Zweiter Band

Tatjana Borissowna und ihr Neffe


Reichen Sie mir die Hand, lieber Leser, und fahren Sie mit mir mit. Das Wetter ist herrlich; milde strahlt der blaue Maihimmel; die jungen, glatten Blätter der Silberweiden glitzern, als ob sie frisch gewaschen wären; der breite, ebene Weg ist gänzlich von jenem kurzen, rotgestielten Gras bedeckt, an dem so gerne die Schafe rupfen; rechts und links an den sanften Abhängen der Hügel wogt leise der grüne Roggen; als flüssige Flecken gleiten die Schatten kleiner Wolken über ihn hinweg. In der Ferne dunkeln Wälder, funkeln Teiche, leuchten gelb die Dörfer; die Lerchen steigen zu Hunderten, trillern, fallen plötzlich nieder und sitzen gestreckten Halses auf den Erdschollen; die Saatkrähen bleiben auf dem Weg stehen, sehen Sie an, ducken sich zu Boden, lassen Sie vorbeifahren und flattern nach zwei, drei Sprüngen schwerfällig zur Seite; auf der Anhöhe hinter der Schlucht pflügt ein Bauer; ein falbes Füllen mit kurzem Schwanz und Zottelmähne folgt auf unsicheren Füßen der Mutter und läßt sein dünnes Gewieher erschallen. Wir kommen in ein Birkengehölz; der kräftige, frische Duft benimmt uns angenehm den Atem. Da ist schon die Dorfgrenze. Der Kutscher steigt ab, die Pferde schnauben, die Seitenpferde sehen sich um, das Mittelpferd bewegt den Schweif und drückt den Kopf an das Krummholz; knarrend öffnet sich das Tor. Der Kutscher steigt wieder auf den Bock … Fahr zu! Vor uns liegt das Dorf. Nachdem wir an fünf Höfen vorbeigefahren sind, biegen wir nach rechts ein, fahren einen Abhang hinunter und kommen auf einen Damm. Hinter einem kleinen Teich, über den runden Wipfeln der Apfelbäume und Fliederbüsche sehen wir ein Schindeldach, das ehedem rot war und zwei Schornsteine hat; der Kutscher fährt links am Zaun entlang, vom winselnden, heiseren Bellen dreier alter Schäferhunde begleitet, fährt durch das weite offene Tor ein, macht eine kühne Runde um den weiten Hof, am Pferdestall und am Schuppen vorbei, grüßt forsch die alte Haushälterin, die seitwärts über die hohe Schwelle der Vorratskammer tritt, und hält endlich vor der Treppe eines dunklen, kleinen Häuschens mit hellen Fenstern … Wir sind bei Tatjana Borissowna. Da öffnet: sie selbst das. Fensterchen und nickt . uns zu … Gott grüße Sie, Mütterchen!

Tatjana Borissowna ist eine Frau von etwa fünfzig Jahren, sie hat große, graue, etwas hervorstehende Augen, eine stumpfe Nase, rote Wangen und ein Doppelkinn. Ihr Gesicht atmet Freundlichkeit und Güte. Sie war einmal verheiratet gewesen, wurde aber nach kurzer Zeit Witwe. Tatjana Borissowna ist eine recht merkwürdige Frau. Sie lebt ständig auf ihrem kleinen Gut, verkehrt wenig mit den Nachbarn, empfängt und liebt nur junge Leute. Sie stammt aus einer armen Gutsbesitzersfamilie und hat gar keine Erziehung genossen, d. h., sie spricht nicht Französisch; sie ist sogar nie in Moskau gewesen – aber trotz dieser Mängel benimmt sie sich so einfach und gut, fühlt und denkt so frei, ist von den gewöhnlichen Erbfehlern der kleinstädtischen Damen so wenig angesteckt, daß man sich wahrhaftig der Bewunderung nicht erwehren kann … Und in der Tat: Die Frau lebt das ganze Jahr auf dem Lande, in der Einsamkeit, und klatscht nicht, kreischt nicht, knickst nicht, regt sich nicht auf, fiebert nicht vor Neugierde … ein wahres Wunder! Sie trägt gewöhnlich ein graues Taftkleid und eine weiße Haube mit herabhängenden lila Bändern; sie liebt es, gut zu essen, jedoch nicht im ; Übermaß; das Einmachen, das Dörren und das Einsalzen überläßt sie der Wirtschafterin. Womit ist sie denn den ganzen lieben Tag beschäftigt? werdet Ihr fragen … Liest sie? – Nein, sie liest nicht; die Wahrheit zu sagen, die Bücher werden nicht für sie gedruckt… Wenn sie gerade keinen Gast hat, sitzt meine Tatjana Borissowna am Fenster und strickt einen Strumpf – so im Winter; im Sommer geht sie in den Garten, setzt und begießt Blumen, spielt stundenlang mit jungen Katzen und füttert Tauben … Mit der Wirtschaft gibt sie sich wenig ab. Aber wenn ein Gast sich einstellt, irgendein junger Nachbar, dem sie gewogen ist – da lebt Tatjana Borissowna auf; sie nötigt ihn, sich zu setzen, bewirtet ihn mit Tee, hört seinen Erzählungen zu, lacht, tätschelt ihm zuweilen leicht die Wange, spricht aber selbst wenig; doch im Unglück versteht sie zu trösten und einen guten Rat zu geben. Wie viele haben ihr ihre häuslichen und intimsten Geheimnisse anvertraut und in ihren Armen geweint! Meistens sitzt sie dem Gast gegenüber, lehnt sich leicht auf einen Ellenbogen und blickt ihm mit solcher Teilnahme in die Augen und lächelt so freundschaftlich, daß dem Gast unwillkürlich der Gedanke kommt: Was bist du doch für eine herrliche Frau, Tatjana Borissowna! Ich will dir nun alles erzählen, was ich auf dem Herzen habe. – In ihren kleinen gemütlichen Zimmern ist es so schön und warm; in ihrem Hause ist, wenn man so sagen darf, immer schönes Wetter. Eine merkwürdige Frau ist Tatjana Borissowna, und doch wundert sich niemand über sie; ihr gesunder Menschenverstand, ihre Sicherheit, ihr freier Geist, ihre warme Teilnahme an den fremden Freuden und Leiden, mit einem Wort, alle ihre Vorzüge sind ihr gleichsam angeboren und scheinen ihr keinerlei Mühe gekostet zu haben … Man kann sie sich gar nicht anders vorstellen; folglich braucht man ihr auch nicht zu danken. Sie liebt es besonders, dem Spielen und Toben der Jugend zuzusehen; sie kreuzt dann die Arme über der Brust, wirft den Kopf zurück, kneift die Augen zusammen, sitzt und lächelt, und plötzlich seufzt sie auf und sagt: »Ach, ihr meine lieben Kinderchen …!« Dann spürt man den Wunsch, an sie heranzutreten, sie bei der Hand zu fassen und ihr zu sagen: »Hören Sie einmal, Tatjana Borissowna, Sie kennen Ihren eigenen Wert nicht, bei Ihrer Einfachheit und Unbildung sind Sie ein ungewöhnliches Geschöpf!« Schon ihr Name allein hat einen heimlichen, angenehmen Klang; er wird gern in den Mund genommen und ruft ein freundschaftliches Lächeln hervor. Wie oft geschah es, daß ich auf die Frage: »Sag mal, Bruder, wie komme ich am besten nach Gratschowka?«, von einem Bauern die Antwort erhielt: »Sie fahren, Väterchen, am besten nach Wjasowoje und von dort zu Tatjana Borissowna; zu Tatjana Borissowna wird Ihnen aber jedermann den Weg zeigen.« Und bei dem Namen Tatjana Borissowna schüttelt er ganz eigentümlich den Kopf. Sie hält wenig Dienstboten, ihrem Stande gemäß. Haus, Waschküche, Vorratskammer und Küche unterstehen der Wirtschafterin Agafja, ihrer einstigen Kinderfrau, einem gutmütigen, weinerlichen und zahnlosen Geschöpf; zwei kräftige Mägde mit festen blauroten Backen, die an Antonsäpfel gemahnen, stehen unter ihrer Leitung. Das Amt des Kammerdieners, Haushofmeisters und Büfettbeschließers versieht der siebzigjährige Diener Polikarp, ein ungewöhnlicher Kauz, ein belesener Mensch, ehemaliger Geiger und Verehrer Viottis, ein persönlicher Feind Napoleons oder Bonapartleins, wie er ihn nennt, und ein leidenschaftlicher Liebhaber von Nachtigallen. Er hält ihrer immer fünf, sechs Stück in seinem Zimmer; im Frühjahr sitzt er tagelang an den Vogelbauern und wartet auf ihr erstes Schlagen; wenn er es endlich hört, bedeckt er das Gesicht mit den Händen, stöhnt: »Ach, so traurig, so traurig!« und weint bitterlich. Polikarp hat zum Gehilfen seinen eigenen Enkel, Waßja, einen zwölfjährigen, lockigen Jungen mit lebhaften Augen; Polikarp liebt ihn unsinnig und brummt auf ihn vom Morgen bis zum Abend. Er befaßt sich auch mit seiner Erziehung. »Waßja«, sagt er ihm, »sag einmal: ›Bonapartlein ist ein Räuber‹.«

»Was gibst du mir dafür, Großvater?«

»Was ich dir gebe … ? Nichts gebe ich dir … Was bist du denn? Bist du ein Russe?«

»Ich bin ein Amtschane, Großvater, ich bin in Amtschensk geboren.«

»Ach, Dummkopf! Wo liegt denn Amtschensk?«

»Woher soll ich das wissen?«

»In Rußland liegt Amtschensk, du Dummer.«

»Was ist denn dabei, daß es in Rußland liegt?«

»Wie? Seine Durchlaucht der selige Fürst Michailo Illarionowitsch Golenischtschew-Kutusow-Smolenskij hat das Bonapartlein mit Gottes Hilfe aus den russischen Grenzen zu verjagen geruht. Aus diesem Anlaß wurde auch das Lied verfaßt: ›Bonapart denkt nicht ans Tanzen, hat verloren Schuh und Ranzen …‹ Verstehst du, er hat dein Vaterland befreit.«

»Was geht das mich an?«

»Ach, du dummer Junge, dummer Junge! Wenn der durchlauchtigste Fürst Michailo Illarionowitsch das Bonapartlein nicht vertrieben hätte, so würde dich jetzt irgendein Mosjö mit dem Stock auf den Kopf schlagen. Er ginge auf dich zu und sagte dir: ›Kommang wu porteh wu?‹ und klopfte dich mit dem Stock auf den Schädel.«

»Ich würde ihm die Faust in den Bauch stoßen.«

»Er würde dir aber sagen: ›Bongschur, bongschur, weneh issi‹ und dich am Schopfe packen.«

»Ich würde ihn aber auf seine Beine, seine Zwiebelbeine schlagen.«

»Das stimmt, sie haben alle Zwiebelbeine … Wenn er dir aber die Hände bindet?«

»Das ließe ich mir nicht gefallen, ich würde den Kutscher Michej zu Hilfe rufen.«

»Was glaubst du, Waßja, der Franzose kann doch mit dem Michej nicht fertig werden?«

»Wie sollte er es! Michej ist doch so stark!«

»Nun, was würdet ihr mit ihm tun?«

»Wir würden ihn auf den Rücken hauen, immer auf den Rücken.«

»Er würde aber ›Pardon‹ schreien. ›Pardon, Pardon, sewuplä!««

»Wir würden darauf sagen: »Nein, für dich gibt's kein sewuplä, du Franzos … !‹«

»Brav, Waßja … ! Schrei also: ›Bonapartlein ist ein Räuber!«

»Und du gib mir Zucker!«

»Ach du … !«

Mit den Gutsbesitzerinnen verkehrt Tatjana Borissowna wenig; sie kommen ungern zu ihr, und sie versteht sie nicht zu unterhalten; sie schläft bei ihren Reden ein, zuckt zusammen, bemüht sich, die Augen zu öffnen, und schläft wieder ein. Tatjana Borissowna liebt die Frauen überhaupt nicht. Einer meiner Freunde, ein guter, stiller, junger Mensch, hatte eine Schwester, eine alte Jungfer von achtunddreißigundeinhalb Jahren, ein gutmütiges, aber verschrobenes, geziertes und exaltiertes Geschöpf. Der Bruder hatte ihr viel von seiner Nachbarin erzählt. Eines schönen Morgens ließ die alte Jungfer, ohne ein Wort zu sagen, ihr Pferd satteln und ritt zu Tatjana Borissowna. In ihrem langen Kleid, mit dem Hut auf dem Kopf, dem grünen Schleier und offenem Haar trat sie ins Vorzimmer, ging am erstaunten Waßja vorbei, der sie für eine Nixe hielt, und stürzte ins Gastzimmer. Tatjana Borissowna erschrak und wollte aufstehen, aber ihre Beine knickten ein. »Tatjana Borissowna «, begann die Dame mit flehender Stimme, »entschuldigen Sie meine Kühnheit; ich bin die Schwester Ihres Freundes Alexej Nikolajewitsch K., ich habe von ihm so viel über Sie gehört, daß ich mich entschloß, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Zuviel der Ehre«, murmelte die erstaunte Hausfrau. Der Gast legte den Hut ab, schüttelte die Locken, setzte sich neben Tatjana Borissowna und ergriff ihre Hand… »Das ist sie also«, begann sie mit versonnener und gerührter Stimme. »Das ist dieses gute, heitere, edle, heilige Geschöpf! Das ist sie! Diese einfache und zugleich so tiefe Frau! Wie freue ich mich, wie freue ich mich! Wie werden wir einander lieben! Ich werde endlich Ruhe finden … Ich habe sie mir gerade so vorgestellt«, fügte sie flüsternd hinzu. »Nicht wahr, Sie sind mir nicht böse, meine Gute, meine Liebe?«

»Bitte, bitte, ich freue mich sehr … Wollen Sie nicht Tee?«

Der Gast lächelte herablassend. »Wie wahr, wie unreflektiert«, flüsterte sie auf deutsch wie vor sich hin. »Erlauben Sie, daß ich Sie umarme, meine Liebe!«

Die alte Jungfer blieb bei Tatjana Borissowna volle drei Stunden und schwieg keinen Augenblick. Sie bemühte sich, ihrer neuen Bekannten ihre eigene Bedeutung zu erklären. Als der unerwartete Besuch gegangen war, begab sich die arme Gutsbesitzerin sofort in die Badestube, trank Lindenblütentee und legte sich ins Bett. Aber gleich am folgenden Tag kam die alte Jungfer wieder, blieb vier Stunden da und entfernte sich mit dem Versprechen, Tatjana Borissowna täglich zu besuchen. Es war ihr, sehen Sie, eingefallen, diese, wie sie sich ausdrückte, reiche Natur zu entwickeln und zu erziehen; sie hätte ihr wohl sicher den Garaus gemacht, wenn sie nicht, erstens, glücklicherweise schon nach zwei Wochen durch die Freundin ihres Bruders ›gänzlich‹ enttäuscht worden wäre; zweitens, wenn sie sich nicht in einen jungen durchreisenden Studenten verliebt hätte, mit dem sie sofort in einen lebhaften und energischen Briefwechsel trat; in ihren Episteln segnete sie ihn, wie es so üblich ist, zu einem heiligen und schönen Leben, brachte ›ihr ganzes Selbst‹ zum Opfer, verlangte nur den Namen einer Schwester, erging sich in Naturschilderungen, erwähnte Goethe, Schiller, Bettina und die deutsche Philosophie und brachte damit schließlich den armen Jüngling in düsterste Verzweiflung. Aber die Jugend behielt die Oberhand: Eines schönen Morgens erwachte er mit einem so wütenden Haß gegen seine ›Schwester und beste Freundin‹, daß er in seiner Erregung beinahe seinen Kammerdiener geprügelt hätte und noch lange Zeit nachher bei der bloßen Anspielung auf eine erhabene und uneigennützige Liebe die Leute beinahe biß … Tatjana Borissowna vermied aber seitdem noch mehr jede Annäherung an ihre Nachbarinnen.

Aber ach, nichts ist auf Erden von Dauer! Alles, was ich Ihnen vom Leben und Treiben der guten Gutsbesitzerin erzählt habe, gehört der Vergangenheit an; die Stille, die in ihrem Hause herrschte, ist für alle Ewigkeit gestört. Jetzt lebt bei ihr schon über ein Jahr ihr Neffe, ein Maler aus Petersburg. Das geschah folgendermaßen.

Vor etwa acht Jahren lebte bei Tatjana Borissowna ein zwölfjähriger Waisenknabe, Andrjuscha, der Sohn ihres verstorbenen Bruders. Andrjuscha hatte große, klare, feuchtglänzende Augen, einen kleinen Mund, eine regelmäßige Nase und eine herrliche gewölbte Stirne. Er sprach mit leiser, süßer Stimme, hielt sich reinlich und manierlich, war liebenswürdig und dienstfertig gegen die Gäste und küßte mit der Zärtlichkeit eines Waisenkindes seinem Tantchen die Hand. Man war noch nicht ganz ins Zimmer getreten, als er schon einen Sessel herbeitrug. Unarten kamen bei ihm nie vor: Er macht kein Geräusch, sitzt in seinem Winkel mit einem Buch so still und bescheiden und wagt kaum, sich an die Stuhllehne zurückzulehnen. Der Gast tritt ein – mein Andrjuscha erhebt sich sofort, lächelt artig und errötet; geht der Gast fort, so setzt er sich wieder hin, holt aus der Tasche ein Bürstchen mit einem Spiegel und bringt sein Haar in Ordnung. Von frühester Kindheit auf zeigte er Lust zum Zeichnen. Wenn ihm ein Blatt Papier in die Hände fiel, erbat er sich sogleich von der Haushälterin Agafja eine Schere, schnitt aus dem Papier ein regelmäßiges Viereck aus, zeichnete eine Einfassung rundherum und machte sich an die Arbeit: Er zeichnete ein Auge mit einer ungeheuren Pupille oder eine griechische Nase oder ein Haus mit einem Schornstein und schraubenförmig aufsteigendem Rauch, einen Hund en face, der einer Bank ähnlich sah, einen Baum mit zwei Täubchen und schrieb darunter: ›Gezeichnet von Andrej Bjelowsorow an dem, und dem Datum, in dem und dem Jahr im Dorfe Malyja-Bryki.‹ Mit besonderem Eifer mühte er sich zwei Wochen vor dem Namenstag Tatjana Borissownas ab; er erschien als erster Gratulant und überreichte ihr eine mit einem rosa Bändchen umbundene Rolle. Tatjana Borissowna küßte den Neffen auf die Stirn und löste das Bändchen; das Papier entrollte sich und bot dem neugierigen Blick des Beschauers einen runden, geschickt schattierten Tempel mit Säulen und einem Altar in der Mitte; auf dem Altar flammte ein Herz und lag ein Kranz; darüber stand auf einem verschlungenen Band mit deutlichen Buchstaben: ›Meiner Tante und Wohltäterin Tatjana Borissowna Bogdanowa von ihrem respektvollen und liebenden Neffen als Zeichen der tiefsten Anhänglichkeit.‹ Tatjana Borissowna küßte ihn wieder und schenkte ihm einen Silberrubel. Große Anhänglichkeit fühlte sie ihm gegenüber aber nicht: Die Unterwürfigkeit Andrjuschas gefiel ihr nicht sehr. Andrjuscha wuchs indessen heran; Tatjana Borissowna machte sich schon Sorgen wegen seiner Zukunft. Ein unerwarteter Zufall enthob sie dieser Schwierigkeit…

Es kam so: Einmal, vor acht Jahren, kam zu ihr ein gewisser Pjotr Michailytsch Benewolenskij, Kollegienrat und Ritter verschiedener Orden. Her Benewolenskij war einmal in der nächsten Kreisstadt Beamter gewesen und hatte damals Tatjana Borissowna fleißig besucht; später zog er nach Petersburg, kam ins Ministerium, erlangte einen ziemlich hohen Posten und erinnerte sich bei einer seiner häufigen Dienstreisen seiner alten Bekannten; so besuchte er sie mit der Absicht, einige Tage ›im Schoß der ländlichen Stille‹ von seinen dienstlichen Sorgen auszuruhen. Tatjana Borissowna empfing ihn mit ihrer gewöhnlichen Herzlichkeit, und Herr Benewolenskij… Aber bevor wir in unserer Erzählung fortfahren, erlauben Sie mir, lieber Leser, Sie mit dieser neuen Person bekannt zu machen.

Herr Benewolenskij war ein ziemlich dicker Mann von mittlerem Wuchs, etwas schwammig, mit kurzen Beinchen und vollen Händchen; er trug einen weiten und außerordentlich sauberen Frack, eine hohe und breite Halsbinde, schneeweiße Wäsche, eine goldene Uhrkette auf der seidenen Weste, einen Ring mit einem Stein auf dem Zeigefinger und eine blonde Perücke; er sprach überzeugend und mild und trat leise auf, lächelte angenehm, blickte angenehm um sich und vergrub das Kinn angenehm in die Halsbinde; er war überhaupt ein angenehmer Mensch. Gott hatte ihn auch mit einem guten Herzen gesegnet: Er weinte und begeisterte sich leicht; er war von einer flammenden, uneigennützigen Leidenschaft für die Kunst beseelt, und diese Leidenschaft war wirklich uneigennützig, denn gerade von der Kunst verstand Herr Benewolenskij, um die Wahrheit zu sagen, gar nichts. Es ist sogar erstaunlich, woher und kraft welcher geheimnisvollen und unbegreiflichen Gesetze diese Leidenschaft in ihm entstanden war. Ich glaube, er war ein positiver und sogar tüchtiger Mann … Übrigens haben wir in Rußland genug Leute, von diesem Schlag.

Die Liebe zur Kunst und zu den Künstlern verleiht diesen Menschen eine unbeschreibliche Süßlichkeit; es ist eine Qual, mit ihnen zu verkehren und zu sprechen: sie sind mit Honig bestrichene Holzklötze. Sie nennen z. B. niemals Raffael Raffael und Correggio Correggio, sie sagen: »der göttliche Sanzio« (und betonen dabei unbedingt das o) und: »der unvergleichliche da Allegri«. Jedes hausbackene, eingebildete, übertriebene und mittelmäßige Talent nennen sie ein Genie oder Chenie; der blaue Himmel Italiens, die südliche Limone, die duftenden Nebel der Ufer der Brenta sind immer in ihrem Munde. »Ach, Wanja, Wanja!« oder: »Ach, Sascha, Sascha«, sagen sie zueinander mit Gefühl, »wir sollten doch nach dem Süden … wir sind doch Griechen in der Seele, alte Griechen!« Man kann sie in den Ausstellungen vor manchen Erzeugnissen gewisser russischer Maler beobachten. (Es ist zu erwähnen, daß alle diese Herren zum großen Teil fürchterliche Patrioten sind.) Bald treten sie zwei Schritte zurück und werfen den Kopf in den Nacken, bald nähern sie sich wieder dem Bilde; ihre Äuglein werden ölig … »Oh, Gott, Gott«, sagen sie schließlich mit vor Aufregung zitternder Stimme. »Wieviel Seele ist darin! Wieviel Gemüt! Wieviel Seele hat er hineingelegt, einen Abgrund von Seele …! Und wie das erfunden ist, meisterhaft erfunden!« – Und was für Bilder hängen in ihren eigenen Salons! Was für Maler trinken bei ihnen abends Tee und hören ihre Gespräche an! Was für perspektivische Ansichten ihrer eigenen Zimmer werden ihnen von diesen Malern verehrt: im Vordergrund eine Bürste mit einem Häufchen Kehricht auf dem gewichsten Fußboden, ein gelber Samowar auf dem Tisch neben dem Fenster, und der Hausherr selbst im Schlafrock und Käppchen, mit einem grellen Lichtreflex auf der Wange! Was für langhaarige Musensöhne mit verächtlichem und fieberhaftem Lächeln besuchen sie! Was für blaßgrüne junge Mädchen winseln bei ihnen am Klavier! Denn es ist bei uns in Rußland schon einmal so Sitte: Der Mensch kann sich nie mit einer einzigen Kunst begnügen, er muß alle Künste haben. Darum ist es durchaus nicht erstaunlich, daß diese Herren Liebhaber auch der russischen Literatur ihre Gunst erweisen, besonders der dramatischen … Stücke wie Jakob Sannazaros sind für sie geschrieben, der schon tausendmal dargestellte Kampf des verkannten Genies mit den Menschen, mit der ganzen Welt erschüttert sie bis auf den Grund ihrer Seele …

Gleich am Tag nach der Ankunft des Herrn Benewolenskij ließ Tatjana Borissowna beim Tee ihren Neffen die Zeichnungen bringen und dem Gast zeigen. »Er zeichnet?« fragte Herr Benewolenskij.

»Gewiß, er zeichnet«, antwortete Tatjana Borissowna, »er zeichnet mit großer Lust, ganz allein, ohne Lehrer.«

»Ach, zeigen Sie es mir!« fiel ihr Herr Benewolenskij ins Wort.

Andrjuscha reichte dem Gast errötend und lächelnd sein Heft.

Herr Benewolenskij fing an, mit Kennermiene darin zu blättern. »Gut, junger Mann«, sagte er endlich, »gut, sehr gut.« Und er streichelte Andrjuscha den Kopf.

Andrjuscha küßte ihm schnell die Hand.

»Sehen Sie nur, was für ein Talent…! Ich gratuliere Ihnen, Tatjana Borissowna, ich gratuliere.«

»Aber was soll man machen, Pjotr Michailytsch, hier kann ich für ihn keinen Lehrer finden. Einen aus der Stadt kommen zu lassen, kostet zuviel Geld; die Nachbarn Artamonows haben wohl einen Maler im Hause, man sagt sogar, einen vorzüglichen, aber seine Herrin verbietet ihm, fremden Leuten Stunden zu geben. Sie sagt, so werde er sich den Geschmack verderben.«

»Hm«, versetzte Herr Benewolenskij. Dann wurde er nachdenklich und sah Andrjuscha ernst an. »Nun, wir werden darüber noch reden«, fügte er plötzlich hinzu und rieb sich die Hände. Am gleichen Tag bat er Tatjana Borissowna um Erlaubnis, mit ihr unter vier Augen sprechen zu dürfen. Sie schlossen sich ein. Nach einer halben Stunde riefen sie Andrjuscha. Andrjuscha trat ein. Herr Benewolenskij stand am Fenster mit leicht gerötetem Gesicht und strahlenden Augen. Tatjana Borissowna saß in der Ecke und wischte sich die Augen. »Nun, Andrjuscha«, begann sie schließlich, »bedanke dich bei Pjotr Michailytsch, er will für dich sorgen und dich nach Petersburg mitnehmen.«

Andrjuscha war starr.

»Sagen Sie mir aufrichtig«, begann Herr Benewolenskij mit einer von Würde und Wohlwollen erfüllten Stimme, »wollen Sie Künstler werden, fühlen Sie in sich den heiligen Beruf zur Kunst?«

»Ich möchte Künstler werden, Pjotr Michailytsch«, bestätigte Andrjuscha zitternd.

»In diesem Falle freue ich mich sehr. Es wird Ihnen«, fuhr Herr Benewolenskij fort, »natürlich sehr schwer sein, sich von Ihrem verehrten Tantchen zu trennen; Sie müssen doch die wärmste Dankbarkeit gegen Sie empfinden.«

»Ich verehre mein Tantchen«, unterbrach ihn Andrjuscha und zwinkerte mit den Augen.

»Gewiß, gewiß, es ist sehr natürlich und gereicht Ihnen zur Ehre; aber denken Sie sich nur, welche Freude…Ihre Erfolge …«

»Umarme mich, Andrjuscha«, murmelte die gute Gutsbesitzerin.

Andrjuscha fiel ihr um den Hals.

»Nun, und jetzt danke deinem Wohltäter …«

Andrjuscha umarmte den Bauch des Herrn Benewolenskij, stellte sich auf die Fußspitzen und erreichte schließlich dessen Hand, die der Wohltäter zwar zurückzog, aber doch nicht allzu eilig. Man muß doch dem Kind die Freude und die Genugtuung lassen und darf auch sich die Freude, das Vergnügen gönnen. Zwei Tage drauf reiste Herr Benewolenskij ab und nahm seinen neuen Zögling mit.

Während der ersten drei Jahre der Trennung schrieb Andrjuscha ziemlich oft und legte den Briefen manchmal Zeichnungen bei. Herr Benewolenskij schrieb manchmal auch seinerseits einige meistens lobende Zeilen; dann wurden die Briefe immer seltener und hörten schließlich ganz auf. Der Neffe schwieg ein ganzes Jahr; Tatjana Borissowna fing schon an, unruhig zu werden, als sie plötzlich ein Brieflein folgenden Inhaltes erhielt.

Liebstes Tantchen!

Vor vier Tagen ist mein Beschützer, Pjotr Michailowitsch, verschieden. Ein grausamer Schlaganfall beraubte mich dieser letzten Stütze. Ich stehe allerdings schon im zwanzigsten Lebensjahr; in diesen sieben Jahren habe ich bedeutende Fortschritte gemacht; ich baue sehr auf mein Talent und kann davon leben; ich verliere den Mut nicht, aber dennoch schicken Sie mir, wenn Sie können, fürs erste zweihundertfünfzig Rubel in Assignaten. Ich küsse Ihre Hände und verbleibe, und so weiter.

Tatjana Borissowna schickte dem Neffen die zweihundertfünfzig Rubel. Nach zwei Monaten verlangte er mehr; sie scharrte das Letzte zusammen und schickte es ihm. Es waren noch keine sechs Wochen nach der zweiten Sendung vergangen, als er zum drittenmal Geld verlangte, angeblich um sich Farben für das Porträt zu kaufen, das ihm die Fürstin Tertereschenjewa bestellt habe. Tatjana Borissowna schlug es ihm ab. ›In diesem Falle‹, schrieb er ihr, ›habe ich die Absicht, zu Ihnen aufs Land zu kommen, um meine Gesundheit herzustellen.‹ Und im Mai des gleichen Jahres kam Andrjuscha wirklich nach Malyja-Bryki.

Tatjana Borissowna erkannte ihn im ersten Augenblick nicht. Auf. Grund seines Briefes erwartete sie einen kränklichen und mageren Menschen, sah aber vor sich einen breitschultrigen, dicken Burschen mit einem breiten und roten Gesicht und fettigen, krausen Haaren. Der schmächtige, blasse Andrjuscha hatte sich in den kräftigen Andrej Iwanowitsch Bjelowsorow verwandelt. Nicht bloß sein Äußeres hatte sich verändert. An Stelle der ängstlichen Schüchternheit, Vorsicht und Sauberkeit der früheren Jahre war burschikose Nonchalance und unerträgliche Unsauberkeit getreten; er wiegte sich im Gehen nach rechts und nach links, warf sich in die Sessel, stürzte sich über den Tisch, rekelte sich, gähnte aus vollem Hals und benahm sich frech gegen die Tante und die Dienstboten. »Ich bin ein Künstler, ein freier Kosake! Man soll vor unsereinem Respekt haben!« Manchmal nahm er tagelang keinen Pinsel in die Hand; wenn ihn die sogenannte Begeisterung überkam, so benahm er sich wie ein Komödiant, schwerfällig, lärmend, ungeschickt, als hätte er am Tag vorher viel getrunken; eine grobe Röte legte sich auf seine Wangen, seine Augen stierten; er redete von seinem Talent, von seinen Fortschritten, wie er sich entwickle und vorwärtskomme … In Wirklichkeit stellte es sich aber heraus, daß seine Fähigkeiten gerade noch für halbwegs erträgliche kleine Porträts langten. Er war ein furchtbarer Ignorant und las nichts; was braucht auch ein Künstler zu lesen? Natur, Freiheit, Poesie – das sind seine Elemente. Schüttele nur ordentlich die Locken, sing wie eine Nachtigall und qualme Schukowschen Tabak! Schön ist die russische Schrankenlosigkeit, aber nicht allen steht sie zu Gesicht; talentlose Poleschajews zweiter Güte sind aber unerträglich. Andrej Iwanowitsch setzte sich bei seinem Tantchen dauerhaft fest, das Gratisbrot schmeckte ihm wohl gut. Den Gästen verursachte er tödliche Langeweile. Zuweilen setzte er sich ans Klavier (Tatjana Borissowna besaß sogar ein Klavier) und versuchte mit einem Finger die Melodie der Troika zu finden; er griff Akkorde und klopfte auf die Tasten; stundenlang heulte er zur Qual seiner Zuhörer die Lieder Warlamows: Die einsame Fichte oder: Nein, Doktor, komm nicht mehr zu mir …; dabei schwammen ihm aber die Augen im Fett, und die Wangen glänzten wie ein Trommelfell … Oder er brüllte plötzlich auf: »Schweig, meines Herzens Leidenschaft …« Tatjana Borissowna fuhr zusammen. »Es ist doch merkwürdig«, sagte sie mir einmal, »was man heute für Lieder dichtet – so furchtbar wild sind sie! Zu meiner Zeit dichtete man anders, es waren auch traurige dabei und doch war es angenehm, sie zu hören … Zum Beispiel:

O komm zu mir, Geliebter mein, vergebens ist mein Sehnen;

O komm zu mir, Geliebter mein, es fließen meine Tränen …

Doch wenn du kommst, Geliebter mein, dann wird es wohl zu späte sein!«

Tatjana Borissowna lächelte schelmisch.

»Ich la-aide, ich la-aide!« heulte im Nebenzimmer der Neffe.

»Hör doch schon auf, Andrjuscha!«

»Mein Herz verschmachtet vor Sehnsucht!« fuhr der unermüdliche Sänger fort.

Tatjana Borissowna schüttelte den Kopf.

»Ach, diese Künstler!«

Es ist seitdem ein Jahr vergangen. Bjelowsorow wohnt noch immer bei seinem Tantchen und redet immer von seiner Absicht, nach Petersburg zu gehen. Auf dem Lande ist er noch dicker geworden. Die Tante, wer sollte es glauben, vergöttert ihn, und die Mädchen in der Nachbarschaft verlieben sich in ihn …

Viele von den früheren Bekannten haben aufgehört, Tatjana Borissowna zu besuchen.


Der Tod


Einer meiner Nachbarn ist junger Landwirt und junger Jäger. An einem schönen Julimorgen ritt ich zu ihm, um ihm vorzuschlagen, mit mir auf die Birkhuhnjagd zu gehen. Er willigte ein. »Aber wollen wir vorher«, sagte er, »durch meinen jungen Wald zur Suscha reiten; ich will mir bei dieser Gelegenheit Tschaplygino ansehen; kennen Sie meinen Eichenwald? Er wird gerade abgeholzt.« – »Gut, reiten wir hin.« Er ließ sein Pferd satteln, zog ein grünes Röckchen mit Bronzeknöpfen, auf denen Eberköpfe dargestellt waren, an, hing eine gestickte Jagdtasche und eine silberne Feldflasche um, warf sich eine nagelneue französische Flinte über die Schulter, drehte sich nicht ohne Selbstgefälligkeit vor dem Spiegel und rief seinen Jagdhund Esperence, das Geschenk einer Kusine, einer alten Jungfer, die ein gutes Herz, aber keine Haare hatte. Wir machten uns auf den Weg. Mein Nachbar nahm seinen Zehentmann Archip mit, einen dicken, untersetzten Bauern mit viereckigem Gesicht und vorsintflutlich entwickelten Backenknochen, und den Gutsverwalter, den er vor kurzem aus den Ostseeprovinzen verschrieben hatte, einen etwa neunzehnjährigen, hageren, blonden, kurzsichtigen Jüngling mit abfallenden Schultern und langem Hals, Herrn Gottlieb von der Kock. Mein Nachbar war erst vor kurzem Besitzer des Gutes geworden. Es war ihm als Erbschaft von seiner Tante, der Staatsrätin Kardon-Katajewa, zugefallen, einer ungewöhnlich dicken Frau, die selbst im Bett liegend dauernd und jämmerlich ächzte. Wir kamen in den jungen Wald.

»Warten Sie hier auf dieser Waldwiese«, sagte Ardalion Michailytsch (so hieß mein Nachbar), sich an seine Begleiter wendend. Der Deutsche verbeugte sich, stieg vom Pferd, zog ein Buch aus der Tasche, ich glaube einen Roman der Johanna Schopenhauer, und setzte sich unter einen Strauch; Archip blieb in der Sonne und stand während einer ganzen Stunde regungslos. Wir strichen durch das Gebüsch und stießen auf keine einzige Brut. Ardalion Michailytsch, erklärte, daß er die Absicht habe, sich in den Wald zu begeben. Auch ich selbst glaubte an jenem Tag nicht recht an das Jagdglück und schlenderte ihm nach. Wir kehrten zur Lichtung zurück. Der Deutsche merkte sich die Seite in seinem Buch, stand auf, steckte es in die Tasche und bestieg nicht ohne Mühe seine ausrangierte Stute mit dem kurzen Schweif, die bei der geringsten Berührung wieherte und ausschlug; Archip fuhr zusammen, zupfte an beiden Zügeln zugleich, schlenkerte mit den Beinen und brachte endlich seinen bestürzten und niedergedrückten Klepper von der Stelle. Wir ritten weiter.

Der Wald Ardalion Michailytschs war mir seit meiner Kindheit bekannt Mit meinem französischen Hofmeister, M. Désiré Fleury, einem herzensguten Menschen (der übrigens meine Gesundheit beinahe für immer ruiniert hatte, indem er mir jeden Abend die Leroysche Medizin eingab), pflegte ich oft nach Tschaplygino zu kommen. Dieser ganze Wald bestand aus nur zwei- oder dreihundert mächtigen Eichen und Eschen. Ihre gewaltigen Stämme zeichneten sich wunderbar schwarz von dem goldig-durchsichtigen Grün der Haselbüsche und Ebereschen ab; sie stiegen in die Höhe, hoben sich schlank vom heiteren Blau ab und breiteten erst dort oben ihre knorrigen Äste zu einem Zelt aus; Habichte, Falken, Bussarde schwebten pfeifend über den unbeweglichen Baumwipfeln, bunte Spechte hämmerten laut auf ihre dicke Rinde; das helle Lied der Amsel erklang plötzlich im dichten Laub gleich nach dem trillernden Gesang des Pirol; unten im Gebüsch zwitscherten und sangen Grasmücken, Zeisige und Laubvögelchen; Finken liefen schnell über die Wege; der Hase schlich am Rande der Lichtung; das rotbraune Eichhörnchen sprang flink von Baum zu Baum und setzte sich plötzlich, den Schweif über den Kopf hebend. Im Grase, neben dem hohen Ameisenhaufen, unter dem leichten Schatten der schöngezackten Farnkrautblätter, blühten Veilchen und Maiglöckchen, wuchsen Täublinge, Hirschlinge, Pfefferschwämme, Eichpilze und rote Fliegenschwämme; in den Lichtungen zwischen den breiten Büschen leuchteten rote Erdbeeren … Und was für ein Schatten herrschte in diesem Wald! In der stärksten Mittagsglut war hier vollkommene Nacht: Stille, Duft, Frische … Lustig hatte ich damals die Zeit in Tschaplygino verbracht, und darum ritt ich jetzt, offen gestanden, nicht ohne ein trauriges Gefühl in diesen mir allzugut bekannten Wald hinein. Der verheerende, schneelose Winter des Jahres 1840 hatte meine alten Freunde, die Eichen und Eschen, nicht verschont; verdorrt, entblößt, nur hier und da mit schwindsüchtigem Grün bedeckt, erhoben sie sich traurig über das junge Gehölz, das ›an ihre Stelle trat, ohne sie zu ersetzen‹. Einige Bäume, die unten noch mit Blättern bewachsen waren, hoben wie vorwurfsvoll und verzweifelt ihre leblosen, zerbrochenen Äste in die Höhe; bei den anderen ragten aus dem noch ziemlich dichten, aber nicht mehr üppig wuchernden Laub dicke, trockene tote Zweige hervor; einige verloren ihre Rinde; andere schließlich waren ganz umgefallen und faulten wie Leichen auf der Straße. Wer hätte das voraussehen können: In Tschaplygino konnte man nirgends Schatten finden! Was, dachte ich mir, auf die sterbenden Bäume sehend, es muß euch wohl schwer und bitter zumute sein …! Ich mußte an Kolzow denken:

Sprich, o Wald, wo blieb dein gewaltig Wort?

Wo die stolze Kraft? Wo der Königsmut?

Sprich, wo blieb der Schmuck deines grünen Laubs …?

»Sagen Sie mir, Ardalion Michailytsch«, fing ich an, »warum hat man diese Bäume nicht gleich im nächsten Jahr gefällt? Jetzt gibt man doch für sie auch nicht den zehnten Teil des Preises, den man früher bezahlt hätte.«

Er zuckte nur die Achseln.

»Darüber müßten Sie mein Tantchen fragen. Es waren wohl Kaufleute gekommen, die Geld boten und ihr keine Ruhe ließen.«

»Mein Gott! Mein Gott!« rief Herr von der Kock auf Schritt und Tritt. »Diese Schande! Diese Schande!«

»Was für eine Schande?« fragte mein Nachbar mit einem Lächeln.

»Das heißt, ich wollte sagen, daß es schade ist«, sagte der Deutsche in seinem gebrochenen Russisch.

Besonders erregten sein Mitleid die auf der Erde liegenden Eichen; und in der Tat, mancher Müller hätte für sie viel bezahlt. Der Zehentmann Archip bewahrte dagegen eine unerschütterliche Ruhe und jammerte in keiner Weise; im Gegenteil, er sprang sogar nicht ohne Vergnügen über die Stämme hinweg und schlug mit seiner Peitsche auf sie ein.

Wir näherten uns der Stelle, wo das Holz gefällt wurde, als plötzlich, gleich nach dem Krachen eines gestürzten Baumes, ein Schreien und Stimmengewirr erklang, und einige Augenblicke später stürzte uns aus dem Dickicht ein Bauer, blaß und zerzaust, entgegen.

»Was ist los? Wohin läufst du?« fragte ihn Ardalion Michailytsch.

Jener blieb sofort stehen. »Ach, Väterchen Ardalion Michailytsch, es ist ein Unglück geschehen!«

»Was ist los?«

»Ein Baum hat den Maxim erschlagen, Väterchen.«

»Wieso …? Den Arbeitsunternehmer Maxim?«

»Ja, den Arbeitsunternehmer, Väterchen. Wir fällten eine Esche, er stand aber dabei und sah zu … Er stand da und ging plötzlich zum Brunnen, er wollte wohl Wasser trinken. Plötzlich kracht die Esche und stürzt gerade auf ihn nieder. Wir schreien ihm zu: ›Lauf, lauf, lauf …!‹ Er hätte auf die Seite laufen müssen, aber er lief geradeaus … vor Schreck wußte er wohl nicht, was er tat. Die Esche traf ihn mit den obersten Ästen. Warum sie so schnell gestürzt ist, weiß Gott allein … Wahrscheinlich war sie innen verfault.«

»Nun, hat sie Maxim erschlagen?«

»Ja, erschlagen, Väterchen.«

»Ist er tot?«

»Nein, Väterchen, er lebt noch, aber wie: Arme und Beine sind ihm zerschlagen. Ich laufe zu Seliwerstytsch, dem Feldscher.«

Ardalion Michailytsch befahl dem Zehentmann, im Galopp in das Dorf zu Seliwerstytsch zu reiten und ritt selbst im scharfen Trab zum Holzschlag … Ich folgte ihm.

Wir fanden den armen Maxim auf der Erde liegen. An die zehn Bauern standen um ihn herum. Wir saßen ab. Er stöhnte kaum, öffnete nur ab und zu die Augen, blickte wie erstaunt um sich und biß sich auf die blauangelaufenen Lippen … Sein Kinn zitterte, die Haare klebten an der Stirn, die Brust hob sich ungleichmäßig; er starb. Der leichte Schatten einer jungen Linde glitt leise über sein Gesicht.

Wir beugten uns über ihn. Er erkannte Ardalion Michailytsch.

»Väterchen«, begann er kaum hörbar, »nach dem Popen … lassen Sie schicken … Der Herr … hat mich gestraft … Arme und Beine und alles … ist zerschlagen … heute ist … Sonntag … aber ich … aber ich … habe … die Burschen nicht freigelassen.«

Er verstummte. Der Atem stockte ihm.

»Das Geld … geben Sie … meiner Frau … meiner Frau … mit Abzug … Onissim weiß es … wem ich … schulde.«

»Wir haben nach dem Feldscher geschickt, Maxim«, sprach mein Nachbar. »Vielleicht wirst du gar nicht sterben.«

Er versuchte die Augen zu öffnen und hob mit Mühe die Brauen und Lider.

»Nein, ich werde sterben. Da … da kommt er, da ist er, da … Verzeiht mir, Kinder, wenn ich etwas …«

»Gott wird dir verzeihen, Maxim Andrejitsch«, sagten alle Bauern zugleich mit dumpfer Stimme und nahmen ihre Mützen ab, »verzeihe du uns.«

Er schüttelte plötzlich verzweifelt den Kopf, reckte schmerzvoll die Brust und sank wieder zurück.

»Er darf aber doch nicht hier sterben«, rief Ardalion Michailytsch. »Kinder, nehmt die Bastmatte aus dem Wagen, wir wollen ihn ins Krankenhaus tragen.«

Zwei Mann stürzten zum Wagen hin.

»Ich habe von Jefim … aus Sytschowo …«, lallte der Sterbende, »gestern ein Pferd gekauft … Handgeld gegeben … das Pferd ist also mein … gebt es auch … meiner Frau …«

Man begann ihn auf die Bastmatte zu legen … Er zuckte am ganzen Körper wie ein angeschossener Vogel und streckte sich aus …

»Er ist tot …«, murmelten die Bauern.

Wir stiegen schweigend auf die Pferde und ritten davon.

Der Tod des armen Maxim stimmte mich nachdenklich. Merkwürdig stirbt der russische Bauer! Seinen Zustand vor dem Ende darf man weder Gleichgültigkeit noch Stumpfsinn nennen; er stirbt, als vollzöge er eine Zeremonie: kühl und einfach.

Vor einigen Jahren verbrannte bei einem anderen Nachbarn von mir ein Bauer in der Getreidedarre. (Er wäre in der Getreidedarre geblieben, wenn nicht ein vorbeifahrender Kleinbürger ihn herausgezogen hätte: Er hatte sich in einen Bottich mit Wasser getaucht und dann mit einem Satz die Tür unter dem brennenden Dachvorsprung eingeschlagen.) Ich komme zu ihm in die Stube. Es ist drinnen dunkel, schwül und rauchig. Ich frage, wo der Kranke sei. – »Da liegt er, Väterchen, auf der Ofenbank«, antwortet mir in singendem Ton das traurige Weib. Ich komme näher, der Bauer liegt unter einem Schafspelz und atmet schwer. »Nun, wie fühlst du dich?« Der Kranke rührt sich auf dem Ofen, will sich aufrichten, ist aber dabei voller Wunden und dem Tode nahe. »Bleib nur liegen, bleib nur liegen … Nun? Wie geht es?«

»Versteht sich, schlecht«, antwortet er.

»Hast du Schmerzen?«

Er schweigt.

»Brauchst du etwas?«

Er schweigt.

»Soll ich dir vielleicht Tee schicken?«

»Nein, nicht nötig.«

Ich trat beiseite und setzte mich auf die Bank. Ich sitze eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, in der Stube herrscht eine Grabesstille. In der Ecke am Tisch unter den Heiligenbildern verbirgt sich ein Mädchen von etwa fünf Jahren und kaut an einem Stück Brot. Die Mutter droht ihr von Zeit zu Zeit mit dem Finger. Im Flur geht jemand auf und ab, spricht und klopft – die Frau des Bruders hackt Kraut.

»Aksinja!« sagte schließlich der Kranke …

»Was?«

»Gib mir Kwaß.«

Aksinja gab ihm Kwaß.

Wieder schwiegen alle. Ich fragte flüsternd, ob er die Sterbesakramente empfangen habe.

»Er hat sie empfangen.«

Nun, so ist alles in Ordnung, er wartet auf den Tod und sonst nichts. Ich konnte es nicht länger aushalten und ging darum hinaus …

Ein anderes Mal kam ich ins Krankenhaus des Dorfes Krasnogorje zu dem mir bekannten Feldscher Kapiton, der ein leidenschaftlicher Jäger war.

Das Krankenhaus befand sich im ehemaligen Seitenflügel des Herrenhauses; die Gutsbesitzerin selbst hatte es errichtet, d. h., sie ließ über der Tür ein blaues Brett anschlagen mit der weißen Inschrift: ›Krankenhaus von Krasnogorje‹ und händigte Kapiton ein hübsches Album aus, in das er die Namen der Kranken eintragen sollte. Auf dem ersten Blatt des Albums hatte einer der Tellerlecker und Schmeichler der tugendhaften Gutsbesitzerin folgenden Vers hingeschrieben:

›Dans ces beaux lieux, où règne l'alégresse,

ce temple fut ouvert par la Beauté;

de vos seigneurs admirez la tendresse,

bons habitants de Krasnogorié!‹

Ein anderer Herr hatte darunter geschrieben:

›Et moi aussi j'aime la nature!

Jean Kobyliatnikoff.‹

Der Feldscher kaufte für sein eigenes Geld sechs Betten, erflehte sich Gottes Segen und begann das Volk frisch drauflos zu kurieren. Außer ihm wirkten am Krankenhaus noch zwei Personen: der geisteskranke Stempelschneider Pawel und eine Frau namens Melikitrissa, die einen verdorrten Arm hatte und das Amt einer Köchin versah. Die beiden bereiteten die Arzneien, trockneten Kräuter, bereiteten aus ihnen Extrakt und bändigten die tobsüchtigen Patienten. Der verrückte Stempelschneider war düster von Aussehen und wortkarg; nachts sang er das Lied ›von der schönen Venus‹ und wandte sich an jeden Durchreisenden mit der Bitte, ihm die Heirat mit einer gewissen Malanja, die schon längst tot war, zu erlauben. Das Weib mit dem verdorrten Arm prügelte ihn und ließ ihn die Truthühner hüten. Eines Tages sitze ich beim Feldscher Kapiton. Wir sprachen gerade von unserer letzten Jagd, als in den Hof plötzlich ein Wagen hineinfuhr, mit einem ungewöhnlich dicken grauen Pferd bespannt, wie sie nur die Müller zu haben pflegen. Im Wagen saß ein Bauer in einem neuen Kittel und mit einem in verschiedenen Farben schillernden Bart. – »Ah, Wassilij Dmitritsch«, rief ihm Kapiton durchs Fenster zu, »seien Sie mir willkommen … Es ist der Müller aus Lybowschino«, flüsterte er mir zu.

Der Bauer stieg ächzend aus dem Wagen, trat in das Zimmer des Feldschers, suchte mit den Augen das Heiligenbild und bekreuzigte sich.

»Nun, Wassilij Dmitritsch, was gibt es Neues …? Sie sind sicher nicht wohl: Sie sehen nicht gut aus.«

»Ja, Kapiton Timofejitsch, es ist mir nicht ganz wohl.«

»Was haben Sie?«

»Sehen Sie, Kapiton Timofejitsch: Neulich kaufte ich in der Stadt Mühlsteine; ich fuhr sie nach Hause, und als ich sie aus dem Wagen ablud, habe ich mich überanstrengt, in meinem Bauch knackte es, als wäre etwas gerissen … und von der Zeit an kränkele ich immer. Heute geht es mir sogar sehr schlecht.«

»Hm«, versetzte Kapiton und nahm eine Prise. »Es wird wohl ein Bruch sein. Wann ist das Ihnen zugestoßen?«

»Heute ist der zehnte Tag.«

»Schon der zehnte?« Der Feldscher zog durch die Zähne Luft ein und schüttelte den Kopf. »Laß dich mal betasten. – Nun, Wassilij Dmitritsch«, sagte er schließlich, »du tust mir leid, Liebster, deine Sache steht schlecht, du bist ernstlich krank; bleib mal hier bei mir; ich werde mein möglichstes tun, aber ich bürge für nichts.«

»Ist es wirklich so schlimm?« murmelte der Müller erstaunt.

»Ja, Wassilij Dmitritsch, es steht schlimm; wären Sie zu mir zwei Tage früher gekommen, so hätte ich Sie vollständig kuriert; jetzt haben Sie aber eine Entzündung, und es kann leicht zu einem Brand kommen.«

»Es kann nicht sein, Kapiton Timofejitsch.«

»Aber wenn ich es Ihnen sage …!«

»Wie ist es nun?«

Der Feldscher zuckte die Achseln.

»Und soll ich wegen einer solchen Dummheit sterben?«

»Das sage ich nicht … aber bleiben Sie hier.«

Der Mann überlegte, blickte auf den Boden, dann auf uns, kratzte sich den Nacken und griff nach der Mütze.

»Wo wollen Sie denn hin, Wassilij Dmitritsch?«

»Wo ich hin will? Natürlich nach Hause, wenn es so schlimm steht. Ich muß meine Anordnungen treffen, wenn es so ist.«

»Sie richten Unheil an, Wassilij Dmitritsch, ich bitte Sie! Ich wundere mich schon so, wie Sie hergekommen sind. Bleiben Sie doch.«

»Nein, Bruder Kapiton Timofejitsch, wenn ich schon sterben soll, so will ich zu Hause sterben; wenn ich hier sterbe, so kann bei mir zu Hause Gott weiß was alles passieren.«

»Es ist noch unbekannt, Wassilij Dmitritsch, was aus der Sache wird … Natürlich ist es gefährlich, sehr gefährlich, ich leugne es nicht … aber gerade darum müssen Sie hierbleiben.«

Der Bauer schüttelte den Kopf. »Nein, Kapiton Timofejitsch, ich bleibe nicht … nein, verschreiben Sie mir vielleicht eine Arznei.«

»Die Arznei allein kann nicht helfen.«

»Ich bleibe nicht, habe ich gesagt.«

»Nun, wie du willst … aber daß du mir hinterher keine Vorwürfe machst!«

Der Feldscher riß aus dem Album ein Blatt heraus, schrieb ein Rezept und sagte ihm, was er sonst zu tun habe. Der Bauer nahm das Papier, gab Kapiton einen halben Rubel, ging hinaus und setzte sich in seinen Wagen.

»Leben Sie wohl, Kapiton Timofejitsch, nichts für ungut, vergessen Sie meine Waisen nicht, wenn was passiert …«

»Ach, bleib doch hier, Wassilij!«

Der Bauer schüttelte nur den Kopf, schlug das Pferd mit dem Zügel und fuhr fort. Ich trat auf die Straße und sah ihm nach. Der Weg war schmutzig und holprig; der Müller fuhr vorsichtig, ohne Übereilung, lenkte sein Pferd geschickt und grüßte die Vorbeigehenden … Auf den vierten Tag war er tot.

Überhaupt, merkwürdig sterben die Russen. Viele Verstorbene kommen mir in den Sinn. Ich erinnere mich deiner, du mein alter Freund, nicht ausstudierter Student, Awenir Sorokoumow, du prächtiger, edelster Mensch! Ich sehe wieder dein schwindsüchtiges, grünliches Gesicht vor mir, dein dünnes blondes Haar, dein sanftes Lächeln, deinen begeisterten Blick, deine langen Glieder; ich höre deine schwache, freundliche Stimme. Du lebtest beim großrussischen Gutsbesitzer Gur Krupjannikow, unterrichtetest seine Kinder Fofa und Sjosja in Russisch, Geographie und Geschichte, ertrugst mit Geduld die derben Späße Gurs, die groben Liebenswürdigkeiten des Haushofmeisters, die dummen Streiche der bösen Jungen, und erfülltest nicht ohne ein bitteres Lächeln, aber auch ohne zu murren die Launen der sich langweilenden Gnädigen; wie ruhtest du dafür aus, wie selig warst du, wenn du abends nach dem Essen, nach Erledigung aller Verpflichtungen, dich an das Fenster setztest, nachdenklich die Pfeife anstecktest oder mit Gier die zerfetzte und schmierige Nummer der dickleibigen Zeitschrift durchblättertest, die der Feldmesser, ein ebenso heimatloser Unglücksrabe wie du, aus der Stadt mitgebracht hatte! Wie gefielen dir damals allerlei Verse und allerlei Erzählungen, wie leicht kamen dir die Tränen in die Augen, mit welchem Vergnügen lachtest du, von welcher aufrichtigen Liebe zu den Menschen, von welch edler Sympathie für alles Gute und Schöne wurde da deine kindlich reine Seele erfüllt! Man muß die Wahrheit sagen: Du zeichnetest dich nicht durch allzu großen Geist aus; die Natur hatte dich weder mit Gedächtnis noch mit Fleiß begabt; auf der Universität galtest du als einer der schlechtesten Studenten; in den Vorlesungen schliefst du, beim Examen bewahrtest du ein feierliches Schweigen; aber wer war es, dessen Augen vor Freude leuchteten und dem der Atem stockte, wenn ein Freund Erfolg hatte? – Das warst du, Awenir … Wer glaubte blind an den hohen Beruf seiner Freunde, wer rühmte sie mit Stolz, wer trat mit Eifer für sie ein? Wer kannte weder Neid noch Eigenliebe, wer brachte sich selbst uneigennützig zum Opfer, wer ließ sich gern von Leuten beherrschen, die seine Stiefelsohle nicht wert waren …? Das warst immer du, unser guter Awenir! Ich erinnere mich noch, wie du mit zerknirschtem Herzen dich von deinen Freunden verabschiedetest, als du deine ›Kondition‹ antratest; schlimme Ahnungen quälten dich … Und in der Tat, du hattest es schlimm auf dem Lande; da gab es niemand, dem du andachtsvoll zuhören, den du bewundern oder lieben könntest … Wie die in der Steppe verwilderten, so auch die gebildeten Gutsbesitzer behandelten dich nur wie einen Hauslehrer: die einen grob, die anderen nachlässig. Zudem warst du auch äußerlich wenig einnehmend; du warst schüchtern, du errötetest, schwitztest, stottertest … Die Landluft besserte nicht einmal deine Gesundheit, du schmolzest wie eine Kerze, du Ärmster! Es ist wahr, dein Zimmerchen lag nach dem Garten; die Faulbäume, Apfelbäume und Linden schütteten ihre leichten Blüten dir auf den Tisch, auf das Tintenfaß, auf die Bücher; an der Wand hing ein kleines, blauseidenes Kissen für die Uhr, das dir in der Abschiedsstunde eine gutmütige, empfindsame deutsche Gouvernante mit blonden Locken und blauen Augen geschenkt hatte; ab und zu besuchte dich ein alter Freund aus Moskau und entzückte dich durch fremde oder sogar eigene Verse; aber die Einsamkeit, aber die unerträgliche Sklaverei des Lehrerberufs, die Unmöglichkeit, frei zu werden, aber die endlosen Herbst- und Wintermonate, aber die unaufhörliche Krankheit … Armer, armer Awenir!

Ich besuchte Sorokoumow kurz vor seinem Tode. Er konnte fast nicht mehr gehen. Der Gutsbesitzer Gur Krupjannikow trieb ihn nicht aus dem Hause, hörte aber auf, ihm sein Gehalt zu zahlen, und nahm für Sjosja einen anderen Lehrer … Den Fofa gab man ins Kadettenkorps. Awenir saß am Fenster, in einem alten Großvaterstuhl. Das Wetter war herrlich. Der heitere Herbsthimmel blaute lustig über der dunkelbraunen Reihe entblätterter Linden; hier und da schwankten und lispelten an ihnen die letzten leuchtend goldenen Blätter. Die während der Nacht gefrorene Erde schwitzte und taute in der Sonne auf; die schrägen rötlichen Strahlen glitten über das bleiche Gras; in der Luft glaubte man ein leises Knistern zu hören; deutlich und vernehmbar tönten im Garten die Stimmen der Arbeiter. Awenir hatte einen alten bucharischen Schlafrock an; das grüne Halstuch verlieh seinem schrecklich abgemagerten Gesicht die Farbe des Todes. Er freute sich sehr, mich zu sehen, streckte mir die Hand entgegen, begann zu sprechen und bekam einen Hustenanfall. Ich ließ ihn zur Ruhe kommen und setzte mich zu ihm … Awenir hatte auf den Knien ein Heft mit sauber abgeschriebenen Gedichten Kolzows liegen; er klopfte lächelnd mit der Hand darauf. »Das ist ein Dichter«, sagte er, mit Mühe einen neuen Hustenanfall zurückhaltend, und versuchte mit kaum hörbarer Stimme zu deklamieren:

»Sind die Flügel, Falk, denn gebunden dir?

Sind die Wege all dir verwehret hier?«

Ich bat ihn, aufzuhören; der Arzt hatte ihm das Sprechen verboten. Ich wußte, womit ich ihm eine Freude machen konnte. Sorokoumow hatte niemals, wie man so sagt, die Erfolge der Wissenschaft ›verfolgt‹, interessierte sich aber doch sehr dafür, was die großen Geister schon alles erreicht hatten. Zuweilen hielt er einen Freund irgendwo in einem Winkel fest und fing ihn an auszufragen; er hörte ihm zu, staunte, glaubte ihm alles aufs Wort und erzählte dann alles wörtlich wieder. Besonderes Interesse hatte er für die deutsche Philosophie. – Ich fing an, von Hegel zu sprechen (wie man sieht, ist es eine alte Geschichte). Awenir nickte bejahend mit dem Kopf, hob die Brauen, lächelte, flüsterte: »Ich verstehe, ich verstehe …! Ach, wie schön, wie schön …!« Die kindliche Neugier des sterbenden, heimatlosen und verlassenen armen Menschen rührte mich, offen gestanden, zu Tränen. Es ist zu bemerken, daß Awenir sich, im Gegensatz zu allen Schwindsüchtigen, über seine Krankheit durchaus nicht täuschte … und was glaubt ihr …? Er seufzte nicht, er klagte nicht, er spielte sogar kein einziges Mal auf seinen Zustand an …

Er nahm seine Kräfte zusammen und begann von Moskau zu sprechen, von seinen Kameraden, von Puschkin, vom Theater, von der russischen Literatur; er gedachte unserer kleinen Festgelage, der hitzigen Debatten unseres Kreises und nannte mit Bedauern die Namen einiger verstorbener Freunde …

»Erinnerst du dich noch an die Dascha?« fügte er zuletzt hinzu. »War das eine goldene Seele! War das ein Herz! Und wie sie mich liebte …! Was ist mit ihr jetzt …? Sie ist wohl vor Sehnsucht abgezehrt, die Arme?«

Ich wagte nicht, den Kranken zu enttäuschen – und in der Tat, was brauchte er zu wissen, daß seine Dascha jetzt so breit wie lang war, daß sie sich mit Kaufleuten, den Gebrüdern Konadakow, abgab, sich puderte und schminkte, keifte und zankte?

Wäre es denn nicht möglich, dachte ich mir beim Anblick seines ausgemergelten Gesichts, ihn von hier fortzubringen? Vielleicht gibt es noch eine Möglichkeit, ihn herzustellen … Aber Awenir ließ mich meinen Gedanken nicht zu Ende sprechen.

»Nein, Bruder, danke«, sagte er, »es ist ganz gleich, wo ich sterbe. Den Winter erlebe ich ja nicht mehr … Warum umsonst die Leute belästigen? Ich bin an dieses Haus gewöhnt. Die hiesige Herrschaft ist zwar …«

»Sind sie böse?« unterbrach ich ihn.

»Nein, nicht böse, aber wie Holzklötze sind die Leute. Übrigens darf ich mich über sie nicht beklagen. Es gibt auch Nachbarn hier: Der Gutsbesitzer Kaßtkin hat eine Tochter, ein gebildetes, freundliches, herzensgutes Mädchen … gar nicht stolz …»

Sorokoumow bekam wieder einen Hustenanfall.

»Das würde alles gar nichts machen«, führ er fort, als der Anfall vorüber war, »wenn man mir nur erlaubte, ein Pfeifchen zu rauchen!« fügte er mit einem listigen Blick hinzu. »Ich habe, Gott sei Dank, genug gelebt und mit guten Menschen verkehrt …«

»Du solltest doch deinen Verwandten schreiben«, unterbrach ich ihn.

»Was soll ich ihnen schreiben? Helfen werden sie mir nicht, und wenn ich sterbe, so werden sie es erfahren. Aber was soll man davon sprechen? Erzähle mir lieber, was du im Ausland gesehen hast.«

Ich begann ihm zu erzählen. Er bohrte seine Augen in mich. Am Abend fuhr ich fort, und nach etwa zehn Tagen erhielt ich folgenden Brief von Herrn Krupjannikow:

Hiermit habe ich die Ehre, Sie, sehr geehrter Herr, zu benachrichtigen, daß Ihr Freund, der in meinem Hause lebende Student Herr Awenir Sorokoumow vorvorgestern um zwei Uhr nachmittags verschieden ist und heute in meiner Gemeindekirche auf meine Kosten beerdigt wurde. Er bat mich, Ihnen die beifolgenden Bücher und Hefte zu übermitteln. An Geld hinterließ er zweiundzwanzigundeinhalb Rubel, die mit seinen übrigen Sachen seinen Verwandten zugestellt werden. Ihr Freund ist bei vollem Bewußtsein gestorben, und man kann wohl sagen, mit ebenso vollkommener Gleichgültigkeit, ohne irgendwelches Bedauern zu äußern, selbst als meine ganze Familie von ihm Abschied nahm. Meine Gattin, Kleopatra Alexandrowna, läßt Sie grüßen. Der Tod Ihres Freundes blieb nicht ohne Wirkung auf ihre Nerven; was aber mich betrifft, so bin ich, Gott sei Dank, gesund und habe die Ehre, zu verbleiben

Ihr ergebenster Diener

Gur Krupjannikow.

Es kommen mir noch viele andere Beispiele in den Sinn, aber ich kann sie nicht alle aufzählen. Ich will mich auf nur noch eines beschränken. In meiner Gegenwart starb einmal eine alte Gutsbesitzerin. Der Priester las an ihrem Bett die Sterbegebete; als er plötzlich merkte, daß die Kranke wirklich in den letzten Zügen war, reichte er ihr schnell das Kreuz zum Kuß. Die Gutsbesitzerin rückte mißvergnügt von ihm weg. »Warum eilst du so sehr, Hochwürden«, sagte sie mit erstarrender Zunge, »du hast noch Zeit …« Sie küßte das Kreuz, versuchte noch die Hand unter das Kopfkissen zu stecken und gab den Geist auf. Unter dem Kissen lag ein Silberrubel: Sie hatte den Priester für ihr eigenes Sterbegebet bezahlen wollen …

Ja, merkwürdig sterben die Russen!


Die Sänger


Das kleine Dorf Kolotowka, das einst einer Gutsbesitzerin gehört hatte, die man wegen ihres Mutes und ihrer Schlagfertigkeit in der ganzen Umgegend die Kratzbürste nannte (ihr wahrer Name blieb unbekannt), und das jetzt irgendeinem Petersburger Deutschen gehört, liegt am Abhang eines kahlen Hügels, der von oben bis unten durch eine schauerliche Kluft gespalten ist, welche, wie ein Abgrund gähnend, aufgewühlt und ausgespült, sich mitten durch die Straße schlängelt und weit gründlicher als ein Fluß – über einen Fluß kann man wenigstens eine Brücke schlagen – die beiden Hälften des armen Dörfchens voneinander trennt. Einige magere Bachweiden lassen sich ängstlich an ihren sandigen Abhängen herab, und auf dem Grund, der trocken und gelb wie Messing ist, liegen ungeheure flache Platten lehmigen Gesteins. Ein unerfreuliches Bild, das muß man schon sagen, und doch ist der Weg nach Kolotowka allen Bewohnern der Umgegend bekannt: Sie fahren oft und gern hin.

Ganz am Kopf der Kluft, einige Schritt von dem Punkt, wo sie als schmaler Spalt beginnt, steht ein kleines, viereckiges Häuschen; es steht einsam, abseits von den andern. Es ist mit Stroh gedeckt und hat einen Schornstein; ein Fenster ist wie ein wachsames Auge der Kluft zugewandt; es ist an Winterabenden, von innen erleuchtet, im trüben Frostnebel weit sichtbar und leuchtet gar manchem vorbeifahrenden Bauern als Leitstern. Über der Tür des Häuschens ist ein blaues Brettchen angenagelt: Dieses Häuschen ist eine Schenke mit dem Namen Pritynnyj. In dieser Schenke wird der Schnaps wohl nicht billiger als zum vorgeschriebenen Preis verkauft, sie wird aber doch viel fleißiger besucht als alle ähnlichen Anstalten in der ganzen Umgegend. Der Grund dafür ist der Schenkwirt Nikolai Iwanytsch.

Nikolai Iwanytsch, einst ein schlanker, lockiger und rotbackiger Bursche, jetzt aber ein ungewöhnlich dicker, schon ergrauter Mann mit fettem, aufgedunsenem Gesicht, listig gutmütigen Äuglein und einer fleischigen Stirne, die von Runzeln wie von Fäden durchzogen ist, lebt schon länger als zwanzig Jahre in Kolotowka. Nikolai Iwanytsch ist, wie die meisten Schenkwirte, ein rühriger und kluger Mann. Ohne sich durch besondere Liebenswürdigkeit oder Gesprächigkeit auszuzeichnen, hat er die Gabe, die Gäste anzuziehen und festzuhalten, und diesen ist es irgendwie angenehm, vor seinem Schenktisch, unter dem ruhigen und freundlichen, wenn auch scharfen Blick des phlegmatischen Wirtes zu sitzen. Er hat viel gesunden Menschenverstand; er kennt gut die Lebensverhältnisse der Gutsbesitzer, auch der Bauern und der Kleinbürger; in schwierigen Fällen könnte er wohl einen gar nicht dummen Rat geben, aber als vorsichtiger Egoist zieht er es doch vor, sich in nichts einzumischen und nur durch entfernte, gleichsam ohne jede Absicht hingeworfene Andeutungen seine Gäste – und zwar nur die von ihm bevorzugten – auf den richtigen Weg zu leiten. Er versteht sich auf alles, was einem Russen wichtig oder interessant ist: auf Pferde und Vieh, auf Wald, Ziegelsteine und Geschirr, auf Leder- und Schnittwaren, auf Gesang und Tanz. Wenn er keinen Besuch hat, sitzt er gewöhnlich wie ein Sack auf der Erde vor der Tür seines Hauses, die dünnen Beinchen untergeschlagen, und wechselt mit allen Vorübergehenden freundliche Worte. Vieles hat er in seinem Leben gesehen und manches Dutzend kleiner Edelleute überlebt, die sich von ihm ›gereinigten‹ Branntwein holten; er weiß alles, was hundert Werst im Umkreis geschieht, verplaudert sich aber nie und zeigt nicht einmal die Miene, daß ihm manches bekannt ist, was selbst der scharfsichtigste Polizeibeamte nicht vermutet. Er schweigt nur, lächelt und hantiert mit seinen Schnapsgläsern. Die Nachbarn achten ihn: Der Zivilgeneral Schtscherepetenko, der im Range am höchsten stehende Gutsbesitzer des Kreises, grüßt ihn herablassend, sooft er an seinem Häuschen vorüberfährt. Nikolai Iwanytsch ist ein einflußreicher Mann; einmal zwang er einen bekannten Pferdedieb, ein Pferd zurückzugeben, das jener aus dem Hof eines seiner Bekannten gestohlen hatte; ein anderes Mal brachte er die Bauern eines Nachbargutes, die einen neuen Verwalter nicht aufnehmen wollten, zur Vernunft usw. Übrigens glaube man ja nicht, daß er es aus Liebe für die Gerechtigkeit, aus Eifer für seine Nächsten getan habe, nein! Er bemühte sich einfach, alles zu verhüten, was irgendwie seine Ruhe stören konnte. Nikolai Iwanytsch ist verheiratet und hat Kinder. Seine Frau, eine flinke Kleinbürgerin mit spitzer Nase und lebhaften Augen, ist in der letzten Zeit gleich ihrem Manne etwas zu dick geworden. Er verläßt sich auf sie in allen Dingen, und sie hat das Geld in Verwahrung. Die lärmenden Betrunkenen fürchten sie; sie mag sie nicht; sie bringen wenig ein, machen aber viel Geschrei; die Schweigsamen und Düsteren sind mehr nach ihrem Geschmack. Die Kinder Nikolai Iwanytschs sind noch klein; die ersten waren früh gestorben, die übriggebliebenen aber den Eltern nachgeartet, es ist ein Vergnügen, die klugen Gesichter dieser gesunden Kinder anzuschauen.

Es war ein unerträglich heißer Julitag, als ich, langsam die Beine bewegend, mit meinem Hund an der Kluft von Kolotowka entlang zu der Pritynnyj-Schenke hinaufging. Die Sonne brannte am Himmel wie wütend, es war drückend schwül, und die Luft war von glühendem Staub erfüllt. Die glänzenden Krähen und Dohlen blickten die Vorbeigehenden mit offenen Schnäbeln an, als flehten sie um Teilnahme; die Spatzen allein jammerten nicht und zwitscherten mit gesträubten Federn noch lauter als zuvor; sie kämpften an den Zäunen, flogen haufenweise von der staubigen Straße auf und schwebten als graue Wolken über den grünen Hanffeldern. Mich quälte der Durst. In der Nähe gab es kein Wasser; in Kolotowka, wie in den meisten Steppendörfern, trinken die Bauern in Ermangelung von Quellen und Brunnen einen flüssigen Schmutz aus dem Teich … Wer wird aber dieses ekelhafte Getränk Wasser nennen? Ich wollte mir von Nikolai Iwanytsch ein Glas Bier oder Kwaß geben lassen.

Aufrichtig gesagt, bietet Kolotowka zu gar keiner Jahreszeit einen erfreulichen Anblick; einen besonders traurigen Eindruck macht aber das Dorf, wenn die grelle Julisonne mit ihren erbarmungslosen Strahlen die braunen, halbzerfallenen Hausdächer übergießt, diese tiefe Kluft, die verbrannte, staubige Viehweide, auf der hoffnungslos einige magere, langbeinige Hühner herumirren, das graue Gehäuse aus Espenbalken mit Löchern statt Fenster – den von Brennesseln, Steppengras und Wermut überwucherten Überrest des einstigen Herrenhauses, den mit Gänseflaum bedeckten, schwarzen, gleichsam glühenden Teich mit seinem Saum aus halbeingetrocknetem Schmutz und seinem Damm, der sich auf die Seite geneigt hat und neben dem auf der feinzerstampften, aschgrauen Erde sich die Schafe, vor Hitze niesend und kaum atmend, traurig aneinanderdrängen und die Köpfe geduldig so tief wie möglich senken, als ob sie warteten, daß diese unerträgliche Hitze endlich aufhöre. Mit müden Schritten näherte ich mich der Behausung Nikolai Iwanytschs und erregte durch mein Erscheinen, wie gewöhnlich, bei den Kindern ein Erstaunen, das an gespanntes, sinnloses Starren grenzte, und bei den Hunden eine Entrüstung, die sich in einem dermaßen heiseren und bösen Gebell äußerte, daß man den Eindruck hatte, als rissen sie sich alle ihre Eingeweide heraus, und daß sie selbst dann husteten und um Atem rangen, als plötzlich auf der Schwelle der Schenke ein Mann von hohem Wuchs erschien, ohne Mütze, in einem Friesmantel, der tief unten von einem blauen Gürtel zusammengehalten war. Dem Aussehen nach mochte er dem leibeigenen Hofgesinde angehören; das dichte graue Haar erhob sich unordentlich über dem trockenen, runzligen Gesicht.

Er rief, jemandem, indem er schnell mit den Armen winkte – wobei er augenscheinlich viel weiter ausholte, als er es selbst wollte. Es war ihm anzusehen, daß er schon etwas getrunken hatte.

»Komm doch, komm!« lallte er, mit Mühe seine dichten Brauen hebend. »Komm, Morgatsch, komm! Wie schleppst du dich bloß, Bruder! Das ist nicht schön, Bruder. Man wartet hier auf dich, und du schleppst dich so … Komm!«

»Nun, ich komme, ich komme«, erklang eine zitternde Stimme, und rechts hinter dem Haus erschien ein kleiner dicker und hinkender Mann. Er trug eine ziemlich saubere Tuchjoppe, die auf einem Ärmel angezogen war; die hohe, spitze Mütze, die ihm dicht über den Brauen saß, verlieh seinem runden und gedunsenen Gesicht einen listigen und spöttischen Ausdruck. Seine kleinen gelben Augen schweiften umher, die feinen Lippen umspielte ein gespanntes, gezwungenes Lächeln, und die spitze, lange Nase ragte frech wie ein Steuerruder aus seinem Gesicht. »Ich komme, Liebster«, fuhr er fort, indem er auf die Schenke zuhumpelte. »Warum rufst du mich …? Wer wartet auf mich?«

»Warum ich dich rufe?« sagte vorwurfsvoll der Mann in dem Friesmantel. »Was bist du für ein merkwürdiger Mensch, Morgatsch; man ruft dich in die Schenke, und du fragst, wozu. Auf dich warten aber lauter gute Menschen: Jaschka, der Türke, der Wilde Herr, und der Bauführer aus Schisdra. Jaschka und der Bauführer haben miteinander gewettet um ein Achtel Bier: wer den anderen besiegt, das heißt, wer besser singt … verstehst du?«

»Wird Jaschka singen?« fragte der Mann, den man Morgatsch nannte, lebhaft. »Lügst du auch nicht, Obaldui?«

»Ich lüge nicht«, antwortete Obaldui mit Würde. »Aber du fragst darum. Er wird wohl singen, wenn er gewettet hat, du Marienkäferchen, du Spitzbube, Morgatsch!« »Also gehen wir, Narr«, entgegnete Morgatsch.

»Küß mich wenigstens, meine liebe Seele«, lallte Obaldui, seine Arme öffnend.

»Sieh mal an, du zärtlicher Äsop«, antwortete Morgatsch verächtlich, indem er ihn mit dem Ellenbogen zurückstieß, und beide traten gebückt in die niedere Tür.

Das Gespräch, das ich hörte, erregte lebhaft meine Neugier. Schon mehr als einmal hatte ich von Jaschka dem Türken als dem besten Sänger im ganzen Kreis gehört, und plötzlich bot sich mir die Gelegenheit, ihn im Wettstreit mit einem anderen Meister zu hören. Ich verdoppelte meine Schritte und trat in die Schenke.

Es haben wohl nur wenige von meinen Lesern die Gelegenheit gehabt, einen Blick in eine Dorfschenke zu werfen; aber unsereins, der Jäger – wo kommt er nicht überall hin! Die Einrichtung so einer Schenke ist außerordentlich einfach. Sie besteht gewöhnlich aus einem dunklen Flur und einer besseren Stube, die durch einen Verschlag in zwei Teile geteilt ist; niemand von den Besuchern darf hinter diesen Verschlag treten. In diesen Verschlag ist über einem breiten, eichenen Tisch eine große breite Öffnung eingeschnitten. Auf diesem Tisch wird der Branntwein ausgeschenkt. Versiegelte Branntweinflaschen verschiedener Größe stehen nebeneinander auf Borden, der Öffnung gegenüber. In der vorderen Hälfte der Stube, die für die Gäste bestimmt ist, befinden sich Bänke, zwei oder drei leere Fässer und ein Ecktisch. Die Dorfschenken sind meistens ziemlich dunkel, und man wird an den aus Balken gezimmerten Wänden nie irgendwelche bunt ausgemalten Bilderbogen finden, die sonst kaum in einem Bauernhaus fehlen.

Als ich in die Pritynnyj-Schenke trat, befand sich da schon eine ziemlich große Gesellschaft.

Hinter dem Schenktisch stand, die ganze Breite der Öffnung einnehmend, Nikolai Iwanytsch in einem bunten Kattunhemd und schenkte mit einem trägen Lächeln auf den dicken Wangen mit seiner vollen, weißen Hand zwei Glas Branntwein, für die eintretenden Freunde Morgatsch und Obaldui ein; hinter ihm am Fenster in der Ecke sah man seihe Frau mit ihren lebhaften Augen. In der Mitte der Stube stand Jaschka der Türke, ein hagerer, schlanker Mann von dreiundzwanzig Jahren, bekleidet mit einem Kaftan aus blauem Nanking. Er sah wie ein fixer Fabrikarbeiter aus und schien sich keiner hervorragenden Gesundheit rühmen zu können. Seine eingefallenen Wangen, seine großen, unruhigen grauen Augen, die gerade Nase mit den feinen, beweglichen Flügeln, die weiße, abschüssige Stirn mit den zurückgeworfenen hellblonden Locken, die dicken, aber schönen und ausdrucksvollen Lippen – sein ganzes Gesicht zeugte von einem leicht erregbaren und leidenschaftlichen Temperament. Er war in großer Aufregung: Er zwinkerte mit den Augen, atmete unregelmäßig, seine Hände zitterten wie im Fieber – und er hatte auch wirklich Fieber, jenes plötzliche Fieber der Unruhe, das allen Menschen, die vor einer Versammlung sprechen oder singen, so gut bekannt ist. Neben ihm stand ein etwa vierzigjähriger Mann mit breiten Schultern und breiten Backenknochen, einer niederen Stirn, tatarischen Schlitzaugen, einer kurzen, flachen Nase, einem viereckigen Kinn und schwarzen, glänzenden, borstenähnlichen Haaren. Den Ausdruck seines dunklen Gesichts mit dem bleigrauen Schimmer, besonders seiner bleichen Lippen, könnte man grausam nennen, wenn er dabei nicht so ruhig und versonnen wäre. Er bewegte sich fast nicht und blickte nur langsam um sich wie ein Stier unter dem Joch. Er trug irgendeinen alten Rock mit glatten Messingknöpfen; ein altes schwarzes Seidentuch umschlang seinen starken Hals. Man nannte ihn den Wilden Herrn. Ihm gerade gegenüber saß auf der Bank unter den Heiligenbildern Jaschkas Gegner, der Bauführer aus Schisdra; dieser war ein Mann von etwa dreißig Jahren, pockennarbig und kraushaarig, mit einer aufgeworfenen, stumpfen Nase, lebhaften braunen Augen und einem dünnen Bärtchen. Er blickte verwegen um sich, hatte die Hände unter sich gesteckt und baumelte und klopfte sorglos mit seinen Füßen, die in eleganten, mit Band besetzten Stiefeln staken. Er trug einen neuen Kittel aus feinem grauem Tuch mit einem Plüschkragen, von dem sich der Saum des roten Hemdes, das am Halse fest zugeknöpft war, scharf abhob. In der Ecke gegenüber, rechts von der Tür, saß am Tisch ein Bäuerlein in einem engen, abgetragenen Kittel mit einem Riesenloch auf der Schulter; Das Sonnenlicht drang als ein flüssiger gelblicher Strom durch die verstaubten Scheiben der beiden kleinen Fenster und schien die gewohnte Dunkelheit des Zimmers nicht besiegen zu können: Alle Gegenstände waren spärlich, fleckenweise beleuchtet; dafür war es in der Stube fast kühl, und das Gefühl der Schwüle und Hitze fiel mir wie eine schwere Last von den Schultern, sobald ich über die Schwelle trat.

Mein Erscheinen – das konnte ich merken – brachte die Gäste Nikolai Iwanytschs anfangs in einige Verlegenheit; als sie aber sahen, daß er mich wie einen Bekannten begrüßte, beruhigten sie sich und schenkten mir keine weitere Aufmerksamkeit. Ich ließ mir Bier geben und setzte mich in die Ecke neben das Bäuerlein im zerrissenen Kittel. »Na«, schrie plötzlich Obaldui auf, nachdem er ein Glas Branntwein auf einen Zug geleert hatte, und begleitete diesen Ausruf mit jenem sonderbaren Fuchteln mit den Händen, ohne das er anscheinend kein einziges Wort zu sprechen pflegte, »was sollen wir noch warten? Wenn wir anfangen wollen, so müssen wir anfangen. Nun, Jasdika …?«

»Anfangen, anfangen«, fiel ihm Nikolai Iwanytsch zustimmend ins Wort.

»Gut, fangen wir meinetwegen an«, versetzte der Bauführer kaltblütig mit einem selbstbewußten Lächeln. »Ich bin fertig.«

»Auch ich bin fertig«, sagte Jakow aufgeregt.

»Nun, fangt doch an, Kinderchen, fangt an«, piepste Morgatsch.

Aber trotz des einstimmig geäußerten Wunsches fing niemand an; der Bauführer erhob sich nicht einmal von seiner Bank – alle schienen noch auf etwas zu warten.

»Fang an!« sagte scharf und düster der Wilde Herr.

Jakow fuhr zusammen. Der Bauführer erhob sich, schob seinen Gürtel hinunter und räusperte sich.

»Wer soll aber anfangen?« fragte er mit leicht veränderter Stimme den Wilden Herrn, der immer noch unbeweglich mitten in der Stube stand, die dicken Beine breit auseinandergespreizt und die mächtigen Hände fast bis an die Ellenbogen in die Hosentaschen vergraben.

»Du, du, Bauführer«, lallte Obaldui, »du, Bruder!«

Der Wilde Herr sah ihn finster an. Obaldui gab einen leisen, piepsenden Ton von sich, wurde verlegen, blickte auf einen Punkt an der Decke, zuckte die Achseln und verstummte.

»Man werfe ein Los«, sagte der «Wilde Herr gedehnt, »und das Achtel Bier auf den Schenktisch!«

Nikolai Iwanytsch bückte sich, hob ächzend das Achtel vom Boden und stellte es auf den Tisch.

Der Wilde Herr sah Jakow an und sagte: »Nun!«

Jakow wühlte in seinen Taschen, holte einen Kupfergroschen hervor und machte mit dem Zahn ein Zeichen darauf. Der Bauführer holte unter dem Schoß seines Kaftans einen neuen Lederbeutel hervor, band ohne Übereilung die Schnur auf, schüttete einen Haufen Kleingeld auf die Hand und suchte einen neuen Groschen heraus. Obaldui hielt seine abgetragene Mütze mit dem gebrochenen und abstehenden Schirm hin; Jakow warf seinen Groschen hinein, und der Bauführer seinen.

»Du hast zu ziehen«, sagte der Wilde Herr zu Morgatsch. Morgatsch lächelte selbstzufrieden, nahm die Mütze in die beiden Hände und begann sie zu schütteln.

Augenblicklich trat eine tiefe Stille ein: die Groschen klirrten, aneinanderschlagend, leise. Ich sah mich aufmerksam um: Alle Gesichter drückten eine gespannte Erwartung aus; der Wilde Herr selbst kniff die Augen zusammen; sogar mein Nachbar, der Bauer im zerrissenen Kittel, reckte neugierig den Hals. Morgatsch steckte die Hand in die Mütze und holte den Groschen des Bauführers hervor; alle atmeten auf. Jakow errötete, und der Bauführer strich sich mit der Hand das Haar.

»Ich hab' doch gesagt, daß du anfangen sollst«, rief Obaldui, »ich hab' es dir doch gesagt!«

»Nun, nun, krächze nicht!« bemerkte verächtlich der Wilde Herr. »Fang an«, fuhr er fort, mit dem Kopf dem Bauführer zunickend.

»Was für ein Lied soll ich denn singen?« fragte der Bauführer, in Erregung geratend.

»Welches du willst«, antwortete Morgatsch. »Was für ein Lied dir einfällt, das sing.«

»Natürlich, welches du willst«, fügte Nikolai Iwanytsch hinzu, die Hände langsam auf der Brust faltend. »Das kann dir niemand vorschreiben. Sing ein Lied, das du willst; sing aber gut; wir werden nachher nach unserem Gewissen entscheiden.«

»Natürlich, nach unserem Gewissen«, fiel Obaldui ein und leckte am Rande seines leeren Glases.

»Brüder, laßt mir noch etwas Zeit, daß ich mich räuspere«, sagte der Bauführer, mit den Händen am Kragen seines Kaftans nestelnd.

»Nun, nun, mach keine langen Geschichten, fang an!« entschied der Wilde Herr und senkte den Kopf.

Der Bauführer dachte eine Weile nach, schüttelte die Haare und trat vor, Jakow heftete auf ihn seine Augen …

Bevor ich aber mit der Beschreibung des Wettstreites beginne, halte ich es nicht für überflüssig, einige Worte von jeder der handelnden Personen meiner Erzählung zu sagen. Das Leben einiger von ihnen war mir schon bekannt, als ich sie in der Pritynnyj-Schenke traf; über die anderen zog ich erst später Erkundigungen ein.

Wollen wir mit Obaldui anfangen. Dieser Mensch hieß eigentlich Jewgraf Iwanow, aber im ganzen Kreis nannte ihn niemand anders als Obaldui, und auch er selbst titulierte sich mit diesem Spitznamen, so gut paßte er zu ihm. Und in der Tat, er stand gut zu seinen nichtssagenden, immer aufgeregten Gesichtszügen. Er war ein verbummelter, unverheirateter Leibeigener aus dem Hausgesinde, den seine eigene Herrschaft schon längst aufgegeben hatte und der, ohne irgendein Amt zu versehen und ohne einen Groschen Gehalt zu beziehen, dennoch Mittel fand, jeden Tag auf fremde Rechnung zu bummeln. Er hatte eine Menge Bekannte, die ihn mit Branntwein und Tee traktierten, ohne selbst zu wissen, warum; denn er war in Gesellschaft nicht nur nicht unterhaltend, sondern langweilte alle mit seinem albernen Geschwätz, mit seiner unerträglichen Zudringlichkeit, seinen fieberhaften Gebärden und dem unaufhörlichen, unnatürlichen Lachen. Er verstand weder zu singen noch zu tanzen. Zeit seines Lebens hatte er kein einziges kluges, nicht einmal ein halbwegs vernünftiges Wort gesprochen, er faselte nur und log das Blaue vom Himmel herunter – ein wirklicher Obaldui. Und doch konnte vierzig Werst im Umkreis kein einziges Trinkgelage stattfinden, ohne daß sich seine lange, hagere Gestalt unter den Gästen bewegte – so sehr hatte man sich an ihn gewöhnt und ertrug seine Gegenwart wie ein unvermeidliches Übel. Allerdings behandelte man ihn mit Verachtung, aber seine sinnlosen Ausfälle zu bändigen verstand nur der Wilde Herr.

Morgatsch glich in keiner Weise dem Obaldui. Auch ihm stand sein Spitzname Morgatsch gut, obwohl er mit den Augen nicht mehr zwinkerte als alle anderen Menschen; das russische Volk ist bekanntlich ein Meister im Erfinden von Spitznamen. Trotz meiner Bemühungen, die Vergangenheit dieses Menschen genauer zu erforschen, blieben für mich – wahrscheinlich auch für viele andere – in seinem Leben viele dunkle Punkte, oder, wie sich die Büchermenschen ausdrücken, in undurchdringliche Finsternis gehüllte Stellen. Ich hatte nur erfahren, daß er früher einmal Kutscher bei einer alten, kinderlosen Dame gewesen und mit der ihm anvertrauten Troika durchgebrannt war; nachdem er ein ganzes Jahr verschollen war und sich wohl durch Erfahrung von den Schattenseiten und dem Elend des Vagabundenlebens überzeugt hatte, kehrte er von selbst, jedoch lahm zurück, warf sich seiner Herrin zu Füßen, machte durch sein musterhaftes Betragen während einiger Jahre sein Verbrechen wieder gut und erwarb ihre Gunst und ihr volles Vertrauen, so daß er Verwalter wurde und sich nach dem Tode seiner Herrin, man weiß nicht recht auf welche Weise, als Freigelassener auswies; er ließ sich als Kleinbürger einschreiben, fing an, von den Nachbarn Gurkenfelder zu pachten, wurde reich und lebte nun ohne Sorgen. Er war ein erfahrener, vorsichtiger Mann, weder gut noch böse, eher berechnend; ein geriebener Kerl, der die Menschen kennt und sie auszunützen versteht. Er ist vorsichtig und zugleich unternehmungslustig wie ein Fuchs, geschwätzig wie ein altes Weib, verplaudert sich aber nie, sondern läßt jeden andern sich verplaudern. Übrigens spielt er nicht den Dummen, wie es manche Schlauköpfe seiner Art tun; ich habe noch nie im Leben durchdringendere und klügere Augen gesehen als seine winzigen, listigen ›Gucklöcher‹. Sie blickten niemals einfach vor sich hin, sondern schauten immer aus und lauerten. Morgatsch überlegt sich manchmal wochenlang ein scheinbar ganz einfaches Unternehmen, läßt sich dann plötzlich auf eine verzweifelt riskante Sache ein, bei der er sich wohl den Hals brechen müßte … aber eh man sich's versieht, gelingt ihm alles, und alles geht wie geschmiert. Er ist glücklich und glaubt an sein Glück, er glaubt auch an allerlei Vorbedeutungen. Er ist überhaupt sehr abergläubisch. Man liebt ihn nicht, da er sich selbst um niemand kümmert, man hat aber vor ihm Respekt. Seine ganze Familie besteht aus einem einzigen Söhnchen, das er abgöttisch liebt und das, von einem solchen Vater erzogen, gewiß weit kommen wird. »Der kleine Morgatsch ist ganz seinem Vater nachgeraten«, sagen schon jetzt die alten Leute leise von ., ihm, wenn sie an Sommerabenden auf den Bänken sitzen und miteinander reden; alle verstehen, was das bedeutet und fügen kein Wort mehr hinzu.

Über Jakow den Türken und den Bauführer brauche ich mich nicht zu verbreiten. Jakow, der Türke genannt wird, weil er tatsächlich von einer gefangenen Türkin abstammt, ist innerlich ein Künstler in jedem Sinne, seinem Beruf nach aber ein Büttgesell in der Papierfabrik eines Kaufmanns; was den Bauführer angeht, dessen Schicksal mir, offen gestanden, unbekannt blieb, so erschien er mir als ein schlauer und rühriger städtischer Kleinbürger. Aber über den Wilden Herrn lohnt es sich wohl, etwas ausführlicher zu sprechen.

Der erste Eindruck, den der Anblick dieses Menschen macht, ist der einer rohen, schweren, aber unüberwindlichen Kraft. Er ist vierschrötig gebaut, atmet eine unerschütterliche Gesundheit, und seine Bärengestalt entbehrt seltsamerweise nicht einer eigenartigen Grazie, die vielleicht auf seinem vollkommen ruhigen Vertrauen auf die eigene Macht beruht. Es war schwer, auf den ersten Blick zu bestimmen, welchem Stand dieser Herkules angehörte; er glich weder einem Leibeigenen noch einem Kleinbürger, noch einem verarmten verabschiedeten Schreiber, noch einem ruinierten kleinen Edelmann, einem Hundenarren und Raufbold; er war etwas ganz für sich. Niemand wußte, woher er in unseren Landkreis hereingeschneit war; man erzählte sich, er stamme von Einhöfern ab und habe früher einmal irgendwo gedient; aber man wußte nichts Bestimmtes darüber; man konnte es ja auch von niemandem erfahren, jedenfalls nicht von ihm selbst; es; gab keinen schweigsameren und düstereren Menschen auf der Welt. Ebenso konnte niemand etwas Bestimmtes darüber sagen, wovon er lebte; er trieb kein Handwerk, fuhr zu niemandem hin und verkehrte fast mit niemandem; und doch hatte er Geld, wenn auch nicht viel, aber immerhin etwas. Er benahm sich nicht gerade bescheiden – Bescheidenheit war ihm überhaupt fremd – , aber ruhig; er lebte, als wenn er niemanden um sich herum bemerkte und absolut keines ›Menschen bedurfte. Der Wilde Herr (das war sein Spitzname, eigentlich hieß er Perewljessow) hatte einen großen Einfluß im ganzen Landkreis; man gehorchte ihm sofort und gern, obwohl er nicht nur nicht das geringste Recht hatte, jemand zu befehlen, sondern auch gar keinen Anspruch auf den Gehorsam der Menschen erhob, mit denen er zufällig zusammentraf. Er sprach, und man gehorchte ihm – die Kraft behauptet sich immer. Er trank fast niemals Branntwein, gab sich nicht mit Weibern ab und liebte leidenschaftlich den Gesang. In diesem Menschen war viel Rätselhaftes; irgendwelche Riesenkräfte schienen in ihm düster zu schlummern, als wüßten sie, daß sie, wenn sie einmal befreit zum Ausbruch kämen, ihn selbst und alles, was sie berührten, zermalmen würden; ich müßte mich grausam irren, wenn im Leben dieses Menschen nicht schon ein solcher Ausbruch stattgefunden hat und er, durch Erfahrung belehrt und mit Mühe dem Untergang entronnen, sich jetzt nicht selbst unerbittlich in eisernem Zaum hielt. Besonders wunderte mich an ihm das Gemisch einer angeborenen natürlichen Grausamkeit und einer ebenso angeborenen Großherzigkeit – ein Gemisch, wie ich es noch bei keinem Menschen wahrgenommen habe.

Der Bauführer trat also vor, schloß halb die Augen und begann im allerhöchsten Falsett. Seine Stimme war recht angenehm und süß, wenn auch etwas heiser; er ließ diese Stimme wie einen Kreisel spielen, stieg unaufhörlich in die Höhe und in die Tiefe und kehrte unaufhörlich zu den höchsten Noten zurück, die er mit besonderer Sorgfalt anhielt und dehnte; dann verstummte er und ergriff plötzlich die frühere Melodie mit einer herausfordernden, zügellösen Bravour. Seine Passagen waren zuweilen ziemlich kühn, zuweilen recht amüsant; einem Kenner würden sie viel Vergnügen machen, ein Deutscher würde sich über sie entrüsten. Es war ein russischer Tenore di grazia, ténor léger. Er sang ein lustiges Tanzlied, dessen Worte, soviel ich durch die fortwährenden Ausschmückungen, durch die hinzugefügten Konsonanten und Ausrufe erkennen konnte, wie folgt, lauteten:

Werde pflügen, junge Dirne, meinen Acker gut –

werde säen, junge Dirne, Blumen rot wie Blut …

Er sang; alle hörten ihm mit großer Aufmerksamkeit zu. Er fühlte offenbar, daß er es mit Kennern zu tun hatte, und fuhr deshalb, wie man so sagt, aus der Haut. In unserer Gegend versteht man sich in der Tat auf den Gesang, und nicht umsonst ist das Kirchdorf Sergijewskoje an der großen Orjolschen Landstraße in ganz Rußland wegen seines angenehmen und harmonischen Gesanges berühmt. Lange sang der Bauführer, ohne jedoch in seinen Hörern ein besonders starkes Mitgefühl zu wecken. Ihm fehlte die Unterstützung eines Chores; aber bei einer besonders gelungenen Passage, die selbst den Wilden Herrn zum Lächeln brachte, konnte sich Obaldui nicht länger beherrschen und schrie vor Vergnügen auf. Alle wurden lebendig. Obaldui und Morgatsch fingen an, halblaut mitzusingen und zu schreien: »Gut… Höher, du Schelm! Noch höher, halte den Ton, du Schlange! Halte den Ton! Noch, noch, du Hund…! Möge Herodes deine Seele zugrunde richten!« usw. Nikolai Iwanytsch wiegte hinter seinem Schenktisch den Kopf zustimmend nach rechts und nach links. Obaldui begann schließlich mit den Füßen zu stampfen und zu tänzeln und mit der Achsel zu zucken; Jakows Augen glühten aber wie die Kohlen, er zitterte am ganzen Leib wie ein Espenblatt und lächelte wie verstört. Nur der Wilde Herr allein veränderte seinen Gesichtsausdruck nicht und rührte sich nach wie vor nicht von der Stelle; aber sein auf den Bauführer gerichteter Blick wurde etwas milder, obwohl der Ausdruck der Lippen verächtlich blieb. Ermutigt durch die Zeichen allgemeiner Zufriedenheit, geriet der Bauführer in Ekstase und begann solche Kunststücke zu machen, so mit der Zunge zu schnalzen und zu trommeln, so wahnsinnig mit der Gurgel zu spielen, daß, als er schließlich müde, bleich und in heißen Schweiß gebadet sich mit dem ganzen Körper vorbeugte und den letzten ersterbenden Ton losließ, ein allgemeiner einstimmiger Schrei ihm zujubelte. Obaldui warf sich ihm an den Hals und begann ihn mit seinen langen, knochigen Armen zu würgen; auf dem fleischigen Gesicht Nikolai Iwanytschs zeigte sich eine Röte, und er schien auf einmal jünger; Jakow schrie wie verrückt: »Braver Kerl!« Sogar mein Nachbar, der Bauer im zerrissenen Kittel, hielt es nicht länger aus; er schlug mit der Faust auf den Tisch, rief: »Ah! Gut, hol' dich der Teufel, gut!« und spuckte entschieden auf die Seite.

»Na, Bruder, du hast uns erfreut!« schrie Obaldui, ohne den erschöpften Bauführer aus seinen Armen zu lassen. »Du hast uns erfreut, das muß man sagen! Du hast gewonnen, Bruder, du hast gewonnen! Ich gratuliere, das Achtel ist dein! Jaschka reicht an dich nicht heran … Ich sage es dir, er reicht gar nicht heran … Glaub es mir!« Und er drückte den Bauführer an seine Brust.

»Laß ihn doch los, laß ihn doch los, du Klette …«, sagte geärgert Morgatsch. »Laß ihn sich auf die Bank setzen, siehst, er ist müde…! Was bist du für ein Schafskopf, Bruder! Was klebst du an ihm wie ein Birkenblatt vom Badebesen?«

»Nun, soll er sich nur setzen, ich trinke aber auf seine Gesundheit«, sagte Obaldui und ging zum Schenktisch. »Auf deine Rechnung, Bruder«, fügte er hinzu, zum Bauführer gewandt.

Jener nickte mit dem Kopf, setzte sich auf die Bank, holte aus der Mütze ein Handtuch und begann sich das Gesicht abzuwischen; Obaldui trank indessen mit hastiger Gier ein Glas aus, wobei er nach Art der Gewohnheitstrinker krächzte und traurig und besorgt um sich blickte.

»Du sings gut, Bruder, gut«, bemerkte Nikolai Iwanytsch freundlich. »Jetzt bist du an der Reihe, Jascha, paß auf, daß dir nicht die Courage ausgeht. Wollen wir sehen, wer wen übertrifft … Wollen wir sehen . .. Aber der Bauführer singt gut, bei Gott, gut.«

»Sehr gut«, bemerkte die Frau Nikolai Iwanytschs, mit einem Lächeln auf Jakow blickend.

»Gut!« wiederholte halblaut mein Nachbar.

»Ach du, verdächtiger Poljeche!« brüllte plötzlich Obaldui; dann trat er zu dem Bauern mit dem Loch an der Schulter, deutete mit dem Finger auf ihn, begann zu hüpfen und brach in ein zittriges Lachen, aus. »Poljeche! Poljeche! Ga badje panjaj, du Verdächtiger! Warum bist du hergekommen?« schrie er lachend.

Der arme Bauer wurde verlegen und wollte schon aufstehen und schnell fortgehen, als plötzlich die eherne Stimme des Wilden Herrn erklang. »Was ist das für ein unerträgliches Vieh!« versetzte er, mit den Zähnen knirschend.

»Ich tue nichts«, murmelte Obaldui, »ich tue nichts … ich habe nur so …«

»Also gut, schweig!« entgegnete der Wilde Herr. »Jakow, fang an!«

Jakow griff sich mit der Hand an die Gurgel.

»Ich weiß nicht, Bruder, es ist etwas … Hm … Ich weiß wirklich nicht …«

»Hör auf und verlier nicht die Courage. Schäme dich … ! Was machst du für Geschichten … ? Sing, wie Gott dir befiehlt.«

Und der Wilde Herr senkte erwartungsvoll das Gesicht.

Jakow schwieg eine Weile, sah sich um und bedeckte sich das Gesicht mit der Hand. Alle verschlangen ihn mit den Augen, besonders der Bauführer, dessen Gesicht neben der gewohnten Sicherheit und Siegesgewißheit auch eine unwillkürliche leichte Unruhe zeigte. Er lehnte sich an die Wand, steckte wieder beide Hände unter sich, baumelte aber nicht mehr mit den Füßen. Und als Jakow endlich sein Gesicht enthüllte, war es bleich wie das eines Toten, und die Augen leuchteten kaum durch die gesenkten Wimpern. Er holte tief Atem und begann zu singen … Der erste Ton seiner Stimme war schwach und ungleichmäßig und schien nicht aus seiner Brust zu kommen, sondern aus der Ferne, als hätte er sich zufällig in die Stube verirrt. Seltsam wirkte dieser zitternde, klingende Ton auf uns alle; wir sahen einander an, und die Frau Nikolai Iwanytschs richtete sich auf. Diesem ersten Ton folgte ein zweiter, sicherer und getragener, aber immer noch zitternd wie eine Saite, die unter einem starken Finger plötzlich erklingend, ihre letzten Schwingungen ersterben läßt; dem zweiten Ton folgte ein dritter, und das schwermütige Lied floß immer wärmer und breiter dahin. Er sang: »Nicht ein Weglein ist im Felde«, und uns allen wurde es süß und so bang ums Herz. Ich muß gestehen: Selten habe ich eine solche Stimme gehört. Sie klang wie gesprungen, anfangs sogar etwas krankhaft, aber es lag in ihr eine unverfälschte tiefe Leidenschaft, Jugend, Kraft, Süße und eine eigentümliche, hinreißend sorglose Sehnsucht und Trauer. Die wahre, heiße Russenseele klang und atmete darin und griff einen ans Herz, rührte an den russischen Saiten. Das Lied schwoll an und wuchs. Jakow geriet sichtlich in Begeisterung; er fürchtete sich nicht mehr, er gab sich ganz seinem Glücke hin; seine Stimme bebte nicht mehr, sie zitterte, aber nur von jener kaum merklichen inneren Leidenschaft, die sich wie ein Pfeil in die Seele des Hörers bohrt; sie erstarkte fortwährend, wurde sicherer und mächtiger. Ich erinnere mich, wie ich einmal abends während der Ebbe auf einem flachen, sandigen Ufer des Meeres, das drohend und schwer in der Ferne brauste, eine große weiße Möwe sah; sie saß unbeweglich, die seidige Brust dem blutroten Schein des Abendrotes zugewendet, und breitete nur ab und zu ihre langen Flügel langsam dem ihr vertrauten Meer, der tief stehenden dunkelroten Sonne entgegen; als ich Jakow zuhörte, kam sie mir in den Sinn. Er sang, ohne an seinen Gegner und an uns alle zu denken, aber sichtbar von unserer leidenschaftlichen, stummen Teilnahme wie ein rüstiger Schwimmer von den Wogen getragen. Er sang, und aus jedem Ton seiner Stimme wehte uns etwas Verwandtes und grenzenlos Weites an, als breitete sich vor uns die vertraute, in der unendlichen Ferne verschwindende Steppe. Aus meinem Herzen, ich fühlte es, stiegen mir in die Augen heiße Tränen auf; ein dumpfes, verhaltenes Schluchzen überraschte mich plötzlich … ich sah mich um: Die Frau des Schenkwirts weinte, mit der Brust ans Fenster gelehnt. Jakow warf ihr einen schnellen Blick zu, und seine Stimme ergoß sieh noch klangvoller, noch süßer als vorher; Nikolai Iwanytsch senkte die Augen, Morgatsch hatte sich abgewandt; Obaldui stand, ganz matt vor Genuß, mit dumm geöffnetem Munde da; das graue Bäuerlein schluchzte leise im Winkel und schüttelte, traurig flüsternd, den Kopf; über das eiserne Gesicht des Wilden Herrn rollte aus seinen ganz zusammengezogenen Brauen langsam eine schwere Träne; der Bauführer drückte die geballte Faust an die Stirn und rührte sich nicht … Ich weiß nicht, wie die allgemeine, qualvolle Spannung sich gelöst hätte, wenn nicht Jakow plötzlich mit einem hohen, ungewöhnlich feinen Ton geendigt hätte – es war, als wäre seine Stimme gerissen. Niemand schrie auf, niemand rührte sich; alle schienen zu warten, ob er nicht noch etwas sänge; aber er öffnete die Augen, wie über unser Schweigen erstaunt, sah sich fragend im Kreise um und merkte, daß der Sieg sein war …

»Jascha …«, sagte der Wilde Herr, indem er ihm die Hand auf die Schulter legte und verstummte.

Wir standen alle wie erstarrt da. Der Bauführer erhob sich leise und ging auf Jakow zu. »Du … du … du hast gesiegt«, brachte er endlich mit Mühe hervor und stürzte aus dem Zimmer.

Seine schnelle, entschlossene Bewegung löste gleichsam den Zauber: Alle begannen plötzlich laut und freudig zu sprechen. Obaldui sprang in die Höhe, stammelte etwas und fuchtelte mit den Händen wie eine Windmühle mit ihren Flügeln; Morgatsch ging humpelnd auf Jakow zu und begann ihn abzuküssen; Nikolai Iwanytsch erhob sich und erklärte feierlich, daß er seinerseits ein Achtel Bier zulege; der Wilde Herr lachte ein so gutmütiges Lachen, wie ich es auf seinem Gesicht niemals erwartet hätte; das graue Bäuerlein redete fortwährend in seiner Ecke, indem es sich mit beiden Ärmeln Augen, Wangen, Nase und Bart abwischte: »Das war schön, bei Gott, schön, ich will ein Hundesohn sein, wenn es nicht schön war!« Aber die Frau Nikolai Iwanytschs erhob sich, über und über rot, und ging schnell hinaus. Jakow freute sich über seinen Sieg wie ein Kind; sein ganzes Gesicht war verwandelt; besonders seine Augen strahlten vor Glück. Man schleppte ihn zum Schenktisch, er rief auch das weinende graue Bäuerlein heran, schickte den Sohn des Schenkwirts nach dem Bauführer, den jener aber nicht auffinden konnte, und die Zecherei ging los – »Du wirst uns noch etwas vorsingen, du wirst uns bis zum Abend singen!« wiederholte Obaldui mit erhobenen Händen.

Ich sah mir noch einmal Jakow an und ging hinaus. Ich wollte nicht bleiben, denn ich fürchtete meinen Eindruck zu verderben. Die Hitze draußen war aber ebenso unerträglich wie zuvor. Sie hing gleichsam als eine dichte, schwere Schicht über der Erde; es war, als kreisten im dunkelblauen Himmel inmitten des feinsten, fast schwarzen Staubes kleine helle Feuerchen. Alles schwieg; in diesem tiefen Schweigen der ermatteten Natur lag etwas Hoffnungsloses, Erdrücktes. Ich erreichte den Heuschuppen und legte mich auf das eben gemähte, aber schon fast trockene Gras. Lange konnte ich nicht einschlafen; lange klang mir in den Ohren die sieghafte Stimme Jäkows … endlich forderten die Hitze und die Müdigkeit ihr Recht, und ich versank in einen tiefen Schlaf. Als ich erwachte, war alles schon dunkel geworden; das Gras, das um mich herumlag, duftete stark und war ein wenig feucht geworden; durch die dünnen Latten des halboffenen Daches blinkten blasse Sterne. Ich trat hinaus. Das Abendrot war schon längst erloschen, und seine letzten Spuren schimmerten bleich und kaum noch sichtbar am Horizont; aber in der Luft, die ebenso glühend gewesen war, ließ sich durch die nächtliche Frische noch immer die Hitze fühlen, und die Brust sehnte sich noch immer nach einem kühlen Hauch. Es war windstill, keine Wolke war zu sehen; der Himmel breitete sich ringsum ganz rein, durchsichtig und dunkel aus, und zahllose, aber kaum sichtbare Sterne flimmerten darin. Im Dorf wurden kleine Feuer sichtbar; aus der nahen, hellerleuchteten Schenke drang ein wirrer, unordentlicher Lärm, in dem ich die Stimme Jakows zu unterscheiden glaubte. Ab und zu erhob sich dort ein wildes Gelächter. Ich trat ans Fenster und drückte mein Gesicht an die Scheibe. Ich erblickte ein unerfreuliches, wenn auch buntes und lebendiges Bild: Alles war betrunken, alles, und Jakow als erster. Er saß mit entblößter Brust auf der Bank, sang mit heiserer Stimme irgendein Straßentanzlied und zupfte träge an den Saiten einer Gitarre. Die nassen Haare hingen ihm in Strähnen über sein schrecklich bleiches Gesicht herab. In der Mitte der Schenke tanzte Obaldui, der ganz ›aus dem Leime gegangen‹ war, ohne Kaftan vor dem Bauern im grauen Kittel. Der Bauer seinerseits stampfte und scharrte mit seinen schwach gewordenen Füßen, lächelte sinnlos durch seinen zerzausten Bart und bewegte dann und wann eine Hand, als wollte er sagen: ›Jetzt ist alles gleich!‹ Nichts konnte komischer sein als sein Gesicht; wie sehr er sich auch bemühte, die Brauen in die Höhe zu ziehen, die Lider wollten sich nicht heben und lagen schwer auf seinen kaum sichtbaren, trunkenen, doch zuckersüßen Äuglein. Er befand sich in jenem lieblichen Zustand eines vollkommen betrunkenen Menschen, wo jeder Vorübergehende beim Anblick seines Gesichts unbedingt sagen wird: ›Du bist gut, Bruder, sehr gut!‹ Morgatsch, rot wie ein Krebs, mit weitgeöffneten Nasenlöchern, lächelte giftig aus seiner Ecke hervor; nur Nikolai Iwanytsch allein bewahrte, wie es einem echten Schenkwirt geziemt, seine unveränderliche Kaltblütigkeit. In der Stube hatten sich viele neue Personen angesammelt; den Wilden Herrn sah ich aber nicht mehr.

Ich wandte mich ab und begann mit raschen Schritten den Hügel hinabzusteigen, auf dem Kolotowka liegt. An der Sohle dieses Flügels breitet sich eine weite Ebene aus; von den Wellen des Abendnebels überschwemmt, schien sie noch weiter, als flösse sie mit dem dunkel gewordenen Himmel zusammen. Ich stieg mit großen Schritten die Straße längs der Kluft hinunter, als plötzlich irgendwo weit in der Ebene eine helle Knabenstimme ertönte, – »Antropka! Antropka-a-a …!« schrie sie mit hartnäckiger, weinerlicher Verzweiflung, die letzte Silbe in die Länge dehnend.

Der Junge verstummte auf einige Augenblicke und begann dann wieder zu schreien. Steine Stimme klang laut durch die unbewegliche, leise-schlummernde Luft. Mindestens dreißigmal hatte er den Namen Antropka gerufen, als plötzlich vom anderen Ende des Tales wie aus einer anderen Welt die kaum hörbare Antwort ertönte: »Wa-a-a-as?«

Die Stimme des Jungen schrie mit freudiger Bosheit:

»Komm her, du Teufel, du Wa-a-a-ldmann!«

»Wozu-u-u – u?« antwortete jener nach langer Zeit.

»Weil Vater dir Ruten geben wi-i-i-ill!« antwortete schnell die erste Stimme.

Die zweite Stimme meldete sich nicht mehr, und der Junge fuhr fort, Andropka anzurufen. Seine Rufe schlugen immer seltener und leiser an mein Ohr, als es schon ganz dunkel geworden war und ich um den Rand des Waldes bog, der mein Gütchen umgibt und etwa vier Werst von Kolotowka liegt…

»Antropka-a-a!« glaubte ich noch immer in der von den nächtlichen Schatten erfüllten Luft zu hören.


Pjotr Petrowitsch Karatajew


Vor etwa fünf Jahren mußte ich einmal im Herbst auf der Reise von Moskau nach Tula fast einen ganzen Tag wegen Mangel an Pferden, in einem Posthaus sitzen. Ich kehrte von einer Jagd zurück und hatte die Unvorsichtigkeit begangen, meine Troika vorauszuschicken. Der Stationsaufseher, ein schon bejahrter, mürrischer Mann mit Haaren, die ihm bis an die Nase herabhingen, und kleinen, verschlafenen Augen, antwortete mir auf alle meine Klagen und Bitten mit einem abgerissenen Brummen. Er schlug wütend die Tür zu, als verfluchte er selbst sein Amt, und schimpfte, vor die Tür hinausgehend, auf die Postkutscher, die langsam, mit zentnerschweren Krummhölzern in den Händen, durch den Schmutz wateten oder gähnend und sich kratzend auf der Bank saßen und den zornigen Ausrufen ihres Vorgesetzten keine besondere Beachtung schenkten. Ich hatte schon dreimal Tee getrunken, einige Male vergebens einzuschlafen versucht und alle Aufschriften an den Fenstern und den Wänden gelesen; mich plagte seine entsetzliche Langweile. Mit einer kalten und hoffnungslosen Verzweiflung blickte ich auf die emporgehobenen Deichseln meines Reisewagens, als plötzlich ein Glöckchen ertönte und ein nicht sehr großer, einfacher Wagen, mit drei abgematteten Pferden bespannt, vor dem Posthaus hielt. Der Reisende sprang aus dem Wagen und trat mit dem Ruf: »Pferde! Schnell!« ins Zimmer. Während er mit der üblichen großen Überraschung die Antwort des Aufsehers anhörte, daß keine Pferde da seien, hatte ich Zeit, mit der ganzen Neugier eines sich langweilenden Menschen meinen neuen Schicksalsgenossen vom Kopf bis zu den Füßen zu betrachten. Dem Aussehen nach mochte er an die dreißig Jahre alt sein. Die Blattern hatten auf seinem trockenen gelblichen Gesicht mit einem unangenehmen Schimmer von Messing unverwischbare Spuren hinterlassen; die blauschwarzen, langen Haare lagen hinten auf seinem Kragen in Locken und bildeten vorn an den Schläfen kühne Ringel, die kleinen, geschwollenen Augen blickten ausdruckslos; über der Oberlippe standen einige Härchen. Er war gekleidet wie ein lustiger Gutsbesitzer, der sich auf den Pferdejahrmärkten herumtreibt: Er trug einen bunten, ziemlich schmierigen Jagdrock, eine lilaseidene Halsbinde, eine Weste mit Messingknöpfen und graue, unten in breiten Trichtern auslaufende Hose, aus der die Spitzen der ungeputzten Stiefel kaum herausblickten. Er roch stark nach Tabak und Branntwein; auf seinen roten, dicken Fingern, die von den Ärmeln des Jagdrockes fast bedeckt waren, sah man silberne und Tulaer Ringe. Solche Gestalten trifft man in Rußland nicht zu Dutzenden, sondern zu Hunderten; die Bekanntschaft mit ihnen ist, offen gestanden, gar kein Vergnügen. Aber trotz des Vorurteils, mit dem ich den Reisenden betrachtete, konnte mir sein sorglos gutmütiger und leidenschaftlicher Gesichtsausdruck nicht entgehen.

»Auch dieser Herr da wartet schon länger als eine Stunde«, sagte der Aufseher, auf mich zeigend.

»Länger als eine Stunde!« Der Verbrecher machte sich über mich noch lustig!

»Der Herr hat vielleicht nicht solche Eile«, antwortete der Reisende.

»Das können wir nicht wissen«, sagte der Aufseher mürrisch.

»Geht es denn wirklich nicht? Gibt es gar keine Pferde?»

»Es geht nicht. Es ist kein einziges Pferd da.«

»Lassen Sie mir dann den Samowar bereiten. Wir wollen warten, nichts zu machen.«

Der Reisende setzte sich auf die Bank, warf die Mütze auf den Tisch und fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Haben Sie schon Tee getrunken?« fragte er mich.

»Ja.«

»Trinken Sie vielleicht zur Gesellschaft noch einmal?»

Ich willigte ein. Der rote Samowar erschien zum viertenmal auf dem Tisch. Ich holte eine Flasche Rum hervor. Ich hatte mich nicht geirrt, als ich den Fremden für einen kleinbegüterten Edelmann hielt. Er hieß Pjotr Petrowitsch Karatajew.

Wir kamen ins Gespräch. Es war noch keine halbe Stunde seit seiner Ankunft vergangen, als er mir schon mit der gutmütigsten Aufrichtigkeit sein ganzes Leben erzählt hatte.

»Jetzt fahre ich nach Moskau«, sagte er mir, indem er das vierte Glas leerte. »Auf dem Land habe ich jetzt nichts mehr zu tun.«

»Warum denn nichts?«

»Absolut nichts. Die Wirtschaft ist in Unordnung, die Bauern habe ich, offen gestanden, ruiniert; dann kamen schlechte Jahre dazwischen: Mißernten, wissen Sie. Unglücksfälle … Übrigens«, fügte er hinzu mit einem traurigen Blick auf die Seite, »was bin ich auch für ein Landwirt!»

»Warum denn?«

»Aber nein«, unterbrach er mich, »sieht denn ein Landwirt so aus! Sehen Sie«, fuhr er fort, indem er den Kopf auf die Seite neigte und eifrig an seiner Pfeife sog, »wenn Sie mich so ansehen, können Sie vielleicht denken, daß ich … aber ich muß Ihnen sagen, daß ich nur eine mittelmäßige Erziehung genossen habe; die Mittel fehlten. Entschuldigen Sie, ich bin ein aufrichtiger Mensch und schließlich …«

Er beendete seine Rede nicht und winkte abwehrend mit der Hand. Ich begann, ihm zu versichern, daß er sich irre, daß ich mich über unsere Begegnung sehr freue und so weiter. Dann bemerkte ich, daß die Verwaltung eines Gutes, wie ich glaube, keine besondere Bildung erfordere.

»Einverstanden«, antwortete er, »ich bin mit Ihnen einverstanden. Aber es ist doch eine besondere Anlage dazu nötig! Mancher stellt Gott weiß was an, und es schadet ihm nicht! Aber ich … Gestatten Sie die Frage, sind Sie aus Petersburg oder aus Moskau?«

»Aus Petersburg.«

Er paffte eine lange Rauchsäule durch die Nase.

»Ich fahre aber nach Moskau, um mir eine Stelle zu suchen.«

»Wo beabsichtigen Sie denn einzutreten?«

»Ich weiß es nicht, wie es sich trifft. Offen gestanden, habe ich Angst vor dem Dienst: So leicht kann man zur Verantwortung gezogen werden. Ich habe immer auf dem Land gelebt; ich bin es so gewöhnt, wissen Sie … aber es ist nichts zu machen … die Not! Ach, diese Not …«

»Dafür werden Sie in der Hauptstadt leben.«

»In der Hauptstadt … nun, ich weiß nicht, was an der Hauptstadt gut ist. Wir wollen sehen, vielleicht ist es wirklich gut … Aber ich glaube doch, daß es nichts Besseres gibt als das Landleben.«

»Können Sie denn nicht mehr auf dem Land leben?«

Er seufzte auf. »Ich kann nicht, das Gut gehört mir fast nicht mehr.«

»Wieso?»

»Es gibt dort so einen guten Menschen, einen Nachbarn … der hat einen Wechsel …« Der arme Pjotr Petrowitsch fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, dachte nach und schüttelte den Kopf.

»Was soll man noch reden …! Offen gestanden«, fügte er nach einem kurzen Schweigen hinzu, »darf ich mich über niemanden beklagen, ich bin selbst schuld. Ich habe gern großgetan …! Ich liebe es, hol's der Teufel, großzutun!«

»Haben Sie auf dem Land flott gelebt?« fragte ich ihn.

»Mein Herr«, antwortete er langsam, mir gerade in die Augen blickend, »ich besaß zwölf Koppel Jagdhunde, solche Jagdhunde, sage ich Ihnen, wie es wenig gibt.« Das letzte Wort sprach er in einem singenden Ton. »Einen Hasen erwischten sie im Nu und gegen Pelzwild waren sie wie Schlangen, wie Ottern. Auch auf meine Windhunde konnte ich stolz sein. Jetzt ist es vorbei, also brauche ich nicht zu lügen. Ich jagte auch mit dem Gewehr. Ich hatte eine Hündin, Komtesse; die stand wie eine Mauer, hatte eine vortreffliche Nase. Manchmal ging ich mit ihr ans Moor und sagte ihr: ›Such!‹ Wenn die dann nicht zu suchen anfing, so hätte man mit einem Dutzend Hunde hingehen können: nichts zu holen! Wenn sie aber zu suchen anfing, so konnte sie vor Eifer krepieren …! Im Zimmer war sie so höflich: Gab man ihr ein Stück Brot mit der linken Hand, und sagte dabei: ›Ein Jude hat davon gegessen‹, so nahm sie es nicht; gab man es ihr aber mit der rechten und sagte: ›Ein Fräulein hat davon gegessen‹, so nahm sie es gleich und fraß es auf. Ich hatte ein Junges von ihr, ein ausgezeichnetes Junges, ich wollte es nach Moskau mitnehmen, aber ein Freund hat es sich von mir mit dem Gewehr zusammen ausgebeten; er sagte: ›In Moskau wirst du dafür keine Zeit haben; dort werden ganz andere Sachen kommen, Bruder.‹ So gab ich ihm das Junge und auch das Gewehr; es ist, wissen Sie, schon alles dort geblieben.«

»In Moskau könnten Sie ja auch gar nicht auf die Jagd gehen.«

»Nein, wozu auch? Habe ich mich nicht zu beherrschen verstanden, so muß ich jetzt leiden. Gestatten Sie lieber die Frage: Ist das Leben in Moskau teuer?«

»Nein, nicht sehr.«

»Nicht sehr …? Sagen Sie, in Moskau gibt es doch Zigeuner?«

»Was für Zigeuner?«

»Die auf den Jahrmärkten herumreisen?«

»Ja, die leben in Moskau …«

»Nun, das ist gut. Ich liebe die Zigeuner, hol' mich der Teufel, ich liebe sie …«

Die Augen Pjotr Petrowitschs leuchteten vor verwegener Lust. Aber plötzlich rückte er auf seiner Bank unruhig hin und her, wurde dann nachdenklich, senkte den Kopf und hielt mir sein leeres Glas hin.

»Geben Sie mir mal von Ihrem Rum«, sagte er.

»Aber es ist kein Tee mehr da!«

»Macht nichts, ich trinke ihn ohne Tee … Ach!«

Karatajew legte den Kopf auf die Hände und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch. Ich sah ihn schweigend an und erwartete schon jene Gefühlsausbrüche, vielleicht sogar jene Tränen, mit denen ein angetrunkener Mensch zu freigebig ist; als er aber den Kopf hob mußte ich über den tief traurigen Ausdruck seines Gesichts staunen.

»Was ist Ihnen?«

»Es ist nichts … ich dachte an die alten Zeiten. Es ist so eine Anekdote … Ich würde sie Ihnen erzählen, aber ich schäme mich, Sie zu belästigen …«

»Aber erlauben Sie!«

»Ja«, fuhr er mit einem Seufzer fort, »es gibt solche Fälle … zum Beispiel auch mit mir. Wenn Sie wollen, erzähle ich es Ihnen. Übrigens weiß ich nicht …«

»Erzählen Sie doch, liebster Pjotr Petrowitsch.«

»Meinetwegen, obwohl es auch … Sehen Sie«, begann er, »aber ich weiß wirklich nicht …«

»Aber machen Sie doch keine Umstände, liebster Pjotr Petrowitsch!«

»Nun, meinetwegen. Mit mir ist also sozusagen folgendes passiert. Ich lebte auf dem Land … Plötzlich fiel mir ein Mädchen auf, ach, war das ein Mädchen … schön, klug und so gut! Sie hieß Matrjona. Sie war aber ein einfaches Mädel, das heißt, Sie verstehen, eine leibeigene Magd. Das Mädel gehörte auch nicht mir, sondern wem anders, das war das Unglück. Nun, ich verliebte mich in sie – wirklich solch eine Anekdote – , auch sie sich in mich. So fing mich Matrjona zu bitten an: Ich solle sie von ihrer Herrin loskaufen; ich hatte auch schon selbst daran gedacht … Ihre Herrin war aber eine reiche, schreckliche alte Schachtel; sie wohnte an die fünfzehn Werst von mir entfernt. Eines schönen Tages, wie man so sagt, ließ ich mir also meine Troika anspannen – zum Mittelpferd hatte ich einen Paßgänger, einen wilden Asiaten, dafür hieß er auch Lampurdos – , kleidete mich etwas besser an und fuhr zu Matrjonas Herrin … Ich komme an – ein großes Haus mit Nebenflügeln und einem Garten … Matrjona hatte mich an der Straßenbiegung erwartet, wollte mit mir sprechen, küßte mir aber nur die Hand und trat auf die Seite. Ich komme ins Vorzimmer und frage: ›Zu Hause …?‹ Ein langer Lakai antwortet mir: ›Wen darf ich anmelden?‹ Ich sage ihm: ›Melde, mein Bester, der Gutsbesitzer Karatajew sei gekommen, um ein Geschäft zu besprechen.‹ Der Lakai ging. Ich warte und denke mir: Was wird wohl werden? Die Bestie wird wohl ein Heidengeld verlangen und wenn sie auch noch so reich ist. Sie fordert vielleicht an die fünfhundert Rubel. Endlich kommt der Lakai zurück und sagt: ›Bitte.‹ Ich folge ihm ins Gastzimmer. In einem Lehnstuhl sitzt eine kleine gelbliche Alte und zwinkert mit den Augen. ›Was wünschen Sie?‹ – Ich hielt es, wissen Sie, für nötig, ihr zuerst zu erklären, daß ich mich freue, ihre Bekanntschaft zu machen. – »Sie irren sich, ich bin nicht die Gutsbesitzerin, sondern nur eine Verwandte … Was wünschen Sie?‹ – Ich bemerkte ihr sogleich, daß ich die Dame selbst sprechen müsse. – ›Marja Iljinitschna empfängt heute nicht, sie ist nicht wohl…. Was wünschen Sie?‹ – Nichts zu machen, sagte ich mir, ich will ihr mein Anliegen sagen. Die Alte hörte mich an. – ›Matrjona? Was für eine Matrjona?‹ – »Matrjona Fjodorowna, die Tochter Kuliks.‹ – ›Fjodor Kuliks Tochter … Sie kennen sie also?‹ – »Ganz zufällige – ›Ist ihr Ihre Absicht bekannt?‹ – ›Ja.‹ – Die Alte schwieg. – ›Ich will die Niederträchtige …!‹ – Ich war, offen gestanden, erstaunt. – ›Warum denn, ich bitte Sie …! Ich bin bereit, für sie den Betrag zu erlegen, den Sie bestimmen.‹ – Die alte Hexe zischte nur so. – ›Damit glauben Sie, uns zu blenden? Was brauchen wir Ihr Geld …! Aber ihr werde ich es schon zeigen … ich will ihr den Unsinn aus dem Kopf schlagen.‹ – Die Alte bekam vor Wut einen Hustenanfall. – ›Hat sie es etwa schlecht bei uns…? Ach, diese Teufelsdirne, Gott verzeih' meine Sünde!‹ – Ich fuhr, offen gestanden, auf. – ›Warum drohen Sie so dem armen Mädel? Was hat sie verbrochen?‹ – Die Alte bekreuzigte sich. – ›Ach du lieber Gott, habe ich denn …‹ – ›Sie gehört ja gar nicht Ihnen!‹ – ›Das weiß Marja Iljinitschna am besten, es ist nicht Ihre Sache, Väterchen; der Matrjona werde ich aber schon zeigen, wessen Magd sie ist.‹ – Offen gestanden hätte ich mich beinahe auf die verfluchte Alte gestürzt, aber ich dachte an Matrjona und ließ die Hände sinken. Mir wurde so bange, daß ich es gar nicht beschreiben kann. Ich fing an, die Alte zu bitten: ›Verlangen Sie, was Sie wollen.‹ – ›Aber was brauchen Sie sie?‹ – ›Sie gefällt mir, Mütterchen, versetzen Sie sich nur in meine Lage… Gestatten Sie, daß ich Ihnen die Hand küsse.‹ – Und ich küßte der Hexe wirklich die Hand! – ›Nun‹, sagte die Hexe, ›ich will es der Marja Iljmitschna sagen; soll sie es entscheiden; kommen Sie so in zwei Tagen wieder.‹ – Ich fuhr in großer Unruhe nach Hause. Ich begann zu ahnen, daß ich die Sache falsch angepackt hatte, daß ich ihr meine Neigung für das Mädchen nicht hätte zeigen sollen, aber das war mir zu spät eingefallen. Nach zwei Tagen begab ich mich zu der Dame. Man führte mich ins Kabinett. Eine Menge Blumen, eine prächtige Einrichtung, sie selbst sitzt in so einem merkwürdigen Lehnstuhl und hat den Kopf auf das Kissen zurückgeworfen; auch die Verwandte von neulich sitzt dabei und noch so ein flachsblondes Fräulein in grünem Kleid mit einem schiefen Mund, wahrscheinlich die Gesellschafterin. Die Alte näselte: ›Nehmen Sie bitte Platz.‹ – Ich setze mich. Sie fängt an, mich auszufragen , wie alt ich sei, wo ich gedient hätte und was ich vorhabe – und alles so hochmütig und von oben herab. Ich antwortete ihr auf alles ausführlich. Die Alte nimmt ein Tuch vom Tisch, fächelt sich damit und sagt: ›Katerina Karpowna hat mir von Ihrer Absicht erzählt, ja, sie hat es mir erzählt. Aber‹, sagt sie, ›ich habe es mir zur Regel gemacht, niemanden von meinen Leuten in fremde Dienste zu geben. Es schickt sich nicht in einem anständigen Hause, und es ist auch keine Art. Ich habe‹, sagt sie, ›schon meine Anordnungen getroffen, und Sie brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen.‹ – ›Was für Sorgen, ich bitte sie …! Vielleicht brauchen Sie die Matrjona Fjodorowna?‹ – ›Nein‹, sagt sie, ›ich brauche sie nicht.‹ – ›Warum wollen Sie sie mir dann nicht abtreten?‹ – ›Weil es mir nicht paßt, weil es mir nicht paßt und fertig. Ich habe‹, sagt sie, ›schon meine Anordnungen getroffen: Sie wird auf ein Steppengut geschickt.‹ – Ich war wie vom Blitz getroffen. Die Alte sagte ein paar Worte auf französisch zu dem grünen Fräulein, und jenes ging hinaus. – ›Ich bin‹, sagte sie, ›eine Frau von strengen Grundsätzen, und meine Gesundheit ist schwach, ich kann keine Aufregung ertragen. Sie sind noch ein junger Mann, ich aber bin eine alte Frau und habe das Recht, Ihnen Ratschläge zu geben. Wäre es nicht besser für Sie, eine gute Partie zu suchen und zu heiraten? Reiche Partien sind selten, aber ein armes, junges Mädchen von guten Sitten kann man wohl finden.‹ – Wissen Sie, ich sehe die Alte an und verstehe nicht, was sie da schwatzt; ich höre, sie redet von einer Heirat, mir klingt aber das Steppendorf immer in den Ohren. Heiraten …! Den Teufel auch …« Der Erzähler hielt plötzlich inne und sah mich an.

»Sie sind doch nicht verheiratet?«

»Nein.«

»Nun, man kennt es ja. Ich konnte mich nicht beherrschen: ›Ich bitte Sie, Mütterchen, was reden Sie für einen Unsinn: Wer denkt ans Heiraten? Ich möchte von Ihnen einfach wissen, ob Sie mir Ihr leibeigenes Mädel Matrjona abtreten wollen oder nicht!‹ – Die Alte fing an zu stöhnen: – ›Ach, er hat mich so aufgeregt! Ach, sagt ihm, er solle gehen! Ach …!‹ Die Verwandte sprang auf sie zu und fing an, auf mich zu schreien. Die Alte stöhnt aber immer: ›Womit habe ich das verdient …? Ich bin wohl nicht mehr Herrin in meinem Hause? Ach, ach!‹ – Ich griff nach meinem Hut und rannte wie verrückt hinaus.« »Vielleicht«, fuhr der Erzähler fort, »werden Sie mich dafür tadeln, daß ich mich so sehr an ein Mädel aus niederem Stande gehängt hatte; ich habe nicht die Absicht, mich zu rechtfertigen … es war eben so gekommen! Glauben Sie mir, ich fand weder bei Tag noch bei Nacht Ruhe … Ich quälte mich! Warum, dachte ich mir, habe ich das unglückliche Mädel zugrunde gerichtet! Wenn ich mir nur vorstellte, sie müsse in grober Kleidung die Gänse hüten, werde auf herrschaftlichen Befehl schlecht behandelt oder vom Schulzen, einem Bauern in geteerten Stiefeln, auf das gemeinste beschimpft, so kam mir der kalte Schweiß. Nun, ich hielt es nicht aus, ich erfuhr, in welches Dorf man sie verschickt hatte, stieg in den Sattel und ritt hin. Erst am nächsten Tag gegen Abend kam ich hin. Offenbar hatte man von mir einen solchen Streich nicht erwartet und keinerlei Anordnungen für einen solchen Fall getroffen. Ich komme direkt zum Schulzen, als wäre ich ein Nachbar; ich trete in den Hof und sehe: Matrjona sitzt auf der Treppe, den Kopf in die Hand gestützt. Sie schrie leise auf, aber ich drohte ihr mit dem Finger und zeigte auf das freie Feld hinter dem Hof. Dann trat ich in die Stube, plauderte mit dem Schulzen, log ihm das Blaue vom Himmel herunter, wartete einen günstigen Augenblick ab und ging zu Matrjona hinaus. Die Ärmste fiel mir um den Hals. Blaß und mager war mein Täubchen geworden. Wissen Sie, ich sage ihr: ›Hör auf, Matrjona, hör auf, weine nicht …‹, mir laufen aber dabei die Tränen die Wangen herab … Endlich schämte ich mich doch und sagte zu ihr: ›Matrjona, Tränen helfen nichts, man muß aber sozusagen entschlossen handeln, du mußt mit mir fliehen; ja, ja, so muß man handeln!‹ Matrjona war ganz starr. ›Das geht doch nicht! Ich stürze mich ins Unglück, sie werden mich dann ganz auffressen!‹ – ›Du Dumme, wer wird dich finden?‹ – ›Man wird mich finden, man wird mich ganz gewiß finden! Ich danke Ihnen, Pjotr Petrowitsch, nie werde ich Ihnen Ihre Güte vergessen, aber jetzt verlassen Sie mich, so ist wohl einmal mein Schicksal.‹ – ›Ach, Matrjona, Matrjona, ich habe dich doch für ein Mädel von Charakter gehalten.‹ – Sie hatte in der Tat viel Charakter … ein goldenes Herz hatte sie! – ›Was sollst du hier bleiben? Es ist doch alles eins; schlimmer kann es gar nicht werden. Sag doch: Hast du nicht die Fäuste des Schulzen gekostet, was?‹ Matrjona flammte auf und ihre Lippen zitterten. – ›Wenn ich es tue, wird man meiner Familie das Leben sauer machen.‹ – ›Geh mir mit deiner Familie … Wird man sie vielleicht verschicken?‹ – ›Man wird‹ ›Und den Vater?‹ – ›Den Vater wird man nicht verschicken; er ist bei uns der einzige gute Schneider.‹ – ›Nun siehst du es; dein Bruder wird deshalb nicht zugrunde gehen.‹ – Glauben Sie es mir, ich hatte viel Mühe, sie zu überreden; es fiel ihr sogar ein, man würde auch mich zur Verantwortung ziehen … ›Das ist nicht deine Sache‹, sagte ich ihr … Endlich entführte ich sie doch … nicht dieses Mal, aber ein anderes: Ich kam nachts mit einem Wagen gefahren und entführte sie.«

»Sie entführten sie?«

»Ja, ich entführte sie … So blieb sie bei mir wohnen. Mein Häuschen ist klein, viel Dienstboten habe ich nicht. Meine Leute, ich kann es offen sagen, achteten mich hoch; sie hätten mich um nichts in der Welt verraten. Mein Leben wurde schön. Matrjona erholte sich und kam zu Kräften; ich hing an ihr sehr … Ach, war das ein Mädel! Wo hatte sie das nur her? Sie verstand zu singen und zu tanzen und auch Gitarre zu spielen … Den Nachbarn zeigte ich sie nicht: Wie leicht hätten sie es ausplaudern können! Ich hatte aber einen Herzensfreund, Pantelej Gornostajew – kennen Sie ihn nicht? Der war ganz vernarrt in sie; er küßte ihr wie einer Gnädigen die Hände, wirklich! Ich muß Ihnen auch sagen: Dieser Gornostajew ist ein ganz anderer Mensch als ich. Ein gebildeter Mensch, den ganzen Puschkin hatte er gelesen; wenn er zuweilen mit mir und mit Matrjona sprach, so rissen wir nur den Mund auf. Er lehrte sie sogar schreiben, der Kauz! Wie ich sie aber kleidete – viel besser als die Gouverneurin; ich ließ ihr einen Mantel machen aus himbeerrotem Samt mit Pelzbesatz … Wie gut ihr dieser Mantel stand! Den Mantel hatte eine Moskauer Madame nach der neuesten Mode auf Taille genäht. So sonderbar ist diese Matrjona! Manchmal sitzt sie stundenlang nachdenklich da, blickt auf den Boden und zuckt mit keiner Braue; ich sitze auch dabei, sehe sie an und kann mich gar nicht satt sehen, als sähe ich sie zum erstenmal … Sie lächelt, und das Herz bebt mir im Leibe, als kitzelte mich jemand. Oder sie fängt plötzlich an zu lachen, zu scherzen, zu tanzen; sie umarmt mich so fest, so heiß, daß mir der Kopf schwindelt. Von früh bis spät denke ich mir manchmal: Womit kann ich ihr eine Freude machen? Glauben Sie mir; ich beschenkte sie, nur um zu sehen, wie sie vor Freude rot wird, wie sie mein Geschenk anprobiert und mit dem neuen Putz auf mich zugeht und mich küßt. – Es ist unbekannt, auf welche Weise ihr Vater Kulik Wind von der Sache bekam; der Alte kam, um uns beide zu sehen; und fing bitter zu weinen an … So lebten wir an die fünf Monate; wie gerne hätte ich mit ihr mein ganzes Leben verbracht, aber ich habe einmal so ein verfluchtes Schicksal!«

Pjotr Petrowitsch hielt inne.

»Was geschah dann?« fragte ich ihn mit Teilnahme.

Er winkte erregt mit der Hand.

»Alles ging zum Teufel. Ich richtete sie selbst zugrunde. Meine Matrjona liebte über alles das Schlittenfahren und pflegte selbst die Pferde zu lenken; sie zog ihren Pelz und gestickte Torschoksche Handschuhe an und schrie nur so vor Freude. Wir fuhren immer nur am Abend aus, wissen Sie, um niemand zu begegnen. Einmal war so ein schöner, frostiger, heiterer, windloser Tag … wir fuhren aus. Matrjona nahm die Zügel. Ich sehe: Wo fährt sie denn hin? Doch nicht nach Kukujewka, ins Dorf ihrer Herrin? Sie fährt aber wirklich nach Kukujewka. Ich sage ihr: ›Verrückte, wohin fährst du?‹ Sie sieht mich über die Schulter an und lächelt. ›Wir wollen einmal kühn sein!‹ Nun, denke ich mir, es sei …! Es ist doch schön, am Herrenhaus vorbeizufahren? Es ist doch schön, nicht wahr? So fahren wir hin. Mein Paßgänger schwimmt nur so, die Seitenpferde wirbeln daher, da ist schon die Kirche von Kukujewka zu sehen; auf der Straße kommt aber eine alte grüne Kutsche gekrochen und hinten steht ein Lakai … Die Gnädige, die Gnädige kommt gefahren! Mir wurde bange. Matrjona aber schlug das Pferd mit einem Zügel und sauste gerade auf die Kutsche los! Der Kutscher sieht, verstehen Sie, es fliegt ihm so etwas wie ein Alchimeres entgegen, er will ausweichen, macht aber eine zu scharfe Wendung und schmeißt die Kutsche in einen Schneehaufen um. Das Glas zerbricht, die Gnädige schreit: ›Ei, ei, ei! Ei, ei, ei!‹ Die Gesellschafterin winselt: ›Halt, halt!‹ Wir aber sausen vorüber. So jagen wir dahin, und ich denke mir: Es wird schlimm enden, ich hätte ihr nicht erlauben sollen, nach Kukujewka zu fahren. Und was glauben Sie? Die Gnädige hatte die Matrjona erkannt, auch mich hatte die Alte erkannt und eine Klage eingereicht: ›Mein flüchtiges leibeigenes Mädel wohnt beim Edelmann Karatajew‹; der Klage fügte sie das übliche Geldgeschenk bei. Ich sehe, es kommt zu mir der Isprawnik gefahren; der Isprawnik ist aber mein Bekannter, Stepan Sergejitsch Kusowkin, ein guter Mensch; das heißt, eigentlich gar kein guter Mensch. So kommt er zu mir und sagt: ›So und so, Pjotr Petrowitsch, was denken Sie sich eigentlich…? Die Verantwortung ist schwer und auch die Gesetze darüber sind sehr klar.‹ Ich sage ihm: ›Darüber werden wir natürlich noch reden, wollen Sie aber nicht erst etwas zu sich nehmen nach der Fahrt?‹ Er weigerte sich nicht, sagte aber: ›Die Gerechtigkeit verlangt es, Pjotr Petrowitsch, urteilen Sie doch selbst!‹ – ›Natürlich, die Gerechtigkeit‹, sage ich ihm, ›gewiß … ich habe aber gehört, daß Sie einen Rappen haben, wollen Sie diesen Rappen nicht gegen meinen Lampurdos umtauschen …? Das Mädel Matrjona Fjodorowna ist aber nicht bei mir.‹ – ›Nun‹, sagt er, ›Pjotr Petrowitsch, das Mädel ist doch bei Ihnen, wir leben ja nicht in der Schweiz . .. mein Pferdchen kann ich aber wohl gegen Ihren Lampurdos eintauschen, das läßt sich machen; ich kann ihn auch so nehmen.‹ Dieses Mal fertigte ich ihn ab. Aber die Alte fuhr aus der Haut: ›Zehntausend Rubel‹, sagte sie, ›will ich es mich kosten lassen.‹ Sehen Sie, es war ihr, als sie mich gesehen hatte, eingefallen, mich mit ihrer grünen Gesellschafterin zu verheiraten – das erfuhr ich später; darum war sie so wütend geworden. Was solchen Damen nicht alles einfällt…! Es kommt wohl vor Langeweile. Nun hatte ich es schwer: Ich geizte nicht mit Geld und hielt Matrjona versteckt, es half aber alles nichts! Sie hetzten mich und machten mich ganz toll. Ich geriet in Schulden, wurde krank … So liege ich eines Nachts im Bett und denke mir: Du lieber Gott, wofür werde ich so gestraft? Was soll ich machen, wenn ich nicht von ihr lassen kann …? Ich kann es nicht, und fertig! – Da kommt zu mir ins Zimmer Matrjona. Um jene Zeit hielt ich sie auf einem Vorwerk zwei Werst von meinem Haus versteckt. Ich erschrak. – ›Was gibt's? Hat man dich dort entdeckt?‹ – ›Nein, Pjotr Petrowitsch‹, sagt sie, ›niemand hat mich in Bubnowo beunruhigt; wird es aber noch lange so gehen? Mein Herz‹, sagt sie, ›bricht mir entzwei, Pjotr Petrowitsch; Sie tun mir leid, Liebster; niemals werde ich Ihre Güte vergessen, Pjotr Petrowitsch, jetzt komme ich aber, um mich von Ihnen zu verabschieden.‹ – ›Was hast du, was hast du, du Verrückte …? Verabschieden? Wieso, verabschieden …?‹ – ›So … ich gehe jetzt hin und liefere mich aus.‹ – ›Ich werde dich auf dem Dachboden einsperren,

du Verrückte… Oder willst du mich zugrunde richten? Mich töten?‹ – Das Mädel schweigt und blickt zu Boden. – ›Nun, sprich doch, sprich!‹ – ›Ich will Ihnen keine Sorgen mehr machen, Pjotr Petrowitsch.‹ – Nun, geh einer hin und rede mit ihr … – ›Weißt du, dumme Gans, du bist einfach ver … verrückt …‹«

Pjotr Petrowitsch fing an, bitter zu schluchzen.

»Was glauben Sie?« fuhr er fort, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug und versuchte, die Brauen zusammenzuziehen, während ihm die Tränen über seine glühenden Wangen liefen: »Das Mädchen hat sich wirklich ausgeliefert, sie ging hin und lieferte sich aus …«

»Die Pferde sind bereit!« rief feierlich der Stationsaufseher, ins Zimmer tretend.

Wir standen beide auf.

»Was wurde denn aus Matrjona?« fragte ich.

Karatajew winkte abwehrend mit der Hand.


Ein Jahr nach meiner Begegnung mit Karatajew kam ich zufällig nach Moskau. Einmal ging ich vor dem Essen in ein Kaffeehaus, das sich hinter der Jägerzeile befand, ein originelles Moskauer Kaffeehaus. Im Billardzimmer sah man durch die Rauchwolken gerötete Gesichter, Schnurrbärte, Köpfe, altmodische Schnürjoppen und allermodernste Trachten. Magere Greise in bescheidenen Röcken lasen russische Zeitungen. Die Kellner rannten mit den Tabletts schnell über die grünen Läufer hin und her. Kaufleute tranken mit schmerzvoller Anstrengung Tee. Plötzlich trat aus dem Billardzimmer ein ziemlich zerzauster und nicht ganz nüchterner Mann. Er steckte die Hände in die Taschen, senkte den Kopf und sah sich gedankenlos um.

»Bah, bah, bah! Pjotr Petrowitsch …! Wie geht es Ihnen?«

Pjotr Petrowitsch fiel mir beinahe um den Hals und schleppte mich, leicht schwankend, in ein kleineres Nebenzimmer.

»So, hier«, sagte er, mich sorgsam in einen Lehnstuhl setzend, »hier werden Sie es bequem haben. Kellner, Bier! Das heißt nein, Champagner! Ich muß gestehen, ich habe es nicht erwartet … Seit wie lange? Auf wie lange? So hat es Gott sozusagen gefügt …«

»Erinnern Sie sich noch …«

»Wie sollte ich mich nicht erinnern«, unterbrach er mich hastig, »es sind alte Geschichten … alte Geschichten …«

»Nun, was treiben Sie hier, liebster Pjotr Petrowitsch?«

»Ich lebe, wie Sie sehen. Das Leben ist hier gut, die Leute sind freundlich. Hier habe ich Ruhe gefunden.«

Er seufzte auf und hob die Augen zum Himmel.

»Dienen Sie?«

»Nein, ich diene nicht, will aber bald eine Stelle nehmen. Aber was ist so ein Dienst …? Das Wichtigste sind doch die Menschen. Was für Menschen habe ich hier kennengelernt …!«

Der Kellnerjunge brachte eine Flasche Champagner auf einem schwarzen Tablett.

»Auch dieser da ist ein guter Mensch … nicht wahr, Waßja, du bist ein guter Mensch? Auf dein Wohl!«

Der Junge blieb stehen, nickte höflich mit dem Kopf, lächelte und ging hinaus.

»Ja, hier sind gute Menschen«, fuhr Pjotr Petrowitsch fort, »Menschen mit Gemüt und Herz … Wollen Sie? Ich will Sie mit ihnen bekannt machen. So prächtige Burschen … Sie werden sich alle freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich will Ihnen sagen … Bobrow ist gestorben, dieser Jammer!«

»Was für ein Bobrow?«

»Sergej Bobrow. War ein prachtvoller Mensch; er hatte sich meiner, des ungebildeten Steppenmenschen, angenommen. Auch Pantelej Gornostajew ist tot. Alle sind tot, alle!«

»Haben Sie die ganze Zeit in Moskau gelebt? Waren Sie nie auf dem Land?«

»Auf dem Land …? Mein Landgut hat man verkauft.«

»Verkauft?«

»Öffentlich versteigert … Schade, daß Sie es nicht gekauft haben!«

»Wovon werden Sie jetzt leben, Pjotr Petrowitsch?«

»Ich werde nicht verhungern, so Gott will! Wenn ich kein Geld, habe, so habe ich Freunde. Was ist Geld? – Staub! Gold ist Staub!«

Er schloß die Augen, wühlte in seiner Tasche und hielt mir zwei Fünfzehnkopekenstücke und ein Zehnkopekenstück auf der flachen Hand hin.

»Was ist das? Es ist doch Staub?« (Und das Geld flog auf die Erde.) »Sagen Sie mir lieber, haben Sie etwas von Poleschajew gelesen?«

»Ja.«

»Haben Sie Motschalow im Hamlet gesehen?«

»Nein, ich habe ihn nicht gesehen.«

»Sie haben ihn nicht gesehen, nicht gesehen …« Karatajews Gesicht erbleichte, seine Augen schweiften unruhig umher; er wandte sich ab; ein leichtes Zucken lief über seine Lippen. »Ach, Motschalow, Motschalow! ›Sterben – schlafen«, sagte er mit dumpfer Stimme.

»Nichts weiter! Und zu wissen, daß ein Schlaf

das Herzweh und die tausend Schläge endet,

die unseres Fleisches Erbteil; 's ist ein Ziel

aufs innigste zu wünschen … sterben … schlafen …«

»Schlafen, schlafen«, murmelte er einige Male hintereinander. »Sagen Sie, bitte …«, begann ich – aber er fuhr mit Feuer fort:

»Denn wer ertrüg' der Zeiten Spott und Geißel

des Mächt'gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,

verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,

den Übermut der Ämter und die Schmach,

die Unwert schweigenden Verdienst erweist …

… O Nymphe, in dein Gebet schließ meine Sünden ein!«

Und er ließ den Kopf auf den Tisch sinken. Er fing an zu stottern und zu phantasieren.

»Ein kurzer Mond!« rief er mit neuer Kraft.

»Ein kurzer Mond, bevor die Schuh' verbraucht,

womit sie meines Vaters Leiche folgte …

O Himmel! Würd' ein Tier, das nicht Vernunft hat,

doch länger trauern …«

Er hob das Champagnerglas an die Lippen, trank aber nicht und fuhr fort:

»… Um Hekuba! Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr,

daß er um sie soll weinen …?

… und ich, ein blöder, schwachgemuter Schurke,

schleiche wie Hans der Träumer, meiner Sache fremd …

…bin ich 'ne Memme?

Wer nennt mich Schelm?

Bricht mir den Kopf entzwei?

Zwickt an der Nase mich? Und straft mich Lügen

tief in den Hals hinein? Wer tut mir dies?

Ha! Nähm' ich's eben doch. –

Es ist nichts anders:

Ich hege Taubenmut, mir fehlt's an Galle,

die bitter macht den Druck …«

Karatajew ließ das Glas fallen und griff sich an den Kopf. Ich glaubte ihn zu verstehen.

»Ja, so ist es«, sagte er endlich: »Hin ist hin … Nicht wahr?« Er lachte. »Auf Ihr Wohl!« »Bleiben Sie in Moskau?« fragte ich ihn.

»Ich werde in Moskau sterben!«

»Karatajew!« ertönte es aus dem Nebenzimmer. »Karatajew, wo steckst du? Komm her, lieber Mensch!«

»Man ruft mich«, sagte er, indem er sich schwerfällig erhob. »Leben Sie wohl; besuchen Sie mich, wenn Sie können, ich wohne in**.«

Aber am nächsten Tag mußte ich infolge unvorhergesehener Umstände Moskau verlassen und sah Pjotr Petrowitsch Karatajew nie wieder.

Das Stelldichein


Im Herbst, um die Mitte September, saß ich einmal in einem Birkengehölz. Vom frühen Morgen an ging ein feiner Regen nieder, der zeitweise mit warmem Sonnenschein abwechselte: Das Wetter war unbeständig. Der Himmel war bald ganz von lockeren weißen Wolken bedeckt, klärte sich bald für eine Weile auf, und dann leuchtete zwischen den Wolken ein Blatt, so heiter und freundlich wie ein schönes Auge. Ich saß da, blickte um mich und lauschte. Das Laub rauschte leise über meinem Kopf; an diesem Geräusch allein konnte man schon die Jahreszeit erkennen. Es war nicht das lustige, lachende Beben des Frühlings, nicht das weiche Flüstern und anhaltende Gerede des Sommers, nicht das scheue und kalte Lallen des Spätherbstes, sondern ein kaum hörbares, verschlafenes Geplauder. Ein schwacher Wind zog ganz leise durch die Wipfel. Das Innere des vom Regen durchnäßten Wäldchens änderte sich fortwährend, je nachdem, ob die Sonne schien oder von einer Wolke verdeckt wurde; bald stand es im hellen Licht, und dann lächelte plötzlich alles: Die feinen Stämme der nicht zu dicht beieinander stehenden Birken nahmen plötzlich einen zarten, seidigen Schimmer an, die auf der Erde liegenden kleinen Blätter wurden plötzlich bunt und brannten wie Dukatengold, und die schönen Stengel der hohen, lockigen Farnkräuter, die schon ihre herbstliche Farbe hatten, der Farbe von überreifen Weintrauben ähnlich, kreuzten sich miteinander und schienen durchsichtig; bald wurde alles ringsum wieder blau: Die grellen Farben erloschen augenblicklich, die Birken standen ganz weiß, ohne Glanz, so weiß wie frisch gefallener Schnee, den der kaltspielende Strahl der Wintersonne noch nicht berührt hat, und der allerfeinste Regen rieselte und flüsterte heimlich und listig durch den Wald. Das Laub der Birken war noch fast grün, wenn auch merklich verblaßt; nur hier und da sah man eine einzelne junge Birke ganz in Rot und Gold prangen, und man muß gesehen haben, wie grell sie aufleuchtete, wenn die Sonnenstrahlen plötzlich durch das engmaschige Netz der feinen, erst eben vom leuchtenden Regen reingewaschenen Zweige drangen. Kein einziger Vogel ließ sich vernehmen, alle hatten sich versteckt und waren verstummt; nur ab und zu klang wie ein stählernes Glöckchen die spöttische Stimme der Meise. Bevor ich in diesem Birkenwäldchen haltmachte, war ich mit meinem Hund durch ein hohes Espengehölz gekommen. Ich habe, offen gestanden, keine besondere Vorliebe für diesen Baum, für die Espe mit ihrem blaßlila Stamm und dem graugrünen, metallischen Laub, das sie so hoch wie möglich hebt und wie einen zitternden Fächer in der Luft ausbreitet; ich liebe nicht das ewige Schwanken ihrer runden, unsauberen Blätter, die so ungeschickt an den langen Stielen sitzen. Sie ist nur an manchen Sommerabenden schön, wenn sie, einsam mitten im niederen Gebüsch ragend, direkt gegen die brennenden rotleuchtenden Strahlen der untergehenden Sonne zu stehen kommt und glänzt und zittert, von den Wurzeln bis zum Wipfel vom gleichen gelblichen Purpur übergossen – oder wenn sie an einem klaren, windigen, Tag bebend und stammelnd sich vom blauen Himmel abhebt und jedes ihrer Blätter, wie von einem Strom ergriffen, sich gleichsam losreißen und in die Ferne wegfliegen will. Aber im allgemeinen liebe ich diesen Baum nicht; darum ging ich, ohne mich im Espengehölz aufzuhalten, in das Birkenwäldchen, richtete mich unter einem Bäumchen ein, dessen Äste dicht über der Erde anfingen und mich folglich vor dem Regen schützen konnten, und versank, nachdem ich die Aussicht ringsherum bewundert hatte, in jenen ruhigen, sanften Schlaf, der nur den Jägern allein bekannt ist.

Ich kann nicht sagen, wie lange ich geschlafen hatte; als ich aber die Augen aufschlug, war das ganze Waldinnere vom Sonnenlicht erfüllt, und durch das freudig rauschende Laub leuchtete und funkelte in allen Richtungen ein grellblauer Himmel: Die Wolken waren vom Wind vertrieben und verschwunden; das Wetter hatte sich aufgeheitert, und in der Luft ließ sich jene besondere trockene Frische fühlen, die das Herz mit einem eigentümlichen Gefühl von Rüstigkeit erfüllt und fast immer einen friedlichen und heiteren Abend nach dem regnerischen Tag verheißt. Ich wollte schon aufstehen und wieder mein Glück versuchen, als mein Blick plötzlich eine unbewegliche menschliche Gestalt traf. Ich sah genauer hin: Es war ein junges Bauernmädchen. Sie saß etwa zwanzig Schritt von mir entfernt, den Kopf nachdenklich gesenkt und beide Hände im Schoß; in einer Hand, die halb offen war, lag ein dicker Strauß von Feldblumen, der bei jedem ihrer Atemzüge auf den gewürfelten Rock hinabglitt. Das am Halse und an den Handgelenken zugeknöpfte reine weiße Hemd lag in kurzen weichen Falten um ihre Taille; große gelbe Glasperlen fielen in zwei Reihen vom Halse auf die Brust herab. Sie war sehr hübsch. Die dichten, schönen aschblonden Haare liefen in zwei sorgfältig gekämmten Halbkreisen unter der schmalen hellroten Binde hervor, die fast auf die elfenbeinweiße Stirn gerückt war; der übrige Teil des Gesichts zeigte jenen goldigen Ton, den der Sonnenbrand nur einer zarten Haut zu verleihen vermag. Ihre Augen konnte ich nicht sehen, sie hob sie nicht; aber ich sah ihre feinen, hochgeschwungenen Brauen und die langen Wimpern; sie waren feucht, und an einer ihrer Wangen glänzte in der Sonne die ausgetrocknete Spur einer Träne, die dicht an ihren leicht erbleichten Lippen stehengeblieben war. Ihr ganzes Köpfchen war reizend; selbst die etwas dicke, runde Nase verdarb es nicht. Besonders gut gefiel mir der Ausdruck ihres Gesichts, er war so einfach und sanft, so traurig und voll kindlichen Erstaunens über die eigene Trauer. Offenbar erwartete sie jemand; im Wald knisterte es leise. Sie hob sofort den Kopf und sah sich um; im durchsichtigen Schatten vor mir leuchteten ihre Augen auf, sie waren groß, hell und scheu wie die einer Hirschkuh. Sie lauschte einige Augenblicke, ohne ihre weitgeöffneten Augen von der Stelle zu wenden, wo das leise Knistern ertönte, seufzte dann, wandte langsam den Kopf, neigte sich noch tiefer und begann, die Blumen auseinanderzunehmen. Ihre Lider röteten sich, die Lippen zuckten bitter, und eine neue Träne rollte unter den dichten Wimpern hervor und funkelte auf ihrer Wange. So verging ziemlich lange Zeit; das arme Mädchen rührte sich nicht, es bewegte nur ab und zu traurig die Arme und lauschte, lauschte … Wieder raschelte etwas im Wald – sie fuhr zusammen. Das Rascheln hörte nicht auf, es wurde immer lauter, kam näher, und endlich ließen sich schnelle, entschlossene Schritte vernehmen. Sie richtete sich auf und schien zaghaft zu werden; ihr aufmerksamer Blick zitterte, wie es schien, vor Erwartung. Im Dickicht wurde eine männliche Gestalt sichtbar. Das Mädchen sah gespannt hin, errötete, lächelte freudig und glücklich, wollte schon aufstehen, sank aber gleich wieder zusammen, erbleichte, wurde verlegen und hob ihren bebenden, beinahe flehenden Blick auf den Mann erst, als er neben ihr stehenblieb.

Ich sah ihn von meinem Versteck aus neugierig an. Ich gestehe, er machte auf mich keinen angenehmen Eindruck. Allem Anschein nach war er der verhätschelte Kammerdiener eines jungen, reichen Herrn. Seine Kleidung verriet Ansprüche auf Geschmack und eine stutzerhafte Nachlässigkeit: Er trug einen kurzen, bronzefarbenen, bis oben zugeknöpften Paletot, wahrscheinlich ein abgelegtes Stück seines Herrn, eine rosa Halsbinde mit lila Enden und eine schwarzsamtene Mütze mit goldener Tresse, bis an die Brauen ins Gesicht gedrückt. Der runde Kragen seines weißen Hemdes schnitt sich ihm unbarmherzig in die Wangen und stützte seine Ohren, und die gestärkten Manschetten bedeckten seine Hände bis an die roten krummen Finger, an denen er silberne und goldene Ringe mit Vergißmeinnicht aus Türkisen trug. Sein rosiges, frisches, freches Gesicht gehörte zu den Gesichtern, die, soweit ich bemerkt habe, die Männer fast immer empören, den Frauen aber leider sehr oft gefallen. Offenbar bemühte er sich, seinen ziemlich groben Zügen einen verächtlichen und gelangweilten Ausdruck zu verleihen; er, kniff seine auch ohnehin winzigen milchgrauen Augen zusammen, verzog das Gesicht, ließ die Mundwinkel herab, gähnte gezwungen und strich sich bald mit einer etwas ungeschickten Ungezwungenheit seine rötlichen, kühn geschwungenen Schläfenlocken und zupfte bald an den gelben Härchen, die auf seiner dicken Oberlippe wuchsen – mit einem Wort, er spielte eine ekelhafte Komödie. Er begann sie zu spielen, sobald er das junge Bauernmädchen erblickt hatte, das auf ihn wartete; er ging langsam, nachlässig auf sie zu, blieb eine Weile stehen, zuckte die Achseln, steckte beide Hände in die Taschen seines Paletots und ließ sich, nachdem er das arme Mädchen kaum eines flüchtigen und gleichgültigen Blickes gewürdigt hatte, auf die Erde nieder.

»Nun«, fing er an, immer auf die Seite blickend, mit dem Fuße wippend und gähnend, »bist du schon lange hier?«

Das Mädchen konnte ihm nicht sogleich antworten.

»Schon lange, Viktor Alexandrytsch«, sagte sie endlich mit kaum hörbarer Stimme.

»Ah!« Er nahm die Mütze ab, fuhr sich majestätisch durch sein gekräuseltes Haar, das fast dicht über den Augenbrauen begann, sah sich mit Würde um und bedeckte dann sorgfältig sein kostbares Haupt. »Ich hatte es ganz vergessen. Außerdem regnete es, siehst du!« Er gähnte wieder. »Furchtbar viel zu tun: Ich muß an eine Menge Sachen denken, und der Herr schimpft noch. Wir reisen morgen …«

»Morgen?« rief das Mädchen und richtete auf ihn ihren erschrockenen Blick.

»Morgen … Nun, nun, nun, ich bitte dich«, begann er hastig und ärgerlich, als er sah, daß sie am ganzen Körper erbebte und still den Kopf senkte, »ich bitte dich, Akulina, weine nicht. Du weißt, ich kann das nicht leiden.« Er rümpfte seine stumpfe Nase. »Sonst geh' ich gleich wieder weg … Was für Dummheiten – weinen!«

»Ich werde nicht, ich werde nicht weinen«, erwiderte Akulina hastig, mit Anstrengung die Tränen schluckend. »Sie reisen also morgen?« fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu. »Wann werden wir uns wiedersehen, Viktor Alexandrytsch?«

»Wir werden uns schon wiedersehen. Wenn nicht im nächsten Jahr, so später einmal. Der Herr scheint in Petersburg in den Dienst treten zu wollen«, fuhr er fort, die Worte nachlässig und etwas durch die Nase aussprechend, »vielleicht gehen wir auch ins Ausland.«

»Sie werden mich vergessen, Viktor Alexandrytsch«, sagte Akulina traurig.

»Nein, warum denn? Ich werde dich nicht vergessen. Sei aber vernünftig, mach keine Dummheiten und höre auf den Vater … Ich werde dich aber nicht vergessen, nein.« Er rekelte sich ruhig und gähnte wieder.

»Vergessen Sie mich nicht, Viktor Alexandrytsch«, fuhr sie mit flehender Stimme fort. »Ich habe Sie doch so geliebt, alles tat ich für Sie … Sie sagen, ich solle auf den Vater hören, Viktor Alexandrytsch … Wie soll ich aber auf ihn hören …«

»Warum denn nicht?« Er sprach diese Worte, als kämen sie aus dem Magen; dabei lag er auf dem Rücken, die Hände im Nacken.

»Aber Viktor Alexandrytsch, Sie wissen es doch selbst.«

Sie verstummte. Viktor spielte mit seiner stählernen Uhrkette.

»Akulina, du bist doch ein gescheites Mädel«, begann er endlich, »rede daher keinen Unsinn. Ich will ja dein Bestes, verstehst du mich? Gewiß, du bist nicht dumm, bist nicht ganz Bäuerin sozusagen; auch deine Mutter ist nicht immer Bäuerin gewesen. Aber du bist immerhin ungebildet und mußt darum folgen, wenn man dir etwas sagt.«

»Es ist so schrecklich, Viktor Alexandrytsch.«

.»Unsinn, meine Liebe, was soll da schrecklich sein? Was hast du da«, fügte er hinzu, sich zu ihr umwendend. »Blumen?«

»Ja, Blumen«, antwortete Akulina traurig. »Ich habe Färbergarben gepflückt«, fuhr sie etwas lebhafter fort, »die sind gut für die Kälber. Und das ist Wasserdost, gegen die Skrofeln. Schauen Sie nur, was für eine herrliche Blume, eine so herrliche Blume habe ich noch nie gesehen. Das sind Vergißmeinnicht und das Veilchen … Diese aber habe ich für Sie gepflückt«, fügte sie hinzu, unter den gelben Färbergarben ein kleines, mit einem Grashalm zusammengebundenes Sträußchen Kornblumen hervorziehend, »wollen Sie sie haben?«

Viktor streckte träge die Hand aus, nahm das Sträußchen, roch nachlässig daran und fing an, es zwischen den Fingern zu drehen, nachdenklich und wichtig zum Himmel aufblickend. Akulina sah ihn an … In ihrem traurigen Blick war soviel zarte Hingebung, andächtige Demut und Liebe. Sie fürchtete ihn und wagte nicht zu weinen, sie nahm von ihm Abschied und betrachtete ihn entzückt zum letztenmal; er aber rekelte sich wie ein Sultan und ertrug mit großmütiger Geduld und Herablassung ihre Anbetung. Ich muß gestehen, daß ich mit Empörung sein rotes Gesicht betrachtete, in dem neben der geheuchelten, verächtlichen Gleichgültigkeit auch eine befriedigte und übersättigte Eigenliebe zu sehen war. Akulina war in diesem Augenblick so schön: Ihre ganze Seele öffnete sich ihm so vertrauensvoll und leidenschaftlich entgegen, sie strebte zu ihm, schmiegte sich an ihn, er aber … er ließ die Kornblumen auf die Erde fallen, zog aus der Seitentasche seines Paletots ein rundes, in Bronze gefaßtes Glas und begann, es sich ins Auge zu drücken; wie sehr er sich auch mühte, es mit der gerunzelten Braue, der erhobenen Wange und sogar mit der Nase festzuhalten, das Glas fiel immer wieder heraus und glitt ihm auf die Hand.

»Was ist das?« fragte endlich Akulina erstaunt.

»Ein Lorgnon«, antwortete er wichtig.

»Wozu?«

»Um besser zu sehen.«

»Zeigen Sie es mir.«

Viktor verzog das Gesicht, reichte ihr aber das Glas.

»Paß auf, zerbrich es nicht.«

»Keine Angst, ich zerbreche es nicht.« Sie führte das Glas vorsichtig ans Auge. »Ich sehe nichts«, sagte sie harmlos.

»Kneif doch das Auge zu«, entgegnete er mit der Stimme eines unzufriedenen Schulmeisters. Sie kniff das Auge zu, vor dem sie das Glas hielt. »Nein, nicht dieses, nicht dieses, du Dumme! Das andere«, rief Viktor und nahm ihr das Lorgnon weg, ohne ihr Zeit zu lassen, ihren Fehler wieder gutzumachen.

Akulina errötete, lachte leise und wandte sich weg.

»Es taugt wohl nicht für uns«, sagte sie,

»Das will ich meinen!«

Die Arme schwieg eine Weile und seufzte tief. »Ach, Viktor Alexandrytsch, wie werde ich ohne Sie leben!« sagte sie plötzlich.

Viktor wischte das Lorgnon mit dem Mantelschoß ab und steckte es wieder in die Tasche.

»Ja, ja«, sagte er endlich, »es wird dir anfangs wirklich schwer fallen.« Er klopfte sie herablassend auf die Schulter; sie nahm leise seine Hand von ihrer Schulter und küßte sie schüchtern. »Nun, gewiß, du bist ein gutes Mädel«, fuhr er mit einem selbstgefälligen Lächeln fort, »aber was soll man machen? Urteile doch selbst! Mein Herr und ich können doch nicht hier bleiben; bald beginnt der Winter, und im Winter auf dem Land, du weißt es selbst, ist es einfach gemein. Wie anders ist es in Petersburg! Dort gibt es solche Wunder, wie du Dumme sie dir nicht vorstellen kannst. Was für Häuser, was für Straßen, und erst die Gesellschaft, die Bildung – wunderbar …« Akulina hörte ihm mit verzehrender Neugierde zu, den Mund wie ein Kind halb geöffnet. »Übrigens«, fügte er hinzu, sich auf der Erde rekelnd, »wozu erzähle ich dir das alles? Du kannst es ja doch nicht verstehen!«

»Warum denn nicht, Viktor Alexandrytsch? Ich habe es verstanden, ich habe alles verstanden.«

»Schau, schau!«

Akulina senkte den Kopf.

»Früher haben Sie mit mir nicht so gesprochen, Viktor Alexandrytsch«, sagte sie, ohne die Augen zu heben.

»Früher…? Früher! Sieh mal an …! Früher!« bemerkte er unzufrieden.

Beide schwiegen.

»Ich muß aber gehen«, sagte Viktor und stützte sich schon auf einen Ellenbogen …

»Warten Sie noch ein Weilchen«, versetzte Akulina mit flehender Stimme.

»Worauf soll ich warten …? Ich hab' mich ja von dir schon verabschiedet.«

»Warten Sie«, wiederholte Akulina.

Viktor legte sich wieder hin und fing zu pfeifen an. Akulina sah ihn unverwandt an. Ich konnte sehen, wie sie allmählich in Aufregung geriet; ihre Lippen zuckten, ihre Wangen röteten sich …

»Viktor Alexandrytsch«, begann sie endlich mit stockender Stimme, »es ist Sünde … es ist Sünde, Viktor Alexandrytsch, bei Gott!«

»Was ist Sünde?« fragte er mit gerunzelten Brauen, indem er sich leicht erhob und den Kopf zu ihr wandte.

»Es ist Sünde, Viktor Alexandrytsch. Hätten Sie mir doch nur ein einziges gutes Wörtchen zum Abschied gesagt; ein einziges gutes – Wörtchen mir, der Armen, Verlassenen …«

»Was soll ich dir sagen?«

»Ich weiß es nicht; das müssen Sie besser wissen, Viktor Alexandrytsch. Sie reisen doch fort, und kein einziges Wörtchen … Womit habe ich das verdient?«

»Wie merkwürdig du bist! Was kann ich denn sagen?«

»Wenn nur ein einziges Wörtchen …«

»Immer dasselbe«, sagte er ärgerlich und stand auf.

»Seien Sie nicht böse, Viktor Alexandrytsch«, fügte sie schnell hinzu, mit Mühe die Tränen zurückhaltend.

»Ich bin nicht böse, aber du bist dumm … Was willst du? Ich kann dich doch nicht heiraten? Ich kann es doch nicht? Also was willst du dann? Was?« Er streckte das Gesicht vor, als erwarte er eine Antwort, und spreizte die Finger.

»Ich will nichts … gar nichts«, antwortete sie stotternd und kaum wagend, ihm ihre bebenden Hände entgegenzustrecken, »aber nur ein einziges Wörtchen zum Abschied …«

Aus ihren Augen stürzten Tränen.

»Das habe ich mir auch gedacht, jetzt weint sie«, versetzte Viktor kaltblütig, indem er sich die Mütze von hinten über die Augen stülpte.

»Ich will nichts«, fuhr sie fort, schluchzend und das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, »aber wie wird es mir jetzt in meiner Familie sein, wie? Und was soll aus mir Unglücklichen werden? Mit einem verhaßten Mann wird man mich Verwaiste verheiraten … Mein armer Kopf!«

»Weine nur, weine«, murmelte Viktor halblaut, von einem Fuß auf den anderen tretend.

»Hätten Sie mir doch nur ein einziges Wörtchen gesagt, nur ein einziges …« Und nach einer langen Pause: »Hätten Sie mir doch gesagt: ›Akulina, ich …‹«

Ein plötzliches, herzzerreißendes Schluchzen ließ sie nicht zu Ende sprechen, sie warf sich mit dem Gesicht ins Gras und fing bitter zu weinen an … Ihr ganzer Körper zitterte wie im Krampf, ihr Nacken hob sich … Der lange zurückgehaltene Schmerz brach endlich als unaufhaltsamer Strom hervor. Viktor stand eine Weile neben ihr, zuckte die Achseln, drehte sich um und entfernte sich mit großen Schritten.

Es vergingen einige Augenblicke … Sie wurde stiller, hob den Kopf, sprang auf, sah sich um und schlug die Hände zusammen; sie wollte ihm nachlaufen, aber ihre Füße knickten ein, sie fiel in die Knie … Ich hielt es nicht länger aus und stürzte mich zu ihr; aber kaum hatte sie mich gesehen, als sie, Gott weiß woher, wieder zu Kräften kam; sie erhob sich mit einem leisen Schrei und verschwand zwischen den Bäumen, die auf der Erde zerstreuten Blumen zurücklassend.

Ich blieb eine Weile stehen, hob das Kornblumensträußchen auf und ging aus dem Wäldchen auf das freie Feld. Die Sonne stand tief auf dem blassen, heiteren Himmel, ihre Strahlen schienen welk und kälter geworden zu sein, sie glänzten nicht mehr und ergossen sich als ein gleichmäßiges, wässeriges Licht. Bis zum Abend blieb höchstens eine halbe Stunde, aber das Abendrot fing erst eben zu glühen an. Ein Wind kam mir stoßweise über das gelbe, trockene Stoppelfeld entgegen; vor ihm wirbelten hastig über die Straße am Waldessaum hin kleine, dürre Blätter; die dem Feld zugekehrte Seite des Gehölzes zitterte und flimmerte klar, doch nicht grell; auf dem rötlichen Gras, auf den Strohhalmen, überall glänzten und wogten zahllose Herbstfäden. Ich blieb stehen … Es wurde mir traurig ums Herz; durch das freudige, wenn auch noch frische Lächeln der welkenden Natur glaubte ich die bedrückende Angst vor dem nahenden Winter zu spüren. Hoch über mir flog ein vorsichtiger Rabe, die Luft schwer und scharf mit seinen Flügeln schneidend; er wandte den Kopf, sah mich von der Seite an, schwang sich auf und verschwand mit abgerissenem Gekrächze hinter dem Wald; ein großer Schwarm Tauben stieg schnell von der Tenne auf, wirbelte plötzlich in einer Säule auf, zerstreute sich geschäftig über das Feld – ein Zeichen des Herbstes! Jemand fuhr über die entblößten Hügel, und sein leerer Wagen rasselte laut …

Ich kehrte nach Hause zurück; aber das Bild der armen Akulina kam mir lange nicht aus dem Sinn, und ihre schon längst verwelkten Kornblumen bewahre ich auch heute noch auf …

Der Hamlet des Schtschigrowschen Kreises


Auf einer meiner Fahrten wurde ich vom reichen Gutsbesitzer und Jagdliebhaber Alexander Michailytsch G*** zum Essen geladen. Sein Gut lag etwa fünf Werst von dem kleinen Dörfchen, in dem ich damals wohnte. Ich zog meinen Frack an, ohne den ich niemand rate, sogar zur Jagd auszufahren, und begab mich zu Alexander Michailytsch. Das Mittagessen war für sechs Uhr angesetzt; ich kam um fünf und traf bereits eine große Anzahl von Edelleuten in Uniform, in Zivilkleidern und in anderen, weniger charakteristischen Anzügen vor. Der Hausherr empfing mich freundlich, lief aber gleich in das Dienstbotenzimmer. Er erwartete irgendeinen hohen Würdenträger und befand sich daher in einer gewissen Aufregung, die zu seiner unabhängigen Stellung in der Gesellschaft und seinem Reichtum gar nicht paßte. Alexander Michailytsch war nie verheiratet gewesen und liebte keine Frauen; bei ihm versammelten sich lauter Herren. Er lebte auf großem Fuß, vergrößerte seinen Ahnensitz und stattete ihn mit großem Pomp aus, verschrieb sich alljährlich für etwa fünfzehntausend Rubel Wein aus Moskau und genoß überhaupt das größte Ansehen. Alexander Michailytsch hatte schon längst den Dienst quittiert und strebte nach keinen Ehren … Was veranlaßte ihn dann, sich den Besuch des hochgestellten Gastes zu erbetteln und sich am Tag des feierlichen Mittagessens vom Morgen an so aufzuregen? Das bleibt vom Dunkel der Ungewißheit verhüllt, wie mein Bekannter, ein Gerichtsbeamter, zu antworten pflegte, wenn man ihn fragte, ob er von freiwilligen Gebern Geldgeschenke annehme.

Als mich der Hausherr verlassen hatte, begann ich durch die Zimmer herumzuirren. Fast alle Gäste waren mir unbekannt; an die zwanzig Mann saßen schon beim Kartenspiel. Unter diesen Liebhabern von Préférence befanden sich zwei Militärs mit adligen, aber etwas abgelebten Gesichtern, einige Zivilisten in hohen, engen Halsbinden mit herabhängenden, gefärbten Schnurrbärten, wie man sie nur bei entschlossenen, aber wohlgesinnten Herren sieht (diese wohlgesinnten Herren lasen mit Wichtigkeit die Karten vom Tisch auf und warfen, ohne den Kopf zu wenden, Seitenblicke auf die Vorbeigehenden); fünf oder sechs Kreisbeamte mit runden Bäuchlein, vollen, schweißigen Händchen und bescheiden unbeweglichen Beinchen (diese Herren sprachen mit sanfter Stimme, lächelten mild nach allen Seiten, hielten ihre Karten dicht vor den Vorhemdchen und schlugen, wenn sie einen Trumpf ausspielten, nicht auf den Tisch, sondern ließen vielmehr ihre Karten wellenförmig auf das grüne Tuch fallen und erzeugten, wenn sie die Stiche zusammenlegten, ein leichtes, wohlanständiges und höfliches Knistern). Die übrigen Edelleute saßen auf den Sofas und drängten sich gruppenweise an den Türen und Fenstern; ein nicht mehr junger Gutsbesitzer von frauenhaftem Aussehen stand in einer Ecke, zuckte zuweilen zusammen, errötete und spielte verlegen mit dem Petschaft der Uhrkette auf seinem Magen, obwohl ihn niemand beachtete; einige Herren in runden Fräcken und karierten Pantalons, einem Erzeugnis des Moskauer Schneiders Firs Kljuschin, unterhielten sich äußerst ungezwungen und lebhaft, wobei sie ihre kahlen und fetten Nacken frei bewegten; ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren, kurzsichtig und blond, vom Kopf bis zu den Füßen schwarz gekleidet, zeigte große Schüchternheit, lächelte aber giftig …

Ich fing schon an, mich zu langweilen, als sich zu mir plötzlich ein gewisser Woinizyn gesellte, ein junger Mann, der seine Studien nicht beendet hatte und im Hause Alexander Michailytschs in Eigenschaft eines … es ist schwer zu sagen, in welcher Eigenschaft er da lebte. Er schoß vorzüglich und verstand sich auf die Dressur von Hunden. Ich hatte ihn schon in Moskau gekannt. Er gehörte zu jenen jungen Leuten, die bei jedem Examen von einem Starrkrampf befallen wurden, das heißt, kein Wort auf die Fragen des Professors zu sagen wußten. Diese Herren nannte man des schönen Stiles wegen auch ›Backenbartisten‹. (Es ist schon lange her, wie Sie zu sehen belieben.) Das spielte sich auf folgende Weise ab: Es wurde z.B. Woinizyn aufgerufen. Woinizyn, der bis dahin unbeweglich und gerade, vom Köpf bis zu den Füßen in Schweiß gebadet auf seiner Bank gesessen und langsam, aber gedankenlos seine Augen hatte herumschweifen lassen; erhob sich, knöpfte hastig seinen Uniformrock bis oben zu und näherte sich seitwärts dem Tisch der Examinatoren. – »Wollen Sie sich ein Billett nehmen«, sagte der Professor freundlich zu ihm. Woinizyn streckte die Hand aus und berührte zitternd den Haufen der Billette mit seinen Fingern. – »Suchen Sie sich bitte eines heraus«, bemerkte mit zitternder Stimme irgendein unbeteiligter, aber reizbarer Greis, ein Professor von einer anderen Fakultät, von einem plötzlichen Haß gegen den unglücklichen Backenbartisten erfüllt. Woinizyn ergab sich in sein Schicksal, nahm ein Billett, zeigte die Nummer vor und setzte sich ans Fenster, während sein Vorgänger examiniert wurde. Am Fenster blickte Woinizyn unverwandt auf sein Billett, ließ nur ab und zu langsam seinen Blick umherschweifen und rührte im übrigen kein Glied. Sein Vorgänger ist nun fertig geworden, und man sagt zu ihm: »Gut, Sie können gehen« oder sogar: »Gut, sehr gut«, je nach seinen Fähigkeiten. Nun wird Woinizyn aufgerufen; Woinizyn steht auf und nähert sich mit festen Schritten dem Tisch. – »Lesen Sie Ihr Billett vor«, sagt man zu ihm. Woinizyn hebt das Billett mit beiden Händen dicht vor die Nase, liest es langsam vor und senkt langsam die Augen. – »Nun, jetzt wollen Sie antworten«, sagt träge derselbe Professor, den Oberkörper zurückwerfend und die Arme auf der Brust kreuzend. Es tritt eine Grabesstille ein. – »Nun?« – Woinizyn schweigt. Der unbeteiligte Greis beginnt zu zucken. – »Sagen Sie doch etwas!« – Mein Woinizyn schweigt wie erstarrt. Sein kurzgeschorener Nacken ragt unbeweglich gegen die neugierigen Blicke aller Kollegen. Dem unbeteiligten Greis wollen die Augen aus dem Kopf springen, nun ist er ganz vom Haß gegen Woinizyn erfüllt. – »Es ist immerhin sonderbar«, bemerkt ein anderer Examinator: »Warum stehen Sie wie stumm da? Sie wissen nichts? Sagen Sie es doch geradeheraus.« – »Gestatten Sie, daß ich mir ein anderes Billett nehme«, sagt der Unglückliche mit dumpfer Stimme. Die Professoren wechseln Blicke. – »Nun, nehmen Sie nur«, antwortet der Hauptexaminator mit einer resignierten Handbewegung. Woinizyn nimmt wieder ein Billett, geht wieder zum Fenster, kehrt zum Tisch zurück und schweigt wieder wie ein Toter. Der unbeteiligte Greis ist imstande, ihn beim lebendigen Leibe aufzufressen. Schließlich läßt man ihn gehen und setzt ihm eine Null. Glaubt ihr etwa, daß er wenigstens jetzt fortgehen wird? Keine Spur! Er kehrt auf seinen Platz zurück und schweigt wieder wie ein Toter, sitzt unbeweglich bis zum Schluß des Examens und ruft beim Weggehen: »Diese Plage! Diese Schinderei!« – Dann geht er den ganzen Tag durch die Straßen von Moskau, greift sich ab und zu an den Kopf und verwünscht sein unglückseliges Schicksal. Natürlich nimmt er aber kein Buch in die Hand, und am nächsten Tag wiederholt sich genau die gleiche Geschichte. Dieser selbe Woinizyn gesellte sich also zu mir. Wir sprachen von Moskau und von der Jagd.

»Wollen Sie«, flüsterte er mir plötzlich zu, »daß ich Sie mit dem ersten Witzling dieser Gegend bekannt mache?«

»Ich bitte sehr.«

Woinizyn führte mich zu einem kleinen Mann mit hohem Schopf und Schnurrbart, in einem braunen Frack und bunter Halsbinde. Seine galligen, beweglichen Züge atmeten wirklich Geist und Bosheit. Ein flüchtiges, giftiges Lächeln verzerrte fortwährend seine Lippen; die schwarzen, zusammengekniffenen Äuglein blickten frech unter den ungleichen Wimpern hervor. Neben ihm stand ein breitschultriger, gedunsener, einäugiger Gutsbesitzer, süßlich wie ein Stück Zucker. Er lachte schon im voraus über die Witze des kleinen Mannes und schmolz gleichsam vor Vergnügen. Woinizyn stellte mich dem Witzling vor, welcher Pjotr Petrowitsch Lupichin hieß. Wir machten Bekanntschaft und tauschten die ersten höflichen Worte.

»Gestatten Sie, daß ich Ihnen meinen besten Freund vorstelle«, begann plötzlich Lupichin, indem er den süßen Gutsbesitzer bei der Hand faßte. »Sträuben Sie sich nicht, Kirilla Selifanytsch«, fügte er hinzu, »man wird Sie nicht beißen. Hier«, fuhr er fort, während der verlegene Kirilla Selifanytsch sich so ungeschickt verbeugte, als wollte ihm der Bauch abfallen, »ich empfehle Ihnen einen vorzüglichen Edelmann. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr erfreute er sich einer vortrefflichen Gesundheit, da fiel es ihm plötzlich ein, sich seine Augen behandeln zu lassen. Infolgedessen wurde er auf einem Auge blind. Seitdem behandelt er seine Bauern mit dem gleichen Erfolg. Diese sind natürlich mit der gleichen Anhänglichkeit …«

»Ach, dieser …« murmelte Kirilla Selifanytsch und lachte.

»Sprechen Sie nur aus, mein Freund, sprechen Sie nur aus«, fiel ihm Lupichin ins Wort. »Man wird Sie vielleicht noch zum Richter wählen, man wird Sie ganz sicher wählen, Sie werden es sehen. Für Sie werden natürlich die Beisitzer denken; aber man muß ja gegebenenfalls auch einen fremden Gedanken auszusprechen verstehen. Es kann ja der Gouverneur kommen und fragen: ›Warum stottert der Richter?‹ Nun, nehmen wir an, daß man ihm antworte: ›Er hat einen Schlaganfall gehabt‹, dann wird der Gouverneur aber sagen: ›Nun, dann lasse man ihn zur Ader.‹ Gestehen Sie selbst, daß das in Ihrer Stellung unpassend wäre.«

Der süße Gutsbesitzer wälzte sich vor Lachen.

»Er lacht«, fuhr Lupichin fort mit einem boshaften Blick auf den zitternden Bauch Kirilla Selifanytschs. »Warum soll er auch nicht lachen?« fügte er, an mich gewandt, hinzu: »Er ist satt und gesund, hat keine Kinder, seine Bauern sind nicht verpfändet, er kuriert sie selbst, seine Frau ist nicht ganz gescheit …« Kirilla Selifanytsch wandte sich etwas auf die Seite, als hätte er nichts gehört, und fuhr fort zu lachen. »Ich lache doch auch … mir ist aber meine Frau mit einem Feldmesser durchgegangen.« Er grinste. »Haben Sie es denn nicht gewußt? Gewiß! Jawohl, sie ist durchgebrannt und hat mir einen Brief hinterlassen: ›Lieber Pjotr Petrowitsch, verzeihe mir; von Leidenschaft überwältigt, entferne ich mich mit dem Freund meines Herzens …‹ Der Feldmesser hatte sie aber nur dadurch erobert, daß er sich nie die Nägel schnitt und enganliegende Hosen trug. Sie wundern sich? Sie denken sich wohl: Ist das ein offenherziger Mensch … Mein Gott! So ein Steppenmensch wie ich sagt immer die Wahrheit. Wollen wir jedoch auf die Seite gehen … Was sollen wir neben dem zukünftigen Richter stehen?«

Er nahm mich unter den Arm, und wir traten ans Fenster.

»Ich gelte hier als Witzling«, sagte er mir im Verlauf des Gesprächs, »glauben Sie es nicht. Ich bin einfach ein erbitterter Mensch und schimpfe laut: Dann bin ich auch so ungeniert. Und warum sollte ich mich auch genieren? Ich gebe nichts auf die Meinung der anderen und strebe nach nichts; ich bin boshaft, was ist dabei! Ein boshafter Mensch braucht wenigstens keinen Verstand zu haben. Das ist aber so erfrischend, Sie werden es gar nicht glauben … Schauen Sie sich zum Beispiel unseren Gastgeber an! Warum rennt er so herum, ich bitte Sie! Jeden Augenblick schaut er auf die Uhr, er lächelt, schwitzt, setzt sich eine wichtige Miene auf und läßt uns verhungern! Als ob man einen solchen Würdenträger noch nie gesehen hätte! Da rennt er wieder vorbei, er humpelt sogar, sehen Sie nur!«

Lupichin lachte mit hoher Stimme.

»Eines ist schade«, fuhr er mit einem tiefen Seufzer fort, »es ist ein Junggesellendiner ohne Damen – aber das wäre für unsereinen ein Fressen. Schauen Sie nur, schauen Sie nur«, rief er plötzlich, »da kommt der Fürst Koseljskij – dieser große Mann mit dem Bart, mit, den gelben Handschuhen. Man sieht gleich, daß er im Ausland gewesen ist … immer kommt er so spät. Ich sage Ihnen, er ist allein so dumm wie ein Paar Kaufmannspferde; Sie hätten aber sehen sollen, wie herablassend er mit unsereinem spricht, wie großmütig er über die Liebenswürdigkeiten unserer hungrigen Mütterchen und Töchter zu lächeln geruht …! Auch er selbst macht zuweilen Witze, obwohl er sich hier nur auf der Durchreise befindet; die Witze sind aber auch danach! Es ist, wie wenn man mit einem stumpfen Messer einen Bindfaden entzweisägte. Mich kann er nicht ausstehen … Ich will mal hingehen und ihn begrüßen.«

Lupichin lief dem Fürsten entgegen.

»Dort geht aber mein persönlicher Feind«, sagte er, als er plötzlich wieder neben mir stand. »Sehen Sie jenen dicken Mann mit dem dunklen Gesicht und den Borsten auf dem Kopf – der seine Mütze in der Hand hält, an der Wand entlangschleicht und wie ein Wolf nach allen Seiten blickt? Ich habe ihm für vierhundert Rubel ein Pferd verkauft, welches tausend Rubel wert war, und dieses dumme Geschöpf hat das volle Recht, mich zu verachten; dabei ist er aber so vollkommen hirnlos, besonders morgens, nach dem Tee, oder gleich nach dem Mittagessen, daß er, wenn man ihm guten Tag sagt, antwortet: ›Was?‹ – Da kommt aber ein General«, fuhr Lupichin fort, »ein Zivilgeneral a. D., ein General, der sein Vermögen verloren hat. Er hat eine Tochter aus Rübenzucker und eine skrofulöse Fabrik … Entschuldigen Sie, ich habe mich versprochen, aber Sie verstehen mich schon. Ah! Auch der Architekt ist hier! Ist ein Deutscher, trägt aber einen Schnurrbart und versteht seine Sache nicht – ein blaues Wunder …! Was soll er übrigens seine Sache verstehen, wenn er nur versteht, Bestechungsgelder zu nehmen und recht viele Säulen und Pfeiler für unsere Edelleute, die Pfeiler der Gesellschaft, aufzustellen!«

Lupichin lachte wieder … Plötzlich verbreitete sich eine Unruhe durch das ganze Haus. Der Würdenträger war angekommen. Der Hausherr stürzte ins Vorzimmer. Einige ergebene Hausfreunde und eifrige Gäste folgten ihm nach … Das geräuschvolle Gespräch verwandelte sich in ein leises, angenehmes Raunen, so summen die Bienen zur Frühlingszeit in ihren heimatlichen Stöcken. Nur eine rastlose Wespe, Lupichin, und eine prächtige Hummel, Koseljskij, dämpften ihre Stimmen nicht … Endlich trat die Bienenkönigin, der Würdenträger, herein. Alle Herzen flogen ihm entgegen, die sitzenden Oberkörper hoben sich; selbst der Gutsbesitzer, der von Lupichin so billig das Pferd gekauft hatte, selbst dieser Gutsbesitzer – drückte sein Kinn gegen die Brust. Der Würdenträger bewahrte seine Würde vortrefflich; den Kopf in den Nacken werfend, als ob er grüßte, sprach er einige lobende Worte, von denen ein jedes mit dem Laut A begann, den er gedehnt und durch die Nase sprach; mit einer Empörung, die an Hunger grenzte, blickte er auf den Bart des Fürsten Koseljskij und reichte dem ruinierten Zivilgeneral mit der Fabrik und der Tochter den Zeigefinger der linken Hand. Nach einigen Minuten, innerhalb deren der Würdenträger zweimal die Bemerkung gemacht hatte, er sei sehr froh, daß er zum Mittagessen nicht zu spät gekommen sei, begab sich die ganze Gesellschaft unter Vorantritt der großen Tiere in den Speisesaal.

Brauche ich denn noch dem Leser zu erzählen, wie man den Würdenträger auf den Ehrenplatz zwischen den Zivilgeneral und den Adelsmarschall des Gouvernements, einen Menschen mit einem unabhängigen und würdigen Ausdruck des Gesichts, das vollkommen seiner gestärkten Hemdbrust, seiner unermeßlichen Weste und der runden Tabaksdose mit französischem Schnupftabak entsprach, plazierte – wie der Hausherr geschäftig herumlief, aus der Haut fuhr, die Gäste nötigte, im Vorbeigehen den Rücken des Würdenträgers anlächelte und, wie ein Schuljunge im Winkel stehend, hastig einen Teller Suppe oder ein Stückchen Fleisch hinunterschlang – wie der Haushofmeister einen Fisch von anderthalb Arschin Länge mit einem Bukett im Maul auftrug; wie die livrierten Diener mit strengen Mienen jedem Edelmann mürrisch bald Drymadeira, bald Malaga aufdrängten, und wie fast alle Edelleute, besonders die älteren, als müßten sie sich unwillig einer Pflicht unterziehen, ein Glas nach dem anderen leerten; wie schließlich die Champagnerpropfen knallten und die Toaste begannen: Dies alles ist dem Leser wohl allzu bekannt. Besonders bemerkenswert erschien mir aber die Anekdote, die der Würdenträger selbst inmitten eines allgemeinen, freudigen Schweigens zum besten gab. Jemand, ich glaube ein General, der sein Vermögen verloren hatte, ein mit der neuesten Literatur vertrauter Mann, erwähnte den Einfluß der Frauen im allgemeinen und auf die jungen Leute im besonderen. »Ja, ja«, fiel ihm der Würdenträger ins Wort, »das ist wahr, aber man muß die jungen Leute in strenger Zucht halten, sonst werden sie von jedem Weiberrock verrückt.« Ein kindlich-heiteres Lächeln glitt über die Gesichter aller Gäste; die Augen eines Gutsbesitzers drückten sogar Dankbarkeit aus. »Denn die jungen Leute sind dumm.« Der Würdenträger betonte zuweilen, wohl der Wichtigkeit wegen, gewisse Worte anders, als es sonst üblich ist. »Da habe ich zum Beispiel einen Sohn Iwan«, fuhr er fort, »der Dummkopf ist kaum zwanzig Jahre alt, aber plötzlich sagt er mir: ›Papachen, erlauben Sie mir zu heiraten.‹ Ich sage ihm: ›Dummkopf, diene erst dem Staat …‹ Natürlich Verzweiflung und Tränen … aber ich bin in solchen Fällen …« Das Wort ›Fällen‹ sprach der Würdenträger mehr mit dem Bauch als mit den Lippen; dann machte er eine Pause und blickte majestätisch seinen Nachbarn, den General an, wobei er seine Brauen viel höher hob, als man es erwartet hätte. Der Zivilgeneral neigte den Kopf freundlich auf die Seite und zwinkerte außerordentlich schnell mit dem Auge, das dem Würdenträger zugewandt war. »Und was glauben Sie?« begann der Würdenträger von neuem: »Jetzt schreibt er mir selbst: ›Ich danke Ihnen, Papachen, daß Sie mich Dummkopf belehrt haben …‹ Ja, so muß man handeln.« – Alle Gäste stimmten natürlich dem Erzähler zu und schienen von dem empfangenen Vergnügen und der Belehrung neu belebt … Nach dem Essen stand die ganze Gesellschaft auf und begab sich ins Gastzimmer mit einem etwas lauteren, aber immer noch anständigen und in einem solchen Falle gleichsam erlaubten Geräusch … Man setzte sich an die Kartentische.

Ich schlug irgendwie die Zeit bis zum Abend tot, befahl meinem Kutscher, den Wagen am anderen Morgen um fünf Uhr anzuspannen, und begab mich zur Ruhe.

Aber es war mir beschieden, noch am gleichen Tag einen sehr merkwürdigen Menschen kennenzulernen.

Infolge der großen Zahl der Gäste schlief niemand allein. In dem kleinen, grünlichen, etwas feuchten Zimmer, in das mich der Haushofmeister Alexander Michailytschs geleitet hatte, befand sich schon ein anderer Gast, der schon völlig entkleidet war. Als er mich sah, tauchte er schnell unter seine Bettdecke, zog sie sich bis über die Nase, rückte noch eine Weile auf dem weichen Pfühle hin und her und beruhigte sich dann, blickte aber aufmerksam unter dem runden Saum seiner baumwollenen Nachtmütze hervor. Ich trat an das andere Bett (es waren nur zwei Betten im Zimmer), zog mich aus und legte mich auf das feuchte Laken. Mein Nachbar bewegte sich in seinem Bett … Ich wünschte ihm gute Nacht.

So verging eine halbe Stunde. Trotz meiner Bemühungen konnte ich unmöglich einschlafen: In einem endlosen Reigen zogen sich unnütze und verworrene Gedanken hin, hartnäckig und einförmig wie die Eimer einer Schöpfmaschine.

»Mir scheint, Sie schlafen nicht?« fragte mein Nachbar.

»Wie Sie sehen«, antwortete ich. »Aber auch Sie sind noch nicht schläfrig?«

»Ich bin niemals schläfrig.«

»Wieso?«

»So. Ich weiß selbst nicht, wie ich einschlafe; ich liege, liege und schlafe plötzlich ein.«

»Warum legen Sie sich dann zu Bett, ehe Sie schläfrig sind?«

»Was soll ich denn machen?«

Ich beantwortete diese Frage meines Nachbars nicht.

»Ich wundere mich«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »warum es hier keine Flöhe gibt. Man sollte glauben, daß gerade hier welche sein müßten.«

»Sie scheinen sie sehr zu vermissen«, bemerkte ich.

»Nein, ich vermisse sie nicht; aber ich liebe in allen Dingen die Konsequenz.«

So, so, dachte ich mir, solche Worte gebraucht er also!

Der Nachbar schwieg wieder.

»Wollen Sie mit mir wetten?« begann er von neuem ziemlich laut.

»Worüber?«

Mein Nachbar fing an, mich zu amüsieren.

»Hm … worüber? Nun, ich bin überzeugt, daß Sie mich für einen Dummkopf halten.«

»Ich bitte Sie!« murmelte ich erstaunt.

»Für einen Steppenmenschen, für einen ungebildeten Kerl … Gestehen Sie es nur …«

»Ich habe nicht das Vergnügen, Sie zu kennen«, entgegnete ich. »Woraus konnten Sie denn schließen …«

»Woraus! Schon aus dem Ton Ihrer Stimme; Sie antworten mir so nachlässig … Ich bin aber etwas ganz anderes als das, für was Sie mich halten …«

»Erlauben Sie …«

»Nein, erlauben Sie. Erstens spreche ich Französisch nicht schlimmer als Sie, Deutsch sogar besser als Sie; zweitens habe ich drei Jahre im Ausland verbracht, in Berlin allein habe ich acht Monate verlebt. Ich habe Hegel studiert, sehr verehrter Herr, und kann Goethe auswendig; außerdem war ich lange in die Tochter eines deutschen Professors verliebt und habe hier zu Hause ein schwindsüchtiges Mädchen geheiratet, eine kahlköpfige, aber sehr bemerkenswerte Person. Folglich bin ich aus dem gleichen Holz wie Sie; ich bin kein Steppenmensch, wie Sie es wohl annehmen … Auch ich bin von der Reflexion vergiftet, und es ist nichts Ursprüngliches in mir.«

Ich hob den Kopf und sah den merkwürdigen Menschen mit doppelter Aufmerksamkeit an. Beim trüben Schein des Nachtlichtes konnte ich seine Züge kaum unterscheiden.

»Jetzt sehen Sie mich an«, fuhr er fort, indem er seine Nachtmütze zurechtrückte, »und fragen sich wohl: Wie habe ich ihn heute am Tag nicht bemerkt? Ich will Ihnen sagen, warum Sie mich nicht bemerkt haben: Weil ich meine Stimme nicht erhebe; weil ich mich hinter den anderen verstecke, hinter der Tür stehe und mit niemandem spreche; weil der Haushofmeister, wenn er mit dem Tablett an mir vorüberkommt, im voraus schon seinen Ellenbogen in die Höhe meiner Brust hebt … Woher kommt aber das alles? Aus zwei Ursachen: Erstens bin ich arm, und zweitens habe ich mich gedemütigt … Sagen Sie doch die Wahrheit: Sie haben mich nicht bemerkt?«

»Ich hatte wirklich nicht das Vergnügen …«

»Nun ja, nun ja«, unterbrach er mich, »ich habe es gewußt.«

Er setzte sich auf und kreuzte die Arme; der lange Schatten seiner Nachtmütze bog sich von der Wand weg auf die Decke hinüber.

»Gestehen Sie doch«, fügte er hinzu, mich plötzlich von der Seite anblickend, »Sie müssen mich für einen großen Sonderling, was man ein Original nennt, halten, vielleicht sogar für etwas Schlimmeres; vielleicht glauben Sie gar, daß ich den Sonderling bloß spiele?«

»Ich muß Ihnen noch einmal sagen, daß ich Sie nicht kenne …«

Er senkte auf einen Augenblick das Gesicht.

»Warum ich mit Ihnen, einem mir völlig unbekannten Menschen, so unerwartet ins Gespräch gekommen bin – das weiß der liebe Gott allein!« Er seufzte. »Doch nicht infolge der Verwandtschaft unserer Seelen! Sie und ich, wir sind beide anständige Menschen, das heißt Egoisten: Ich kümmere mich nicht um Sie, und Sie kümmern sich nicht um mich, nicht wahr? Aber wir können beide nicht einschlafen … Warum soll man dann nicht ein wenig plaudern? Ich bin in Stimmung, und das kommt bei mir selten vor. Ich bin, sehen Sie, schüchtern, schüchtern nicht aus dem Grunde, daß ich ein armer, titelloser Provinzler bin, sondern weil ich schrecklich selbstsüchtig bin. Aber zuweilen, unter dem Einfluß günstiger Umstände und Zufälligkeiten, die ich übrigens selbst weder zu bestimmen noch vorauszusehen vermag, verschwindet meine Schüchternheit, wie zum Beispiel jetzt, vollkommen. Sie können mich jetzt dem Dalai-Lama selbst gegenüberstellen, und ich werde ihn um eine Prise bitten. Aber vielleicht wollen Sie schon schlafen?«

»Im Gegenteil«, beeilte ich mich zu erwidern, »es ist mir sehr angenehm, mich mit Ihnen zu unterhalten.«

»Das heißt, ich amüsiere Sie, wollten Sie wohl sagen … Um so besser. Ich will Ihnen also sagen, daß man mich hier ein Original nennt, das heißt, so nennen mich diejenigen, denen unter anderm Unsinn auch mein Name auf die Zunge kommt. Um mein Schicksal ist niemand allzusehr besorgt … Sie glauben mich damit zu kränken … Mein Gott, wenn sie wüßten … ja, ich gehe eben darum zugrunde, weil in mir gerade nichts Originelles ist, nichts außer solchen Ausfällen wie zum Beispiel mein jetziges Gespräch mit Ihnen; aber diese Ausfälle sind keinen roten Heller wert, das ist die billigste und gemeinste Art der Originalität.«

Er wandte mir sein Gesicht zu und schwang die Hände.

»Verehrter Herr«, rief er aus, »ich bin der Ansicht, daß nur die Originale allein ein gutes Leben und ein Recht zu leben haben. Mon verre n'est pas grand, mais je bois dans mon verre, hat jemand gesagt. – Hören Sie«, fügte er halblaut hinzu, »wie rein ich das Französische ausspreche. Was habe ich davon, daß dein Kopf groß und geräumig ist, daß du alles verstehst, viel weißt, mit deiner Zeit Schritt hältst, wenn du nichts Originelles, Besonderes hast? Es ist wohl ein Abladeplatz für die Gemeinplätze in der Welt mehr, wer hat aber etwas davon? Nein, sei meinetwegen dumm, sei es aber auf deine eigene Weise! Habe deinen Geruch, deinen eigenen Geruch, das ist es! – Glauben Sie nur nicht, daß ich in bezug auf diesen Geruch allzu große Forderungen stelle … Gott behüte! Solche Originale gibt es eine Menge, wo man auch hinsieht, ist ein Original; jeder lebendige Mensch ist ein Original, ich bin aber nicht darunter!«

»Und doch habe ich«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »in meiner Jugend gewisse Hoffnungen geweckt! Was für eine hohe Meinung habe ich selbst von meiner Person vor meiner Abreise nach dem Ausland gehabt und auch in der ersten Zeit nach meiner Rückkehr! Nun, im Ausland war ich auf der Hut, suchte mir meinen Weg selbst, wie es auch unsereinem ziemt, der alles zu begreifen sucht und zuletzt, wie es sich herausstellt, doch nichts begriffen hat!«

»Ein Original, ein Original!« fuhr er fort, vorwurfsvoll den Kopf schüttelnd. »Alle nennen mich ein Original, aber in Wirklichkeit zeigt es sich, daß es in der Welt keinen weniger originellen Menschen gibt als Ihren ergebensten Diener. Wahrscheinlich bin ich auch nur als eine Kopie eines anderen geboren … Bei Gott! Ich lebe auch gleichsam als Nachahmung verschiedener Schriftsteller, die ich studiert habe, ich lebe im Schweiß meines Angesichts; ich habe studiert, habe mich verliebt und schließlich auch geheiratet, gleichsam nicht nach eigenem Willen, sondern als wenn ich damit eine Pflicht oder eine Aufgabe zu erfüllen hätte – wer kann daraus klug werden!« Er riß sich die Nachtmütze vom Kopf.

»Wollen Sie, daß ich Ihnen mein Leben erzähle«, fragte er mich kurz, »oder, noch besser, einige Züge aus meinem Leben?«

»Tun Sie mir den Gefallen!«

»Oder nein, ich will Ihnen lieber erzählen, wie ich geheiratet habe. Die Heirat ist doch eine wichtige Sache, ein Prüfstein des ganzen Menschen; in ihr spiegelt sich wie in einem Spiegelglas … aber dieser Vergleich ist zu abgegriffen … Gestatten Sie, daß ich mir eine Prise nehme.«

Er holte unter dem Kissen seine Tabaksdose hervor, öffnete sie und begann wieder zu sprechen, die geöffnete Tabaksdose in der Hand schwingend.

»Versetzen Sie sich doch in meine Lage, sehr geehrter Herr … Urteilen Sie selbst, sagen Sie mir doch, was für einen Nutzen konnte ich aus Hegels Enzyklopädie ziehen? Was hat diese Enzyklopädie mit dem russischen Leben gemein? Wie wollen Sie sie auf unser Leben anwenden, und nicht nur diese Enzyklopädie allein, sondern die deutsche Philosophie überhaupt … ich sage noch mehr: die Wissenschaft?«

Er sprang in seinem Bett auf und begann halblaut, die Zähne boshaft zusammengebissen, zu murmeln: »Ja, so ist es, so ist es …! Warum hast du dich denn im Ausland herumgetrieben? Warum hast du nicht zu Hause gesessen und das dich umgebende Leben an Ort und Stelle studiert? Dann hättest du alle seine Einzelheiten, auch seine Zukunft kennengelernt und wärest dir auch über deine sogenannte Bestimmung klargeworden … Erlauben Sie doch«, fuhr er fort, mit wieder veränderter Stimme, als rechtfertige er sich und verzage, »wo soll unsereins das studieren, was noch kein einziger kluger Mensch in ein Buch geschrieben hat? Ich hätte mich ja sehr gerne vom russischen Leben belehren lassen, aber dieses liebe Leben schweigt. Es sagt: ›Erfasse mich von selber!‹ Ich habe aber nicht die Kraft dazu; man gebe mir die Deduktionen, ziehe mir die Schlüsse … Die Schlüsse? Da hast du, sagt man mir, die Schlüsse: Höre doch mal unsere Moskauer an, sind sie vielleicht keine Nachtigallen? – Das ist aber das Unglück, daß sie wie die Kursker Nachtigallen schmettern, aber nicht wie Menschen reden … So überlegte ich und sagte mir, die Wissenschaft sei doch überall die gleiche, auch die Wahrheit sei die gleiche, und begab mich in Gottes Namen in die Fremde zu den Ungläubigen … Was wollen Sie! Die Jugend, der Stolz war mir zu Kopf gestiegen. Wissen Sie, ich wollte nicht vor der Zeit Fett ansetzen, obwohl man sagt, es sei gesund. Übrigens: Wem die Natur kein Fleisch gegeben hat, der wird niemals Fett an seinem Leib sehen!«

»Aber ich glaube«, fuhr er nach einigem Nachdenken fort, »ich versprach, Ihnen zu erzählen, auf welche Weise ich geheiratet habe. Hören Sie zu. Erstens muß ich Ihnen sagen, daß meine Frau nicht mehr unter den Lebenden weilt; zweitens … zweitens sehe ich, daß ich Ihnen von meiner Jugend erzählen muß, sonst werden Sie nichts verstehen … Sie wollen doch noch nicht schlafen?«

»Nein.«

»Schön. Hören Sie mal … da schnarcht im Nebenzimmer Herr Kantagrjuchin, wie ordinär! Ich wurde von armen Eltern geboren, ich sage Eltern, weil ich laut Überlieferung außer der Mutter auch einen Vater gehabt habe. Ich kann mich seiner nicht erinnern; man sagt, er sei ein beschränkter Mensch mit einer großen Nase und Sommersprossen im Gesicht gewesen, rotes Haar hätte er gehabt und den Tabak nur mit einem Nasenloch geschnupft; im Schlafzimmer meiner Mutter hing sein Bildnis, in roter Uniform mit einem schwarzen Kragen bis an die Ohren, ein ungewöhnlich häßlicher Mensch. Ich wurde an diesem Bildnis vorbeigeführt, sooft ich die Rute bekommen sollte, und meine Mutter zeigte in solchen Fällen immer auf ihn und sagte: ›Er hätte dich noch ganz anders bestraft.‹ Sie können sich vorstellen, wie mich das ermutigte. Ich hatte weder Bruder noch Schwester, das heißt, eigentlich hatte ich einen Bruder, der nicht viel taugte, mit der englischen Krankheit im Nacken, aber der starb sehr bald … Wie kommt auch die englische Krankheit in den Schtschigrowschen Kreis des Kursker Gouvernements? Aber nicht davon will ich sprechen. Meine Mutter leitete selbst meine Erziehung mit dem ganzen Eifer einer Steppengutsbesitzerin: Sie befaßte sich damit von dem herrlichen Tag meiner Geburt bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr … Folgen Sie dem Gang meiner Erzählung?«

»Gewiß, fahren Sie nur fort.«

»Nun gut. Sobald ich sechzehn Jahre alt geworden war, jagte meine Mutter meinen französischen Hofmeister, den Deutschen Philippowitsch, der eigentlich ein Njeschiner Grieche war, aus dem Hause; sie brachte mich nach Moskau, ließ mich bei der Universität einschreiben und befahl ihre Seele dem Allmächtigen, nachdem sie mich meinem Onkel, dem Advokaten Koltun-Babura, einem nicht nur im Schtschigrowschen Kreise bekannten Vogel, überlassen hatte. Mein leiblicher Onkel, der Advokat Koltun-Babura, plünderte mich, wie es so geht, bis aufs Hemd aus … Aber ich will nicht davon sprechen. Auf die Universität kam ich – das muß ich meiner Mutter lassen – recht gut vorbereitet; aber schon damals machte sich bei mir ein Mangel an Originalität bemerkbar. Meine Kindheit unterschied sich durch nichts von der Kindheit anderer Jünglinge: Ich wuchs ebenso dumm und matt wie unter einem Federbett heran, fing ebenso früh an, Gedichte auswendig zu lernen und zu versauern, unter der Vorspiegelung einer träumerischen Hinneigung … wozu doch? – ja, zum Schönen … und so weiter. In der Universität schlug ich keinen andern Weg ein: Ich geriet sogleich in einen ›Zirkel‹. Damals waren andere Zeiten … Sie wissen aber vielleicht nicht, was so ein Zirkel ist? – Ich glaube, Schiller hat irgendwo gesagt:

Gefährlich ist's, den Leu zu wecken,

Verderblich ist des Tigers Zahn,

Jedoch der schrecklichste der Schrecken,

Das ist der Mensch in seinem Wahn!

Ich versichere Ihnen, er hat gar nicht das sagen wollen; er hat sagen wollen: Das ist ein ›Zirkel‹ in der Stadt Moskau!«

»Was finden Sie so Schreckliches an einem Zirkel?« fragte ich.

Mein Nachbar ergriff seine Schlafmütze und zog sie sich über die Nase.

»Was ich daran Schreckliches finde?« rief er. »Nun, hören Sie also: So ein Zirkel ist der Ruin einer jeden selbständigen Entwicklung; ein Zirkel ist ein häßlicher Ersatz für die Gesellschaft, für die Frau, für das Leben; der Zirkel … warten Sie, ich will Ihnen sagen, was so ein Zirkel ist! Ein Zirkel ist ein träges und mattes Leben miteinander und nebeneinander, dem man das Aussehen und die Bedeutung einer vernünftigen Sache gibt; ein Zirkel ersetzt Gespräche durch Räsonnements, er gewöhnt an fruchtloses Geschwätz, lenkt einen von der einsamen, segensreichen Arbeit ab, impft einem die literarische Krätze ein, nimmt einem schließlich die Frische und die jungfräuliche Kraft der Seele. Ein Zirkel ist Banalität and Langweile unter dem Namen von Verbrüderung und Freundschaft, eine Verkettung von Mißverständnissen und Anmaßungen unter dem Vorwand von Aufrichtigkeit und Teilnahme; in einem Zirkel hat jeder Freund das Recht, zu jeder Zeit und zu jeder Stunde seine ungewaschenen Finger in das Innerste eines Freundes zu stecken, und darum hat niemand eine reine, unberührte Stelle in seiner Seele; in einem Zirkel betet man jeden hohlen Schönredner, jeden eingebildeten Witzling, jeden frühreifen Greis an, man trägt jeden talentlosen Dichter, der aber ›geheime‹ Ideen hat, auf den Händen; in einem Zirkel reden siebzehnjährige Burschen unverständlich und geschraubt von den Frauen und von der Liebe, wenn sie aber mit Frauen zusammenkommen, so reden sie oder reden mit ihnen wie mit einem Buch – und worüber sprechen sie! In einem Zirkel blüht eine geschraubte Beredsamkeit; in einem Zirkel beobachtet einer den andern, wie ein Polizeibeamter … Oh, Zirkel! Du bist kein Zirkel, du bist ein Zauberkreis, in dem schon mehr als ein anständiger Mensch zugrunde gegangen ist!«

»Gestatten Sie die Bemerkung: Sie übertreiben«, unterbrach ich ihn.

Mein Nachbar sah mich schweigend an.

»Vielleicht, Gott mag es wissen, vielleicht. Unsereinem ist doch nur die eine Freude geblieben – zu übertreiben. So lebte ich die vier Jahre in Moskau. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, verehrter Herr, wie schnell für mich diese Zeit verging; es ist mir sogar schmerzvoll und verdrießlich, daran zu denken. Wenn ich am Morgen aufstand, so glitten die folgenden Tagesstunden wie ein Schlitten einen Eisberg hinunter … Eh ich mich dessen versah, war der Tag schon zu Ende; schon ist der Abend da, der verschlafene Diener hilft dir in den Rock, du ziehst ihn an und schleppst dich zu einem Freund, um bei ihm ein Pfeifchen zu rauchen, ein Glas dünnen Tee nach dem anderen zu trinken und von der deutschen Philosophie zu sprechen, von der Liebe, von der ewigen Sonne des Geistes und von ähnlichen fernliegenden Gegenständen. Hier traf ich aber auch originelle, selbständige Menschen; mancher tat sich noch so sehr Gewalt an, um sich nach der Schablone zu biegen, aber die Natur forderte doch ihr Recht; nur ich allein knetete an mir herum wie an weichem Wachs, und meine elende Natur leistete nicht den geringsten Widerstand! Indessen wurde ich einundzwanzig Jahre alt. Ich trat in den Besitz meiner Erbschaft ein oder, richtiger gesagt, des Teiles meiner Erbschaft, den mein Vormund für gut befunden hatte, mir zu lassen, gab meinem freigelassenen Leibeigenen Wassilij Kudrjaschew Vollmacht zur Verwaltung meiner Güter und fuhr ins Ausland, nach Berlin. Im Ausland blieb ich, wie ich schon das Vergnügen hatte, Ihnen zu melden, drei Jahre. Und was glauben Sie? Auch dort im Ausland blieb ich das gleiche unoriginelle Geschöpf. Erstens brauche ich wohl gar nicht zu sagen, daß ich das eigentliche Europa, das europäische Leben in keiner Weise kennenlernte; ich hörte die Vorlesungen deutscher Professoren und las die deutschen Bücher an ihrem Entstehungsort … das war der ganze Unterschied. Ich lebte zurückgezogen wie ein Mönch; ich verkehrte nur mit verabschiedeten russischen Leutnants, die gleich mir von Wissensdurst gequält, im übrigen schwer von Begriff waren und keine Gabe der Rede besaßen; ich gab mich mit stumpfsinnigen Familien aus Pensa und anderen broterzeugenden Gouvernements ab; ich trieb mich in Kaffeehäusern herum, las Zeitschriften und besuchte abends das Theater. Mit den Einheimischen verkehrte ich wenig, sprach mit ihnen gezwungen und empfing bei mir niemand von ihnen, mit Ausnahme von zwei oder drei aufdringlichen Jünglingen jüdischer Abstammung, die jeden Augenblick bei mir erschienen, um Geld von mir zu pumpen, denn der Russe pumpt. Ein seltsames Spiel des Zufalls führte mich endlich in das Haus eines meiner Professoren; das kam so: Ich ging zu ihm, um bei ihm das Kolleg zu belegen, er aber lud mich zu einer Abendgesellschaft ein. Dieser Professor hatte zwei Töchter von etwa siebenundzwanzig Jahren, kräftige Mädels – Gott mit ihnen – , großartige Nasen, gekräuselte Haare und blaßblaue Augen, die Hände aber rot mit weißen Nägeln. Die eine hieß Linchen, die andere Minchen. Ich fing an, bei diesem Professor zu verkehren. Ich muß Ihnen sagen, dieser Professor war nicht dumm, aber irgendwie vernagelt; vom Katheder herab sprach er recht zusammenhängend, zu Hause aber hatte er eine unverständliche Aussprache und trug die Brille immer auf der Stirn; dabei war er ein sehr gelehrter Mann … Und was glauben Sie? Plötzlich schien es mir, ich hätte mich in Linchen verliebt – ganze sechs Monate schien es mir. Ich unterhielt mich mit ihr freilich wenig – , sah sie meistens nur an, aber ich las ihr verschiedene rührende Werke vor, drückte ihr heimlich die Hände und saß an Abenden schwärmend neben ihr, unverwandt auf den Mond oder auch einfach auf den Himmel blickend. Außerdem kochte sie ausgezeichnet Kaffee … ! Was brauchte ich noch mehr? Eines nur machte mir Bedenken: In den Augenblicken der, was man so nennt, unaussprechlichen Seligkeit fühlte ich ein Unbehagen in der Herzgrube, und ein kaltes, banges Zittern lief mir über den Magen. Zuletzt hielt ich dieses Glück nicht aus und floh. Ganze zwei Jahre verbrachte ich darauf im Ausland; ich war in Italien, stand in Rom vor der Verklärung Christi und in Florenz vor der Venus; zuweilen verfiel ich in ein übertriebenes Entzücken, das wie Wut über mich kam; an Abenden schrieb ich Verse und fing ein Tagebuch an; mit einem Wort, ich benahm mich wie alle. Sehen Sie, wie leicht es ist, originell zu sein. Ich verstehe zum Beispiel nichts von Malerei und Skulptur … Das hätte ich doch laut sagen können … aber das kann man doch nicht! Nimm dir einen Cicerone und lauf hin, um die Fresken anzusehen …«

Er senkte wieder den Kopf und warf die Schlafmütze wieder ab;

»So kehrte ich schließlich in die Heimat zurück«, fuhr er mit müder Stimme fort, »und kam nach Moskau. In Moskau geschah mit mir eine merkwürdige Veränderung. Im Ausland hatte ich meistens geschwiegen, hier wurde ich aber plötzlich redselig und bildete mir zugleich Gott weiß was alles ein. Es fanden sich nachsichtige Menschen, die mich fast für ein Genie hielten; Damen hörten mit Teilnahme meinen Reden zu; ich verstand es aber nicht, mich auf der Höhe meines Ruhmes zu halten. Eines schönen Morgens kam eine Klatscherei über mich zur Welt – ich weiß nicht, wer sie gezeugt hatte; wahrscheinlich irgendeine alte Jungfer männlichen Geschlechts, solche alte Jungfern gibt es in Moskau massenhaft; die Klatscherei kam auf und begann wie eine Erdbeerpflanze Schößlinge und Sprossen zu treiben. Ich verwickelte mich darin – wollte mich befreien und die zähen Fäden zerreißen, das gelang mir aber nicht … Ich reiste ab. Hier erwies ich mich als ein alberner, untauglicher Mensch; ich hätte ruhig den Verlauf dieser Plage abwarten sollen, wie man das Ende des Nesselfiebers abwartet, und die gleichen nachsichtigen Menschen hätten mir wieder ihre Arme geöffnet, die gleichen Damen hätten wieder meinen Reden zugelächelt … Aber das ist eben das Unglück, daß ich ein unorigineller Mensch bin. Mein Gewissen, sehen Sie, war plötzlich erwacht: Ich schämte mich, unaufhörlich zu schwatzen, gestern auf dem Arbat, heute auf der Truba, morgen auf dem Siwzew-Wraschek, und immer über dieselben Dinge … Wenn das aber verlangt wird? Schauen Sie nur die echten Helden auf diesem Gebiet an – das macht ihnen nichts; im Gegenteil, das ist es, was sie brauchen; mancher arbeitet zwanzig Jahre mit der Zunge und immer in der gleichen Richtung! Was machen doch Selbstvertrauen und Ehrgeiz aus! Auch in mir war Ehrgeiz, und er ist auch heute noch nicht zur Ruhe gekommen … Schlimm aber ist, daß ich, ich sage es wieder, ein unorigineller Mensch bin und auf halbem Wege stehenblieb – die Natur hätte mir viel mehr Ehrgeiz verleihen oder mir gar keinen Ehrgeiz geben sollen. Aber in der ersten Zeit fiel es mir wirklich schwer; außerdem hatte die Reise ins Ausland endgültig meine Mittel erschöpft, und eine Kaufmannstochter mit einem jungen, aber wie Gelee schwammigen Körper wollte ich doch nicht heiraten. – Ich zog mich also auf mein Gut zurück. Ich glaube«, fügte mein Nachbar hinzu, mich wieder von der Seite anblickend, »ich darf wohl die ersten Eindrücke des Landlebens übergehen, die Hinweise auf die Schönheit der Natur, auf den stillen Reiz der Einsamkeit und so weiter …«

»Sie dürfen es«, sagte ich.

»Um so mehr«, fuhr der Erzähler fort, »als es alles Unsinn ist, wenigstens soweit es mich betrifft. Auf dem Land langweilte ich mich wie ein eingesperrter junger Hund, obwohl ich gestehen muß, daß mir, als ich auf dem Rückweg zum erstenmal im Frühling durch das mir bekannte Birkengehölz fuhr, der Kopf schwindelte und das Herz vor süßer unbestimmter Erwartung klopfte. Aber diese unbestimmten Erwartungen gehen, wie Sie wissen, niemals in Erfüllung, dagegen erfüllen sich andere Dinge, die man gar nicht erwartet hat: wie Viehseuchen, Steuerrückstände, öffentliche Subhastationen und so weiter. Indem ich mich mit Hilfe des Burmistrs Jakow, der an Stelle des früheren Verwalters getreten war und sich mit der Zeit als der gleiche, wenn nicht noch größere Spitzbube als dieser erwies und der obendrein mein Leben durch den Geruch seiner geteerten Stiefel vergiftete, von einem Tag zum anderen durchschlug, erinnerte ich mich eines Tages einer mir bekannten Nachbarfamilie, die aus einer Oberstin a.D. und deren zwei Töchtern bestand; ich ließ meine Droschke anspannen und fuhr zu den Nachbarn. Dieser Tag soll mir ewig im Gedächtnis bleiben: Nach sechs Monaten heiratete ich die zweite Tochter der Oberstin …!«

Der Erzähler senkte den Kopf und hob die Arme zum Himmel.

»Indessen«, fuhr er erregt fort, »ich möchte Ihnen keine schlechte Meinung von der Verstorbenen einflößen. Gott behüte! Sie war das edelste, gütigste Geschöpf, ein liebendes Wesen, zu allen Opfern fähig, obwohl ich, unter uns gesagt, gestehen muß, daß ich, wenn ich nicht das Unglück gehabt hätte, sie zu verlieren, wohl nicht imstande gewesen wäre, mich heute mit Ihnen zu unterhalten, denn in meinem Schuppen ist auch heute noch der Balken ganz, an dem ich mich mehr als einmal habe aufhängen wollen!«

»Gewisse Birnen«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »müssen einige Zeit im Keller lagern, bis sie ihren rechten Geschmack bekommen; auch meine Selige gehörte offenbar zu ähnlichen Naturprodukten. Jetzt erst lasse ich ihr volle Gerechtigkeit widerfahren. Jetzt erst wecken zum Beispiel die Erinnerungen an manche Abende, die ich mit ihr vor der Hochzeit verbrachte, nicht nur nicht die geringste Bitterkeit in mir, sondern rühren mich im Gegenteil fast bis zu Tränen. Die Leute waren nicht reich; ihr sehr altes, hölzernes, aber bequemes Haus stand auf einer Anhöhe zwischen einem verwilderten Garten und einem mit Unkraut bewachsenen Hof. Unten lief ein Fluß, der durch das Laub kaum zu sehen war. Eine große Terrasse führte aus dem Hause in den Garten, vor der Terrasse prangte ein längliches, mit Rosen bepflanztes Beet; an beiden Enden des Beetes wuchsen zwei Akazien, die der verstorbene Besitzer noch in ihrer Jugend in Schraubenform gezogen hatte. Etwas weiter, im Dickicht einer verwahrlosten und verwilderten Himbeerpflanzung stand eine innen kunstvoll ausgemalte, von außen aber dermaßen baufällige und morsche Gartenlaube, daß es unheimlich war, sie anzusehen. Eine Glastür führte von der Terrasse in das Gastzimmer; im Gastzimmer bot sich aber dem neugierigen Blick des Beschauers folgendes dar: In den Ecken Kachelöfen, rechts ein verstimmtes, mit handschriftlichen Noten beladenes Piano, ein mit verblichenem, blauem, weißgemustertem Stoff überzogenes Sofa, ein runder Tisch, zwei Etageren mit Nippsachen aus Porzellan und Glasperlen aus den Zeiten der Kaiserin Katharina; an der Wand das bekannte Bildnis eines blonden Mädchens mit einem Täubchen an der Brust und verdrehten Augen, auf dem Tisch eine Vase mit frischen Rosen … Sehen Sie, wie ausführlich ich es beschreibe. In diesem Gastzimmer, auf dieser Terrasse spielte sich die ganze Tragikomödie meiner Liebe ab. Die Nachbarin selbst war ein böses Frauenzimmer, das vor lauter Bosheit immer heiser war, ein lästiges und zänkisches Geschöpf; die eine Tochter, Wjera, unterschied sich durch nichts von den gewöhnlichen Provinzfräulein; die andere hieß Sofja, und in diese Sofja verliebte ich mich. Die beiden Schwestern hatten ein gemeinsames Schlafzimmer mit zwei keuschen hölzernen Bettchen, vergilbten Poesiealben, Reseden, ziemlich schlechten Bleistiftbildnissen ihrer Freunde und Freundinnen – unter diesen fiel ein Herr mit einem ungewöhnlich energischen Gesichtsausdruck und einer noch energischeren Unterschrift auf, der in seiner Jugend außerordentliche Erwartungen geweckt hatte und es, wie wir alle, zu nichts brachte – mit Büsten von Goethe und Schiller, deutschen Büchern, trockenen Kränzen und anderen Gegenständen, die zur Erinnerung aufbewahrt wurden. In dieses Zimmer kam ich jedoch selten und ungern; ich konnte darin, ich weiß selbst nicht warum, kaum atmen. Außerdem – eine seltsame Sache! Sofja gefiel mir am meisten, wenn ich mit dem Rücken zu ihr saß, und vielleicht auch noch, wenn ich an sie dachte oder vielmehr von ihr träumte, besonders an Abenden auf der Terrasse. Ich blickte damals auf das Abendrot, auf die Bäume, auf die grünen, kleinen Blätter, die schon dunkel geworden waren, sich aber noch immer scharf vom rosa Himmel abhoben; im Gastzimmer am Klavier saß Sofja und spielte fortwährend irgendeinen Lieblingssatz von Beethoven, leidenschaftlich und nachdenklich zugleich; die böse Alte schnarchte friedlich auf dem Sofa sitzend; in dem von rotem Licht durchfluteten Eßzimmer wirtschaftete Wjera am Teetisch; der Samowar sang kunstvoll, als freute er sich über etwas; mit lustigem Knistern brachen die Brezeln, die Löffel schlugen melodisch an die Tassen; der Kanarienvogel, der den ganzen Tag über unbarmherzig geschmettert hatte, wurde plötzlich still und zwitscherte nur ab und zu, als fragte er etwas; aus einem durchsichtigen, leichten Wölkchen fielen im Vorüberziehen einige Tröpfchen herab… Ich aber saß und lauschte und sah zu, mein Herz wurde mir weit, und es schien mir wieder, daß ich liebe. Unter dem Eindruck eines solchen Abends hielt ich einmal bei der Alten um die Hand ihrer Tochter an und war nach zwei Monaten schon verheiratet. Mir schien, daß ich sie liebte… Jetzt wäre es wirklich Zeit, daß ich es wisse, aber ich weiß bei Gott auch jetzt nicht, ob ich Sofja geliebt habe. Sie war ein gütiges, kluges, schweigsames Geschöpf mit einem warmen Herzen; aber Gott weiß warum, ob infolge des langen Lebens auf dem Land oder aus irgendeiner anderen Ursache, barg sich auf dem Grund ihrer Seele – wenn die Seele überhaupt einen Grund hat – eine Wunde, oder es blutete, genauer gesagt, eine Wunde, die man durch nichts heilen konnte, die weder sie selbst noch ich zu nennen vermochte. Von der Existenz dieser Wunde erfuhr ich natürlich erst nach der Hochzeit. Wie sehr ich mich mit ihr auch abmühte, nichts wollte helfen! In meiner Kindheit hatte ich einmal einen Zeisig, den einmal eine Katze in ihren Pfoten gehalten hatte; man hatte ihn gerettet und geheilt, aber der arme Zeisig erholte sich nie wieder. Er saß traurig da, kränkelte und sang nicht mehr… Es endete damit, daß eines Nachts in den offenen Käfig eine Ratte eindrang und ihm den Schnabel abbiß, was ihn endlich zu sterben bewog. Ich weiß nicht, was für eine Katze meine Frau in den Pfoten gehabt hatte, aber auch sie war immer traurig und siechte dahin wie mein unglücklicher Zeisig. Manchmal hatte sie sichtlich Lust, sich aufzuraffen, sich in der frischen Luft, in der Sonne und Freiheit zu vergnügen; sie versuchte es und schrumpfte gleich wieder zu einem Knäuel zusammen. Sie hatte mich dennoch lieb: Wie oft hatte sie mir versichert, daß ihr nichts mehr zu wünschen übrigbliebe – hol's der Teufel – , dabei erloschen aber ihre Blicke. Ich fragte mich, ob sie nicht etwas in ihrer Vergangenheit hätte? Ich zog Erkundigungen ein – nein, es war nichts da. Nun urteilen Sie selbst: Ein origineller Mensch hätte wohl die Achsel gezuckt, vielleicht zweimal aufgeseufzt und dann angefangen, sein eigenes Leben zu leben, ich aber bin ein unoriginelles Geschöpf und fing darum an, nach dem Balken zu schielen. In meiner Frau wurzelten alle die Angewohnheiten einer alten Jungfer – Beethoven, nächtliche Spaziergänge, Reseden, Briefwechsel mit Freunden, Poesiealben usw. – so tief, daß sie sich an eine andere Lebensweise, besonders an die einer Hausfrau, unmöglich gewöhnen konnte; dabei ist es doch lächerlich, wenn eine verheiratete Frau sich in namenloser Sehnsucht verzehrt und an Abenden das Lied singt: O weck sie nicht beim Morgenstrahl!

Auf diese Weise schwelgten wir drei Jahre in Seligkeit; im vierten Jahr starb Sofja in ihrem ersten Wochenbett, und es ist seltsam: Ich hatte gleichsam schon früher vermutet, daß sie nicht imstande sein würde, mir einen Sohn oder eine Tochter und der Erde einen neuen Bewohner zu schenken. Ich erinnere mich an ihr Begräbnis. Es war im Frühjahr. Unsere Pfarrkirche ist nicht groß, alt, der Ikonostas ist vor Alter schwarz, die Wände nackt, der Fußboden aus Ziegelsteinen schadhaft; rechts und links im Chor hängt je ein altes Heiligenbild. Man trug den Sarg herein, stellte ihn in die Mitte vor die Zarenpforte, bedeckte ihn mit einer verblichenen Decke und stellte drei Leuchter um ihn herum. Der Gottesdienst begann. Der altersschwache Diakon mit kleinem Zopf hinten, den Leib tief unten mit einem grünen Gürtel umschlungen, lallte traurig vor dem Betpult; der gleichfalls greise Geistliche mit gutmütigem Gesicht und halbblinden Augen, in einem lilagelb gemusterten Ornat, sang die Gebete für sich selbst und für den Diakon. In der ganzen Breite der geöffneten Fenster bewegten sich und flüsterten die jungen, frischen Blätter der Trauerbirken, von draußen zog der Duft des Grases herein; die roten Flammen der Wachskerzen erblaßten im lustigen Licht des Frühlingstages; die Spatzen zwitscherten, daß man es in der ganzen Kirche hörte, und ab und zu erklang unter der Kuppel der helle Schrei einer Schwalbe, die hereingeflogen war. Im goldenen Staub des Sonnenstrahles senkten und hoben sich schnell die blonden Köpfe der wenigen Bauern, die inbrünstig für die Verstorbene beteten; in dünnen bläulichen Fäden zog der Rauch aus den Öffnungen des Räucherfasses empor. Ich blickte auf das tote Antlitz meiner Frau… Mein Gott! Auch der Tod, der Tod selbst hatte sie nicht erlöst, hatte ihre Wunde nicht geheilt: der gleiche schmerzvolle, scheue, stumme Ausdruck – als fühle sie sich selbst im Sarge unbehaglich… Ein bitteres Gefühl regte sich in mir. Sie war ein so herzensgutes Geschöpf, und doch war es auch für sie selbst gut, daß sie gestorben war!«

Die Wangen des Erzählers röteten sich, und seine Augen wurden trüb.

»Als ich mich endlich vom schweren Druck, der auf mir nach dem Tode meiner Frau lastete, befreit hatte«, begann er wieder, »entschloß ich mich, wie man so sagt, etwas Vernünftiges anzufangen. Ich trat in der Gouvernementsstadt in den Staatsdienst; in den großen Zimmern des Amtsgebäudes bekam ich Kopfschmerzen, meine Augen waren auch nicht in Ordnung; es kamen auch noch andere Gründe hinzu… ich nahm meinen Abschied. Ich wollte schon nach Moskau hinüberfahren, aber erstens fehlte es mir an Geld, und zweitens… ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mich gedemütigt hatte. Die Demut kam über mich plötzlich und zugleich auch nicht plötzlich. Geistig hatte ich mich schon längst gedemütigt, aber mein Kopf wollte sich noch immer nicht beugen. Ich schreibe die demütige Stimmung meiner Gefühle und Gedanken dem Einfluß des Landlebens und meines Unglücks zu… Andererseits hatte ich schon längst bemerkt, daß fast alle meine Nachbarn, wie die alten so die jungen, am Anfang von meiner Gelehrsamkeit, von meinem Aufenthalt im Ausland und den übrigen Vorzügen meiner Erziehung eingeschüchtert, sich an mich nicht nur nicht gewöhnt hatten, sondern mich entweder grob oder von oben herab behandelten, meine Betrachtungen nicht zu Ende anhörten und in ihren Gesprächen mit mir gewisse Höflichkeitsformen vernachlässigten. Ich vergaß, Ihnen noch zu sagen, daß ich im ersten Jahr meiner Ehe aus Langweile versucht hatte, mich auf die Literatur zu verlegen, und sogar einen Beitrag an eine Zeitschrift schickte, eine Novelle, wenn ich nicht irre; aber nach einiger Zeit erhielt ich vom Redakteur einen höflichen Brief, in dem es unter anderm hieß, man könne mir Geist wohl nicht absprechen, wohl aber das Talent; in der Literatur brauche man aber gerade das Talent. Außerdem kam es mir zu Ohren, daß ein durchreisender Moskauer, ein im übrigen seelenguter junger Mann, sich über mich in einer Abendgesellschaft beim Gouverneur als über einen abgeschmackten und hohlen Menschen geäußert hatte. Aber meine halb freiwillige Verblendung hielt noch immer an: Ich wollte, wissen Sie, mich nicht selbst ›ohrfeigen‹; schließlich gingen mir eines schönen Morgens die Augen auf. Dies geschah auf folgende Weise: Mich besuchte der Isprawnik, um meine Aufmerksamkeit auf eine eingefallene Brücke auf meinen Besitzungen zu lenken, zu deren Instandsetzung mir aber völlig die Mittel fehlten. Während der nachsichtige Hüter der öffentlichen Ordnung nach einem Schnaps ein Stück gedörrten Störrückens verzehrte, warf er mir väterlich meine Unachtsamkeit vor, ging übrigens auf meine Lage ein und riet mir nur, meinen Bauern zu befehlen, etwas Mist auf die Stelle zu werfen; dann steckte er sich ein Pfeifchen an und begann von den bevorstehenden Wahlen zu sprechen. Um den Ehrentitel eines Gouvernements-Adelsmarschalls bewarb sich damals ein gewisser Orbassanow, ein leerer Schreier und bestechlicher Mensch obendrein. Dabei zeichnete er sich weder durch Reichtum noch durch vornehme Abstammung aus. Ich äußerte meine Meinung über ihn ziemlich abfällig; offen gestanden, sah ich auf Herrn Orbassanow hochmütig herab. Der Isprawnik sah mich an, klopfte mir leutselig auf die Schulter und bemerkte gutmütig: ›Ach, Wassilij Wassiljewitch, uns beiden steht es nicht an, über solche Leute zu urteilen; wie kommen wir dazu – Schuster, bleib bei deinem Leisten.‹ – ›Ich bitte Sie‹, entgegnete ich ärgerlich, ›welch ein Unterschied ist zwischen mir und Herrn Orbassanow?‹ – Der Isprawnik nahm die Pfeife aus dem Mund, riß die Augen weit auf und lachte. – ›So ein Spaßvogel‹, sagte er endlich unter Tränen, ›so ein Witz… köstlich!‹ Bis zu seiner Abreise hörte er nicht mehr auf, sich über mich lustig zu machen; er stieß mich ab und zu mit den Ellenbogen in die Seite, und duzte mich zuletzt. Endlich fuhr er davon. Dieser eine Tropfen hatte nur noch gefehlt, die Schale war voll. Ich ging einigemal durchs Zimmer, blieb vor dem Spiegel stehen, betrachtete lange mein verlegenes Gesicht, streckte bedächtig die Zunge heraus und schüttelte mit bitterem Hohn den Kopf. Die Binde war mir von den Augen gefallen; ich sah ganz klar, klarer als mein Gesicht im Spiegel, welch ein leerer, nichtiger, überflüssiger und unorigineller Mensch ich war!« Der Erzähler schwieg eine Weile.

»In einer Tragödie Voltaires«, fuhr er traurig fort, »freut sich jemand darüber, daß er die äußerste Grenze des Unglücks erreicht habe. Obwohl in meinem Schicksal nichts Tragisches ist, habe ich doch, offen gestanden, etwas Ähnliches empfunden. Ich lernte die giftigen Wonnen der kalten Verzweiflung kennen; ich erfuhr, wie süß es ist, während eines ganzen Morgens, in seinem Bett liegend, ohne Übereilung den Tag und die Stunde seiner Geburt zu verfluchen; ich konnte mich nicht mit einem Male demütigen. Urteilen Sie doch selbst: Der Geldmangel fesselte mich an das mir verhaßte Gut; weder die Landwirtschaft noch der Staatsdienst, noch die Literatur standen mir an; den Gutsbesitzern ging ich aus dem Wege, die Bücher widerten mich an; für die wässerig-gedunsenen und krankhaft-empfindsamen Fräulein, die ihre Locken schütteln und fieberhaft das Wort ›Leben‹ wiederholen, stellte ich nichts Interessantes mehr dar, seitdem ich aufgehört hatte zu schwatzen und in Verzückung zu geraten; um mich ganz in die Einsamkeit zurückzuziehen, fehlten mir Verständnis und Kraft … Ich fing an – was glauben Sie wohl? – , mich bei den Nachbarn herumzutreiben. Von der Verachtung gegen sich selbst gleichsam berauscht, ließ ich wie absichtlich allerlei kleinliche Erniedrigungen über mich ergehen. Ich wurde bei Tisch mit manchem Gericht übergangen, man empfing mich kalt und hochmütig, übersah mich endlich ganz; man erlaubte mir nicht, mich in ein allgemeines Gespräch einzumischen, und es kam vor, daß ich selbst aus meinem Winkel irgendeinem dummen Schwätzer zustimmte, der früher in Moskau mit Entzücken den Staub meiner Füße, den Saum meines Mantels geküßt hätte… Ich erlaubte mir sogar selbst nicht den Gedanken, daß ich mich dem bitteren Genuß der Ironie hingebe… Ich bitte Sie, was ist es für eine Ironie, wenn man ganz allein ist! So habe ich einige Jahre hintereinander gehandelt und handle auch jetzt noch …«

»Das ist aber schon gar zu bunt«, brummte im Nebenzimmer die verschlafene Stimme des Herrn Kantagrjuchin, »was für ein Dummkopf erlaubt sich, bei Nacht zu reden?«

Der Erzähler tauchte schnell unter die Bettdecke und drohte mir, schüchtern hervorlugend, mit dem Finger.

»Pst…, pst…«, flüsterte er und sägte dann respektvoll, sich nach der Richtung der Stimme Kantagrjuchins bückend und entschuldigend: »Ich höre, ich höre, entschuldigen Sie … Er darf schlafen, er muß schlafen«, fuhr er wieder flüsternd fort, »er muß neue Kräfte sammeln, wenn auch nur, um morgen mit demselben Genuß essen zu können. Wir haben nicht das Recht, ihn zu stören. Außerdem habe ich Ihnen, glaube ich, schon alles erzählt, was ich erzählen wollte; wahrscheinlich wollen Sie auch schon schlafen. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht!«

Der Erzähler wandte sich mit fieberhafter Schnelligkeit weg und vergrub seinen Kopf in die Kissen.

»Darf ich wenigstens wissen«, fragte ich, »mit wem ich das Vergnügen habe …?«

Er hob rasch den Köpf.

»Nein, um Gottes willen«, unterbrach er mich, »fragen Sie weder mich noch sonst jemanden nach meinem Namen. Mag ich für Sie ein unbekanntes Geschöpf bleiben, ein vom Schicksal geschlagener Wassilij Wassiljewitsch. Außerdem verdiene ich, als unorigineller Mensch, keinen eigenen Namen … Wenn Sie mir aber unbedingt irgendeinen Namen geben wollen, so nennen Sie mich … nennen Sie mich den Hamlet des Schtschigrowschen Kreises. Solche Hamlets gibt es in jedem Kreis viel, vielleicht sind Sie aber noch nie einem begegnet… Und nun leben Sie wohl.«

Er vergrub sich wieder in sein Pfühl. Als man mich am anderen Morgen weckte, war er nicht mehr im Zimmer. Er war vor Sonnenaufgang weggefahren.



Tschertopchanow und Nedopjuskin


An einem heißen Sommertag kehrte ich einmal in einem einfachen Bauernwagen von der Jagd heim; Jermolai duselte neben mir sitzend und nickte fortwährend mit dem Kopf. Die schlafenden Hunde wurden unter unseren Füßen wie Leichen herumgerüttelt. Der Kutscher verscheuchte fortwährend mit seiner Peitsche die Bremsen von den Pferden. Der weiße Staub folgte als leichte Wolke dem Wagen. Wir kamen in ein Gebüsch. Der Weg wurde holpriger, die Räder fingen an, die Äste zu streifen. Jermolai fuhr auf und sah sich um … »Eh!« sagte er, »hier muß es ja Birkhühner geben. Wollen wir absteigen.« Wir hielten und traten ins Gebüsch. Mein Hund stieß auf eine Birkhuhnbrut. Ich schoß und wollte schon das Gewehr von neuem laden, als plötzlich hinter mir ein lautes Krachen ertönte und sich mir, die Büsche mit den Händen auseinanderschiebend, ein Reiter näherte. »Erlauben Sie die Frage«, begann er in hochmütigem Ton, »mit welchem Recht Sie hier jagen, verehrter Herr?« Der Unbekannte sprach ungewöhnlich rasch, abgerissen und durch die Nase. Ich sah ihm ins Gesicht: Mein Lebtag hatte ich nie etwas Ähnliches gesehen. Liebe Leser, stellen Sie sich einen kleinen blonden Menschen vor mit einem roten Stutznäschen und ungewöhnlich langem rotem Schnurrbart. Eine spitze, persische Mütze, mit himbeerfarbenem Tuch besetzt, bedeckte ihm die Stirn bis zu den Augenbrauen. Er trug einen gelben, abgetragenen Tscherkessenrock mit schwarzen plüschenen Patronenhülsen auf der Brust und verschossenen silbernen Tressen an allen Nähten; über die Schulter hing ihm ein Horn, im Gürtel steckte ein Dolch. Der magere Rotfuchs mit gebogener Nase taumelte unter ihm wie betrunken; zwei magere Windhunde mit krummen Beinen sprangen zwischen seinen Hufen. Das Gesicht, der Blick, die Stimme, jede Bewegung und das ganze Wesen des Unbekannten atmeten eine wahnwitzige Kühnheit und einen maßlosen, unerhörten Hochmut; seine blaßblauen, gläsernen Augen schweiften umher und schielten wie bei einem Betrunkenen; er warf den Kopf in den Nacken, blähte die Backen, schnaubte und zuckte mit dem ganzen Körper gleichsam im Überfluß seiner Würde – genau wie ein Truthahn. Er wiederholte seine Frage.

»Ich wußte nicht, daß das Schießen hier verboten ist«, antwortete ich.

»Verehrter Herr«, fuhr er fort, »Sie sind hier auf meinem Grund und Boden.«

»Wenn Sie wollen, entferne ich mich.«

»Gestatten Sie die Frage«, entgegnete er, »habe ich die Ehre, mit einem Edelmann zu sprechen?«

Ich nannte meinen Namen.

»In diesem Falle wollen Sie nur weiterjagen. Ich bin selbst Edelmann und freue mich, einem Edelmann dienen zu können … Ich heiße übrigens Pantelej Tschertopchanow.«

Er beugte sich vor, stieß einen Schrei aus und schlug sein Pferd auf den Hals; das Pferd schüttelte den Kopf, bäumte sich, schwenkte auf die Seite ab und trat einem der Hunde auf die Pfote. Der Hund begann durchdringend zu winseln. Tschertopchanow brauste und zischte auf, schlug das Pferd auf den Kopf, zwischen die Ohren, sprang schneller als der Blitz vom Sattel, untersuchte die Pfote des Hundes, spuckte auf die Wunde, stieß den Hund mit dem Fuß in die Seite, damit er nicht mehr winsele, ergriff das Pferd an der Mähne und setzte den Fuß in den Steigbügel. Das Pferd warf den Kopf empor, hob den Schweif und stürzte sich seitwärts in die Büsche; er folgte ihm auf einem Fuß hüpfend. Schließlich sprang er doch in den Sattel, schwang wie rasend die Reitpeitsche, stieß ins Horn und sprengte davon. Ich hatte mich von meinem Erstaunen über das unerwartete Erscheinen Tschertopchanows noch nicht erholt, als plötzlich aus dem Gebüsch fast geräuschlos ein dicker Mann von etwa vierzig Jahren auf einem schwarzen Pferdchen erschien. Er hielt an, zog eine grünlederne Mütze vom Kopf und fragte mich mit einer feinen, weichen Stimme, ob ich nicht einen Reiter auf einem Rotfuchs begegnet sei. Ich antwortete, den hätte ich wohl gesehen.

»Nach welcher Seite beliebte es dem Herrn zu reiten?« fuhr er in demselben Ton fort, ohne die Mütze aufzusetzen.

»Dorthin.«

»Ich danke Ihnen ergebenst.«

Er schnalzte mit den Lippen, schlug das Pferdchen mit den Beinen in die Flanken und trabte langsam in die von mir angegebene Richtung. Ich blickte ihm nach, bis seine gehörnte Mütze hinter den Zweigen verschwand. Dieser neue Unbekannte glich seinem Vorgänger in keiner Beziehung. Sein aufgedunsenes und kugelrundes Gesicht drückte Schüchternheit, Gutmütigkeit und sanfte Demut aus; die ebenfalls gedunsene und runde, von blauen Adern durchzogene Nase verriet einen Wollüstling. Auf seinem Kopf war vorn kein einziges Härchen übriggeblieben, hinten hingen aber noch einige dünne blonde Strähnen; die wie mit einem scharfen Schilfblatt geschlitzten Äuglein zwinkerten freundlich; süß lächelten seine roten und saftigen Lippen. Er trug einen Überrock mit einem Stehkragen und Messingknöpfen, ziemlich abgetragen, aber reinlich; seine tuchene Hose war in die Höhe gerutscht; über dem gelben Besatz der Stiefel waren seine vollen Waden zu sehen.

»Wer ist das?« fragte ich Jermolai.

»Der da? Tichon Iwanytsch Nedopjuskin. Er wohnt bei Tschertopchanow.«

»Ist er arm?«

»Gar nicht reich, aber auch Tschertopchanow hat keinen roten Heller.«

»Warum wohnt er dann bei ihm?«

»Ja, sie sind Freunde. Der eine macht ohne den andern keinen Schritt… Wie es im Sprichwort heißt: Wohin das Pferd mit seinem Huf, dorthin auch der Krebs mit seiner Schere …«

Wir kamen aus dem Gebüsch heraus; plötzlich schlugen neben uns zwei Jagdhunde an, und ein großer, dicker Hase schoß über den schon ziemlich hohen Hafer dahin, und hinter den Hunden sauste auch Tschertopchanow einher. Er schrie nicht, er hetzte nicht, er rief den Hunden nichts zu; er keuchte und rang um Atem; aus seinem offenen Mund kamen zuweilen abgerissene, sinnlose Laute; er sprengte mit aufgerissenen Augen daher und schlug das unglückliche Pferd grausam mit der Reitpeitsche. Die Windhunde kamen heran … der Hase duckte sich, wandte sich scharf um und rannte an Jermolai vorbei in die Büsche … Die Windhunde liefen weiter. »Gib acht, gib acht«, stammelte mühevoll wie ein Stotterer der vor Aufregung ersterbende Jäger, »Liebster, gib acht!« Jermolai schoß … der verwundete Hase purzelte wie ein Kreisel über das glatte, trockene Gras, sprang empor und schrie jämmerlich unter den Zähnen des herbeigeeilten Hundes. Die anderen Hunde kamen sofort herbei.

Tschertopchanow flog wie ein Raubvogel vom Sattel, zog seinen Dolch, lief breitbeinig zu den Hunden, entriß ihnen unter wütenden Flüchen den zerfetzten Hasen und stieß ihm mit verzerrtem Gesicht den Dolch bis ans Heft in den Hals… stieß ihn hinein und fing zu jodeln an. Am Waldsaum erschien Tichon Iwanytsch. »Ho-ho-ho-ho-ho-ho-ho!« schrie Tschertopchanow zum zweitenmal… »Ho-ho-ho-ho!« wiederholte ruhig sein Freund.

»Eigentlich sollte man im Sommer nicht jagen«, bemerkte ich zu Tschertopchanow, auf den zerstampften Hafer zeigend.

»Es ist mein Feld«, antwortete Tschertopchanow, kaum atmend.

Er weidete den Hasen aus, band ihn an den Sattel und verteilte die Pfoten unter die Hunde.

»Ich schulde dir eine Ladung«, sagte er nach der Jägerregel zu Jermolai. »Ihnen aber, mein Herr«, fügte er mit der gleichen abgerissenen, scharfen Stimme hinzu, »danke ich.«

Er stieg in den Sattel.

»Gestatten Sie die Frage … ich vergaß … Ihren Namen und Familiennamen.«

Ich nannte noch einmal meinen Namen.

»Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sollten Sie Gelegenheit haben, so kehren bitte bei mir ein … Wo ist aber dieser Fomka, Tichon Iwanytsch?« fuhr er erregt fort. »Wir haben ohne ihn den Hasen erlegt.«

»Sein Pferd ist unter ihm gestürzt«, antwortete Tichon Iwanytsch mit einem Lächeln.

»Wie, gestürzt? Orbassan gestürzt? Pfu, pfüt…! Wo ist er?«

»Dort, hinter dem Wald.«

Tschertopchanow gab seinem Pferd mit der Reitpeitsche eins auf die Schnauze und sprengte wie der Wind davon. Tichon Iwanytsch verbeugte sich vor mir zweimal – für sich und für seinen Freund – und trabte ihm ins Gebüsch nach.

Diese beiden Herren hatten meine Neugierde stark erregt. Was mochte wohl die beiden so verschiedenen Naturen mit Banden unzertrennlicher Freundschaft aneinanderfesseln? Ich zog Erkundigungen ein und erfuhr folgendes:

Pantelej Jeremejitsch Tschertopchanow galt in der ganzen Umgegend als ein gefährlicher, verrückter und hochmütiger Mensch und als Raufbold der schlimmsten Sorte. Er hatte ganz kurze Zeit in der Armee gedient und ›Unannehmlichkeiten halber‹ seinen Abschied mit dem Rang bekommen, der Anlaß zu dem Ausspruch gibt, das Huhn sei kein Vogel. Er stammte aus einer alten, einst reichen Familie; seine Vorfahren hatten prächtig, nach Steppenart gelebt, das heißt, sie nahmen Geladene und Ungeladene bei sich auf, fütterten sie zum Zerspringen, verabfolgten den fremden Kutschern je eine Tschetwert Hafer für jede Troika, hielten sich Musikanten, Säuger, Possenreißer und Hunde, bewirteten das Volk an Feiertagen mit Branntwein und Bier, reisten im Winter mit eigenen Pferden in schwerfälligen Kutschen nach Moskau, saßen aber oft auch monatelang ohne einen Groschen Geld und lebten von Hausgeflügel, Der Vater Pantelej Jeremejitschs hatte das Gut schon in einem arg ruinierten Zustand geerbt; auch er genoß seinerseits sein Leben und hinterließ seinem einzigen Erben Pantelej das verpfändete Dörfchen Bessonowo mit fünfunddreißig männlichen und sechsundsiebzig weiblichen leibeigenen Seelen und vierzehn und ein Achtel Desjatinen schlechten Landes in der Wildnis Kolobrodowo, über deren Besitz sich jedoch in den Papieren des Verstorbenen keinerlei Urkunden vorfanden. Der Verstorbene hatte sich, man muß es zugeben, auf eine höchst seltsame Weise ruiniert, ›die wirtschaftliche Berechnung‹ hatte ihn zugrunde gerichtet. Nach seiner Ansicht ziemte es einem Edelmann nicht, von Kaufleuten, Bürgern und ähnlichen ›Räubern‹, wie er sie nannte, abzuhängen; darum führte er bei sich allerlei Werkstätten und Handwerke ein. ›So ist es anständiger und auch vorteilhafter‹, pflegte er zu sagen, ›das ist die wirtschaftliche Berechnung!‹ An diesem verderblichen Gedanken hielt er bis an sein Ende fest; er richtete ihn auch zugrunde. Dafür war ihm das Leben eine Freude. Keine einzige Laune versagte er sich. Unter anderen Einfallen kam er einmal auf die Idee, sich nach eigenen Berechnungen eine so große Familienkutsche zu bauen, daß sie trotz der vereinten Bemühungen der zusammengetriebenen Bauernpferde des ganzen Dorfes und deren Besitzer gleich beim ersten Abhang stürzte und zerfiel. Jeremej Lukitsch (Pantelejs Vater hieß Jeremej Lukitsch) ließ auf jenem Abhang einen Gedenkstein errichten, machte sich aber darüber weiter keine Gedanken. Es fiel ihm auch ein, eine Kirche zu bauen, natürlich ohne Hilfe eines Architekten. Er verbrannte einen ganzen Wald zum Ziegelbrennen, legte ein mächtiges Fundament, das für eine Gouvernementskathedrale paßte, führte die Mauern auf und begann die Kuppel zu wölben; die Kuppel stürzte ein. Er baute sie von neuem, sie stürzte wieder ein; er baute sie zum drittenmal, die Kuppel fiel zum drittenmal auseinander. Da wurde Jeremej Lukitsch nachdenklich: Es geht hier nicht mit rechten Dingen zu, es ist wohl verfluchte Hexerei im Spiel… und er gab plötzlich den Befehl, alle alten Weiber im Dorf durchzupeitschen. Man peitschte die alten Weiber durch, konnte aber die Kuppel doch nicht aufführen. Er begann, die Bauernhäuser nach einem neuen Plan umzubauen, alles aus wirtschaftlicher Berechnung: Er stellte je drei Höfe zu einem Dreieck zusammen und errichtete in der Mitte eine Stange mit einem angemalten Starenhäuschen und einer Flagge. Jeden Tag erfand er etwas Neues, bald kochte er aus Pestwurzblättern Suppen, bald schnitt er den Pferden die Schweife ab, um daraus Mützen für seine Leibeigenen zu machen, bald wollte er statt Flachs Brennesseln anbauen, bald Schweine mit Pilzen füttern… Einmal las er in den Moskauer Nachrichten einen Artikel des Charkower Gutsbesitzers Chrjak-Chrupjorskij über den Nutzen der Sittlichkeit im Bauernleben und befahl gleich am nächsten Tag allen Bauern, den Artikel des Charkower Gutsbesitzers auswendig zu lernen. Die Bauern lernten den Artikel auswendig; der Herr fragte sie, ob sie verstünden, was da geschrieben wäre. Der Verwalter antwortete, wie sollten sie das nicht verstehen? Um die gleiche Zeit ordnete er an, alle seine Untertanen der Ordnung und der wirtschaftlichen Berechnung wegen zu numerieren und jedem die Nummer an den Kragen zu nähen. Bei der Begegnung mit dem Herrn pflegte jeder Bauer schon aus der Ferne zu rufen: »Die Nummer so und so kommt!« Worauf der Herr freundlich antwortete: »Geh mit Gott!«

Aber trotz der Ordnung und der wirtschaftlichen Berechnung geriet Jeremej Lukitsch allmählich in eine äußerst schwierige Lage, er begann seine Dörfer erst zu verpfänden und dann auch zu verkaufen; den letzten Urahnensitz, das Dorf mit der unvollendeten Kirche, verkaufte schon der Staat, zum Glück nicht mehr bei Lebzeiten Jeremej Lukitschs – er hätte diesen Schlag nicht überstanden – , sondern zwei Wochen nach seinem Ableben. So war es ihm beschieden, in seinem eigenen Haus, in seinem Bett, umgeben von seinen Leuten und unter Aufsicht seines Arztes zu sterben; dem armen Pantelej blieb aber nur das kleine Gut Bessonowo.

Pantelej erfuhr von der Krankheit des Vaters beim Militär, mitten in der schon erwähnten 'Unannehmlichkeit'. Er war eben ins neunzehnte Lebensjahr getreten. Von Kind an hatte er das Elternhaus nicht verlassen und war unter der Leitung seiner Mutter Wassilissa Wassiljewna, einer herzensguten, aber vollkommen stumpfsinnigen Frau, als verzogenes Muttersöhnchen aufgewachsen. Sie allein hatte sich mit seiner Erziehung beschäftigt; Jeremej Lukitsch war ganz von seinen wirtschaftlichen Sorgen in Anspruch genommen und hatte keine Zeit dafür. Allerdings bestrafte er einmal seinen Sohn eigenhändig dafür, weil er den Buchstaben ›rzy‹ wie ›arzy‹ aussprach, aber an jenem Tag hatte Jeremej Lukitsch einen tiefen, heimlichen Kummer; sein bester Hund war an einen Baum angerannt und den Verletzungen erlegen. Die Bemühungen Wassilissa Wassiljewnas um die Erziehung Pantelejs beschränkten sich übrigens auf eine schmerzvolle Anstrengung: Im Schweiße ihres Angesichts hatte sie für ihn einen verabschiedeten Soldaten aus dem Elsaß, einen gewissen Bierkopf, als Hofmeister engagiert, vor dem sie bis zu ihrem Tode wie ein Espenblatt zitterte: Nun, dachte sie sich, wenn er mir kündigt, bin ich verloren! Was soll ich dann anfangen? «Wo soll ich einen andern Lehrer finden? Diesen schon habe ich mit vieler Mühe der Nachbarin weggeschnappt! – Bierkopf machte sich als kluger Mann seine Sonderstellung sofort zunutze: Er trank in einem fort und schlief vom Morgen bis zum Abend. Nach Beendigung der 'wissenschaftlichen Ausbildung' trat Pantelej in den Dienst. Wassilissa Wassiljewna war nicht mehr am Leben. Sie war ein halbes Jahr vor diesem wichtigen Ereignis vor Schreck gestorben; sie sah im Traum einen weißen Menschen auf einem Bären reiten. Jeremej Lukitsch folgte bald seiner besseren Hälfte nach.

Pantelej eilte bei der ersten Kunde von der Krankheit des Vaters Hals über Kopf zu ihm. Wie groß war aber das Erstaunen des ehrerbietigen Sohnes, als er sich plötzlich aus einem reichen Erben in einen Bettler verwandelt sah! Nur wenige Menschen sind imstande, eine so plötzliche Wendung zu ertragen. Pantelej wurde hart und wild. Aus einem ehrlichen und guten, wenn auch unberechenbaren und hitzigen Menschen verwandelte er sich in einen hochmütigen Raufbold, gab jeden Verkehr mit seinen Nachbarn auf – vor den Reichen schämte er sich, die Armen verschmähte er – und behandelte alle, selbst die vorgesetzten Behörden, mit unerhörter Frechheit: Ich bin eben ein Edelmann! Einmal hätte er den Kreispolizisten beinahe niedergeschossen, weil der mit der Mütze auf dem Kopf zu ihm ins Zimmer getreten war. Die Behörden sahen ihm ihrerseits natürlich auch nichts nach und gaben es ihm bei jeder Gelegenheit zu fühlen; aber sie hatten vor ihm doch einige Angst, denn er war ein schrecklicher Hitzkopf und forderte einen gleich nach dem zweiten Wort zu einem Zweikampf auf Messer. Bei der geringsten Widerrede begannen Tschertopchanows Augen unruhig umherzuschweifen und seine Stimme versagte… »Ah, wa-wa-wa-wa«, stammelte er, »und wenn es mich auch den Kopf kostet!« Dann war er imstande, die Wände hinaufzuklettern! Aber abgesehen davon war er ein makelloser Mensch und in keine anrüchige Sache verwickelt. Selbstverständlich besuchte ihn niemand… Dabei war er gutmütig und in seiner Weise auch hochherzig: Er konnte keine Ungerechtigkeit oder Unterdrückung selbst gegen Fremde ertragen. Für seine Bauern trat er mit Leib und Seele ein. »Wie?« pflegte er zu sagen, indem er sich wütend auf den Kopf schlug. »Meine Leute anrühren? Ich will nicht Tschertopchanow heißen, wenn…«

Tichon Iwanytsch Nedopjuskin konnte nicht auf seine Herkunft so stolz sein wie Pantelej Jeremejitsch. Sein Vater stammte von den Einhöfern ab und erlangte erst nach vierzigjährigen Diensten den Adel. Herr Nedopjuskin-Vater gehörte zu den Menschen, die das Unglück mit seiner Erbitterung verfolgt, die wie persönlicher Haß aussieht. Ganze sechzig Jahre lang, von der Geburt bis zum Tode, kämpfte der arme Mensch mit allen möglichen Nöten, Krankheiten und Schicksalsschlägen, die den kleinen Leuten eigentümlich sind; er plagte sich furchtbar ab, aß sich nicht satt, gönnte sich keinen Schlaf, bückte sich vor jedermann, verzagte und quälte sich, zitterte um jede Kopeke, wurde wirklich ›unschuldig‹ aus dem Dienst gejagt und starb schließlich auf einem Dachboden oder in einem Keller, ohne für sich und seine Kinder ein Stück Brot erarbeitet zu haben – das Schicksal hatte ihn wie einen Hasen auf der Treibjagd totgehetzt. Er war ein guter und ehrlicher Mensch, nahm aber doch Bestechungsgelder an – von zehn Kopeken bis zu zwei Silberrubel einschließlich. Nedopjuskin hatte eine magere und schwindsüchtige Frau gehabt und auch Kinder; zum Glück waren diese alle jung gestorben mit Ausnahme Tichons und einer Tochter Mitrodora, mit dem Zunamen ›Kaufmannsparade‹, die nach vielen traurigen und komischen Abenteuern einen verabschiedeten Gerichtsschreiber heiratete. Herr Nedopjuskin-Vater hatte noch bei Lebzeiten seinen Sohn Tichon als einen nichtetatmäßigen Schreiber in einer Kanzlei untergebracht, aber Tichon nahm gleich nach dem Ableben des Vaters seinen Abschied. Die ewige Unruhe, der qualvolle Kampf gegen Kälte und Hunger, das Jammern der Mutter, die Anstrengungen und die Verzweiflung des Vaters, die rohen Verfolgungen seitens des Hauswirtes und des Krämers, dieser ganze tägliche, ununterbrochene Kummer erzeugte in Tichon eine unbeschreibliche Schüchternheit; bei dem bloßen Anblick eines Vorgesetzten zitterte und erstarb er wie ein gefangenes Vögelchen. Er gab den Dienst auf. Die gleichgültige, vielleicht auch spöttische Natur gibt den Menschen verschiedene Fähigkeiten und Neigungen ein, ohne sich nach ihrer Stellung in der Gesellschaft und nach ihren Verhältnissen zu richten; mit der ihr eigenen Sorge und Liebe formte sie aus Tichon, dem Sohn eines armen Beamten, ein empfindsames, faules, sanftes, empfindliches Geschöpf, das ausschließlich für den Genuß geboren schien und mit einem außerordentlich feinen Geruchsinn und Geschmack begabt war… sie formte ihn, vollendete ihn aufs sorgfältigste und stellte es ihrer Schöpfung anheim, mit Sauerkraut und faulen Fischen heranzuwachsen. Diese Schöpfung wuchs heran und begann, was man so nennt, zu ›leben‹. Nun ging der Spaß los. Das Schicksal, das den Nedopjuskin-Vater ununterbrochen gepeinigt hatte, machte sich auch an den Sohn, es hatte wohl Geschmack daran gefunden. Aber gegen Tichon ging es anders vor: Es peinigte ihn nicht, sondern spielte mit ihm. Es brachte ihn kein einziges Mal zur Verzweiflung, zwang ihn nicht, die beschämenden Qualen des Hungers zu kosten, aber es trieb ihn durch ganz Rußland, aus Welikij-Ustjug nach Zarewo-Kokschaisk, aus der einen erniedrigenden und lächerlichen Stellung in die andere; bald beförderte es ihn zum ›Majordomus‹ bei einer zänkischen und gallsüchtigen Wohltäterin, bald machte es ihn zum Kostgänger bei einem reichen, geizigen Kaufmann, bald ernannte es ihn zum Vorstand der Hauskanzlei eines glotzäugigen, nach englischer Art zugestutzten Gutsbesitzers, bald erhob es ihn zu einem halben Haushofmeister und halben Spaßmacher bei einem Liebhaber der Hetzjagd… Mit einem Wort, das Schicksal ließ den armen Tichon den ganzen bitteren und giftigen Trank einer untergeordneten Existenz Tropfen auf Tropfen trinken. In seinem Leben hatte er genug den schweren Launen, der verschlafenen und boshaften Langweile der müßigen Gutsbesitzer gedient … Wie oft hatte er in seinem Zimmer, nachdem er einem Rudel von Gästen als Spielball gedient und von ihnen ›mit Gott‹ entlassen war, vor Scham verbrennend, mit kalten Tränen der Verzweiflung in den Augen, geschworen, sich gleich am nächsten Morgen heimlich aus dem Staub zu machen, sein Glück in der Stadt zu versuchen und wenigstens eine Schreiberstelle zu finden oder aber auf der Straße Hungers zu sterben. Aber erstens gab ihm Gott keine Kraft, zweitens war er zu schüchtern und drittens: Wie findet man eine Stelle, wen bittet man darum? »Man wird mir keine geben«, flüsterte zuweilen der Unglückliche, sich in seinem Bett von der einen Seite auf die andere wälzend: »Man wird mir keine geben!« Und am andern Tag trug er wieder sein Joch. Seine Stellung war um so qualvoller, als selbst die fürsorgliche Natur sich nicht die Mühe gegeben hatte, ihn auch nur mit einem winzigen Anteil jener Fähigkeiten und Anlagen zu begaben, ohne die das Amt eines Spaßmachers fast unmöglich ist. Er verstand z.B. nicht, bis zum Umfallen in einem mit dem Futter nach außen umgewendeten Bärenpelz zu tanzen oder in unmittelbarer Nähe geschwungener Hundepeitschen Witze und Komplimente zu machen; wenn man ihn nackt einem Frost von zwanzig Grad aussetzte, erkältete er sich zuweilen; sein Magen verdaute weder mit Tinte und sonstigem Zeug vermischten Wein noch gehackte Fliegenschwämme und Täublinge mit Essig. Gott allein weiß, was aus Tichon geworden wäre, wenn der letzte seiner Wohltäter, ein reich gewordener Branntweinpächter, in einer lustigen Stunde nicht den Einfall gehabt hätte, in seinem Testament folgenden Zusatz zu machen: ›Dem Sjosja (alias Tichon) Nedopjuskin vermache ich aber zum ewigen und erblichen Besitz das von mir wohlerworbene Dorf Besselendejewka mit allen Appertinenzien.‹ Einige Tage später wurde der Wohltäter beim Verzehren einer Sterlettsuppe vom Schlag gerührt. Es entstand ein Lärm, das Gericht trat ein und versiegelte, wie es sich gehört, die Hinterlassenschaft. Die Verwandten kamen zusammen, öffneten das Testament, lasen es und schickten nach Nedopjuskin. Nedopjuskin erschien. Der größte Teil der Versammelten wußte, welches Amt Tichon Iwanytsch bei seinem Wohltäter bekleidet hatte; man empfing ihn mit lauten Ausrufen und spöttischen Glückwünschen: »Der Gutsbesitzer, da ist er, der neue Gutsbesitzer!« schrien die übrigen Erben. – »Da kann man wirklich sagen«, fiel ein bekannter Spaßvogel und Witzbold ein, »da kann man wirklich sagen … das ist wirklich … was man so nennt … ein Erbe!« Und alle platzten vor Lachen. Nedopjuskin wollte an sein Glück lange nicht glauben. Man zeigte ihm das Testament, er errötete, kniff die Augen zusammen, fuchtelte abwehrend mit den Händen und begann zu schluchzen. Das Lachen der Versammlung wurde zu einem lauten, eintönigen Gebrüll. Das Dorf Besselendejewka zählte nur zweiundzwanzig leibeigene Seelen; niemand neidete es ihm, warum sollte man also nicht seinen Spaß haben? Nur ein Erbe aus Petersburg, ein würdiger Herr mit griechischer Nase und höchst vornehmem Gesichtsausdruck, Rostislaw Adamytsch Stoppel, konnte sich nicht beherrschen: Er rückte seitwärts zu Nedopjuskin heran und sah ihn hochmütig über die Schulter hinweg an. »Soviel ich sehen kann, mein Herr«, sagte er verächtlich und wegwerfend, »haben Sie beim verehrten Fjodor Fjodorowitsch das Amt eines Spaßmachers, sozusagen eines Dieners bekleidet?« Der Herr aus Petersburg bediente sich einer unerträglich deutlichen, scharfen und genauen Sprache. Der fassungslose und aufgeregte Nedopjuskin verstand die Worte des ihm unbekannten Herrn nicht, aber alle andern verstummten sofort; der Witzling lächelte herablassend. Herr Stoppel rieb sich beide Hände und wiederholte seine Frage. Nedopjuskin hob erstaunt die Augen und riß den Mund auf. Rostislaw Adamytsch blinzelte verächtlich mit den Augen.

»Ich gratuliere Ihnen, mein Herr, ich gratuliere«, fuhr er fort. »Freilich darf man wohl sagen, daß nicht jedermann geneigt wäre, sich sein Brot auf diese Weise zu verdienen; aber de gustibus non est disputandum, das heißt, ein jeder nach seinem Geschmack… Nicht wahr?«

In der hinteren Reihe winselte jemand ganz unanständig vor Erstaunen und Entzücken.

»Sagen Sie«, fiel Herr Stoppel ein, »welchem Talent insbesondere haben Sie Ihr Glück zu verdanken? Nein, schämen Sie sich nicht, sagen Sie es; wir sind ja hier alle unter uns, sozusagen en famille! Nicht wahr, meine Herren, wir sind doch en famille?«

Der Erbe, an den sich Herr Stoppel zufällig mit seiner Frage gewandt hatte, verstand leider kein Französisch und beschränkte sich daher auf ein leichtes, beifälliges Räuspern. Ein anderer Erbe, ein junger Mann mit gelblichen Flecken auf der Stirn, bestätigte dagegen hastig: »Wui, wui, selbstverständlich.«

»Sie könnten vielleicht«, begann Herr Stoppel von neuem, »auf den Händen, die Füße sozusagen nach oben gerichtet, gehen?«

Nedopjuskin blickte trübsinnig um sich – alle Gesichter lächelten gehässig, alle Augen glänzten vor Vergnügen. »Oder verstanden Sie vielleicht wie ein Hahn zu krähen?« Schallendes Gelächter erhob sich ringsum und verstummte sofort, von der Erwartung des Kommenden erstickt.

»Oder konnten Sie vielleicht mit der Nase …«

»Hören Sie auf!« unterbrach plötzlich den Rostislaw Adamytsch eine laute und scharfe Stimme. »Wie schämen Sie sich nicht, den armen Menschen zu quälen!«

Alle sahen sich um. In der Tür stand Tschertopchanow. Als Neffe vierten Ranges des seligen Branntweinpächters hatte auch er eine Einladung zum Familienkongreß bekommen. Während der Verlesung des Testaments hatte er sich – wie immer – hochmütig abseits von den andern gehalten.

»Hören Sie auf!« wiederholte er und warf den Kopf stolz in den Nacken.

Herr Stoppel wandte sich rasch um. Als er einen ärmlich gekleideten, unansehnlichen Menschen sah, fragte er halblaut seinen Nachbar (denn Vorsicht kann nie schaden): »Wer ist das?«

»Tschertopchanow, kein großes Tier«, antwortete ihm jener ins Ohr.

Rostislaw Adamytsch setzte eine hochmütige Miene auf.

»Was haben Sie zu kommandieren?« sagte er durch die Nase, mit den Augen blinzelnd. »Was sind Sie für ein Tier, wenn ich fragen darf?«

Tschertopchanow flammte auf wie Pulver von einem Funken. Die Wut benahm ihm den Atem.

»Ds-ds-ds-ds«, zischte er, wie wenn man ihn würgte, und donnerte plötzlich: »Wer ich bin? Wer ich bin? Ich bin der Edelmann Pantelej Tschertopchanow, mein Ururgroßvater hat dem Zaren gedient, und wer bist du?«

Rostislaw Adamytsch erbleichte und trat einen Schritt zurück. Eine solche Abfuhr hatte er nicht erwartet.

»Ich ein Tier! Ich ein Tier … Oh, oh, oh!«

Tschertopchanow ging auf ihn los; Stoppel sprang in großer Erregung zurück, die Gäste stürzten dem aufgebrachten Gutsbesitzer entgegen.

»Wir schießen uns, wir schießen uns, gleich hier auf der Stelle, über ein Schnupftuch!« schrie der rasende Pantelej. »Oder bitte mich um Verzeihung und auch ihn…«

»Bitten Sie doch um Verzeihung«, stammelten die aufgeregten Erben rings um Stoppel. »Er ist ja verrückt und kann einen erdolchen!«

»Verzeihen Sie, verzeihen« Sie, ich habe nicht gewußt«, lallte Stoppel, »ich habe nicht gewußt…«

»Bitte auch ihn um Verzeihung!« brüllte der unerbittliche Pantelej.

»Entschuldigen auch Sie«, fügte Rostislaw Adamytsch hinzu, sich an Nedopjuskin wendend, welcher selbst wie im Fieber zitterte.

Tschertopchanow beruhigte sich, ging auf Tichon Iwanytsch zu, nahm ihn bei der Hand, blickte frei um sich und verließ, als er keinem Blick begegnete, inmitten tiefsten Schweigens zugleich mit dem neuen Besitzer des wohlerworbenen Dorfes Besselendejewka das Zimmer.

Von diesem Tag an trennten sie sich nicht mehr. (Das Dorf Besselendejewka lag nur acht Werst von Bessonowo entfernt.) Die grenzenlose Dankbarkeit Nedopjuskins ging bald in eine andachtsvolle Unterwürfigkeit über. Der schwache, sanfte, in Geldsachen nicht ganz saubere Tichon beugte sich in den Staub vor dem furchtlosen und uneigennützigen Pantelej. Eine Kleinigkeit! dachte er manchmal bei sich. Er spricht mit dem Gouverneur und blickt ihm dabei gerade in die Augen… bei Gott, gerade in die Augen…!

Er bewunderte ihn ganz sinnlos, bis zur Erschöpfung aller Seelenkräfte, und hielt ihn für einen ungewöhnlichen, klugen und gelehrten Menschen. Man muß wohl sagen: Wie schlecht auch Tschertopchanows Erziehung war, im Vergleich mit der Erziehung Tichons konnte sie immer noch eine glänzende genannt werden. Tschertopchanow las allerdings nur wenig Russisch und verstand schlecht Französisch – so schlecht, daß er einmal auf die Frage eines Schweizer Hofmeisters »Vous parlez francais, monsieur?« antwortete: »Sche verstehe nicht«, und nach einiger Überlegung hinzusetzte: »pas«; aber er wußte immer noch, daß es auf der Welt einmal einen Voltaire, einen höchst beißenden Schriftsteller, gegeben und daß Friedrich der Große, König von Preußen, sich auf militärischem Gebiet ausgezeichnet habe. Von russischen Schriftstellern achtete er Derschawin und liebte Marlinskij; seinen besten Hund nannte er nach einem der Helden Marlinskijs Amalat Beck…

Einige Tage nach meiner ersten Begegnung mit den beiden Freunden begab ich mich nach Bessonowo zu Pantelej Jeremejitsch. In der Ferne war sein kleines Häuschen sichtbar; es ragte auf einer kahlen Stelle, eine halbe Werst vom Dorf entfernt, ganz einsam wie ein Habicht auf einem Acker. Das ganze Gut Tschertopchanows bestand aus vier altersschwachen, aus Balken gezimmerten Gebäuden verschiedener Größe, und zwar aus dem Wohnhaus, einem Pferdestall, einem Schuppen und einem Dampfbad. Jeder Bau stand für sich; von einem Zaun oder Tor war nichts zu sehen. Mein Kutscher hielt ratlos vor einem halbverfaulten und verschütteten Brunnen. Neben dem Schuppen zerrten einige magere und struppige junge Windhunde an einem Pferdekadaver herum – wahrscheinlich war es Orbassan; einer von ihnen hob seine blutige Schnauze, bellte in großer Eile und fing wieder an, an den entblößten Rippen zu nagen. Neben dem Pferd stand ein Bursche von etwa siebzehn Jahren, mit gedunsenem gelbem Gesicht, barfuß und als Lakai gekleidet; er sah wichtig auf die seiner Aufsicht anvertrauten Hunde und schlug die allergierigsten ab und zu mit der Hetzpeitsche.

»Ist der Herr zu Hause?« fragte ich.

»Das weiß Gott allein!« antwortete der Bursche. »Klopfen Sie einmal an.«

Ich sprang aus dem Wagen und trat auf die Treppe des Wohnhauses.

Die Behausung des Herrn Tschertopchanow bot einen sehr traurigen Anblick: Die Balken waren geschwärzt und hatten sich geworfen, der Schornstein war eingestürzt, die Ecken waren verfault und eingesunken, die kleinen Fenster mit den dunkelgrauen Fensterscheiben blickten unsagbar trübsinnig unter dem zottigen, herabhängenden Dach hervor – manche alten Bettlerinnen haben solche Augen. Ich klopfte an; niemand antwortete mir. Aber hinter der Tür hörte ich die scharf gesprochenen Worte: »As, buki, wedi; paß auf, du Narr!« sprach eine heisere Stimme. »As, buki, wedi, glagolj… aber nein! Glagolj, dobro, jestj! jestj…! Nun, Dummkopf!«

Ich klopfte zum zweitenmal.

Die gleiche Stimme rief: »Tritt ein! Wer ist da?«

Ich trat in ein kleines, leeres Vorzimmer und erblickte durch die offene Tür Tschertopchanow selbst. Er saß in einem bucharischen Schlafrock voller Fettflecke, einer furchtbar weiten Pluderhose und einem roten Käppchen auf einem Stuhl, drückte mit der einen Hand einem jungen Pudel die Schnauze zusammen und hielt mit der andern ein Stück Brot dicht über dessen Nase.

»Ah!« sagte er mit Würde und ohne sich vom Platz zu rühren: »Freue mich sehr über Ihren Besuch. Bitte sehr, Platz zu nehmen. Ich mühe mich gerade mit dem Vensor ab… Tichon Iwanytsch«, fügte er hinzu, die Stimme erhebend, »komm bitte her! Es ist Besuch da.«

»Sofort, sofort«, antwortete aus dem Nebenzimmer Tichon Iwanytsch. »Mascha, gib mir die Halsbinde her.«

Tschertopchanow wandte sich wieder dem Vensor zu und legte ihm das Stück Brot auf die Nase. Ich sah mich um: Das Zimmer enthielt außer einem Ausziehtisch voller Buckel mit dreizehn Beinen verschiedener Länge und den vier durchgesessenen Rohrstühlen keinerlei Möbel; die vor sehr langer Zeit geweißten Wände mit blauen, sternförmigen Flecken waren an vielen Stellen abgebröckelt; zwischen den Fenstern hing ein zerschlagener trüber Spiegel in einem riesengroßen, mahagonifarbenen Rahmen. In den Ecken standen Pfeifenrohre und Gewehre; von der Decke hingen dicke schwarze Spinngewebe herab.

»As, buki, wedi, glagolj, dobro«, sprach langsam Tschertopchanow und schrie plötzlich wie rasend auf: »Jestj! Jestj! Jestj…! So ein dummes Vieh…! Jestj!«

Der unglückliche Pudel zitterte aber nur und wagte nicht, das Maul zu öffnen; er fuhr fort, mit schmerzhaft eingezogenem Schweif zu sitzen, verzog die Schnauze und zwinkerte und blinzelte traurig mit den Augen, als wollte er sagen: Gewiß, ganz wie Sie wünschen!

»Friß doch! Hier!« wiederholte der unerbittliche Gutsbesitzer.

»Sie haben ihn eingeschüchtert«, bemerkte ich.

»Dann fort mit ihm!«

Er gab ihm einen Fußtritt. Der Ärmste erhob sich still, ließ das Stück Brot von der Nase fallen und zog sich, wie auf den Zehen, tiefgekränkt ins Vorzimmer zurück. Und in der Tat: Ein fremder Mensch macht zum erstenmal seinen Besuch, er aber wird so behandelt. Die Tür des Nebenzimmers knarrte leise, und Herr Nedopjuskin trat freundlich grüßend und lächelnd herein.

Ich stand auf und verbeugte mich.

»Lassen Sie sich nicht stören – lassen Sie sich nicht stören«, stammelte er.

Wir setzten uns, Tschertopchanow ging ins Nebenzimmer.

»Sind Sie schon lange hier in unserer gesegneten Gegend?« begann Nedopjuskin mit weicher Stimme. Er hüstelte in die vorgehaltene Hand und hielt die Finger des Anstandes halber vor die Lippen.

»Seit zwei Monaten schon.«

»So, so.«

Wir schwiegen eine Weile.

»Ein angenehmes Wetter heute«, fuhr Nedopjuskin fort und sah mich so dankbar an, als hinge das schöne Wetter von mir ab. »Das Getreide, kann man wohl sagen, steht vortrefflich.«

Ich neigte bejahend den Kopf. Wir schwiegen wieder.

»Pantelej Jeremejitsch hat gestern zwei Hasen gehetzt«, sagte nicht ohne Anstrengung Nedopjuskin, der offenbar das Gespräch beleben wollte. »Ja, zwei sehr große Hasen.«

»Hat Herr Tschertopchanow gute Hunde?«

»Ja, wunderbare Hunde!« entgegnete Nedopjuskin freudig: »Man kann wohl sagen, es sind die besten Hunde im Gouvernement.« Er rückte näher zu mir heran. »Aber was! Pantelej Jeremejitsch ist solch ein Mensch: Was er sich nur wünscht, was ihm nur einfällt, eh man sich's versieht, ist es schon fertig und brühwarm da. Pantelej Jeremejitsch ist, ich sage Ihnen . ..«

Tschertopchanow trat ins Zimmer. Nedopjuskin lächelte, verstummte und wies auf ihn mit den Augen, als wollte er sagen: Hier, überzeugen Sie sich selbst.

Wir begannen ein Gespräch über die Jagd.

»Wollen Sie, daß ich Ihnen meine Meute zeige?« fragte mich Tschertopchanow und rief, ohne meine Antwort abzuwarten, nach Karp.

Ein kräftiger Bursche in einem grünen Nankingkaftan mit blauem Kragen und Livreeknöpfen trat herein.

»Befiehl Fomka«, sagte Tschertopchanow kurz, »Ammalat und Saiga hereinzubringen, aber in Ordnung, verstehst du?«

Karp lachte mit dem ganzen Gesicht, gab einen unartikulierten Laut von sich und ging hinaus. Fomka kam schön gekämmt und zugeknöpft und in Stiefeln mit den Hunden. Des Anstandes halber bewunderte ich die dummen Tiere (alle Windhunde sind außerordentlich dumm). Tschertopchanow spuckte dem Ammalat direkt in die Nasenlöcher, was übrigens dem Hund nicht das geringste Vergnügen zu bereiten schien. Auch Nedopjuskin streichelte Ammalat rückwärts. Wir fingen wieder zu plaudern an. Tschertopchanow wurde allmählich ganz sanft und hörte auf, sich zu brüsten und zu schnauben; sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er blickte mich und Nedopjuskin an…

»Eh!« rief er plötzlich aus. »Was soll sie dort allein sitzen? Mascha! Du, Mascha! Komm mal her!«

Im Nebenzimmer rührte sich jemand, aber eine Antwort kam nicht.

»Ma-a-scha«, wiederholte Tschertopchanow freundlich, »komm doch her. Fürchte dich nicht.«

Die Tür ging leise auf, und ich erblickte eine Frau von etwa zwanzig Jahren, groß und schlank, mit einem dunklen Zigeunergesicht, gelbbraunen Augen und einem pechschwarzen Zopf; die großen weißen Zähne leuchteten zwischen den vollen und roten Lippen. Sie trug ein weißes Kleid; ein blauer Schal, am Halse mit einer goldenen Nadel festgesteckt, bedeckte zur Hälfte ihre feinen, rassigen Arme. Sie machte zwei Schritte mit der scheuen Unbeholfenheit einer Wilden, blieb stehen und senkte das Gesicht.

»Hier, ich stelle Ihnen vor«, sagte Pantelej Jeremejitsch, »meine richtige Frau ist sie eigentlich nicht, aber so gut wie eine Frau.«

Mascha errötete leicht und lächelte verlegen. Ich verneigte mich vor ihr besonders tief. Sie gefiel mir sehr. Die feine Adlernase mit den offenen, halb durchsichtigen Flügeln, der kühne Schwung der hohen Augenbrauen, die blassen, ein wenig eingefallenen Wangen, alle ihre Gesichtszüge drückten launische Leidenschaftlichkeit und sorglose Ausgelassenheit aus. Unter dem geflochtenen Zopf liefen zwei glänzende Haarsträhnen den breiten Hals herab – ein Zeichen von Rasse und Kraft.

Sie trat ans Fenster und setzte sich. Ich wollte ihre Verlegenheit nicht noch vergrößern und begann ein Gespräch mit Tschertopchanow. Mascha wandte etwas den Kopf und musterte mich mit verstohlenen, wilden und schnellen Blicken. Ihre Blicke waren so schnell wie ein Schlangenstachel. Nedopjuskin setzte sich zu ihr und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie lächelte wieder. Beim Lächeln runzelte sie die Nase und hob die Oberlippe, was ihrem Gesicht etwas von einer Katze und vielleicht auch von einer Löwin verlieh…

Oha, du bist ein Rührmichnichtan, dachte ich mir, indem ich meinerseits verstohlen ihre biegsame Taille, die eingefallene Brust und die eckigen, raschen Bewegungen beobachtete.

»Was glaubst du, Mascha«, fragte Tschertopchanow, »man sollte doch dem Gast etwas vorsetzen, wie?«

»Wir haben Eingemachtes«, antwortete sie.

»Nun, gib das Eingemachte her, bei dieser Gelegenheit auch den Schnaps. Hör, Mascha«, rief er ihr nach, »bring auch die Gitarre!«

»Wozu die Gitarre? Ich werde nicht singen.«

»Warum nicht?«

»Ich will nicht.«

»Unsinn, du wirst schon wollen, wenn…«

»Was?« fragte Mascha, schnell die Brauen runzelnd.

»Wenn man dich darum bittet«, sprach Tschertopchanow den Satz nicht ohne Verlegenheit zu Ende.

»Ach so!«

Sie ging hinaus, kehrte bald mit dem Eingemachten und mit dem Schnaps zurück und setzte sich wieder ans Fenster. Auf ihrer Stirn war noch eine Runzel zu sehen; die beiden Augenbrauen hoben und senkten sich wie die Fühler einer Wespe … Haben Sie schon einmal bemerkt, Leser, was für ein böses Gesicht so eine Wespe hat? Nun, dachte ich mir, es wird ein Gewitter geben. Das Gespräch wollte nicht ordentlich in Fluß kommen; Nedopjuskin war gänzlich verstummt und lächelte gespannt; Tschertopchanow keuchte, errötete und glotzte; ich hatte schon die Absicht, mich zu empfehlen… Mascha erhob sich plötzlich, öffnete das Fenster, steckte den Kopf hinaus und rief wütend einem vorübergehenden Bauernweibe zu: »Aksinja!« Das Weib fuhr zusammen, wollte sich umdrehen, glitt aber aus und fiel schwer zu Boden. Mascha warf sich zurück und begann laut zu lachen; auch Tschertopchanow lachte; Nedopjuskin piepste vor Vergnügen. Wir wurden alle lebendig. Das Gewitter hatte sich durch einen einzigen Blitz entladen … die Luft war nun rein.

Eine halbe Stunde später hätte uns niemand wiedererkannt; wir plauderten und tollten wie die Kinder. Mascha war ausgelassener als alle. Ihr Gesicht war blaß geworden, die Nasenlöcher hatten sich gebläht, der Blick war leuchtender und zugleich dunkler geworden. Die Wilde war entfesselt. Nedopjuskin humpelte auf seinen dicken und kurzen Beinchen hinter ihr her wie ein Enterich hinter einer Ente. Selbst Vensor kam unter der Bank im Vorzimmer hervorgekrochen, blieb eine Weile auf der Schwelle stehen, sah uns an und begann plötzlich zu springen und zu bellen, Mascha flog flink wie ein Vögelchen ins andere Zimmer hinüber, brachte die Gitarre, warf sich den Schal von den Schultern, setzte sich rasch und stimmte ein Zigeunerlied an. Ihre Stimme klang und zitterte wie ein gesprungenes Glasglöckchen, sie schwoll an und erstarb… Es wurde einem dabei so süß und so bange ums Herz. – »Ai, brenne, glüh und sprich…!« Tschertopchanow fing an zu tanzen. Nedopjuskin stampfte und strampelte mit den Füßen. Mascha war ganz Bewegung und bog sich wie Birkenrinde im Feuer, die feinen Finger liefen hurtig über die Saiten, der braune Hals hob sich langsam unter der doppelten Bernsteinkette. Bald verstummte sie, sank erschöpft hin und zupfte lustlos an den Saiten; Tschertopchanow blieb stehen, zuckte nur mit einer Achsel und tänzelte auf einem Fleck, während Nedopjuskin wie ein Porzellanchinese mit dem Kopf wackelte; bald sang sie wieder aus voller Kehle wie eine Wahnsinnige, richtete sich auf und reckte die Brust, Tschertopchanow hockte sich wieder bis zur Erde nieder, sprang bis an die Decke, drehte sich wie ein Kreisel und schrie: »Schneller…!«

»Schneller, schneller, schneller, schneller!« wiederholte Nedopjuskin.

Spät am Abend verließ ich Bessonowo.



Das Ende Tschertopchanows


Etwa zwei Jahre nach meinem Besuch bei Pantelej Jeremejitsch trafen ihn harte Schicksalsschläge, Schicksalsschläge im buchstäblichen Sinne des Wortes. Unannehmlichkeiten, Mißerfolge und Unglücksfälle hatte er auch schon früher erlebt; aber er hatte ihnen keine Beachtung geschenkt und nach wie vor wie ein Fürst gelebt. Der erste Schlag, der ihn traf, war für ihn am empfindlichsten: Mascha verließ ihn.

Was sie bewegen hatte, aus seinem Haus zu gehen, an das sie sich so gut gewöhnt zu haben schien, ist schwer zu sagen. Tschertopchanow hielt bis ans Ende seiner Tage an der Ansicht fest, daß die Schuld an Maschas Verrat ein junger Nachbar gewesen sei, ein Ulanenrittmeister a. D. namens Jaff, der nach den Worten Pantelej Jeremejitschs nur dadurch einnahm, daß er ununterbrochen seinen Schnurrbart drehte, sehr viel Pomade gebrauchte und mit wichtiger Miene ›Hm‹ zu sagen pflegte; es ist aber eher anzunehmen, daß hier das unstete Zigeunerblut, das in Maschas Adern floß, im Spiele war. Wie dem auch sei, an einem schönen Sommerabend band Mascha einige Kleidungsstücke zu einem kleinen Bündel zusammen und verließ Tschertopchanows Haus.

Vorher hatte sie drei Tage in einem Winkel gesessen, zusammengekauert und an die Wand gedrückt, wie eine verwundete Füchsin; sie hatte kein Wort gesprochen, sondern nur immer die Augen herumschweifen lassen, nachgedacht, mit den Brauen gezuckt, die Zähne gefletscht und die Arme bewegt, als wenn sie sich in etwas einhüllte. Solche Launen hatte sie auch schon früher gehabt, aber so lange hatte der Zustand noch nie gedauert; Tschertopchanow wußte es, beunruhigte daher weder sich selbst noch sie. Als er aber auf dem Heimweg vom Hundezwinger, wo, nach den Worten seines Jagdgehilfen, die beiden letzten Windhunde ›verreckt‹ waren die Dienstmagd traf, die ihm mit bebender Stimme meldete, Maria Akinfijewna lasse ihn grüßen und ihm sagen, daß sie ihm alles Gute wünsche, zu ihm aber nicht mehr zurückkehren werde – da drehte sich Tschertopchanow ein paarmal auf einem Fleck, gab ein dumpfes Gebrüll von sich und stürzte der Flüchtigen nach; für jeden Fall nahm er seine Pistole mit.

Er hohe sie zwei Werst von seinem Hause ein, neben dem Birkenwäldchen an der Landstraße, die nach der Kreisstadt führte. Die Sonne stand tief am Horizont, und alles ringsum war plötzlich rot geworden: die Bäume, das Gras und die Erde.

»Zu Jaff! Zu Jaff!« stöhnte Tschertopchanow, sobald er Mascha erblickte. »Zu Jaff!« sagte er wieder, auf sie zulaufend und bei jedem Schritt fast stolpernd.

Mascha blieb stehen und wandte ihm ihr Gesicht zu. Sie stand mit dem Rücken zum Licht und erschien ganz schwarz, wie aus dunklem Holz geschnitzt. Nur das Weiße ihrer Augen leuchtete wie silberne Mandeln, die Pupillen selbst schienen aber noch dunkler. Sie warf ihr Bündel auf die Seite und kreuzte die Arme.

»Zu Jaff gehst du, Nichtswürdige!« wiederholte Tschertopchanow. Er wollte sie an der Schulter packen, bekam aber, von ihrem Blick getroffen, Angst und hielt verlegen inne.

»Ich gehe gar nicht zu Herrn Jaff, Pantelej Jeremejitsch«, antwortete Mascha ruhig und leise, »aber ich kann mit Ihnen nicht mehr leben.«

»Wieso kannst du nicht mehr leben? Warum? Habe ich dich denn irgendwie gekränkt?«

Mascha schüttelte den Kopf.

»Sie haben mich durch nichts gekränkt, Pantelej Jeremejitsch, aber mir ist bei Ihnen zu öde … Für das Vergangene danke ich Ihnen, aber bleiben kann ich nicht, nein!«

Tschertopchanow war erstaunt; er schlug sich sogar auf die Schenkel und sprang in die Höhe.

»Was ist denn das? Hast bei mir so lange gelebt, hast nichts als Freude und Ruhe gehabt, und plötzlich langweilst du dich bei mir! ›Ich will ihn verlassen‹, sagst du auf einmal. Nimmst ein Tuch über den Kopf und gehst fort. Alle Achtung wurde dir bei mir erwiesen, ganz wie einer Gnädigen …«

»Das brauchte ich gar nicht«, unterbrach ihn Mascha.

»Das brauchtest du nicht? Bist aus einer Zigeunerin und Herumtreiberin eine Gnädige geworden, und das brauchtest du nicht? Wieso brauchtest du das nicht, du Hams Brut? Kann man es denn glauben? Verrat steckt dahinter, Verrat!« Er zischte wieder.

»Ich habe gar keinen Verrat im Sinn und auch niemals im Sinne gehabt«, sagte Mascha mit ihrer singenden, deutlichen Stimme, »aber ich habe es Ihnen schon gesagt: Die Sehnsucht hat mich gepackt.«

»Mascha!« rief Tschertopchanow und schlug sich mit der Faust vor die Brust, »Hör doch auf, genug, hast mich genug gequält, jetzt laß es sein! Bei Gott! Bedenke nur, was Tichon sagen wird, habe doch wenigstens mit ihm Mitleid!«

»Grüßen Sie Tichon Iwanytsch von mir und sagen Sie ihm …«

Tschertopchanow hob die Arme: »Nein, du irrst, du entkommst mir nicht! Dein Jaff wird es niemals erleben!«

»Herr Jaff …«, begann Mascha.

»Was ist er für ein Herr Jaff?« äffte Tschertopchanow nach. »Er ist ein Schuft, ein Gauner und hat eine Fratze wie ein Affe!«

Eine halbe Stunde schlug sich Tschertopchanow mit Mascha herum. Bald trat er ganz dicht an sie heran, bald sprang er zurück, holte zu einem Schlag aus, verneigte sich wieder vor ihr, weinte und fluchte… »Ich kann nicht«, wiederholte Mascha, »es ist mir so traurig… Die Langweile wird mich töten.« Ihr Gesicht nahm allmählich einen so gleichgültigen, fast schläfrigen Ausdruck an, daß Tschertopchanow fragte, ob man sie nicht mit irgendeinem Trank behext hätte.

»Die Langweile«, sagte sie zum zehntenmal.

»Und wenn ich dich töte?« rief er plötzlich und holte aus der Tasche die Pistole.

Mascha lächelte, ihr Gesicht belebte sich. »Nun, töten Sie mich, Pantelej Jeremejitsch, das ist in Ihrer Gewalt, aber zurückkehren werde ich nicht.«

»Du wirst nicht zurückkehren…?« Tschertopchanow spannte den Hahn.

»Ich werde nicht zurückkehren, Liebster. Nie im Leben kehre ich zurück. Ich halte mein Wort.«

Tschertopchanow steckte ihr plötzlich die Pistole in die Hand und setzte sich auf die Erde. »Nun, dann töte du mich! Ohne dich will ich nicht leben. Du magst mich nicht mehr, und auch ich mag nichts mehr im Leben.«

Mascha bückte sich, hob ihr Bündelchen auf, legte die Pistole ins Gras, den Lauf von Tschertopchanow abgewandt, und rückte näher zu ihm heran.

»Ach, Liebster, was grämst du dich? Oder kennst du uns Zigeunerinnen nicht? So ist einmal unsere Art, unsere Sitte. Wenn die Sehnsucht kommt und das Herz in ein fremdes, fernes Land lockt – wie kann man dann bleiben? Denke an deine Mascha – eine solche Freundin findest du nie wieder; auch ich vergesse dich nicht, mein Falke. Unser Miteinanderleben ist aber aus!«

»Ich habe dich geliebt, Mascha«, murmelte Tschertopchanow durch die Finger, die er sich aufs Gesicht preßte.

»Auch ich habe Sie geliebt, Freund Pantelej Jeremejitsch!«

»Ich habe dich geliebt, ich liebe dich wahnsinnig, bis zur Bewußtlosigkeit – und wenn ich bedenke, daß du mich so ohne jeden Grund, so mir nichts, dir nichts, verläßt und dich in der Welt herumtreiben willst, so stelle ich mir vor, daß, wenn ich nicht so ein armer Teufel wäre, du mich niemals verlassen hättest!«

Auf diese Worte hatte Mascha nur ein Lächeln. »Und du hast mich doch immer uneigennützig genannt!« sagte sie und schlug ihn kräftig auf die Schulter.

Er sprang auf die Füße. »Nun, dann nimm wenigstens Geld von mir – was willst du denn ohne Geld anfangen? Aber noch besser: Töte mich! Ich sage es dir klar und deutlich: Töte mich auf einen Schlag!«

Mascha schüttelte wieder den Kopf. »Dich töten? Und wofür wird man nach Sibirien verschickt, mein Lieber?«

Tschertopchanow fuhr zusammen. »Also nur darum nicht, aus Furcht vor Sibirien …»

Er warf sich wieder ins Gras.

Mascha stand eine Weile schweigend über ihm. »Du tust mir leid, Pantelej Jeremejitsch«, sagte sie mit einem Seufzer, »du bist ein guter Mensch … aber es ist nichts zu machen – leb wohl!«

Sie wandte sich weg und machte zwei Schritte. Die Nacht war schon angebrochen, von allen Seiten schwebten dunkle Schatten heran. Tschertopchanow sprang schnell auf und packte Mascha von rückwärts an den beiden Ellenbogen.

»Du gehst also, Schlange? Zu Jaff!«

»Leb wohl!« sagte Mascha ausdrucksvoll und scharf. Sie riß sich los und ging.

Tschertopchanow sah ihr nach, lief zu der Stelle, wo die Pistole lag, ergriff sie, zielte und schoß … Aber bevor er losdrückte, wandte er die Waffe nach oben; die Kugel pfiff über Maschas Kopf hinweg. Sie sah ihn im Gehen über die Schulter an und ging, sich wiegend, weiter, als neckte sie ihn.

Er bedeckte sich das Gesicht und rannte davon … Aber er war noch nicht fünfzig Schritte gelaufen, als er plötzlich wie angewurzelt stehenblieb. Eine bekannte, allzu bekannte Stimme schlug an sein Ohr. Mascha sang. »O schöne Zeit, o Jugendzeit!« sang sie; jeder Ton schwebte durch die Abendluft, klagend und sehnsuchtsvoll. Tschertopchanow lauschte. Die Stimme entfernte sich immer mehr; bald erstarb sie ganz, bald tönte sie wieder, kaum hörbar, doch voller Glut …

Das tut sie mir zum Trotz, dachte sich Tschertopchanow; aber er stöhnte gleich darauf: »Ach, nein! Sie nimmt von mir Abschied für immer«, und brach in Tränen aus.

Am nächsten Tag erschien er in der Wohnung des Herrn Jaff, der als echter Weltmann die Einsamkeit des Landlebens nicht liebte und sich darum in der Kreisstadt niedergelassen hatte, ›näher bei den jungen Damen‹, wie er sich ausdrückte. Tschertopchanow traf Jaff nicht an; nach den Worten seines Kammerdieners war er einen Tag vorher nach Moskau abgereist.

»Ja, es stimmt!« rief Tschertopchanow voller Wut. »Es ist eine abgekartete Sache, sie ist mit ihm geflohen … aber warte!«

Er stürzte sich trotz des Widerstandes des Kammerdieners ins Kabinett des jungen Rittmeisters. Im Kabinett hing über dem Sofa ein in Öl gemaltes Bild des Hausherrn.

»Ah, da bist du, du schwanzloser Affe!« donnerte Tschertopchanow; er sprang aufs Sofa, schlug mit der Faust auf die gespannte Leinwand und machte ein großes Loch.

»Sag deinem nichtsnutzigen Herrn«, wandte er sich an den Kammerdiener, »daß der Edelmann Tschertopchanow in Abwesenheit der wirklichen Fratze deines Herrn die gemalte verstümmelt hat; wenn er aber von mir Genugtuung haben will, so weiß er selbst, wo er den Edelmann Tschertopchanow finden kann! Andernfalls aber werde ich ihn finden, auf dem Meeresgrund werde ich ihn finden, den gemeinen Affen!«

Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, sprang Tschertopchanow vom Sofa und entfernte sich feierlich.

Aber der Rittmeister Jaff verlangte von ihm keinerlei Genugtuung – er begegnete ihm sogar niemals mehr; auch Tschertopchanow dachte gar nicht daran, seinen Feind zu suchen, und es kam zu gar keinem Auftritt zwischen ihnen. Mascha selbst war aber bald darauf spurlos verschwunden. Tschertopchanow fing an zu saufen, kam aber wieder zur Vernunft. Doch da traf ihn der zweite Schlag.

Und zwar: Sein Herzensfreund Tichon Iwanytsch Nedopjuskin war gestorben. Schon zwei Jahre vor seinem Tode war es mit seiner Gesundheit nicht am besten bestellt – er litt an Atemnot, schlief fortwährend ein und konnte, wenn er erwachte, lange nicht zu sich kommen; der Kreisarzt behauptete, es seien kleine Schlaganfälle. Während der drei Tage, die Maschas Flucht vorangingen, der drei Tage, an denen sie von der ›Sehnsucht gepackt‹ war, lag Nedopjuskin zu Hause in Besselendejewka, er hatte sich stark erkältet. Um so mehr überraschte ihn Maschas Schritt, er traf ihn vielleicht noch härter als Tschertopchanow selbst. Infolge seines sanften und scheuen Charakters äußerte er nichts außer der zärtlichen Teilnahme und eines schmerzhaften Erstaunens … aber alles in ihm war gerissen. »Sie hat aus mir meine Seele genommen«, flüsterte er zu sich selbst, auf seinem mit Wachstuch bezogenen Lieblingssofa sitzend und mit den Fingern spielend. Selbst als Tschertopchanow sich schon beruhigt hatte, hatte sich Nedopjuskin noch immer nicht erholt – er fühlte noch immer, daß alles in seinem Innern leer sei. – »Hier«, pflegte er zu sagen, indem er auf die Mitte der Brust über dem Magen zeigte.

So zog er bis zum Winter hin. Als die ersten Fröste kamen, wurde es mit seiner Atemnot etwas besser, dafür traf ihn ein wirklicher Schlag, und kein ›kleiner‹ mehr. Er verlor nicht gleich die Besinnung; er konnte noch Tschertopchanow erkennen und antwortete sogar auf den verzweifelten Aufschrei seines Freundes: »Was ist mit dir, Ticha?«

»Pa-a-jej Je-e-jejitsch, zu Ih-en Die-sten.«

Das hinderte ihn aber nicht, am selben Tag zu sterben, noch vor der Ankunft des Kreisarztes, dem angesichts der kaum erstarrten Leiche nichts mehr übrigblieb, als mit dem traurigen Bewußtsein der Vergänglichkeit alles Irdischen um ein Schnäpschen mit gedörrtem Störrücken zu bitten.

Sein Gut hatte Tichon Iwanowitsch, wie es auch zu erwarten war, seinem ›verehrtesten Wohltäter und großmütigsten Gönner‹ Panteiej Jeremejitsch Tschertopchanow vermacht; aber der verehrteste Wohltäter hatte davon keinen großen Nutzen, da es bald darauf öffentlich versteigert wurde – zum Teil, um die Kosten des Grabmonuments zu decken, das Tschertopchanow (es war offenbar eine väterliche Ader in ihm!) über der Asche seines Freundes zu errichten beschloß.

Dieses Monument, eine Statue, die einen betenden Engel darstellen sollte, verschrieb er sich aus Moskau; aber der ihm empfohlene Kommissionär sagte sich, daß in der Provinz die Kenner der Skulptur dünn gesät seien, und schickte ihm statt des Engels eine Flora, die viele Jahre einen verwilderten Park aus der Zeit Katharinas der Großen bei Moskau geschmückt hatte – um so mehr, als diese im übrigen recht hübsche Rokokostatue mit runden Händchen, üppigen Locken, einer Rosengirlande auf dem entblößten Busen und geschwungenem Oberkörper ihn, den Kommissionär, keine Kopeke gekostet hatte. So steht die mythologische Göttin mit graziös erhobenem Füßchen auch heute noch auf dem Grab Tichon Iwanowitschs und schaut mit der echten Grimasse einer Pompadour auf die um sie herumspazierenden Kälber und Schafe, diese unvermeidlichen Besucher unserer ländlichen Friedhöfe.

Nach dem Verlust seines treuen Freundes ergab sich Tschertopchanow wieder dem Trunke, diesmal in einer viel besorgniserregenderen Weise. Seine Geschäfte gingen immer schlechter. Er konnte nicht mehr jagen, sein letztes Geld ging ihm aus, die letzten Leibeigenen liefen ihm davon. Die Vereinsamung Pantelej Jeremejitschs war nun vollständig, er hatte niemanden, mit dem er ein Wort hätte sprechen können, geschweige denn, vor dem er sein Herz ausschütten konnte. Nur sein Stolz allein hatte nicht abgenommen. Im Gegenteil – je schlimmer seine Verhältnisse waren, desto stolzer, hochmütiger und unzugänglicher wurde er selbst. Zuletzt war er ganz verwildert. Nur ein Trost, eine Freude war ihm geblieben: ein wunderbares graues Reitpferd von Donscher Rasse, das er Malek-Adel nannte, ein wirklich wunderbares Tier.

Zu diesem Pferd war er auf folgende Weise gekommen.

Als Tschertopchanow einmal durch ein Nachbardorf ritt, hörte er neben der Schenke einen Haufen Bauern schreien und lärmen. In der Mitte der Menge hoben und senkten sich fortwährend kräftige Fäuste.

»Was ist da los?« fragte er mit dem ihm eigenen befehlenden Ton ein altes Weib, das vor der Schwelle ihres Hauses stand.

An den Türbalken gelehnt und wie schlafend, blickte das Weib in der Richtung nach der Schenke. Ein strohblonder Junge im bloßen Kattunhemd mit einem Kreuzchen aus Zypressenholz auf der nackten Brust saß mit gespreizten Beinchen und geballten Fäustchen zwischen ihren Bastschuhen; gleich daneben pickte ein Küken an einer versteinerten Schwarzbrotrinde.

»Gott weiß es, Väterchen«, antwortete die Alte, indem sie sich vorbeugte und ihre runzelige dunkle Hand auf den Kopf des Jungen legte. »Man sagt, die Unsrigen schlagen einen Juden.«

»Was, einen Juden? Was für einen Juden?«

»Das weiß Gott, Väterchen. Bei uns ist so ein Jude aufgetaucht; woher er kommt, wer kann es wissen? Waßja, Liebster, geh zu der Mutter. – Ksch, ksch, du Mistvieh!« Die Alte verscheuchte das Küken, und Waßja ergriff ihren Rocksaum. »Also schlägt man ihn, Herr.«

»Man schlägt ihn? Warum?«

»Ich weiß es nicht, Väterchen. Er wird es wohl verdient haben. Wie soll man ihn nicht schlagen! Er hat doch Christus ans Kreuz geschlagen!«

Tschertopchanow schrie auf, schlug das Pferd mit der Peitsche auf den Hals und sprengte mitten in die Menge hinein; dann fing er an, auf die Bauern wahllos nach rechts und nach links mit der Peitsche zu schlagen und dabei aufgeregt zu schreien: »Will-kür! Will-kür! Das Gesetz straft und nicht Pri-vat-per-so-nen! Das Gesetz! Das Ge-setz!! Das Ge-setz!!«

Es waren noch keine zwei Minuten vergangen, als die Menge sich nach allen Seiten zerstreut hatte. Auf der Erde, vor der Tür der Schenke, lag aber ein kleines, hageres schwärzliches Geschöpf in einem Kaftan aus Nanking, zerzaust und zerschlagen … Ein bleiches Gesicht, leblose Augen, ein offener Mund … Was war das? Die Erstarrung des Schreckens oder schon der Tod selbst?

»Warum habt ihr den Juden erschlagen?« rief Tschertopchanow mit Donnerstimme und schwang die Reitpeitsche.

Ihm antwortete ein schwaches Murren in der Menge. Der eine Bauer griff sich an die Schulter, der andere an die Hüfte, der dritte an die Nase. »Der kann hauen!« ertönte es in den hinteren Reihen.

»Mit der Reitpeitsche! So kann es ein jeder!« versetzte eine andere Stimme.

»Warum habt ihr den Juden erschlagen? Euch frage ich, ihr verdammten Asiaten!« wiederholte Tschertopchanow.

Hier sprang aber das auf der Erde liegende Geschöpf flink auf die Beine, lief hinter Tschertopchanow und griff krampfhaft nach dem Rand seines Sattels.

»Der ist zäh!« ertönte es wieder in den hinteren Reihen. »Wie eine Katze!«

»Euer Hochwohlgeboren, nehmen Sie sich meiner an, retten Sie mich!« stammelte indessen der unglückliche Jude, sich mit der ganzen Brust an das Bein Tschertopchanows drückend. »Sonst erschlagen sie mich, sie erschlagen mich, Euer Hochwohlgeboren!« »Warum schlagen sie dich?« fragte Tschertopchanow.

»Bei Gott, ich weiß es nicht! Das Vieh fing an bei ihnen zu fallen, und sie glauben … ich aber …«

»Nun, das werden wir später untersuchen!« unterbrach ihn Tschertopchanow. »Halte dich jetzt an meinem Sattel fest und folge mir. – Ihr aber«, fügte er hinzu, indem er sich an die Menge wandte, »kennt ihr mich? Ich bin der Gutsbesitzer Pantelej Tschertopchanow und wohne auf dem Gut Bessonowo – wenn ihr wollt, könnt ihr euch über mich beschweren, auch über den Juden zugleich!«

»Warum sollen wir uns beschweren?« sagte mit einer tiefen Verbeugung ein gesetzter Bauer mit grauem Bart, der ganz wie ein alter Patriarch aussah. (Den Juden hatte er übrigens genauso wie die anderen mißhandelt.) »Wir kennen dich, Väterchen Pantelej Jeremejitsch, gut; wir sind deiner Gnaden dankbar, daß du uns eine Lehre erteilt hast!«

»Warum sollen wir uns beschweren!« fielen ihm die andern ins Wort. »Mit dem Ungetauften werden wir aber schon abrechnen! Er entkommt uns nicht! Wir werden ihn wie einen Hasen im Felde …«

Tschertopchanow bewegte seinen Schnurrbart, schnaubte und ritt im Schritt auf sein Gut, begleitet vom Juden, den er auf die gleiche Weise von seinen Bedrängern befreit hatte wie einst den Tichon Nedopjuskin.


Einige Tage später meldete ihm der einzige Diener, der Tschertopchanow noch geblieben war, es sei ein Reiter gekommen und wünsche ihn zu sprechen. Tschertopchanow trat vors Haus und sah den ihm bekannten Juden mitten auf dem Hof unbeweglich und stolz auf einem herrlichen Donschen Pferde sitzen. Der Jude hatte keine Mütze auf, er hielt sie unter dem Arm; seine Füße hatte er nicht in die Steigbügel selbst gesteckt, sondern in die Riemen der Steigbügel; die zerrissenen Schöße seines Kaftans hingen zu beiden Seiten des Sattels herab. Als er Tschertopchanow erblickte, schmatzte er mit den Lippen, zuckte mit den Ellenbogen und mit den Beinen.

Aber Tschertopchanow erwiderte nicht nur nicht seinen Gruß, sondern flammte plötzlich auf – so ein räudiger Jud' wagt es, auf so einem herrlichen Pferd zu sitzen …! »He, du äthiopische Fratze!« schrie er. »Steig sogleich ab, wenn du nicht willst, daß man dich in den Schmutz hinunterwirft!« Der Jude gehorchte sofort. Er fiel wie ein Sack vom Sattel und ging, die Zügel in der einen Hand, lächelnd und sich bückend auf Tschertopchanow zu.

»Was willst du?« fragte ihn Pantelej Jeremejitsch mit Würde.

»Euer Wohlgeboren, belieben zu sehen, was das für ein Pferdchen ist!« sagte der Jude, sich immer noch verbeugend.

»Hm … ja … ein gutes Pferd. Wo hast du es her? Hast es wohl gestohlen?«

»Was denken Sie, Euer Wohlgeboren! Ich bin ein ehrlicher Jud', ich habe es nicht gestohlen, ich habe es für Euer Wohlgeboren aufgetrieben! Solche Mühe habe ich mir gegeben, solche Mühe! Dafür ist es auch ein Pferd! So ein Pferd kann man am ganzen Don nicht mehr finden. Schauen Sie nur, Euer Wohlgeboren, was es für ein Pferd ist! Bemühen Sie sich her! – Tpru… tpru… dreh dich um, stell dich seitwärts! Wir wollen aber den Sattel abnehmen. Nun, was sagen Sie, Euer Wohlgeboren?«

»Das Pferd ist gut«, wiederholte Tschertopchanow mit geheuchelter Gleichgültigkeit, sein Herz klopfte aber in der Brust. Er war ein gar zu leidenschaftlicher Liebhaber von ›Pferdefleisch‹ und verstand sich darauf.

»Sehen Sie ihn sich nur an, Euer Wohlgeboren! Streicheln Sie ihn am Halse, hi-hi-hi! Ja, so!«

Tschertopchanow legte die Hand wie widerwillig dem Pferde auf den Hals, klopfte zweimal, fuhr dann mit den Fingern von der Mähne den Rücken entlang, und als er eine gewisse Stelle über den Nieren erreichte, drückte er auf Kennerart leicht darauf. Das Pferd bog sofort das Rückgrat, schielte mit seinem stolzen schwarzen Auge nach Tschertopchanow, schnaubte und wechselte die Stellung der Vorderbeine.

Der Jude lachte und klatschte leicht in die Hände. »Es erkennt seinen Herrn, Euer Wohlgeboren, seinen Herrn!«

»Nun, fasele nicht«, unterbrach ihn Tschertopchanow ärgerlich. »Um dir das Pferd abzukaufen, habe ich kein Geld, und Geschenke nehme ich nicht nur von dir, du Jud«, sondern auch vom lieben Gott selbst nicht an!«

»Wie wage ich auch, Ihnen etwas zu schenken, ich bitte Sie!« rief der Jude» »Kaufen Sie es, Euer Wohlgeboren … auf das Geld will ich aber warten.«

Tschertopchanow wurde nachdenklich. »Was verlangst du dafür?« fragte er endlich durch die Zähne. Der Jude zuckte die Achseln. »Was ich selbst bezahlt habe. Zweihundert Rubel.«

Das Pferd war zwei- oder sogar vielleicht dreimal mehr wert.

Tschertopchanow wandte sich zur Seite und gähnte nervös. »Und wann ist … die Zahlung?« fragte er, gewaltsam die Brauen runzelnd, ohne den Juden anzusehen.

»Wann es Euer Wohlgeboren beliebt.«

Tschertopchanow warf den Kopf zurück, hob aber die Augen nicht. »Das ist keine Antwort. Sprich vernünftig, du Herodesbrut! Soll ich von dir vielleicht eine Gefälligkeit annehmen?«

»Nun, sagen wir einmal so«, versetzte der Jude schnell, »nach sechs Monaten … sind Sie einverstanden?«

Tschertopchanow antwortete nichts.

Der Jude versuchte ihm in die Augen zu blicken. »Sind Sie einverstanden? Befehlen Sie, das Pferd in den Stall zu führen?«

»Den Sattel brauche ich nicht«, sagte Tschertopchanow kurz. »Nimm den Sattel mit, hörst du?«

»Gewiß, gewiß, ich werde ihn mitnehmen«, stammelte der Jude erfreut und lud sich den Sattel auf die Schulter.

»Das Geld aber«, fuhr Tschertopchanow fort, »in sechs Monaten, Und nicht zweihundert, sondern zweihundertfünfzig. Schweig! Zweihundertfünfzig sage ich dir! Die hast du bei mir gut.«

Tschertopchanow konnte sich noch immer nicht entschließen, die Augen zu heben. Noch niemals war sein Stolz so sehr verletzt. – Es ist doch klar, daß es ein Geschenk ist, dachte er sich, aus Dankbarkeit hat es mir der Teufel gebracht! – Er wäre imstande, den Juden zu umarmen oder auch zu verprügeln …

»Euer Gnaden Wohlgeboren«, begann der Jude ermutigt und lächelnd, »man müßte es nach russischer Sitte machen: aus einem Rockschoß in den andern …«

»Was dir nicht einfällt! Ein Jud'… und denkt an russische Sitten! – He, wer ist dort? Nimm das Pferd und führ es in den Stall. Und schütte ihm Hafer vor. Ich komme gleich selbst hin und schaue nach. Und merk dir: Das Pferd heißt Malek-Adel!«

Tschertopchanow war schon die Treppe hinaufgegangen, drehte sich aber scharf auf dem Absatz um, lief auf den Juden zu und drückte ihm fest die Hand. Dieser bückte sich und spitzte schon die Lippen, aber Tschertopchanow sprang zurück, sagte leise: »Erzähl es niemand«, und verschwand hinter der Tür.


Von diesem Tage an wurde Malek-Adel zur Hauptbeschäftigung, zur wichtigsten Sorge und zur größten Freude im Leben Tschertopchanows. Er liebte ihn so, wie er nicht einmal Mascha geliebt hatte, und hing an ihm stärker als an Nedopjuskin. Das war aber auch ein Pferd! Feuer, wirkliches Feuer, Schießpulver, dabei aber eine Würde wie bei einem Bojaren! Unermüdlich, ausdauernd, läßt sich überall hin wenden, leistet keinen Widerstand. – Sein Futter kostet aber so gut wie nichts: Wenn es nichts anderes gibt, so frißt er die Erde unter sich. Geht er im Schritt, so trägt er einen wie auf den Armen; läuft er Trab, so wiegt er einen wie in einer Wiege; saust er aber im Galopp, so kann ihn auch der Wind nicht einholen. Niemals geht ihm der Atem aus, so kräftig ist seine Lunge. Die Beine sind wie aus Stahl; es kommt nie vor, daß er stolpert. Über einen Graben oder einen Zaun zu springen ist für ihn eine Kleinigkeit, und dabei so klug! Auf einen Ruf kommt er gleich mit erhobenem Kopf gelaufen; befiehlt man ihm stillzustehen und geht selbst weg, so rührt er sich nicht von der Stelle; kommt man aber zurück, so wiehert er leise, als wollte er sagen: Ich bin da. – Nichts fürchtet er, im Finstern, im Schneesturm findet er den Weg. Aber einen Fremden läßt er zu sich nicht heran – er beißt ihn mit den Zähnen tot! Auch ein Hund darf ihm nicht nahe kommen – sogleich trifft er ihn mit dem Vorderhuf auf die Stirn, und der Hund ist hin. Ein Pferd mit Ehrgefühl – man darf die Reitpeitsche nur zur Parade über ihm schwingen, aber Gott behüte, ihn anzurühren! Doch was soll man lange reden: ein Schatz und kein Pferd!

Wenn Tschertopchanow über seinen Malek-Adel zu sprechen anfing, so staunte man bloß, wo er die Worte hernahm! Und wie er ihn pflegte und hätschelte! Sein Haar glänzte wie Silber, aber nicht wie altes, sondern wie neues, das noch einen dunkeln Schimmer hat; fährt man mit der Hand darüber, so ist es wie Samt! Der Sattel, die Schabracke, der Zaum, das ganze Geschirr – alles paßte ausgezeichnet, war in Ordnung und schön geputzt, man hätte einen Bleistift nehmen können und zeichnen; Tschertopchanow selbst – was will man noch mehr? – pflegte seinem Liebling eigenhändig die Mähne und den Schopf zu Zöpfen zu flechten und den Schweif mit Bier zu waschen; er schmierte ihm sogar öfters die Hufe mit einer Salbe …

Manchmal setzte er sich auf den Malek-Adel und ritt aus, nicht etwa, um die Nachbarn zu besuchen – mit diesen verkehrte er nach wie vor nicht – , aber über ihre Felder, an ihren Gutshäusern vorbei … »Bewundert doch das Pferd aus der Ferne, ihr Narren!« Und wenn er hörte, daß irgendwo eine Jagd stattfand, daß ein reicher Gutsherr auf die Hetzjagd ausritt, so begab er sich sofort dahin; er tummelte sich mit seinem Pferd in der Ferne, am Horizont, setzte alle Zuschauer durch dessen Schönheit und Schnelligkeit in Erstaunen, ließ aber niemand nahe zu sich heran. Einmal sprengte irgendein Liebhaber mit einem ganzen Gefolge ihm nach; er sah, daß er Tschertopchanow nicht einholen konnte, und schrie ihm, so laut er konnte, im vollen Lauf zu: »He, du! Hör! Verlange, was du willst, für dein Pferd! Tausend Rubel sind mir nicht zu schade! Meine Frau, meine Kinder will ich hergeben …! Nimm mein Letztes!«

Tschertopchanow hielt Malek-Adel plötzlich an. Der Liebhaber sprengte zu ihm heran. »Väterchen!« schrie er: »Sag, was du verlangst! Liebster!«

»Wenn du ein Zar bist«, sagte Tschertopchanow mit Nachdruck (er hatte aber nie etwas von Shakespeare gehört), »und mir dein ganzes Zarenreich für mein Pferd gibst – ich gebe es nicht her!« Das sagte er, lachte auf, ließ den Malek-Adel sich bäumen, wandte ihn in der Luft wie einen Kreisel auf den Hinterbeinen allein um und sprengte im Galopp davon. Er flog nur so über das Stoppelfeld. Aber der Liebhaber (man sagt, es sei ein steinreicher Fürst gewesen) warf seine Mütze zu Boden und stürzte sich mit dem Gesicht auf die Mütze! Eine halbe Stunde lag er so.

Wie hätte Tschertopchapow sein Pferd nicht teuer halten sollen? Hatte er doch ihm zu verdanken, daß er wieder einen zweifellosen Vorzug, einen letzten Vorzug vor allen seinen Nachbarn besaß!


Indessen verging die Zeit, und der Zahlungstermin rückte heran, aber Tschertopchanow hatte nicht nur keine zweihundert Rubel, sondern auch keine fünfzig. Was war da zu tun, wie war da zu helfen? – »Nun«, sagte er sich schließlich, »wenn der Jude kein Einsehen hat und nicht länger warten will, so gebe ich ihm mein Haus und mein Land, setze mich selbst aufs Pferd und reite davon, wohin meine Augen schauen! Ich werde Hungers sterben, meinen Malek-Adel aber nicht hergeben!« – Er war sehr aufgeregt und sogar nachdenklich; aber hier erbarmte sich seiner das Schicksal zum ersten und letzten Male: Irgendeine weitläufige Tante, die Tschertopchanow nicht einmal dem Namen nach kannte, vermachte ihm testamentarisch eine für seine Begriffe außerordentliche Summe – ganze zweitausend Rubel! – Das Geld kam just zur richtigen Zeit, einen Tag vor Erscheinen des Juden. Tschertopchanow wurde vor Freude beinahe verrückt, dachte aber nicht einmal an Schnaps; seit dem Tag, an dem er den Malek-Adel bekommen hatte, nahm er keinen Tropfen in den Mund. Er lief in den Stall und küßte seinen Freund zu beiden Seiten der Schnauze über den Nüstern, wo die Pferde die zarteste Haut haben. »Jetzt trennen wir uns nicht mehr!« rief er, indem er das Pferd auf den Hals unter der gekämmten Mähne klopfte. Nach Hause zurückgekehrt, zählte er zweihundertfünfzig Rubel ab und versiegelte das Paket. Dann überlegte er sich, auf dem Rücken liegend und ein Pfeifchen rauchend, wie er das übrige Geld verwenden wollte: Er gedachte sich Hunde anzuschaffen, von der Kostromaschen Rasse, und zwar unbedingt rotbraune! Er unterhielt sich sogar mit Perfischka, versprach ihm eine neue Livree mit gelben Tressen an allen Nähten und legte sich in der seligsten Gemütsverfassung schlafen.

Er hatte einen unangenehmen Traum – ihm war, als sei er auf die Jagd geritten, aber nicht auf dem Malek-Adel, sondern auf einem seltsamen Tier von der Art eines Kamels; ein schneeweißer Fuchs lief ihm entgegen … Er will seine Reitpeitsche schwingen, will die Hunde auf den Fuchs hetzen, aber er hat in den Händen statt der Peitsche einen Bastwisch. Und der Fuchs läuft vor ihm her und reckt ihm die Zunge. Er springt von seinem Kamel, stolpert und fällt … fällt gerade einem Gendarmen in die Hände, der ihn zum Generalgouverneur ruft, und in diesem erkennt er Jaff …

Tschertopchanow erwachte. Im Zimmer war es dunkel. Der Hahn hatte erst zum zweitenmal gekräht … Irgendwo in weiter Ferne wieherte ein Pferd. Tschertopchanow hob den Kopf … Wieder hörte er ein feines, leises Wiehern.

»Das ist Malek-Adel!« sagte er sich. »Das ist sein Wiehern! Warum aber so weit? Du lieber Gott … Es kann nicht sein …«

Es überlief ihn plötzlich ganz kalt. Er sprang im Nu aus dem Bett, tastete nach seinen Stiefeln und Kleidern, zog sich an, holte unter dem Kopfkissen den Stallschlüssel und rannte in den Hof.


Der Stall befand sich am äußersten Ende des Hofes; mit der einen Wand grenzte er an das freie Feld. Tschertopchanow konnte den Schlüssel nicht sogleich ins Schloß stecken – seine Hände zitterten – und er drehte den Schlüssel auch nicht sogleich um … Eine Weile stand er unbeweglich, mit angehaltenem Atem – wenn sich hinter der Tür auch nur etwas regte! »Malek! Malek!« rief er halblaut – ein Grabesstille! Tschertopchanow riß unwillkürlich an dem Schlüssel, die Tür knarrte und ging auf … Sie war also nicht verschlossen gewesen. Er trat über die Schwelle und rief sein Pferd, diesmal mit dem vollen Namen: »Malek-Adel«. Der treue Freund gab aber keine Antwort, nur eine Maus raschelte durch das Stroh. Nun stürzte sich Tschertopchanow in jenen der drei Stände des Stalles, in welchem sonst Malek-Adel stand. Er traf gerade diesen Stand, obwohl es im Stall stockfinster war … Leer! Tschertopchanow schwindelte der Kopf; es war ihm, als dröhnte eine Glocke unter seiner Schädeldecke. Er wollte etwas sagen, zischte aber nur und kam, mit den Händen oben, unten und an den Seiten tastend, keuchend, mit schlotternden Knien aus dem einen Stand in den andern … Im dritten, der bis oben mit Heu gefüllt war, stieß er an die eine Wand, an die andere, fiel hin, rollte kopfüber, stand auf und rannte plötzlich durch die halbgeöffnete Tür in den Hof … »Gestohlen! Perfischka! Perfischka! gestohlen!« schrie er mit wilder Stimme.

Der kleine Diener Perfischka rollte wie ein Kreisel im bloßen Hemd aus der Kammer, in der er schlief …

Wie zwei Betrunkene stießen die beiden, der Herr und sein einziger Diener, mitten im Hof zusammen; wie betäubt drehten sie sich voreinander im Kreise. Der Herr konnte nicht erklären, was los war, und der Diener konnte nicht begreifen, was von ihm verlangt wurde. – »Ein Unglück! Ein Unglück!« lallte Tschertopchanow. »Ein Unglück! Ein Unglück!« wiederholte der Diener.

»Die Laterne! Gib die Laterne her, zünde sie an! Licht! Licht!« entrang es sich endlich Tschertopchanows beklemmter Brust. Perfischka stürzte ins Haus.

Es war aber nicht leicht, Licht zu machen: Schwefelhölzer waren damals in Rußland noch eine Seltenheit; die letzte Kohlenglut in der Küche war schon längst ausgegangen; Feuerstein und Stahl ließen sich nicht sogleich finden und wollten keinen Funken geben. Zähneknirschend entriß sie Tschertopchanow den Händen des bestürzten Perfischka und fing selbst an, Feuer zu schlagen; die Funken sprühten reichlich, noch reichlicher kamen die Flüche und sogar Seufzer, aber der Zunder wollte entweder nicht brennen oder löschte wieder aus, trotz der vereinten Bemühungen von vier angestrengten Backen und Lippen. Endlich, nach fünf Minuten, nicht früher, brannte der Talglichtstummel auf dem Boden der zerschlagenen Laterne, und Tschertopchanow stürzte, von Perfischka begleitet, in den Stall. Er hob die Laterne über seinen Kopf und sah sich um … Alles leer!

Er sprang in den Hof, durchrannte ihn in allen Richtungen – das Pferd war nirgends zu sehen! Der Zaun, der Pantelej Jeremejitschs Besitz umgab, war längst baufällig und hatte sich an vielen Stellen zur Erde gesenkt … Neben dem Stall lag er auf einer Strecke von einem Arschin ganz auf dem Boden. Perfischka zeigte diese Stelle Tschertopchanow. »Herr! Schauen Sie nur her, das war heute noch nicht. Da ragen auch die Pfähle aus dem Boden, jemand hat sie wohl herausgedreht.«

Tschertopchanow sprang mit der Laterne hinzu und bewegte sie über dem Boden … »Hufe, Hufe, Spuren von Hufeisen, Spuren, frische Spuren!« murmelte er hastig. »Hier hat man ihn hinausgeführt, hier, hier!« Er sprang augenblicklich über den Zaun und lief mit dem Schrei: »Malek-Adel! Malek-Adel! Malek-Adel!« ins Feld.

Perfischka blieb bestürzt am Zaun stehen. Der helle Lichtkreis der Laterne verschwand ihm bald aus den Augen, verschlungen von der dichten Finsternis der sternenlosen und mondlosen Nacht.

Immer schwächer und schwächer klangen die verzweifelten Schreie Tschertopchanows.

Der Osten rötete sich schon, als er nach Hause zurückkehrte. Er sah kaum einem Menschen ähnlich, seine ganze Kleidung war von Schmutz bedeckt, das Gesicht zeigte einen wilden und schrecklichen Ausdruck, düster und stumpf blickten seine Augen. Er jagte mit einem heiseren Flüstern Perfischka fort und schloß sich in sein Zimmer ein. Vor Müdigkeit konnte er sich kaum auf den Beinen halten, aber er legte sich nicht ins Bett, sondern setzte sich auf einen Stuhl neben der Tür und griff sich an den Kopf. »Gestohlen …! Gestohlen!«

Wie hatte es aber der Dieb fertiggebracht, Malek-Adel nachts aus dem verschlossenen Stall zu stehlen? Malek-Adel, der auch bei Tag keinen fremden Menschen zu sich heranließ – ihn ohne Lärm und Klopfen zu stehlen? Und wie konnte man erklären, daß kein einziger Hofhund gebellt hatte? Es waren ihrer allerdings nur zwei da, zwei ganz junge Hunde, und diese vergruben sich vor Hunger und Kälte in die Erde, aber immerhin!

Was fange ich jetzt ohne Malek-Adel an? dachte sich Tschertopchanow. »Meine letzte Freude habe ich verloren, nun ist es Zeit, daß ich sterbe. Soll ich vielleicht ein anderes Pferd kaufen, da ich gerade Geld habe? Aber wo finde ich ein Pferd wie dieses?«

»Pantelej Jeremejitsch! Pantelej Jeremejitsch!« rief eine scheue Stimme hinter der Tür.

Tschertopchanow sprang auf die Füße. »Wer ist da?« rief er mit veränderter Stimme.

»Das bin ich, Ihr Diener Perfischka.«

»Was willst du? Hat er sich vielleicht gefunden, ist nach Hause zurückgelaufen?«

»Nein. Pantelej Jeremejitsch; der Jud', der ihn verkauft hat …«

»Nun?«

»Er ist angekommen.«

»Ho-ho-ho-ho!« rief Tschertopchanow und warf die Tür auf. »Schlepp ihn her, schlepp ihn her!«

Beim Anblick der plötzlich auftauchenden zerzausten und verwilderten Gestalt seines ›Wohltäters‹ wollte der Jude, der hinter Perfischkas Rücken stand, sich schon aus dem Staube machen; aber Tschertopchanow erreichte ihn mit zwei Sprüngen und packte ihn wie ein Tier an der Gurgel »Ah! Du kommst um das Geld! Um das Geld!« röchelte er, als ob nicht er würgte, sondern als ob man ihn würgte. »Bei Nacht hast du ihn gestohlen und kommst bei Tag um das Geld? Wie? Wie?«

»Ich bitte, Eu-er Wohl-geboren«, stöhnte der Jude.

»Sag, wo ist mein Pferd? Wo hast du es hingebracht? Wem hast du es verkauft? Sag, sag, sag!«

Der Jude konnte nicht mehr stöhnen; aus seinem blauangelaufenen Gesicht war sogar der Ausdruck des Schreckens verschwunden. Seine Arme hingen herab; sein ganzer Körper, den Tschertopchanow wütend schüttelte, schwankte wie ein Schilfrohr.

»Das Geld werde ich dir bezahlen, ich werde es dir bis auf die letzte Kopeke bezahlen«, schrie Tschertopchanow, »aber ich werde dich wie ein Küken erwürgen, wenn du mir nicht gleich sagst …«

»Sie haben ihn schon erwürgt, Herr«, bemerkte Perfischka.

Jetzt erst kam Tschertopchanow zu sich. Er ließ die Gurgel des Juden los, und dieser fiel wie leblos zu Boden. Tschertopchanow fing ihn auf, setzte ihn auf die Bank, goß ihm ein Glas Schnaps in den Mund und brachte ihn zur Besinnung. Und sobald er ihn zur Besinnung gebracht hatte, begann er ein Gespräch mit ihm.

Es stellte sich heraus, daß der Jude keine blasse Ahnung davon hatte, daß Malek-Adel gestohlen worden war. Warum hätte er auch das Pferd stehlen sollen, das er selbst für ›den verehrtesten Pantelej Jeremejitsch‹ beschafft hatte?

Nun führte ihn Tschertopchanow in den Stall. Sie untersuchten gemeinsam die Stände, die Krippen, das Türschloß, durchwühlten das Stroh und das Heu und gingen dann auf den Hof; Tschertopchanow zeigte dem Juden die Hufspuren am Zaun und schlug sich plötzlich auf die Schenkel. »Halt!« rief er. »Wo hast du das Pferd gekauft?«

»Im Maloarchangelsker Kreis, auf dem Werchossensker Jahrmarkt«, antwortete der Jude.

»Von wem?«

»Von einem Kosaken.«

»Halt! War der Kosak jung oder alt?«

»Von mittleren Jahren, ein gesetzter Mann.«

»Wie sah er aus? Wohl wie ein Gauner?«

»Wahrscheinlich war er ein Gauner, Euer Wohlgeboren.«

»Und was hat er dir gesagt, dieser Gauner – daß das Pferd ihm schon lange gehöre?«

»Ich glaube, er sagte, es gehöre ihm schon lange.«

»Nun, dann kann es niemand anders gestohlen haben als er allein! Urteile doch selbst, hör, stell dich mal her … wie heißt du?«

Der Jude fuhr zusammen und richtete seine schwarzen Augen auf Tschertopchanow. »Wie ich heiße?«

»Nun ja, wie ist dein Name?«

»Moschel-Lejba.«

»Nun, urteile doch selbst, mein Freund Lejba, du bist ein kluger Mann; von wem würde sich Malek-Adel wegführen lassen, wenn nicht von seinem alten Herrn? Er hat ihn doch aufgezäumt und gesattelt, hat ihm die Decke abgenommen – da liegt sie auf dem Heu …! Er hat sich einfach wie im eigenen Hause benommen! Jeden andern hätte ja Malek-Adel niedergetrampelt! Er hätte Lärm gemacht und das ganze Dorf geweckt! Bist du mit mir einverstanden?«

»Einverstanden, einverstanden, Euer Wohlgeboren …«

»Also muß man vor allen Dingen jenen Kosaken finden!«

»Wie findet man ihn aber, Euer Wohlgeboren? Ich habe ihn ja nur ein einziges Mal gesehen – wo ist er jetzt, und wie heißt er? Auwei, auwei!« fügte der Jude hinzu und schüttelte bekümmert seine Schläfenlocken.

»Lejba!« rief plötzlich Tschertopchanow, »Lejba, sieh mich an! Ich bin ja um meinen Verstand gekommen, ich bin wie verrückt …! Ich lege Hand an mich, wenn du mir nicht hilfst!«

»Wie kann ich aber …«

»Fahre mit mir, und wir wollen den Dieb suchen!«

»Wohin wollen wir denn fahren?«

»Auf die Jahrmärkte, auf die großen und kleinen Landstraßen, zu den Pferdedieben, in die Städte, in die Dörfer, in die Gehöfte – überallhin! Was aber das Geld betrifft, so mache dir keine Sorgen, ich habe eine Erbschaft gemacht, Bruder! Meine letzte Kopeke gebe ich her, aber ich finde meinen Freund. Der Kosak, unser Feind, soll und wird uns nicht entkommen! Wo er sich hinwendet, da gehen auch wir hin! Versinkt er in die Erde, so folgen wir ihm in die Erde! Geht er zum Teufel, so gehen wir zum Satan selbst!«

»Warum denn zum Satan«, bemerkte der Jude, »man kann auch ohne ihn – «

»Lejba!« rief Tschertopchanow. »Lejba, du bist zwar ein Hebräer und hast einen gemeinen Glauben, aber deine Seele ist besser als manche Christenseele! Erbarme dich meiner! Allein fahren kann ich nicht, allein bringe ich nichts zustande. Ich bin ein hitziger Mensch, du aber hast einen goldenen Kopf! Euer Volk ist schon einmal so: Ohne etwas zu lernen, habt ihr alles erfaßt! Du zweifelst vielleicht und fragst dich, woher ich Geld nehme? Komm auf mein Zimmer, ich werde dir das ganze Geld zeigen. Nimm das Geld, nimm mir das Kreuz von der Brust, gib mir nur den Malek-Adel wieder, gib ihn mir wieder!«

Tschertopchanow zitterte wie im Fieber; der Schweiß lief ihm von der Stirne herab, vermengte sich mit seinen Tränen und verlor sich in seinem Schnurrbart. Er drückte Lejba die Hände, er flehte ihn an, er küßte ihn fast … Er war ganz wie besessen. Der Jude versuchte ihm zu widersprechen, zu versichern, daß er unmöglich abkommen könne, daß er Geschäfte habe … Nichts nutzte! Tschertopchanow wollte auf nichts hören. Es war nichts zu machen, der arme Lejba mußte einwilligen.

Am andern Tag verließ Tschertopchanow mit Lejba in einem Bauernwagen Bessonowo. Der Jude sah etwas verlegen aus, hielt sich mit der einen Hand am Bock fest und hüpfte mit seinem ganzen schwachen Körper auf dem harten Sitz; die andere Hand drückte er an die Brust, wo er das in Zeitungspapier eingewickelte Paket Banknoten verwahrt hatte; Tschertopchanow saß reglos wie ein Klotz, bewegte nur die Augen und atmete aus voller Brust; in seinem Gürtel steckte ein Dolch.

»Nun, du Schurke, der du mich von meinem Freund getrennt hast, nimm dich jetzt in acht!« murmelte er, als sie auf die große Landstraße kamen.

Sein Haus überließ er der Obhut seines kleinen Dieners Perfischka und der Köchin, eines tauben und alten Weibes, das er aus Barmherzigkeit bei sich aufgenommen hatte.

»Ich komme zu euch auf dem Malek-Adel zurück!« rief er ihnen beim Abschied zu. »Oder ich komme überhaupt nicht wieder!«

»Wenn du mich wenigstens heiraten wolltest!« scherzte Perfischka, indem er die Köchin mit dem Ellenbogen in die Seite stieß. »Den Herrn erwarten wir doch nicht mehr, so kommen wir aber um vor Langeweile!«


Es verging ein Jahr … ein ganzes Jahr; von Pantelej Jeremejitsch kam keine Nachricht. Die Köchin war inzwischen gestorben; Perfischka hatte schon die Absicht, das Haus im Stich zu lassen und in die Stadt zu ziehen, wohin ihn sein Vetter lockte, der als Gehilfe bei einem Barbier lebte, als sich plötzlich das' Gerücht verbreitete, daß der Herr zurückkehre! Der Diakon des Pfarrbezirks hatte von Pantelej Jeremejitsch selbst einen Brief erhalten, in dem er ihm mitteilte, daß er auf dem Heimweg nach Bessonowo sei, und ihn ersuchte, seine Dienstboten zu benachrichtigen, damit sie ihm einen gebührenden Empfang bereiten. Perfischka fühlte sich auf diese Nachricht hin immerhin veranlaßt, wenigstens etwas Staub abzuwischen, schenkte ihr aber im übrigen nicht allzuviel Glauben. Er mußte sich jedoch überzeugen, daß der Diakon die Wahrheit gesagt hatte – einige Tage später erschien Pantelej Jeremejitsch in eigener Person auf dem Malek-Adel auf dem Hof seines Gutes.

Perfischka eilte zu seinem Herrn, griff nach dem Steigbügel und wollte ihm helfen, vom Pferd zu steigen, jener sprang aber selbst herunter, sah sich triumphierend um und rief laut: »Ich habe doch gesagt, daß ich den Malek-Adel wiederfinde, und ich habe ihn gefunden, den Feinden und dem Schicksal selbst zum Trotz!« Perfischka küßte ihm die Hand, Tschertopchanow schenkte aber dem Eifer seines Dieners nicht die geringste Beachtung. Er ging mit großen Schritten auf den Stall zu, Malek-Adel an den Zügeln hinter sich führend. Perfischka sah sich seinen Herrn genauer an und erschrak. Ach, wie mager und wie alt war er in diesem Jahr geworden, wie streng und düster war sein Gesicht! – Man hätte doch glauben sollen, Pantelej Jeremejitsch würde sich freuen, daß er das Seinige erreicht hatte; er freute sich wohl … aber Perfischka empfand doch eine unheimliche Angst. Tschertopchanow stellte das Pferd in den früheren Stand, gab ihm einen leichten Klaps auf die Kruppe und sagte: »Nun, jetzt bis du wieder zu Hause! Paß jetzt auf …!« Am gleichen Tag mietete er einen zuverlässigen Wächter, einen Junggesellen, richtete sich wieder in seinen Zimmern ein und setzte sein früheres Leben fort … Das Leben war aber doch nicht ganz das frühere … Aber davon später.

Am Tag nach seiner Rückkehr rief Pantelej Jeremejitsch Perfischka zu sich und begann ihm, aus Ermangelung eines anderen Zuhörers, natürlich ohne dabei seine Würde zu verlieren, im Baß zu erzählen, auf welche Weise er den Malek-Adel gefunden hatte. Während seines Berichtes saß Tschertopchanow mit dem Gesicht zum Fenster und rauchte eine lange Pfeife; Perfischka stand aber an der Türschwelle, die Hände im Rücken, blickte ehrfurchtsvoll auf den Nacken seines Herrn und hörte den Bericht, wie Pantelej Jeremejitsch nach vielen vergeblichen Versuchen und Fahrten schließlich auf den Jahrmarkt von Romny gekommen war, aber schon allein, ohne den Juden Lejba, der infolge seiner Charakterschwäche es nicht lange ausgehalten hatte und durchgebrannt war; wie er am fünften Tag, als er schon Weiterreisen wollte, zum letztenmal die Wagenreihe entlang ging und plötzlich zwischen drei anderen Pferden, die an einen Wagen angebunden waren, den Malek-Adel erblickte! Wie dieser ihn sofort erkannte, zu wiehern anfing, sich loszureißen versuchte und mit den Hufen die Erde wühlte. »Er war aber gar nicht bei dem Kosaken«, erzählte Tschertopchanow, immer noch ohne den Kopf zu wenden und mit der gleichen Baßstimme, »sondern bei einem Zigeuner, einem Pferdehändler; ich klammerte mich natürlich sofort an mein Pferd und wollte es mit Gewalt zurückhaben; aber die Bestie von einem Zigeuner schrie wie verbrüht und schwor, daß man es auf dem ganzen Platz hörte, er hätte das Pferd von einem anderen Zigeuner gekauft, und wollte auch Zeugen stellen … Ich spuckte aus und zahlte ihm das Geld; soll ihn nur der Teufel holen! Die Hauptsache war doch für mich, daß ich meinen Freund gefunden und meine Seelenruhe wiedererlangt hatte. Im Karatschowschen Kreise hatte ich aber nach Angaben des Juden Lejba einen Kosaken gepackt, den ich für den Dieb hielt, und ihm die ganze Fratze blutig geschlagen; der Kosak stellte sich aber als ein Popensohn heraus, und ich mußte ihm für den Schimpf hundertzwanzig Rubel bezahlen. Nun, Geld ist eine Sache, die man wieder verdienen kann, die Hauptsache aber ist, ich habe den Malek-Adel wieder! Jetzt bin ich glücklich und werde meine Ruhe genießen. Dir aber, Porfirij, gebe ich die Instruktion: Wenn du, Gott behüte, irgendwo in der Umgegend einen Kosaken siehst, so laufe auf der Stelle, ohne ein Wort zu sagen, zu mir und bring mir mein Gewehr, ich aber werde schon wissen, was ich zu tun habe!«

So sprach Pantelej Jeremejitsch zu Perfischka; diese Worte kamen von seinen Lippen; aber in seinem Herzen war es doch nicht so ruhig, wie er tat. Ach, in der Tiefe seiner Seele war er doch nicht ganz davon überzeugt, daß das Pferd, das er heimgebracht hatte, wirklich Malek-Adel war.

Für Pantelej Jeremejitsch kam nun eine schwere Zeit. Gerade die Ruhe genoß er am allerwenigsten. Freilich hatte er auch gute Tage: Die Zweifel, die ihn beschlichen, kamen ihm unsinnig vor, er trieb den dummen Gedanken wie eine zudringliche Fliege von sich und lachte sogar selbst über sich; es gab aber auch schlimme Tage: Der zudringliche Gedanke fing von neuem an, in seinem Herzen zu bohren und zu kratzen wie eine Maus, und er quälte sich heimlich und schmerzhaft. An jenem denkwürdigen Tag, an dem er den Malek-Adel gefunden hatte, empfand er nichts als Seligkeit und Freude … aber schon am ändern Morgen, als er unter dem niedern Dach der Herberge seinen Freund zu satteln anfing, in dessen Nähe er die ganze Nacht zugebracht hatte, fühlte er zum erstenmal einen Stich im Herzen … Er schüttelte nur den Kopf, aber, das Samenkorn des Verdachts keimte schon. Während der Rückfahrt (sie dauerte etwa acht Tage) kamen ihm die Zweifel selten; sie wurden stärker und deutlicher, sobald er nach Bessonowo zurückgekehrt, sobald er an die Stätte gekommen war, wo der frühere, unzweifelhafte Malek-Adel gelebt hatte … Auf dem Rückweg ritt er meist im Schritt, sich im Sattel wiegend, rauchte ein kurzes Pfeifchen und dachte an nichts, er dachte sich höchstens: Die Tschertopchanows setzen alles durch, was sie wollen! Basta! und grinste dabei; als er aber wieder zu Hause war, begann ein anderes Kapitel. Er behielt natürlich alles für sich; schon sein Ehrgeiz allein verbot ihm, seine innere Unruhe zu zeigen. Er hätte einen jeden ›in zwei Stücke gerissen‹, der ihm bloß angedeutet hätte, daß der neue Malek-Adel doch wohl nicht der alte sei; er nahm die Gratulationen zu seinem ›glücklichen Fund‹ von den wenigen Personen entgegen, mit denen er noch zusammenkam; er suchte aber diese Glückwünsche nicht und mied noch mehr als früher Begegnungen mit Menschen – ein schlimmes Zeichen! Er examinierte, wenn man so sagen darf, den Malek-Adel fortwährend; er ritt mit ihm irgendwohin weit ins Feld hinaus und stellte ihn auf die Probe; oder er ging heimlich in den Stall, schloß hinter sich die Tür, stellte sich dicht vor das Pferd hin, blickte ihm in die Augen und fragte flüsternd: »Bist du es? Bist du es? Bist du es …?« Oder er betrachtete ihn stundenlang aufmerksam, bald erfreut murmelnd: »Ja! Er ist es! Gewiß ist er es!«, bald zweifelnd und sogar verlegen.

Tschertopchanow beunruhigten weniger die körperlichen Unähnlichkeiten zwischen diesem Malek-Adel und jenem – ihrer gab es übrigens nicht viele; jener hatte vielleicht einen dünneren Schweif und eine dünnere Mähne, spitzere Ohren, kürzere Knöchel und hellere Augen gehabt, aber das schien ihm vielleicht nur so – , ihn beunruhigten andere Unähnlichkeiten, sozusagen moralische. Jener hatte andere Gewohnheiten und ein anderes Benehmen. Zum Beispiel: Jener sah sich um und wieherte leise, sooft Tschertopchanow in den Stall trat, dieser aber kaute ruhig sein Heu oder duselte mit gesenktem Kopf. Beide rührten sich nicht vom Fleck, wenn der Herr aus dem Sattel sprang, aber jener kam sofort gelaufen, wenn man ihn rief, während dieser stehenblieb wie ein Klotz. Jener galoppierte ebenso schnell, machte aber höhere und weitere Sprünge – dieser ging besser im Schritt, schüttelte aber im Trab und schlürfte zuweilen mit den Hufeisen, das heißt klopfte mit den vorderen an das hintere, bei jenem kam diese Schande niemals vor – Gott behüte! Dieser, so schien es Tschertopchanow, spielte immer ganz dumm mit den Ohren, jener aber pflegte ein Ohr zurückzuschlagen und ruhig den Herrn zu beobachten. Wenn jener Schmutz in seiner Nähe sah, so klopfte er gleich mit dem Huf an die Wand des Standes – diesem machte es aber gar nichts aus, und wenn man ihm den Mist bis an den Bauch aufschüttete. Wenn jener gegen den Wind gestellt wurde, so atmete er gleich mit der ganzen Lunge und schüttelte sich, dieser aber schnaubte nur; jenen belästigte die Feuchtigkeit, diesem machte sie gar nichts… Gröber war dieser, gröber! Er hatte nicht die Anmut des anderen und war schwer zu lenken – was ist noch viel zu reden. Jener war ein lieber Gaul, und dieser…

Das dachte sich manchmal Tschertopchanow, und diese Gedanken waren ihm bitter. Zu andern Zeiten aber ließ er das Pferd über ein neugepflügtes Feld galoppieren oder zwang es, auf den Grund einer ausgespülten Schlucht zu setzen und am steilsten Abhang wieder herauszuspringen – sein Herz erstarb dann vor Entzücken, laute Schreie entrangen sich seinem Mund, und er wußte ganz sicher, daß unter ihm der echte, unzweifelhafte Malek-Adel war, denn welches andere Pferd hätte das vollbringen können, was dieses vollbrachte?

Aber auch hier verfolgte ihn das Schicksal. Die lange Suche nach Malek-Adel hatte Tschertopchanow viel Geld gekostet; an die Kosteromanschen Hunde dachte er nicht mehr und ritt nach wie vor ganz allein in der Gegend umher. Eines Morgens stieß Tschertopchanow in fünf Werst von Bessonowo auf die gleiche fürstliche Jagdgesellschaft, vor der er vor anderthalb Jahren mit seinem Pferd paradiert hatte. Nun mußte es sich so treffen, daß auch an diesem Tag vor den Hunden aus dem Feldrain am Abhang ein Hase heraussprang! Hetz ihn, hetz ihn! Die ganze Gesellschaft sprengte dahin, und auch Tschertopchanow sprengte dahin, doch nicht mit den andern, sondern zweihundert Schritte seitwärts, genau wie er es damals getan hatte. Ein großer, vom Wasser ausgespülter Graben durchschnitt den Abhang in schräger Richtung, stieg immer höher, verengte sich und versperrte Tschertopchanow den Weg. Dort, wo er über ihn hinüberspringen sollte und wo er vor anderthalb Jahren wirklich hinübergesprungen war, war er immer noch an die acht Schritt breit und an die zwei Klafter tief. Im Vorgefühl des Triumphes, der sich auf eine so wunderbare Weise wiederholen sollte, stieß Tschertopchanow ein Siegesgeschrei aus, schwang die Peitsche – die Jäger galoppierten, ohne den kühnen Reiter aus den Augen zu lassen – sein Pferd flog wie ein Pfeil, da ist schon der Graben, nun, nun, mit einem Satz wie damals…! Malek-Adel wurde aber plötzlich bockig, wandte sich nach links und galoppierte längs des Grabens, wie sehr auch Tschertopchanow ihm den Kopf auf die Seite, zum Graben hin zerrte… Also hatte das Pferd Angst bekommen und kein Selbstvertrauen gehabt!

Vor Scham und Zorn glühend, beinahe weinend, ließ nun Tschertopchanow die Zügel locker und lenkte das Pferd gerade vor sich hin, den Hügel hinauf, von den andern Jägern hinweg, um nicht zu hören, wie sie sich über ihn lustig machten, um nur möglichst schnell aus ihren verfluchten Augen zu verschwinden!

Mit wundgepeitschten Flanken, ganz mit Schaum bedeckt, kam Malek-Adel nach Hause gesprengt, und Tschertopchanow schloß sich sofort in seinem Zimmer ein.

»Nein, er ist es nicht, das ist nicht mein Freund! Der hätte sich den Hals gebrochen, mich aber nicht verraten!«

Folgender Fall gab Tschertopchanow sozusagen den Rest. Einmal ritt er auf dem Malek-Adel durch die Hinterhöfe des Popengutes, das die Kirche umgab, zu deren Pfarrbezirk das Dorf Bessonowo gehörte. Die Mütze tief in die Stirn gestülpt, gebückt und die beiden Hände auf dem Sattelknopf, bewegte er sich langsam vorwärts; es war ihm traurig und trübe zumute. Plötzlich rief ihn jemand.

Er hielt sein Pferd an, hob den Kopf und erkannte seinen Korrespondenten, den Diakon. Mit einem braunen, dreieckigen Hut auf den braunen, zu einem Zopf eben geflochtenen Haaren, mit einem gelblichen Nankingkaftan bekleidet, tief unter der Taille mit einem blauen Fetzen umgürtet, war der Diener des Altars aus dem Haus getreten, um seinen Getreideschober nachzusehen; als er Pantelej Jeremejitsch erblickte, hielt er es für seine Pflicht, ihm seine Hochachtung zu bezeigen und bei dieser Gelegenheit sich etwas auszubitten. Ohne diesen Nebengedanken sprechen bekanntlich Personen geistlichen Standes niemals einen Laien an.

Tschertopchanow hatte aber andere Dinge im Kopf als den Diakon; er erwiderte kaum seine Verbeugung, brummte etwas durch die Zähne und schwang schon die Peitsche …

»Was haben Sie aber für ein prächtiges Roß!« fuhr der Diakon schnell fort. »So ein Roß bringt einem wirklich Ehre ein. Wahrlich, Sie sind ein Mann von trefflichem Verstand, einem Löwen zu vergleichen!« Der Diakon war wegen seiner Beredsamkeit berühmt, was den Popen, dem die Gabe des Wortes fehlte, nicht wenig ärgerte – dem letzteren löste nicht einmal der Schnaps die Zunge. »Ein Tier haben Sie auf das Anstiften böser Menschen verloren«, fuhr der Diakon fort, »haben sich aber, ohne den Mut sinken zu lassen, vielmehr auf die göttliche Vorsehung bauend, ein neues angeschafft, das nicht nur in keiner Weise schlechter ist als das erste, sondern vielleicht sogar besser … denn …«

»Was faselst du da?« unterbrach ihn Tschertopchanow finster. »Wo siehst du ein anderes Pferd? Es ist dasselbe, es ist Malek-Adel … Ich habe ihn gefunden. Du schwatzest ins Blaue …«

»Eh! eh! eh! eh!« sagte gedehnt, gleichsam zögernd der Diakon, indes er mit den Fingern im Bart spielte und Tschertopchanow mit seinen hellen, gierigen Augen betrachtete. »Wie ist es nun, Herr? Ihren Gaul hat man, wenn ich mich recht besinne, im vorigen Jahr so an die zwei Wochen nach dem Feste Mariä Schutz und Fürbitte gestohlen, und jetzt haben wir Ende November.«

»Na ja, was ist denn dabei?«

Der Diakon fuhr fort, mit den Fingern im Bart zu spielen. »Es ist also mehr als ein Jahr seitdem vergangen, und Ihr Pferd, das damals ein Apfelschimmel war, ist auch ein Apfelschimmel geblieben, scheint sogar etwas dunkler geworden zu sein. Was ist das? Die grauen Pferde werden ja in einem Jahr viel weißer.«

Tschertopchanow fuhr zusammen … es war ihm, als hätte ihn jemand mit einem Jagdspieß mitten ins Herz gestoßen. Und in der Tat: Graue Pferde verändern sich doch. Wie war ihm dieser einfache Gedanke bisher nicht in den Sinn gekommen?

»Verdammter Zopf, laß mich in Ruhe!« brüllte er mit einemmal. Dann funkelte er wie rasend mit den Augen und verschwand in einem Augenblick dem erstaunten Diakon aus dem Gesicht.

Nun, jetzt ist alles zu Ende!

Alles ist zu Ende, alles ist zusammengestürzt, die letzte Karte ist geschlagen! Alles ist durch das eine Wort ›weißer‹ zusammengefallen! Die grauen Pferde werden weißer!

Galoppiere nur, Verdammter! Du wirst diesem Wort nicht entrinnen! Tschertopchanow sprengte nach Hause und schloß sich wieder in seinem Zimmer ein.


Daß dieser elende Klepper nicht der Malek-Adel war, daß zwischen ihm und Malek-Adel nicht die geringste Ähnlichkeit bestand, daß jeder einigermaßen vernünftige Mensch auf den ersten Blick hätte sehen müssen, daß er, Tschertopchanow, sich auf die gemeinste Weise getäuscht, nein, daß er sich selbst absichtlich und mit Vorbedacht betrogen und angeschwindelt hatte – über dies alles konnte jetzt nicht mehr der geringste Zweifel bestehen! Tschertopchanow ging auf und ab, indem er sich bei jeder Wand auf die gleiche Weise auf dem Absatz umdrehte, wie ein Tier in einem Käfig. Sein Ehrgeiz litt unerträglich; es war aber nicht nur der verletzte Ehrgeiz allein, was ihn so quälte – seiner bemächtigte sich die Verzweiflung, die Wut würgte ihn, Rachedurst brannte in ihm. Aber gegen wen? An wem sollte er Rache nehmen? Am Juden, an Jaff, an Mascha, am Diakon, am Kosaken, der das Pferd gestohlen hatte, an allen Nachbarn, an der ganzen Welt oder schließlich an sich selbst? Sein Verstand geriet durcheinander. Die letzte Karte geschlagen! (Dieser Vergleich gefiel ihm gut.) Nun ist er wieder der nichtigste, verächtlichste von allen Menschen, ein Gegenstand des Spottes für alle, ein Hanswurst, ein elender Narr, ein Gespött für den Diakon …! Er stellte sich deutlich vor, wie dieser niederträchtige Zopf den Leuten vom grauen Pferd und vom dummen Herrn erzählen wird … Verflucht …! Vergeblich bemühte sich Tschertopchanow, seine Galle zurückzuhalten; vergeblich versuchte er sich einzureden, daß dieses … Pferd zwar nicht der Malek-Adel, aber immerhin ein … gutes Pferd sei und ihm noch viele Jahre dienen könne – er stieß diesen Gedanken mit Wut von sich, als ob darin eine neue Beleidigung für jenen Malek-Adel enthalten wäre, vor dem er sich auch ohnehin schon schuldig fühlte … Gewiß! Diesen Klepper, diese Schindmähre hatte er wie ein Blinder, wie ein Dummkopf dem Malek-Adel gleichgestellt! Und was die Dienste betrifft, die dieser Klepper ihm noch leisten könnte … wird er ihn denn je wieder der Ehre würdigen, sich auf ihn zu setzen? Um nichts in der Welt! Niemals …! Er wird ihn einem tatarischen Schinder geben, er wird ihn den Hunden zum Fraß vorwerfen – er verdient nichts anderes … Ja! Das wäre das beste!

Über zwei Stunden ging Tschertopchanow in seinem Zimmer auf und ab. »Perfischka!« kommandierte er plötzlich. »Geh augenblicklich in die Schenke und bring mir einen halben Eimer Schnaps! Hörst du! Einen halben Eimer, augenblicklich! Daß der Schnaps sofort hier bei mir auf dem Tisch steht …!«

Der Schnaps erschien unverzüglich auf dem Tisch Pantelej Jeremejitschs, und er fing an zu trinken!


Hätte damals jemand Tschertopchanow beobachtet, wäre jemand Zeuge jener finsteren Wut gewesen, mit der er ein Glas nach dem andern leerte, so hätte er unwillkürlich Angst bekommen. Die Nacht war angebrochen; ein Talglicht brannte trübe auf dem Tisch. Tschertopchanow hörte auf, aus der einen Ecke in die andere zu wandern; er saß da, ganz rot, mit trüben Augen, die er bald zu Boden senkte, bald auf das dunkle Fenster richtete; dann stand er auf, schenkte sich Schnaps ein, trank aus, setzte sich wieder, richtete den Blick wieder auf einen Punkt und rührte sich nicht, nur sein Atem ging schneller, und sein Gesicht wurde immer röter. In ihm schien irgendein Entschluß zu keimen, der ihn selbst erschreckte, an den er sich aber allmählich gewöhnte; der gleiche Gedanke rückte unaufhaltsam und unaufhörlich immer näher, das gleiche Bild trat immer deutlicher hervor, und in seinem Herzen war unter dem versengenden Einfluß des schweren Rausches an Stelle der Wut ein Gefühl tierischer Grausamkeit getreten, und ein unheilkündendes Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen.

»Nun ist es Zeit!« sagte er in einem geschäftigen, beinahe gelangweilten Ton. »Genug geruht!«

Er trank das letzte Glas Schnaps aus, nahm die Pistole über seinem Bett – dieselbe Pistole, aus der er auf Mascha geschossen hatte – , lud sie, steckte sich ›für jeden Fall‹ einige Zündhütchen in die Tasche und ging in den Stall.

Als er die Stalltür zu öffnen anfing, kam der Wächter hergelaufen, aber er schrie ihn an: »Das bin ich! Siehst du es denn nicht? Geh!« Der Wächter trat etwas auf die Seite. »Geh schlafen!« schrie ihm Tschertopchanow wieder zu. »Du hast hier nichts zu bewachen! So einen Schatz, so eine Kostbarkeit!« Dann trat er in den Stall. Malek-Adel … der falsche Malek-Adel lag auf der Streu. Tschertopchanow gab ihm einen Fußtritt. »Steh auf, du Krähe!« Dann band er den Zaum von der Krippe los, nahm dem Pferd die Decke ab und warf sie auf den Boden, drehte das gehorsame Tier roh in seinem Stand um, führte es in den Hof und aus dem Hof ins Feld, zum größten Erstaunen des Wächters, der unmöglich begreifen konnte, wohin sich der Herr nachts mit dem ungezäumten Pferd an der Leine begebe. Ihn zu fragen, traute er sich natürlich nicht, er begleitete ihn nur mit den Augen, bis er an der Wendung des Weges verschwand, der in den nahen Wald führte.


Tschertopchanow ging mit großen Schritten, ohne stehenzubleiben und ohne sich umzusehen; Malek-Adel – wir wollen ihn bis ans Ende so nennen – folgte ihm gehorsam. Die Nacht war ziemlich hell; Tschertopchanow konnte die gezackten Umrisse des Waldes unterscheiden, der als schwarzer Fleck vor ihm lag. In der nächtlichen Kälte wäre ihm wohl jetzt der Schnaps in den Kopf gestiegen, wenn ihn nicht ein anderer, viel stärkerer Rausch umfangen hätte. Sein Kopf war schwer geworden, das Blut klopfte laut im Halse und an den Ohren, er aber ging mit sicheren Schritten, und er wußte, wohin er ging.

Er hatte den Entschluß gefaßt, Malek-Adel zu töten; den ganzen Tag hatte er nur daran gedacht … Nun war er fest entschlossen!

Er ging an diesen Schritt, nicht gerade ruhig, aber seiner selbst sicher und so fest entschlossen wie ein Mensch, der dem Gefühl der Pflicht gehorcht. Dieser ›Spaß‹ erschien ihm sehr einfach: Wenn er den Falschen vernichtet, macht er ›allem‹ ein Ende. Dann bestraft er sich selbst für seine Dummheit, rechtfertigt sich vor seinem echten Freund und zeigt der ganzen Welt (Tschertopchanow war sehr um die ›ganze Welt‹ besorgt), daß er mit sich nicht spaßen lasse … Die Hauptsache aber ist, daß er zugleich mit dem falschen Malek-Adel auch sich selbst vernichtet, denn was braucht er noch zu leben?

Wie er sich das alles in seinem Kopf zurechtlegte und warum ihm dies so einfach erschien, ist nicht so leicht, wenn auch nicht ganz unmöglich zu erklären: Gekränkt, einsam, ohne eine einzige vertraute Menschenseele, ohne einen roten Heller, dabei mit vom Schnaps entzündetem Blut, befand er sich in einem an Wahnsinn grenzenden Zustand; es besteht aber kein Zweifel darüber, daß selbst in den sinnlosesten Streichen von Wahnsinnigen, von ihrem Standpunkt aus, eine Art Logik und sogar ein Recht liegt. Von seinem Recht war Tschertopchanow jedenfalls fest überzeugt; er schwankte nicht, er beeilte sich, das Urteil an dem Schuldigen zu vollstrecken, ohne sich übrigens Rechenschaft darüber zu geben, wen er eigentlich für den Schuldigen hielt … Die Wahrheit zu sagen – er dachte sehr wenig über sein Vorhaben nach. »Ich muß, ich muß ein Ende machen«, sagte er zu sich selbst streng und stumpf. »Ich muß ein Ende machen!«

Der schuldlose Schuldige trabte gehorsam hinter seinem Rücken … Aber in Tschertopchanows Herzen war kein Mitleid.


Nicht weit vom Waldsaum, zu dem er sein Pferd geführt hatte, zog sich ein kleiner, bis zur Hälfte mit Eichengesträuch bewachsener Graben hin. Tschertopchanow stieg hinunter … Malek-Adel stolperte und fiel beinahe über ihn.

»Du willst mich wohl erdrücken, Verdammter!« rief Tschertopchanow und holte, als müßte er sich verteidigen, die Pistole aus der Tasche. Er spürte keine Erbitterung mehr, sondern jenes eigentümliche starre Gefühl, das sich des Menschen bemächtigt, ehe er ein Verbrechen verübt. Aber seine eigene Stimme erschreckte ihn, so wild klang sie unter den herabhängenden dunklen Ästen, in der faulen und dumpfen Feuchtigkeit des Waldgrabens! Außerdem begann als Antwort auf diesen Ruf irgendein großer Vogel auf dem Baumgipfel über seinem Kopfe mit den Flügeln zu schlagen … Tschertopchanow fuhr zusammen. Es war ihm, als habe er einen Zeugen für seine Tat geweckt – hier, an dieser öden Stelle, wo er doch keinem lebenden Wesen begegnen sollte …

»Teufel, geh in alle vier Winde!« sagte er durch die Zähne, dann ließ er die Zügel Malek-Adels los und schlug ihn, weit ausholend, mit dem Griff der Pistole auf die Schulter. Malek-Adel wandte sich sofort um, kletterte aus dem Graben … und lief davon. Das Klopfen seiner Hufe war aber nicht lange zu hören.

Der Wind, der sich erhoben hatte, vermischte und verdeckte alle Töne.

Tschertopchanow kletterte auch selbst langsam aus dem Graben, erreichte den Waldsaum und schleppte sich nach Hause. Er war mit sich unzufrieden – die Last, die er in seinem Kopf und in seinem Herzen empfunden hatte, verbreitete sich durch alle seine Glieder; er ging böse, finster, unbefriedigt, hungrig, als habe ihn jemand beleidigt, ihm seine Beute, seine Nahrung weggenommen …

Einem Selbstmörder, den man an der Ausführung seines Vorhabens verhindert hat, sind diese Gefühle bekannt.

Plötzlich stieß ihn etwas von rückwärts zwischen die Schultern. Er sah sich um … Malek-Adel stand mitten auf der Straße. Er war der Spur seines Herrn gefolgt und berührte ihn mit der Schnauze … er meldete, daß er zur Stelle sei …

»Ah!« schrie Tschertopchanow. »Du selbst, du selbst kommst, um dir den Tod zu holen! Hier hast du ihn!«

In einem Augenblick zog er die Pistole, spannte den Hahn, setzte die Mündung an Malek-Adels Stirn und drückte ab. Das arme Pferd taumelte zur Seite, bäumte sich, sprang zehn Schritt zurück, stürzte plötzlich zu Boden, röchelte und wälzte sich wie im Krampfe …

Tschertopchanow hielt sich die Ohren mit beiden Händen zu und lief davon. Die Knie knickten ihm ein. Der Rausch, die Wut, das stumpfe Selbstvertrauen – alles war im Nu verflogen. Es blieb ihm nur das Gefühl der Schande und des Abscheus und das Bewußtsein, das unumstößliche Bewußtsein, daß er nun auch mit sich selbst ein Ende gemacht hatte.


Sechs Wochen später hielt es der Diener Perfischka für seine Pflicht, den am Gut Bessonowo vorbeifahrenden Kreispristaw anzuhalten.

»Was willst du?« fragte der Hüter der Ordnung.

»Bemühen Sie sich doch, Euer Wohlgeboren, zu uns ins Haus«, antwortete der Diener mit einer tiefen Verbeugung. »Pantelej Jeremejitsch scheint sterben zu wollen; also fürchte ich mich.«

»Wie? Sterben?« fragte der Pristaw.

»Zu Befehl, ja. Anfangs hatte der Herr jeden Tag Schnaps getrunken, jetzt hat er sich aber ins Bett gelegt und ist sehr schwach. Ich glaube, daß er jetzt nichts mehr versteht. Hat ganz die Sprache verloren.« Der Pristaw stieg aus dem Wagen.

»Nun, hast du wenigstens den Geistlichen gerufen? Hat dein Herr gebeichtet? Hat er das Abendmahl empfangen?«

»Zu Befehl, nein.«

Der Pristaw runzelte die Stirne: »Was ist das, Bruder? Geht denn das? Oder weißt du nicht, daß man dich dafür zur Verantwortung ziehen kann?«

»Ich habe ihn ja vorgestern und gestern gefragt«, sagte Perfischka, der Angst bekam. »›Befehlen Sie nicht, Pantelej Jeremejitsch, daß ich den Geistlichen hole?‹ – ›Schweig, Dummkopf!‹ sagte er drauf. ›Misch dich nicht in fremde Sachen.‹ Als ich es ihm heute wieder sagte, sah er mich nur an und bewegte den Schnurrbart.«

»Hat er viel Schnaps getrunken?« fragte der Pristaw.

»Furchtbar viel! Aber seien Sie so gut, Euer Wohlgeboren, bemühen Sie sich zu ihm ins Zimmer.«

»Nun, führe mich!« brummte der Pristaw und folgte Perfischka.

Ein ungewöhnlicher Anblick erwartete ihn.

In einem feuchten und dunkeln Hinterzimmer des Hauses lag auf einem ärmlichen, mit einer Pferdedecke bedeckten Bett, mit einem zottigen Filzmantel statt eines Kissens, Tschertopchanow, nicht mehr blaß, sondern gelblichgrün, wie Tote aussehen, mit eingefallenen Augen unter den glänzenden Lidern, mit einer zugespitzten, aber immer noch rötlichen Nase über dem zerzausten Schnurrbart. Er war bekleidet mit seinem ständigen Jagdrock (mit den Patronen auf der Brust) und einer blauen, tscherkessischen Pluderhose. Die Fellmütze mit himbeerrotem Boden verdeckte seine Stirn bis zu den Augenbrauen. In der einen Hand hielt Tschertopchanow seine Hetzpeitsche und in der andern einen gestickten Tabaksbeutel, Maschas letztes Geschenk. Auf dem Tisch neben dem Bett stand eine leere Schnapsflasche; zu seinen Häupten sah man zwei mit Stecknadeln an die Wand befestigte Aquarelle; das eine stellte, soweit man erkennen konnte, einen dicken Mann mit einer Gitarre in den Händen dar – wahrscheinlich Nedopjuskin, das andere einen Reiter im vollen Lauf … Das Pferd glich jenen Märchentieren, die die Kinder an Mauern und Zäunen zeichnen, aber die sorgfältig schattierte Musterung eines Apfelschimmels, die Patronen auf der Brust des Reiters, die spitz zulaufenden Stiefel und der Riesenschnurrbart ließen keinen Zweifel übrig – diese Zeichnung sollte Pantelej Jeremejitsch auf dem Malek-Adel darstellen.

Der Pristaw war erstaunt und wußte nicht, was er unternehmen sollte. Im Zimmer herrschte eine Grabesstille. – Er ist ja schon tot, dachte er sich; dann erhob er die Stimme und rief: »Pantelej Jeremejitsch! Pantelej Jeremejitsch!«

Nun geschah etwas Ungewöhnliches. Tschertopchanows Augen öffneten sich langsam, die erloschenen Pupillen bewegten sich erst von rechts und nach links, dann von links nach rechts, blieben an dem Gast haften und erkannten ihn … In ihrem trüben Weiß leuchtete etwas auf, etwas wie ein Blick zeigte sich in ihnen; die blauen Lippen gingen allmählich auf, und es erklang eine heisere Stimme, die aus dem Grab zu kommen schien: »Der Edelmann Pantelej Tschertopchanow stirbt, wer kann ihn daran hindern? Er schuldet niemand etwas und fordert nichts … Verlaßt ihn, ihr Menschen! Geht!« Die Hand mit der Hetzpeitsche versuchte sich zu heben … Vergebens!

Die Lippen klebten wieder aneinander, die Augen schlossen sich, und Tschertopchanow lag wie früher auf seinem harten Bett ausgestreckt, die Füße aneinandergedrückt.

»Melde mir, wenn er tot ist«, flüsterte der Pristaw im Hinausgehen Perfischka zu. »Einen Popen kannst du aber, glaube ich, auch jetzt noch holen. Man muß doch die Ordnung wahren und ihm die letzte Ölung geben.«

Perfischka holte noch am gleichen Tag den Popen; am andern Morgen mußte er aber dem Pristaw melden, daß Pantelej Jeremejitsch in der gleichen Nacht verschieden war.

Als man ihn beerdigte, folgten zwei Menschen seinem Sarg: der Diener Perfischka und Moschel-Lejba. Die Nachricht vom Tode Tschertopchanows hatte ihn auf unbekannte Weise erreicht, und er unterließ es nicht, seinem Wohltäter die letzte Ehre zu erweisen.

Die lebendige Reliquie


Land der Dulder und der Demut, meine Heimat, Russenerde!

F. Tjutschew


Ein französisches Sprichwort lautet: ›Der trockene Fischer und der nasse Jäger bieten einen traurigen Anblick.‹ Da ich für die Fischerei niemals etwas übrig gehabt habe, vermag ich nicht darüber zu urteilen, was ein Fischer bei gutem, heiterem Wetter empfindet und inwiefern das Vergnügen, das ihm eine reiche Beute bei Regenwetter verschafft, die Unannehmlichkeit, naß zu sein, aufwiegt. Für den Jäger ist aber das Regenwetter ein wahres Unglück. Und von eben diesem Unglück wurden wir, ich und Jermolai, betroffen, als wir einmal wieder in den Bjelewschen Kreis auf die Birkhahnjagd kamen. – Vom frühen Morgen an wollte der Regen nicht aufhören. Was hatten wir nicht alles versucht, um uns vor ihm zu retten! Wir zogen unsere Gummimäntel fast über den Kopf und stellten uns unter Bäume, damit es auf uns weniger gieße … Die wasserdichten Mäntel ließen aber, ganz abgesehen davon, daß sie uns beim Schießen hinderlich waren, das Wasser auf die schamloseste Weise durch; und wenn wir uns unter einen Baum stellten, so schien der Regen anfangs wirklich nicht durchzudringen, mit der Zeit aber hielt das Laub der sich ansammelnden Nässe nicht mehr stand, jeder Zweig überschüttete uns mit Wasser wie aus einer Regentraufe, und die kalten Ströme drangen uns hinter den Kragen und liefen die Wirbelsäule hinab … Das war aber schon zu gemein! wie sich Jermolai ausdrückte.

»Nein, Pjotr Petrowitsch«, rief er schließlich aus. »So geht es nicht …! Heute kann man nicht jagen. Das Wasser läuft den Hunden in die Nasen; die Gewehre versagen … Pfui! So ein Pech!«

»Was ist zu machen?« fragte ich.

»Das will ich Ihnen sagen. – Wir fahren nach Alexejewka. Vielleicht kennen Sie es – es ist so ein Vorwerk, es gehört Ihrer Frau Mutter; es sind an die acht Werst von hier. Wir übernachten dort, und morgen …»

»Kehren wir wieder hierher zurück?«

»Nein, nicht hierher … Die Gegend hinter Alexejewka ist mir bekannt … die Birkhahnjagd ist dort viel besser als hier …«

Ich unterließ es, meinen treuen Gefährten zu fragen, warum er mich nicht gleich dorthin gebracht hatte, und am gleichen Tag erreichten wir das Vorwerk meiner Mutter, von dessen Existenz ich, offen gestanden, bisher keine Ahnung hatte. Auf diesem Vorwerk fand sich ein baufälliges, aber unbewohntes und darum reinliches Häuschen, in dem ich eine recht ruhige Nacht verbrachte.

Am nächsten Morgen erwachte ich sehr früh. Die Sonne war erst eben aufgegangen; am Himmel war kein Wölkchen zu sehen; alles ringsum strahlte im starken, doppelten Glanz, im Glanz der jungen Morgenstrahlen und in dem des gestrigen Gusses. – Während man mir das Wägelchen anspannte, irrte ich durch den nicht sehr großen Garten, der einst ein Obstgarten gewesen war und jetzt verwildert das Häuschen von allen Seiten mit seinem duftenden, saftigen Dickicht umgab. Ach, wie schön war es da in der freien Luft, unter dem heiteren Himmel, in dem die Lerchen schwirrten, deren heller Gesang wie silberne Perlen niederregnete! Auf ihren Flügeln trugen sie gewiß die Tautropfen fort, und ihre Lieder schienen von Tau benetzt. Ich nahm mir sogar die Mütze ab und atmete freudig, aus voller Brust … Am Rande einer nicht sehr tiefen Schlucht, dicht neben dem Zaun, erblickte ich einen Bienengarten; ein schmaler Pfad führte hin, sich zwischen zwei dichten Mauern von Steppengras und Brennesseln schlängelnd, über denen die spitzen Stengel des dunkelgrünen Hanfes ragten, der Gott weiß wie dahingeraten war.

Ich schlug diesen Pfad ein und erreichte den Bienengarten. Neben diesem befand sich ein kleiner Schuppen aus Flechtwerk, wie er zum Einstellen der Bienenkörbe für den Winter dient. Ich blickte in die halbgeöffnete Tür hinein: Es war darin dunkel, still, trocken; es roch nach Minze und Melissen. In einer Ecke war eine Pritsche angebracht und auf dieser lag unter einer Bettdecke eine kleine Gestalt … Ich wollte schon weitergehen …

»Herr, Sie, Herr! Pjotr Petrowitsch!« rief eine Stimme, schwach, langsam und tonlos wie das Rascheln von Riedgras im Sumpf.

Ich blieb stehen.

»Pjotr Petrowitsch! Kommen Sie bitte her!« wiederholte die Stimme. Sie kam aus der Ecke, von der Pritsche, die ich bemerkt hatte.

Ich kam näher – und erstarrte vor Verwunderung. Vor mir lag ein lebendiges menschliches Wesen; aber was war denn das?

Der Kopf war vollkommen ausgetrocknet, einfarbig, bronzen, genau wie auf einer alten Ikone; die Nase schmal wie die Schneide eines Messers; die Lippen fast unsichtbar; ich konnte nur die weißschimmernden Zähne erkennen, die Augen und einige dünne Strähnen gelblicher Haare, die unter dem Kopftuch auf die Stirn fielen. Auf einer Falte der Bettdecke neben dem Kinn bewegten sich langsam zwei winzige, gleichfalls bronzene Hände mit spindeldürren Fingern. Ich sehe genauer hin: Das Gesicht ist nicht nur nicht abstoßend, es ist sogar schön, doch schrecklich und ungewöhnlich. Und dieses Gesicht erscheint mir um so schrecklicher, als ich sehe, daß sich ein Lächeln vergebens bemüht, sich auf den metallenen Wangen auszubreiten.

»Sie erkennen mich nicht, Herr?« flüsterte wieder die Stimme; sie verdampfte gleichsam auf den sich kaum bewegenden Lippen. »Wie sollten Sie mich auch erkennen! – Ich bin Lukerja … Erinnern Sie sich noch, dieselbe, die bei Ihrer Frau Mutter zu Spaßkoje den Reigen anzuführen pflegte … erinnern Sie sich noch? Ich war immer die Vorsängerin im Chor.«

»Lukerja!« rief ich aus. »Bist du es? Ist es möglich?«

»Ja, ich bin es, Herr. Ich bin Lukerja.«

Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte, und sah bestürzt auf dieses dunkle, unbewegliche Gesicht mit den auf mich gerichteten hellen und leblosen Augen. Ist es denn möglich? Diese Mumie ist Lukerja, das schönste Mädchen in unserem Hausgesinde, die große, volle, weiße, rotwangige Lukerja, die immer lachende Tänzerin und Sängerin? Lukerja, die kluge Lukerja, der alle jungen Dorfburschen den Hof machten und die ich als sechzehnjähriger Junge auch selbst heimlich anschmachtete!

»Lukerja, sag, was ist denn mit dir geschehen?« fragte ich sie endlich.

»So ein Unglück ist über mich gekommen! Verschmähen Sie mich nicht, Herr, verachten Sie mich nicht in meinem Unglück – setzen Sie sich hier auf das Fäßchen, näher zu mir, sonst werden Sie mich nicht verstehen können … Sie hören doch, was ich jetzt für eine helle Stimme habe …! Wie froh bin ich, daß ich Sie wiedersehe! Wie sind Sie aber nach Alexejewka geraten?«

Lukerja sprach sehr leise und schwach, aber ohne Unterbrechungen.

»Der Jäger Jermolai hat mich hergeführt. Erzähl mir aber …«

»Ich soll Ihnen von meinem Unglück erzählen? Gerne, Herr. – Es geschah vor langer Zeit, vor sechs oder sieben Jahren. Ich war damals soeben mit Wassilij Poljakow verlobt – Sie wissen doch, es war ein so schöner Bursche mit einem Lockenkopf, diente bei Ihrer Frau Mutter als Büfettaufseher … Sie waren aber damals gar nicht auf dem Gut, Sie studierten in Moskau. – Wir waren beide sehr verliebt; er wollte mir nicht aus dem Kopf; es war aber im Frühling. Eines Nachts – es war schon beim Morgengrauen – lag ich schlaflos da; so süß sang eine Nachtigall im Garten …! Ich hielt es nicht länger aus, stand auf und ging auf die Treppe hinaus, um zu horchen. Die Nachtigall schmettert und trillert … und plötzlich ist es mir, als ob mich jemand mit Waßjas Stimme ganz leise rief: ›Luscha …!‹ Ich schau hin, gleite wohl in meiner Verschlafenheit auf einer Stufe aus, stürze in die Tiefe – und falle auf die Erde! Ich hatte mich wohl nicht allzusehr angeschlagen, denn ich stand bald auf und ging in meine Kammer. Aber in meinem Innern, in den Eingeweiden ist gleichsam etwas gerissen … Erlauben Sie, daß ich Atem hole … nur ein Weilchen … Herr.«

Lukerja verstummte, und ich sah sie erstaunt an. Ich war hauptsächlich darüber erstaunt, daß sie fast lustig erzählte, ohne zu jammern und zu stöhnen, ohne sich zu beklagen und ohne um Mitleid zu betteln.

»Von diesem Tag an«, fuhr Lukerja fort, »begann ich zu schwinden und auszutrocknen; ganz schwach war ich geworden; es fiel mir schwer zu gehen, später auch nur die Beine zu bewegen; ich kann weder stehen noch sitzen, möchte immer liegen. Ich will weder essen noch trinken, es geht mir immer schlimmer. Ihre Frau Mutter hat mich in ihrer Güte den Ärzten gezeigt, hat mich auch ins Spital bringen lassen. Ich erfuhr aber keine Erleichterung. Und kein Arzt konnte mir sagen, was ich für eine Krankheit habe. Was sie mit mir nicht schon alles angestellt haben – sie haben mir den Rücken mit glühenden Eisen gebrannt, haben mich in gestoßenes Eis gesetzt, es half alles nichts. Zuletzt war ich ganz verknöchert … Nun beschlossen die Herren, daß es keinen Zweck mehr hat, mich noch weiter zu kurieren, einen Krüppel kann man aber nicht gut im Herrenhaus behalten … also schickte man mich her, denn ich habe hier Verwandte. So lebe ich, wie Sie mich hier sehen.«

Lukerja verstummte von neuem und versuchte wieder zu lächeln.

»Deine Lage ist aber entsetzlich!« rief ich aus … Da ich nicht wußte, was ich ihr noch sagen sollte, fragte ich: »Und was macht Wassilij Poljakow?«

Diese Frage war sehr dumm.

Lukerja blickte etwas zur Seite.

»Was Poljakow macht? – Er grämte sich eine Zeitlang und heiratete schließlich eine andere, ein Mädchen aus Glinnoje. Kennen Sie Glinnoje? Es ist nicht weit von hier. Agrafena hat sie geheißen. Er hat mich sehr geliebt, aber er war doch ein junger Mann und konnte nicht um meinetwillen ledig bleiben. Was wäre ich ihm für eine Lebensgefährtin? Er bekam eine schöne und gute Frau, hat auch Kinderchen. Er ist hier auf dem Nachbargut Verwalter. Ihre Frau Mutter hat ihm einen Paß gegeben, und es geht ihm, Gott sei Dank, gut.«

»Und du liegst immer so?« fragte ich wieder.

»Ja, so liege ich, Herr, schon das siebente Jahr. Im Sommer liege ich hier, in diesem Schuppen, und wenn es kalt wird, trägt man mich in die Badestube hinüber. Dann liege ich dort.«

»Wer pflegt dich denn? Wer schaut nach dir?«

»Es gibt auch hier gute Menschen. Man verläßt mich nicht. Man braucht mich auch fast gar nicht zu pflegen. Ich esse ja fast gar nicht, und Wasser habe ich hier im Kruge, es steht immer ein Vorrat davon, reines Quellwasser. Nach dem Krug kann ich selbst langen, den einen Arm kann ich ja noch bewegen. Dann gibt es hier auch ein kleines Mädel, ein Waisenkind, das kommt zuweilen her, so dankbar bin ich ihr. Sie ist auch eben hier gewesen … Sind Sie ihr nicht begegnet? So ein hübsches Kind mit weißem Gesichtchen. Sie bringt mir Blumen her; ich liebe sie so sehr, die Blumen. Gartenblumen haben wir nicht – es waren wohl welche da, sind aber eingegangen. Aber auch die Wiesenblumen sind schön; sie duften noch schöner als die Gartenblumen. Zum Beispiel die Maiglöckchen … Was gibt es Schöneres?«

»Ist es dir nicht langweilig, nicht unheimlich, meine arme Lukerja?«

»Was soll ich machen? Ich will nicht lügen – anfangs war es mir sehr traurig ums Herz; dann gewöhnte ich mich daran, schickte mich darein – es ist nicht so schlimm; andere haben es noch viel schlimmer.«

»Wieso?«

»Mancher hat kein Obdach! Ein anderer ist blind oder taub! Ich aber kann, Gott sei Dank, gut sehen und alles hören, alles. Ein Maulwurf wühlt in der Erde – auch das höre ich. Ich spüre auch jeden Geruch, selbst den leisesten! Wenn der Buchweizen im Feld oder die Linde im Garten blüht, braucht man mir das gar nicht zu sagen, ich rieche es gleich, wenn nur ein Windhauch herüberkommt. Nein, was soll ich gegen Gott murren? – Viele haben es schlimmer als ich. Wenn ich bloß nur dieses bedenke: Mancher gesunde Mensch kann leicht sündigen; mich hat aber die Sünde selbst verlassen. Neulich reichte mir der Priester P. Alexej das Abendmahl und sagte: ›Deine Beichte brauche ich gar nicht zu hören, kann man denn in deiner Lage sündigen?‹ Aber ich antwortete ihm: ›Und die Sünden, die man in Gedanken begeht, Hochwürden?‹ – ›Diese Sünden sind nicht groß‹, sagte er mir darauf und lachte.«

»Von solchen Sünden habe ich wohl wirklich nicht viel auf dem Gewissen«, fuhr Lukerja fort, »denn ich habe mich gewöhnt, nicht zu denken, und vor allem nicht an das Vergangene zu denken. So vergeht die Zeit schneller.«

Ich war, offen gestanden, erstaunt.

»Du bist aber immer allein, Lukerja; wie kannst du es verhindern, daß dir die Gedanken in den Sinn kommen? Oder schläfst du immer?«

»Oh! Nein, Herr! Schlafen kann ich nicht immer. Große Schmerzen habe ich zwar nicht, aber in meinem Innern, auch in den Knochen, ist immer ein Ziehen; es läßt mich nicht ordentlich schlafen. Nein, ich liege einfach so und denke an nichts; ich fühle, daß ich lebe, daß ich atme – das ist alles. Ich schaue und horche. Die Bienen im Garten summen; eine Taube setzt sich aufs Dach und girrt; eine Henne kommt mal mit ihren Küchlein her, um die Krümel aufzupicken; manchmal fliegt auch ein Spatz oder ein Schmetterling herein – das tut mir wohl. Vor zwei Jahren haben hier in der Ecke sogar Schwalben genistet und Junge ausgebrütet. Das war so lustig! Eine Schwalbe kommt zum Nest geflogen, setzt sich drauf, füttert die Jungen, und weg ist sie. Gleich ist aber schon eine andere da. Manchmal kommt sie gar nicht herein, sondern fliegt nur an der offenen Tür vorüber – die Jungen fangen aber gleich zu piepsen an und reißen die Schnäbel auf … Ich erwartete sie auch im folgenden Jahr, aber man sagte mir, ein hiesiger Jäger hätte sie erschossen. Was für einen Gewinn hatte er davon? Die ganze Schwalbe ist doch nicht größer als ein Käfer … Was seid ihr doch für böse Menschen, ihr Herren Jäger!«

»Ich schieße keine Schwalben«, beeilte ich mich einzuwenden.

»Ein anderes Mal«, fuhr Lukerja fort, »mußte ich so lachen! Ein Hase kam hereingelaufen, wirklich! Ich weiß nicht, vielleicht verfolgten ihn die Hunde, aber er rannte geradewegs durch die Tür herein …! Er setzte sich ganz nahe vor mich hin und saß lange so da, schnupperte mit der Nase, bewegte den Schnurrbart, ganz wie ein Offizier! Auch mich sah er an. Er begriff also, daß ich ihm nicht gefährlich bin. Schließlich stand er auf, sprang zur Tür, sah sich an der Schwelle noch einmal um, und weg war er! So spaßig war es!«

Lukerja sah mich an, ob es nicht spaßig sei? Ich tat ihr den Gefallen und lachte.

Sie biß sich in die ausgetrockneten Lippen.

»Nun, im Winter habe ich es natürlich nicht so gut, denn es ist dunkel, ein Licht anzuzünden, ist zu schade, wozu auch? Ich verstehe zwar zu lesen und habe immer gerne gelesen, aber was soll ich lesen? Es gibt hier keine Bücher, und wenn es auch welche gäbe, wie soll ich so ein Buch halten? P. Alexej brachte mir mal zur Zerstreuung einen Kalender, als er aber sah, daß das Buch mir nichts nützte, holte er wieder ab. Und wenn es auch dunkel ist, so gibt es doch immer etwas zu hören – ein Heimchen zirpt, eine Maus knabbert. – Dann ist es mir so wohl! Nur nicht denken!«

»Manchmal bete ich auch«, fuhr Lukerja nach einer Ruhepause fort. »Aber ich kenne nur wenige Gebete. Was soll ich auch den lieben Gott belästigen? Was soll ich von ihm bitten? Er weiß besser als ich, was mir not tut. Er hat mir mein Kreuz gesandt, also liebt er mich. Uns ist befohlen, es so zu verstehen. Ich spreche manchmal das Vaterunser, das Gebet zur heiligen Mutter Gottes, den Psalm zur schmerzhaften Maria – und dann liege ich wieder ganz ohne Gedanken. Und das ist nicht so schlecht!«

Es vergingen an die zwei Minuten. Ich unterbrach nicht das Schweigen und rührte mich nicht auf dem schmalen Fäßchen, das mir als Sitz diente. Die grausame, steinerne Unbeweglichkeit des vor mir liegenden lebendigen, unglücklichen Wesens hatte sich auch mir mitgeteilt; auch ich war wie erstarrt.

»Hör mal, Lukerja«, begann ich endlich. »Hör, was ich dir vorschlagen möchte. Wenn du willst, lasse ich dich ins Krankenhaus bringen, in das gute städtische Krankenhaus. Wer weiß, vielleicht wird man dich gesund machen. Jedenfalls wirst du nicht mehr allein sein …«

Lukerja bewegte kaum merklich die Brauen.

»Ach, nein, Herr«, flüsterte sie besorgt. »Bringen Sie mich nicht ins Krankenhaus, lassen Sie mir meine Ruhe. Dort werde ich mich bloß mehr quälen. – Wie kann man mich gesund machen …! Einmal kam ein Arzt her und wollte mich untersuchen. Ich bat ihn: ›Quälen Sie mich nicht, um Christi willen!‹ Aber es nützte nichts, er fing an, mich hin und her zu wenden, mir die Arme und die Beine zu biegen und zu kneten; er sagte: ›Ich mache es der Wissenschaft wegen, ich bin ja ein angestellter, gelehrter Mensch, und du darfst mir nicht widerstreben, denn ich habe für meine Mühe einen Orden um den Hals gekriegt und plage mich für euch Dummen ab.‹ Er zerrte mich hin und her, nannte mir meine Krankheit – es war ein so schwieriger Name – und fuhr davon. Mir taten aber dann eine ganze Woche alle Knochen weh. Sie sagen, ich sei allein, immer allein. Nein, das bin ich nicht immer. Man besucht mich hier. Ich bin so still und störe niemanden. Die Mädchen aus dem Dorf kommen mal her und plaudern, oder eine Wallfahrerin verirrt sich zu mir und erzählt mir von Jerusalem, von Kiew und von anderen heiligen Städten. Ich fürchte mich aber nicht vor dem Alleinsein. Es ist mir sogar angenehmer, bei Gott …! Herr, lassen Sie mir meine Ruhe, bringen Sie mich nicht ins Krankenhaus … Ich danke Ihnen, Sie sind so gütig, aber lassen Sie mir meine Ruhe, liebster Herr.«

»Nun, wie du willst, wie du willst, Lukerja. Ich wollte ja nur dein Bestes …«

»Ich weiß es, Herr, daß Sie mein Bestes wollen. Aber, liebster Herr, wer kann einem anderen helfen? Wer kann einem anderen in die Seele eindringen? Der Mensch muß sich selbst helfen! Sie werden es mir nicht glauben, manchmal liege ich so allein da, und es ist mir, als gäbe es in der Welt keinen Menschen außer mir. Nur ich allein bin lebendig! Und es ist mir, als schwebe etwas auf mich herab … Und es kommen mir so seltsame Gedanken!«

»Was für Gedanken, Lukerja?«

»Das kann ich Ihnen unmöglich sagen, Herr, man kann es gar nicht erklären. Auch vergesse ich es nachher. Es kommt über mich wie eine Regenwolke, die sich über mich ergießt, so frisch, so angenehm; was es aber ist, kann ich nachher nicht begreifen! Ich denke mir bloß, wenn ich Menschen um mich hätte, so wäre dies alles nicht, und ich würde wohl nichts außer meinem Unglück fühlen.«

Lukerja holte mühevoll Atem. Ihre Brust wollte ihr nicht gehorchen, genau wie die anderen Glieder.

»Wenn ich Sie so anschaue, Herr«, fing sie von neuem an, »so sehe ich, daß Sie mit mir großes Mitleid haben. Bemitleiden Sie mich aber nicht zu sehr, wirklich! Ich will Ihnen zum Beispiel sagen, daß ich auch jetzt manchmal … Sie erinnern sich doch, wie lustig ich einst war? Ein fixes Mädel …! Also wissen Sie was? Ich pflege auch jetzt noch meine Lieder zu singen.«

»Lieder …? Du?«

»Ja, Lieder, alte Lieder, Reigenlieder, Weihnachtslieder, Dreikönigslieder, allerlei Lieder! Ich habe doch viele Lieder gekannt und weiß sie noch alle. Nur die Tanzlieder singe ich nicht mehr. Zu meinem jetzigen Beruf passen sie nicht.« »Wie singst du sie denn … stumm, in dich hinein?«

»Stumm und auch laut. Sehr laut kann ich nicht, aber man kann mich doch hören. Ich erzählte Ihnen, daß mich ein Mädel besucht. Ein so verständiges Waisenkind. Ich habe sie es also gelehrt; vier Lieder hat sie mir schon abgelauscht. Oder Sie glauben mir nicht? Warten Sie, ich will Ihnen gleich …«

Lukerja holte tief Atem … Der Gedanke, daß dieses halbtote Wesen sich zu singen anschickte, weckte in mir ein Grauen. Doch ehe ich etwas sagen konnte, erklang in meinen Ohren ein gedehnter, kaum hörbarer, doch reiner und richtiger Ton … ihm folgte ein zweiter, ein dritter. Lukerja sang das Lied Auf den Wiesen. Sie sang mit dem gleichen Ausdruck ihres versteinerten Gesichts und mit starren Augen. So rührend klang diese armselige, angestrengte, wie eine dünne Rauchsäule bebende Stimme, so sehr wollte sie ihre ganze Seele ergießen. Ich empfand kein Grauen mehr, ein unsagbares Mitleid preßte mir das Herz zusammen.

»Ach, ich kann nicht mehr!« sagte sie plötzlich. »Meine Kräfte reichen nicht … Ich freue mich zu sehr über Ihren Besuch.«

Sie schloß die Augen.

Ich legte meine Hand auf ihre kleinen, kalten Finger … Sie blickte mich an und senkte wieder ihre dunklen Augenlider mit den goldenen Wimpern, die mich an die Augenlider alter Statuen erinnerten. Einen Augenblick später leuchteten sie wieder im Halbdunkel … Tränen hatten sie benetzt.

Ich saß noch immer regungslos.

»Was bin ich für eine!« sagte plötzlich Lukerja mit unerwarteter Kraft. Sie öffnete weit die Augen und versuchte durch Zwinkern die Tränen von den Wimpern abzuschütteln. »Schäme ich mich denn gar nicht? Was fällt mir bloß ein? Schon lange ist mir so was nicht passiert … seitdem mich Waßja Poljakow einmal im vorigen Frühjahr besucht hat. Solange er bei mir saß und mit mir sprach, ging es noch; als er aber gegangen und ich wieder allein geblieben war, da weinte ich! Wo nahm ich nur die Tränen her …! Wir Weiber brauchen sie ja nicht zu kaufen. – Herr«, fügte Lukerja hinzu, »Sie haben wohl ein Tüchlein … Ekeln Sie sich nicht vor mir, wischen Sie mir die Augen ab.«

Ich beeilte mich, ihren Wunsch zu erfüllen, und ließ ihr auch das Taschentuch. Anfangs wollte sie es nicht annehmen. »Was brauche ich so ein Geschenk?« Das Tuch war sehr einfach, aber weiß und sauber. Dann ergriff sie es mit ihren schwachen Fingern und ließ es nicht mehr los. Da ich mich an die Dunkelheit, in der wir uns beide befanden, schon gewöhnt hatte, konnte ich ihre Züge deutlich unterscheiden, konnte sogar die leichte Röte bemerken, die ihr bronzenes Gesicht überhauchte, konnte in diesem Gesicht – so schien es mir wenigstens – die Spuren einstiger Schönheit entdecken.

»Sie fragten mich vorhin, Herr«, begann Lukerja von neuem, »ob ich schlafe. Ich schlafe wirklich selten, habe aber dafür jedesmal Träume, so schöne Träume! Niemals sehe ich mich im Traum krank – im Traum bin ich immer so stark und jung … Eines ist nur schlimm: Wenn ich erwache und mich ordentlich strecken möchte, so bin ich wie gefesselt. Einmal hatte ich einen wunderbaren Traum! Soll ich ihn erzählen? Nun, hören Sie zu. – Ich stehe im Feld, und rings um mich her ist Korn, hohes, reifes, wie Gold schimmerndes Korn …! Ich habe ein rotbraunes Hündchen bei mir, es ist böse und will mich immer beißen. Und in der Hand halte ich eine Sichel, es ist aber keine gewöhnliche Sichel, sondern der Mond, der einer Sichel gleicht. Mit dieser Mondsichel soll ich das ganze Korn abmähen. Ich bin aber matt vor Hitze, der Mond blendet mich, und ich bin so faul; ringsherum wachsen ungewöhnlich große Kornblumen! Sie wenden alle ihre Köpfe nach mir um. Ich sage mir: ›Ich will mir diese Kornblumen pflücken; Waßja versprach herzukommen, darum will ich mir zuerst einen Kranz aus Kornblumen flechten; zum Mähen ist noch immer Zeit.‹ – Ich beginne die Kornblumen zu pflücken, aber sie zerschmelzen mir zwischen den Fingern. Ich kann mir also keinen Kranz flechten. Ich höre aber, wie sich mir jemand nähert; er ist schon ganz nahe und ruft: ›Luscha! Luscha!‹ Und ich sage mir: ›So ein Pech, ich bin doch nicht fertig geworden! Nun ist alles gleich, ich will mir diesen Mond statt der Kornblumen auf den Kopf legen.‹ Ich setze mir die Mondsichel wie ein Diadem auf die Stirn, und sie erstrahlt gleich so hell, daß es im Feld ganz licht wird. Und ich sehe, über die Kornähren schwebt zu mir jemand heran – es ist aber nicht Waßja, sondern Christus! Woran ich erkannt habe, daß es Christus war, kann ich nicht sagen; auf den Heiligenbildern wird er ganz anders dargestellt; ich wußte aber bestimmt, daß Er es war. Bartlos, groß gewachsen, jung, weiß gekleidet mit goldenem Gürtel, reicht Er mir die Hand. Und Er sagt zu mir: ›Fürchte dich nicht, meine geliebte Braut, folge mir; du wirst bei mir im Himmelreich den himmlischen Reigen führen und paradiesische Lieder singen.‹ Ich küsse Seine Hand, und mein Hündchen beißt mich gleich in die Füße … Doch wir schweben beide empor. Er fliegt voraus … Seine Flügel, so lang und weiß wie die einer Möwe, füllen den ganzen Himmel; und ich fliege Ihm nach. Das Hündchen muß aber zurückbleiben. Da begriff ich erst, daß das Hündchen meine Krankheit bedeutete und daß es mir ins Himmelreich nicht nachfolgen wird.«

Lukerja schwieg eine Weile.

»Dann sah ich noch einen anderen Traum«, fing, sie von neuem an. »Vielleicht war es auch ein vom Himmel gesandtes Gesicht, ich weiß es nicht. Es träumte mir, daß ich hier in diesem selben Schuppen liege und meine seligen Eltern, Väterchen und Mütterchen, zu mir kommen; sie verbeugen sich tief vor mir, sagen aber nichts. Und ich frage sie: ›Was verbeugt ihr euch vor mir, Väterchen und Mütterchen?« Und sie antworten: ›Weil du dich in dieser Welt so sehr quälst, daß du nicht nur deine eigene Seele erleichterst, sondern auch von uns eine schwere Last genommen hast. Darum haben wir es in der anderen Welt viel besser. Mit deinen eigenen Sünden bist du schon fertig geworden, jetzt überwindest du unsere Sünden.‹ Nach diesen Worten verbeugten sich meine Eltern wieder und verschwanden, und ich sah nichts als die Wände. Später grübelte ich lange, was es wohl gewesen sei. Ich erzählte es sogar dem Pfarrer in der Beichte. Er meinte aber, es sei kein Gesicht vom Himmel gewesen, denn solche Gesichte haben nur Personen geistlichen Standes.«

»Dann hatte ich auch noch diesen Traum«, fuhr Lukerja fort. »Ich sitze unter einer Weide an der Landstraße, habe ein geschältes Stöckchen in Händen, einen Sack auf dem Rücken, und mein Kopf ist mit einem Tuch umbunden – ich sehe ganz wie eine Pilgerin aus! Und ich muß irgendwo weithin wallfahren. Lauter Pilger kommen an mir vorbei; sie gehen langsam, wie widerwillig, alle in die gleiche Richtung; sie haben alle traurige Gesichter und sehen sich alle ähnlich. Und ich sehe: Eine Frau, die um einen ganzen Kopf größer ist als alle und so merkwürdig, gar nicht russisch gekleidet, wirft sich zwischen ihnen hin und her. Auch ihr Gesicht ist so merkwürdig – vom Fasten ausgemergelt und streng. Alle anderen weichen ihr aus; sie aber geht plötzlich auf mich zu. Sie bleibt stehen und sieht mich an; ihre Augen sind aber so gelb wie die eines Falken, groß und seltsam hell. Ich frage sie: ›Wer bist du?« Und sie antwortet mir: Ich bin dein Tod.‹ Statt zu erschrecken, bin ich so furchtbar froh und bekreuzige mich. Und jene Frau, das ist mein Tod, spricht zu mir: ›Du tust mir leid, Lukerja, aber ich kann dich nicht mitnehmen. Leb wohl!« Mein Gott, wie traurig wurde es mir da ums Herz …! »Nimm mich mit‹, sage ich ihr, ›Mütterchen, liebes Täubchen, nimm mich mit!‹ – Und die Frau wandte sich zu mir um und redete mir zu … Ich verstand nur, daß sie mir meine Stunde bestimmte, aber sie sprach so undeutlich … ›Nach den Petrifasten«, sagte sie mir … Da erwachte ich … So sonderbare Träume habe ich immer!«

Lukerja hob die Augen zur Decke … wurde nachdenklich …

»Aber mein Unglück ist, daß ich oft eine ganze Woche nicht einschlafen kann. Im vorigen Jahr kam hier eine Dame vorbeigefahren; sie sah mich und gab mir ein Fläschchen mit einer Arznei gegen die Schlaflosigkeit; sie sagte, ich soll jedesmal zehn Tropfen nehmen. Die Tropfen Halfen mir gut, und ich konnte schlafen; jetzt ist aber das Fläschchen leer … Wissen Sie nicht, was es für eine Arznei war, und wie ich sie mir verschaffen kann?«

Die durchreisende Dame hatte Lukerja offenbar Opium gegeben. Ich versprach, ihr so ein Fläschchen zu verschaffen, und mußte wieder laut meinem Erstaunen über ihre Geduld Ausdruck geben.

»Ach, Herr!« entgegnete sie. »Was fällt Ihnen ein? Was ist das für eine Geduld? Symeon, der Stylite, der hatte wirklich Geduld – dreißig Jahre lang stand er auf einer Säule! Ein anderer Heiliger ließ sich bis an die Brust in die Erde eingraben und die Ameisen fraßen ihm das Gesicht … Ein Schriftkundiger erzählte mir aber einmal diese Geschichte: Es war einmal ein Land, und die Heiden hatten dieses Land erobert und alle Einwohner gepeinigt und erschlagen; was die Einwohner auch alles anfingen, sie konnten sich unmöglich von den Heiden befreien. Da erschien zwischen jenen Einwohnern eine heilige Jungfrau; sie nahm ein großes Schwert in die Hand, legte sich eine zwei Zentner schwere Rüstung an, zog gegen die Heiden und vertrieb sie alle hinters Meer. Und als sie sie vertrieben hatte, sagte sie ihnen: ›Verbrennt mich jetzt, denn es war mein Gelübde, daß ich für mein Volk den Feuertod erleide.‹ Und die Heiden nahmen sie und verbrannten sie, aber das Volk war von nun an erlöst. Es war eine Tat! Was bin ich dagegen?«

Ich wunderte mich still darüber, daß die Legende von der Jeanne d'Arc hierher und in solcher Gestalt gedrungen war. Nach kurzem Schweigen fragte ich Lukerja, wie alt sie sei.

»Achtundzwanzig … oder neunundzwanzig … Dreißig bin ich noch nicht. Aber was soll ich die Jahre zählen! Ich will Ihnen noch eines sagen …« Lukerja hustete plötzlich dumpf und stöhnte auf …

»Du sprichst zuviel«, sagte ich ihr. »Das kann dir schaden.«

»Es ist wahr«, flüsterte sie kaum hörbar. »Unser Gespräch ist zu Ende; jetzt ist alles gleich! Wenn Sie wegfahren, werde ich wieder nach Herzenslust schweigen können. Nun habe ich mir wenigstens das Herz erleichtert.«

Ich verabschiedete mich von ihr, wiederholte mein Versprechen, ihr die Arznei zu schicken, und bat sie, es sich noch einmal zu überlegen und mir zu sagen, ob sie nicht etwas wolle. »Ich brauche nichts; ich bin, Gott sei Dank, mit allem zufrieden«, sagte sie mit großer Mühe, doch gerührt. »Gott gebe allen Gesundheit! Herr, wenn Sie Ihre Frau Mutter bitten wollten – die Bauern sind hier so arm – , daß sie ihnen den Erbzins herabsetzt! Sie haben zuwenig Land … Die Bauern würden für Sie zu Gott beten … Ich aber brauche nichts, ich bin mit allem zufrieden.«

Ich gab Lukerja das Wort, ihre Bitte zu erfüllen. Als ich schon an der Tür war, rief sie mich wieder zu sich heran.

»Erinnern Sie sich noch, Herr«, sagte sie, und etwas Wunderbares huschte über ihre Augen und Lippen, »was ich einst für einen Zopf gehabt habe? Erinnern Sie sich noch, er reichte mir bis an die Knie! Ich konnte mich lange nicht entschließen … Solche Haare …! Aber wie sollte ich sie in meiner Lage kämmen …! Also schnitt ich sie mir ab … Ja … Nun, leben Sie wohl, Herr! Ich kann nicht mehr …«

Am gleichen Tag sprach ich vor dem Aufbruch zur Jagd mit dem Schulzen des Vorwerkes über Lukerja. Ich erfuhr von ihm, daß man sie im Dorf die Lebendige Reliquie nenne und daß sie im übrigen keinen Menschen störe; man höre sie niemals murren oder sich beklagen. »Sie selbst verlangt nichts, ist sogar im Gegenteil für alles dankbar; so still ist sie und sanft, das muß man sagen. Gott hat sie geschlagen«, schloß der Schulze, »wahrscheinlich für ihre Sünden; aber wir fragen nicht danach. Bereden tun wir sie nicht. Soll sie ihren Frieden haben!«

Einige Wochen später erfuhr ich, daß Lukerja gestorben war. Der Tod hatte sie also doch geholt … und sogar ›nach den Petrifasten‹. Man erzählte, sie habe an ihrem Sterbetag immer Glockenläuten gehört, obwohl die Kirche mehr als fünf Werst weit von Alexejewka lag und es ein Wochentag war. Lukerja hatte übrigens gesagt, das Läuten sei nicht von der Kirche gekommen, sondern »von oben«. Wahrscheinlich wagte sie nicht zu sagen: vom Himmel.

Es klopft!


»Was ich Ihnen sagen wollte«, sagte Jermolai, zu mir in die Stube tretend – ich hatte eben zu Mittag gegessen und mich auf mein Feldbett gelegt, um nach einer recht erfolgreichen, aber ermüdenden Birkhuhnjagd auszuruhen – , es war gegen Mitte Juli, und die Hitze war fürchterlich … »Was ich Ihnen sagen wollte – das Schrot ist uns ausgegangen.«

Ich sprang vom Bett auf.

»Das Schrot ist ausgegangen? Wieso? Wir hatten doch an die dreißig Pfund von zu Hause mitgenommen! Einen ganzen Sack voll!«

»Das stimmt. Der Sack war groß und hätte wohl für zwei Wochen gereicht. Wer kann wissen! Vielleicht ist ein Loch darin, aber wir haben kein Schrot mehr … für höchstens zehn Schuß ist uns noch geblieben.«

»Was sollen wir jetzt anfangen? Die besten Stellen haben wir noch vor uns, für morgen hat man uns sechs Ketten Birkhühner versprochen.«

»Schicken Sie mich doch nach Tula. Es ist nicht weit, nur fünfundvierzig Werst. Ich fahre im Nu hinüber und bringe Schrot, wenn Sie befehlen, ein ganzes Pud.«

»Wann willst du denn fahren?«

»Meinetwegen gleich. Was soll ich säumen? Nur eines – wir werden Pferde mieten müssen.«

»Warum Pferde mieten? Wozu haben wir unsere eigenen?«

»Mit unsern kann ich nicht fahren. Das Mittelpferd hinkt, ein wahres Unglück!«

»Seit wann denn?«

»Neulich führte es der Kutscher zum Beschlagen, und der Schmied hat es vernagelt. Es war wohl ein schlechter Schmied. Jetzt kann es mit dem Fuß gar nicht auftreten. Es ist der Vorderfuß. Es schleppt ihn nach wie ein Hund.«

»Hat man ihm wenigstens das Eisen abgenommen?«

»Nein, man hat es nicht abgenommen, aber man müßte das unbedingt tun. Er hat ihm den Nagel wohl ins Fleisch getrieben.«

Ich ließ den Kutscher kommen Jermolai hatte die Wahrheit gesagt, das Mittelpferd konnte wirklich mit einem Fuß nicht auftreten. Ich befahl sofort, daß man ihm das Eisen abnehme und das Pferd auf feuchten Lehm stelle.

»Nun, befehlen Sie Pferde für die Fahrt nach Tula zu mieten?« setzte mir Jermolai zu.

»Kann man denn in diesem gottverlassenen Nest Pferde finden?« rief ich unwillkürlich verärgert aus.

Das Dorf, in dem wir uns befanden, war ärmlich und von der Welt abgeschnitten; alle seine Bewohner schienen Bettler zu sein; wir hatten mit großer Mühe eine, wenn auch nicht saubere, aber einigermaßen geräumige Bauernstube gefunden.

»Es geht«, antwortete Jermolai mit seiner gewöhnlichen Ruhe. »Sie haben über dieses Dorf die Wahrheit gesagt, aber in dieser selben Gegend lebte ein Bauer, ein gescheiter, reicher Mensch, der hatte neun Pferde. Er selbst ist tot, und sein ältester Sohn hat nun die ganze Wirtschaft. Ist ein furchtbar dummer Mensch, hat aber noch nicht Zeit gehabt, das Erbe des Vaters durchzubringen. – Wir werden bei ihm Pferde kriegen. – Wenn Sie befehlen, bringe ich ihn her. – Seine Brüder sollen fixe Jungen sein … und doch ist er ihr Oberhaupt.«

»Warum denn das?«

»Weil er der Älteste ist! Also müssen ihm die Jüngeren gehorchen.« Jermolai äußerte hier seine Meinung über die jüngeren Brüder im allgemeinen mit einem kräftigen, nicht wiederzugebenden Wort. »Ich will ihn herbringen. Er ist ein einfältiger Mensch. Mit dem kann man leicht einig werden!«

Bis Jermolai zu dem ›einfältigen‹ Menschen ging, kam mir der Gedanke, ob es nicht besser wäre, wenn ich selbst nach Tula führe. Erstens setzte ich, durch Erfahrung belehrt, keine zu großen Hoffnungen auf Jermolai – einmal hatte ich ihn in die Stadt geschickt, um verschiedenes einzukaufen; er versprach, alle meine Aufträge an einem Tag auszuführen, blieb aber eine ganze Woche aus, vertrank das ganze Geld und kam zu Fuß zurück, wahrend er mit einem Jagdwagen hingefahren war. Zweitens kannte ich in Tula einen Roßhändler, bei dem ich an Stelle des lahmen Mittelpferdes ein anderes kaufen konnte.

Abgemacht! dachte ich mir. Ich will selbst hinüberfahren; schlafen kann ich auch unterwegs, mein Reisewagen ist ja bequem genug! »Ich habe ihn hergebracht!« rief eine Viertelstunde später Jermolai, in die Tür meiner Stube stürzend. Ihm folgte ein großgewachsener Bauer im weißen Hemd, blauen Hosen und Bastschuhen, hellblond, kurzsichtig, mit einem roten, keilförmigen Bart, einer langen, geschwollenen Nase und offenem Mund. Er sah tatsächlich einfältig aus.

»Hier, bitte«, sagte Jermolai, »er hat Pferde und ist einverstanden.«

»Das heißt, also, ich …«, begann der Bauer stotternd mit heiserer Stimme, seine dünnen Haare schüttelnd und mit den Fingern am Rand der Mütze nestelnd, die er in der Hand hielt. »Das heißt, ich …«

»Wie heißt du?« fragte ich.

Der Bauer schlug die Augen nieder, als überlege er sich meine Frage.

»Wie ich heiße?«

»Ja, wie ist dein Name?«

»Mein Name ist Filofej.«

»Nun, Bruder Filofej, ich habe gehört, daß du Pferde hast. Bring mal ein Dreigespann her, wir wollen es an meinen Reisewagen spannen – der Wagen ist leicht – und fahre mich nach Tula. Jetzt ist Vollmond, die Nächte sind hell und schön kühl. Wie ist hier der Weg?«

»Der Weg? Der Weg ist nicht schlecht. Bis zur großen Landstraße sind es im ganzen an die zwanzig Werst. Eine Stelle ist … nicht gut, sonst ist aber der Weg nicht schlecht.«

»Was für eine Stelle ist da nicht gut?«

»Wo man durch die Furt fahren muß.«

»Wollen Sie denn selbst nach Tula fahren?« erkundigte sich Jermolai.

»Ja, ich selbst.«

»Nun!« versetzte mein treuer Diener und schüttelte den Kopf. »N-n-nun!« wiederholte er, spie aus und ging aus der Stube.

Die Fahrt nach Tula hatte offenbar jeden Reiz für ihn verloren; sie war für ihn zu einem uninteressanten Unternehmen geworden.

»Kennst du den Weg gut?« wandte ich mich an Filofej.

»Wie sollte ich den Weg nicht kennen! – Aber ich kann nicht, das heißt, ganz wie Sie befehlen … denn, so plötzlich, auf einmal …«

Es stellte sich heraus, daß Jermolai, als er Filofej mietete, ihm nur erklärt hatte, er solle keine Bedenken haben, man werde ihn, den Dummkopf, schon bezahlen. Filofej war zwar nach Jermolais Behauptung ein Dummkopf, gab sich aber mit dieser Erklärung allein nicht zufrieden. Er forderte von mir fünfzig Rubel in Assignaten, einen ungeheuren Preis; ich bot ihm dagegen nur zehn Rubel, und das war viel zuwenig. Wir fingen an zu handeln; Filofej bestand erst auf seiner Forderung, fing dann aber an nachzugeben, doch langsam. Jermolai, der auf einen Augenblick zurückgekommen war, beteuerte: »Dieser Dummkopf!«

»Wie gut dem das Wort gefällt!« bemerkte Filofej halblaut.

»Dieser Dummkopf weiß gar nicht, was Geld ist!« Bei dieser Gelegenheit erinnerte er mich, wie vor etwa zwanzig Jahren das von meiner Mutter an einer guten Stelle, an der Kreuzung zweier Landstraßen errichtete Wirtshaus vollständig in Verfall geriet, nur weil der alte Leibeigene, den man zum Verwalter gemacht hatte, tatsächlich keine Ahnung vom Geld hatte und es nur nach der Menge zählte, d. h., er gab zum Beispiel einen silbernen Viertelrubel für sechs kupferne Fünfkopekenstücke her, wobei er jedoch fürchterlich fluchte.

»Ach du, Filofej, bist ein richtiger Filofej!« rief endlich Jermolai und warf beim Hinausgehen die Tür wütend ins Schloß.

Filofej entgegnete ihm nichts, als gäbe er zu, daß es wirklich nicht sehr geschickt sei, Filofej zu heißen, und daß man einem Menschen diesen Namen vorwerfen dürfe, obwohl eigentlich nur der Pope allein daran schuld sei, den man bei der Taufe nicht gut genug bezahlt hatte.

Schließlich einigten wir uns auf zwanzig Rubel. Er ging die Pferde holen und brachte nach einer Stunde ganze fünf zur Auswahl. Die Pferde stellten sich als recht anständig heraus, obwohl ihre Mähnen und Schweife ungepflegt und die Bäuche groß und aufgetrieben wie Trommeln waren. Mit Filofej kamen zwei seiner Brüder, die ihm gar nicht ähnlich sahen. Sie waren klein, hatten schwarze Augen und spitze Nasen und machten in der Tat den Eindruck von ›fixen‹ Jungens; sie sprachen oder ›schwatzten‹, wie es Jermolai nannte, viel und schnell, gehorchten aber dem Ältesten.

Sie rollten meinen Reisewagen aus dem Schuppen und mühten sich an die anderthalb Stunden mit ihm und mit den Pferden ab; bald machten sie die aus Stricken bestehenden Stränge lose, bald spannten sie sie ganz stramm. Beide Brüder wollten durchaus den Falben in die Mitte spannen, weil ›er beim Bergabfahren gut sei‹; Filofej entschied sich aber für den Zottigen. So spannte man den Zottigen in die Mitte.

Man stopfte den Wagen mit Heu voll und steckte unter den Sitz das Kumt des lahmen Pferdes, für den Fall, daß man es in Tula einem neugekauften Pferd anpassen müßte … Filofej, der inzwischen nach Hause gelaufen und in einem langen, weißen, von seinem Vater geerbten Leinenkittel, einem hohen Hut und geschmierten Stiefeln zurückgekehrt war, schwang sich feierlich: auf den Bock. – Ich setzte mich und sah nach der Uhr, es war ein Viertel elf. – Jermolai verabschiedete sich nicht mal von mir und fing an, seinen Waletka zu schlagen; Filofej zog die Zügel an, schrie mit feiner Stimme: »Ach, ihr meine Kleinen!« – Seine Brüder sprangen von beiden Seiten heran und peitschten die Seitenpferde auf die Bäuche, der Reisewagen kam in Bewegung, rollte aus dem Tor auf die Straße. – Der Zottige wollte schon auf seinen Hof zurückkehren, aber Filofej brachte ihn mit einigen Peitschenhieben zur Vernunft – und schon verließen wir das Dorf und rollten auf einer ziemlich ebenen Straße zwischen dichtem Haselgebüsch dahin.

Die Nacht war still, schön und außerordentlich geeignet zum Fahren. Der Wind rauschte bald im Gebüsch und bewegte die Zweige und legte sich bald ganz; aber am Himmel waren hier und da unbewegliche silberne Wölkchen zu sehen; der Mond stand hoch und beleuchtete hell die ganze Umgebung. – Ich streckte mich auf dem Heu aus und war schon beinahe eingeschlafen … da erinnerte ich mich der ›schlechten Stelle‹ und fuhr auf.

»Du, Filofej, ist es noch weit bis zur Furt?«

»Bis zur Furt? Es werden an die acht Werst sein.«

Acht Werst, dachte ich mir. – Vor einer Stunde kommen wir nicht hin. Ich kann inzwischen schlafen. – »Du, Filofej, kennst du den Weg gut?« fragte ich wieder.

»Wie sollte ich ihn nicht kennen, den Weg? Ich fahre doch nicht zum erstenmal.«

Er fügte noch etwas hinzu, aber ich verstand ihn nicht … Ich schlief.

Mich weckte nicht meine eigene Absicht, genau nach einer Stunde zu erwachen, wie es so oft vorkommt – sondern ein seltsames, wenn auch schwaches Plätschern und Klatschen dicht an meinem Ohr. Ich hob den Kopf …

Was für ein Wunder! Ich liege wie vorher im Wagen, aber um den Wagen herum, eine halbe Elle unter seinem Rand, breitet sich eine von Mond beschienene, zitternde und funkelnde Wasserfläche. Ich blickte nach vorwärts: Auf dem Bock sitzt mit gesenktem Kopf und gekrümmtem Rücken, unbeweglich wie eine Bildsäule, Filofej – und noch weiter, über dem rieselnden Wasser sehe ich die geschwungene Linie des Krummholzes und die Köpfe und Rücken der Pferde. – Alles ist so unbeweglich und so lautlos, wie verzaubert, wie im Traum, wie in einem Märchentraum … Was ist denn das? Ich blicke zurück, hinter den Wagen … Wir befinden uns mitten im Fluß … das Ufer ist an die dreißig Schritt von uns entfernt.

»Filofej!« rief ich.

»Was?« fragte er.

»Was? Ich bitte dich! Wo sind wir?«

»Im Fluß.«

»Ich sehe, daß wir im Fluß sind. Aber so werden wir gleich ertrinken. So fährst du durch die Furt? Wie? Du schläfst doch, Filofej? Antworte!«

»Ich habe mich ein wenig versehen«, antwortete mein Kutscher. »Ich bin wohl, ich sündiger Mensch, zu sehr auf die Seite gekommen, jetzt müssen wir aber warten.«

»Was heißt warten? Worauf werden wir warten?«

»Soll sich der Zottige umsehen – wohin er sich wendet, dorthin müssen wir fahren.«

Ich setzte mich im Heu auf. Der Kopf des Zottigen ragte unbeweglich aus dem Wasser. Im hellen Mondlicht konnte man nur sehen, wie er das eine Ohr hin und her bewegte.

»Er schläft ja, dein Zottiger!«

»Nein«, antwortete Filofej, »er beschnüffelt jetzt das Wasser.«

Alles verstummte wieder, nur das Wasser plätscherte leise wie früher. Auch ich erstarrte. Mondlicht, Nacht, der Fluß, und wir im Fluß …

»Was schnarcht dort?« fragte ich Filofej.

»Das da? Das sind die Enten im Schilf … oder Schlangen …«

Das Mittelpferd schüttelte plötzlich den Kopf, spitzte die Ohren, schnaubte und rührte sich.

»Hü! Hü!« brüllte plötzlich aus vollem Hals Filofej; er erhob sich und schwang die Peitsche. Der Wagen kam sofort mit einem Ruck von der Stelle, durchschnitt die Strömung und bewegte sich schwankend und rüttelnd weiter … Anfangs schien es mir, daß wir in die Tiefe fahren und untertauchen, aber nach zwei oder drei Stößen und Sprüngen schien die Wasserfläche sich etwas zu senken … Sie senkte sich immer tiefer und tiefer, der Wagen wuchs aus ihr hervor, schon wurden die Räder und die Pferdeschweife sichtbar – und nun zogen uns die Pferde, große, schwere Spritzer um sich werfend, die im matten Mondlicht wie diamantene, nein, nicht wie diamantene, sondern wie saphirene Garben in die Höhe flogen, munter und mit vereinten Kräften auf das sandige Ufer und stiegen die Landstraße bergauf, ihre glänzenden, nassen Hufe ohne jeden Takt auf die Erde setzend.

Was wird jetzt wohl Filofej sagen, ging es mir durch den Kopf, wahrscheinlich, daß er recht gehabt habe oder irgend etwas in dieser Art! – Aber er sagte nichts. Darum hielt ich es nicht für nötig, ihm seine Unvorsichtigkeit vorzuhalten. Ich streckte mich wieder auf dem Heu aus und versuchte von neuem einzuschlafen.

Aber ich konnte nicht einschlafen, nicht etwa weil ich von der Jagd nicht müde genug gewesen wäre, auch nicht weil die Aufregung von vorhin meinen Schlaf verscheucht hätte, sondern weil wir durch eine gar zu schöne Gegend fuhren. Es waren ausgedehnte, weite, im Frühjahr überschwemmte Wiesen, mit einer Menge kleiner Pfützen, kleiner Seen, Bäche, am Rande mit Weidengebüsch bewachsene Buchten – eine typisch russische, vom russischen Volk so sehr geliebte Landschaft, die an die Gegenden erinnert, in die die Recken der alten Bylinen ritten, um weiße Schwäne und graue Enten zu jagen. Als gelbliches Band wand sich die eingefahrene Straße, die Pferde liefen leicht, und ich konnte die Augen vor Entzücken nicht schließen! Und das alles schwebte weich und harmonisch unter dem freundlichen Mond vorüber. Sogar auf Filofej machte das Eindruck.

»Diese Wiesen heißen bei uns Sankt-Georgs-Wiesen«, wandte er sich an mich. »Nach diesen kommen die Großfürsten-Wiesen; solche Wiesen findet man in ganz Rußland nicht wieder… So schön!« Das Mittelpferd schnaubte und schüttelte sich … »Gott sei mit dir …!« versetzte Filofej ernst und halblaut. »So schön!« wiederholte er und seufzte; dann räusperte er sich. »Bald beginnt die Heuernte, wieviel Heu werden sie hier ernten, eine Menge! In den Buchten gibt es viel Fische – was für Brachsen!« fügte er in singendem Ton hinzu. »Mit einem Wort – hier braucht man nicht zu sterben.«

Plötzlich hob er die Hand.

»Ach, sieh mal an! Über dem See … steht da ein Reiher? Fängt er denn auch nachts Fische? Ach, es ist ein Ast und kein Reiher. Wie ich mich bloß so täuschen konnte! Das macht der Mond.«

So fuhren wir und fuhren wir … Da nahmen aber die Wiesen ein Ende, es zeigten sich kleine Wälder, gepflügte Felder; auf der Seite blickte uns ein Dörfchen mit zwei oder drei Lichtern an – bis zur Landstraße blieben nur noch fünf Werst. Ich schlief ein.

Wieder erwachte ich nicht von selbst. Diesmal weckte mich die Stimme Filofejs.

»Herr … Herr!«

Ich erhob mich. Der Wagen stand auf einer ebenen Stelle in der Mitte der Landstraße; vom Bock mit dem Gesicht zu mir gewandt, die Augen weit aufgerissen (ich war sogar erstaunt, denn ich hatte bei ihm so große Augen gar nicht vermutet), flüsterte Filofej vielsagend und geheimnisvoll: »Es klopft …! Es klopft!«

»Was sagst du?«

»Ich sage – es klopft! Bücken Sie sich mal und horchen Sie. Hören Sie es?«

Ich steckte meinen Kopf aus dem Wagen, hielt den Atem an und hörte tatsächlich irgendwo weit, weit hinter uns ein schwaches Klopfen, wie das Poltern rollender Räder.

»Hören Sie es?« wiederholte Filofej.

»Nun ja«, antwortete ich. »Es fährt irgendeine Equipage.«

»Hören Sie nicht … Es sind … Schellen … auch ein Pfeifen … Hören Sie es? Nehmen Sie doch die Mütze ab … dann werden Sie es besser hören.«

Ich nahm die Mütze nicht ab, spitzte aber die Ohren.

»Nun ja … kann sein. Was ist denn dabei?«

Filofej wandte das Gesicht den Pferden zu.

»Ein Bauernwagen fährt … leer, mit eisenbeschlagenen Rädern«, sagte er, die Zügel anziehend. »Herr, das sind keine guten Leute; hier in der Gegend von Tula kommen üble Sachen vor … oft …«

»Welch ein Unsinn! Warum glaubst du, daß es unbedingt keine guten Leute sein müssen?«

»Ich sage die Wahrheit. Mit Schellen … in einem leeren Wagen, wer denn soll so fahren?«

»Ist es noch weit bis Tula?«

»An die fünfzehn Werst werden es sein, und es ist keine Menschenwohnung in der Nähe.«

»Dann fahr schneller zu, wir wollen uns nicht aufhalten.«

Filofej schwang die Peitsche, und der Wagen rollte weiter.


Ich schenkte Filofej zwar keinen Glauben, konnte aber nicht einschlafen. – Was, wenn er recht hat? – Ein unangenehmes Gefühl regte sich in mir. – Ich setzte mich im Wagen auf – bis dahin hatte ich gelegen – und fing an, nach allen Seiten zu schauen. Während ich geschlafen hatte, war ein dünner Nebel aufgezogen – nicht auf der Erde, sondern am Himmel; er stand hoch, und der Mond hing in ihm als weißlicher Fleck wie in einer Rauchwolke. Alles schien dunkler und verschwommener, obwohl unten alles sichtbarer geworden war. Ringsum eine flache, öde Gegend: Felder, nichts als Felder, hier und da Sträucher, Gräben und dann wieder Felder, zum größten Teil brachliegend, mit dünnem Unkraut bewachsen. Leer, tot! Wenn doch wenigstens eine Wachtel aufschreien wollte …!

Wir fuhren etwa eine halbe Stunde. Filofej schwang fortwährend die Peitsche und schnalzte mit den Lippen, aber weder er noch ich versetzten ein Wort. Nun waren wir auf eine kleine Anhöhe hinaufgefahren … Filofej hielt die Troika an und sagte sogleich: »Es klopft … Herr, es klopft!«

Ich beugte mich wieder aus dem Wagen hinaus; ich hätte aber auch unter dem Verdeck bleiben können, so deutlich hörte ich jetzt, wenn auch noch in der Ferne, das Klopfen von Wagenrädern, ein Pfeifen, Schellengebimmel und sogar Pferdegetrabe; ich glaubte sogar Singen und Lachen zu hören. Der Wind kam allerdings aus der Richtung, aber es bestand kein Zweifel, daß die Unbekannten auf eine ganze Werst, vielleicht sogar auf zwei Werst naher gekommen waren. Ich wechselte mit Filofej Blicke – er rückte nur seinen Hut aus dem Nacken in die Stirne, beugte sich dann sofort vor und begann auf die Pferde einzuschlagen. Sie liefen Galopp, konnten aber nicht lange so laufen und verfielen wieder in Trab. Filofej schlug wieder auf sie ein. Wir mußten doch entrinnen!

Ich konnte mir nicht Rechenschaft darüber geben, warum ich, der ich die Befürchtungen Filofejs anfangs nicht geteilt hatte, diesmal plötzlich die Überzeugung gewann, daß hinter uns wirklich keine guten Leute fuhren … Dabei hatte ich doch nichts Neues vernommen: das gleiche Schellengeläute, das gleiche Klopfen eines unbeladenen Wagens, das gleiche Pfeifen, der gleiche verworrene Lärm … Jetzt zweifelte ich aber nicht mehr. Filofej konnte sich nicht geirrt haben!

Es vergingen wieder an die zwanzig Minuten … Im Laufe der letzten von diesen zwanzig Minuten hörten wir durch das Poltern und Klopfen unseres eigenen Wagens auch schon das andere Poltern und Klopfen.

»Filofej, halt an«, sagte ich, »jetzt ist es gleich, wir entkommen nicht mehr!« Filofej schrie den Pferden ängstlich zu. Die Pferde hielten augenblicklich, als freuten sie sich über die Möglichkeit, auszuruhen!

Gott! Die Schellen dröhnen dicht hinter unserem Rücken, der Bauernwagen klirrt und poltert, die Menschen pfeifen, schreien und singen, die Pferde schnauben und schlagen mit den Hufen die Erde …

Sie haben uns eingeholt!

»Ein Unglück«, versetzte Filofej gedehnt und halblaut. Dann schnalzte er unentschlossen mit den Lippen und trieb die Pferde an. Aber in diesem selben Augenblick war es, als risse sich etwas los, etwas brüllte und dröhnte, und ein riesengroßer, breiter Bauernwagen, mit einer Troika magerer Pferde bespannt, überholte uns wie der Wind, eilte voraus und fuhr dann im Schritt und versperrte uns so den Weg.

»So machen es immer die Räuber«, flüsterte Filofej.

Ich gestehe, mir stand das Herz still … Ich fing an, gespannt in das Halbdunkel des vom Nebel verhüllten Mondlichtes zu schauen. Im Wagen vor uns saßen oder lagen an die sechs Mann in Hemden und offenen Mänteln; zwei von ihnen hatten keine Mützen auf; die großen Füße in Stiefeln baumelten vom Wagen herab, die Arme hoben sich und fielen sinnlos herab … die Körper schwankten …

Es war klar: betrunkene Leute. Einige von ihnen brüllten, was ihnen gerade einfiel; einer pfiff durchdringend und außerordentlich hell, ein anderer fluchte. Auf dem Bock saß irgendein Riese in einem Halbpelz und lenkte die Pferde. Sie fuhren im Schritt und schienen uns keine Beachtung zu schenken.

Was war da zu machen? Wir fuhren auch im Schritt hinter ihnen her … wie wider unseren Willen.

Etwa eine Viertelstunde fuhren wir auf diese Weise. Die Erwartung war qualvoll … Entrinnen, uns verteidigen … daran durften wir gar nicht denken! Sie waren ihrer sechs, ich hatte aber nicht mal einen Stock bei mir! Umkehren? Sie werden uns aber gleich einholen. Mir fiel der Vers Schukowskijs ein (wo er von der Ermordung des Feldmarschalls Kamenskij spricht): Des feigen Mörders abscheuliches Beil …

Oder sie schnüren einem mit einem schmutzigen Strick den Hals zu … und werfen einen in den Graben … röchele dort und zappele wie ein Hase in der Falle …

Ach, es ist schlimm!

Sie aber fahren immer im Schritt und schenken uns keine Beachtung.

»Filofej!« flüsterte ich, »versuch einmal nach rechts zu fahren und sie zu überholen.«

Filofej versuchte es und fuhr nach rechts … aber auch sie fuhren sofort nach rechts … wir konnten unmöglich vorfahren.

Filofej machte noch einen Versuch und lenkte nach links … Aber sie ließen uns wieder nicht vorfahren. Sie lachten sogar. Sie wollten uns also nicht vorbeilassen.

»Es sind wirklich Räuber«, flüsterte mir Filofej über die Schulter zu.

»Worauf warten sie denn noch?« fragte ich gleichfalls im Flüsterton.

»Sehen Sie, dort vor uns, im Hohlweg, über dem Bach das Brückchen … Sie wollen uns dort … Sie machen es immer so … bei einer Brücke. Wir sind fertig, Herr!« fügte er mit einem Seufzer hinzu. »Sie werden uns kaum am Leben lassen; denn für sie ist die Hauptsache, daß alle Spuren verschwinden. Eines tut mir leid, Herr, hin ist mein Dreigespann, meine Brüder werden es nicht kriegen!«

Ich hätte mich vielleicht gewundert, daß Filofej in einem solchen Augenblick noch an seine Pferde denken konnte, aber ich muß gestehen, ich hatte andere Dinge im Sinn … Werden sie uns wirklich umbringen? fragte ich mich in Gedanken. Warum? Ich will ihnen ja alles geben, was ich habe.

Das Brückchen kam aber immer näher und wurde immer sichtbarer.

Plötzlich erklang ein durchdringendes Geschrei, die Troika vor uns bäumte sich, sauste und blieb, sobald sie das Brückchen erreicht hatte, mit einem Mal wie angewurzelt etwas abseits vom Weg stehen. Mir stand das Herz still.

»Ach, Bruder Filofej«, sagte ich, »wir beide fahren in den Tod. Verzeihe mir, wenn ich dich ins Verderben gezogen habe.«

»Du hast keine Schuld daran, Herr! Seinem Schicksal entrinnt man nicht! Nun, du Zottiger, mein treues Pferdchen«, wandte sich Filofej an das Mittelpferd, »lauf voraus, Bruder! Tu mir diesen letzten Dienst! Jetzt ist alles eins! Gott sei uns gnädig!« ,

Und er ließ seine Troika im Trab laufen. :

Wir näherten uns dem Brückchen und jenem unbeweglichen, unheildrohenden Wagen … In diesem war plötzlich alles, wie mit Absicht, still geworden. Kein Laut! So wird auch der Hecht, der Habicht und jedes Raubtier still, wenn die Beute sich nähert. Da sind wir schon neben dem Bauernwagen … der Riese im Halbpelz springt plötzlich heraus und geht gerade auf uns zu!

Ich sagte nichts zu Filofej, aber er zog sofort selbst die Zügel an. Mein Reisewagen blieb stehen.

Der Riese legte beide Hände auf den Wagenschlag, beugte seinen zottigen Kopf vor, grinste und sagte mit einer stillen, ruhigen Stimme, im Tonfall eines Fabrikarbeiters, folgendes: »Geehrter Herr, wir kommen von einem ehrlichen Mahle, von einer Hochzeit; wir haben einen Kameraden, einen forschen Burschen verheiratet, wir haben ihn zur Ruhe gebracht; wir sind lauter junge Burschen, verwegene Köpfe, haben viel getrunken, haben aber nichts, um uns nach dem Rausch zu stärken; wollen nicht Euer Gnaden uns ein wenig Geld spenden, damit sich ein jeder von uns ein Gläschen Schnaps kaufen kann? Wir würden für Ihr Wohl trinken und Euer Gnaden dabei gedenken; und wenn Sie nicht so gnädig sein wollen, so bitten wir, uns nicht zu zürnen!«

Was ist denn das? dachte ich mir. Spott? Verhöhnung?

Der Riese stand mit gesenktem Kopf. In diesem Augenblick kam der Mond aus dem Nebel heraus und beleuchtete sein Gesicht. Er lächelte mit den Augen und mit den Lippen. Von einer Drohung war nichts zu sehen … das ganze Gesicht drückte nur Erwartung aus … und seine Zähne waren so weiß und so groß …

»Mit Vergnügen … hier, nehmt …«, sagte ich schnell. Ich holte meinen Beutel aus der Tasche, nahm zwei Silberrubel heraus – damals gab es noch Silbergeld in Rußland. »Hier, wenn es genug ist.«

»Wir danken sehr!« rief der Riese auf Soldatenart, und seine dicken Finger entrissen mir im Nu nicht etwa den ganzen Beutel, sondern nur jene zwei Rubel. »Wir danken sehr!« Er schüttelte sein Haar und lief zu seinem Wagen.

»Kinder!« rief er. »Der Herr Reisende schenkt uns zwei Silberrubel!« Jene fingen zu schreien an … Der Riese schwang sich auf den Bock.

»Leben Sie wohl!«

Und schon zogen die Pferde an … der Wagen rasselte bergauf. Noch einmal wurde er auf dem dunklen Streifen, der die Erde vom Himmel trennt, sichtbar und verschwand …

Schon war vom Klopfen, vom Schreien und vom Schellengeläute nichts mehr zu hören …

Es wurde still wie im Grab.


Filofej und ich kamen nicht sogleich zur Besinnung.

»Ach, dieser Hanswurst!« sagte er plötzlich; er nahm den Hut ab und begann sich zu bekreuzigen. »Wirklich ein Hanswurst«, wiederholte er, sich mit freudiger Miene zu mir umwendend. »Er muß doch wirklich ein guter Mensch sein! – Hü, hü, meine Kleinen! Rührt euch! Ihr kommt heil davon! Wir bleiben alle heil! – Er war es doch, der uns nicht vorbeilassen wollte, er hat die Pferde gelenkt. So ein Hanswurst! – Hü, hü, hü! Mit Gott!«

Ich schwieg, aber auch mir wurde es leicht ums Herz.

»Wir bleiben heil!« wiederholte ich für mich selbst und streckte mich auf dem Heu aus. »Wir sind billig davongekommen!«

Ich schämte mich sogar etwas darüber, daß ich mich an den Vers Schukowskijs erinnert hatte.

Plötzlich kam mir ein Gedanke. »Filofej!«

»Was?«

»Bist du verheiratet?«

»Ja.«

»Hast auch Kinder?«

»Ja; ich habe auch Kinder.«

»Warum hast du nicht ihrer gedacht? Die Pferde taten dir leid, aber Frau und Kinder?«

»Warum sollten mir die leid tun? Sie wären doch nicht den Räubern in die Hände gefallen. Aber ich dachte die ganze Zeit an sie, und denke auch jetzt noch an sie …« Filofej schwieg eine Weile. »Vielleicht … vielleicht hat sich Gott um ihretwillen unser erbarmt.«

»Wenn es aber gar keine Räuber waren?«

»Wer kann das wissen? Kann man denn in eine fremde Seele hineinblicken? Eine fremde Seele ist dunkel. Mit Gott ist es immer besser. Nein … an meine Familie denke ich immer … Hü, hü, hü! Ihr meine Kleinen, mit Gott!«

Es war schon fast ganz hell, als wir uns Tula näherten. Ich lag im Halbschlummer.

»Herr«, sagte mir plötzlich Filofej, »schauen Sie, da halten sie vor der Schenke … es ist ihr Wagen.«

Ich hob den Kopf … sie waren es wirklich, ihr Wagen und ihre Pferde. Auf der Schwelle der Schenke erschien plötzlich der uns bekannte Riese im Halbpelz.

»Herr!« rief er, seine Mütze schwingend. »Wir vertrinken Ihr Geld! Du, Kutscher«, fügte er hinzu, mit dem Kopf auf Filofej weisend, »hast wohl Angst gekriegt, was?«

»Ein lustiger Kerl!« bemerkte Filofej, als wir zwanzig Klafter von der Schenke weg waren.

Endlich kamen wir nach Tula; ich kaufte mir Schrot, auch Tee; und Wein, schaffte mir sogar ein Pferd an. Um die Mittagsstunde fuhren wir zurück. Als wir an die Stelle kamen, wo wir hinter uns zum erstenmal das Klopfen des Wagens gehört hatten, fing Filofej, der, nachdem er in Tula ein wenig getrunken hatte, sich als sehr redselig herausstellte – er fing sogar an, mir Märchen zu erzählen – , fing Filofej plötzlich zu lachen an.

»Erinnerst du dich noch, Herr, wie ich dir sagte ›es klopft, es klopft, es klopft‹?«

Er schwang einigemal die Hand … Das Wort kam ihm wohl sehr amüsant vor.

Am gleichen Abend kehrten wir in sein Dorf zurück.

Ich erzählte unser Erlebnis Jermolai. Da er nüchtern war, zeigte er gar keine Teilnahme, er grinste nur, ob billigend oder tadelnd, das wußte er wohl selbst nicht. Aber zwei Tage später teilte er mir mit Freude mit, daß man in der gleichen Nacht, als ich mit Filofej nach Tula fuhr, auf derselben Straße einen Kaufmann ermordet und beraubt hatte. Ich wollte diese Nachricht anfangs nicht glauben; aber später mußte ich es doch – die Richtigkeit wurde mir von dem Pristaw bestätigt, der hinfuhr, um an der Untersuchung teilzunehmen. – War das vielleicht die ›Hochzeit‹, von der unsere Leute zurückkehrten, und hatten sie vielleicht diesen ›Burschen zur Ruhe gebracht‹, wie sich der lustige Riese ausdrückte?

Im Dorf Filofejs blieb ich noch an die fünf Tage. Sooft ich ihn traf, fragte ich ihn: »Nun, klopft es?«

»Ein lustiger Kerl!« antwortete er mir jedesmal und begann selbst zu lachen.

Epilog: Wald und Steppe

Dann aber zieht es seinen Wandersinn ins Dörfchen, in den dunklen Garten hin, wo hohe Linden reichen Schatten spenden, die Veilchen süße Düfte rings entsenden, wo runder Geisklee sich vom Damme biegt, hold in der Flut sein Blumenantlitz wiegt, auf fetter Trift die üpp'ge Eiche steht, der Zephir mild vom duft'gen Felde weht, dahin, dahin, ins lustige Gefild, wo sammetgleich die Erde farbig spielt, der Roggen sanft, so weit das Auge spähet, die schlanken, vollen Halme wehet – der Sonnenstrahl herabfällt, schwer und heiß, durch einen weißen, klaren Wolkenkreis – da ist es gut …

(Aus einem verbrannten Gedicht)


Der Leser ist vielleicht meiner Aufzeichnungen schon müde; ich beeile mich, ihn mit dem Versprechen zu beruhigen, daß ich mich auf die bisher gedruckten Bruchstücke beschränke; aber zum Abschied muß ich doch noch einige Worte über die Jagd sagen.

Die Jagd mit dem Gewehr und mit dem Hund ist schon ›für sich‹ gut, wie man in alten Zeiten zu sagen pflegte; aber nehmen wir an, Sie sind nicht zum Jäger geboren, aber Sie lieben die Natur und können folglich nicht umhin, unsereinen zu beneiden … Hören Sie zu.

Wissen Sie zum Beispiel, was für ein Genuß es ist, im Frühling vor Sonnenaufgang auszufahren? Sie treten vor das Haus … Am dunkelgrauen Himmel blinken hier und da die Sterne; ab und zu weht ein feuchter Wind; das verhaltene, undeutliche Flüstern der Nacht läßt sich vernehmen; die vom Schatten übergossenen Bäume rauschen leise. Man legt Ihnen einen Teppich in den Wagen, stellt eine Kiste mit dem Samowar zu Ihren Füßen hin. Die Seitenpferde krümmen sich, schnauben und heben zierlich ihre Beine; ein paar weiße Gänse, die eben erst erwacht sind, gehen langsam über den Weg. Hinter dem Zaun, im Garten, schnarcht friedlich der Wächter; jeder Laut scheint in der unbeweglichen Luft stehenzubleiben, ohne zu verhallen. Sie sind in den Wagen gestiegen; die Pferde haben sich in Bewegung gesetzt, laut poltert der Wagen … Sie fahren – Sie fahren an der Kirche vorbei, vom Hügel nach rechts über den Damm … Der Teich fängt eben zu dampfen an. Es ist Ihnen etwas kalt, Sie schlagen den Mantelkragen ins Gesicht; Sie sind schläfrig. Die Pferde klatschen mit den Hufen durch die Pfützen, der Kutscher pfeift. Da haben Sie schon an die vier Werst zurückgelegt … der Rand des Himmels rötet sich; in den Birken erwachen und regen sich schwerfällig die Saatkrähen; die Spatzen zwitschern um die dunklen Heuschober. Die Luft wird heller, die Straße sichtbarer, der Himmel klarer, die leichten Wolken schimmern weiß, die Felder grün. In den Bauernhäusern leuchtet mit rotem Schein der Kienspan, hinter den Toren klingen verschlafene Stimmen. Das Morgenrot glüht indessen auf; schon ziehen sich goldene Streifen über den Himmel hin, in den Schluchten ballen sich die Dämpfe; die Lerchen schmettern hell, der erste Morgenwind kommt gezogen, und langsam taucht die blutrote Sonne auf. Das Licht ergießt sich in einem Strome; Ihr Herz fährt auf wie ein Vogel. So frisch, so lustig, so schön! Weithin ist alles zu sehen. Da liegt hinter dem Wäldchen ein Dorf; etwas weiter ein anderes mit einer weißen Kirche, da ist ein Birkengehölz auf einer Anhöhe; hinter ihm der Sumpf, zu dem Sie fahren … Schneller, Pferde, schneller! Ihm Trabe vorwärts …! Es sind nur noch drei Werst geblieben, nicht mehr. Die Sonne steigt schnell, der Himmel ist klar … Es wird herrliches Wetter geben. Die Herde zieht aus dem Dorf Ihnen entgegen. Sie sind auf die Anhöhe hinaufgefahren … Diese Aussicht! Der Fluß windet sich wohl zehn Werst weit und schimmert in einem trüben Blau durch den Nebel; hinter ihm liegen wässerig-grüne Wiesen; hinter den Wiesen sanfte Hügel; in der Ferne kreisen Kiebitze schreiend über dem Sumpf; durch den feuchten Glanz, von dem die Luft erfüllt ist, hindurch wird die Ferne deutlich sichtbar … ganz anders als im Sommer. Wie frei atmet die Brust, wie schnell bewegen sich die Glieder, wie rüstig fühlt sich der ganze Mensch, vom frischen Hauch des Frühlings ergriffen …!

Und ein Sommermorgen im Juli! Wer, außer dem Jäger, hat es empfunden, wie schön es ist, beim Sonnenaufgang durch die Büsche zu streifen? Als grüner Strich liegt die Spur Ihrer Füße auf dem taubedeckten, weißglänzenden Gras. Sie biegen einen nassen Strauch auseinander, und der angesammelte warme Duft der Nacht weht Sie an; die Luft ist ganz durchtränkt von der frischen Bitterkeit des Wermuts, vom Honig des Buchweizens und des Waldklees; in der Ferne erhebt sich wie eine Mauer der Eichenwald und glänzt, von der Sonne gerötet; es ist noch frisch, aber man fühlt schon das Nahen der Hitze. Der Kopf schwindelt angenehm vor der Überfülle der Düfte. Das Gebüsch will kein Ende nehmen … Nur hier und da leuchtet in der Ferne gelb der reifende Roggen, in schmalen, rötlichen Streifen liegt der Buchweizen. Da knarrt ein Wagen; der Bauer fährt im Schritt und stellt das Pferd schon jetzt in den Schatten. Sie haben ihn begrüßt und sind weitergegangen, das laute Schwirren der Sense tönt hinter Ihnen. Die Sonne steigt immer höher und höher. Schnell trocknet das Gras. Schon ist es heiß geworden. Es vergeht eine Stunde, eine zweite … Der Himmel wird am Rande dunkler; die unbewegliche Luft atmet eine stechende Glut. – »Wo könnte ich hier trinken, Bruder?« fragen Sie den Schnitter. – »Hier in der Schlucht ist eine Quelle.« Sie steigen durch die dichten, von zähen Schlingpflanzen durchflochtenen Haselbüsche auf den Grund der Schlucht hinab. Es stimmt, dicht unter dem Abhang ist eine Quelle; ein Eichengebüsch streckt gierig seine breiten Äste über das Wasser aus; große silberne Blasen steigen schaukelnd vom Grund auf, der von einem feinen, samtweichen Moos bedeckt ist. Sie werfen sich auf die Erde, Sie haben schon getrunken, aber Sie sind zu faul, um ein Glied zu rühren. Sie liegen im Schatten, Sie atmen die duftige Feuchtigkeit, es ist Ihnen wohl; die Büsche gegenüber erglühen und scheinen in der Sonne gelb. Aber was ist das? Ein Windstoß kommt plötzlich gezogen und ist schon vorbei; die Luft ringsum erzittert; war es nicht ein Donner? Sie kommen aus der Schlucht heraus … was ist das für ein bleigrauer Streifen am Horizont? Macht es die Glut? Rückt eine Regenwolke heran …? Da zuckt aber schon ein schwacher Blitz … Eh, das ist ja ein Gewitter! Ringsum strahlt noch hell die Sonne, man kann noch jagen. Aber die Wolke wächst, ihr vorderer Rand streckt sich wie ein Ärmel vor und biegt sich zu einem Gewölbe. Das Gras, die Büsche, alles ist plötzlich dunkel geworden … Schneller! Dort scheint ein Heuschuppen zu stehen … schnell …! Sie haben ihn erreicht, Sie sind eingetreten … Ist das ein Regen! Sind das Blitze! Durch das Strohdach fallen hie und da Regentropfen auf das duftige Heu … Da strahlt aber die Sonne wieder. Das Gewitter ist vorübergezogen; Sie treten hinaus. Mein Gott, wie lustig glänzt alles ringsum, wie frisch und flüssig ist die Luft, wie duftet es nach Erdbeeren und Pilzen …!

Da bricht aber schon der Abend an. Das Abendrot glüht wie eine Feuersbrunst und hat den halben Himmel umfangen. Die Sonne geht unter. Die Luft ist in der Nähe ganz besonders durchsichtig, wie gläsern; in der Ferne senkt sich ein weicher Dunst, der warm erscheint; zugleich mit dem Tau fällt ein roter Schein auf die Wiesen, die erst eben von Strömen flüssigen Goldes übergossen waren; von den Bäumen, Sträuchern, den hohen Heuschobern fallen lange Schatten … Die Sonne ist untergegangen; ein Stern leuchtet auf und zittert im feurigen Meer des Westens … Da wird schon dieses Meer blaß; blau wird der Himmel; die einzelnen Schatten verschwinden; die Luft füllt sich mit Dämmerung. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen, ins Dorf, ins Bauernhaus, in dem Sie übernachten. Das Gewehr über die Schulter geworfen, gehen Sie schnell trotz der Ermüdung … Indessen bricht die Nacht herein; in einer Entfernung von zwanzig Schritt ist nichts mehr zu sehen; die weißen Hunde sind im Dunkeln kaum zu unterscheiden. Da beginnt der Himmelsrand über den schwarzen Sträuchern sich aufzuhellen … Was ist das? Eine Feuersbrunst? Nein, es ist der aufgehende Mond. Unten rechts blinken schon die Lichter des Dorfes … Da ist auch endlich Ihr Quartier. Sie sehen durch das Fenster den mit einem weißen Tischtuch gedeckten Tisch, eine brennende Kerze, das Abendessen …

Oder man läßt sich einen Jagdwagen anspannen und fährt in den Wald auf die Haselhuhnjagd. So lustig ist es, sich auf dem schmalen Pfad zwischen den zwei Mauern des hohen Korns fortzubewegen. Die Ähren schlagen Sie leise ins Gesicht, die Kornblumen heften sich an Ihre Füße. Die Wachteln schreien ringsherum, das Pferd läuft in trägem Trab. Da ist auch schon der Wald. Schatten und Stille. Die schlanken Espen flüstern hoch über Ihnen; die langen, herabhängenden Zweige der Birken rühren sich kaum; der mächtige Eichbaum steht wie ein Kämpfer neben einer schönen Linde. Sie fahren auf einem grünen, von Schatten gesprenkelten Weg; große gelbe Fliegen hängen unbeweglich in der goldigen Luft und fliegen plötzlich davon; Mückenschwärme kreisen als eine Säule und scheinen im Schatten hell, in der Sonne aber dunkel; friedlich singen die Vögel. Die goldene Stimme der Grasmücke klingt in unschuldiger, geschwätziger Freude, sie paßt so gut zum Duft der Maiglöckchen. Immer weiter, weiter, tiefer in den Wald … Der Wald wird dichter … Eine unbeschreibliche Stille senkt sich in Ihre Seele; auch ringsum ist alles verträumt und still. Da kommt aber ein Wind, und die Wipfel rauschen wie herabfallende Wellen. Durch das vorjährige braune Laub wachsen hier und da hohe Halme empor; die Pilze stehen einzeln unter ihren Hüten. Plötzlich springt ein Hase hervor, der Hund stürzt ihm mit hellem Gebell nach …

Und wie schön ist dieser selbe Wald im Spätherbst, wenn die Waldschnepfen geflogen kommen! Sie halten sich nicht im Dickicht auf, man muß sie am Waldsaum suchen. Es ist kein Wind da, aber auch keine Sonne, kein Licht, kein Schatten, keine Bewegung, kein Geräusch; die milde Luft ist vom Herbstgeruch erfüllt, der an den Duft von Wein erinnert; ein feiner Nebel schwebt in der Ferne über den gelben Feldern. Durch die entblößten braunen Äste der Bäume hindurch schimmert weiß und friedlich der unbewegliche Himmel; an den Linden hängen hier und da die letzten goldenen Blätter. Die feuchte Erde scheint unter den Füßen elastisch; die hohen, trockenen Halme rühren sich nicht; lange Fäden glänzen auf dem verblichenen Gras. Ruhig atmet die Brust, aber eine seltsame Unruhe beschleicht das Herz. Man geht am Waldsaum entlang, beobachtet seinen Hund, indessen ziehen aber geliebte Bilder, geliebte Gesichter, tote und lebendige in den Sinn, die längst schlafenden Eindrücke erwachen unerwartet wieder; die Phantasie schwingt sich auf wie ein Vogel, und alles steht und bewegt sich so klar vor den Augen. Das Herz erzittert bald, es schlägt und strebt leidenschaftlich vorwärts und versinkt bald gänzlich in Erinnerungen. Das ganze Leben entrollt sich vor den Augen wie eine Schriftrolle; der Mensch hat dann seine ganze Vergangenheit, alle seine Gefühle und Kräfte, seine ganze Seele in seiner Gewalt. Und nichts stört ihn – keine Sonne, kein Wind, kein Geräusch …

Und ein heiterer, etwas kalter, am Morgen frostiger Herbsttag, wenn die Birke sich wie ein goldener Zauberbaum am blaßblauen Himmel abzeichnet, wenn die niedrig stehende Sonne nicht mehr wärmt, aber heller als im Sommer scheint, wenn das kleine Espengehölz ganz durchscheinend ist und strahlt, als wäre es ihm leicht und lustig, so nackt dazustehen, wenn der Reif auf dem Grund der Täler liegt und der frische Wind die von den Zweigen gefallenen, vertrockneten Blätter leise bewegt und vor sich hertreibt, wenn die blauen Wogen auf dem Flusse freudig rollen, auf denen sich einzelne Gänse und Enten wiegen; in der Ferne klappert die von den Weiden halb verdeckte Mühle, und bunte Tauben kreisen über ihr in der durchsichtigen Luft …

Schön sind auch die nebeligen Sommertage, obwohl die Jäger sie nicht lieben. An solchen Tagen kann man nicht schießen: Der Vogel, der Ihnen unter den Füßen auffliegt, verschwindet sofort im unbeweglichen weißlichen Nebel. Aber wie still, wie unbeschreiblich still ist alles ringsum! Alles ist erwacht, und alles schweigt. Sie kommen an einem Baum vorbei – er rührt sich nicht, er genießt seine Unbeweglichkeit. Durch den feinen Dunst, von dem die Luft gleichmäßig erfüllt ist, sehen Sie vor sich einen langen schwarzen Streifen. Sie halten ihn für einen nahen Wald; Sie kommen näher – der Wald verwandelt sich in eine Reihe hoher Wermutstauden am Rain. Über Ihnen und um Sie herum, überall ist Nebel … Da erhebt sich ein leichter Wind – ein Fetzen blaßblauen Himmels tritt verschwommen durch den schwebenden, gleichsam rauchenden Dunst hervor, ein goldig-gelber Strahl bricht plötzlich durch, rieselt als langer Strom, trifft die Felder, stößt gegen den Wald, und schon ist wieder alles bedeckt. Lange dauert dieser Kampf; aber wie unsagbar herrlich und klar wird der Tag, wenn das Licht endlich siegt und die letzten Wellen des erwärmten Nebels sich teils senken und wie ein Tischtuch ausbreiten, teils sich emporschwingen und in der tiefen, zartglänzenden Höhe verschwinden …

Sie fahren zur Jagd in die Steppe. Zehn Werst weit haben Sie sich auf Feldwegen fortbewegt, und da ist endlich die Landstraße. An endlosen Wagenzügen, Herbergen mit kochenden Samowars unter den Dachvorsprüngen, mit weit geöffneten Toren und Brunnen, aus einem Dorf ins andere, über unabsehbare Felder, an grünen Hanfpflanzungen vorbei, fahren Sie lange, lange. Die Elstern fliegen von einer Weide auf die andere, Weiber mit langen Rechen in der Hand gehen langsam ins Feld; ein Wanderer in einem abgetragenen Nankingkaftan, den Reisesack auf dem Rücken, schleppt sich mit müden Schritten daher; eine schwere Gutsbesitzerskutsche, mit sechs großen, abgehetzten Pferden bespannt, schwimmt Ihnen entgegen. Aus einem Fenster der Kutsche schaut der Zipfel eines Kissens hervor, und auf dem hinteren Tritt sitzt auf einem Sack, sich mit den Händen an der Schnur festhaltend, seitwärts ein Lakai in einem Mantel, bis an die Brauen mit Schmutz bespritzt. Da kommt ein Kreisstädtchen mit schiefen, hölzernen Häuschen, unendlichen Zäunen, unbewohnten, steinernen Warenlagern und einer alten Brücke über einer tiefen Schlucht … Weiter, weiter …! Nun beginnt die Steppe. Wenn man vom Hügel herabblickt, welch eine Aussicht! Runde, niedere, bis oben beackerte und besäte Hügel laufen in breiten Bogen auseinander; von Sträuchern überwucherte Schluchten winden sich zwischen ihnen hindurch; als längliche Inseln liegen kleine Wälder verstreut; von einem Dorf ins andere laufen schmale Wege, weiß schimmern die Kirchen; zwischen dem Weidengebüsch glänzt ein Flüßchen, an vier Stellen von Dämmen durchschnitten; weit im Feld stehen in langen Reihen Trappen; ein altes Herrenhaus schmiegt sich mit seinen Nebengebäuden, seinem Obstgarten und seiner Tenne an einen kleinen Teich. Aber Sie fahren immer weiter und weiter. Die Hügel werden immer niedriger, es sind fast keine Bäume mehr zu sehen. Da ist sie endlich die grenzenlose, unabsehbare Steppe …!

Und an einem Wintertag über die hohen Schneehaufen auf die Hasenjagd zu gehen, die scharfe, frostige Luft zu atmen, die Augen unwillkürlich vor dem blendenden Funkeln des weichen Schnees zu schließen, den grünen Himmel über dem rötlichen Wald zu bewundern …! Und die ersten Frühlingstage, wenn alles ringsum glänzt und zusammenstürzt, wenn durch den schweren Dunst des geschmolzenen Schnees der Geruch der erwärmten Erde aufsteigt, wenn auf den schneefreien Stellen unter den schrägen Sonnenstrahlen vertrauensvoll die Lerchen singen und mit freudigem Brausen und Brüllen die Frühlingsgewässer von Schlucht zu Schlucht strömen … Ich muß aber schließen. Es ist gut, daß ich auf den Frühling zu sprechen kam – im Frühling ist die Trennung leicht, im Frühling fühlen sich selbst die Glücklichen in die Ferne hingezogen …

Leben Sie wohl, Leser; ich wünsche Ihnen ständiges Wohlergehen.

Ende

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