewöhnlich langer Kürassier deutscher Abstammung fragte kaltblütig einen langen Roßhändler, wieviel er für dieses rote Pferd zu verlangen beabsichtige. Ein blonder Husar von etwa neunzehn Jahren suchte ein passendes Seitenpferd zu einem hageren Paßgänger; ein Fuhrmann in einem niederen, mit einer Pfauenfeder umwundenen Hut, in einem braunen Mantel und ledernen Fausthandschuhen, die hinter einem schmalen grünen Gürtel steckten, suchte ein Gabelpferd. Die Kutscher flochten den Pferden die Schweife zu Zöpfen, befeuchteten ihre Mähnen und gaben den Herren respektvolle Ratschläge. Solche, die handelseinig geworden waren, eilten, je nach ihrem Stande, ins Wirtshaus oder in die Schenke … Und das alles schrie, wogte, zappelte, zankte und versöhnte sich wieder, fluchte und lachte, bis an die Knie im Schmutz. Ich wollte drei anständige Pferde für meinen Reisewagen kaufen: Die meinigen fingen zu versagen an. Ich hatte schon zwei gefunden, das dritte fehlte noch. Nach dem Mittagessen, das ich lieber nicht beschreibe (schon Äneas wußte, wie unangenehm es ist, an vergangenes Unglück zu denken), begab ich mich in das sogenannte Kaffeehaus, in dem sich jeden Abend die Remonteure, die Pferdezüchter und die übrigen Jahrmarktsbesucher versammelten. Im Billardzimmer, das von bleiernen Rauchwolken erfüllt war, befanden sich an die zwanzig Personen. Es waren hier junge Gutsbesitzer in ungarischen Joppen und grauen Hosen, mit langen Koteletten und gewichsten Schnurrbärtchen; sie benahmen sich recht ungezwungen und blickten frei und keck um sich. Andere Edelleute in Casaquins mit ungewöhnlich kurzen Hälsen und verschwommenen, kleinen Augen saßen auch dabei und ächzten kurzatmig; die jungen Kaufleute saßen abseits, wie man so sagt, ›auf der Lauer‹; die Offiziere unterhielten sich ungezwungen miteinander. Auf dem Billard spielte der Fürst N., ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren mit einer lustigen und etwas verächtlichen Miene; er trug einen vorn offenstehenden Rock, ein rotseidenes Hemd und eine weite, samtene Pluderhose; er spielte mit dem Leutnant a. D. Viktor Chlopakow.

Der Leutnant a. D. Viktor Chlopakow, ein kleiner, magerer Mensch von etwa dreißig Jahren mit dunklem Gesicht, schwarzem Haar, braunen Augen und einer stumpfen, aufgeworfenen Nase, besucht fleißig alle Jahrmärkte und Wahlversammlungen. Er hüpft im Gehen, bewegt energisch seine runden Hände, hat die Mütze schief auf dem Ohre sitzen und pflegt die Ärmel seines mit graublauem Kaliko gefütterten Waffenrockes zurückzustreifen. Herr Chlopakow hat die Fähigkeit, sich an die reichen Petersburger Lebejünglinge heranzumachen; er raucht, trinkt und spielt mit ihnen Karten und duzt sie. Warum sie ihm ihre Gunst beweisen, ist recht schwer zu begreifen. Er ist nicht klug, er ist nicht einmal komisch, er taugt auch nicht zum Spaßmacher. Allerdings behandelt man ihn mit einer freundschaftlichen Nonchalance wie einen guten, aber unbedeutenden Kerl; man gibt sich mit ihm zwei oder drei Wochen ab und grüßt ihn dann nicht mehr; auch er selbst hört zu grüßen auf. Die Eigentümlichkeit des Leutnants Chlopakow besteht darin, daß er oft ein und sogar zwei Jahre hintereinander, fortwährend, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, die gleiche Redensart gebraucht, eine Redensart, die zwar in keiner Weise komisch ist, aber doch, Gott weiß warum, alle zum Lachen bringt. Vor acht Jahren sagte er auf Schritt und Tritt: »Meine Hochachtung, ich danke ergebenst«, und seine damaligen Gönner wälzten sich jedesmal vor Lachen und zwangen ihn, sein ›Meine Hochachtung‹ immer wieder herzusagen, später gebrauchte er die recht komplizierte Redensart: »Nein, das haben Sie schon, kesskesseh, das kommt dabei heraus« mit dem gleichen glänzenden Erfolg; etwa zwei Jahre später dachte er sich eine andere Formel aus: »Ne vous aufregé pas, Sie Mann Gottes« und so weiter. Und was glauben Sie? Alle diese gar nicht witzigen Redensarten versorgen ihn, wie man sieht, mit Speise, Trank und Kleidung. (Sein Gut hat er schon längst durchgebracht und lebt ausschließlich auf Kosten seiner Freunde.) Es ist zu bemerken, daß er sonst keine anderen liebenswürdigen Eigenschäften besitzt, allerdings raucht er an die hundert Pfeifen Schukowschen Tabaks den Tag, hebt beim Billardspiel den rechten Fuß hoch über den Kopf und fiedelt, wenn er nach einem Ball zielt, mit dem Queue lange und schnell auf der Hand – aber nicht jedermann ist Freund solcher Vorzüge. Er trinkt auch tüchtig, aber in Rußland ist es schwer, sich dadurch auszuzeichnen … Mit einem Wort, sein Erfolg ist für mich ein vollkommenes Rätsel … Er hat höchstens den einen wirklichen Vorzug: Er ist vorsichtig, schwatzt nicht aus der Schule und spricht über niemanden ein böses Wort.

Nun, dachte ich mir, als ich Chlopakow erblickte, was mag wohl jetzt seine Redensart sein?

Der Fürst machte den Weißen.

»Dreißig und nichts!« brüllte der schwindsüchtige Markör mit dunklem Gesicht und bleigrauen Ringen um die Augen.

Der Fürst warf den gelben Ball mit einem Krach ins Eckloch.

»Ach!« krächzte beifällig mit seinem ganzen Leib ein dicker Kaufmann, der in einem Winkel hinter einem wankenden, einbeinigen Tischchen saß; er krächzte es und bekam gleich darauf Angst. Zum Glück hatte es niemand bemerkt. Er holte Atem und strich sich den Bart.

»Sechsunddreißig und sehr wenig!« schrie der Markör durch die Nase.

»Nun, was sagst du dazu, Bruder?« fragte der Fürst Chlopakow.

»Man kennt es ja: Rrrrakalion, tatsächlich Rrrrakalion!«

Der Fürst pustete vor Lachen.

»Wie? Wie? Wiederhole es!«

»Rrrrakalion!« wiederholte selbstzufrieden der Leutnant a. D.

Das ist also das Wort! dachte ich mir.

Der Fürst warf den Roten ins Loch.

»Ach, Fürst, nicht so, nicht so!« stammelte plötzlich ein kleiner blonder Offizier mit geröteten Augen, winzigem Näschen und kindlich verschlafenem Gesicht. »Sie spielen nicht richtig … Sie hätten … nein, nicht so!«

»Wie denn?« fragte ihn der Fürst über die Schulter weg.

»Sie hätten … ich meine … ein Triplé« spielen sollen.«

»Wirklich?« murmelte der Fürst zwischen den Zähnen.

»Wie ist es, Fürst, gehen wir heute abend zu den Zigeunern?« beeilte sich der verwirrte junge Mann hinzuzufügen. »Die Stjoschka wird singen … Iljuschka …«

Der Fürst gab ihm keine Antwort.

»Rrrrakalion, Bruder!« versetzte Chlopakow, pfiffig mit dem linken Auge blinzelnd.

Der Fürst fing zu lachen an.

»Neununddreißig und nichts!« verkündete der Markör.

»Nichts … paß mal auf, wie ich diesen Gelben …«

Chlopakow fiedelte mit dem Queue auf der Hand, zielte und gab einen Kicks.

»Ach, Rrrrakalion!« schrie er verdrießlich.

Der Fürst lachte wieder.

»Wie, wie, wie?«

Chlopakow wollte aber sein Wort nicht mehr wiederholen, er mußte doch auch ein wenig kokettieren.

»Sie haben einen Kicks zu machen geruht«, bemerkte der Markör. »Gestatten Sie, Ihr Queue mit Kreide einzureihen … Vierzig und sehr wenig!«

»Ja, meine Herren«, begann der Fürst, sich an die ganze Versammlung wendend, ohne jemand insbesondere anzusehen, »Sie wissen, heut' im Theater soll die Werschembizkaja gerufen werden.«

»Gewiß, gewiß, unbedingt«, riefen einige Herren zugleich, denen die Möglichkeit, auf die Rede des Fürsten zu antworten, außerordentlich schmeichelte. »Ja, die Werschembizkaja …«

»Die Werschembizkaja ist eine treffliche Schauspielerin, viel besser als die Sopnjakowa«, piepste in der Ecke ein unansehnliches Männchen mit kleinem Schnurrbart und Brille. Der Unglückliche seufzte im stillen für die Sopnjakowa, aber der Fürst würdigte ihn keines Blickes.

»Markör, eine Pfeife!« rief ein Herr von großem Wuchs, mit regelmäßigen Zügen und vornehmer Haltung, allem Anschein nach ein Falschspieler, in seine Halsbinde hinein.

Der Markör lief nach der Pfeife, und als er zurückkam, meldete er Seiner Durchlaucht, daß der Postkutscher Baklaga nach ihm frage.

»Aha! Sag ihm, er soll warten, und gib ihm ein Glas Schnaps.«

»Zu Befehl!«

Baklaga hieß, wie man mir später erzählte, ein junger, hübscher und außerordentlich verwöhnter Postkutscher; der Fürst hatte ihn gern, schenkte ihm zuweilen Pferde, fuhr mit ihm um die Wette und verbrachte mit ihm ganze Nächte … Diesen selben Fürsten, den einstigen Wildfang und Verschwender, würde jetzt niemand wiedererkennen … Wie parfümiert, geschnürt und stolz ist er jetzt! Wie eifrig mit seinem Dienst beschäftigt und vor allen Dingen wie vernünftig!

Der Tabaksqualm fing jedoch an, mir die Augen zu beißen. Nachdem ich zum letztenmal den Ausruf Chlopakows und die Antwort des Fürsten gehört hatte, zog ich mich auf mein Zimmer zurück, wo mir mein Diener auf dem engen, eingedrückten, mit Roßhaaren gepolsterten Sofa mit der hohen, gekrümmten Lehne das Bett gemacht hatte.

Am anderen Tag ging ich in die Höfe, um mir die Pferde anzusehen, und begann beim bekannten Roßhändler Sitnikow. Durch ein Pförtchen gelangte ich in den mit Sand bestreuten Hof. Vor der weitgeöffneten Tür des Pferdestalles stand der Besitzer selbst, ein nicht mehr junger, großer und dicker Mann in einem Halbpelz aus Hasenfell mit aufgestelltem, hohem Kragen. Als er mich sah, kam er mir langsam entgegen, hielt seine Mütze mit beiden Händen eine Weile über dem Kopf und sprach mit singender Stimme: »Meine Hochachtung! Sie wollen sich wohl bei uns die Pferdchen ansehen?«

»Ja, ich komme, um mir die Pferdchen anzusehen.«

»Was für Pferdchen, wenn ich fragen darf?«

»Zeigen Sie, was Sie haben.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

Wir traten in den Pferdestall. Mehrere weiße Schäferhunde erhoben sich vom Heu und liefen uns schweifwedelnd entgegen; ein langbärtiger alter Ziegenbock ging unzufrieden auf die Seite; drei Stallknechte in ordentlichen, aber schmierigen Schafspelzen verbeugten sich vor uns schweigend. Rechts und links standen in künstlich erhöhten Ständen an die dreißig gestriegelte und geputzte Pferde. Oben im Balkenwerk flatterten und girrten Tauben.

»Das heißt, wozu brauchen Sie eigentlich das Pferdchen: zum Fahren oder für die Zucht?« fragte mich Sitnikow.

»Zum Fahren and für die Zucht.«

»Ich verstehe, ich verstehe, ich verstehe«, sagte der Roßhändler gedehnt. »Petja, zeig mal dem Herrn den Hermelin.«

Wir traten in den Hof.

»Befehlen Sie nicht ein Bänkchen aus der Stube zu holen … Nein …? Wie Sie wünschen.«

Die Hufe erschallten auf den Brettern, die Peitsche knallte, und Petja, ein etwa vierzigjähriger Kerl, pockennarbig und gebräunt, sprang aus dem Stall zugleich mit einem grauen, ziemlich stattlichen Hengst. Er ließ ihn sich bäumen, lief mit ihm zweimal um den Hof herum und brachte ihn geschickt auf dem rechten Platz zum Stehen. Hermelin streckte sich, schnaubte pfeifend, warf den Schweif zurück, bewegte die Schnauze und schielte uns an.

Ein gelernter Vogel, dachte ich mir.

»Laß ihn locker, laß ihn locker!« versetzte Sitnikow und richtete seinen Blick auf mich.

»Das Pferd ist nicht schlecht, aber die Vorderfüße sind nicht ganz zuverlässig.«

»Nun, was halten Sie von ihm?« fragte er mich schließlich.

»Die Füße sind ausgezeichnet!« entgegnete Sitnikow mit Überzeugung. »Und die Kruppe … wollen Sie sich nur die Kruppe ansehen … ein wahrer Ofen, ausschlafen kann man sich auf ihr.«

»Die Fesseln sind zu lang.«

»Ach was, lang – erlauben Sie einmal! Lauf noch eine Runde, Petja, aber im Trab, im Trab, im Trab, laß ihn nicht Galopp laufen.«

Petja lief mit dem Hermelin wieder um den Hof. Wir alle schwiegen eine Weile.

»Nun, stell ihn auf seinen Platz«, sagte Sitnikow, »und bring uns den Falken.«

Der Falke, ein Hengst so schwarz wie ein Käfer, von holländischer Rasse mit abschüssigem Hinterteil und engbauchig, erwies sich ein wenig besser als der Hermelin. Er gehörte zu den Pferden, von denen die Liebhaber sagen, daß sie fuchteln und säbeln und Gefangene machen, das heißt, sie werfen im Lauf die Vorderfüße nach rechts und nach links und kommen dabei doch nur wenig vorwärts. Die Kaufleute in mittleren Jahren haben solche Pferde gerne: Ihr Lauf erinnert an den schwungvollen Gang eines flinken Kellners; sie sind recht hübsch als Einspänner zum Spazierenfahren nach dem Mittagessen; stolz mit gekrümmtem Hals einherschreitend, ziehen sie mit Eifer die plumpe Droschke; die mit einem bis zur Erstarrung vollgefressenen Kutscher, dem an Sodbrennen leidenden, gedrückten Kaufmann und seiner schwammigen Frau in blauem Seidenmantel mit einem lila Kopftuch beladen ist. Ich verzichtete auf den Falken. Sitnikow zeigte mir noch einige andere Pferde … Schließlich gefiel mir ein Apfelschimmelhengst von der Wojejkowschen Zucht. Ich konnte mich nicht beherrschen und streichelte ihm den Schopf. Sitnikow stellte sich sofort gleichgültig.

»Und fährt er gut?« fragte ich. (Von einem Traber sagt man nicht, er läuft.) »Er fährt«, antwortete der Roßhändler ruhig.

»Kann ich es vielleicht sehen …?«

»Warum denn nicht, gewiß. He, Kusja, spann den Holmichein an die Droschke.«

Der Zureiter Kusja, ein Meister in seinem Fach, fuhr an die dreimal auf der Straße an uns vorbei. Gut läuft das Pferd, kommt nicht aus dem Tempo, wirft die Kruppe nicht empor, trägt die Beine frei und hält den Schweif vom Hinterteil getrennt und elegant.

»Was verlangen Sie für ihn?«

Sitnikow forderte einen unerhörten Preis. Wir fingen an, gleich auf der Straße zu handeln, als plötzlich hinter der Ecke, dröhnend, eine prachtvoll in der Farbe abgestimmte Troika hervorflog und mit Eleganz vor dem Tore Sitnikows stehenblieb. In dem eleganten Liebhaberwagen saß der Fürst N., neben ihm hockte Chlopakow. Baklaga lenkte die Pferde … und wie er sie lenkte! Durch einen Ohrring wäre er durchgefahren, der Spitzbube! Die kleinen, lebhaften braunen Seitenpferde mit schwarzen Augen und schwarzen Füßen brennen nur so und zittern; wenn man nur pfeift, sind sie schon verschwunden! Das dunkelbraune Mittelpferd steht da mit aufgeworfenem Hals wie ein Schwan, die Brust heraus, die Füße wie die Pfeile, es wirft den Kopf und blinzelt stolz mit den Augen … Wunderschön! Niemand brauchte sich zu schämen, am Ostersonntag mit diesen Pferden auszufahren!

»Eure Durchlaucht! Seien Sie willkommen!« rief Sitnikow.

Der Fürst sprang aus dem Wagen. Chlopakow stieg langsam an der anderen Seite aus.

»Guten Tag, Bruder … Hast du Pferde?«

»Wie sollte ich für Eure Durchlaucht keine haben! Bitte treten Sie näher … Petja, bring mal den Pfau! Und laß den Lobenswerten bereitmachen. Mit Ihnen, Väterchen«, fuhr er fort, sich zu mir wendend, »werden wir uns ein anderes Mal einigen … Fomka, eine Bank für Seine Durchlaucht!«

Aus einem besonderen Stall, den ich früher nicht bemerkt hatte, führte man den Pfau heraus. Das mächtige dunkelbraune Roß schwang sich mit allen vieren in die Luft. Sitnikow wandte sogar den Kopf weg und kniff die Augen zusammen.

»Hu – Rrrrakalion!« rief Chlopakow … »Schemsa!« (J'aime ça!) Der Fürst lachte.

Man brachte den Pfau nicht ohne Mühe zum Stehen; er schleifte den Stallknecht ordentlich durch den Hof; endlich drückte man ihn an die Wand. Er schnarchte, zitterte und wand sich, Sitnikow aber neckte ihn noch, indem er über ihn die Peitsche schwang.

»Wo schaust du hin? Ich will dich! Hu!« sprach der Roßhändler freundlich drohend und bewunderte selbst unwillkürlich sein Pferd.

»Wieviel?« fragte der Fürst.

»Für Eure Durchlaucht fünftausend.«

»Drei.«

»Es geht nicht, Eure Durchlaucht, ich bitte Sie …«

»Man sagt dir: drei, Rrrrakalion!« fiel ihm Chlopakow ins Wort.

Ich wartete den Abschluß des Geschäfts nicht ab und ging. An der äußersten Straßenecke sah ich am Tor eines grauen Häuschens einen großen Papierbogen angeklebt. Oben war mit der Feder ein Pferd mit einem trompetenförmigen Schweif und einem unendlich langen Hals gezeichnet, unter den Hufen des Pferdes standen aber folgende, mit altmodischer Schrift geschrieben Zeilen:

Hier werden Pferde von verschiedenen Farben verkauft, die vom bekannten Steppengestüt des Tambower Gutsbesitzers Anastassej Iwanytsch Tschernobai auf den Lebedjanjschen Jahrmarkt gebracht worden sind. Diese Pferde sind von trefflichen Eigenschaften; sie sind vorzüglich zugefahren und fromm. Die Herren Käufer wollen nach Anastassej Iwanytsch selbst fragen; falls aber Anastassej Iwanytsch abwesend sein sollte, so frage man nach dem Kutscher Nasar Kubyschkin. Meine Herren Käufer, beehren Sie mich alten Mann mit Ihrem Besuch!

Ich blieb stehen und sagte mir: Ich will mir mal die Pferde des bekannten Züchters Herrn Tschernobai ansehen.

Ich wollte durch das Pförtchen eintreten, fand es aber gegen alle Gewohnheit verschlossen. Ich klopfte.

»Wer ist da? Ein Kunde?« piepste eine Frauenstimme.

»Ja, ein Kunde.«

»Sofort, Väterchen, sofort.«

Das Pförtchen ging auf. Ich erblickte ein Weib von etwa fünfzig Jahren mit bloßem Kopf, in Stiefeln und aufgeknöpftem Schafspelz.

»Treten Sie näher, Väterchen, ich will es gleich dem Anastassej Iwanytsch melden … Nasar, du, Nasar!«

»Was denn?« rief aus dem Stall die Stimme eines siebzigjährigen Greises.

»Mach die Pferdchen bereit, ein Kunde ist gekommen.«

Die Alte lief ins Haus.

»Ein Kunde, ein Kunde«, brummte Nasar zur Antwort. »Ich hab' noch nicht alle unter dem Schweif gewaschen.«

Oh, Arkadien! dachte ich.

»Grüß Gott, Väterchen, willkommen!« ertönte hinter meinem Rücken langsam eine klangvolle, angenehme Stimme. Ich sah mich um: Vor mir stand in einem blauen, langschößigen Mantel ein alter Mann von mittlerem Wuchs mit weißen Haaren, einem freundlichen Lächeln und wunderschönen blauen Augen.

»Du willst Pferdchen? Gerne, Väterchen, gerne … Aber willst du nicht vorher zu mir ins Haus und ein Gläschen Tee trinken?«

Ich lehnte ab und bedankte mich.

»Nun, wie du willst. Du mußt mich entschuldigen, Väterchen: Ich halte mich noch an die alten Sitten.« Herr Tschernobai sprach ohne Übereilung und betonte scharf jedes O. »Bei mir ist alles einfach, weißt du … Nasar, du, Nasar!« fügte er gedehnt, ohne die Stimme zu heben, hinzu.

Nasar, ein runzliger Greis mit einer Habichtnase und einem keilförmigen Bärtchen erschien auf der Schwelle des Stalles.

»Was für Pferde brauchst du, Väterchen?« fuhr Herr Tschernobai fort.

»Nicht zu teure, eingefahrene, zu einer Kibitka.«

»Bitte sehr … ich habe auch solche, bitte … Nasar, Nasar, zeig mal dem Herrn den grauen Wallach, weißt du, der am äußersten Ende steht, und den Braunen mit der Blesse oder auch den anderen Braunen, den von der Schönen, weißt du?«

Nasar ging wieder in den Stall.

»Führe sie so an den Halftern her«, rief ihm Herr Tschernobai nach. »Bei mir, Väterchen«, fuhr er fort, mir heiter und sanft ins Gesicht blickend, »bei mir ist es nicht so wie bei den Roßhändlern, mögen sie verrecken! Die geben den Pferden allerlei Kräuter ein, Salz und Schlempe, Gott sei ihr Richter … ! Bei mir ist aber alles wie auf der flachen Hand, ganz ohne Kniffe.«

Man führte die Pferde heraus. Sie gefielen mir nicht.

»Nun, stell sie in Gottes Namen wieder auf ihren Platz«, versetzte Anastassej Iwanytsch. »Zeig uns andere.«

Man zeigte uns andere. Schließlich wählte ich eins von den billigeren. Wir begannen zu handeln. Herr Tschernobai ereiferte sich nicht und sprach so vernünftig, mit solcher Würde, daß ich nicht umhin konnte, dem alten Mann ›die gebührende Ehre‹ zu erweisen und ihm ein Handgeld zu geben.

»Nun, und jetzt«, sagte Anastassej Iwanytsch, »erlaube mir, daß ich dir das Pferdchen nach alter Sitte aus dem Schoß in den Schoß übergebe … Du wirst mir dafür dankbar sein … Was für ein frisches Pferdchen! Unberührt wie ein Nußkern in der Schale … ein echtes Steppenpferd! Es taugt für jedes Gespann.«

Er bekreuzigte sich, legte sich den Schoß seines Mantels auf die Hand, ergriff darunter die Halfter und übergab mir so das Pferd.

»Besitze es in Gottes Namen … Willst du noch immer keinen Tee?«

»Nein, ich danke ergebenst, ich muß nach Hause.«

»Wie du willst. Soll mein Kutscher das Pferd dir jetzt gleich nachführen?«

»Ja, wenn Sie erlauben, jetzt gleich.«

»Gerne, Liebster, gerne … Wassilij, he, Wassilij, geh mit dem Herrn mit; führ das Pferdchen hin und nimm das Geld in Empfang. Nun, leb wohl, Väterchen, mit Gott.«

»Leben Sie wohl, Anastassej Iwanytsch.«

Man brachte mir das Pferd ins Haus. Schon am nächsten Tage erwies es sich als dämpfig und lahm. Ich versuchte es einzuspannen, das Pferd bäumte sich zurück, und wenn man es mit der Peitsche schlug, so wurde es stätig, schlug aus und legte sich nieder. Ich begab mich sofort zu Herrn Tschernobai.

»Ist er zu Hause?«

»Ja, zu Hause.«

»Was ist denn das«, sagte ich ihm, »Sie haben mir ein dämpfiges Pferd verkauft.«

»Ein dämpfiges? Gott behüte!«

»Außerdem ist es lahm und auch noch stätig.«

»Lahm? Ich weiß nicht, dein Kutscher wird es wohl irgendwie verdorben haben … was mich betrifft, so kann ich bei Gott schwören …«

»Eigentlich müßten Sie es zurücknehmen, Anastassej Iwanytsch.«

»Nein, Väterchen, nimm es nicht übel: wenn's einmal aus dem Hof fort ist, so ist nichts zu machen. Du hättest es früher sehen sollen.«

Ich begriff den Sachverhalt, ergab mich in mein Schicksal, lachte und ging. Zum Glück hatte ich für diese Lektion nicht allzu teuer bezahlt.

Zwei Tage darauf fuhr ich ab und kam nach einer Woche auf dem Rückweg wieder nach Lebedjanj. Im Kaffeehaus fand ich fast die gleichen Personen und traf den Fürsten N. wieder beim Billard. Aber im Schicksal des Herrn Chlopakow war schon die gewöhnliche Wendung eingetreten. Der blonde Offizier hatte ihn in der Gunst des Fürsten abgelöst. Der arme Leutnant a. D. versuchte noch, einmal in meiner Gegenwart sein Wörtchen anzubringen – vielleicht wird es den früheren Erfolg haben – , aber der Fürst lächelte nicht nur nicht, sondern runzelte die Stirn und zuckte die Achseln. Herr Chlopakow senkte den Kopf, schrumpfte zusammen, zog sich in einen Winkel zurück und begann sich stillschweigend ein Pfeifchen zu stopfen.


Ende des ersten Bandes



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