Rita Mae Brown Böse Zungen

Zum Gedenken an Johnny Holland 14. Juni 1983 - 02. Januar 1999

TEIL EINS

1

Das Leben krempelt einen um. Egal, wo man anfängt, man en­det woanders, selbst wenn man zu Hause bleibt. Verlaß ist nur auf eins: Es ist immer eine Überraschung.

Die Schwestern Hunsenmeir krempelte das Leben nicht nur um, es stellte sie auf den Kopf und danach wieder auf die Füße. Vielleicht war es auch gar nicht das Leben, das sie herumwir­belte wie eine Achterbahn auf dem Rummelplatz. Sie brachten sich gegenseitig aus dem Tritt.

Der 7. April 1941 war ein strahlender Tag. Louises Tulpen schwankten im leichten Wind. Der Frühling hatte triumphalen Einzug gehalten in Runnymede, das direkt auf der Mason- Dixon-Grenze lag. Die Bewohner dieser hübschen, kleinen Stadt, die vor dem Unabhängigkeitskrieg um einen Platz herum erbaut worden war, waren ganz euphorisch, weil sich die Früh­lingswärme in diesem schicksalhaften Jahr früh eingestellt hat­te. Vermutlich ist jedes Jahr für den einen oder anderen schick­salhaft, doch es gibt Jahre, die allen Menschen im Gedächtnis bleiben. Am 7. April schien das Schicksal allerdings weit weg zu sein; es erschütterte die Länder jenseits des Atlantischen Ozeans.

Julia Ellen, genannt>Juts<, knallte bei ihrer Schwester Louise die Haustür zu. Sie spitzte die geschminkten Lippen und pfiff einmal tief, einmal hoch, wie ein Zeisig. Juts sagte immer Zwei­sig, weil der Pfiff aus zwei Tönen bestand.

Als sie keine Antwort bekam, pfiff Juts noch einmal. Schließ­lich rief sie: »Wheezer, zum Donnerwetter, wo steckst du denn?« Noch immer keine Antwort.

Juts hatte am 6. März ihren sechsunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Sie hatte schon immer tonnenweise Energie besessen, doch beim Sturm durch ihre Dreißiger bekam sie noch mehr davon, so wie andere Leute Falten bekommen. Die Einzige, die mit ihr Schritt halten konnte, war die vier Jahre ältere Louise; da Louise in Bezug auf ihr Geburtsdatum schamlos log,>verga­ßen< alle ihr genaues Alter, ausgenommen Juts, die sich diese Kenntnis für solche Gelegenheiten aufhob, da es einmal nötig werden sollte, ihre Schwester in die Schranken zu weisen. Ihre Mutter Cora kannte es auch, war aber viel zu gutmütig, um ihre ältere Tochter daran zu erinnern, die einen ausgewachsenen Koller gekriegt hatte, als sie vierzig geworden war. Dieses be­deutsame Ereignis war eben erst am 25. März begangen wor­den. Sogar Juts hatte sich erbarmt und auf der Geburtstagsfeier so getan, als sei Louise soeben neununddreißig geworden.

Beide Schwestern tosten durchs Leben, allerdings in verschie­denen Tonarten. Juts war eindeutig C-Dur, wogegen Louise, e- Moll, einem Anflug von Melancholie nie widerstehen konnte.

Juts drückte ihre Chesterfield in dem gläsernen Aschenbecher mit dem schmalen Silberrand aus.

»Louise!«, rief sie, als sie die Hintertür öffnete und hinaustrat.

»Ich bin hier oben«, rief Louise vom Dach herunter.

Julia reckte den Hals; die Sonne schien ihr in die Augen. »Was machst du da? Ach, was frag ich? Du singstNäher, mein Gott, zu dir.<«

»Wirst du wohl deinen gotteslästerlichen Mund halten!«

»Ja, ja, du wandelst auf dem Wasser. Eigentlich wollte ich dich zum Lunch bei Cadwalders einladen, aber wenn du so unausstehlich bist, bleib ich lieber allein.«

»Geh nicht.«

»Warum nicht?«

Louise zögerte. Es widerstrebte ihr sehr, ihre jüngere Schwe­ster um Hilfe zu bitten; denn sie würde es ihr irgendwann ver­gelten müssen, und zwar mit Sicherheit dann, wenn sie sich am allerwenigsten für einen Gefallen revanchieren wollte.

»Oh.« Julia bemühte sich, ihr Entzücken zu verbergen, als sie hinter den Forsythiensträuchern, einer Flut von blendendem Gelb, die schwere weiße Leiter erspähte. »Ach du meine Güte, Schwesterherz, das ist ja furchtbar.« Und machte Anstalten, sich zu entfernen.

»Julia, Julia, du kannst mich hier oben nicht einfach sitzen lassen!«

»Warum nicht? Ich kann ja in deiner Gegenwart nicht mal ei­nen Witz reißen, ohne daß er von der einzig lebenden Heiligen von Runnymede in einen frommen Spruch verwandelt wird. Oh, ich berichtige, von der einzig lebenden Heiligen im legendären Staate Maryland.«

»Und was ist mit Pennsylvania?«

»Wir leben nicht in Pennsylvania.«

»Halb Runnymede ist hinter der Grenze.«

»Du meinst wohl, hinterm Mond.« Julia verschränkte die Ar­me.

»Du weißt, was ich meine.« Verärgerung schlich sich in Loui­ses wohl modulierten Sopran.

»Pennsylvania ist so viel größer als Maryland, etwa wie eine Tarantel im Vergleich zu einem Marienkäfer. Ich bin sicher, es gibt eine Menge lebende Heilige in Pennsylvania, wahrschein­lich vor allem in Philadelphia und Pittsburgh, andererseits...«

Louise schnitt ihr das Wort ab. Sie wußte genau, wann Juts genug in Fahrt geriet, um eine ihrer Tiraden loszulassen. »Wür­dest du bitte die Leiter aufstellen?«

»Nein. Mary und Maizie kommen in zwei Stunden aus der Schule. Sollen sie es doch tun.«

Louises jüngere Tochter, nach Julia Ellen benannt, wurde Maizie gerufen, um sie von ihrer Tante zu unterscheiden.

»Hör mal, Juts, das ist gar nicht komisch. Ich sitze hier fest, und die lärmenden Kinder hören mich womöglich nicht, wenn sie nach Hause kommen. Stell die Leiter auf.«

»Was krieg ich dafür?«

»Vielleicht solltest du fragen, was du nicht dafür kriegst.« Als Louise sich der Dachkante näherte, stieben kleine Asphaltfun­ken unter ihren Absätzen auf.

»Wird wohl ziemlich heiß da oben.«

»Ein bißchen.«

»Was hast du mir anzubieten?«

»Keine Vorträge mehr übers Rauchen oder Trinken.«

»Ich trinke doch kaum«, fauchte Julia. »Deine Behauptung, daß ich zu viel trinke, hängt mir zum Hals raus.«

»Den Samstagabend möchte ich sehen, an dem du dich nicht mit Whiskey Sour vollaufen läßt.«

»Ein Abend von sieben - Samstagabend, Louise, und ich geh nun mal gern mit meinem Mann aus.«

»Du würdest auch ohne ihn ausgehen.« »Was soll das heißen?«

»Das heißt, du kannst ohne männliche Beachtung nicht leben, und wenn ich dein Mann wäre, würde ich dich nicht aus den Augen lassen.«

»Aber du bist nicht mein Mann.« Julia zog die schwere Leiter hervor, lehnte sie aber nicht an die Dachrinne. »Wieso hast du eigentlich so miese Laune?«

»Hab ich nicht.«

»Hast du wohl.«

»Hab ich nicht.«

»Lügnerin.«

»Du erwartest wohl, daß ich vor guter Laune sprühe, wenn ich seit Stunden auf dem Dach festsitze.«

»Was machst du überhaupt da oben?«

»Im Schornstein war ein Vogelnest. Ich hab's rausgeholt.«

»Waren Vögel drin?«

»Nein, dann hätte ich sie bleiben lassen, bis sie flügge sind. Ehrlich, Julia.«

Das erbosteEhrlich, Julia< signalisierte Juts, daß es Zeit war zuzuschlagen. »Ich stell die Leiter auf, wenn du mir den Hut gibst, den du dir vorige Woche gekauft hast.«

»Den von Bear's Kaufhaus in York?«

»Genau den.«

»Julia, das ist mein Lieblingshut.«

»Meiner auch, und du hast mehr Geld als ich. Komm schon, Louise, ich brauch was zum Anziehen, wenn ich Ostern in die Kirche gehe.«

»Ich schwimme auch nicht im Geld, Juts. Pearlie und ich kön­nen bloß besser damit umgehen als du und Chessy.«

»Junge, Junge, du willst wirklich nicht runter vom Dach,

was?«

»Doch. Entschuldige. Du weißt, ich sage offen meine Mei­nung.«

»So nennst du das. Ich nenne es zu Gericht sitzen.« Julia fuhr sich mit den Fingern durch ihre honigbraunen Locken und wandte sich abermals zum Gehen.

»Na gut!«

Sie blieb stehen. »Den Hut, Louise - in der Sekunde, wo du von der Leiter runter bist.«

»Ja.«

Juts stellte die Leiter aufrecht, die einen Moment schwankte, und schob sie dann ans Dach, wo sie mit einem dumpfenPlop landete. »Ich halt sie fest.«

Louise drehte sich um und hielt dabei die Hände auf dem Dach gespreizt. Sie rutschte ein bißchen, hielt sich aber, indem sie die Füße seitwärts stellte, setzte einen Fuß über die Dach­kante und fand die oberste Sprosse der Leiter. Vorsichtig stieg sie hinunter. Unten angekommen, trat sie ins Haus, ohne ihre Schwester eines Wortes zu würdigen. Sie knallte die Küchentür so fest zu, daß die zahlreichen Keramikfigürchen mit den mit rotem Nagellack angemalten Brustwarzen im Wohnzimmer wackelten. Es war Pearlie - ihr Mann Paul -, der das Anmalen besorgte. Louise meinte, er habe eine künstlerische Ader. Julia hatte mit unbewegter Miene erklärt, daß die meisten Männer das starke Verlangen hätten, die Brustwarzen von Statuen an­zumalen. Sie beließ es dabei. Wenn sie mit Chessy vom Haus ihrer Schwester sprach, nannte sie es Palazzo Titti oder P. T.

Juts öffnete die Tür und schloß sie hinter sich, als ihre Schwe­ster wieder ins Zimmer gestampft kam. Louise pfefferte Juts eine große marineblaue Hutschachtel entgegen, auf deren Deckel in eleganten LetternBear's zu lesen war. »Hier, du Gaune­rin.«

Weise überging Juts die Tatsache, daß man sie soeben als Gaunerin betitelt hatte, und nahm die Hutschachtel an dem kreuzweise über den Deckel gebundenen breiten Seidenband an sich. »Komm, ich spendier dir ein Schokoladenfrappe.«

Louise überlegte einen Moment, befand, daß sie sehr durstig war, und murmelte: »Einverstanden.«

Auf dem Weg zum Runnymede Square fragte Juts erneut: »Was ist los mit dir?«

»Nichts ist los. Ich habe zu lange auf dem Dach gehockt. Ich habe sogar erwogen, runterzuspringen.«

»Gut, daß du's nicht getan hast. Du hättest deine Forsythien ruiniert.« Doch Juts glaubte ihr nicht. Sie wußte, daß etwas an ihrer Schwester nagte.

»Und meine Schuhe auch.«

»Hättest dir den Knöchel brechen können.«

»Oder den Hals - ich hätte zu Tode kommen können.«

»Nein.« Juts lächelte. »Nur die Guten sterben jung.«

»Du bist schrecklich.«

»Nein, ich bin Julia.«

»Du bist meine schreckliche Julia.« Louise kicherte, als sie die Tür zu Cadwalders Drugstore aufstieß.

»Ihr habt eure Mutter knapp verpaßt, Mädels«, rief Vaughn, der achtzehnjährige Sohn des Besitzers, hinter der Theke. »Sie ist vor 'ner knappen Viertelstunde mit Miss Chalfonte wegge­gangen.«

»Zu Fuß oder im Packard?«

»Im Packard.« Er hatte ein zusammengelegtes Handtuch über einen Arm drapiert. Vaughn beugte sich über die Marmorplatte der Theke. »Was darf s sein?«

»Ein Zitronensorbet und ein neues Leben.«

Er lachte. »Mrs. Smith, Sie machen mir Freude.«

»Das kann ich nicht gerade behaupten.« Louise warf der Hutschachtel, die sicher unter dem Barhocker verstaut war, einen wehmütigen Blick zu.

»Also gut, Zitronensorbet erst im Sommer, ich weiß. Ich möchte ein großes Schokoladenfrappe und einen heißen Tee dazu.«

»Und ich möchte ein Erdbeerfrappe mit Kaffee dazu.«

»Alles klar.« Vaughn hob die eckigen schwarzen Deckel ab und füllte Eiscreme in dicke geriffelte Gläser. »Ist das nicht ein toller Frühling?«

»Wunderbar«, stimmten beide Frauen zu.

»Kaum vorstellbar, daß Krieg herrscht.«

»Wird nicht lange dauern«, prophezeite Louise leichthin.

»Wie kommst du darauf?« Juts' Magen knurrte.

»Weil England nie einen Krieg verliert, außer gegen uns.«

»Hoffentlich haben Sie Recht.« Vaughn unterbrach sich, während er Kaffee einschenkte, »wir haben den Ersten Welt­krieg nie wirklich zum Abschluß gebracht, wissen Sie?«

Louise blinzelte. Sie wußte gar nichts, und in diesem Moment war ihr nach Erdbeerfrappe und nicht nach jugendlichen Be­trachtungen über jüngste Geschichte.

»Vaughn, wie alt bist du noch mal?«, fragte Louise.

»Achtzehn.«

»Du denkst doch nicht etwa daran, nach Kanada auszubüxen und dich freiwillig zu melden, oder?«

Er errötete so tief, daß seine Sommersprossen unsichtbar wur­den. »Ah, na ja, Mrs. Trumbull.«

»Dacht ich's mir doch.« Louise griff sich ihren Kaffee, bevor Vaughn ihn auf die Theke stellte. »Abwarten. Vielleicht können wir uns ja aus diesem Krieg raushalten.«

»Ja, Ma'am.«

»Was mich an Kriegen so erstaunt: Eine Horde von alten Männern zettelt sie an. Stimmt's?« Juts' kleines Publikum nick­te, so daß sie fortfuhr: »Dann fechten junge Männer sie aus, werden verwundet oder schlimmer, und die alten Ärsche lehnen sich zurück und kassieren die Belohnung. Das macht mich krank. Danke.« Vaughn hatte ihr den Tee über die Theke ge­schoben.

»Wenn du ein Mann wärst, würdest du dich freiwillig mel­den?«, wollte Louise von Juts wissen.

»Klar, um von dir wegzukommen.«

Darauf errötete Vaughn wieder, weil er lachen mußte, Louise aber nicht kränken wollte. Ganz Runnymede kannte ihr Tempe­rament; das von Juts allerdings ebenso.

»Haha«, sagte Louise trocken und machte sich gierig über ihr cremiges Frappe her.

»Was ich dir sagen wollte, Louise - du bist in letzter Zeit nicht du selbst.« Juts lächelte. »Das ist ein großer Fortschritt.«

Vaughn brach in Lachen aus. Louise rammte ihren Löffel ins Frappe, belud ihn mit einem üppigen Klacks Eis mit Erdbeersi­rup und klatschte ihn ihrer Schwester in das verdatterte Gesicht.

Julia vergalt Gleiches mit Gleichem. Vaughn trat unwillkür­lich einen Schritt zurück und flehte: »Meine Damen.«

»Hier gibt es nur eine Dame«, verkündete Louise würdevoll.

»Ja, und die ist vierzig Jahre alt.«

2

Licht schimmerte durch das Limoges-Porzellan. Es war so zart, daß es durchscheinend war. Jedes Stück - Tasse, Untertasse, Teller - hatte einen feinen roten Rand, der wiederum von einem dünnen Goldband eingefaßt war. Beides verschlang sich zu einem C fürChalfonte.

Celeste Chalfonte, eine schöne, eigenwillige Frau Mitte sech­zig, faltete die Leinenserviette auf ihrem Schoß auseinander. Ihr gegenüber tat Ramelle Chalfonte - ihre Geliebte seit neunund­dreißig Jahren und Ehefrau von Celestes Bruder Curtis - das­selbe.

Der Duft von Spiegeleiern, brutzelndem Speck und frischen Biskuits durchzog das Frühstückszimmer an der Ostseite des Hauses.

»Hast du denClarion?« Celeste meinte die Zeitung für den Süden von Runnymede.

»Nein«, antwortete Ramelle.

»DieTrumpet?« Diesmal war die Zeitung des nördlichen Yankee-Runnymede gemeint.

Ramelle schüttelte den Kopf. »Nein.«

Celeste läutete mit einem Silberglöckchen. Cora Hunsenmeir erschien. Sie war Ende fünfzig.

»Euer Hoheit.«

»Der Tag fängt ja gut an, hm?«, bemerkte Celeste. »Wo ist die Zeitung?«

Cora ging wortlos hinaus, kehrte zurück und legte Celeste die zusammengefaltete Zeitung zu ihrer Linken hin.

Als Celeste die Titelseite aufschlug, fiel ihr ein Foto von zwei vertrauten Gesichtern ins Auge. Zwischen Coras beiden Töch­tern stand Harper Wheeler, der Sheriff von Süd-Runnymede.

»Ach, du meine Güte.« Celeste holte Luft, dann zeigte sie Ramelle die Aufnahme. Sie richtete ihre hellen Augen auf Cora. »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

Cora zuckte die Achseln. »Na ja - du hättest es früh genug er­fahren.« »Sind sie im Gefängnis?«, erkundigte sich Ramelle, als sie die Zeitung von Celeste entgegennahm.

»Harper Wheeler wollte sie nicht dabehalten. Er sagte, für die zwei ist kein Gefängnis groß genug.« Cora seufzte. »Harmon Nordness ließ auch nicht zu, daß eine ins Gefängnis von Nord- Runnymede kommt.«

Celeste, die inzwischen aufgestanden war, um über Ramelles Schulter zu lesen, kicherte. »Verzeihung.« Sie fing sich wieder.

»Tu dir nur keinen Zwang an«, sagte Cora.

Bald lachten alle beide, Celeste und Ramelle.

Ramelle las Popeye Huffstetlers Kommentar laut vor: »... Die Auseinandersetzung wurde nach Aussage von Vaughn Cadwal­der durch die Frage ausgelöst, warum Mrs. Chester Smith sich freiwillig zum Militär melden würde. Mrs. Paul Trumbull nahm ihrer Schwester, Mrs. Smith, die Erklärung übel, sie würde sich bloß melden, um von ihr wegzukommen. Die beiden Damen sind gegen Kaution frei, die von ihren jeweiligen Ehemännern gestellt wurde. Sheriff Harper Wheeler wies Mr. Smith und Mr. Trumbull an, ihre Ehefrauen in Schach zu halten. Mr. Smith soll daraufhin gesagt haben:Nicht mal Adolf Hitler könnte Juts in Schach halten. < Mr. Flavius Cadwalder, der Besitzer von Cad­walders Drugstore, sieht von einer Anzeige ab, da Mr. Smith und Mr. Trumbull eingewilligt haben, in voller Höhe für den Schaden aufzukommen, der auf dreihundertachtundneunzig Dollar geschätzt wird.«

Ramelle holte Luft. »Dreihundertachtundneunzig Dollar! Mein Gott, Cora, was haben sie angestellt?«

»Kommt drauf an, wer die Geschichte erzählt.« Die korpulen­te Frau zuckte die Achseln.

»Was meinst du?«, fragte Celeste ihre Freundin und Ange­stellte seit vielen Jahrzehnten, während sie sich wieder hinsetz­te. Sie war zu hungrig, um weiter über Ramelles Schulter mitzu­lesen.

»Louise saß auf ihrem Dach fest.«

»Was?«, unterbrach Ramelle.

»Sie hat ein Vogelnest aus dem Schornstein geräumt. Die Lei­ter ist umgefallen, und Juts kam Stunden später vorbei. Aber sie wollte die Leiter nur aufstellen, wenn Louise ihr den schönen Osterhut schenkt, den sie sich bei Bear's gekauft hat.«

»Ich fand ja schon immer, daß Julia das Zeug zu einer großen Politikerin hat.« Celeste biß in ein federleichtes Biskuit.

»Wenn die eine hüh sagt, sagt die andere hott.« Cora schenkte Ramelle frischen Kaffee ein. »Zum Teil kommt es daher, daß Mary und Maizie ihre Mutter zum Wahnsinn treiben. Das biß­chen Geduld, das Louise hat, ist.« Cora wedelte mit der Hand, um anzudeuten, daß die Geduld sich verflüchtigt hatte.

»Es fällt schwer, sich Louise als Mutter vorzustellen«, sagte Celeste. »Es fällt sogar schwer, sich Louise als Ehefrau vorzu­stellen. Ich sehe immer noch das kleine Mädchen mit den lan­gen Locken vor mir, das in meinem Salon Klavier spielt.« Sie klopfte auf die Rückseite der Zeitung, die Ramelle eifrig las. »Natürlich fällt es auch schwer, sich dich als Mutter einer zwanzigjährigen Tochter vorzustellen.«

»Ja«, sagte Ramelle lachend, »aber meine ist eine erwachsene Frau in Kalifornien. Juts und Louise sind große Kinder direkt hier vor unserer Nase.«

»Sag mal, Cora, wie wollen die Ehemänner denn dreihundert­achtundneunzig Dollar aufbringen?«

»Ich hab sie nicht gefragt.«

»An deiner Stelle würde ich mich auch nicht genauer erkundi­gen.« Celeste ließ sich den köstlich knusprigen Speck auf der Zunge zergehen.

3

Chessy Smith fuhr mit den Fingern über die dunkle Kirsch­holzmaserung. Walter Falkenroth ließ seine geräumige Biblio­thek mit Kirschholz auskleiden. DerClarion mußte tonnenwei­se Geld abwerfen, denn Walters neues Haus war so groß wie ein Flugzeughangar. Chessy nahm das überschüssige Holz mit nach Hause, um für Juts zwei Nachtkonsolen zu zimmern. Chester Smith war der Besitzer der Eisenwarenhandlung. Als Neben­verdienst fertigte er in einer Werkstatt hinter dem Laden Schränke, Stühle und Tische an. Auf diese Weise verschwende­te er nie Zeit. Wenn das Geschäft schleppend lief, brachte er dennoch etwas zustande.

Juts kam in seine Werkstatt getänzelt. Obwohl sie im Juni vierzehn Jahre verheiratet waren, stieß sie immer zunächst den Zweisigpfiff aus und klopfte dann an die Tür. Sie tat dies teils aus Respekt, teils aber aus Vorsicht. Wenn ihr großer, blonder Mann über eine Bandsäge oder eine Bogensäge gebeugt war, wollte sie ihn nicht erschrecken. Im Augenblick maß er aller­dings nur die Proportionen seiner Entwürfe für die Nachtkonso­len.

»Komm rein.«

Sie stieß die Tür auf. »Schatz, draußen sind es nur noch acht Grad. Mach lieber den Ofen an.«

»Ich bleib nicht lange hier. Bin gleich zu Hause.«

Sie setzte sich auf eine schwere Eichenbank. »Bist du mir noch böse?«

Julia Ellens gnadenlose Vitalität hätte einen Roboter klein ge­kriegt. Ihre schamlose Mißachtung jeglicher Schicklichkeit hatte ihn angezogen, als sie sich kennen lernten. Sie zog ihn noch immer an, doch es gab Momente, da Chessy eine fügsame Frau vorgezogen hätte, die nicht die Gewohnheit hatte, Gläser in der Bar des Drugstores zu zerschmettern, weil sie auf ihre Schwester wütend war. Sie hatten auch den riesigen Spiegel hinter dem Marmortresen zerschmettert. Er und Paul würden für den Rest des Jahrzehnts verschuldet sein.

»Ich weiß nicht, woher ich zweihundert Dollar nehmen soll.« »Einhundertneunundneunzig«, verbesserte sie ihn rasch.

Er kniff den Mund zusammen. »Ja.«

»Sie hat angefangen. Ich schwör's, seit sie vierzig ist, ist sie zickig. Und dann kommt hinzu, daß Mary es mit Extra Billy ein bißchen zu bunt treibt.« Julia sprach von Marys Freund, einem gut aussehenden Jungen, der der Ansicht war, Gesetze seien dazu da, gebrochen zu werden.

»Ich nehme eine Teilzeitarbeit in Rifes Rüstungsfabrik an. Pearlie auch.«

»Das könnt ihr nicht machen!« Sie hieb mit der Faust auf die Bank, daß ihre Hand schmerzte. »Autsch, verdammt.«

»Wir müssen, Juts. Nirgendwo sonst können wir sofort Arbeit kriegen. Entweder die Rüstungsfabrik oder die Konservenfa­brik, und beide gehören Rife.«

»Ihr könntet nach Hanover gehen und bei den Shepards arbei­ten. In der Schuhfabrik oder auf dem Gestüt gibt es immer Ar­beit.«

»Ich kann mir das Benzin nicht leisten.«

»Ach was. So arm sind wir nun auch wieder nicht.«

Er blickte mit seinen strahlend grauen Augen in die grauen Augen seiner Frau; sie hatten beide dieselbe ungewöhnliche Augenfarbe. »Liest du keine Zeitung? Julia Ellen, wir treten in den Krieg ein. Es ist nur eine Frage der Zeit, und wenn es so weit ist, gehört Benzin zu den ersten Dingen, die rationiert wer­den.«

»Blödsinn. Hat Roosevelt nicht deswegen das Leih- und Pachtgesetz durchgeboxt - damit wir nicht in den Krieg eintre­ten müssen?«

»Nein, damit versucht er England über Wasser zu halten.«

»Europa kann seine Rechnungen selbst begleichen. Wir waren schon einmal drüben. Noch einmal wird es das amerikanische Volk nicht dulden.«

»Ich sage dir doch - wir werden eintreten.«

»Woher weißt du das alles?«

»Aus Gesprächen.«

»Frauen klatschen. Männer führen Gespräche.« Sie lächelte. »Ihr seid allesamt größere Klatschmäuler als wir.« »Ist doch jetzt egal. Ich muß irgendwo die zweihundert Dollar auftreiben.«

»Hundertneunundneunzig!«, rief sie.

»Dieser eine Dollar ist dir wohl furchtbar wichtig.«

»Ja. Du kannst nicht für einen Rife arbeiten. Du weißt, was die Rifes unserer Familie angetan haben.«

»Das ist lange her. Brutus hat Blut mit seinem eigenen Blut vergolten. Pole und Julius sind ein bißchen besser als ihr Va­ter.« Er sprach von Napoleon und Julius Caesar Rife.

Sie knirschte mit den Zähnen. »Das kannst du mir nicht antun. Du und Pearlie, ihr werdet meiner Mutter das Herz brechen.«

»Hab schon mit deiner Mutter gesprochen.«

»Hinter meinem Rücken?« Sie schlug wieder auf die Bank und bereute es sogleich.

»Seit wann heißt mit deiner Mutter zu sprechen etwas hinter deinem Rücken zu tun? Sie weiß, daß das Geld irgendwoher kommen muß.«

»Ich besorg mir Arbeit. Ich geh wieder in die Seidenfabrik.«

»Die stellen niemanden ein.«

»Woher weißt du das?«

»Weil ich dort zuerst war.«

Entrüstet sprang Juts hoch und trat so fest gegen die Bank, daß sie umkippte. Sie knallte die Tür zu und eilte die Straße hinun­ter.

Chessy seufzte. Sie würde ihm mit Sicherheit das Leben schwer machen, solange es ihr paßte. Er hielt es für das Beste, bei Cadwalder hereinzuschauen, um ein Sandwich zu essen. Heute würde er kein Abendbrot bekommen.

4

Der Wind nahm zu. Juts schritt mit gesenktem Kopf aus. Neben ihr hupte es zweimal. Sie blickte auf. Louise saß am Steuer von Pauls schwarzem Ford Model A und winkte ihr zu. Juts lief zum Wagen und sprang hinein, froh, dem Wind zu entkommen.

»Wo ist Pearlie?«

»Zu Hause.«

»Weiß er, daß du den Wagen hast? Den gibt er dir doch nie.«

»Ich bin aus dem Haus gestürmt und hab ihn mir genommen.«

»Ach, Louise.«

»Ich hab's satt, mir von ihm sagen zu lassen, was ich tun darf und wann ich es tun darf. Ich habe in diese verdammte alte Klapperkiste genauso viel investiert wie er. Vielleicht nicht an Dollars und Cents, aber an harter Arbeit. Wenn ich das Auto fahren will, kann er meinetwegen auf Kohlen sitzen. Er ist ein­fach zu geizig, um einen neuen Wagen zu kaufen. Er sagt, wir müssen den hier fahren, bis er den Geist aufgibt. Na dann, Schwesterherz, fahren wir ihn, bis er den Geist aufgibt.«

Zur Bekräftigung drückte Wheezie aufs Gaspedal, ließ die Kupplung kommen, und sie ruckelten los.

»Habt ihr Knatsch?« Julia sprach aus, was auf der Hand lag.

»Scheißkerl.« Da Louise selten Schimpfwörter benutzte, muß­te der Ausbruch ein regelrechter Vulkan gewesen sein.

»Wir auch. Rife?«

Louise nickte. »Du und ich, wir haben uns gestern gestritten. Im Drugstore sind ein paar Sachen zu Bruch gegangen. Mein Mann führt sich auf, als wären wir nach Atlanta marschiert und hätten es niedergebrannt.« Louise klang ausgesprochen nüch­tern, ihre Stimme verströmte Reife.

»DerClarion hat die Lage nicht gerade verbessert.«

»Wenn ich Popeye Huffstetler in die Finger kriege, werden ihm die Glupschaugen rausflutschen. Außerdem kann er nicht schreiben.«

»Er tut sehr viel für St. Rose, also werden ihm alle den Rücken stärken. Die Leute glauben, was sie da lesen.« Julia sprach von der katholischen Kirche St. Rose of Lima, wo Louise treues Mitglied war und Popeye Küsterdienste verrichtete. Julia war strikte Protestantin, teils aus Überzeugung, teils, um ihre ältere Schwester zur Weißglut zu bringen.

Louise nahm eine Kurve auf zwei Rädern.»>Verwurstet<, hat er behauptet - wir hätten bei Cadwalder die Einrichtung>ver­wurstet<. Und der alte Flavius Cadwalder berechnet den Einzel­handelspreis für den Schaden. Das Mindeste wäre gewesen, uns den Großhandelspreis zu berechnen, nach den hohen Umsätzen, die wir ihm einbringen. Und es heißtverwüstet, nichtverwur­stet. Ich hab ja gesagt, er kann nicht schreiben.«

»Alle geben ihm Aufträge. Er hat ein Monopol.« Sie atmete hörbar ein. »Louise, fahr langsamer.«

»Angsthase.«

»Ich komm vielleicht in den Himmel oder in die Hölle, aber komm ich nach Hause?«

»Klugschwätzerin.« Louise zog ein Gesicht, ging aber vom Gas.

»Geschwister streiten sich nun mal. Ich versteh gar nicht, warum alle auf uns herumhacken. Wir vertragen uns doch jedes Mal wieder.«

»Korrekt.« Louise hatte diesen Ausdruck in ihrem Lieblings­hörspiel aufgeschnappt, das das tapfere England verherrlichte. »Ja, haben wir, aber dieser neuralgische.«

Juts unterbrach sie. »Neurotische.«

»Du weißt, was ich meine, verbessere mich nicht, dieser fette Harper Wheeler hat zugesehen, daß sein Bild zwischen uns beide in die Zeitung kommt. Der wird doch bloß wieder ge­wählt, weil sonst keiner den Posten haben will. Nächstes Jahr tritt er wieder an.«

»Wir könnten als Sheriff kandidieren.«

Die Idee flackerte auf und erstarb. »Wir müßten Betrunkene aufgreifen, die uns den Rücksitz voll kotzen würden.«

Julia ließ ihre Idee fallen. »Wie wär's mit einem Blumenla­den?«

»Den haben sich die Biancas gesichert. Runnymede ist zu klein für zwei Blumenläden.«

Juts plumpste in ihren Sitz, als Louise die Kupplung erneut ruckeln ließ. »Bestimmt friert es wieder heute Nacht. Mir ist kalt«, jammerte Juts.

»Zieh dir die Decke um die Beine.« Louise klopfte auf die ka­rierte Decke, die ordentlich zusammengefaltet zwischen ihnen auf dem Sitz lag, und geriet dabei ins Schleudern.

Juts griff ins Steuer, worauf Louise es noch heftiger in die an­dere Richtung riß. »Paß auf, wo du hinfährst.«

»Hände weg!« Louise fing den großen Schlenker auf, ängstig­te jedoch eine entgegenkommende Fahrerin fast zu Tode.

»Frances Finster sah nicht wohl aus«, bemerkte Juts über die Fahrerin.

Sie fuhren schweigend über die holprigen Landstraßen west­lich der Stadt. Louise schwenkte wieder nach Osten; die langen roten Strahlen der sinkenden Sonne verliehen den wogenden Hügeln von Maryland eine melancholische Färbung.

Julia brach das Schweigen. »Wir müssen etwas unternehmen, Louise. Sonst gehen unsere Männer in Rifes Rüstungsfabrik arbeiten.«

»Ich hab Pearlie gesagt, daß ich ihn verlasse, wenn er das tut.«

Julia stieß einen Pfiff aus. »So weit bin ja nicht mal ich ge­gangen.«

»Der 17. März 1917 scheint gar nicht so lange her. So ist es nun mal mit der Erinnerung.« Ehe es ihr bewußt wurde, war Louise zur Dead Man's Curve gefahren, einer gefährlichen Straßenbiegung, die jetzt im Sonnenuntergang blutrot aussah. Sie hielt den Ford an. Die Schwestern stiegen aus und spähten über den steilen Abhang, wo Aimes Rankin, der Geliebte ihrer Mutter, vor vielen Jahren zu Tode gekommen war; mit zer­trümmertem Schädel war er in der Biegung den Hang hinunter geschleudert. Niemand glaubte an einen Motorradunfall. Aimes hatte versucht, in Rifes Rüstungsfabrik, die dank des Ersten Weltkriegs ein Bombengeschäft machte, eine Gewerkschaft zu gründen. Die Firma hatte sich im Bürgerkrieg etabliert, als der Gründer, Cassius Rife, der sich auf der Nordseite der Mason- Dixon-Grenze in Sicherheit wiegen konnte, lukrative Aufträge aus Washington an Land zog. Er wurde beschuldigt, Waffen in den Süden zu verschiffen. Da man ihm nichts nachweisen konn­te, war es nie zu einer Anklage gekommen. Er war nicht der einzige Kriegsgewinnler, der sich an den Toten jenes grausigen Konflikts bereicherte, doch er war der Einzige, von dem allge­mein vermutet wurde, daß er ein doppeltes Spiel gespielt hatte.

Julia schwankte über dem steilen Abhang, die kalte Luft schnitt ihr ins Gesicht. »Aimes fehlt mir.«

»Er war uns mehr ein Vater als unser eigener Vater.«

»Meinst du, wir sehen unseren Vater jemals wieder?«, fragte Juts wehmütig.

»Ich weiß es nicht, und es schert mich nicht«, antwortete Louise. Sie war damals alt genug gewesen, um sich an den Kummer ihrer Mutter zu erinnern, als Hansford John Hunsen­meir die Familie im Stich ließ.

»Mom sagt, Cassius hat hier oben auch ihren Vater umge­bracht, weil er den Kongreß aufgefordert hatte, Rifes Machen­schaften nachzugehen. Muß seine Lieblingsstelle gewesen sein. PopPop konnte Cassius' Betrügereien nicht ertragen.« Julia hielt einen Augenblick inne. »Manchmal denke ich, Haß ist wie eine Kugel. Sie kann nicht rollen, wenn ihr nicht jeder einen Stoß verpaßt.«

»Ich spreche nicht von Haß«, sagte Louise. »Ich spreche von Ehre. Unsere Männer können nicht für einen Rife arbeiten, für welchen auch immer. Es sind Brutus' Söhne und Cassius' En­kel, und sie haben unsere Leute umgebracht, zwei Generationen hintereinander.«

»Ich weiß.« Julias Stimme wurde matt. »Aber wo kriegen wir das viele Geld her?«

Louise fröstelte. »Laß uns wieder einsteigen.«

Sie stiegen ins Auto und legten die Decke über die Beine. Louise schlug die Arme um sich, um warm zu werden.

»Bis jetzt sind alle Ideen von mir gekommen«, sagte Julia. »Wird Zeit, daß du mal eine hast.«

»Bekleidungsgeschäft.«

»Nicht schlecht. Wir haben einen ausgezeichneten Ge­schmack.«

Louise machte einen Rückzieher. »Bloß, wir haben kein Geld für Kleider, um den Betrieb aufzunehmen.« »Wohl wahr.« Eine schreiende Eule schreckte Julia auf. »Laß uns hier verschwinden.«

Sie fuhren durch die samtig schwarze Nacht.

»Mit vollem Bauch kann ich besser denken«, knurrte Julia.

»Wohin willst du?«

»Das Dolley Madison ist zu weit weg.« Julia liebte das kleine Restaurant an einem Bach auf der Pennsylvania-Seite. »Das Blue Hen ist gut, aber ein bißchen teuer.«

»Laß uns zu Cadwalder gehen.«

»Hmm, wir sollten lieber eine Weile verstreichen lassen, be­vor wir uns da wieder reinwagen.«

»Ich fahr mal vorbei.« Entschlossen fuhr Louise langsam den Emmitsburg Pike entlang, der auf den Runnymede Square mündete. Auf dem Platz angekommen, sauste sie, bloß um Ein­druck zu machen, um die Nordseite herum und kam direkt vor dem Drugstore zum Stehen.

»Chessy.« Juts bemerkte Chesters Wagen, der vor dem Ein­gang parkte.

»Und ich geh mit dir jede Wette ein, daß Paul bei ihm ist.«

»Verdammt. Ich habe wirklich Hunger, aber keine Lust, ihn zu sehen.«

Louise fuhr weiter, für den Fall, daß Pearlie aus dem großen Fenster sah. Sie steuerte die Bäckerei an. »Doughnuts sind bes­ser als gar nichts.«

»Stimmt«, pflichtete Julia ihr bei.

Millard Yost machte ein langes Gesicht, als die Schwestern Hunsenmeir sich durch die Tür schoben. Er rang sich ein »Hal­lo, Mädels« ab.

»Hallo, Millard«, erwiderten sie.

»Na, will mal hoffen, daß ihr euch heute vertragt.« Er lachte nervös und trommelte mit den Fingern auf die teuren Glas­schaukästen.

Louise lachte. »Wir halten zusammen wie Pech und Schwe­fel.«

»Und haben Hunger. Wir nehmen ein Dutzend glasierte Doughnuts, sechs Cake-Doughnuts und sechs mit Schokogla­sur.« »In Ordnung.« Unverzüglich machte er sich daran, den Auf­trag auszuführen.

»Und zwei Kaffee.«

»Schatz.«, rief er.

Lillian, seine Frau, kam von hinten herein. Die Yosts wohnten hinter dem Laden. »Was gibt's?«

»Kannst du den Mädels zwei Kaffee geben, während ich das hier erledige?«

»Hey, Millard, willst du uns etwa loswerden?«, witzelte Julia.

»Aber nein«, log er.

»Im Ernst, was bei Cadwalder passiert ist, war, hm.«, Juts sah Louise an und beschloß, es nicht näher auszuführen, ». bedauerlich.«

»Hier.« Er reichte die Doughnuts in einer glänzenden weißen Papiertüte herüber, während Lillian ihnen Kaffee in Porzellan­bechern gab.

»Wir können eure Becher aber nicht mitnehmen.«

»Ach was, behaltet sie einfach.« Millard gab ihnen das Wech­selgeld heraus.

»Können wir nicht hier essen?«, fragte Louise.

Lillian zeigte auf die Uhr. »Ladenschluß.«

»So, Mädels, ihr geht jetzt und behaltet die Becher.« Millard schob sie zur Tür heraus und schloß ab, als Julia gerade den hinteren Fuß aufs Pflaster setzte.

Sie stiegen wieder ins Auto. »Himmel, Schwesterherz, glaubst du, von jetzt an sind sie alle so?«

Louise schnappte sich einen Schokoladendoughnut. »Sie wer­den es irgendwann vergessen.«

»Vielleicht gehen wir lieber nicht mehr zusammen wohin.«

»Ich finde trotzdem, daß es so schlimm gar nicht war. Wenn bloß der gräßliche Popeye Huffstetler nicht gewesen wäre.«

»Hm, auch wenn er das Bild nicht in die Zeitung gesetzt hätte, es hätte sich wohl herumgesprochen.« Juts seufzte.

»In derTrumpet war nur eine schmale Spalte. Wir gehen von jetzt an in Pennsylvania einkaufen.«

»Sie wollen nicht zugeben, daß derClarion sich den Knüller geschnappt hat.« Der glasierte Doughnut zerging ihr auf der Zunge. »Wheezer, wir können die Becher nicht behalten.«

Louise betrachtete die schweren weißen Becher mit dem schmalen dunkelgrünen Streifen am oberen Rand.

»Ist dein Doughnut schlecht?« Sie merkte, daß Juts sich nicht gut fühlte.

»Nein. Die besten Doughnuts in Maryland. Es ist bloß, ich wünschte, Chessy würde nicht so hart arbeiten, und jetzt muß er auch noch abends ran. Bloß weil.. .du weißt schon.«

»Ja. Du hättest dich nicht über mein Alter lustig machen sol­len, und du hast mir meinen Hut geklaut.«

Juts trällerte: »Wenn du ihn wiederhaben willst, steig aufs Dach, und ich stoß die Leiter weg. Mal sehen, wie lange du da oben hockst.«

Louise wollte schon wieder wütend werden, fing sich aber gleich. Sie fing außerdem einen Blick ihres Mannes im Rück­spiegel auf. Mit finsterer Miene kam er direkt auf sie zu, Chessy im Schlepptau. »Oh-ha.« Sie reichte ihrer Schwester ihren halb­vollen Becher und ließ den Motor an, doch Pearlie, ein drahti­ger, flinker Bursche, packte den Türgriff, bevor sie losfahren konnte.

»Ich sollte dir das Fell gerben«, sagte er. Die Yosts taten in ihrem Laden unterdessen, als würden sie Geld zählen.

»Du bist so süß, wenn du wütend bist.«

Er öffnete die Tür, langte ins Auto und stellte die Zündung ab. »Wenn du mir auch noch die Kupplung ruiniert hast, Louise, schließ ich dich im Haus ein, bis du gelernt hast, dich zu be­nehmen.«

Juts sagte nichts. Chessy stand draußen neben ihrer Tür, die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt. Sie lächelte ver­schämt, öffnete die Tür und reichte ihm einen Doughnut. Ob­wohl er eben einen Hamburger mit allen Schikanen verzehrt hatte, konnte er noch mehr essen.

»Mürbeteig. Deine Lieblingssorte.«

»Wo seid ihr gewesen?«

»Nirgends.« Juts aß mit Unschuldsmiene noch einen glasier­ten Doughnut.

»Louise, geh endlich vom Steuer weg«, sagte Pearlie.

»Ich muß meine Schwester nach Hause fahren.« »Nein, mußt du nicht. Chessys Wagen steht gleich da drü­ben.«

Louise rutschte neben ihre Schwester. Ihre Nähe tat ihr wohl. Juts stieg nicht aus, obwohl Pearlie sich hinters Steuer plump­sen ließ.

»Komm jetzt, Juts«, forderte Chessy sie behutsam auf.

»Moment noch. Wir fühlen uns hundeelend.« Juts ließ den Kopf hängen. Sie fühlte sich elend, aber so elend nun auch wie­der nicht. Louise stieß sie mit dem Ellenbogen an. Juts hob ruckartig den Kopf. »Wir wollen nicht, daß ihr abends arbeitet. Es ist nicht bloß wegen Rifes Rüstungsfabrik. Ihr arbeitet beide so schwer, wir kriegen euch ja kaum noch zu sehen.«

Chessy lehnte sich an die offene Beifahrertür. »Tja, Schatz, wenn ihr Mädels zusammen seid, könnt ihr euch nun mal nicht benehmen. Jemand muß die Rechnungen bezahlen.«

»Es war dumm von uns. Bloß wegen einem dämlichen Hut.« Louises Zerknirschung klang echt.

»Wir werden ihn uns teilen«, bot Juts an, wünschte jedoch umgehend, sie hätte ihren großen Mund gehalten; denn Louise strahlte.

»Damit ist Cadwalder noch nicht bezahlt.« Pearlie hatte sich seinem Schicksal ergeben: abends arbeiten und mit einer über­spannten Frau leben - doch schließlich sagte man ja, daß alle Frauen überspannt seien.

»Ich verkauf den Hut an Bear's zurück«, bot Louise halbher­zig an.

»Wir haben uns entschieden«, verkündete Juts in erstaunlich Achtung gebietendem Tonfall. »Wir sind die Missetäterinnen, und wir sind es, die die Schuld abzutragen haben. Wir gründen ein Geschäft.«

»Was?« Pearlie wirkte erschüttert.

»Ja, genau.« Louise hatte keine Ahnung, wovon Julia sprach, doch in diesem Moment war sie besser beraten, wenn sie sich mit ihrer Schwester verbündete statt mit ihrem Mann.

»Wir eröffnen einen Friseursalon.« Juts hob die Hand, als die Männer zu stammeln anfingen. »Die Gründungskosten sind niedrig - die Lockenwickler haben wir schon - und unsere einzige Konkurrentin, Junior McGrail, ist auf einem Auge blind.«

».und kann mit dem anderen nicht sehen«, beendete Louise schwungvoll den Satz. Gemeint war die Tochter von Idabelle McGrail der Ersten, die letztes Jahr das Zeitliche gesegnet hatte, unbetrauert von den Schwestern Hunsenmeir.

Pearlie ließ die Stirn aufs Lenkrad sinken. »Gott steh mir bei.«

5

»Ich habe es aus zuverlässiger Quelle.« Juts hielt sich am Ar­maturenbrett fest, als Louise die Kupplung losließ und Juts nach vorn geschleudert wurde. »Warum läßt du mich nicht fahren?«

»Du willst fahren - du? Du warst es doch, die in Mutters Ve­randa geknallt ist, worauf mein Klavier runterrollte und.«

»Das ist lange her.«

»Neunzehnhundertsechsundzwanzig.«

»Neunzehnhundertfünfundzwanzig.«

»Sommer sechsundzwanzig, Julia.«

»Ich habe erst im Juni siebenundzwanzig geheiratet, und ich weiß, wann mir das kleine Mißgeschick passiert ist. «

»Klein, ha!« Louise hob die Stimme.

»Chessy hat sich nicht beklagt.«

»Er hat dir den Hof gemacht. Ich kann dir sagen, der neue Kühler hat viel Geld gekostet.«

»Ich hab Recht.«

»Wieso hast du Recht?« Louise wurde ungeduldig.

»Wir haben erst zwei Jahre später geheiratet, also muß es Sommer 1925 gewesen sein.«

»Dein Wille geschehe.«

»Es ist nicht mein Wille. Es ist schlicht und einfach eine Tat­sache. Verdammt, deinetwegen hab ich jetzt vergessen, was ich sagen wollte.«

»Du warst bei Lillian Yost.«

»Ach ja, ich bin reingegangen, um meinen Becher zurückzu­bringen. Hast du deinen zurückgebracht?«

»Ja«, sagte Louise selbstgefällig.

»Ach, und wann?«

»Gleich am nächsten Tag, Julia, wie du es ebenfalls hättest tun sollen.«

»Wollte ich ja.« Julia rutschte auf ihrem Sitz herum. »Aber ich mußte.« Sie setzte sich kerzengerade auf. »Langsam, Wheezie!«

»Ich sehe den Hund. Ich bin ja nicht blind.«

»Wo war ich?« »Lillian Yost.«

»Ach ja, Lillian hat gesagt, daß Barnharts Laden auf der Fred­erick Road zu vermieten ist.«

»Der ist schon seit ein paar Monaten zu vermieten.«

»War aber kein Schild im Fenster.«

»Man muß eben wissen, mit wem man sprechen muß«, säusel­te Louise.

»Weiß ich ja! Deswegen hab ich mit Lillian Yost gespro­chen.« Julias Gesicht lief rot an. »Sie ist eine Barnhart.«

»Das ist mir bekannt.«

»Ich könnte dir eine verpassen. Würdest du mich bitte meine Geschichte zu Ende erzählen lassen.«

»Schon gut, schon gut.« Louise hob beschwichtigend die be­handschuhte rechte Hand vom Lenkrad.

»Ich hab meinen Becher zurückgebracht. Ich hab Lillian ge­fragt, was aus der Schusterwerkstatt wird, nachdem ihr Dad sich zur Ruhe gesetzt hat. Sie sagte, sie wollen sie unbedingt an die richtigen Leute vermieten. Wir sind die richtigen Leute.«

»Hast du ihrdas gesagt?«

»Natürlich.«

»Und.«

»Sie hat gelächelt.«

»Hat sie dir den Mietpreis genannt?«

»Ja. Fünfundvierzig Dollar im Monat, Strom und Heizung ge­hen extra. Sie meint, wir werden viel Strom verbrauchen. Sie sagte, das wäre ein großes Unterfangen, und wir müßten zu­sammenarbeiten. Dann wollte sie wissen, ob unsere Männer einverstanden sind.«

»Was hast du gesagt?«

»Ich hab gesagt, sie sind dafür, daß wir ein bißchen Geld ver­dienen.«

»Hm.« Louise runzelte die Stirn. »Das ist nicht direkt gelo­gen. Paul hat geschworen, keinen Finger zu rühren. Ich hab gesagt:>Ist mir ganz recht. Ich hab mein Nadelgeld gespart. < Er hat keine Ahnung, wie viel.«

»Wie viel?« Juts bekam einen Adlerblick.

»Sag ich dir nicht.«

»Warum nicht?« »Weil du meinen könntest, wir hätten ein Sicherheitspolster, dabei haben wir keins. Es ist mein Geld, nicht deins.«

»Hab ich gesagt, es wäre meins?«

»Nein, aber ich weiß, wie du denkst, und Geld rinnt dir nur so durch die Finger. Von jeher, Julia.«

»Das mußt du gerade sagen - wo du Unsummen bei Bear's läßt.«

»Dabei fällt mir ein - Ostern will ich den Hut«, erklärte Loui­se.

»Ich krieg ihn Ostern. Ich hab gesagt, wir teilen ihn uns, aber ich bestimme, wann, oder du mußt wieder aufs Dach.«

Die Wolken im Westen verdunkelten sich, und die Tempera­tur sank.

»Sieht nach Schnee aus.«

Juts kurbelte das Fenster herunter und schnupperte. »Riecht auch so. Wird aber nicht viel. Macht mich trotzdem melancho­lisch.«

»Ja. Was meinst du, wie viel Arbeit uns Barnharts Laden ma­chen wird?«

»Eine Menge. Es gibt noch einen netten kleinen Laden in der Gasse hinter der Bank, falls es mit Barnhart nichts wird.«

»Wir müssen an der Straße liegen, und Barnhart ist gleich hin­ter dem Kino am Platz. Ich wünschte, wir könnten einen Laden am Platz bekommen - auch wenn er auf der Masonseite der Grenze liegt.«

»Dann müßten wir uns mit den Gesetzen von Pennsylvania herumschlagen, und die von Maryland sind schon schlimm genug. Ich kann Politiker nicht riechen. Eine Horde Stinkstie­fel.«

»Ich könnte sie besser riechen, wenn sie bessereZigarren rau­chen würden.«

Juts kicherte, weil Louise unfreiwillig komisch war. »Wie hast du's geschafft, den Wagen wieder zu kriegen?«

»Ich hab drum gebeten. Bin einfach zur Tür reinmarschiert und hab gesagt:>Paul, ich brauch den Wagen.<«

»Ich glaub dir kein Wort.«

»Ich habe hinzugefügt, daß ich ihn für Celeste brauche.«

»Warum nimmst du dann nicht Celestes Wagen?« »Der ist zu groß. Den könnte ich nicht fahren.«

»Den hier kannst du auch nicht fahren. Ich wünschte, du wür­dest mich fahren lassen.«

»Du bist zu impulsiv.«

»Ich hab dir nicht Frappe ins Gesicht geklatscht. Du hast an­gefangen, und du kannst zu mir nach Hause kommen und den Erdbeerfleck aus meinem Kleid entfernen.«

»Schokolade ist schlimmer.«

»Selbstverteidigung.« Juts drehte an ihrem Trauring. »Wieso schickt Celeste dich überhaupt zu ihrer Nichte, um mit ihr zu sprechen? Ich fand schon immer, daß Diddy Van Düsen einen Dachschaden hat. Den hat sie aber ehrlich erworben. Ihre Mut­ter war vollkommen plemplem.«

Louise wurde ernst, sie kniff den Mund zu einem dünnen ro­ten Strich zusammen. »Ich habe Carlotta Van Düsen verehrt. Sie hat mich zum wahren Glauben geführt.«

»Ja, ja.« Juts tat lässig ab, was sich zu einem verzückten Be­kehrungsreport hätte auswachsen können. »Du kannst es mir ruhig sagen, weil ich sonst Mom frage. Wenn sie's mir nicht sagt, frag ich Celeste.«

»Ist das nicht toll, daß Francis Chalfonte diesen hohen Posten bei Roosevelt in Washington bekommen und Rillma Ryan ein­gestellt hat?« Louise sprach von Celestes gut aussehendem Nef­fen, der die vierzig überschritten hatte. Rillma hatte vergange­nes Jahr den Abschluß an der High School von Süd-Runnymede gemacht. Celeste war mit massenhaft Nichten und Neffen ge­segnet.

»Hohes Tier. Erzähl's mir.«

»Meine Lippen sind versiegelt.«

»Wenn ich dir eine auf den Mund schelle, nicht mehr.«

»Sei nicht kindisch. Über manche Dinge schweigt man besser. Außerdem posaunst du's in der ganzen Stadt herum, und was dann?«

»Du willst wirklich einen Tritt in den Arsch, wie?«

»Sei nicht so ordinär, Julia, das schickt sich nicht.« Sie schniefte, dann sagte sie: »Gib mir den Hut zurück.«

»Kommt nicht in die Tüte.«

»Dann hör auf, mich mit Fragen zu löchern.« »Ich hab angeboten, den Hut mit dir zu teilen. Das ist mehr, als du je für mich getan hast.«

»Du hast es bloß angeboten, um vor deinem Mann gut dazu­stehen. Sonst hättest du es nie getan. Du kannst sehr selbstsüch­tig sein.« Sie hob wieder die Hand. »Aber wenn's um die Wurst geht, bist du unschlagbar.«

»Eine echte Hunsenmeir.« Juts war entschlossen, Louise ihre Mission zu entlocken. »Ich kann mich gar nicht erinnern, daß McSherrystown so weit ist. Ich werde ein bißchen schlafen.«

»Wir sind gleich da.«

»Ein kurzes Nickerchen ist besser als gar nichts.«

»Gibst du mir meinen Hut zurück?«

»Willst du nicht, daß ich ein Nickerchen mache?«

»Ich will meinen Hut wiederhaben. Immerhin könnte mein Abkommen mit Celeste auchdich betreffen.«

»Du kannst es mir erzählen, wenn du bei Diddy was erreichst. Wenn nicht, hab ich nichts verpaßt.« Julia schloß listig die Au­gen.

Ein leichter banger Stich machte sich in Louises Brust be­merkbar. Sie hatte gedacht, sie hätte Julia dort, wo sie sie haben wollte. »Es ist wirklich eine gute Vereinbarung.«

»Hm.«

»Celeste möchte, daß wir es schaffen.«

»Gut. Sie kann unsere erste Kundin sein.«

»Ramelle macht ihr die Haare.«

»Und alles andere.« Juts öffnete die Augen. »Meinst du, Men­schen schlafen miteinander, wenn sie alt werden? Die beiden sind ziemlich alt.«

»Frauen schlafen nicht richtig miteinander. Sie sind Gefähr­tinnen, die sich ab und zu küssen.«

»Und ein Bär scheißt nicht in den Wald.«

»Hörst du wohl auf, soordinär zu sein. Ich muß mich auf den Besuch bei Diddy einstellen.«

Juts trällerteErbarme dich meiner< und schmetterte dann Heilig, heilig, heilig<.

»Du bist mir eine große Hilfe.« »Das freut mich sehr.« Juts lächelte wie die Grinsekatze. »Ich hoffe, Diddy ist gar nicht da - körperlich, meine ich. Geistig war sie es ja nie.«

»Elizabeth ist verwirrt, das stimmt, schlau, wenn's drauf an­kommt. Sie hat die Akademie übernommen, nachdem Carlotta zu ihrer himmlischen Belohnung aufgefahren war. Weißt du, man kann nicht ganz blöd sein, wenn man das macht.«

»Ich hätte meine Belohnung lieber hier auf Erden.«

»Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel kommt.«

»Das hat garantiert ein armer Schlucker geschrieben.«

»Das steht in der Bibel!«

»Du bist nicht die Einzige in der Familie, die die Bibel gele­sen hat. Ichglaube bloß nicht alles, was da drin steht, das ist der Unterschied, und außerdem will ich nicht bei Diddy Van Düsen rumsitzen. Sie langweilt mich zu Tode.«

»Du wirst tun, was man dir sagt.«

»Ach, und wer sagt's mir?«

»Celeste.«

»Moment mal, Schwesterherz, das ist deine Mission, nicht meine.«

»Aber ich brauche dich dabei.«

»Ich werde keinen Finger rühren. Ich bin lediglich deine Be­gleitung. Du und Celeste könnt aushecken, was ihr wollt. Haltet mich da raus.«

»Aber du wirst davon profitieren.«

»Ich hör mir das Gefasel über Bauvorhaben und den Sport- und den Musikunterricht nicht an. Ohne mich.« Sie schüttelte den Kopf.

»Celeste hat versprochen, für ein volles Jahr für unsere La­denmiete aufzukommen, wenn ich Diddy überreden kann, ihre Aktien in der Chalfonte-Firma zu belassen. Und darum mußt du mir helfen.«

»Was haben Diddys Aktien mit uns zu tun?«

Louise prüfte ihren Lippenstift im Rückspiegel - keine gute Idee, denn sie kam von der Straße ab. »Hoppla.« Die Preisgabe vertraulicher Informationen zementierte Louises Bedeutung. Sie würde jedoch nicht zu viel verraten.

»Von wegen - du solltest mich fahren lassen.«

»Du kannst Pearlies Wagen nicht fahren.«

Juts feixte. »Du auch nicht.«

»Du meinst wohl, ich weiß nicht, was du da tust - ich weiß es aber. Du meinst, ich vergesse mich und erzähl dir alles, was Celeste mir erzählt hat, aber das tu ich nicht. Außerdem hab ich's satt, daß du dauernd auf meinem Fahrstil rumreitest. Du wiederholst dich. Das reicht mir.«

»Hör mal, Wheezer, ich bin nicht so blöd, wie du denkst, also, was soll's.« Juts ignorierte die Bemerkung ihrer Schwester über ihre Fahrkünste. »Die Chalfontes planen irgendeine Fusion oder wollen einen fetten Regierungsauftrag an Land ziehen, und Diddy wird quer schießen, weil es sich um Rüstungsgut handelt. Diddy ist überzeugte Pazifistin. Die Chalfontes fabrizieren Ku­gellager, also.«

»Halt bloß den Mund.«

»Mach ich.« Juts seufzte schwer. »Fragst du dich nicht manchmal, wie Major Chalfonte das geschafft hat? Als unser Großvater aus dem Krieg kam, war er zu nichts zu gebrauchen.«

»Hmm.« Louise ging vom Gas, um eine tückische Kurve zu nehmen. »Major Chalfonte hat immer gesagt:>Der Krieg hat mich gelehrt, daß Maschinen die Zukunft gehörte. < Deshalb hat er angefangen, Kugellager herzustellen.«

»Er starb, bevor du auf der Welt warst.«

»Das weiß ich.«

»Dann tu nicht so, als ob du ihn gekannt hättest.«

»Celeste hat es mir erzählt. ich habe ihn gekannt, gewisser­maßen.«

»Sag mir, warum will Celeste ein Jahr für unsere Miete auf­kommen, aber nicht für den Schaden?«

»Weil wir was lernen müssen, wenn wir arbeiten.«

»Ich hab was gelernt.«

»So?«

»Mich nie neben dich zu setzen, wenn du Erdbeerfrappe ißt.«

Louise atmete laut aus. »Du schaffst mich. Ich muß jetzt kon­zentriert sein.«

»Schönster Herr Jesu, König der Schöpfung<.«, sang Julia.

»Hör auf.« »Ich habe eine schöne Stimme.«

»Hab ich das bezweifelt?« Louise sah auf ihre Armbanduhr. »Noch ein paar Minuten.«

»Sind wir auch bestimmt auf der richtigen Straße?«

»Julia, wie oft bin ich die Straße nach McSherrystown schon gefahren?«

Julia zog ihre Schuhe aus und bog ihre Zehen. »Irgendwie find ich's schade, daß Barnhart aufgehört hat.«

»Geh zu Cashton.«

»Wenn es genug Arbeit für zwei Schuster gibt, dann gibt es auch genug Arbeit für zwei Friseursalons. Wie Junior McGrail wohl reagieren wird?«

»Uns Honig um den Bart schmieren und hinter unserem Rücken runterputzen.«

Julia schwieg kurz, dann sagte sie: »Was meint Pearlie dazu?«

»Daß es niemals hinhaut - aber er hat keine Stelle in Rifes Rüstungsfabrik angenommen.«

»Ist er dir noch böse?«

»Vielleicht ein bißchen. Er sorgt sich zu sehr um Mary, um sich über mich aufzuregen. Mir schlägt sie auch aufs Gemüt. Wenn wir das Geld hätten, würden wir sie auf die Immaculata­Akademie schicken.«

»Das würde nichts nützen.«

»Eine katholische Erziehung ist die beste, die es gibt, und die Immaculata ist eine der besten Schulen weit und breit.«

»Das hab ich nicht gemeint. Ich meine, sie würde sich mit Ex­tra Billy davonstehlen, egal, wo ihr sie hinschickt. Sie ist ver­liebt, und sie glaubt, sie ist der einzige Mensch, der jemals so empfunden hat. Du warst auch mal so. Du hast auch mehr Trieb als Verstand.«

»So war ich ganz bestimmt nicht. Ich war vernünftig. Im Ge­gensatz zu Mary.«

»Louise«, hielt Juts ihr vor, »du warst von Pearliebesessen. Du hast seinen Namen in deine Schulbücher geschrieben, und Miss Dwyer hat puterrote Flecken gekriegt, als sie sah, daß du Staatseigentum verunstaltest. Du warst schrecklich.«

»War ich nicht. Ich habe Mutter nicht angelogen.«

»Nein.« »Und ich war nicht frech zu ihr. Du dagegen warst eine Ner­vensäge.«

»Zu Recht. Pearlie hat mir immer zehn Cent gegeben, damit ich euch beide allein lasse. Ich hab einen ganz schönen Reibach gemacht.« Sie lächelte. »Ich glaube, du warst mehr in Pearlie verliebt als ich in Chester. Aber du warst jünger, als du ihn ken­nen gelernt hast. Ich liebe Chessy, aber ich glaube, ich war ihm nicht ganz so verfallen.«

»Nein, aber du warst ja schon immer unabhängig.«

»Er ist mir noch immer böse.«

»Oh.«

»Er kommt spät von der Arbeit nach Hause und liest Zeitung. Er spricht kaum mit mir.«

»Chessy?« Das überraschte Louise. Ihr Schwager war ein be­sonnener Mensch.

»Gestern ist er eine Dreiviertelstunde mit Buster spazieren ge­gangen.«

Buster war ihr Irish Terrier, ein munteres, ausgelassenes Kerl­chen, das an Juts und Chessy ebenso hing wie an Yoyo, der Katze.

»Na und? Chester geht gern mit Buster spazieren.«

»Ich weiß, aber gewöhnlich geh ich mit.«

»Er ist krank vor Sorge wegen dem Geld.«

»Ich auch!« Juts zog ihre Schuhe wieder an. »Ich glaube, mei­ne Füße wachsen. Jedenfalls, ich tu was nach dem Schlamassel, den wir angerichtet haben. Ich bin bereit zu arbeiten, aber Ches­sy sagt, man braucht Geld, um Geld zu verdienen. Ich hoffe sehr, daß du bei Diddy was erreichst, denn dann brauchen wir für den Anfang nicht so viel Geld.«

»Ja.« Louise war ebenfalls besorgt. Eigentlich war sie zu Ce­leste gegangen, um sie um ein Darlehen zu bitten. Ehe sie den Mund aufmachen konnte, bat Celeste sie, bei Diddy zu vermit­teln. Da Diddy und Louise zusammen zur Schule gegangen und Freundinnen geblieben waren, hatte sich Louise gerne bereit erklärt. Es ersparte ihr die Demütigung, der Arbeitgeberin ihrer Mutter etwas zu schulden. Als sie endlich zu Wort kam, bat sie um die Miete für ein Jahr. Celeste hatte gelacht und sie ver­schlagen genannt. Verschreckt wäre zutreffender gewesen.

»Weißt du, was Chessy gestern Abend zu mir gesagt hat?«, fuhr Juts fort. »Er hat gesagt, die gefährlichste Speise der Welt sei eine Hochzeitstorte.«

6

Diddy Van Düsen pflegte die Askese der unermeßlich Reichen. Selbstverleugnung in solch verschwenderischen Ausmaßen verschlug Juts die Sprache. Mit Freuden hätte sie die abgelegten Kleidungsstücke genommen, die Diddy an die Armen verteilte. Nicht, daß Juts so entsetzlich arm war, doch ihr war bewußt, daß sie sich im amerikanischen Klassensystem mit Mühe und Not in der unteren Mittelschicht hielt. Ihre gute Herkunft hielt sie aufrecht, aber nicht so sehr wie Louise, die die Töchter der Revolution anrief, sobald sie sich bedroht fühlte. Erlauchte Vor­fahren hatten Julia Ellen nie einen Penny eingebracht, also ent­hielt sie sich des großen Südstaaten-Lasters der Ahnenvereh­rung.

Als sie jetzt mit Diddy über das Immaculata-Grundstück schritt, bemühte sie sich um eine heitere Miene.

»Wir haben einen neuen Schlafsaal gebaut, seit du zuletzt hier warst.«

»Wunderbar«, gurrte Louise.

»Wir bemühen uns um strenge Disziplin - immerhin steckt das Leben voller Prüfungen.« Diddys ausgeprägte Züge glichen ihren blassen Teint aus. Sie sah eher wie eine Van Düsen aus als wie eine Chalfonte.

»Wird dir das hier nie zu viel?«, entführ es Juts.

Diddy blieb an der Sonnenuhr mitten im Innenhof stehen. »Nein, ich führe Mutters großartiges Werk fort.«

»Deine Mutter war eine Heilige.«

Juts unterdrückte ein Feixen, als Louise Diddy mit Lobprei­sungen, die ihrer verstorbenen Mutter, ihr selbst und Immacula­ta galten, überschüttete. Als Juts wieder im Auto saß, schmerz­ten ihre Gesichtsmuskeln von all dem falschen Lächeln.

Louise frohlockte über ihren Sieg.

»...bei der bloßen Erwähnung gottloser Menschen fing Car­lotta an zu zittern. Aber es ist wahr, weißt du.«

»Was ist wahr?«

»Julia Ellen, du hast mir überhaupt nicht zugehört.« »Doch, hab ich wohl. Du hast über die Engländer und die Deutschen gesprochen, die in Nordafrika kämpfen. Es war doch Nordafrika?«

»Liest du keine Zeitung?«

»Ich lese den Sportteil von vorne bis hinten. Die Orioles wer­den dieses Jahr groß rauskommen.«

»Juts, außer dir schert sich kein Mensch um eine Zweitliga­mannschaft. Die Orioles sind kleine Fische; in der ersten Liga, da spielt die Musik.«

»Baseball ist Baseball!«

»Also, was ich sagen wollte, ich habe den Verkauf ihrer Akti­en zur Sprache gebracht und ihr offen gesagt, daß Celeste mich geschickt hat, weil sie weiß, wie sehr mir diese wichtigen mora­lischen Angelegenheiten am Herzen liegen.«

»Ha.«

»Sie liegen mir sehr am Herzen - jedenfalls, ich habe ihr ge­sagt, so schlimm es im Augenblick auf der Welt zugeht, es wird noch viel schlimmer kommen, wenn die Kommunisten sich zurücklehnen und zugucken, wie Deutschland alle in die Knie zwingt, um dann einzugreifen und das geschwächte Deutsch­land einzunehmen, während sie ganz Europa überrennen. Sie glauben nicht an Gott. Sie meinen, alles dreht sich ums Geld.«

»Tut es das nicht?«

»Julia!«

»Schon gut, schon gut. Gute Arbeit. Celeste wird dir dankbar sein.«

»Eine Jahresmiete!«

Juts' Miene hellte sich auf. »Wir wär's mit einer gestreiften Markise draußen? Rotweiß.«

»Grünweiß.«

»Das würde wie ein Lebensmittelladen aussehen. Wir müssen knalliger sein, und wir dürfen Junior keine Angriffsfläche bie­ten. Das müßte sie sich schon aus den Fingern saugen - ver­stehst du, was ich meine?«

»Hm...«

»Rotweiß.«

»Rotweiß«, stimmte Louise zu.

Juts betrachtete die dunkelgrauen Wolken, die von Westen he­ranzogen. »Louise, ich bin richtig stolz auf dich. Ich hätte nicht mit Diddy reden können. Ich kann nicht mal mit meinem Mann reden.«

»Ach, das geht vorbei. Was du brauchst, ist ein Kind.«

»Es ist ja nicht so, als hätte ich mich nicht bemüht. Er will nicht zum Arzt gehen. Ich hab ihm sogar erzählt, daß ich dort war und bei mir alles in Ordnung ist.«

Der erste Regentropfen, der auf die Windschutzscheibe platschte, zwang Louise, langsamer zu fahren. »Ich fahr nicht gern im Regen.«

»Dann geht's uns beiden so, wenn du am Steuer sitzt. Warum läßt du mich nicht fahren?«

»Ich hab dir doch gesagt, Pearlie würde sterben oder mich umbringen. Ich hab den Wagen heute nur gekriegt, weil Pearlie sich bei Ihrer Hoheit lieb Kind machen will.«

»Nicht dumm von ihm. He, Wheezer, halt doch mal an der Es­so-Tankstelle da vorne, ich brauche eine Coca-Cola.«

Während Juts zwei kalte Flaschen aus dem großen roten Kühlautomaten zog, sah Louise den spritzenden, mit Graupeln vermischten Regentropfen zu.

»Jetzt muß ich den Wagen waschen und wachsen.«

»Die Männer lieben ihre Autos mehr als uns.«

»Pearlie sagt, der Wagen ist zuverlässiger und wirft nicht mit Tellern nach ihm.«

Juts schnippte den Metallverschluß von der Flasche. Er fiel mit einem Klick in den Schlitz. Sie reichte ihrer Schwester die Flasche.

»Ich bringe Celestes Geld morgen früh zu Barnhart. Wollen wir uns um neun am Laden treffen?«

»Abgemacht.«

Sie stiegen wieder ins Auto; Regen und Graupel platschten in grauen Strömen herunter.

Juts schlug vor: »Laß uns warten, bis es vorbei ist. Außerdem hätte ich gern ein paar Erdnüsse.«

»Du kannst sie nicht im Auto essen. Ein Fitzelchen Schale, und mein Mann zieht mir bei lebendigem Leibe die Haut ab.« »Schon gut. Schon gut.« Juts schlug die Tür zu und flitzte zu dem kleinen Verkaufsstand.

Sie kam mit gerösteten Erdnüssen und noch zwei Cola zu Louise zurück. Louise stieg aus. Frierend kauerten sie sich unter das Vordach, aßen und tranken.

»Verdammt, das wird ja ekelhaft«, klagte Juts. »Findest du nicht auch, daß der Frühling Hoffnungen weckt und wumms, liegt man wieder am Boden? Ähnlich wie meine Orioles. Ich kauf mir dieses Jahr eine richtige Baseballkappe.«

»Quatschen macht dick und Schlägerschwingen schlank. Das hat Aimes immer gesagt.«

Juts wischte sich die Hände ab, und das Salz fiel herunter wie kleine Funken. »Ich kann den Spätsommer nicht erwarten, wenn ich geröstete Erdnüsse kriege. Was gibt es Besseres?«

»Mommas Brathuhn.«

»Hmm.« Juts hüpfte ins Auto. »Komisch, woran man sich er­innert. Das hat Aimes tatsächlich gesagt, nicht? Ich erinnere mich, daß er gesagt hat:>Was man nicht in der Hand hat, kann man nicht halten.<«

Sie fuhren nach Runnymede zurück. Juts war ungewöhnlich still.

»Bist du besorgt?«

»Weswegen?«

Louise antwortete: »Weil wir ein Geschäft gründen. Es gibt viel zu tun.«

»Nein.«

»Sieht dir nicht ähnlich, so still zu sein. Du bist dieser Tage wie eine Glühlampe, Julia, gehst ständig an und aus.«

»Ich lasse meine Gedanken schweifen.« Sie verlagerte das Gewicht. »Ich weiß nicht. Ich hab ein komisches Gefühl.«

»Daß jemand stirbt?« Louise malte sich gern Katastrophen in üppigen Ausmaßen aus.

»Nein.«

»Hast du Schwarzdrosseln an dein Fenster picken sehen?«

»Für eine Katholikin bist du ganz schön abergläubisch.«

»Bin ich nicht, aber alle Welt weiß, wenn eine Schwarzdrossel an dein Fenster pickt, stirbt jemand, und zwar bald.«

»Nein, ich glaube nicht, daß jemand sterben wird. Nein.« »Ist deine Periode ausgeblieben?« Louise hob hoffnungsvoll die Stimme.

»Nein. Und hör auf, mich zu löchern.«

»Ich löchere dich nicht.« Louise atmete ein, und ihre Stimme senkte sich zur Tonlage für wichtige Mitteilungen. »Aber ich weiß, daß keine Frau richtig vollkommen und glücklich ist, solange sie keine Kinder hat.«

»Mary und Maizie reißen dich regelmäßig zu Freudensprün­gen hin.«

Louise tat diese sarkastische Bemerkung naserümpfend ab. »Pubertät. Sie werden erwachsen. Sind wir auch geworden.«

»Das möchte ich bezweifeln. Manchmal denke ich, man wird gar nicht erwachsen, man wird bloß alt.«

»Frauen werden erwachsen, es bleibt uns nichts anderes üb­rig.« Sie verlangsamte das Tempo, als sie sich Julias kleinem Haus mit den ordentlich gestutzten Hecken näherte. »Vielleicht bist du müde. Ich werde gereizt, wenn ich müde bin.«

»Nein, ich bin nicht müde, nicht nach zwei Colas. Ich hab bloß so ein komisches Gefühl. Als würde mir das Leben einen tückischen Ball zuwerfen.« Sie hielt einen Moment inne, dann gab sie sich einen Ruck und sagte mit breitem Lächeln: »Darum brauche ich auch die Orioles-Kappe.«

7

Rambunctious - der Übermütige - machte seinem Namen alle Ehre. Als Celeste von einem Ausritt, der eigentlich ein erhol­samer Spazierritt hätte sein sollen, in den Stall zurückkehrte, war sie erschöpft, ausgelaugt, und sie fragte sich, ob das Alter sie beschlich. Wenn sie den Spruch>noch immer schön< noch ein einziges Mal hörte, würde sie wahrscheinlich schreien. Ein schneidender Wind von Norden peitschte ihr ins Gesicht. Ihre Wangen glänzten rosig und feucht.

»Wie war er, Miz Chalfonte?«, fragte O. B. Huffstetler, Po­peyes Bruder.

»Ungezogen. Sie wissen, wie er sein kann, wenn er testen will, ob man im Sattel eingeschlafen ist.«

O. B. lachte. »Zeit, ihn Mores zu lehren?«

»Ich gebe ihm einen Tag, sich zu besinnen. Wenn er morgen noch unartig ist, werde ich ihn an seine Manieren erinnern müs­sen.« Sie ließ sich in der Sattelkammer auf einen Stuhl fallen, während O. B. Rambunctious absattelte, der jetzt engelsgleich dastand. Sie rief: »Wann ist es bei Ihrer Frau so weit?«

»In ungefähr sechs Wochen. Fängt an, sich bei ihr bemerkbar zu machen.«

»Das will ich meinen. Sie werden ein guter Vater sein.«

»Danke, Ma'am.«

»Ihr Bruder steckt ja in schönen Schwierigkeiten mit den Schwestern Hunsenmeir.«

»Ich habe ihm gestern Abend gesagt, er soll nur bald was Gu­tes über sie schreiben, sonst zerreißen sie ihn in der Luft.«

»Zerreißen? Sie machen Pastete aus ihm.«

»Ma'am?«

»Sie zerhacken ihn in kleine Stücke.«

»O weh.« O. B. schüttelte den Kopf.

»Ich habe eine Idee, wie man ihm helfen könnte.« O. B. hielt mit Striegeln inne und blickte über den Widerrist des Pferdes, während Celeste fortfuhr.

»Wie Sie wissen, eröffnen die Mädels in Barnharts alter Schu­sterwerkstatt einen Friseursalon. Vielleicht könnte Popeye an dem Tag, an dem sie ihre Pforten öffnen, einen Artikel schrei­ben. Ein neues Geschäft ist immerhin die Aufmerksamkeit des Clarion wert.«

»Ich wollte, ich wäre so schlau wie Sie, Miz Chalfonte.«

»Das ist sehr lieb von Ihnen, O. B. aber Sie verstehen mehr von Pferden als ich, und wenn ich drei Leben hätte, um zu ler­nen. Es gibt viele Formen von Schlauheit.«

»Danke, Ma'am.«

»Wundern Sie sich nicht manchmal, daß Sie und Popeye aus derselben Familie stammen? Sie sind so verschieden.«

Er fing wieder an zu striegeln. »Popeye hat sich immer für was Besseres gehalten. Daß er auf die Universität von Maryland gegangen ist, hat der Sache die Krone aufgesetzt.«

»Bei Carlotta war es ihr Sommer in Rom, neunzehnhundert­drei. Sie hat einen Kardinal im roten Ornat zu viel gesehen. Ich glaube, wenn man mit seiner Familie zurechtkommt, kommt man mit jedem zurecht.«

»Da ist was Wahres dran.« Er hielt inne. »Mein Bruder soll nur schnell was unternehmen. Er ist fünfundzwanzig und kann kein Mädchen finden, das ihm zusagt. So ein mäkeliger Kerl ist mir noch nicht untergekommen.«

»Miss Chalfonte.« Eine Stimme rief vom Ende des Stalles, wo das große Tor offen stand.

»Ich bin in der Sattelkammer.« Celeste erkannte Rillma Ryans Stimme.

Rillma grüßte O. B. im Vorbeigehen, dann stürmte sie in die eichengetäfelte Kammer. »Vielen, vielen Dank.«

»Wofür?«

»Daß Sie mir die Stelle in Washington besorgt haben.«

Celeste bemerkte, wie sanft Rillmas braune Augen waren, wie glänzend ihre schwarzen Haare, wie vollendet geformt ihre Lippen. Sie hatte gewußt, daß Rillma hübsch war, doch in den letzten Wochen war sie zu einer schönen Frau gereift, oder viel­leicht fiel es Celeste erst jetzt auf.

»Ich bin froh, daß es geklappt hat. Es ist eine tolle Chance. Und du wirst Francis eine große Hilfe sein. Er ist wie alle Chal­fontes ein Stratege, kein Taktiker. Ich weiß, daß du die Details in seinem Büro im Griff haben wirst.« »Wenn ich jemals irgend etwas für Sie tun kann, Miss Chal­fonte, sagen Sie es mir. Für Sie tu ich alles.« Rillmas Aufre­gung wirkte ansteckend.

»Ich werde es im Kopf behalten.«

»So, ich muß gleich zurück und packen.«

»Wann fährst du?«

»Montag.«

»Ah, dann hast du noch eine Menge zu tun.«

Spontan küßte Rillma Celeste auf die Wange, dann stürmte sie so atemlos heraus, wie sie hereingekommen war.

Als sie das schöne Mädchen bei dem offenen Tor ankommen sah, die jugendliche Gestalt von einer Lichtflut umkränzt, blieb Celeste fast das Herz stehen, und sie fragte sich, ob sie nicht einen furchtbaren Fehler gemacht hatte.

8

Chester Smith war Fußlahm vom Scharwenzeln. Walter Falken­roth, der Chessys größter Kunde war, solange sein neues Haus gebaut wurde, war kein unfreundlicher Mensch, doch wenn er sagte: »Spring!«, erwartete er, daß Chessy fragte: »Wie hoch?« Sofern Chessy jedoch gehofft hatte, in der Küche seiner Mutter ein bißchen Frieden zu finden, wurde er schwer enttäuscht.

Chessys Mutter und seine Frau verachteten einander von gan­zem Herzen, und das schon, seit er und Juts sich kennen gelernt hatten. Am Tag ihrer Hochzeit waren alle Freunde beim Gottes­dienst versammelt, bis auf Mutter Smith, die Krankheit vor­schützte. Beide Frauen glücklich zu machen oder sie wenigstens davon abzuhalten, sich gegenseitig an die Gurgel zu springen, erforderte elegante Ausweichmanöver.

Mutter Smith, die gebaut war wie ein Schrank, schrubbte ihr Spülbecken, während sie ihn zusammenstauchte.

».unter dem Pantoffel.«

»Ich bitte dich, Mutter.«

»Doch, sie hat dich vollständig unter dem Pantoffel. Der Rest der Familie wird hier sein, und du solltest auch hier sein.«

»Das kauen wir jedes Jahr durch.« Er saß auf dem Fußboden, die Beine von sich gestreckt, und beugte sich zurück, um ein Scharnier an einem Schränkchen rechts vom Spülbecken zu reparieren.

»Du gehörst hierher, zu mir. Nicht zu diesen Hunsenmeirs. Die passen nicht zu uns. Sie kann zu ihren Leuten gehen, du kommst nach Hause.« Als ihr Sohn nicht antwortete, fuhr sie fort: »Du hast unter deinem Stand geheiratet, Chester.« Sie stieß einen gekonnten Seufzer aus. »So etwas kommt vor, aber du brauchst dich nicht mit ihnen gemein zu machen. Du gehörst am Ostersonntag hierher, mit deinen Brüdern. Oh, Onkel Will kommt aus Richmond, und Onkel Lou kommt mit dem Zug aus Harrisburg.«

Ächzend zog Chessy eine Schraube fest, und mit jeder Dre­hung spannten sich auch die kräftigen Muskeln seines Unterarms an. »Mutter, Weihnachtsessen hier, Osteressen dort. Laß uns nicht solche Umstände machen.«

»Ich mache keine Umstände. Ich versuche dich zur Einsicht zu bewegen.« Sie wrang ihren Spüllappen aus und drehte das Wasser ab. »Um in dieser Welt weiter zu kommen, muß man sich mit den richtigen Leuten verbinden.«

»Ich bin ganz zufrieden.«

»Es könnte besser sein.«

»Mir gefällt, was ich tue.«

»Du bist der Älteste, Chester. Du solltest mit gutem Beispiel vorangehen. Joseph ist schon wieder befördert worden.« Sie hielt inne, und bevor sie »bei Bulova Watch« sagen konnte, wo Joseph arbeitete, unterbrach ihr Sohn sie ruhig.

»Ich bin nicht so klug wie Joseph und nicht so ehrgeizig wie Sanford.« Chester nannte seine Brüder wohlweislich nicht bei ihren Spitznamen, die seine Mutter zu gewöhnlich fand. »Ich komme zurecht.«

Rupert Smith, wie Chester ein kräftiger Mann mit breitem Brustkasten, öffnete die Hintertür. »Hallo, mein Sohn.«

»Hi, Dad.«

»Chester, kein Slang in meiner Gegenwart.«

Rupert legte die zusammengefaltete Zeitung, die er unterm Arm trug, auf den Tisch, als sei sie aus zartem Porzellan. »Ich könnte ein kaltes Bier vertragen. Leistest du mir Gesellschaft?«

»Klar.«

»Wenn ihr Alkohol trinken wollt, dann geht nach hinten auf die Veranda. Ich will nicht, daß jemand ins Haus kommt und.«

»Jo, wir trinken unser Bier hier in der Küche.«

Sie schmiß einen Holzlöffel hin. »Dann könnt ihr es euch sel­ber holen.«

Rupert ging zu dem kleinen hölzernen Eisschrank mit dem Eiskasten oben drauf und holte zwei langhalsige braune Fla­schen mit gutem Pennsylvania-Bier heraus. Er reichte Chester eine, dann öffnete er seine Flasche und schlug die Zeitung auf. Ruperts Vorstellung von Unterhaltung bestand darin, die Schlagzeilen laut vorzulesen.

»Hier steht, in Hagerstown wurde ein Mann verhaftet, weil er sich als Finanzier aus New York City ausgegeben hat.«

»Rupert«, warf Jo ein, »sag deinem Sohn, er soll zum Osteres­sen kommen.«

»Ich nehme an, das weiß er, Liebes.«

Entrüstet stürmte sie aus der Küche. »Ihr Männer haltet immer zusammen.«

Rupert beachtete sie nicht und las die nächste Schlagzeile. »Nevada von Stürmen heimgesuchte.« Er las schweigend wei­ter. »Da draußen sind fünf Zentimeter Regen eine Flut. Ich würde den Westen gern einmal sehen.«

»Ich auch.« Chester trank seine Flasche leer. Er mußte ma­chen, daß er nach Hause kam. »Dad, ich muß zurück.«

»Oh.« Rup sah von seiner Zeitung auf. »Kannst du nicht ver­suchen, Ostern nach der Kirche mal vorbeizuschauen? Das würde das Leben hier leichter machen.«

Chester hatte ein Gefühl, als würde sein Magen mit Batterie­säure überschwemmt. »Dad, das ist nicht so einfach.«

Rupert sagte nichts und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Chester wusch seine Bierflasche aus und warf sie in den Abfall­eimer unter dem Spülstein. Er ging durch den Flur, um sich von seiner Mutter zu verabschieden, die den großen Mahagoni­Eßtisch polierte.

»Bis dann, Mutter.«

Ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, brummte sie: »Du könntest wenigstens einmal eine Ausnahme machen. Vielleicht ist dies das letzte Mal, daß wir alle zusammen sind. Du weißt, Lou geht es nicht gut.«

Diese Masche war Chester allzu vertraut. Den Köder schluck­te er nicht. »Tut mir Leid, das zu hören.«

»Wenn du erst Kinder hast, werden wir unseren Feiertagsplan umstellen.«

»Es war eine lange Dürrezeit.« Er lächelte verkniffen. Auch seine Brüder hatten keine Kinder.

»Ihr habt lauter unfruchtbare Frauen geheiratet.«

»Vielleicht liegt es an uns.«

Scharf entgegnete sie: »O nein. Unsere Familie hatte nie die­ses Problem, die Familie deines Vaters auch nicht.« Sie schüt­telte den Kopf. »Es liegt an den Frauen.«

»Falls ich Sonntag nicht vorbeikomme, frohe Ostern, Mutter.«

Er ging zur Hintertür hinaus. Wortlos fuhr sie mit dem Polie­ren fort. Sein Vater steckte die Nase in die Zeitung.

Eine halbe Stunde später als angekündigt öffnete Chessy die Hintertür zu seinem Haus.

Juts, die ihre Schürze mit Blumenmuster trug, begrüßte ihn: »Du kommst spät, verdammt noch mal, und mir ist die Leber verbrannt.«

»Ich war bei Mutter.«

»Der alte Drachen hat dich festgehalten, bloß um mir eins auszuwischen.«

Chester küßte Juts auf die Wange, zog seinen Mantel aus, dann wusch er sich die Hände. »Bin gleich so weit.«

Sie rief ihm nach: »War sie wegen dem Osteressen auf dem Kriegspfad?«

»Weiß ich nicht, Schatz, das geht bei mir zum einen Ohr rein und zum anderen raus. Du weißt, daß ich nicht auf sie höre.«

Tat er aber. Chester hörte auf jeden, und früher oder später würde sein Schweigen zu einer unerträglichen Last werden.

9

»Aber Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmer­zen auf sich geladen. Doch Er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt.<«

»>Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe: Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen.<«

Als Pastor Neely den Karfreitagsintroitus las, sprach Juts, ele­gant in gedämpfte Farben gekleidet, einen Schleier vor dem Gesicht, automatisch die Antworten. Die Liturgie sagte ihr zu; sie kannte sie für den gesamten Kirchenkalender auswendig.

Sie teilte sich ein Gesangbuch mit ihrer Mutter, doch ihre Ge­danken schweiften ab, obwohl sie die richtige, schmerzliche Antwort auf den Lippen trug:»Erhöre mein Gebet, o Herr, und lasse mein Rufen zu dir kommen.<«

Juts zählte die Namen in der Gemeinde, hauptsächlich Frauen. Die Männer hatten sich heute nicht von der Arbeit frei genom­men oder frei nehmen können, aber sie wußte, daß jede Dame, die da in Trauerhaltung saß, ihren Ehemann pflichtschuldig zum Ostergottesdienst schleppen würde. Wer krank war, würde auf einer Trage gebracht. Niemand versäumte den Ostergottes­dienst.

Sie zählte drei Elizabeths, zwei Katherines und eine Kitty. Ei­ne Mildred, eine Florence in ihrem Alter. Dann kam ihr der Gedanke, daß Namen eine Generation charakterisieren. Nicht die klassischen Namen, aber die Mildreds, die Myrtles, die Ro­ses.

Sie überlegte, wie sie eine Tochter nennen würde. Auf keinen Fall wollte sie irgend jemanden nachahmen. Sie verwarf Doro­thy, weil die Maupins ihr Baby Dorothy genannt hatten und das Kind starke Ähnlichkeit mit einem Frettchen hatte. Dora klang nach einem fetten Wal, Eleanor nach Zimperliese, und Bernice war der Name für ein Mädchen, das später mal in einer Putzma­cherei arbeiten würde. Nichts davon sagte ihr zu. Bonnie war zu flott, Lucille eine Spur zu altmodisch für diese neue Generation. Margaret war nicht übel, aber Juts wollte nichts Klassisches, sie wollte etwas Originelles.

Falls sie jemals einen Sohn gebären würde, läge es natürlich auf der Hand: Chester junior.

Ehe sie weiter über dieses Thema nachsinnen konnte, wurden dicke Samtvorhänge vor die Buntglasfenster gezogen - Altar und Kanzel waren schon in schwarzen Samt gehüllt -, alle Lichter wurden gelöscht, und bedrückende Stille senkte sich auf die andächtigen Frauen. Es war drei Uhr, die Stunde, als Jesus seinem Vater seinen Geist empfahl.

Julia Ellen, dem Alten Testament nicht übermäßig zugetan, wie auch einigen Teilen des Neuen Testaments, fragte sich, warum die Väter so grausam waren, angefangen mit Gott. Abraham war bereit gewesen, seinen eigenen Sohn zu opfern. Moses hatte sich keinen Deut um seinen gekümmert. Eigentlich war nichts Gutes geschehen bis zum Neuen Testament. Wenig­stens hatten diese Geschichten sie nicht geängstigt, als sie ein Kind war, wenngleich der Karfreitag ihr unheimlich war. Opfer sprachen Juts nicht an, nicht einmal jenes, das vor neunzehn­hundert Jahren gebracht worden war.

Als die Orgel einsetzte, öffneten sich die Vorhänge, und Juts atmete erleichtert auf. Die Freude steigerte sich, als der Gottes­dienst zu Ende war. Sie und Cora gingen hintereinander durch den Mittelgang, um Pastor Neely, der an der Tür zum Vestibül stand, die Hand zu geben.

Sobald sie draußen auf dem Platz stand - die Temperatur be­trug um die zwölf Grad -, hielt sie Ausschau nach Louise, die aus der Kirche St. Rose of Lima trat.

»Da ist sie.«

Und da war sie, ganz in Schwarz mit dunkellila Akzenten. Ihr Schleier schimmerte vor ihrem Gesicht, winzige Quadrate wa­ren in das Netz gestickt.

»Mutter.« Louise ging über den Platz, sah sich um und sagte spöttisch: »Junior McGrail hat mich geschnitten. In der Kirche. Das ist mir eine gute Christin.«

»Fett, faul und gefräßig, das ist sie«, sagte Juts.

»Wo sind die Mädchen?«, fragte Cora.

Louise drehte sich um, gerade als Maizie, den Ernst des An­lasses vergessend, die Treppe herunterhüpfte.

»Geh wie eine Dame, Maizie.«

Eine Furche auf Maizies junger Stirn ließ flüchtig erkennen, wie sie als alte Dame aussehen könnte.

»Hallo, G-Mom. Hallo, Tante Juts.«

»Du sollst deine Großmutter nicht so nennen. Wirklich, Mai­zie, heute ist Karfreitag, und du stehst direkt vor Gott und je­dermann.«

»Ach, Louise, sei nicht so streng mit ihr«, sagte Cora.

Louise achtete nicht auf ihre Mutter. »Wo ist Mary?«

»Noch in der Kirche.«

»Was macht sie da drin?«

»Weiß ich nicht.« Maizie zuckte die Achseln, was bedeutete, daß sie es sehr wohl wußte.

Louise stemmte die Hände in die Hüften und bohrte nach. »Deine Schwester kommt sonst aus der Kirche geflogen wie ein Pfeil. Halt mich bloß nicht zum Narren. Was macht sie da drin? Ist Extra Billy drinnen?«

»Mom, Billy ist nicht katholisch.«

»Ein Grund mehr, ihn nicht zu mögen.« Louise schürzte die Lippen.

»Ach, Wheezie, bemüh dich nicht, katholischer zu sein als der Papst.«

»Julia, wenn du die Augen aufmachen würdest.«

Juts blaffte zurück: »Und wenn du deine aufmachen würdest, könntest du sehen, daß du Mary dem Jungen in die Arme treibst. Wenn du ihn nicht alle fünf Minuten heruntermachen würdest, hätte sie ihn bald satt.«

»Erzähl du mir nicht, wie ich meine Tochter zu erziehen habe. Du bist keine Mutter. Du hast keine Ahnung.«

Cora schob ihre massige Gestalt zwischen die beiden. »Ich will keinen Streit. Louise, geh da rein und hol sie raus. Juts, du schweigst still.«

Louise stakste die Treppe wieder hinauf in die Kirche.

Julia wimmerte: »Sie hat angefangen.«

»Sei vernünftig und halt den Mund«, befahl Cora. »Heute ist Karfreitag.« Sie legte ihren Arm um Maizie. »Wie können sie erwarten, daß du erwachsen wirst, wenn sie es nicht sind?«

Maizie kicherte. »Oje.«

Dieser Ausruf galt ihrer Mutter, die die finster dreinblickende Mary die Treppe hinunterbugsierte, wobei sie von hinten mit ihrer lila Handtasche auf sie einschlug, ein kleiner Klaps hier, ein kleiner Klaps dort.

Louise schritt an den dreien vorbei und rief ihnen über die Schulter zu: »Ich seh euch nachher im Laden. Wir werden uns jetzt ein bißchen unterhalten.« Sie schubste die widerspenstige Mary vorwärts. Juts lachte, da sie wußte, daß Mary ordentlich was zu hören kriegen würde.

»Unterhalten - Louise wird sie Mores lehren.«

Maizie flüsterte: »Billy hat sich gestern Abend in St. Rose reingeschlichen und Mary einen Liebesbrief ins Gesangbuch gelegt. Aber er muß die Reihen verwechselt haben, weil der Brief nicht in unserer Bank war. Mary hat da drin alle Gesang­bücher durchgeblättert.«

»Ach du meine Güte.« Juts lachte. »Mom, findest du nicht, daß Louise wegen Extra Billy zu viel Theater macht?«

»Kommt, gehen wir rüber zur Frederick Road.« Cora bedeute­te ihrer Tochter, voranzugehen, dann zwinkerte sie Maizie zu, die gleich vor ihr ging.

»Oh.« Juts verstummte; sie hatte verstanden, daß Cora in Maizies Gegenwart nicht darüber reden wollte.

Maizie flitzte zu Cadwalder. »G-Mom, krieg ich ein Soda?«

»Ja, sag Mr. C. ich komme sofort nach und bezahle.«

»Ich warte lieber draußen«, erklärte Juts ausnahmsweise ver­nünftig.

»Du wirst wohl draußen in der Kälte stehen, bis du deine Rechnung bezahlt hast, Mädchen.«

Juts wechselte das Thema. »Wo sind Celeste und Ramelle? Sie sind sonst immer in der Kirche.«

»Spielen Mr. und Mrs.« Das war Coras Verbrämung für einen Mordskrach.

»Oje.«

»Die beiden hatten schon Ewigkeiten keinen Streit mehr.« Co­ra, die Celeste treu ergeben war, ging nicht näher darauf ein. »Ich bin gleich wieder draußen.«

Julia blieb auf dem Platz, während sie auf ihre Mutter und ihre Nichte wartete. Sie lächelte und winkte Freunden und Feinden zu. Sie ging auf und ab und war sehr verblüfft, als Junior McGrail direkt an ihr vorbeimarschierte und ohne nach links und rechts zu schauen in den Drugstore schritt.

Just in diesem Augenblick kamen Cora und Maizie herausge­stapft.

»Mom, Junior McGrail hat mir gerade die kalte Schulter ge­zeigt.«

»Uns hat sie zugenickt«, zirpte Maizie, begeistert, etwas zur Unterhaltung der Erwachsenen beisteuern zu können.

»Möglicherweise bringt ihr sie um ihren Broterwerb«, sagte Cora, während sie zwei Häuser weiter nach Osten zur Frederick Road gingen.

»Das glaube ich nicht. Es gibt genug Haare in dieser Stadt für zwei Salons. Außerdem ist ihrer in Nord-Runnymede, und unse­rer kommt nach Süd-Runnymede.«

Als sie in die ehemalige Schusterwerkstatt traten, achteten die drei nicht auf Marys tränenverschmiertes Gesicht. Juts' Irish Terrier bellte ihr einen Gruß zu.

»Was machst du denn hier, Buster?«, wandte sich Juts an den Hund.

»Er war hier, als ich die Tür aufschloß.« Louise schlug einen nüchternen Ton an, was hieß, daß sie Mühe hatte, ihre Gereizt­heit im Zaum zu halten. »Mom, was sagst du dazu?«

»Ihr beiden habt hier ja gründlich aufgeräumt.«

»Also, ich finde, die Spiegel sollten an dieser Wand verlaufen, mit Schränkchen darunter und großen bequemen Sesseln, damit die Kundinnen lesen können, wenn sie unter der Trockenhaube sitzen.«

»Louise, wir brauchen auch Stühle, die wir hoch und runter treten können.«

»Weiß ich. Gleich hier kommt der Empfangsbereich hin mit viel Musik. Ich will mir nicht mehr wie in einem Bestattungsin­stitut vorkommen, wenn ich zum Friseur gehe. Und hier drü­ben.«

»Mädchen, wie wollt ihr das alles schaffen?«

»Wie meinst du das?« »Tischlerarbeit ist teuer, und Spiegel werden euch ins Armen­haus bringen, gar nicht zu reden vom Wasseranschluß für jedes Waschbecken.«

»Chester kann die Tischlerarbeiten übernehmen, und Pearlie kann anstreichen. Den Rest schnorren wir«, erwiderte Louise energisch.

»Ihr solltet euch lieber mit euren Männern gut stellen.«

»Paul tut, was ich ihm sage«, prahlte Louise.

»Mutter, wozu braucht man so einen langweiligen Mann?«, platzte Mary heraus.

»Sei nicht so ein Schwachkopf. Wenn du einen Mann nicht im Griff hast, treibt er sich mit anderen Frauen herum, säuft oder spielt, und dann steckt ihr beide in der Scheiße.« Es erschütterte Louise, »Scheiße« gesagt zu haben, aber sie hatte sich derart heftig mit Mary gekracht, daß sie sich vergaß.

»So eine Ehe will ich nicht«, erklärte Mary widerborstig. »Ich will einen Mann, der mich liebt, der.«

»Liebe, ach, Mary, daß ich nicht lache. Was weißt du schon von Liebe?«

»Ich weiß, daß sie nichts mit Herumkommandieren zu tun hat.«

Louise ging auf Mary zu, die nicht zurückwich.

Cora machte dem Theater ein Ende. »Louise, sie hat noch viel Zeit, die Männer kennen zu lernen.«

»Ich versuche doch bloß in ihren Dickschädel zu kriegen, daß mit Flöhen aufwacht, wer sich mit Hunden schlafen legt.«

»Mutter!« Mary rannte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

»Mary, Mary, komm sofort zurück.«

»Soll ich sie holen, Mom?«

»Nein, Maizie, du bleibst hier. Sie kann nicht zu Billy, er ist bei der Arbeit. Sie wird nach Hause gehen.« Louise schauderte. Die Heizung im Laden war nicht an. »Gehen wir.«

»Louise, alles hat seine Zeit.«

»Mutter, halt du dich da raus!« Louise packte Maizie am Arm und schob sie aus dem Laden, die Tür ließ sie angelehnt.

Juts sah ihrer Schwester nach, die mit Maizie die Straße ent­lang eilte. »Louise meint, sie wüßte alles«, sagte sie.

»Sie ist nicht jung genug, um alles zu wissen.« Als Juts zu la­chen anfing, lächelte Cora sie an. »Und du auch nicht.«

»Ich habe nie gesagt, daß ich alles weiß, aber sie treibt Mary diesem Jungen direkt in die Arme, sie macht ihn unwidersteh­lich.«

»Das weiß ich.«

»Warum sagstdu dann nicht mal was?«

»Weil jeder Mensch lernen muß.«

Juts bückte sich, um Buster zu streicheln. »Du meinst, jeder muß auf die harte Tour lernen.«

Cora schüttelte den Kopf. »Jeder muß so lernen, wie er kann.«

»Aber du weißt, daß Mary sich in Schwierigkeiten bringt - vielleicht sogar in große Schwierigkeiten. Extra Billy ist wild wie ein Tier.«

»Und schön wie ein Prinz. Julia Ellen, begleite mich zu Cele­ste«, sagte Cora bestimmt.

»Okay.« Juts wartete, bis ihre Mutter in den Sonnenschein hi­nausgetreten war, dann schloß sie die Tür ab. »Mom«, flüsterte sie, »ich habe Angst, daß Mary schwanger wird.«

»Werden könnte.«

»Das würde Louise umbringen. Die Schande - nicht, daß ich meine, das ist das Schlimmste auf der Welt, aber, nun ja, das Beste ist es auch nicht. Man würde Mary in dieser Gegend aus­grenzen.«

»Wenn man einem Menschen eine Lektion unterschlägt, muß er sie später lernen, und jedes Mal, wenn die Lektion aufge­schoben wird, wird sie schlimmer und schlimmer. Ich bin eine ungebildete Frau, aber so viel habe ich in diesem Leben ge­lernt.«

»Du bist nicht ungebildet.«

»Ich kann weder lesen noch schreiben.«

»Viele Menschen können nicht lesen und schreiben. Wie auch immer, ich muß über das nachdenken, was du gesagt hast. Ich habe das Gefühl, etwas tun zu müssen. Vielleicht sollte ich mit Mary reden.«

»Tu, was du nicht lassen kannst.«

10

Die Kontrolllampe glimmte wie das bläuliche Scheinauge eines Nachtfalters. Erschöpft vom Duell zwischen Leidenschaft und Vernunft stand Celeste am Herd. Sie war der Meinung, sie solle sich nicht dazu hinreißen lassen, ihre Gefühle offen auszuleben, und warf sich vor, mit Ramelle gestritten zu haben.

Schließlich war sie die Tochter eines Kriegshelden. T. Prit­chard Chalfonte war Major der Konföderierten gewesen und hatte sich durch vier Jahre voller Entbehrungen und Grauen geschleppt, ohne jemals zu klagen. Er war achtunddreißig, als sein drittes Kind geboren wurde, und Celeste erinnerte sich deutlich an ihren Vater in seinen Vierzigern und Fünfzigern. Die Chalfontes alterten langsam, und der Major hatte lange, lange Zeit jung gewirkt.

Auch ihre Mutter, Charlotte Spottiswood, hatte ihrem Unmut nie Luft gemacht, so viel sich auch in ihr aufgestaut haben mochte. Celeste ließ im Geiste ihre Brüder und ihre verstorbene Schwester Revue passieren; so unterschiedlich sie auch waren, sie hatten alle Zurückhaltung geübt. Als zwei Kameraden ihres jüngsten Bruders aus dem Ersten Weltkrieg zurückkamen, hatte sie erfahren, daß Spottiswood gestorben war, wie es sich für einen Chalfonte ziemte, in selbstloser Erfüllung seiner Pflicht. Obwohl ihr Vater seit 1897 tot war, beflügelte sein Vermächtnis stiller Courage seine Kinder und Kindeskinder.

Daß sie ihre Stimme gegen Ramelle erhoben hatte, schien ihr fast so verwerflich, als wenn sie sie geschlagen hätte. Sie konn­te sich nicht erinnern, in all den Jahren, die sie nun zusammen waren, einen heftigeren Vorwurf erhoben zu haben, nicht ein­mal, als Ramelle von Curtis schwanger geworden war und ihn geheiratet hatte. Vielleicht hatte Spotts' noch immer schmerzli­cher Verlust ihr geholfen, jegliche Eifersucht, die sie auf ihren jüngeren Bruder Curtis empfunden haben mochte, zu überwin­den. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie damals gefühlt hat­te. Das Einzige, worauf sie sich besinnen konnte, war ihre Freude über die Geburt der kleinen Spotts. Im Rückblick hatte sich das Jahr 1920 als eines der glücklichsten Jahre ihres Le­bens erwiesen.

Seither verbrachte Ramelle jeden Winter und Vorfrühling bei Curtis in Kalifornien, das Frühjahr, den Sommer und den Herbst in Maryland. Spotts wurde in wenigen Wochen einund­zwanzig, und Celeste liebte das Mädchen wie eine eigene Toch­ter. Obwohl Ramelle mit Curtis verheiratet war, lautete eigenar­tigerweise der Name auf der Geburtsurkunde Spottiswood Chal­fonte Bowman - Ramelles Mädchenname.

An eine leise Meinungsverschiedenheit erinnerte sich Celeste. Spotts wollte nach Stanford, auf ein College an der Westküste, statt nach Bryn Mawr, das Celestes erste Wahl war. Aber sie war nicht laut geworden. Sie hatte Mutter und Tochter lediglich darauf hingewiesen, daß die Schulen im Osten einem lebens­lang die besseren Verbindungen verschafften. Schließlich gab es im Westen, soviel sie wußte, keine großen Kapazitäten, wes­halb die Elite der jüngeren Generation immer noch an den ange­sehenen Universitäten im Osten Examen machte. Spotts hatte dankend abgelehnt. Der Westen war ihr lieber.

Celeste hatte sogar Curtis angerufen, der sagte: »Sie ist alt ge­nug, um ihre Entscheidungen selbst zu treffen.« Sie konnte sich nicht erinnern, daß ihre Eltern je etwas Derartiges zu ihr oder ihren Geschwistern gesagt hätten. Die Zeiten hatten sich geän­dert, und nicht zum Besseren. Sie war der Meinung, daß junge Menschen eine Orientierung brauchten. Man konnte sie nicht machen lassen, was sie wollten. Dafür waren sie zu unreif.

Sie hatte sich jedoch zusammengenommen, und Spotts war nach Stanford enteilt, wo sie glücklich war.

Diese Auseinandersetzung aber war etwas anderes.

In den beinahe einundzwanzig Jahren seit Spotts' Geburt war Ramelle nie von ihrer Jahresplanung abgewichen. Jetzt erklärte sie, sie wolle nach Kalifornien, weil Curtis sich zum Militär gemeldet hatte. Das war eine entschiedene Abweichung.

Zunächst versuchte Celeste es mit Vernunft. Das hatte nichts gefruchtet. Dann versuchte sie es mit Bestechung. Das hatte auch nichts gefruchtet. Schließlich hatte sie die Beherrschung verloren. Ramelle war in ihr Zimmer gegangen und hatte die Tür geschlossen.

Das überraschte Celeste nicht. Hätte Ramelle sie angeschrie­en, würde sie es wohl genauso gemacht haben, oder sie wäre einfach in den Packard Twelve gesprungen und davongebraust.

Der Teekessel pfiff. Sie schenkte sich eine Tasse ein und setz­te sich in die gemütliche verglaste Nische in der geräumigen Küche. Tee und Tulpen. Sie liebte Tulpen, massenweise wieg­ten sie sich unter dem Eckfenster. Der Frühling machte zwei Schritte vor und einen zurück. Es war die ganze Woche kalt geblieben, und der Ostersonntag versprach nicht wärmer zu werden. Den Tulpen jedoch war es einerlei; sie öffneten ihre flammend orangeroten, schwarz umrandeten Kelche; ihre Rot-, Weiß-, Lila- und Gelbtöne trotzten der schneidenden Luft. Die Kirschbäume waren besonnener. Sie warteten auf einen mollig warmen Tag mit Temperaturen um die achtzehn Grad.

Das im Wind wechselnde Licht wurde golden. In einer Stunde würde die Sonne untergehen. Zwielicht machte Celeste wehmü­tig, seit sie ein Kind war. Die Wehmut vertiefte sich mit dem Alter. Sie konnte nicht fassen, wie schnell die Jahre verflogen, und es war ihr einfach unbegreiflich, daß sie über sechzig war, auch wenn alle sagten, sie sehe aus wie Anfang vierzig. Unge­achtet ihres Aussehens hatte sie dreiundsechzig Jahre Erinne­rungen. Sie liebte ihr Leben. Sie wünschte sich weitere sechzig Jahre. Und sie liebte Ramelle.

Die Wahrheit war, sie war eifersüchtig. Ob dieser unvermittel­ten Selbsterkenntnis stellte sie ihre Tasse klirrend auf den Tisch. Sie war nie eifersüchtig gewesen. Warum jetzt?

Leise Schritte in der Küche veranlaßten sie, sich umzudrehen. In dem roten Seidenmorgenrock, den Celeste ihr aus Paris mit­gebracht hatte, ging Ramelle zum Herd. Sie hatte Celeste nicht bemerkt. So kam Celeste in den köstlichen Genuß, eine Person zu beobachten, die nicht merkt, daß sie beobachtet wird.

Sie hatte im Laufe ihres Lebens viele Dinge gelernt, und eines davon war, daß es das Ich gibt, das man kennt und anderen zeigt; dann das Ich, das man kennt und anderen nicht zeigt; das Ich, das andere kennen und man selbst nicht; und schließlich das Ich, das andere nicht kennen und man selbst auch nicht. Es bedarf eines Unglücks, einer wie auch immer gearteten Katastrophe, um das Ich hervorbrechen zu lassen, das niemand kennt.

Sie sah Ramelle, diese anmutige Frau, blinzeln, als das Gas um den Brenner aufflammte. Sie fragte sich, was ihre Geliebte von ihr wußte, das sie selbst nicht wußte. Vielleicht war es auch besser, es nicht zu wissen.

»Komm, setz dich zu mir.«

Ramelle fuhr zusammen. »Hast du mich erschreckt.«

»Ich habe mich selbst erschreckt. Ich habe die Beherrschung verloren, und ich entschuldige mich dafür.«

Ramelle tat das Thema mit einer Handbewegung ab. »Du magst keine Veränderung, mein Schatz. Solange die Dinge nach Plan gehen, ist alles gut. Ich habe den Plan umgeworfen.«

»Bin ich so eine Tyrannin?«

Ramelle trat zu ihr. »Eine aufgeklärte.«

Celeste stützte ihren Kopf für einen Moment in die gewölbte Hand. »Nun.«

»Da du so viel intelligenter bist als wir Übrigen, sind wir alle sehr dankbar, daß du unser Leben organisierst. Ich auf alle Fäl­le.«

»Oh, Ramelle, ich bin nicht intelligenter als du - nur belese­ner.« Celeste beobachtete, wie das Licht auf Ramelles feine Gesichtszüge fiel.

»Alle Chalfontes sind hochintelligent - die Spottiswoods auch.« Ramelle sprach von Celestes Familie mütterlicherseits. »Die Besten mit den Besten paaren und auf das Beste hoffen. Machen wir es nicht so mit den Pferden?«

»Ja.« Celeste lachte, dann sagte sie: »Mutter hat Carlotta vor­gezogen.«

»Oh, das hat sie nicht. Wie könnte jemand Carlotta vorzie­hen?«

»Carlotta hat Herbert Van Düsen geheiratet, die fadeste Seele, die man sich vorstellen kann. Mutter fand ihn ungemein geeig­net, weil er einen Sitz an der Börse hatte, obwohl das auch schon alles ist, was er hatte. Seine Partner trugen ihn mit, aber wenn man Carlotta erzählen hörte, hätte man meinen können, er besäße den Jagdinstinkt eines J. P. Morgan.« »Sie hat ihn geliebt. Wir neigen alle dazu, die Tugenden derer, die wir lieben, zu überschätzen.«

»Oh.« Celeste trank einen Schluck. »Überschätzt du meine?«

»Nein.«

»Was bist du doch für eine elegante Schwindlerin, Ramelle. Ich verstehe nicht, warum du zu Curtis willst. Er ist zu alt für den Kampf, aber sobald diese vulgäre Zurschaustellung organi­sierter Gewalt vollends inszeniert ist, wird er seine Rolle ein­nehmen. Er ist immerhin siebenundfünfzig.«

»Wenn es nach seinem Willen geht, wird er irgendwie an den Kämpfen teilnehmen. Ich glaube, er leidet darunter, seit all den Jahren im Schatten seines Bruders zu stehen.«

»Curtis hat den Ersten Weltkrieg überlebt. Er hat sich ehren­voll gehalten.«

»Männer denken nicht so. Spotty ist einen Heldentod gestor­ben.«

»Manchmal denke ich, Männer sind die sonderbarsten Tiere, die Gott jemals auf diese Erde gesetzt hat.«

»Dasselbe sagen sie über uns.«

»Ja, vermutlich.« Celeste sah zu, wie sich das goldene Licht draußen rosa färbte, als die Sonne sich dem wartenden Horizont näherte. »Bist du mir böse?«

»Nein. Na ja - vielleicht ein kleines bißchen. Ich lasse mich nicht gern anschreien. Schatz, was immer mit Curtis geschieht, ich möchte bei ihm sein, bis er geht.«

»Ihr könntet hier zusammen sein.«

»Curtis wird sich ums Geschäft kümmern, bis er den Marsch­befehl erhält. Du weißt, wie deine Brüder sind.«

»Hör mal, ich habe dich nie gefragt - liebst du Curtis?«

»Natürlich.« Ramelle lachte. »Er ist dir so ähnlich - nur in mancher Hinsicht sanfter.«

Celeste war drauf und dran einzufordern, daß Ramelle sie mehr lieben solle als ihn, doch sie ließ es bleiben und erwiderte statt dessen: »Er ist ein Glückspilz.«

»Ach, Celeste, Curtis ist bloß Curtis. Er ist eine Frohnatur. Er gehört in den kalifornischen Sonnenschein und ins Filmge­schäft. Das paßt zu ihm. Er ist ein Mensch, der weiß, wie man etwas anpackt - wie gesagt, genau wie du. Nichts kann Curtis aufhalten, aber ich nehme an, Stirling kann auch nichts aufhal­ten; bloß, daß Stirling mir immer alt vorgekommen ist, sogar, als er jung war.« Celestes Bruder in Baltimore leitete die Kugel­lagerfabrik.

»Der Preis, den der Erstgeborene zahlen muß, denke ich mir«, sagte Celeste.

»Ich liebe dich, das weißt du. Auf immer und ewig.«

»Ich liebe dich auch.«

»Siehst du, wir haben uns versöhnt. Bist du nicht auch froh?«

»Ich weiß nicht recht. Ich bin etwas erleichtert. Ich ärgere mich nur über mich selbst, weil ich die Beherrschung verloren habe.«

»Du bist nur ein Mensch.«

Celeste lachte. »Das ist es ja, was mich beunruhigt.«

Die Haustür ging auf und mit einem Schlag wieder zu.

»Ich bin's. Wo seid ihr?«, grölte Fannie Jump Creighton, Ce­lestes Freundin seit frühester Kindheit.

»O Gott.« Celeste seufzte, denn Fannie Jump war eine Quas­selstrippe. »Wir sind in der Küche.«

Fanny schleppte eine schwere Einkaufstasche herein, ließ sie mit einem dumpfenPlumps auf den Boden fallen und sagte: »Ich wäre fast überfahren worden. Kaputt. Ins Jenseits befördert ohne Hoffnung auf sofortige Auferstehung, ich kann euch sa­gen. Platt gedrückt, mir nichts, dir nichts platt gedrückt von dem gottverdammten Extra Billy Bitters, den man ins Gefäng­nis stecken sollte.«

Celeste unterbrach sie: »Das wird man. Zur rechten Zeit.«

»Hm, die rechte Zeit dürfte gekommen sein; er hat Mary im Auto, Louise jagt hinterher, und sie sitzt am Steuer, mögen alle Heiligen uns beschützen. Louise findet bekanntlich nicht mal aus einem brennenden Stall heraus. Ihr folgt Chester Smith mit Juts, Maizie und Paul im Wagen, und Paul hängt aus dem Fen­ster, glaubt's oder nicht, und brüllt aus Leibeskräften, daß seine verrückte Frau langsamer fahren soll. Ich finde, wir sollten den Sheriff rufen. Schließlich liegt hier eine Gefährdung der öffent­lichen Sicherheit vor, und das sollte man schon den Behörden melden. Aber von welcher Seite? Ich meine, ihr wißt, wie sich Harmon Nordness aufblähen kann, sollte Billy die Grenze nach Pennsylvania überqueren. Aber das Schlimmste ist, Mary hat einen Revolver und schießt aus dem Fenster, ballert einfach drauflos wie Cowboys und Indianer!« »Was?«, riefen beide Zuhörerinnen wie aus einem Munde.

11

Auf zwei linken Rädern flüchtete Extra Billy durch die Fred­erick Road und hielt auf den Emmitsburg Pike zu, aber er be­kam das alte Zweisitzer-Coupe nicht unter Kontrolle. Als er den Ford endlich auf den rechten Weg gebracht hatte, scherte er über die Mason-Dixon-Grenze. Er schwenkte um den Platz, kam vor dem Bon-Ton-Kaufhaus ins Schleudern, geriet auf den Bordstein, steuerte zu stark gegen und fuhr geradewegs in den schönen Platz hinein. Mary fuchtelte mit dem Revolver. Als sie auf den Bordstein knallten, schoß sie in das Verdeck des Coupes, worauf sie beide erschraken. Billy paßte nicht auf, wo er hinfuhr, und krachte in den Sockel des Yankee-Generals George Gordon Meade. Die Statue neigte sich ein kleines biß­chen, doch am schlimmsten lädiert war das Zweisitzer-Coupe.

Verdattert wankte Billy aus dem Auto, plumpste auf seinen Allerwertesten und kroch dann auf allen Vieren vorwärts, um die kreischende Mary herauszuziehen.

Just in diesem Moment rammte auch Louise, furiengleich, den Bordstein und kam neben Billys Auto abrupt zum Stehen. Chessy, weitaus besonnener, hielt an der Kreuzung bei St. Rose of Lima, stellte den Motor ab und lief zur Unfallstelle, dicht gefolgt von Juts und Pearlie. Ihnen auf den Fersen waren Cele­ste, Ramelle und Fannie Jump, die schwer keuchten, weil sie von Celestes Haus, nahe dem Platz, hergerannt waren.

Extra Billy riß Mary den Revolver aus der Hand. »Ich hab nicht gewußt, daß sie ihn hat, ehrlich nicht.«

Louise zerrte Mary auf die Füße, die gegen das Coupe gesun­ken war. »Was ist bloß in dich gefahren?«

»Rühr mich nicht an! Ich hasse dich!«, winselte Mary und schlang ihre Arme um Extra Billys schlanke Taille.

»Von wegen anrühren. Ich werde dich prügeln, daß dir Hören und Sehen vergeht!«

»Nein!«, kreischte Mary.

Pearlie, der unterdessen am Schauplatz angelangt war, ballte eine Faust, um den jungen Mann zu schlagen, doch Chessy trat rasch hinter ihn und fiel ihm in den Arm.

»Pearlie, damit ist nichts gewonnen.«

Extra Billy warf Chester einen dankbaren Blick zu und ge­wahrte dann hinter ihm das Frauentrio, das über den Platz ge­trabt kam. Die beiden Autos hatten die Blumen zu Brei gefah­ren, über den Celeste behutsam hinwegstieg.

»Ich will nicht nach Hause, ich will nicht nach Hause!«, zeter­te Mary.

»Du wirst tun, was ich dir sage.« Louise wollte sie packen, aber Mary entwand sich ihr, die ganze Zeit über an Billy ge­klammert, der den Revolver noch in der Hand hielt.

Celeste nahm ihn Billy behutsam aus der Hand. »Den brauchst du nicht.«

»Ah - nein, Miss Chalfonte.«

»Ist das dein Revolver?«

»Nein, Ma'am.«

Mary weinte. »Es ist Daddy s.«

Pearlies Stimme zitterte. »Du kommst besser sofort nach Hau­se. Wir werden das klären.«

Maizie beobachtete alles mit großen Augen; ihre Schwester beschwor sie mit Blicken, da Maizie stets ihre Verbündete war, außer wenn sie sich in der Wolle hatten.

Eine Sirene im Hintergrund kündete neue Unannehmlichkei­ten an.

»Scheiße«, brummte Extra Billy.

»Du sollst in meiner Gegenwart nicht fluchen!«, fuhr Louise ihn an.

»Verzeihung, Mrs. Trumbull, mir tut das alles sehr Leid. Es war alles anders geplant. Wir wollten nach Baltimore fahren und gleich zurückkommen, aber.«

»Lüg mich nicht an, Billy. Du wolltest meine Tochter entfüh­ren.« Louises Ton war unerbittlich.

»Entführen! Teufel, Wheezie, sie hat sich die Beine aus dem Leib gerannt, um das Auto zu erreichen - das im Übrigen ziem­lich übel aussieht«, sagte Juts.

»Halt du dich da raus, Julia! Du bist keine Mutter.«

»Louise, wirst du dich wohl beruhigen? Billy verhaften zu las­sen ist keine Lösung.«

»Schlag dich nicht auf ihre Seite!« »Tu ich gar nicht, ich.«

Alle hielten inne, um zu beobachten, wie Harmon Nordness vorfuhr, sich aus dem Streifenwagen wälzte, die Katastrophe in Augenschein nahm und dann gesenkten Hauptes über die Trümmer schritt.

»Hallo, Sheriff.« Chester versuchte, die Wogen zu glätten. »Wir haben hier ein kleines Mißgeschick, aber nichts, das wir nicht bereinigen könnten.«

»Danke, Chester, eben das beabsichtige ich zu tun.« Sheriff Nordness leckte sich die fleischigen Lippen. »Wer hat den Ford gefahren?«

»Ich«, erklärte Billy.

»Machst du das öfter, Statuen rammen, Billy? Ich habe dich bei Hahnenkämpfen erwischt. Ich habe deinen betrunkenen Vater mit dir auf dem Rücksitz überholt. Aber ich glaube, dies ist das erste Mal, daß du oder sonst irgend jemand vorsätzlich öffentliches Eigentum beschädigt hast.«

»Es war ein Unfall, Sheriff.«

»Ah-ha.« Harmon sah direkt in Marys tränenüberströmtes Ge­sicht. »Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Mädchen? Mir liegt eine Meldung vor, daß du mit einem Revolver aus diesem Auto geschossen hast.«

Mary heulte.

»Ach, Harmon, die Leute reden allerhand.« Fannie Jump fri­sierte die Geschichte ein wenig. »Der fragliche Revolver lag zufällig auf dem Rücksitz, und als Extra Billy beim Lenken seines Wagens ein bißchen ins Schleudern geriet, ist die Waffe vom Sitz gehüpft und losgegangen.«

»Donnerwetter.« Harmon spuckte eine Salve Tabaksaft auf die Erde.

»Es geschehen die verrücktesten Dinge.« Juts lächelte übers ganze Gesicht.

»Ja, weil Verrückte sie geschehen lassen.« Er wandte sich Juts zu, die einen Schritt näher zu Chessy trat. »So, Leute, ich muß euch alle festnehmen. Extra Billy und Mary und den, der den Model A gefahren hat.«

»Ich.« Pearlie trat vor.

»Pearlie, warum sollten Sie so eine Dummheit tun? Das paßt nicht zu Ihnen.«

»Er war's nicht, ich war's.« Louise schubste ihren galanten Ehemann rigoros aus dem Weg.

»Das paßt schon eher.«

»Sie können Wheezie nicht ohne mich mitnehmen.« Paul leg­te seiner Frau den Arm um die Schultern.

»Trumbull, hier kann ich tun und lassen, was ich will. In die­sem Teil von Pennsylvania bin ich das Gesetz.«

»Das sind Sie allerdings, und ich weiß gar nicht, wie Sie das alles schaffen. Ihre Dienststelle ist kläglich unterbesetzt, Har­mon.« Celestes Stimme war silberhell. »Aber morgen ist Ostern. Warum gehen wir nicht alle nach Hause und bitten morgen in der Kirche um Vergebung. Es liegt kein Verbrechen vor, nur an George hier müssen Reparaturarbeiten vorgenom­men werden, und ich nehme an, für die Statue werden Extra Billy und Mary aufkommen müssen.«

»Ja, Ma'am.« Billy sah Harmon flehend an. »Ja, Sir.«

Wie die meisten kleinen Beamten hatte Harmon einen untrüg­lichen Blick dafür, wem lokale Macht innewohnte. Sie war ganz gewiß bei Celeste Chalfonte zu finden, obwohl sie in Maryland lebte. Die Chalfontes oder Rifes oder andere lokale Größen provozierte man einfach nicht. Zudem könnten die Redakteure desClarion oder derTrumpet ihn als herzlos hinstellen, weil er Kinder wegen eines Verkehrsdelikts vor Ostern ins Gefängnis steckte, selbst wenn sie es verdient hatten.

»Ich sage Ihnen, was ich tun werde. Ich lasse Sie die Autos hier wegschaffen. Die Leute, die morgen in die Kirche gehen, wollen diese Bescherung nicht sehen. Dann rufe ich die Gärtne­rei Dingledine an und bitte, daß man Sie so spät noch herein­läßt, um Tulpen und Azaleen zu kaufen, und dann werden Sie sie einpflanzen, und es ist mir ziemlich egal, ob es die ganze Nacht dauert. Dann werde ich den Schaden schätzen, und von da sehen wir weiter.« Er funkelte Juts und Louise an. »Mir scheint, ihr Mädels habt in dieser Stadt schon einiges an Kosten aufgehäuft.«

Weil der Zweisitzer nicht anspringen wollte, schoben Chessy, Paul und Extra Billy ihn aus der Parkanlage, mit Fannie Jump Creighton am Steuer. Die aufgebrachte Louise, von ihrer Schwester an der kurzen Leine gehalten, stapfte nach Hause, um Gartengeräte und Laternen zu holen.

Celeste und Ramelle fuhren mit Maizie auf der alten Route 140 zu Dingledine, wo sie Randy Dingledine überreden mußten, ihnen mit einem Lieferwagen voll Tulpen zu folgen, weil der Packard nicht alle fassen konnte.

»So, Maizie, ich möchte nicht, daß du dich über all das auf­regst. Mary befindet sich in den Fängen blinder Leidenschaft.« Celeste suchte nach dem passenden Vokabular für ein vierzehn­jähriges Mädchen.

Maizie seufzte romantisch. »Ich fand es toll.«

»O Gott.« Ramelle verdrehte die Augen gen Himmel.

12

Buster wartete geduldig an der Südwestecke des Platzes hinter dem Rathaus und vor der lutherischen Christuskirche. Yoyo, seine beste Freundin, Juts' langhaarige gescheckte Katze, saß neben ihm. Juts und Chessy, erschöpft von der Pflanzaktion der vergangenen Nacht, hatten vergessen, die Fliegentür auf der hinteren Veranda zu schließen, und sobald die Tiere das Verse­hen entdeckt hatten, waren sie ausgerissen.

Der Gesang in sämtlichen Kirchen am Platz schwoll zum Cre­scendo an. Katze und Hund wechselten einen Blick, fanden die Sache hochinteressant und trabten die breiten Stufen zu dem schweren Holzportal der Christuskirche hinauf, das weit offen stand, um die Gläubigen willkommen zu heißen.

Yoyo flitzte schon durch den mit Teppich ausgelegten Mittel­gang, während Buster noch seinen nächsten Schritt bedachte. Yoyos ursprüngliche Absicht war es, nach Juts und Chessy zu suchen, doch der berauschende Duft der Blumenmassen rund um den Altar und das Altargitter erwies sich als zu verlockend. Sie beschleunigte ihr Tempo, zögerte nur am Gitter, weil da so schöne Petitpoint-Kniekissen auf dem Boden lagen. Einfach himmlisch: etwas zum Zerreißen und etwas zum Riechen. Eine Kicherwelle wogte von hinten nach vorn durch die versammelte Gemeinde. Da Pastor Neely mit dem Gesicht zum Altar stand, entging ihm der Anlaß der Belustigung. Eine herabhängende Lilie reizte Yoyo noch mehr, als ihre Krallen an der Petitpoint­Stickerei zu schärfen. Sie katapultierte sich in die Luft, packte die Blume mit beiden Pfoten und zupfte sie aus dem Strauß. Der paprikafarbene Blütenstaub verteilte sich über den Fußboden und ihre langen Schnurrhaare.

Juts, die den umkämpften Hut von Bear's trug und die Nase im Gesangbuch vergraben hatte, um den nächsten Choral aufzu­schlagen, bekam von Yoyos religiöser Erweckung nichts mit. Als Chessy sie anstieß, blickte sie auf, sah jedoch nichts, weil Lillian Yost mit einem voluminösen Hut vor ihr saß. Die Bank der Hunsenmeirs befand sich in der fünften Reihe, und Cora saß in der Mitte; auch sie sah Yoyo nicht.

Neugierig folgte Buster der Katze durch den Mittelgang, wur­de aber von einem starken Schokoladenduft aufgehalten. Er drückte sich in die Reihe zu den Falkenroths und den Cadwal­ders, wo er ein Marshmallowhäschen mit Schokoladenüberzug aufspürte, das Paula Falkenroth in ihrer weißen Handtasche versteckt hatte. Paula kicherte, als Buster mit wedelndem Stummelschwanz zu ihr in die Reihe schlüpfte. Das Kichern verging ihr, als er direkt in ihre Tasche langte und sich ihre Leckerei schnappte.

»Daddy!«

»Schsch«, flüsterte Walter. Er sah zwar, was Buster tat, doch schließlich war es Paula verboten, in ihrer Sonntagshandtasche Süßigkeiten mitzunehmen. Wenn ihre Mutter dahinter kam, hatte das auf dem Nachhauseweg ein unerfreuliches Nachspiel. Mit der Herausgabe einer Tageszeitung und dem Bau eines neuen Hauses waren Walters Geduldsreserven erschöpft. Er wünschte sich ein ruhiges Osterfest.

Buster tanzte aus der Bankreihe, und die Pfarrkinder drehten sich auf Knien seitwärts.

»Ich will mein Schokoladenhäschen wiederhaben!«

»Paula!« Ihre Mutter langte vor Walters Brust hinüber und stieß das Kind auf die Bank zurück.

Pastor Neely, der unermüdlich aus der Heiligen Schrift rezi­tierte, stand mit dem Gesicht zum Altar und konnte sich nicht umdrehen.

Der Altardiener erwies sich als nutzlos. Mit vierzehn empfand er diese Eskapade als Aufwertung des Gottesdienstes.

Angespornt von der mühelosen Eroberung der Lilie, rückte Yoyo dem gesamten monumentalen Strauß zu Leibe. Die Blu­men flogen in alle Richtungen.

»Psst«, zischte Juts über Lillians Schulter hinweg ihrer Katze zu.

Als sie die Stimme ihrer Mutter vernahm, hielt Yoyo einen Augenblick mit ihrer Tollerei inne, dann nahm sie ihr vergnüg­tes Treiben wieder auf.

Cora fing an zu lachen.

»Mutter, du bist mir eine schöne Hilfe«, flüsterte Juts.

Je finsterer Julia dreinblickte, desto heftiger lachte Cora. Che­ster fing ebenfalls an zu lachen, und viele andere ringsum stimmten ein.

Unterdessen stürmte Buster durch den Mittelgang, kam an der Bank der Hunsenmeirs schlitternd zum Stehen, seine Beute in der triefenden Schnauze.

Kein Wunder, daß ihr in die Kirche geht, schienen Katze und Hund zu sagen.Das macht Spaß!

Als Pastor Neely mit seinen vielen Anrufungen fertig war, drehte er sich am Altar um, um mit strahlendem Gesicht die Botschaft»Er ist auferstanden« zu verkünden, und sah sich zwei kleinen pelzigen Gesichtern gegenüber, die zu ihm auf­blickten; das eine war mit Blütenstaub beschmiert, das andere hielt grimmig ein Schokoladenhäschen fest.

Noch nicht zufrieden mit ihren Verwüstungen, sprang Yoyo mitten in das riesige Altarblumenarrangement. Beide purzelten zu Boden.

Mit puterrotem Gesicht erhob sich Juts, drückte sich an ihrer johlenden Mutter und ihrem ebenfalls johlenden Ehemann vor­bei und stakste zu ihren Tieren.

Sosehr sie darum bemüht war, Würde zu bewahren - schließ­lich war es der hochheiligste Tag des Jahres -, der Anblick von Yoyo, außer Rand und Band, und Buster mit der Beute im Kie­fer war zu viel für Juts. Sie kicherte.

Pastor Neely blickte streng zu ihr hinunter.

Das brachte sie erst recht zum Lachen. Juts griff nach Busters Halsband. Er leistete keinen Widerstand.

»Na los«, flüsterte sie.

Er folgte gehorsam.

»Er hat mein Häschen!«, rief Paula Falkenroth.

»Guter Gott.« Walter hielt sich die Hände vor die Augen.

Seine Frau Margot flüsterte: »Paula, ich habe dir gesagt, du sollst keine Süßigkeiten mit in die Kirche nehmen.«

»Hab ich vergessen«, log Paula.

»Kleines Fräulein, vergiß nicht, daß du in einem Haus der Andacht bist«, mahnte ihr Vater.

»Och.« Sie wand sich frei, als Buster an ihr vorbeiging, Juts' Hand noch fest am Halsband.

»Ich kauf dir ein neues Häschen, Paula«, versprach Juts.

Die Cadwalders starrten Juts an, als wollten sie sagen: »War­um passieren dir immer solche Sachen?«

Sie lächelte matt und ging weiter, dann drehte sie sich um und rief so leise sie konnte: »Yoyo, komm her, Kätzchen.«

Nicht nur ignorierte Yoyo die freundliche Aufforderung ihrer Mutter, sie wurde zudem von einem jener Ekstaseanfalle ergrif­fen, wie man ihn hauptsächlich von Angehörigen der Katzen­klasse und gewissen Katholiken her kennt. Sie tobte durch die Pflanzen auf dem Boden. Sie segelte über Blumensträuße, wo immer sie welche fand. Manchen machte sie den Garaus, man­chen nicht. Von Pastor Neelys strengem Blick zum Handeln bewegt, jagte der Altardiener Yoyo nach, die sich an ihrer eige­nen Macht weidete. Sie zog die Bremse, als der schlaksige Jun­ge an ihr vorbeischlitterte, drehte sich im Kreis und landete anmutig in hohem Boden auf dem Altar, wo zu beiden Seiten des großen, schlichten goldenen Kreuzes zwei identische prachtvolle Blumensträuße standen. So verlockend diese Sträu­ße für Yoyo waren, ihr Verfolger holte auf. Sie duckte sich hinter das Kreuz. Als er sie packen wollte, langte sie übermütig zu und schlug nach ihm. Da sie ein fairer Gegner war, ließ sie die Krallen eingezogen.

Dann sprang sie hinter den Altar und schlich verstohlen an die Seite, während der Altardiener sich auf alle Viere niederließ und der Gemeinde den Anblick seines Hinterteils bot, vielleicht nicht unbedingt ein typischer Gegenstand der Verehrung.

Auf Pastor Neelys Stirn sammelten sich Schweißperlen. Che­ster wußte, er sollte seine Katze einfangen, doch mittlerweile war er so geschwächt von Lachkrämpfen, daß er sich kaum rühren konnte.

Celeste, Ramelle und Fannie Jump saßen in der dritten Reihe rechts vom Mittelgang; die Zuteilung der Bänke richtete sich nach dem Zeitpunkt, an dem eine Familie sich an der Gründung der Kirche beteiligt hatte oder ihr beigetreten war. Lachtränen kullerten ihnen über die Wangen.

Yoyo, die das Rampenlicht nicht scheute, merkte, daß sie die Gemeinde in der Pfote hatte. Sie sauste aus dem Altarbereich heraus, sprang auf die Rückenlehne einer Bank, lief darauf ent­lang, während Hände nach ihr griffen, hüpfte leichtfüßig herun­ter, um sich sodann auf die kostbaren kastanienbraunen Samt­vorhänge zu katapultieren. Sie kletterte an den Vorhängen zur Empore hinauf, wo sie die Organistin Tante Dimps entdeckte, eine Freundin der Familie.

Aus Furcht, Yoyo könne sich bemüßigt fühlen, die Orgel zu spielen, stellte sich Tante Dimps mit dem Rücken zur Orgel, die Arme vor sich ausgestreckt.

Der Anblick von Dimps in dieser seltsamen Pose veranlaßte Yoyo, ihr Handeln zu überdenken. Sie saß reglos da, den Kopf zur Seite geneigt, und ging dann zu ihr.

»Braves Mädchen, braves Kätzchen, Yoyo.« Tante Dimps bückte sich, um die Katze, die auf sie zugeschlendert kam, hochzuheben.

Yoyo wich den ausgestreckten Händen aus, sprang hoch und landeterumms auf dem Manual. Ein fürchterliches Quietschen gellte durch die Pfeifen, das Yoyo so erschreckte, daß sie von der Orgel flitzte, durch den Emporengang sauste und die Hinter­treppe hinunterstürmte, die im Vestibül mündete. Sie erblickte Buster und Juts draußen auf der Treppe, sammelte sich und ging hinaus.

Als Juts die Orgeldissonanzen vernahm, zählte sie zwei und zwei zusammen. Sie kollabierte auf der Treppe, mehr aus Hei­terkeit denn aus Scham, just als die Pforten von St. Rose of Lima sich auftaten und die Andächtigen herausströmten wie aus der Schule entlassene Kinder.

Der scharfsichtige O. B. Huffstetler, der seine hochschwange­re Frau die Treppe hinunterführte, entdeckte Juts und rief nach Louise, die gerade aus der Tür trat. »Louise, mit Juts stimmt was nicht.«

Ihr Blick, wie der aller anderen, folgte seinem weisenden Fin­ger. So schnell es ihre hohen Absätze erlaubten, rannte Louise die Stufen hinunter; ihr orchideenfarbenes Oberteil wogte bei jedem Schritt. Pearlie und die Mädchen stürmten über den Platz hinterher.

Atemlos kniete Louise neben ihrer Schwester nieder. »Juts, Juts, was ist mit dir?«

Juts lachte so sehr, daß sie schluchzte. Sie konnte nicht ant­worten.

»Tante Juts.« Mary kniete sich ebenfalls zu ihrer geliebten Tante.

»Was machen Yoyo und Buster hier?«, fragte Maizie.

Das löste bei Juts erneute Lachschluchzer aus.

Pearlie bückte sich und legte seiner Schwägerin behutsam die Hände unter die Arme. »Und auf.« Er half ihr auf die Beine, worauf sie sich gegen ihn sacken ließ.

»Wir sollten besser den Arzt holen«, sagte Pearlie.

»Nein.« Julia schüttelte den Kopf, versuchte etwas zu sagen und brach wieder zusammen.

Unterdessen versammelten sich die Gemeinden von St. Rose und der episkopalischen St.-Pauls-Kirche auf der Treppe der Christuskirche.

»Alles in Ordnung?«, fragte Junior McGrail, die insgeheim auf das Gegenteil hoffte.

Juts nickte.

»Also, was ist passiert?«, fragte Popeye Huffstetler, stets der Reporter, unverblümt.

Juts lachte weiter und deutete auf Hund und Katze.

Junior, die jetzt hinzugetreten war, bemerkte in weithin hörba­rem Flüsterton zu ihrer besten Freundin Caesura Frothingham: »Stell dir vor, es ist Ostersonntag, und sie hat schmutzige Fin­gernägel. Ich würde ja nicht wollen, daß mir jemand mit schmutzigen Fingernägeln die Haare macht.«

Juts hatte beim besten Willen den Schmutz nicht wegbekom­men, nachdem sie die ganze Nacht Tulpen und Azaleen ge­pflanzt hatte.

Sie blinzelte die Tränen zurück. »Junior, du hast doch nur zwei Haare auf dem Kopf.«

Juts war offensichtlich auf dem Wege der Besserung.

Der Gottesdienst in der Christuskirche war zu Ende, und der Rest der Gläubigen eilte ins Freie. Binnen Sekunden hatten sich die Einzelheiten von Yoyos und Busters Eskapaden herumge­sprochen. Die meisten lachten. Ein paar bigotte Kreaturen wa­ren entrüstet.

Chessy, Cora, Celeste, Ramelle und Fannie Jump grölten bei jedem geschilderten Detail von Yoyos Feldzug.

Chester nahm die schnurrende Yoyo auf den Arm. »Das hat dir wohl der Teufel eingegeben.«

Worauf alle wieder lauthals losprusteten.

Junior ließ einen prüfenden Blick über die Parkanlage schwei­fen. »Ich erinnere mich nicht, daß hier Azaleensträucher stan­den.« Sie wies mit ihrem Wurstfinger auf die Blumen.

»Oh.« Ramelle zuckte die Achseln.

»Sie sind mit Tulpen durchsetzt. Als Präsidentin der Schwe­stern von Gettysburg habe ich die Pflanzung mit meinen Mäd­chen angelegt, und zwar ausschließlich mit Tulpen«, ereiferte sich Junior.

»Ha.« Caesura, eine ehemalige Präsidentin der Schwestern von Gettysburg, rief aus: »George Gordon Meades Statue ist entweiht.«

»Er hängt nach Backbord«, bemerkte Popeye.

Fannie Jump Creighton, amtierende Präsidentin der Töchter der Konföderation, verschränkte vorsichtshalber ihre Hände hinter dem Rücken. »Hab ja schon immer gesagt, daß Meade nicht standhaft ist.«

»Ihr habt den Krieg angefangen!«, blaffte Caesura.

»Ich war damals noch gar nicht geboren. Himmel, du bist so alt, Caesura, du erinnerst dich nicht nur anden Krieg, du hast vermutlich auch im Krimkrieg die englische Brigade für das Heimatland angeführt.«

»Also. also. ich muß schon sagen! Und das am Ostersonn­tag.« Caesura pochte mit ihrem Sonnenschirm auf die Treppen­stufen. »Du wirst noch von mir hören, Fannie Jump Creighton. Ich weiß, daß du irgendwie dahinter steckst.«

»Bei dir ist doch was locker«, parierte Fanny.

»Wie kannst du es wagen.« Caesura schlug Fannie ihren Son­nenschirm auf den Kopf.

»Frechheit!« Fannie schnappte sich Ramelles Sonnenschirm, worauf sich die beiden Damen duellierten.

Buster bellte, und Yoyos Augen wurden so groß wie Kegel­kugeln.

Chester und Pearlie packten Fannie Jump, ein kräftiges Ex­emplar der weiblichen Spezies, während sich Popeye und Pastor Neely mit flatternder Robe Caesura griffen.

»Das ist fürchterlich. Das ist einfach fürchterlich«, wimmerte Junior.

Caesura, die angeschlagen wirkte wie ein gerupftes Huhn, zeigte mit ihrem Sonnenschirm auf Fannie Jump. »Ich verlange Satisfaktion.«

»Hören Sie, Popeye, Sie müssen das aus der Zeitung heraus­halten.« Junior hatte sich an Popeyes Arm gehängt. Er kritzelte bereits drauflos. Ihr Gewicht verlangsamte lediglich die Proze­dur.

Als sie bei Popeye nichts erreichte, schnappte Junior sich Walter. »Sie können sie nicht so bloßstellen. Sie wurde öffent­lich beleidigt, und Sie wissen, wie sehr Caesura sich für die Gemeinde einsetzt.«

»Junior, ich sage meinen Jungs nie, was sie zu schreiben ha­ben.«

»Dann inseriere ich nie mehr imClarion!« Mit diesen Worten stampfte sie die Stufen hinunter, Caesura im Schlepptau, just als Extra Billy Bitters, eben aus dem Baptistengottesdienst ge­kommen, die Stufen zu Mary hinaufsprang.

Louise glühte vor Zorn.

»Süße«, flüsterte Cora ihr ins Ohr, »für heute hatten wir Auf­ruhr genug.«

Celeste lächelte und seufzte. »Mary und Extra Billy sind ver­zauberter voneinander als wir beide.«

»Du vergißt, was für ein Gefühl es ist, jung und verliebt zu sein.« Ramelle beäugte ihren zerbrochenen Sonnenschirm, als Fannie sich keuchend zu ihnen gesellte.

»So eine verfluchte Idiotin. Caesura Frothingham ist wirklich eines der dämlichsten Weiber, die ich je gekannt habe. Wenn sie ein Hirn hätte, wäre sie gefährlich. So ist sie nur mäßig amü­sant.«

»Aber, aber, Fannie.«

»Ach, Celeste, verteidige sie nicht auch noch.«

»Tu ich nicht, aber.«

Pastor Neely, der ihnen nicht die Hände gedrückt hatte, wie es nach jedem Gottesdienst Brauch war, kam mit ausgestreckten Händen zu ihnen. »Er ist auferstanden.«

»Amen.« Fannie drückte ihm feierlich die Hand.

Pastor Neely trat sodann zur Hunsenmeir-Gruppe. »Louise Trumbull, welch freudige Überraschung, Sie auf den Treppen­stufen der lutherischen Christuskirche anzutreffen.«

13

Am Ostermontag um halb sieben klingelte im Hause Smith das Telefon. Buster hob den Kopf von den Pfoten, legte ihn dann wieder hin. Das Telefon klingelte jeden Morgen um halb sie­ben.

Juts, die sich ihre erste Tasse Kaffee machte, während Chessy sich rasierte, nahm den schweren schwarzen Hörer ab. »Klinge­ling.«

»Gott sei Dank sind wir nicht auf der Titelseite«, sagte Louise erleichtert. »Hast du deine Zeitung?«

»Ja. Buster hat sie geholt. Ich schlag sie gerade auf. Du hast Recht.« Dann blätterte Juts die Zeitung um. »Wir sind nicht auf der Titelseite. Wir sind auf Seite zwei.«

»O nein.« Louise hatte in ihrer Aufregung die Titelgeschichte durchgelesen, einen Kriegsbericht, der auf der letzten Seite fortgesetzt wurde. Sie hatte die Zeitung noch nicht aufgeschla­gen. Sie las rasch: »Buster Smith und Yoyo Smith, ein Irish Terrier und eine große langhaarige Straßenkatze, gesellten sich am Ostermorgen zur Gemeinde der lutherischen Christuskirche. Möglicherweise angeregt von Pastor Neelys Predigt über die Auferstehung als Wiedergeburt aus unserem animalischen Ich, leisteten Katze und Hund ihren Beitrag zum Gottesdienst. Yoyo Smith zeigte sich geschickt im Umgestalten von Blumenarran­gements, und Buster Smith war für Erfrischungen zuständig.

Der Gottesdienst erreichte seinen Höhepunkt, als Yoyo die Orgel spielte. Mrs. Smith erklärte, ihre Katze sei schon immer musikalisch gewesen, was von Sevilia Darymple, der Kirchen­organistin, bestätigt wurde. Mrs. Smith, geborene Julia Ellen Hunsenmeir, wird mit ihrer Schwester, Mrs. Paul Trumbull, auf der Frederick Road hinter demStrand Theater einen Friseursa­lon mit NamenCurl 'n' Twirl eröffnen. Die große Eröffnungs­feier findet am 15. Mai statt. Mrs. Smith zufolge werden Buster und Yoyo ebenfalls im Salon beschäftigt sein.«

Als Louise innehielt, um Atem zu holen, sagte Julia: »Ganz gute kostenlose Reklame, was?« »Ich erinnere mich nicht, daß du Popeye ein Interview gege­ben hast.«

»Ich hab ihn angerufen, als wir von Moms Osteressen nach Hause kamen. Jetzt sind wir wohl quitt«, sagte Juts.

»Nein, sind wir nicht. Der gräßliche Artikel über dich und mich mit dem schrecklichen Bild auf der Titelseite. Ich meine, ich sah aus wie ausgespuckt, und du sahst, na ja, nicht aus wie du selbst.«

»Okay - aber das hier ist ein guter Anfang, Louise. Popeye kann ruhig noch ein bißchen mehr Buße tun.«

»15. Mai.« Sie senkte die Stimme. »Glaubst du, wir schaffen es bis dahin?«

»Wir müssen. Außerdem, da Junior McGrail nicht mehr im Clarion inseriert, laß uns das Eisen schmieden, solange es heiß ist.«

»Sie wird in derTrumpet inserieren.«

»Aber zu uns kommen dann all die neuen Leute in Süd- Runnymede.«

»Julia, es gibt keine neuen Leute in Süd-Runnymede.« .

»Louise, du bist so eine Pessimistin. Außerdem habe ich ein paar wirklich gute Ideen.«

»Genau das habe ich befürchtet.«

14

Die Ereignisse der letzten zwei Tage hatten Louise geschlaucht, aber das wurde ihr erst bewußt, als sie sich mit Juts in ihrem Laden traf, um Tapeten auszusuchen. Mit einem dumpfen Knall ließ sie sich auf dem Boden nieder. Doodlebug, ihr Boston Bullterrier, hockte sich neben sie und ignorierte Busters Auf­forderung zum Spielen.

»Julia, nach dem, was gestern passiert ist, meine ich, du soll­test Buster eine Ruhepause gönnen.«

»Du bist es, die eine Ruhepause braucht. Du siehst aus wie vom Hund gebissen.«

Louise knurrte: »Tausend Dank.«

»Herrje, Louise, wenn ich es dir nicht sagen kann, wer dann?« Juts beugte sich über das Tapetenmusterbuch. »Diese Farben sind schön, aber das Muster ist zu unruhig. Chinesinnen unter Weiden. Hm, mal sehen. «

»Blätter nicht so schnell um. Weißt du, Juts, ich halte das im­mer noch nicht für so eine gute Idee. Die Tapete wird abblät­tern. Wir sollten die Wände streichen und fertig. Mit Hoch­glanzfarbe.«

Julia zeigte auf die vielen Risse in den Wänden. »Weißt du, wie lang das dauert, die auszubessern?«

»Pearlie hat gesagt, er kommt am Abend her und spachtelt sie zu, jeden Einzelnen.«

»Wirklich?«

»Er war sehr entgegenkommend. Fortschritte bei Chessy?«

Mit einer Stimme, die höher und dünner war als sonst, antwor­tete Juts: »Er ist dabei.«

Louise seufzte. »War eine hektische Woche, nicht?«

»Hektisch? Es ging zu wie im Irrenhaus. Muß irgendwas in der Luft liegen.« Sie hob das dicke Musterbuch von ihrem Schoß und gab erstaunlich schnell nach. »Wenn Pearlie die Risse ausbessert, nehmen wir Hochglanzfarbe.«

»Eine, auf der man den Schmutz nicht so leicht sieht.« Louise war froh, daß ihre Schwester ihr zur Abwechslung mal Recht gab. »Eine schöne kräftige Farbe.« »Schwarzer Untergrund.«

»Wirst du dich wohl konzentrieren?«

»Tu ich ja. Ich hab schließlich das Buch hergeschleppt, oder? Weißt du was, wir brauchen unbedingt ein Radio hier drin. Wir werden stundenlang auf den Beinen sein, also laß uns ein biß­chen Musik machen. He, vergiß den Ball dieses Wochenende bei Dingledines nicht.«

»Ich bin zu müde, um an Tanzen zu denken.«

Jedes Jahr veranstaltete die Gärtnerei vor der alten Scheune auf dem Grundstück einen großen Ball. Wenn es regnete, gin­gen sie hinein, wenn nicht, tanzten sie im Freien auf einem ei­gens errichteten Tanzboden. Die Dingledines wußten, die Fest­teilnehmer würden durch die Pflanzungen gehen, die Frühjahrs­sträucher und Blumen sehen und vielleicht im Laufe des Tages wiederkommen, um sich ein paar zu holen.

»Louise, willst du nicht nach Hause gehen und dich hinlegen? Ich mach das hier schon.« Juts zog ein Maßband aus ihrer Ta­sche.

»Ich bin hier besser aufgehoben. Zu Hause gibt es bloß noch mehr zu tun. Mary und Maizie rühren dieser Tage keinen Fin­ger. Mary tut nichts als schmachten, heulen oder singen. Maizie läßt sich von Mary ablenken, dann fängt sie zu spät mit ihren Schularbeiten an, also bleibt der Haushalt.« Sie brach ab.

Juts, von Berichten über Haushaltsquerelen nicht gerade ge­fesselt, durchquerte den Laden. Sie hielt das Maßband mit dem Daumen am Fußboden fest und zog es dann einen Meter in die Höhe. »Frisiertische in dieser Höhe.«

»Moment mal.« Louise rappelte sich auf und tippelte ein paar Schritte hinüber. Dann stellte sie sich neben das Maßband, machte imaginäre Frisierbewegungen, griff nach Scheren und Kämmen. »Eine Handbreit höher.«

Juts hielt das Band eine Handbreit höher. »Gut so?«

»Ich denke, ja. Warte, ich halt es für dich.« Louise nahm das Ende des Bands und hielt es fest.

Juts vollführte ihrerseits imaginäre Handgriffe. »Für mich ist es gut so. Sollte auch hinhauen, falls wir andere Friseusen ein­stellen, wenn nicht gerade ein Zwerg dabei ist.« Sie griff nach dem Band. »Also, ich denke, hier drüben sollten wir eine Wand einziehen, damit wir hinten einen kleinen Privatraum haben.«

»Wir haben da hinten eine Vorratskammer. Setz dich da rein, wenn du allein sein willst. Sie ist groß genug.«

»Louise, das halten wir höchstens zehn Minuten aus. Chessy braucht hier doch bloß ein paar Bretter anzubringen, verstehst du?«

»Und woher nehmen wir das Geld?«

»Wir brauchen keins. Er kann Walter Falkenroth um über­schüssiges Holz bitten. Es fällt immer etwas ab. Es wird uns Lattenwerk und etwas mehr Farbe kosten, aber dann haben wir einen Platz, wo wir ungestört sind.«

»Wozu willst du ungestört sein?«

»Um eine Zigarette zu rauchen, ein Bier zu trinken und Solitär zu spielen.«

Louise sprach ein Machtwort. »Du wirst während der Arbeits­zeit nicht trinken.«

»Sei nicht so pingelig.«

»Ich werde es nicht dulden. Was das Rauchen angeht, die Zi­garette klebt dir ja an den Lippen. Zum Qualmen brauchst du kein Hinterzimmer.«

»Ich habe mir zufällig gerade eine angesteckt, aber ich rauche nicht so viel, wie du behauptest. Außerdem tut es gut, sich un­beobachtet hinzusetzen, einen Zug zu nehmen und eine Tasse heißen Kaffee zu trinken.«

»Hm.« Louise dachte darüber nach. »Aber nur, wenn Ches­sy das Holz umsonst kriegt.«

»Gut.« Julia klatschte in die Hände, worauf beide Hunde zu ihr gelaufen kamen. »Verzeihung, Jungs.« Sie setzten sich wie­der hin. »Wir müssen Harmons Frau die Haare umsonst schnei­den und mal sehen - wem noch?«

»Warum?«

»Weil er Extra Billy und Mary ins Gefängnis hätte stecken können, darum. Wheezer, bist du krank oder so was? Du hast heute eine lange Leitung.«

»Ich bin geschlaucht.« »Ich wäre auch geschlaucht, wenn meine Tochter mit einer Niete durchbrennen würde. Den Revolver abzufeuern war auch nicht ihre Sternstunde.«

»Sie ist reizbar.«

»Reizbar? Sie ist reif für die Klapsmühle!«

»Julia, am Verstand meiner Tochter gibt es nichts auszuset­zen.«

»Jetzt schon.«

»Gewöhnlich verteidigst du sie immer.« Ein Anflug von Un­mut schlich sich in Louises Stimme.

»Nein, ich sage dir bloß, du sollst die Sache mit Extra Billy einfach schleifen lassen. Je mehr sie mit ihm zusammen ist, desto eher wird sie ihn als das sehen, was er ist, nämlich einen äußerst attraktiven Gassenjungen.«

»Sie ist nicht deine Tochter.«

»Fangen wir nicht wieder damit an. Wir sind beide müde. Wir haben noch einen Monat, um alles fertig zu stellen. Ich versuche einen Salon aufzutreiben, der sein Geschäft aufgibt. Vielleicht können wir billig an die Einrichtung kommen. Ich habe ein paar Läden in Baltimore angerufen, und sie haben versprochen, zu­rückzurufen, wenn sie etwas hören. Vielleicht kannst du mit York und Hagerstown telefonieren, damit die Ferngespräche nicht alle über meine Leitung laufen. Chester ist immer noch sauer wegen der ganzen Geschichte.«

»Er wird drüber wegkommen. Sag mal, hast du Rillma Ryan gestern am Bahnhof gesehen? Ich bin ihr begegnet, als ich von Mom kam. Sie sah so hübsch aus, so ganz herausgeputzt. Stell dir vor, eine Anstellung in Washington.«

»Ja, wenn ich nicht verheiratet wäre, würde ich auch hinge­hen. Überall Männer!«

Louise würde eher sterben als zugeben, daß sie das Leben an sich vorüberziehen fühlte. Bisher hatte sie das nie gekümmert, doch in letzter Zeit flog ihr der Gedanke durch den Kopf wie einer dieser Doppeldecker, die ihre Reklamebänder über dem Strand von Atlantic City hinter sich herzogen. Man wußte nie, wann sie kamen. Man hörte ein Dröhnen, und schon tauchten sie direkt hinter der Küste auf, und der Pilot winkte einem zu. Auf Louises Spruchband stand: »Du wirst alt. Wie lange hast du noch?«

»Julia.?«

»Was?«

»Nichts.«

»Wie wäre es, wenn wir es bis hierhin in einem tiefen Rotton streichen, hier eine Stuhlleiste anbringen und darüber mit Weiß weitermachen?«

»Das sieht ohne Täfelung albern aus, und jetzt sag bloß nicht, daß du die Täfelung umsonst kriegst, Julia; ich bin schließlich nicht von gestern.«

»Ich hab gar nichts gesagt.« Juts blickte aus dem Fenster, ent­deckte Mary auf der anderen Straßenseite und sah auf die Uhr. »Wieso ist Mary um halb zwei nicht in der Schule?«

»Was?« Louises Blick folgte Juts' Zeigefinger. »Das finde ich gleich heraus.« Sie schritt forsch zur Tür, öffnete sie und rief hinaus: »Mary, wieso bist du nicht in der Schule?«

»Wir durften heute früher gehen, Mom.« Mary überquerte die Straße. »Ich bin nach Hause gegangen, aber du warst nicht da, und da bin ich hergekommen.«

»Warum durftet ihr früher gehen?« Louise war mißtrauisch.

»Der Heizkessel ist kaputtgegangen, also haben sie uns nach Hause geschickt, bevor es zu kalt wurde. Es sind bloß sieben Grad. Du kannst ja Mrs. Grenville anrufen und dich vergewis­sern«, antwortete sie trotzig.

»Wenn du schon mal da bist, kannst du dich auch nützlich machen.« Louise überging diese Provokation.

»Deswegen bin ich hier.«

»Wo ist deine Schwester?«

»Sie ist unterwegs. Ich hab ihr gesagt, sie soll Sachen mitbrin­gen.«

Gleich darauf kam Maizie mit zwei schweren Eimern um die Ecke geschlurft.

»Du hättest ihr helfen können.«

Ohne zu antworten, lief Mary schnell nach draußen und nahm ihrer überforderten Schwester einen Eimer ab.

Juts spähte in die Eimer, als die Mädchen hereinkamen. »Band, Kreide, Hämmer, Nägel, oh, hier ist ein aufklappbarer Zollstock, das ist besser als unser Maßband.«

Louise drehte den Thermostat an der Wand höher. »Es wird ziemlich kalt.« In den alten Heizkörpern blubberte es. »Wir müssen die Heizkörper entlüften.«

Juts schnappte sich Band und Kreide und markierte den Platz auf dem Fußboden, wo die Schränkchen stehen sollten.

»Mary, war das deine Idee - zu helfen?«

»Ja, Mutter.« Mary schenkte ihr ein breites, liebliches Lä­cheln.

15

Yoyo stand seit ihrer Osterandacht unter Hausarrest. Mit halb geschlossenen Augen saß die Katze im Fenster. Busters Bellen, als er um die Ecke bog, trieb sie von der Fensterbank zur Tür. Juts war jedoch mit dem einen oder anderen Katzentrick ver­traut, bückte sich also, kaum daß sie die Tür geöffnet hatte, und packte die gewiefte Ausreißerin, bevor auch nur eine Pfote die Schwelle überschreiten konnte.

»Hab ich dich.«

Yoyo miaute entrüstet, ließ es sich aber gefallen, daß Juts sie auf ihre Schulter setzte und ihr den Rücken klopfte, als wäre sie ein Baby. Sie hielt ihr Schnurren zurück, bis sie das Huhn in der Tüte roch, die Juts in der rechten Hand trug.

Julia auf den Fersen folgte Mary, die rasch die Tür schloß. Auch sie trug eine Tüte mit Lebensmitteln.

»Tante Juts, wo soll ich die Sachen hinstellen?«

»Auf den Küchentisch.«

Sie packten die Lebensmittel aus, dann zerteilte Juts das Huhn und schrubbte sorgfältig jedes Fleischstück, bevor sie es auf ein Blatt Wachspapier legte. Das Wachspapier war mit Mehl und Gewürzen bestreut, die sie für ihr Brathuhn zusammengemischt hatte. Auf der Anrichte lagen zwei braune Eier, die sie auf­schlug. Sie wälzte die Hühnerteile in Ei, zog sie dann durch das Mehl und die Gewürze. Brathuhn war ihre Spezialität.

Yoyo sah zu, und ihre Schnurrhaare zuckten von Zeit zu Zeit, so verführerisch war der Duft. Der Hund stand wie gebannt auf dem Küchenboden und verfolgte jeden Handgriff.

Da die Mädchen früher aus der Schule gekommen waren, hat­te Juts Mary gebeten, ihr zu helfen; Maizie war bei Louise ge­blieben.

»Mach das Radio an, ich hab nasse Hände.«

»Mach ich, Tante Juts.« Mary drehte den linken Knopf des kleinen Radiogerätes, dessen Holzgehäuse einer Kathedrale nachempfunden war. Es stand unter der alten Uhr. Das große Radio zierte das Wohnzimmer.

Die Smiths besaßen nicht viel, doch ihre Musik liebte Julia. Der hölzerne Küchentisch hatte eine weiße Keramikplatte mit schmalen rosa Streifen. Die Fußböden bestanden aus unebenen Eichenbohlen. Die Schränke waren gelb mit runden roten Emaillegriffen. Weiße Gardinen mit einem roten Teekannen­muster hingen an den Fenstern. Eine große, luftige Vorrats­kammer half, in der Küche Ordnung zu halten; denn wie bei ihrer Schwester und ihrer Mutter mußte bei Juts immer alles tipptopp sein. Wenn Chester nach Hause kam und seine Jacke über die Lehne eines Küchenstuhls hängte statt an einen Haken im Windfang, bekam er umgehend etwas zu hören. Alle Hun­senmeirs waren verbissen reinlich.

Julia summte bei der Arbeit.

»Mom sagt, früher warst du ein total verrücktes Huhn, Tante Juts.«

»Ist das wahr?«

»Sie sagt, ich schlage dir nach.«

»Verstehe.« Juts wartete, bis die Bratpfanne die gewünschte Brutzeltemperatur erreichte. »Was quatscht sie sonst noch über mich?«

Mary, die wie eine jüngere, etwas größere Ausgabe ihrer hüb­schen Mutter aussah, kicherte. »Sie sagt, wenn ich nicht aufpas­se, ende ich wie du und muß mich gehörig nach der Decke strecken, weil ich den Falschen geheiratet habe.«

»Deine Mutter erzählt nur.« Sie fing sich. »Komisches Zeug. Chessy ist ein guter Mensch.«

»Das ist es nicht, Tante Juts, es geht nur darum, daß er nicht viel verdient. Sie sagt, du hättest es viel besser treffen können - daß Walter Falkenroth in dich verliebt war, und er hat massen­weise Geld, Unsummen, und daß du ihn hast abblitzen lassen.«

Juts sah Yoyo näher an das Huhn heranrücken, das jetzt rund­um mit Mehl bestäubt war. »Komm mir ja nicht auf dumme Gedanken.« Yoyo erwiderte Julias Blick. »So ein ungehorsames Kind.«

Mary lachte. »Sie wird wohl in der Kirche den Kreuzweg be­ten müssen.«

»Protestanten glauben nicht an den Kreuzweg. Wir haben eine Scheckbuch-Religion. Das ewige Gemurmel, Bekreuzigen, Hinknien und Aufstehen überlasse ich meiner Schwester. Sie ist regelrecht besessen davon. Je elender, desto besser.«

»Mom geht noch mal zu Diddy. Orrie kommt mit.« Orrie Tad­ja Mojo, ihrer besten Freundin, vertraute Louise ihre geheim­sten Wünsche an. Tatsächlich begann jedes Gespräch mit Orrie so: »Daß du es ja keiner Menschenseele erzählst.« Dann vergaß Louise, daß sie es Orrie erzählt hatte, vertraute es jemand an­ders an, die Geschichte sprach sich in der ganzen Stadt herum, und Louise beschuldigte Orrie, es ausgeplaudert zu haben.

»Das heißt, wir dürfen uns auf einen neuen Frömmigkeits­schwall gefaßt machen.« Juts gab eine saftige Hühnerbrust ins Öl. Das Zischen erschreckte sie. »Heiß, heiß, heiß.« Sie holte ein dickes Küchenhandtuch und breitete es auf der Anrichte aus. Wenn das Huhn fertig war, würde sie es auf das Handtuch le­gen, damit ein Teil des Öls aufgesaugt wurde.

»Tante Julia.?«

»Hmm.«

»Magst du Billy?«

»Ich finde, er sieht blendend aus.«

»Stimmt.« Mary wurde rot.

»Ich weiß nicht, ob er mal solide wird, Herzchen. Seine Fami­lie hat ihm keine Basis mitgegeben.«

Ihr Blick trübte sich. »Oh, das wird er bestimmt. Er braucht mich. Ich kann ihm helfen.«

»Mary, jede Frau seit Eva hat das geglaubt. Ich kann sie hö­ren:>Ich gebe ihm den Apfel, und dann kommt er zur Vernunft und geht arbeiten. < Und was ist passiert? Adam gewinnt eine Erkenntnis und gibt Eva die Schuld. Sie hat ihm nicht die Pisto­le auf die Brust gesetzt. Er hätte den verdammten Apfel nicht essen müssen, der Schwächling.«

Julias Einstellung, die so ganz anders war als Louises ortho­doxe Denkweise, brachte Mary zum Lachen. »Sie hatten damals noch keine Pistolen.«

»Sie hätte ihm mit einem Stock eins überbraten können. Nein, er hat ihr den glänzenden roten Apfel aus der süßen Hand geris­sen. Er beißt ab und entdeckt, daß sie nackt sind. Jetzt frage ich dich, Mary, ist das nicht oberdämlich? Der Mann muß dumm wie Bohnenstroh gewesen sein. Garten Eden, von wegen. Nachts war es bestimmt kalt, sogar im Garten Eden, also brauchte er nachts was Warmes zum Anziehen, stimmt's?«

»So habe ich es noch nie betrachtet.«

»Da hast du's. Wenn du die Bibel liest und darüber nach­denkst, hast du am Ende mehr Fragen als Antworten. Deshalb will kein Prediger, daß du wirklich nachdenkst. Also gibt Adam Eva die Schuld daran, daß wir alle in der Bredouille stecken. Der Hornochse konnte nicht zu dem stehen, was er getan hatte. Und so ist es bis zum heutigen Tag: Wenn ein Mann in Schwie­rigkeiten steckt, was tut er - gibt einer Frau die Schuld.«

»Billy gibt mir nicht die Schuld an seinen Problemen.«

»Oh, Mary, laß ihm Zeit.« Julia lächelte, doch da sie wußte, wie zart und wunderbar erste Liebe sein kann, fügte sie rasch hinzu: »Es freut mich zu hören, daß er die Schuld auf sich nimmt.«

»Nicht nur das, er wird die Statue reparieren. Er hat Donny Gregorivitch gebeten, ihm zu helfen, du weißt, Donnys Dad hat den großen Abschleppwagen.«

»Was will er mit dem Abschleppwagen?«

»Die Statue aufrichten und den Sockel stützen. Er hat alles genau überlegt.«

»Weiß Harmon Bescheid?«

»Ja, Ma'am, der Sheriff war der Erste, dem er es erzählt hat.«

»Hm - gut. Jetzt quält mich noch eine kleine Frage, ein win­ziger Wurm im Apfel - ich scheine heute Äpfel im Hirn zu haben.« Sie hielt inne und spießte mit ihrer Bratengabel die heißen Hühnerteile auf, legte sie auf das Handtuch, dann gab sie weitere Hühnerteile in die Pfanne. Es zischte, als sie mit dem Öl in Berührung kamen. Yoyo schlich auf Samtpfoten auf der Fen­sterbank über dem Spülstein entlang und setzte sich mit Be­dacht neben die Hühnerteile, wenn auch mit dem Rücken zu ihnen. »Yoyo, ich durchschaue dich.«

Die Katze legte die Ohren an und weigerte sich, sich umzu­drehen.

»Sie ist ein Unikum.« Mary knipste die Stengel von Eibisch­früchten aus Carolina ab, die sie glücklicherweise frisch be­kommen hatten.

»Jeder in dieser verdammten Familie ist ein Unikum. Also, was ich dich fragen wollte, warum wolltet ihr ausreißen, du und Extra Billy? Zum Vergnügen komme ich später.«

»Wir wollten nicht ausreißen, Tante Julia.« Mary hob abweh­rend die Stimme. »Mom hatte gesagt, ich darf erst ausgehen, wenn ich alle Schularbeiten fertig habe. Billy hat kein Telefon, darum konnte ich ihm nicht Bescheid sagen, und als er vorbei­kam, bin ich rausgegangen, um es ihm zu sagen. Und Mom steht da und schreit mich an und macht Theater, und ich hab bloß gesagt:Scher dich zum Teufel<, was schlimm war, aber ich hab's getan, und dann bin ich ins Auto gestiegen und hab gesagt:>Laß uns nach Baltimore fahren. < Wie konnte ich wis­sen, daß sie ausrastet und mir in Daddys Wagen nachjagt?«

»Diesen Teil kenne ich; dein Vater hat hier angerufen, und Chessy und ich sind schnell los, um ihn abzuholen.« Sie atmete tief ein. »Hat dein Vater je mit dir über Extra Billy gespro­chen?«

»Daddy sagt, er versteht Mädchen nicht. Aber Maizie scheint er ganz gut zu verstehen.«

»Maizie ist anders als du. Sie ist mehr wie Paul.«

»Tante Julia, ich liebe Billy. Ich will ihn heiraten und den Rest meines Lebens mit ihm verbringen.«

»Oh, der Rest deines Lebens ist eine lange, lange Zeit.«

»Ich werde nie einen anderen lieben.« Sie hielt den Eibisch unter das fließende Wasser.

Juts hätte gern ein paar Dinge gesagt - pragmatisch, reif oder etwas, das als reif durchging; etwas Vernünftiges. Sie hielt den Mund. Warum die Illusion zerstören? Das würde das Leben schon besorgen.

»Hat Billy um deine Hand angehalten?«

»Nicht direkt.«

»Verstehe.«

Mary fügte hastig hinzu: »Er hat noch nicht genug Geld. Wirklich.«

Yoyo blickte vorsichtig über die Schulter. Als Juts ihr den Rücken zukehrte, um einen Topf für den Eibisch zu holen, sti­bitzte sie behutsam einen kleinen Hühnerflügel und verschwand blitzschnell von der Anrichte, bevor Juts irgend etwas merkte.

Juts drehte sich wieder zum Herd. »Mary, ich glaube, was al­len Sorgen macht, ist, daß du und Billy etwas Unbedachtes tun könntet.«

Mary lief kirschrot an und schüttelte den Kopf. »Nein, das tun wir nicht.«

»Das ist gut. Ich bin in diesen Dingen nicht so zimperlich wie deine Mutter. Letzten Endes sind wir doch Tiere, also ist es mir egal, ob ihr aufs Ganze geht, aber - verstehst du?« Mary nickte, wobei sie noch mehr errötete, und Julia fuhr fort: »Wenn man Kinder in diese Welt setzt, ist es wichtig, daß man verheiratet ist und so eine große Verantwortung auch übernehmen kann - also sieh dich vor, Schatz.«

»Bin ich, ich meine, mach ich, Tante Juts.« Sie holte ein fri­sches Geschirrtuch aus einer Schublade und betupfte damit die Oberseite der gebratenen Hühnerteile. »Ich werde im Januar sechzehn, und dann kann ich selber bestimmten, ob ich heirate.« Sie lächelte. »Ich streiche jeden Tag im Kalender rot an. Und weißt du, was mich wirklich ärgert, Tante Julia, ich finde es einfach so gemein, Mutter kann so gemein sein. Sie sagt« - Mary stemmte die Hand in die Hüfte und ahmte ihre Mutter nach -»>Unwissenheit ist ein Segen.<«

»Warum sind dann nicht mehr Menschen glücklich?« Dann bemerkte Juts eine kleine fettige Schleifspur auf dem Küchen­boden. Sie folgte ihr, fand einen größeren Fettfleck um die Ecke, an dem Buster leckte. Yoyo lag zusammengerollt auf dem Sofa, als hätte dies nicht das Geringste mit ihr zu tun. Juts zog eine Grimasse, dann lachte sie über sich selbst. »Gott, es ist furchtbar, von der eigenen Katze überlistet zu werden.«

16

»Wenn du dich nicht beeilst, kommen wir zu spät«, drängte Juts ihren Mann, der gerade seine Fliege band. »Du bist immer zu spät dran. Du kommst noch zu spät zu deiner eigenen Beerdi­gung.«

»Ich bin fast fertig«, sagte er gelassen.

Chester, der schon sein ganzes Leben von seiner Mutter und nun von seiner Frau geschubst und gedrängelt wurde, erschien regelmäßig mindestens eine halbe Stunde zu spät.

Das Telefon klingelte zweimal, ihr Signal, seit sie einen Ge­meinschaftsanschluß hatten, wie alle in Runnymede außer Cele­ste und den Rifes. Juts lief zur Treppe, nahm ab, brummte dann: »Deine Mutter.«

Chester griff nach dem Hörer; seine Fliege war gebunden, sein Hemd weiß und frisch gestärkt, seine Hose hatte Bügelfalten, seine zweifarbigen Budapester Schuhe waren auf Hochglanz poliert. Nachdem er seine Mutter begrüßt hatte, hörte er ihr einen Augenblick zu.

»Ist gut. Bis gleich.« Er drehte sich zu seiner Frau um, die die Hände in die Hüften stemmte. »Ich bring dich zu Wheezie, dann kannst du mit ihr fahren. Mom braucht mich eine Minute, um ihre Hintertür zu reparieren.«

»Herrgott noch mal«, rief Juts so laut, daß Buster bellte. »Sie braucht dich andauernd. Warum kann dein Vater sie nicht repa­rieren?«

»Weil er heute Abend auf einer Versammlung ist.«

»Schön, Chessy. Sie kann also ihre Hintertür nicht zumachen. Na und?«

»Sie hat Angst, daß der Wind die Tür aus den Angeln reißt und dann größere Reparaturen fällig wären.«

»So ein Quatsch.«

»Komm schon, ich fahr dich zu Wheezie.«

So wütend, daß sie nicht sprechen konnte, stakste Juts zu dem Chevrolet Roadster Cabriolet Baujahr 1933, das Chessy ge­braucht gekauft hatte. Er hatte den flaschengrünen Wagen mit Pflegemitteln überschüttet, bis er funkelte, als sei er zur Aus­stellung im Verkaufsraum bestimmt.

Juts knallte die Tür so fest zu, daß das schwere Gefährt wackelte. Sie war noch nie gebeten worden, ihren Fuß in Josephine Smith' Haus zu setzen - das war die Rache ihrer Schwiegermut­ter dafür, daß Chester unter seinem Stand geheiratet hatte. Juts haßte jede Minute, die Chester bei dieser Frau verbrachte.

Chessy rutschte schweigend hinters Steuer und legte seinen steifen Strohhut zwischen sie auf den Sitz. Die weiche gelb­braune genoppte Polsterung war noch völlig intakt.

Yoyo und Buster blickten wehmütig aus dem vorderen Fen­ster, als das Auto rückwärts aus der Einfahrt setzte.

»Du kommst nicht vor zehn zu Dingledines. Ich kenne deine Mutter. Erst reparierst du ihre Hintertür, und dann läßt sie dich den Heizkessel nachsehen, und danach will sie, daß du die Mes­ser vom Rasenmäher schleifst, weil Rup sich wegen seiner Zip­perlein nicht so lange bücken kann.«

»Da wären wir.« Er rang sich ein Lächeln ab, als sie bei Loui­ses Haus ankamen. »Gerade zur rechten Zeit.«

Louise, Paul, Mary und Maizie stiegen soeben ins Auto. Ohne ein Wort des Abschieds knallte Juts die Tür zu. Chester winkte den Trumbulls und setzte zurück.

»Was gibt's Neues?«, fragte Louise.

»Mutter Smith braucht ihren Sohn.«

»Oh.« Wheezie quetschte sich neben ihren Mann, damit Juts noch vorne hinpaßte. Die Mädchen auf dem Rücksitz kicherten.

»Heiratet nie einen Mann, bevor ihr euch seine Mutter genau angesehen habt«, rief Juts über die Schulter. »Hört ihr mich da hinten?«

»Ja, Tante Juts«, ertönte es einstimmig.

»Daddy, was hast du gedacht, als du G-Mom zum ersten Mal begegnet bist?«, fragte Mary.

»Ich wünschte, du würdest sie nicht G-Mom nennen. Das klingt, als sei sie ein Gangster«, murrte Wheezie.

»Ich dachte«, sagte Pearlie lächelnd, als er sich an jenen weit zurückliegenden Tag erinnerte, »daß sie die netteste, charman­teste Dame ist, der ich je begegnet bin - ganz ähnlich wie meine eigene Mutter.«

Pearlies Mutter war gestorben, bevor die Mädchen geboren wurden. Obwohl das siebzehn Jahre zurücklag, vermißte er sie immer noch.

»Das hast du aber lieb gesagt.« Louise tätschelte seinen Arm.

»Mom, was hast du gedacht, als du Mrs. Smith kennen gelernt hast?« Mary weitete das Thema aus.

»Oh.«

»Nicht ausweichen, Wheezer«, sagte Juts.

»Ich habe gedacht«, Louise wägte ihre Worte, »daß Josephine Smith eine sehr hohe Meinung von sich und eine niedrige Mei­nung von uns Übrigen hat - aber ich habe sie ja von klein auf gekannt. Sie hat nie mit einer Hunsenmeir gesprochen.«

Wie Julia vorausgesagt hatte, fand Jo zahlreiche Aufgaben für ihren Sohn. Chester reparierte die Tür, dann sah er nach einem tropfenden Wasserhahn in der hinteren Toilette und tauschte eine Dichtung aus. Als sie ihn zu dem alten Stall hinterm Haus lotsen wollte, der jetzt als Garage diente, sträubte er sich. Che­ster hielt nichts davon, die Stimme zu erheben, schon gar nicht gegenüber seiner Mutter. Sie schimpfte über lockere Moral, über zunehmenden Alkoholgenuß im Gesellschaftsleben, über die Dingledines, die viel zu viel für eine kümmerliche Azalee berechneten, und über Julia Ellen, die sich beim Tanzen scham­los produzierte. Sie erinnerte ihren Ältesten daran, daß er nicht tanzen konnte, also wozu die Eile?

»Mutter, ich bin ohnehin schon spät dran.«

»Du hörst mir nicht zu. Nicht ein bißchen.«

»Doch.«

»Du bist Ostern für genau eine Stunde hergekommen. Eine Stunde für deine eigene Familie.«

Da er wußte, daß man es ihr nicht recht machen konnte, küßte er sie auf die Wange und ging. Sie stand in der Tür und schimpfte noch, als er schon davonfuhr.

Das Fest war in vollem Gang. Er setzte sich zu Maizie an den Tisch, da alle außer ihr tanzten.

»Hallo, junge Dame.« Er strahlte sie an, und sie strahlte ihren großen blonden Onkel ebenfalls an. »Läßt du diesen Tanz aus?«

»Onkel Chessy, nur mein Daddy hat mich zum Tanzen aufge­fordert.« Ihr Gesicht verzog sich, als sie das sagte.

»Tatsächlich?«

»Magst du nicht mit mir tanzen?«

»Ich kann nicht tanzen. Ich hab zwei linke Füße.«

Tränen schossen ihr in die haselnußbraunen Augen. »Niemand hat mich gern.«

Er legte seinen mächtigen Arm um ihre schmalen Schultern. »Das ist nicht wahr. Ich hab dich gern. Ich finde, du bist das hübscheste Mädchen hier. Du bist noch jung, und hier sind nicht viele Jungs in deinem Alter. Ehrlich gesagt sehe ich kei­nen Einzigen.«

»Ich bin vierzehn.«

Sie war am 1. April vierzehn geworden.

»Du wirst mit jedem Tag größer.« Er bemerkte das rundliche Gesicht, die einst pummeligen Gliedmaßen, die jetzt schlaksig wurden. Bei Maizie stand ein neuer Wachstumsschub bevor. Er fragte sich, wie seine Kinder aussehen würden, wenn er welche hätte.

»Onkel Chessy, ich wünschte, du würdest tanzen lernen.«

Er lachte. »Du und meine Frau.« Er nickte zu Juts auf dem hölzernen Tanzboden hinüber. Papierlaternen schwankten über den Köpfen. Ein Schwarm von Männern umschwirrte Juts. Sie hatte ein phantastisches Rhythmusgefühl und eine wunderschö­ne Figur. Die Männer konnten ihre Blicke nicht von der tanzen­den Juts wenden.

Maizie weinte jetzt richtig. »Ich kriege nie einen Freund. Ich werde nie Verehrer haben wie Tante Juts.«

»Süße, das wirst du bestimmt. Und jetzt Kopf hoch! Das hüb­scheste Mädchen auf dem Ball darf doch nicht weinen. Sonst machen die Leute sich noch Gedanken.«

Sie schniefte: »Und weißt du was? Mary tanzt mit allen.« Sie schluchzte laut. »Sie sagt, Mom hat gesagt, sie soll mit mehr Jungs tanzen als nur mit Extra Billy, also tut sie's, und sie gibt mir keinen ab.«

Er küßte sie auf den Kopf und wiegte sie ein wenig, seinen Arm um ihre Schultern gelegt, denn er wußte nicht, was er noch tun oder sagen konnte.

Eine reizende junge Frau trat an den Tisch. Sie beugte sich herab und sprach Maizie an.

»Ich habe zufällig mitgehört. Komm mit mir auf den Tanzbo­den. Ich bringe dir ein paar neue Schritte bei.«

Chester stand auf. »Hallo, ich bin Chester Smith, und dies ist meine Nichte Maizie Trumbull.«

»Trudy Archer. Ich bin gerade von Baltimore hierher gezo­gen.« Sie schenkte ihm ein betörendes Lächeln. Er schätzte sie auf zwanzig oder vielleicht zweiundzwanzig.

»Willkommen in Runnymede. Wir sind nur ein kleiner Spucknapf« - er lächelte -, »aber wir packen eine Menge Leben in dieses Nest.«

»Das sehe ich. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Maizie mit auf den Tanzboden nehme?« Sie hielt kurz inne. »Ich mache in der Hanover Street eine Tanzschule auf. Ich bin in Baltimore im Fred-Astaire-Studio ausgebildet worden.«

Maizie war schon aufgestanden. Chester nickte zum Einver­ständnis, und Trudy führte das Mädchen auf die Seite, zeigte ihr ein paar Grundschritte, wirbelte sie dann herum. Maizie war hingerissen. Extra Billy kam vorbeigeschlendert. Er behielt Mary im Auge, die beherzt mit allen tanzte, um ihre Mutter zufrieden zu stellen. Chester winkte ihn zu sich.

»Sir?« Extra Billy straffte die breiten Schultern.

»Ich helfe dir, wenn du mir hilfst.«

»Ja, Sir.« Billy achtete Chester. Das taten die meisten Männer, und nicht nur wegen Chessys kräftigem Körperbau, sondern weil er, wie die Jungs sagten, kein Hosenscheißer war.

»Ich helfe dir bei der Meade-Statue, wenn ihr mit Maizie tanzt, du und deine Freunde. Sie ist in einem schwierigen Alter, und sie hat sich die Augen ausgeheult.« Er hielt kurz inne. »Und weißt du, Bill, es könnte nicht schaden, wenn du dir bei Louise Trumbull ein paar Sporen verdienst. Laß den Abend noch ein bißchen fortschreiten, und dann solltest du Louise zum Tanzen auffordern und ihr sagen, daß sie aussieht wie Marys Schwester.«

Extra Billy lächelte. »Ja, Sir. Danke, Sir.«

Als Trudy Maizie an den Tisch zurückführte, reichte Extra Billy ihr seinen Arm. »Maizie.«

»Oh«, quiekte sie.

Trudy lächelte, als Chester wieder aufstand. »Bitte leisten Sie mir Gesellschaft. Meine Frau kommt erst an den Tisch zurück, wenn das Fest vorbei ist. Ich war immer der Meinung, sie könn­te mit Fred Astaire tanzen.« Er deutete auf Julia Ellen.

»Ein echtes Naturtalent«, würdigte Trudy Julias Gabe. »Sie tanzen nicht?«

»O nein.«

»Sie sehen aber wie ein Sportler aus.«

»Ich kann wohl einen Ball werfen oder treffen, aber, Miss Ar­cher, ansonsten bin ich ziemlich ungelenk.«

»Wenn Sie in meine Tanzschule kommen, gebe ich Ihnen eine Gratisstunde.« Als er zögerte, setzte sie nach. »Wäre es nicht wunderbar, Ihre Frau in die Arme zu nehmen und sie zu überra­schen? Das würde ihr sicher gefallen.«

Chester blickte ihr in die klaren, beunruhigend grünen Augen und hörte sich sagen: »Ah - ich kann Sie nicht derart ausnutzen, Miss, aber tanzen würde ich schon gern können. Ich fürchte, alle werden mich auslachen.«

»Eine Gratisstunde. Und ich verspreche, ichverspreche Ihnen, daß niemand lachen wird - sonst bekommen Sie Ihr Geld zu­rück.«

»Abgemacht.«

»Dienstag um halb sieben?«

»Bis dann, Miss Archer.«

»Ach bitte, nennen Sie mich Trudy. Miss Archer hört sich an, als würde ich Scheibenschießen unterrichten.« Sie erhob sich, und er stand erneut auf. Sie warf ihm über die Schulter ein strahlendes Lächeln zu. Er setzte sich hin und fragte sich, war­um um alles in der Welt er so eine idiotische Zusage gemacht hatte.

Maizie kam zurück, als der Tanz vorbei war, doch ehe sie sich setzen konnte, griff Ray Parker, Billys bester Freund, nach ih­rem Arm. »Komm, Maizie, ich brauch 'ne Freundin.«

»Mensch, Onkel Chessy, das ist irre«, schwärmte sie, dann wirbelte sie davon.

Wie ihm aufgetragen worden war, forderte Extra Billy Louise zum Tanzen auf. Sie reagierte zunächst etwas steif, wies ihn aber nicht zurück. Das hätte gegen den Benimmkodex der Südstaaten verstoßen. Paul, erschöpft vom Tanzen, setzte sich zu Chester an den Tisch.

»Kaltes Bier.« Chester schob dem ausgetrockneten Paul ein frisches Bier hin.

Paul kippte es dankbar hinunter. »Celeste Chalfonte mag ja über sechzig sein, aber sie hat mich geschafft.«

»Sie ist unglaublich.«

Pearlie erblickte Louise in den Armen von Extra Billy. »Was sagt man dazu? Der Junge hat Mumm.«

»Der Junge wird vermutlich dein Schwiegersohn, also sollten wir besser überlegen, wie wir mit ihm zurechtkommen.«

Ein Schatten huschte über Pearlies Gesicht. »Ich glaube, du hast Recht. Was würdest du tun?«

»Nun, er ist jung, rebellisch, aber er ist nicht bösartig. Ich würde ihn ins Geschäft aufnehmen, wenn er meine Tochter heiraten würde. Natürlich ist es leicht für mich, Ratschläge zu erteilen, Pearlie, ich habe keine Tochter.«

»Das kommt noch«, versicherte Pearlie seinem Schwager, den er lieben gelernt hatte. Er wußte, dies war ein heikles Thema. »Da ist was dran. Wenn ich ihn ins Geschäft reinnehme, ange­nommen, sie heiraten, kann ich ihn im Auge behalten. Ich glau­be nicht, daß sich irgend jemand groß um den Jungen geküm­mert hat.«

»Wohl nicht.«

Die Familie Bitters vermehrte sich wie die Karnickel und überließ die Kinder dann ihrem Schicksal.

Der Tanz war zu Ende, und Extra Billy geleitete Louise an den Tisch zurück. Er verbeugte sich vor ihr und ging.

»Alle Achtung«, bemerkte Pearlie.

Darum bemüht, sittsam und pikiert zu klingen, sagte Wheezie: »Ich mußte mit ihm tanzen.«

»Ich bin froh, daß du's getan hast, Schatz.« Pearlie hieß ihren Entschluß gut und stellte insgeheim fest, daß sie ausgesprochen jugendlich wirkte.

Walter Falkenroth trat zu ihnen. »Paul, ich will Ihre Frau«, scherzte er.

»Sie ist sehr begehrt.« Pearlie lächelte, als Louise schnell ei­nen Schluck Sodawasser trank und Walter auf den Tanzboden folgte.

Paul kehrte zu Chessy zurück. »Extra Billy war so vernünftig, meine Frau zum Tanzen aufzufordern. Er ist vielleicht doch klüger, als ich dachte.«

»Tja.« Chessy lächelte.

17

Ein kalter, dichter Nebel legte sich auf ihre Wangen. Der Scheinwerfer der Lokomotive glühte diffus in der silbrigen Feuchtigkeit und zog vorbei, gefolgt von den dunkelgrünen stromlinienförmigen Pullmanwagen, die am Bahnsteig hielten.

Doak Garten, der junge Gepäckträger, wartete abseits. Auf seinem Karren türmten sich Ramelles kostspielige Koffer. Die­ser Zug brachte sie nach Washington D.C. wo sie in einen ande­ren Zug umsteigen würde, der sich durch den Süden schlängel­te. In New Orleans blieben ihr ein paar Stunden Zeit, um bei Kaffee und Jazz zu verweilen. Das üppige Grün des Südens würde dem Braun, Senfgelb und Ziegelrot des Südwestens wei­chen. Ziel der Reise war Los Angeles, das träge zwischen den San Gabriel Mountains und dem Pazifischen Ozean ruhte.

»Ich schreibe dir jeden Tag.« Ramelle küßte Celeste.

»Alles einsteigen!«

Trotz der hohen Stufen sprang Ramelle leichtfüßig hinauf und beugte sich dann für einen weiteren Kuß herunter. Doak reichte dem Schaffner ihr Gepäck hinauf, sein eckiges Käppi saß schräg auf dem Kopf.

Sie fand ihr Abteil und setzte sich ans Fenster, die behand­schuhte Hand zum Abschied erhoben. Als das Treppchen in den Zug gehievt wurde und der Schaffner dem Lokomotivführer ein Zeichen gab, drückte sie ihre Lippen an die Fensterscheibe, ein letzter Kuß.

Celeste winkte zurück, dann fuhr der Zug an. Sie blieb stehen und sah den roten Schlußlichtern nach, bis sie in dem sich ver­dichtenden silbrigen Nebel verschwanden. Ein langes, wehmü­tiges Pfeifsignal entbot das letzte Lebewohl.

Um sieben Uhr morgens betrug die Temperatur um die fünf Grad. Schaudernd schob Celeste die behandschuhten Hände in die Taschen ihrer Norfolkjacke.

Sie ging in die blitzsaubere Bahnhofshalle. »Doak, fast hätte ich vergessen, was sich gehört.« Sie fand ihn hinter dem Schal­terfenster. »Wo ist Nestor?« Sie erkundigte sich nach dem Fahr­kartenverkäufer, Stationsvorsteher, Hausmeister und Mann für alles.

»Doughnuts holen. Ohne ihn könnte Yost den Laden dicht machen.«

Sie schob diskret einen zusammengefalteten Zwanzigdollar­schein unter das Fenster. »Das wird wieder ein kalter Tag.«

»Dann dauert der Frühling länger.« Er schob den Geldschein wieder zurück. »Miz Chalfonte, das ist zu viel.«

»Ein Ausgleich für die Male, da ich vergessen habe, Sie zu bezahlen.«

»Sie vergessen nie, mich zu bezahlen, Miz Chalfonte. Sie ver­gessen niemanden, der Ihnen je einen Gefallen getan hat.«

»Dann bringen Sie es auf die Bank. Damit die Kassierer was zu tun haben.«

Er wußte, daß es sinnlos war, ihr zu widersprechen. »Ja, Ma'am, und verbindlichsten Dank.«

Walter Falkenroth eilte herein. Celeste trat beiseite, nachdem sie hastig Höflichkeiten ausgetauscht hatten. »Bis dahin, Doak.«

Sie ging nach draußen. Die alte Patience Horney, verwirrt und zwei Jahre älter als Gott, hockte mit ihren heißen Brezeln und einem kleinen Glas Senf am Eingang.

Celeste kaufte eine Brezel, aus demselben Grund, aus dem es alle taten: Um Patience Geld zu geben und weil sie gut waren, wenngleich Celeste zu dieser frühen Stunde keine Lust darauf verspürte.

»Celeste, meine Liebe, ich muß Ihnen sagen, daß Brutus Rife Sie noch immer liebt. Er wird nie über Sie hinweg kommen.« Patience wandte Celeste ihr gesundes Auge zu; das andere war milchig.

Sie sprach von einem Mann, der seit einundzwanzig Jahren tot war.

»Das wird er wohl müssen.« Celeste lächelte.

»Sie sind die schönste Frau, die Runnymede je gesehen hat. Viele sagen, Sie sind die schönste Frau, die Maryland je gese­hen hat.«

»Sie sind sehr freundlich, Patience.« Celeste brachte es nicht über sich, Patience zu sagen, daß sie Anfang sechzig war; Pati­ence selbst mußte auf die achtzig zugehen.

»Wünschte, ich war schön auf die Welt gekommen.« Ihr zahn­loser Mund verzerrte sich zu einem hohlen Lächeln.

»Sie sind schön, Patience.« Celeste drückte ihr Geld in die be­handschuhte Hand. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«

»Ja, Ma'am, ja, Ma'am. Grüßen Sie den Major von mir.« Sie erinnerte sich an Celestes Vater.

»Mache ich, Patience.«

Celeste ging zu dem kleinen Parkplatz. In ihrer Jugend hatte sie unentwegt gelesen. Sie hatte Antworten gesucht. Auf eine ihrer Fragen hatte sie die Antwort nie gefunden: warum Patien­ce am Bahnhof saß.

Einen schmerzlichen Augenblick lang dachte sie, sie würde in Tränen ausbrechen. Das Leid der Welt überspülte sie, oder war es Ramelles Abreise? Sie wußte es nicht. War es der Gedanke, daß Doak und die anderen jungen Männer demnächst von dem monströsen Übel jenseits des Atlantiks aufgesaugt würden, oder gab es zu Hause Übel genug? Waren Al Capone und Pretty Boy Floyd Miniaturausgaben von Hitler und Mussolini?

Sie schnupperte. Der erste zarte Fliederduft lag in der Luft. Die Blüten blieben geschlossen, dennoch verströmten sie die unverkennbare Süße.

Sie fühlte sich jung. Ihr Alter spürte sie nicht, wenn sie von den Erinnerungen der Jahrzehnte absah. Der Schmerz wäre mit zwanzig derselbe gewesen. Emotionen werden nicht alt.

Sie fragte sich, ob sie eine Affäre brauchte, eine letzte Eska­pade, eine diskrete Eroberung.Ein letztes Streben. Streben heißt Erobern, dachte sie, während ihre Hand den verchromten Tür­griff faßte.Wonach streben, was könnte besitzenswert sein, und wenn du es findest, werden andere zu dir kommen. Streben ist unvereinbar mit Gewinn. Sie öffnete den Wagenschlag des Pa­ckard und rutschte auf den Sitz, legte die Hände ans Lenkrad und starrte auf die Bahngleise.Nun - was ist in mir? Sie roch die frische heiße Brezel und schnappte sie vom Sitz, wobei das dünne Wachspapier knisterte.

Sie biß hinein, kaute, sagte laut »eine heiße Brezel« und brach in Lachen aus.

18

Lange goldene Schatten wälzten sich über den Runnymede Square. Auf der Südseite des Platzes ließ das flackernde Licht die Gesichter der Statue mit den drei konföderierten Soldaten lebendig werden. Einer schoß mit seinem Gewehr, der zweite trug die Standarte, und der dritte ging verwundet in die Knie. Der Standartenträger griff dem Verletzten mit einer Hand unter die Achsel und versuchte, ihn auf den Beinen zu halten. Hinter ihnen ragte die Kanone in die Höhe, ihr Lauf war auf das Bon­Ton-Kaufhaus an der Ecke Hanover Street auf der Yankee-Seite des Platzes gerichtet.

Das vermehrte Sonnenlicht auf der Sommerseite der Tagund­nachtgleiche verlängerte die Tage und verlieh ihnen eine von Gelächter durchsetzte Melancholie, je mehr Menschen sich im Freien aufhielten. Der Hartriegel, dessen mintgrüne Knospen bald zu einer Fülle von Weiß oder Rosa aufbrechen würden, sprenkelte den schönen Platz, der vor dem amerikanischen Un­abhängigkeitskrieg angelegt und bepflanzt worden war.

Die korinthischen Säulen des Bankgebäudes an der Südwest­ecke des Platzes erhoben sich in imposantem glänzendem Blau­weiß. Geldinstitute, von Würde und dem alten lateinischen Wortgravitas gekrönt, machten den Kirchen in puncto Heilig­keit Konkurrenz.

Als Chessy von dem übermütigen Buster begleitet über den Platz ging, schlossen die Menschen, die er fast schon sein Le­ben lang kannte, ihre Geschäfte, kurbelten bunte Markisen hoch, sperrten Türen ab. Der Gemüsehändler ließ jeden Diens­tagabend draußen auf den Ständen überreife Apfelsinen, Äpfel und Birnen für die Armen stehen. Mittwochmorgen würde eine frische Lieferung eintreffen.

Ein ununterbrochener Menschenstrom zog zu Cadwalder, auf einen Hamburger oder ein Sodawasser. Manche warteten auf die erste Kinovorstellung ein Stück weiter die Straße hinunter. Junge Männer mit pfirsichfarbenem Flaum auf den Wangen boten Mädchen an, ihnen die Bücher nach Hause zu tragen.

Chessy hatte sein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht, nahezu sechsunddreißig Jahre. Das Netz miteinander verwobe­ner Leben und Generationen glitzerte golden im Sonnenunter­gang. Je älter er wurde, desto intensiver fühlte er die Bande zwischen den Menschen.

Chester Rupert Smith dachte viel und sprach wenig, eine Ge­wohnheit, die er sich früh angeeignet hatte in einem Haus, in dem Josephine Smith zu jeder Stunde hoheitlich waltete. Sein mittlerer Bruder Joseph sah aus und gebärdete sich wie die Mut­ter, despotisch und wortreich. Stanford, der jüngste Bruder, besaß Ehrgeiz, war dabei aber nicht verbissen.

Sein Leben lang hatte Chessy unter der Last des Vorwurfs zu tragen gehabt, er besitze keinen Ehrgeiz und hätte seine Intelli­genz besser nutzen sollen. Sammeln und säckeln konnte er nichts abgewinnen. Er betrachtete sein Leben als unaufhörli­chen Reichtum. Er war nicht abgeneigt, diesen Reichtum zu teilen, doch er glaubte nicht, daß irgend jemand davon hören wollte.

Kein Tag, an dem er nicht eine neue Idee oder Erkenntnis hat­te. Daß nichts davon kommerziell verwertbar war, erschien ihm nicht verwerflich. Er hatte sich daran gewöhnt, seine Mutter und seine Frau zu enttäuschen; Juts hatte genug Elan für zwei. Aber sich selbst enttäuschte er nicht. Er war zufrieden, das Le­ben in seiner ganzen Schäbigkeit und Pracht sich entfalten zu sehen.

Junior McGrail, die aussah wie ein aufgedonnertes Faultier, stand mit ihrer Freundin Caesura Frothingham am Sockel der Statue von George Gordon Meade.

»Guten Abend, die Damen.« Chester tippte an seinen Hut.

»Guten Abend, Chester«, antworteten sie.

»George sieht schon viel besser aus, finden Sie nicht?« Er lä­chelte.

»Wir haben gesehen, wie Sie, Harmon, Extra Billy und seine nichtsnutzigen Freunde gestern Abend General Meade aufge­richtet haben. Was ist unserem glorreichen Helden wirklich zugestoßen?« Caesura fand alles glorreich, was in einer Uni­onsuniform steckte. Das schuf Probleme.

»Vielleicht hat er zu viel getrunken.«

Caesura kniff die Lippen zusammen. »General Meade, nie­mals.«

»Na ja, jetzt ist es ohnehin zu spät für den alten Knaben.«

»Sie wissen, was passiert ist«, sagte Junior. Ihre winzige Yorkshire-Terrier-Hündin zog an der Leine und wollte zu Bu­ster, der mit seinem Stummelschwanz wedelte.

»Sobald diese Ecke des Sockels repariert ist, ist alles wieder in Ordnung, also spielt es keine Rolle, was passiert ist.«

»Sie sollten ein Wörtchen mit den Trumbulls reden, Chester. Es wird böse enden, wenn Extra Billy weiter um Mary herum­scharwenzelt.«

»Junior, das geht mich nichts an.« Er schob die Hände in die Taschen, klimperte mit dem Kleingeld. »Meine Damen, genie­ßen Sie diesen milden Abend. Ich habe eine Verabredung.« Er tippte wieder an seinen Hut.

Als er fortging, flüsterte Caesura: »Was kann man auch von Mary Trumbull erwarten? Sie wohnt in einem Haus mit bemal­ten Plastiken eindeutigen anatomischen Charakters!«

Junior pflichtete ihr bei. »Mmm. Etwas stimmt da nicht. Es gleicht dem Leben in einer Lasterhöhle. Pearlies Kunst lenkt auf höchst bedenkliche Weise die Aufmerksamkeit auf den weibli­chen Busen.«

Das Duo kreischte vor Lachen.

Chessy schlängelte sich zwischen dem Verkaufspersonal hin­durch, das aus dem Bon-Ton strömte. So klein die Stadt war, das Bon-Ton machte guten Umsatz, weil man bis Baltimore eine Stunde nach Südosten auf holprigen Straßen brauchte, bis Hagerstown eine Stunde nach Westen und bis York fünfund­vierzig Minuten nach Nordosten. Gettysburg, das nur zwanzig Minuten entfernt lag, war ein einziges Schlachtfeld - keine Einkaufsmöglichkeit außer einem florierenden Markt für ge­brauchte Munition.

Vier Häuser vom Bon-Ton entfernt, auf der Westseite der Ha­nover Street, stand das 1872 erbaute Rogers-Haus. Die erste Etage beherbergte die neue Tanzschule, und auf eines der Fen­ster zur Straße hinaus waren ein Zylinderhut und ein Spazier­stock gemalt. Chessy öffnete die Tür und stieg die kastanien­braun gestrichenen Treppenstufen hinauf, Buster tollte ihm voraus. Trudy Archer stand oben an der Treppe. »Mr. Smith, ich freue mich, Sie zu sehen. Kommen Sie herein. Wer ist das denn?«

»Buster.«

»Schön, Buster bekommt auch eine Gratisstunde.«

Als Chessy durch die Tür trat, fiel ihm als Erstes der schöne Ahornfußboden auf. »Ich hatte keine Ahnung, daß es den hier oben gibt.«

»Ich auch nicht, bis ich alle Farbe herunter hatte. Ich hatte Ei­che erwartet.« Sie setzte die Grammophonnadel auf die glän­zende schwarze Schallplatte. Ein Cole-Porter-Song erklang im Raum. »Sind Sie bereit?«

Er schluckte. »Natürlich.«

Buster saß mit schief gelegtem Kopf da und beobachtete sein Herrchen, das versuchte, mit verschiedenen Tanzschritten ein Karree zu beschreiben.

»Eins, zwei drei, eins zwei drei.« Sie lächelte ihn an. »Haben Sie das schon mal gemacht?«

»Nein, noch nie.«

Als die Platte zu Ende war, legte sie eine andere auf, dann nahm sie Busters Vorderpfoten und hüpfte ein paar Schritte mit dem Terrier herum. »Sehr gut, Buster.«

Chessy lachte.

Trudy übte eine Stunde mit Chessy, und er vollführte sogar einen Gleitschritt. Obwohl steif und unsicher, war er nicht so ungelenk, wie er gedacht hatte.

Am Ende der Stunde tätschelte Trudy Busters Kopf und dank­te Chester für sein Kommen.

Sie lächelte. »Wenn Sie auf die Musik hören, sagt sie Ihnen alles, was Sie wissen müssen.«

»Sie sind eine prima Lehrerin.« Er hielt seinen guten Borsali­no in der Hand. »Wissen Sie, ich würde es wirklich gerne ler­nen. Ich möchte Juts überraschen. Ist der Unterricht teuer?«

»Fünf Dollar im Monat für eine Privatstunde in der Woche. Gruppenstunden gibt es natürlich billiger, aber ich fürchte, dann würde es Ihrer Frau zu Ohren kommen und Ihnen die Überra­schung verderben.« »Kann ich es einen Monat versuchen? Wir machen es Schritt für Schritt.«

Sie lächelte über sein Wortspiel. »Abgemacht.«

Er langte in seine Tasche und gab ihr fünf Dollar in Münzen. Es war viel Geld, doch es hatte ihn gepackt. Er konnte tanzen.

Als er auf die Straße hinausschlenderte, dachte er, wie wun­derbar es war, sich nach Musik zu bewegen, und wie rein, neu und strahlend Trudy Archer wirkte.

19

Juts kippte den Inhalt einer Büchse Nußmischung auf die Kü­chenanrichte. Sie vertilgte die Mandeln, Hasel- und Cashew­nüsse und ließ die bescheidenen Erdnüsse übrig.

Sie trug ihre echte Orioles-Baseballkappe, die sie ergattert hatte, als sie nach Baltimore gefahren war, um eine gebrauchte, aber gut erhaltene Friseursaloneinrichtung zu erstehen. Da sie nie ein Baseballspiel versäumte, nicht einmal auf High-School­Niveau, hatte Juts sich in der knallenden Sonne beim Unter­stand der Orioles herumgetrieben und einen Spieler gebeten, sich von seiner Baseballkappe zu trennen. Weil Juts nicht übel aussah und mehr Ladung hatte als 220 Volt, hatte der Fänger ihr seine Kappe geschenkt.

Die Morgenzeitung, die so zusammengelegt war, daß die An­zeige für die Gala-Eröffnung desCurl 'n' Twirl zu sehen war, verlockte Yoyo, die raschelndem Papier nie widerstehen konn­te.

Louise hatte darauf bestanden, auch eine Anzeige in die Abendzeitung zu setzen, dieTrumpet. Da diese noch nicht ge­kommen war, vertrieb sich Louise die Zeit mit dem Studium der Kleinanzeigen, für den Fall, daß sie zuvor etwas übersehen hatte.

Der Salon war komplett. Chessy hatte die Schränke und das kleine Hinterzimmer gebaut. Pearlie und seine Mannschaft hat­ten den glänzenden frischen Anstrich beigesteuert. Es gab jetzt nichts mehr zu tun als zu bangen, und da Louise genug für eine Frau von hundert Jahren gebangt hatte, sah Juts keinen Grund, die Anstrengungen ihrer Schwester nachzuahmen.

Die Hunsenmeirs hatten Junior McGrail Toots Ryan, Rillmas Mutter, ausgespannt. Sie hatten Toots sieben Dollar mehr die Woche geboten, und sie hatte eingeschlagen. Ein sauberes Ge­schäftsgebaren, doch Junior brüllte »Foulspiel«.

Chessy war aschfahl geworden, als Julia kühn ihren Coup verkündet hatte. Um 398 Dollar zurückzuerstatten, rutschten die Schwestern immer tiefer in die roten Zahlen. Sie sagte ihm, er solle aufhören, zu ächzen und zu stöhnen. »Man braucht Geld, um Geld zu verdienen«, zitierte sie ihn.

Als die Zeitung vor die Tür plumpste, raste Buster los. Julia ließ ihn hinaus. Er hob die Zeitung auf und brachte sie stolz zu ihr.

»Braves Kerlchen.«

Ehe sie die Zeitung aufschlug, ging sie zurück in die Küche, um die Erdnüsse sorgsam in die Büchse zu schaufeln. Sie schloß den Deckel und stellte die Büchse wieder auf das dicke, mit Wachspapier bedeckte Bord. Dann schlug sie die Zeitung auf. In Kursivschrift stand da wie eine öffentliche Verkündi­gung die Annonce für ihre Gala-Eröffnung. Sie trat zurück, um sie zu bewundern.

Dann blätterte sie um, und eine halbseitige Anzeige von Juni­or McGrails Friseursalon für anspruchsvolle Damen sprang ihr ins Auge. Ein kühner Balken enthielt die Aufforderung: »Meine Damen, lassen Sie sich nicht von billigen Imitationen täu­schen.«

»Der reiß ich alle Haare einzeln aus.« Juts sauste zum Telefon und wählte Louises Nummer.

»Hallo.«

»Mary, hol deine Mutter an den Apparat.«

»Hallo, Tante Juts, was gibt's?«

»Guck dir Seite vier in derTrumpet an, das gibt's.«

Mary rief: »He, Maizie, geh die Zeitung holen.«

»Hol sie doch selber.«

»Ich telefoniere mit Tante Juts. Tu, was ich dir sage.«

Julia hörte Schlurfen, ein Türenschlagen, erneutes Türen­schlagen. »Mary - Mary...«

»Jetzt hab ich die Zeitung.«

»Du könntest dich bei mir bedanken.«

»Danke, Maizie«, sagte Mary.

»Wo ist eure Mutter?«, fragte Juts.

»Mit Doodlebug im Garten.«

»Geh, zeig ihr die Anzeige auf Seite vier. Sofort, Mary, und leg nicht auf.«

»Ist gut.«

Julia hörte, wie der Hörer auf den Tisch fiel, und dann in wei­ter Ferne ein »Was!«, gefolgt von eiligen Schritten.

»Julia, ich kann nicht glauben, daß sie sich selbst so ernied­rigt!«

»Ich schon.«

»Ich habe im Garten gearbeitet, um meine Nerven zu beruhi­gen vor dem morgigen Tag, und nun dies - also, ich verstehe nicht, wie Junior McGrail sich als Katholikin betrachten kann.«

»Ich verstehe nicht, wie irgendwer sich als Katholik betrach­ten kann«, entgegnete Juts.

»Julia.« warnte Louises Stimme. »Wir müssen reagieren auf diesen, diesen Angriff.«

»Und umsonst für sie Reklame machen? Kommt nicht in die Tüte.«

»Tja - auch wieder wahr.« Louise setzte sich auf den Tele­fonhocker. »Wahrscheinlich ist sie noch fuchsig wegen Toots.«

»Wenn sie sie besser behandelt hätte, wäre Toots nicht weg­gegangen.« Juts sprach die reine Wahrheit. »Nur schade, daß ihre Tochter in Washington ist. Wo immer Rillma ist, sind Jungs drumrum. Ich hätte gern 'ne Menge Leute da.«

»Es werden massenhaft Leute kommen. Was gibt es an einem Donnerstag sonst zu tun?«

»Tja, dasStrand wechselt den Film erst am Freitag. Und überhaupt, Wettbewerb ist die Seele des Geschäfts. Ich finde, wir tun Junior einen Gefallen. Immerhin machen wir die Leute darauf aufmerksam, wie wichtig die Haar- und Nagelpflege ist. Sie wird von unserer Reklame profitieren, wenn sie schlau ist. Oder sie wird besser, hab ich Recht?«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.«

»Wie lange kann sie noch Marie Antoinettes Radiotruhe zur Schau stellen?« Julia kicherte.

Junior hatte ihren Salon mit imitierten französischen Antiqui­täten voll gestopft. Sie hatte eine Schwäche für Vergoldungen. Ihre gigantische Radiotruhe, ein beängstigender Anblick, sei handgemacht, sagte sie, in Paris, Frankreich - nicht etwa Paris, Kentucky - und aus kostbaren Bruchstücken aus dem Besitz von Marie Antoinette gefertigt. Auch behauptete sie, daß ihr die ermordete Königin erscheine - zweifellos, um das Radio instand zu halten. Junior veranstaltete Tarotlesungen im Hinter­zimmer, obwohl Father O'Reilly erklärte, das sei heidnischer Humbug. Diese Tarotlesungen waren Juniors Hauptattraktion, denn ihre Frisierkunst bestand aus einer Schmachtlocke auf der Stirn und zwei Koteletten an der Seite. Gelegentlich erweiterte sie ihr Repertoire und drückte mal eine Welle ins Haar, doch so oder so wurde man am Ende mit einer Frisur entlassen, die aus­sah wie ein verschmorter Sicherungskasten.

Louise senkte die Stimme. »Bist du nervös?«

»Nein.«

»Aber ich. Wenn es schief geht, kürzt mir mein Mann be­stimmt das Haushaltsgeld und wer weiß was sonst noch.«

»Es wird nicht schief gehen«, beruhigte Juts sie. »Ich habe meine Glückskappe, vergiß das nicht.«

»Das Ding hast du eben erst erstanden.«

»Das heißt noch lange nicht, daß sie kein Glück bringt. Jetzt reg dich ab. Was kann schlimmstenfalls passieren?«

»Wir gehen Pleite. Unsere Männer verlassen uns. Meine Kin­der schämen sich ihrer bankrotten Mutter. Ich leide unter Angi­na und Herzklopfen.«

»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Trink einen heißen Grog und geh früh ins Bett.«

»Alkohol rühre ich nicht an, das weißt du genau.«

»Zu medizinischen Zwecken, Louise. Das wirkt beruhigend, so wie Tabak. Wenn du dir einen heißen Grog machst, schläfst du wie ein kleines Kind und bist morgen startklar. Wie du weißt, werden wir den ganzen Tag auf den Beinen sein.«

»Wie macht man heißen Grog?«

Juts gab ihr das Rezept durch.

»Na dann.«

»Wir sehen uns morgen.«

Julia, die wußte, daß sie ihre Schwester zu etwas überredet hatte, das Wheezie ohnehin wollte, zog sich in die Speisekam­mer zurück, schnappte sich eine Flasche Whiskey und mixte sich einen belebenden Whiskey Sour.

Als Chessy am Abend von der Arbeit nach Hause kam, griff er sich die Büchse Nußmischung, während Juts einen Whiskey Sour für ihn mixte und einen für sich, wobei sie so tat, als sei es ihr erster.

Er wühlte mit dem Zeigefinger in der Nußbüchse. »Nur Erd­nüsse. Etikettenschwindel.« Er knallte die Büchse auf die An­richte.

»Ich weiß. Eine Unverschämtheit«, sagte Juts und reichte ihm seinen Drink.

20

Junior McGrail vertrat den Standpunkt, mehr sei mehr. Wan­kend unter dem Gewicht von Armreifen, großen baumelnden Ohrringen und mehrreihigen Perlenketten um den fleischigen Hals, marschierte sie über die Frederick Road, ohne nach rechts und links zu schauen. Das erforderte allerdings eine Menge Disziplin.

Die Eröffnung desCurl 'n' Twirl hatte sich zu einem Straßen­fest ausgeweitet. Pearlie Trumbull, der führende Kopf hinter dem fröhlichen Treiben, war zum Budweiser-Großhändler ge­fahren und hatte sechs Fäßchen Bier gekauft.

Als Chessy fragte, ob er sich das leisten könne, antwortete Pearlie, sie könnten es sich nicht leisten, es nicht zu tun. Chessy schleppte in seinem alten Lieferwagen schwere halbierte Whis­kyfässer an, randvoll mit Eis, Sodawasser und Mixern. Er hatte sie bei einer großen Brennerei in den Hafenanlagen von Balti­more gekauft. Noe Mojo, der japanischstämmige Ehemann von Louises Busenfreundin Orrie, hatte ihm beim Aufladen gehol­fen.

Um der Feier einen Hauch von Sünde zu verleihen, hatte Che­ster den besten schwarz gebrannten Schnaps diesseits des Mis­sissippi gekauft, der in Nelson County, Virginia, gebrannt und unter der Hand von Davy Bitters, Billys älterem Bruder, ver­kauft wurde. Mit dem Wasser der Bergbäche der Blue Ridge Mountains ließ sich ein ausgezeichneter Schnaps herstellen, doch man mußte sich vorsehen. Wenn man zu viel davon trank, gehorchten einem die Knie nicht mehr.

Die Jungs hatten die Schnapsflaschen in diversen Handschuh­fächern und Kofferräumen verstaut, und als besondere Mutpro­be gab es Flachmänner.

Mit Ausnahme von Junior war die Stadt vollzählig angerückt. Sogar Caesura Frothingham erschien. Sie behauptete, sich für die gute, arme Junior ein Bild machen zu wollen.

Junior gab vor, auf dem Weg zum Kino zu sein, aber da die Vorstellung erst in einer Stunde begann, wußten alle, daß sie log. Außerdem brauchte sie nur von der anderen Seite über den Platz zu gehen, um dorthin zu gelangen.

»Junior, komm her«, lockte Juts, die nie nachtragend war. Überdies hatte sie von dem Schwarzgebrannten gekostet.

»Niemals.« Junior funkelte Caesura böse an und setzte ihren Weg fort.

Orrie Tadja Mojo flüsterte Louise naserümpfend ins Ohr: »Die tragische Königin.«

Dank Mary und Maizie hatte sich die Jugend der High School von Süd-Runnymede eingefunden, und auch von der Nord- Runnymede-High-School kamen viele.

Juts hatte sogar eine kleine Kapelle engagiert.

Trudy Archer flüsterte Chessy ins Ohr: »Warum tanzen Sie nicht?«

»Ich bin noch nicht so weit.«

»Sie hatten drei Tanzstunden, vier mit der Gratisstunde.«

»Ich bin zu.« Er zuckte die Achseln. »Das kommt schon noch. Sie müssen Geduld haben.«

»Mache ich meine Arbeit nicht gut?«

Er klopfte ihr auf die Schulter. »Sie sind großartig. Wenn ich so weit bin - also, das werde ich schon merken. Und jetzt gehen Sie und schnappen sich einen von den Männern. Edgar Frost ist ein guter Tänzer.«

Sie lächelte und ging zu dem Rechtsanwalt, den sie vor ein paar Tagen kennen gelernt hatte.

Die uralten ledigen Rife-Drillinge, die Schwestern von Brutus - Ruby, Rose und Rachel - erschienen in Begleitung wesentlich jüngerer Männer. Man konnte sie durch ihre Kleidung ausein­ander halten. Ruby trug Mainbocher, Rachel trug Hattie Carne­gie, und Rose hatte erst vor kurzem Sophie of Saks entdeckt. Infolge des Krieges konnte man nicht nach Paris, und während er Europa verwüstete, erwies er sich für amerikanische Mode­macher als Segen. Rubys Putzmacherin war Lilly Dache, Ra­chel schwärmte für den Hutmacher John Fredericks, und Rose stürzte sich auf einen aufsteigenden Stern am Huthimmel, Ta­tiana, Gräfin du Plessix.

Die La-Squandra-Schwestern, wie man sie hinter ihrem Rücken nannte, wurden geduldet, nicht, weil sie Geld ausgaben, sondern weil sie so offenkundig unbrauchbar waren. Man mun­kelte, daß sie nicht mal imstande seien, sich ihr Badewasser selbst einzulassen. Natürlich konnte man sie nicht für die Sün­den ihres verstorbenen Bruders und Vaters verantwortlich ma­chen.

Da sie nicht lange stehen konnten, machten sie es sich in den Frisierstühlen bequem, die Juts gekauft hatte.

Als sich Fannie Jump Creighton, von Verehrern umringt, an ihnen vorbeidrückte, fragte Rose: »Fannie Jump, meinst du, die Mädels haben Erfolg? So, wie die sich immer kabbeln.«

Fannie blieb stehen und bewunderte den flotten Hut mit den geschweiften gelben Federn. »Sie werden zu viel zu tun haben, um sich zu streiten.«

Celeste trat aus dem Privatraum, ein engelhaftes Lächeln im Gesicht. Sie schob sich zu Fannie hinüber.

»Celeste, Celeste, meine Liebe!« Rachel streckte die behand­schuhte Hand aus und stieß in einem Anfall von Geistesklarheit hervor: »Du sollst wissen, ich habe es dir nie verübelt, daß du Brutus umgebracht hast. Auch wenn er mein Bruder war, er war ein brutales Miststück.«

Im Raum herrschte lautes Stimmengewirr, und nur Cora und Fannie bekamen diese Erklärung mit.

»Bist du wohl still, Kleines«, zischte Rose Rachel zu.

Ruby blinzelte mit ihren großen kobaltblauen Augen, als keh­re sie soeben in die Welt zurück. »Aber sie hat es getan, Rosie, das weiß doch jeder.«

Cora schritt ein. »Wer weiß schon, wie solche Dinge gesche­hen? Er hatte viele Feinde, und 1920 liegt so lange zurück.«

»Ich weiß es!«, schmollte Rachel. »Er hat meinen Verehrer verprellt.«

»Dein Verehrer war nur hinter deinem Geld her«, brummte Rose. »Wenn Brutus ihn nicht rausgeworfen hätte, dann hätte ich es getan.«

»Eifersüchtig«, erwiderte Rachel triumphierend. »Aber Cele­ste, meine Liebe, es hat mir nicht das Geringste ausgemacht, daß du ihn erschossen hast.«

»Also Rachel, hänge mir nichts an, was du nicht nachweisen kannst.« Celeste hatte Brutus tatsächlich vor einundzwanzig Jahren aus mehreren Gründen erschossen, nicht zuletzt wegen der Schreckensherrschaft, die er in der Stadt ausübte. Sie hatte es nie zugegeben und würde es auch nie zugeben. »Was deinen Verehrer betrifft, das war vor meiner Zeit, aber wie ich hörte, sah er sehr gut aus.«

»Oh, er hatte so zarte Hände, Mädchenhände«, seufzte Rachel kokett.

»Ha!«, entfuhr es Ruby, bevor sie wieder in Schweigen ver­sank. Celeste schob sich durch die Menge, dicht gefolgt von Cora und Fannie.

»Unbrauchbar wie Zitzen an 'nem Keiler«, murmelte Cora.

Popeye Huffstetler, der an der Eingangstür von Caesura Frothingham mit Beschlag belegt wurde, nutzte die Chance zur Flucht, indem er sich an Celeste heftete, die gut dreißig Zenti­meter größer war als das mickrige Männlein.

Caesura rief ihm nach: »Popeye, Sie sind kein guter Reporter. Sie haben nicht herausgefunden, wer George Gordon Meade umgenietet hat.«

»Robert E. Lee«, antwortete ihr Celeste.

»Sie halten sich wohl für sehr geistreich, Celeste Chalfonte.« Caesura ließ sich noch ein Bier geben, das ihr in einem Sherry­glas gereicht wurde, so daß sie häufig nachtanken mußte.

»Caesura, lassen Sie uns diese großartige Eröffnung feiern. Ich finde es schön, daß Sie vorbeigekommen sind.«

»Ich bin gekommen, um für Junior zu spionieren.«

»Trinken Sie noch einen Schluck«, empfahl Cora.

»Kann nicht schaden.«

»Junior marschiert da draußen auf und ab. Sie spioniert für sich selbst«, sagte Fanny mißbilligend.

»Mit dir spreche ich nicht.«

»Um so besser.« Fannie schob sich an Caesura vorbei auf die Straße.

Julia Ellen tanzte mit sämtlichen Jungen beider High Schools. Louise war so glücklich, wie man sie noch nie gesehen hatte. Sie hob ein paar Mal warnend ihren Finger in Marys Richtung, damit sie sich ja nicht mit Extra Billy davonstahl.

Die Feier dehnte sich bis ins samtene Zwielicht. Angeregt durch seinen Sohn und den Schnaps, erklärte Flavius Cadwalder den Hunsenmeir-Schwestern, er wisse, wie schwer die Schuld auf ihnen laste. Wenn sie mit der Zahlung in Verzug gerieten, würde er mit ihnen eine Lösung finden. Alles jubelte und stieß mit noch mehr Schnaps auf dieses Entgegenkommen an.

Jacob Epstein Jr. ein High-School-Kumpel von Extra Billy, kippte auf dem Bordstein um. Die Männer hoben ihn auf den Pritschenwagen, wo die Kapelle spielte. Er verschlief sämtliche Stücke und gab lediglich bei>Red Sails in the Sunset< ein leises Stöhnen von sich.

Junior hatte ihre endlose Parade satt, weshalb Caesura sich zu ihr gesellte und sie zur Nordseite des Platzes zurückgingen. Junior mußte die beschwipste Caesura stützen, die log, sie hätte sich den Knöchel verstaucht.

Das Wunder des Abends war, daß Julia Ellen und Louise kei­nen Streit hatten, nicht einen einzigen. Alle wußten, das würde nicht von Dauer sein.

Am Sonntag darauf waren die Schwestern bei ihrer Mutter in Bumblebee Hill zum Abendessen.

Ein leises Klopfen an der Tür veranlaßte Julia, von Coras Eß­tisch aufzustehen.

»O Schatz, bleib sitzen«, sagte Chester, aber sie war schon draußen. Sie öffnete die Haustür und sah sich einem alten Mann gegenüber, der vielleicht einmal stattlich gewesen, nun aber gebeugt war.

»Ist Mrs. Hansford Hunsenmeir zu Hause?«, keuchte er.

»Ja. Warten Sie einen Moment.«

Sie kam zum Eßtisch zurück und flüsterte: »Mom, da draußen steht ein alter Kauz an der Tür. Geh lieber schnell hin, er sieht aus, als würde er jeden Moment tot umfallen.«

Cora legte ihre Serviette zusammen und ging zur Tür.

Juts, Chessy, Louise, Pearlie, Mary und Maizie hörten ge­dämpfte Stimmen, dann ein Schluchzen. Chessy und Paul liefen zur Tür.

Verwirrt folgten sie Cora, die dem alten Mann weinend zum Tisch half.

»Mädchen, dies ist euer Vater.«

21

»Der Mann ist nicht mein Vater.« Louise verschränkte die Ar­me vor der Brust.

»Also, wenn er nicht dein Vater ist, dann ist anzunehmen, daß er auch nicht meiner ist«, sagte Julia. Chester und Pearlie saßen in Louises großen Sesseln mit dem dicken wollenen Bezug, der wie ein Teppich aussah und bei warmer Witterung kratzte. Ma­ry und Maizie wurden im Bett vermutet.

Die Mädchen schlichen sich zum Treppenabsatz, um zu lau­schen. Bislang war es ihnen gelungen, sich still zu verhalten.

»Wollt ihr zwei euch nicht setzen? Ihr macht mich ganz schwindlig.« Mit einem ernsten Ausdruck in seinem kantigen Gesicht deutete Pearlie auf das Sofa.

»Ich kann nicht. Beim Rumlaufen kann ich besser denken.«

»Dann mußt du aber noch viel rumlaufen«, sagte Julia halb im Scherz.

»Jetzt ist nicht die Zeit für Späße. Ein Schwindler schleicht sich bei uns ein. Er wird Momma die Haare vom Kopf fres­sen.«

Chessy unterbrach sie: »Er wird nicht viel essen, Wheezie. Er pfeift auf dem letzten Loch.«

»Und die Arztrechnungen?« Louise, den Sinn stets auf Geld gerichtet, hatte Visionen von dicken Stapeln weißen Papiers, die an einem langen Nagel aufgespießt waren. Auf jedem Blatt war ein rotes Rechteck mit dem Wort>Rechnung< in der Mitte. Es war keine Vision, es war ein Albtraum im Wachzustand.

»Und dann die Kosten für das Begräbnis und den Sarg - man muß reich sein, um zu sterben.« Louise schritt schneller auf und ab.

»Man könnte ihn an einen Galgen hängen.« Chester verzog keine Miene. »Ich könnte innerhalb eines Tages einen bauen.«

»Ja, du könntest den Galgen vor Junior McGrails Salon auf­stellen. Das würde die Kundschaft abschrecken!«

»Andererseits, wenn man die Hunde bedenkt.«, wandte Chessy brottrocken ein.

»Wollt ihr zwei wohl den Mund halten.« Louise ließ sich aufs Sofa plumpsen. »Dies ist eine ernste Angelegenheit. Es ist schrecklich.«

»Momma hat so ein weiches Herz, sie wird ihn pflegen, egal, wer er ist. Er kann nicht unser Vater sein. Hansford Hunsenmeir war ein stattlicher Mann mit einem schwarzen Schnauzbart.«

»Nur daß der nicht richtig schwarz war. Er sah auf den Foto­grafien schwarz aus.«

»Woher weißt du das?«

»Ich erinnere mich an ihn - entfernt.« Louise seufzte. »Haupt­sächlich erinnere ich mich daran, wie Momma geweint hat.«

»Vierunddreißig Jahre sind eine lange Zeit. Ich bezweifle, daß irgend jemand so aussieht wie auf Fotos von damals«, bemerkte Pearlie.

»Wieso? Celeste Chalfonte sieht immer noch so aus«, entgeg­nete Louise.

»Sie ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt«, sagte Paul.

»Ihr Haar ist silbergrau geworden - das ist aber auch alles.« Chester fuhr sich mit den Händen durch seine blonden Locken; sein Haaransatz war ein wenig zurückgegangen. Das gefiel ihm ganz und gar nicht.

»Also, wer immer er ist, er hat mich schon beleidigt, bevor er überhaupt am Tisch saß. Er hat gesagt,>du mußt Louise sein<. Ich habe>ja< gesagt, und dann hat er mit diesem jämmerlichen Möchtegernschnurrbart gewackelt und gesagt,>du mußt jetzt vierzig sein.<«

»Ach Wheezer, um Himmels willen, du bist vierzig.«

»Bin ich nicht. Das bin ich ganz entschieden nicht, und ich weiß nicht, warum du auf so einer Fehlinformation beharrst.«

»Wenn ich sechsunddreißig bin, bist du vierzig.« Juts blieb standhaft.

»Ich bin nicht vierzig! Und was dich angeht, der hat dich an­geguckt und wollte wissen, wo deine Kinder sind. Ich mag ja näher an den vierzig dran sein als du, aber ich bin wenigstens eine Mutter!«

»Louise, beruhige dich.«

Blitzschnell drehte sie sich zu ihrem Mann um. »Beruhigen? Was würdest du denn tun, wenn so ein gräßlicher Kerl durch die Haustür gefegt käme und behauptete, er wäre dein Vater?«

Pearlie verschränkte die Hände. »Ich würde darauf vertrauen, daß meine Mutter ihren Ehemann kennt.«

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, kreischte Louise.

»Auf deiner, Schatz, aber wenn Cora Hunsenmeir sagt, der Mann ist Hansford, dann ist er es.«

»Wie will sie das denn wissen? Sie hat ihn schließlich vier­unddreißig Jahre nicht gesehen.« Louise, deren Wut verebbte, weil sie wußte, daß Pearlie die Wahrheit sprach, sank auf ihrem Sitz zusammen.

»Er hat Recht.« Julia ließ sich neben ihre Schwester fallen, die sich abwandte, noch immer verstimmt, weil sie für vierzig gehalten wurde.

»Juts, ich finde, du läßt dich zu leicht beeinflussen.«

»Ha«, lachte Chessy.

»Leicht beeinflußbar oder nicht, was tun wir jetzt?«

Chesters volle Baritonstimme überraschte sie. »Wir werden tun, was Cora will.«

Tränen schimmerten in Julias Augen. »Aber Chessy, ich will nicht, daß dieser widerliche Kerl mein Vater ist.«

»Ich auch nicht.« Louise legte ihren Arm um Julias Schultern; ihre Kabbelei war augenblicklich vergessen.

»Aber Mädels, wir müssen das Beste draus machen. Chess hat Recht. Es ist Sache eurer Mutter.«

»Momma kann keinem Streuner widerstehen. Sie hat vier Katzen.«

»Fünf«, berichtigte Julia.

»Fünf? Seit wann hat sie fünf?«

»Sie hat ein ausgesetztes Kätzchen mit einem gebrochenen Bein gefunden.«

»Also, ihr wißt, was ich sagen will. Wir müssen Mutter vor sich selbst schützen.« Louises Worte klangen sehr reif.

»Schön, dann praktiziere dein Christentum«, riet Pearlie ihr.

Vom oberen Ende der dunklen Treppe meldete sich eine Stimme. »Geben ist seliger denn nehmen.«

Louise schoß vom Sofa auf, blieb am Fuß der Treppe stehen und knipste das Licht an. Oben war niemand. »Mary, ich kenne deine Stimme.«

»Sie schläft«, rief Maizie.

»Sei still«, flüsterte Mary.

»Mary, ich bin nicht von gestern.«

»Das wissen wir«, rief Juts aus dem Wohnzimmer.

Das brachte Chessy und Pearlie zum Lachen. Dann fingen die Mädchen in Marys Zimmer, wo sie sich versteckt hatten, zu kichern an.

Louises Schmollen löste sich in Glucksen auf. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte schallend.

»Mom«, rief Maizie, »ich hab Hunger.«

»Es ist zehn Uhr abends.«

»He, laßt uns Eis mit heißer Karamellsoße essen. Ich habe je­de Menge Erdnüsse zu Hause«, schlug Juts vor.

»Ich habe auch Erdnüsse«, sagte Louise.

»Mom -bitte.« Maizies Flehen klang so süß klagend.

»Na gut.«

Julia machte die Soße heiß, Paul teilte das Eis aus, und Mary deckte mit Maizies Hilfe den Tisch. Chester öffnete eine Büch­se Nußmischung.

»Man hat mich betrogen.«

Paul drehte sich zu Chessy um. »Hm?«

»In meiner Nußmischung waren nur Erdnüsse.«

»Weil du mit einer verrückten Nuß zusammenlebst«, verkün­dete Louise. »Sie pickt sich alles raus bis auf die Erdnüsse. Ich verstecke meine Nußmischungen, damit sie sie nicht findet.«

Chester wandte sich scheinbar arglos an Julia Ellen.

»Schatz, tust du das wirklich?« Er rückte dicht hinter sie und koste ihren Hals. »Ich dachte immer, ich könnte auf dich zäh­len.«

»Das Einzige, worauf du dieser Tage zählen kannst, sind dei­ne Finger.« Juts steckte ihm eine dicke Paranuß in den Mund.

22

»Ich dachte, er wäre tot.« Sie hob die Stimme. »Er sollte tot sein.«

Erschrocken über die Heftigkeit seiner Mutter, hängte Chester seinen Hut nicht an den Hutständer. Er wollte nur kurz bleiben. Er konnte es nicht ausstehen, wenn seine Mutter murrte. Er hatte vor Jahren erkannt, daß er sie liebte, aber nicht leiden konnte.

Josephine fuhr fort: »Als du diese Göre geheiratet hast, habe ich dir gesagt, daß sie niemals einen Fuß in dieses Haus setzen wird. Keine Brut von Hansford Hunsenmeir wird je durch mei­ne Tür treten.« Sie holte Atem. »Und jetzt ist er wieder da. Man hätte meinen sollen, daß er schlau genug sei, zu bleiben, wo er ist.«

»Vielleicht ist er nach Hause gekommen, um zu sterben.«

»Und zwar bald, hoffe ich.«

Chester hatte seine Mutter mit der Neuigkeit überrascht. Er wußte, daß sie die Hunsenmeirs nicht ausstehen konnte, aber jetzt zeigte sie mehr Emotionen, als er seit der Verkündung seiner Verlobung bei ihr erlebt hatte.

»Mutter, da ich nicht weiß, warum du ihn haßt, kann ich dir nicht folgen.«

»Er hat mich beleidigt, mehr brauchst du nicht zu wissen. Dein Platz ist bei mir.«

»Was hat er getan?«

»Das geht dich nichts an!«, brauste sie auf.

»Was immer er getan hat, warum bist du wütend auf Cora, Juts und Louise?«, erwiderte er folgerichtig - ein Fehler.

»Weil mir danach ist! Cora Zepp hat sich Hansford an den Hals geworfen. Es war widerwärtig.«

»Das muß eine ganze Weile her sein.« Er drehte seine Hut­krempe zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Für mich nicht.«

»Mutter« - er versuchte, sie zu besänftigen - »ich hoffe, daß mein Gedächtnis so scharf ist wie deins, wenn ich in dein Alter komme.« »Die Erinnerung ist alles. Sie ist dein ganzes Leben.«

»Das mag wohl sein, aber ist dir nie aufgefallen, wie jemand - sagen wir Dad - sich an etwas erinnert, was du ganz anders im Gedächtnis hast?«

Sie starrte ihn mit ihren stahlgrauen Augen an. »Dein Vater würde seinen Kopf vergessen, wenn er nicht fest auf seinem Hals säße.«

Da sie ihn absichtlich falsch verstanden hatte, zuckte ein un­freiwilliges Lächeln um Chesters Mund. Er setzte seinen Hut wieder auf. »Es tut mir Leid, wenn ich dich aufgeregt habe. Ich fand, du solltest Bescheid wissen, bevor es dir jemand auf der Straße erzählt.«

»Wo gehst du hin?« Ein Anflug von Unruhe zuckte über ihr Gesicht.

»Zurück ins Geschäft.« Er öffnete die Hintertür. »Bis dann, Mutter.«

»Chester.«

»Was?«

»Wie sah er aus?«

»Ah - alt. Das Atmen fällt ihm schwer.«

»Cora war bestimmt erschüttert.«

»Das kann man wohl sagen. Er hat geweint, als er sie sah.«

»Ich hoffe, er erstickt.«

»Bis demnächst.« Chessy schloß die Tür hinter sich.

Josephine starrte auf die hübsche Tischdecke auf dem Kü­chentisch, deren abgerundete Ecken mit Seidengarn bestickt waren. Eine blaue Salz-und-Pfeffer-Garnitur und eine Zucker­schale zierten die Mitte.

Sie riß an der Ecke der Tischdecke, Streuer und Schale krach­ten auf den Boden.

23

In den darauf folgenden Monaten nannten weder Julia noch Louise Hansford Hunsenmeir>Vater<, doch sie bemühten sich, höflich zu sein. Nach und nach entdeckten sie liebenswerte Züge an ihm. Zum Beispiel sagte er ihnen nicht, was sie zu tun hatten.

Bislang hatte er keine Erklärung für seine vierunddreißigjäh­rige Abwesenheit geliefert. Er sprach wenig, weil ihm das At­men schwer fiel, wenngleich er sich dank Coras Fürsorge etwas erholt hatte.

DasCurl 'n' Twirl war der Treffpunkt schlechthin. Zwar ver­standen Juts und Louise nicht das Geringste vom Haare schnei­den, aber dafür hatten sie ja Toots. Louise und Juts konnten Fingernägel lackieren, unaufhörlich klatschen und die Leute zum Lachen bringen. Sie zettelten sogar eine Wasserschlacht an, während sie Lillian Yost die Haare wuschen, und statt in Wut zu geraten, füllte Lillian, sobald ihre Frisur fertig war, einen Becher voll Wasser und kippte ihn Julia über den Kopf.

An einer Wand hing eine große Tafel mit vielen bunten Krei­den in der Holzablage. Paul hatte kunstvoll>Klatschzentrale< an den oberen Rand gemalt. Jeder konnte hereinschauen und hin­schreiben, was sich ereignet hatte - etwa daß Wheezie einen Schluck aus dem Gartenschlauch genommen und einen Tau­sendfüßler in den Mund gekriegt hatte. Geburten, Jubiläen, Geburtstage und Veranstaltungstermine wurden ebenso an die Tafel gekritzelt wie komische Sprüche.

Eines Tages kam Celeste herein und schrieb: »Falls du eine hilfreiche Hand brauchst, sie befindet sich unten an deinem Arm.«

In einem Anfall von Frömmigkeit schrieb Louise zuweilen ei­ne Passage aus der Bibel hin.

Die Jugend fand sich ein, weil Mary und Maizie ihnen gesagt hatten, bei ihrer Mutter bekämen sie Coca-Cola umsonst. Dem Curl 'n' Twirl brachten diese unentgeltlichen Colas, die Louise und Juts je fünf Cent kosteten, neue Kunden. Sogar die Tiere versammelten sich hier, dank der Kaspereien von Yoyo und Buster.

Die älteren Damen blieben Junior McGrail treu, die sich an Samstagen mit einem Tag der Kultur rächte. Was bedeutete, daß ihr stark behaarter Sohn, der einem Affen glich, sich ins Schaufenster hockte und Harfe spielte. Das lag in der Familie, denn Juniors Bruder spielte ebenfalls Harfe.

Celeste fuhr oft nach Washington, und wenn sie zurückkam, führte sie ihr erster Weg insCurl 'n' Twirl. Sie brachte Toots stets Neuigkeiten von Rillma mit. Rillma und Celestes Neffe Francis saßen abgeschirmt in einem kleinen Zimmer im Au­ßenministerium. Celeste glaubte, daß ihr Neffe etwas mit dem militärischen Geheimdienst zu tun hatte, doch in welcher Form, wußte sie nicht. Er sprach kaum darüber, und sie bohrte nicht nach. Sie wußte, daß Armee und Marine aufrüsteten - man mußte nur an einem Militärstandort vorbeifahren, um das zu sehen -, aber die Zeitungen schrieben sehr wenig darüber, was ihrer Meinung nach ein verhängnisvolles Zeichen war.

Cora mutmaßte, daß Celeste in Washington eine Affäre hatte, doch mit wem, wußte sie nicht. Celeste sagte nie ein Wort dar­über.

Ramelle kam im Herbst zurück, doch Celeste setzte ihre Aus­flüge nach Washington fort. Manchmal nahm sie Ramelle mit. Cora dachte sich, daß sie früher oder später dahinter kommen würde, was da vorging.

Der Sommer war bemerkenswert wegen der Schwadronen von Schmetterlingen und weil die Orioles am Tabellenende lande­ten. Joe DiMaggio erzielte in sechsundfünfzig Spielen in Folge einen Treffer, was alle Welt ebenso begeisterte wie Whirlaways Dreifachsieg mit Eddie Arcaro im Sattel. Der Herbst war be­merkenswert wegen der großen Anzahl von Ringfasanen. Die Maisfelder waren voll von ihnen.

Als das Jahr 1941 auf den Winter zuging, zahlten die Schwe­stern Hunsenmeir Mr. Cadwalder einen Schwung ihrer Schul­den zurück. Extra Billy fuhr fort, ein wenig dezenter - zumin­dest in Gegenwart von Louise und Pearlie -, Mary den Hof zu machen. Louise wirkte etwas besänftigt. Nicht, daß sie nicht noch immer auf das Erscheinen eines geeigneten jungen Mannes hoffte, eine Verbindung, die mit ihren hochfliegenden Zu­kunftserwartungen in Einklang stand. Sie betete weiterhin zur heiligen Jungfrau und setzte ihre gelegentlichen Besuche bei Diddy Van Düsen fort, von der berichtet wurde, daß sie anfan­ge, sich für die heilige Jungfrau zu halten.

Juts war morgens die Erste, die die Ladentür aufschloß. Sie brühte Zichorienkaffee, um die Kundinnen zu verwöhnen, häuf­te Plätzchen, Kuchen und Doughnuts auf Teller und schrieb mit roter Kreide das Datum - 26. November 1941 - auf die Klatschzentralentafel. Da es Mittwoch war, würde es sehr ge­schäftig zugehen. Morgen war Thanksgiving, und die Damen wollten so schön aussehen, wie sie nur konnten.

24

Marys Augen glichen runden, roten Eidechsenaugen, die es der Eidechse ermöglichten, in zwei Richtungen zugleich zu sehen. Sie warf sich auf den mittleren Frisierstuhl imCurl 'n' Twirl und heulte noch mehr.

Ein wilder Truthahn, ein Beweis der Fertigkeit des Präpara­tors, teilte sich das Schaufenster mit blank polierten Garten- und Riesenkürbissen. Die Leute winkten im Vorübergehen. Das Schild im Fenster zeigteGeschlossen an; denn es war halb sieben. An diesem Tag war es so lebhaft zugegangen, daß nicht mal Zeit für eine Kaffeepause geblieben war. Maizie war mit ihrem Vater einkaufen, und das war gut so, da Louise, die mit ihrer Geduld am Ende war, sie zusammenfalten würde, wenn sie während dieses letzten Wortwechsels den Mund aufmachte. Es versprach, ein freudloses Thanksgiving zu werden.

»Ich liebe ihn, Mutter!« Mary fing aufs Neue zu schluchzen an.

Juts schrubbte die Waschbecken, Louise kehrte den Fußbo­den. Mary, durch ihr Leid wie gelähmt, tat nichts als leiden, worin sie unübertrefflich war.

»Hör auf zu sabbern.« Wheezie rummste mit dem Besen an die Stuhllehne. »Wenn ich das Wort>lieben< noch einmal höre, schneid ich dir die Zunge raus.«

Mary heulte gequält auf.

»Ach Louise, nicht die Zunge rausschneiden, kleb ihr einfach den Mund zu.« Juts' Hände schwitzten in den dicken roten Gummihandschuhen. Sie war eitel mit ihren Händen.

»Tante Julia, ich dachte, du bist auf meiner Seite.« Marys Na­se tropfte mit ihren Augen um die Wette.

»Ich bin auf deiner Seite, Mary. Deswegen muß ich deiner Mutter beipflichten - fünfzehn ist zu jung zum Heiraten. Du kannst Billy später heiraten.«

»Wann? Sie wird alles tun, um uns auseinander zu bringen.« Dem folgte ein Stöhnen, das Tote hätte auferwecken können.

»Er hat keine Zukunft, keine Herkunft, kein gar nichts.« Loui­se schlug wieder mit dem Besen.

»Du kennst ihn nicht, Momma.«

»Ich will ihn auch nicht kennen. Du hast dir von einem hüb­schen Gesicht den Kopf verdrehen lassen. Die Ehe ist mehr als das.« Auf ihren Besen gestützt, hielt sie inne. »Wie bedauerlich, daß Ramelle nicht einen Jungen hat statt eines Mädchens. Das wäre eine himmlische Verbindung.«

»Dir geht es einzig und allein ums Geld.«

»Genau«, blaffte Wheezie zurück. »Und wenn du erwachsen bist und deine Rechnungen selbst bezahlen mußt, wird es end­lich in deinen Dickschädel dringen, daß ich nur dein Bestes will. Ein mittelloser Ehemann macht nicht glücklich, glaub mir. Die Liebe nutzt sich nach einer Weile ab, und du tust gut daran, mehr zu haben als das, sonst bist du bloß ein dämliches Weib, das einem dämlichen Kerl hinterher läuft.«

»Ich hasse dich!« Mary sprang vom Stuhl und rannte zur Tür.

»Mary«, rief Julia ihr nach, »komm wieder her. Ihr seid wie zwei Kampfhähne. Es muß doch einen Kompromiß geben.«

»Mit ihr nicht.« Mary quietschte beinahe.

Louise brüllte zurück: »Hör zu, mein Fräulein, wenn du meinst, du könntest hinter meinem Rücken heiraten, werde ich die Ehe in Nullkommanix annullieren lassen, schreib dir das hinter deine feuchten Ohren.«

»Du verstehst es nicht. Du verstehst es einfach nicht.« Mary plärrte wieder los.

»Setzt euch hin, alle beide. Ich hab dieses Gezerre satt. Him­mel noch mal, davon kriegt man ja Kopfschmerzen.« Juts deu­tete auf die beiden äußeren Stühle. Sie stand vor dem mittleren Stuhl, mit dem Rücken zu Ablage und Spiegeln. »Jetzt sage ich euch mal meine Meinung, und ich will, daß ihr beide eure große Klappe haltet.« Sie zeigte auf Mary. »Du bist fünfzehn Jahre alt. An deinem Alter kannst du nichts ändern.«

Mary wandte ein: »Wieso nicht, tut Mom doch auch.«

»Du kleines.« Louise sprang auf, um ihr eine zu verpassen, doch Juts stieß sie auf ihren Sitz zurück.

»Das reicht jetzt mit euch beiden. Ich meine es ernst.« Sie setzten sich wieder wie zerzauste Hühner in ihren Brutkäfigen, und Juts fuhr fort: »Mary, Extra Billy wird noch da sein, wenn du im Januar sechzehn wirst. Wozu die Eile? Du kannst ihn heiraten, wenn du deinen High-School-Abschluß in der Tasche hast.«

»Julia Ellen!«, brüllte Louise. »Hast du den Verstand verlo­ren?«

»Nein, hab ich nicht. Louise, sie ist verliebt. Sie wird diesen Jungen heiraten, ob es dir paßt oder nicht. Nun kann sie entwe­der durchbrennen und uns alle zu Tode ängstigen, oder sie ma­chen das Beste draus, und es gibt hier zu Hause eine anständige Hochzeit mit genug Zeit für die Vorbereitungen. Da sie eine Klasse übersprungen hat, ist sie im Juni mit der High School fertig und für sich selbst verantwortlich.«

»Du willst, daß ich einen Kieselstein zum Diamanten schlei­fe«, schrie Louise mit hervortretenden Halsadern.

»Mutter!« Mary hatte etwas dagegen, als Kieselstein bezeich­net zu werden, obwohl ihre Mutter es so nicht gesagt hatte.

»Ich will, daß du dich in das Unvermeidliche fügst. Himmel, Louise, vielleicht wird es sogar eine gute Ehe.«

»Daß ich nicht lache.« Louise knallte die Faust auf die Arm­lehne des Frisierstuhls.

»Wirst du lachen, wenn ein uneheliches Kind kommt?« Juts zeigte mit dem Finger auf ihre Schwester.

»Was? Was!« Louise schoß vom Stuhl und schob ihr Gesicht ganz nahe an Marys. »Bist du.?«

»Nein!«

»Lüg mich nicht an, du Flittchen.«

»Ich lüg dich nicht an.« Mary wollte ihre Mutter täuschen, doch da sie schwanger war, verriet ihre Stimme sie.

»Julia, lügt sie mich an?«

Juts zuckte viel sagend die Achseln. Sie wußte es wirklich nicht, vermutete es aber.

»Ich will nicht Großmutter werden«, jammerte Louise. »Ich bin nicht alt genug, um Großmutter zu sein.«

»Na schön, dann geben wir dich eben als Marys Schwester aus - ihre deutlich ältere Schwester«, höhnte Julia.

»Wirst du wohl still sein!« Mit bebenden Nasenflügeln drehte Louise sich zu Juts um. »Du hast Mary diesen Unfug von Liebe und Eintracht mit einem Mann eingetrichtert, ach, da kann ei­nem ganz schlecht werden. Es gibt keine Eintracht mit Män­nern, Mary. Weit gefehlt, Töchterchen - du sagst den Männern, wo es lang geht. Du organisierst ihr Leben. Du reißt ihnen die Lohntüte aus der Hand, bevor sie das Geld verpulvern können. Du sagst, was sie hören wollen. Du läßt sie in dem Glauben, deine Ideen seien ihre Ideen. Es ist ein Haufen Arbeit, einen Mann zu gängeln, aber du mußt es tun, weil sie so gottver­dammt dämlich sind!« Sie erschrak über ihr eigenes »Gottver­dammt«.

»So will ich nicht lieben«, sagte Mary entschlossen.

»Juts, du bist an allem Schuld. Du und dein Getue um Chessy. Der ist doch arm wie eine Kirchenmaus.« Louise fuchtelte mit dem Finger vor dem Gesicht ihrer Schwester herum. »Du hast doch nur Flausen im Kopf.«

»Wir wohnen in einem hübschen Haus.« Juts hielt ihre auf­steigende Wut im Zaum.

»Du hättest gar nichts ohne meine ausrangierten Sachen - oder Celestes. Eins steht fest, Mutter Smith würde dir nicht mal einen verschimmelten Laib Brot geben.«

»Louise, ich gestehe dir zu, daß du überreizt bist.«

»Überreizt? Ich könnte jemandenumbringen.« Sie atmete langsam ein und stieß die Luft dann heftig aus. »Du bist keine Mutter. Du kannst nicht verstehen, wie mir zumute ist.«

Julia hatte das schon viel zu oft gehört, aber diesmal biß sie nicht an. Sie wußte nicht, ob ihre Nichte in Schwierigkeiten steckte oder nicht. Doch sie wollte nicht, daß Mary durchbrann­te. Ebenso wenig wollte sie, daß das Mädchen den Rest seines Lebens gegen seine Mutter anzukämpfen hatte. Louise mußte nachgeben, um sich die Liebe ihrer Tochter zu bewahren und ihre Familie zusammenzuhalten. Juts lebe seit vierzehn Jahren mit einem Ehemann, dessen Mutter Tag für Tag deutlich mach­te, daß sie für unzulänglich befunden wurde. Das war kein schönes Gefühl. Zuerst ignorierte man es. Dann wurde man wütend. Schließlich stumpfte man ab, aber das Schlimme war, daß man auch in anderen Dingen abstumpfte, anderen Men­schen gegenüber. Es griff um sich, dieses taube Gefühl.

»Louise, du bist eine gute Mutter.«

»Oh, vielen Dank«, sagte Louise spöttisch.

»Vogelmütter stoßen ihre Kinder aus dem Nest. Mary ist be­reit, aus dem Nest zu fliegen. Alles, was du ihr beigebracht hast, wird sie behalten. Quäl dich nicht so. Sie hat sich einen Jungen ausgesucht, der dir nicht gefällt. Aber Wheezie, er hat ein gutes Herz.« sie holte Luft ». hoffe ich. Die meiste Zeit hat der Junge nicht mal genug zu essen gehabt, und das weißt du! Der Kleine hat angefangen, sich sein Essen zu verdienen, als er sie­ben Jahre alt war. Wenn du eins über ihn weißt, dann daß er nicht faul ist. Er hat Mary gefunden, und sie hat ihn gefunden. Laß den Herrn seine Wunder wirken. Immerhin hat er sie zu­sammengebracht.«

Die Anrufung des Herrn war Julias Trumpf.

Louise schürzte die roten Lippen. Nichts kam heraus, nicht einmal ein leises Zischen.

Auch Mary war sprachlos.

Schließlich fand Louise die Sprache wieder. Auch wenn ihre Schwester mit einem überzeugenden Argument zu ihr durchge­drungen war, sie mußte die Wahrheit wissen. Mit ruhiger Stimme fragte sie: »Mary, bevor ich irgend etwas entscheiden kann, muß ich es wissen. Bist du schwanger?«

Mary brach in Tränen aus. Louise hatte ihre Antwort.

Juts tätschelte Marys Hand. »Ist schon gut, Kind, du bist nicht die Erste.«

Ernüchtert fing Louise an zu weinen. »O Mary, wie konntest du? Nach allem, was ich dir beigebracht habe.«

»Das hilft jetzt nicht weiter.« Julia sah die beiden Frauen an, die in Tränen aufgelöst waren. »Alle Erziehung der Welt kann Mutter Natur nicht ändern.« Ehe Wheezie ihre moralischen Einwände auffahren konnte, fuhr Juts fort: »Mary, das war sehr unklug. Du mußt dir klar machen, daß du etwas getan hast, das sich nicht ungeschehen machen läßt. Selbst wenn alles gut wird, hast du dein ganzes Leben verändert, bevor wir die Möglichkeit hatten, es gemeinsam zu überdenken - deine Zukunft, meine ich.«

»Ich weiß«, heulte Mary. »Aber ich liebe ihn.« Der Ge­fühlsausbruch erzeugte einen weiteren Tränenschwall.

»Louise?«

Leichenblaß krächzte Louise: »Ich kann nicht glauben, daß sie mir das angetan hat.«

»Sie hat es nicht dir angetan, Schwesterherz. Sie hat es sich selbst angetan. Wie sehr hast du mit fünfzehn an andere Men­schen gedacht? Das Kind steckt in der Klemme. Ob es dir paßt oder nicht, wir sind ihre Familie. Wir müssen ihr helfen.«

Inzwischen gefaßter, fragte Louise ihre Tochter: »Weiß er Be­scheid?«

»Ja. Er hat letzte Woche gesagt, daß er mich heiraten will.«

»Letzte Woche!«

Juts hob die Hand. »Das war richtig von ihm. Hängen wir uns doch jetzt nicht an dem Zeitpunkt auf.«

»Ich wußte nicht, wie ich's dir sagen sollte.« Mary schluchzte aufs Neue.

Mit klarer Stimme sagte Julia: »Gib ihnen deinen Segen. Er­mögliche ihr eine anständige katholische Trauung. Pearlie wird Billy über seine Verpflichtungen aufklären müssen. Chester kann dabei helfen. Das machen die Männer unter sich aus. Uns bleibt nur, ihn in unserer Familie willkommen zu heißen.«

Louise kämpfte mit den Tränen. »Ich will nicht, daß ihr weh­getan wird.«

»Das wird so oder so passieren. Da kann sie es ebenso gut selbst in die Hand nehmen.«

»Was meinst du damit, Tante Juts?«

»Sie meint, Billy wird sich mit anderen herumtreiben.«

»Wird er nicht!«

Julia hob Schweigen gebietend die Hände. »Nichts derglei­chen habe ich gesagt. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Ich weiß nur, daß das Leben einem ab und zu eins reinwürgt. Da kommt man drüber weg. Louise, dreh mir die Worte nicht im Mund herum. Mary, wenn deine Eltern das für dich tun, mußt du die Schule zu Ende machen, bevor du arbeiten gehst.«

Diese Aussicht war nicht verlockend, aber Mary nickte zum Einverständnis. Ein langes Schweigen folgte. Draußen hörten sie knirschende Schritte, wenn Leute vorübergingen. Hin und wieder winkte Julia jemandem zu.

Schließlich sagte Louise im Flüsterton: »Also, Mary, es ist dein Leben. Ich bin Risiken eingegangen. Da wirst du wohl auch deine Risiken eingehen müssen.«

Mary taumelte zu ihrer Mutter und umarmte sie. Dann ergin­gen sie sich in vereintem Schluchzen.

Erschöpft vom Schlichten und Geradebiegen, schaltete Juts die Deckenbeleuchtung aus. Tante zu sein war harte Arbeit; eine Mutter zu sein mußte die Hölle sein, und doch, man sehe sie sich jetzt an, die beiden.

25

»Mom, ich kann mein Bouquet nicht finden.« Maizie rang ver­zweifelt die Hände.

»Du wirst es finden!«, befahl Louise.

»Aber Mom, ich kann mich an nichts erinnern.« Das junge Mädchen, mit glänzendem Pagenschnitt, lehnte an der Wand des Kirchenvestibüls.

»Paß auf, daß du dein Kleid nicht zerknitterst. Es hat fast so viel gekostet wie das Brautkleid deiner Schwester. Ich kann mich nicht erinnern, daß die Preise so hoch waren, als ich ge­heiratet habe.«

»Sie trägt deinen Schleier. Damit hast du bestimmt eine Men­ge Geld gespart«, erwiderte Maizie, bei der sich erste Anzei­chen von Aufsässigkeit bemerkbar machten.

Louise, erschöpft und mit ihrer Geduld am Ende, ging darüber hinweg und nahm ihr jüngeres Kind in die Mangel. »Wo bist du in den letzten zwanzig Minuten gewesen?«

»Ich war auf der Toilette.«

»Hast du das Bouquet vielleicht da liegen gelassen?«

»Weiß ich nicht. Da ist dauernd jemand drin.«

»Ich würde dort anfangen.«

»Und wenn es da nicht ist, Mom?«

»Dann denk nach, wo du sonst noch gewesen bist.« Louise sah auf ihre Uhr. »Immer einen Schritt zurück.«

»Ja.« Maizie wackelte auf ihren hochhackigen Schuhen Rich­tung Toilette.

»In der Kirche sieht alles tadellos aus.« Juts hastete an Maizie vorbei. »Tante Dimps ist mit Terry Tinsdale an der Orgel - nur für alle Fälle.«

»Father O'Reilly sagte, wenn wir nicht unsere eigene Organi­stin nähmen, würde es ihr das Herz brechen.« Louise atmete aus. »Ich persönlich glaube nicht, daß Terry Tinsdale auch nur einen einzigen Ton richtig trifft. Und jetzt kann Maizie ihr Bouquet nicht finden. Sie wird sich noch die Knöchel brechen mit den hohen Absätzen.«

Juts trat zu ihr und legte den Arm um ihre Schwester, die so mit den Nerven fertig war, daß sie kaum atmen konnte. »Alles wird gut gehen, Schwesterherz.«

»Das will ich hoffen; denn ich kann es jetzt nicht mehr aufhal­ten.« Louise hob ruckartig den Kopf. »Celestes Auto! Ich hab vergessen, es heute Morgen abzuholen.«

»Schon geschehen. Es steht direkt vor der Kirche.«

»Wo ist Momma?«

»Sitzt in der ersten Reihe.«

»Und Pelzgesicht?«, fragte Louise säuerlich. Sie meinte Hans­ford.

»Er ist auch da, mit einer rosa Rosenknospe im Knopfloch.«

»Juts, Juts, ich hab das Satinkissen für die Ringe vergessen!«

»Father O'Reilly hat es, und er hat den Satin reinigen lassen, genau wie du es wolltest. So, jetzt atme tief durch und zähl bis zehn. Das wird eine schöne Sonnenaufgangshochzeit. Dein Mann sieht so blendend aus wie an dem Tag, als du ihn geheira­tet hast. Er ist oben bei Mary. Sie braucht ein Seil, um nicht in den Himmel zu entschweben, aber Pearlie hat alles im Griff. Du ruhst dich jetzt am besten ein paar Minuten aus.«

Juts ließ unerwähnt, daß der eilige Hochzeitstermin ihr und Louises Organisationstalent auf eine harte Probe gestellt hatte. Daß Mary auf einer Trauung bei Sonnenaufgang bestand, hatte für zusätzliche Strapazen gesorgt. Sie wünschte sich eine origi­nelle Hochzeit.

Louises Augen füllten sich mit Tränen. »Juts, ich möchte, daß Mary glücklich ist.«

»Dann lächle, denn heute ist sie es. Alles Weitere wird die Zukunft besorgen.«

»Wohl wahr.« Ein scharfes Luftholen erstickte das zweite Wort. »Sind Billys Leute hier?«

»Seine Mutter. Sein Vater ist schon seit drei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen, sagt sie. Chessy ist bei ihm und sagt ihm, was immer Männer in so einer Situation zu sagen haben.«

»Chessy ist ein Schatz.« Louise faltete die Hände, versuchte, sich zu fassen. »Wir sind wohl nicht die Einzigen in Runnyme­de, die einen Nichtsnutz zum Vater haben.« Juts erwiderte nichts, und Louise fuhr fort: »Wie spät ist es?« »Wir haben noch ungefähr zehn Minuten.«

»Ich sollte wirklich noch einmal nach Mary sehen.«

»Guck mal!« Maizie stürmte herein und schwenkte ihr Bou­quet.

»Wo hattest du es gelassen?«

»Bei Mary.«

»Was macht sie?«

»Sie kichert viel. Ha-ha«, sagte Maizie spöttisch. »Und ich seh immer noch nicht ein, warum ich das Schlußlicht bilden muß. Ich bin ihre Schwester.«

»Die Brautjungfer ist immer die beste Freundin, Maizie. Das haben wir oft genug durchgekaut.« Louise funkelte sie an. »So wie du dich aufführst, kannst du von Glück sagen, daß du über­haupt bei der Hochzeit dabei bist. Und außerdem bist du die Kleinste hier. Du mußt am Schluß gehen.«

»Wer war deine Brautjungfer?«

»Ich«, sagte Juts.

»Siehste«, sagte Maizie eine Spur zu laut.

»Maizie, meine Hochzeit war etwas anderes als Marys. Zum Beispiel wurde sie nicht erst in letzter Minute zusammengestöp­selt. Du bist still und tust, was sich gehört, oder ich zerr dich aus der Brautjungfernreihe, ehe du weißt, wie dir geschieht.«

Maizie biß sich auf die Lippe, machte auf dem Absatz kehrt und stakste hinaus.

»Lieber Gott, laß mich lange genug leben, um meinen Kin­dern eine Last zu sein. Ich will ihre Möbel zertrümmern, ihre Teller zerdeppern, ihren Schlaf stören und ihnen morgens, mit­tags und abends widersprechen. Ich will ihnen auf der Tasche liegen.«

Juts lachte, und dann mußte Louise über sich selbst lachen. Juts sah wieder auf die Uhr. »So, Brautmutter, wir gehen jetzt in die Kirche und setzen uns. Mir tun die Füße weh.«

Louise blieb einen Moment regungslos stehen, blinzelte und nickte dann. Die Schwestern gingen ins Vestibül, schritten so­dann Schulter an Schulter durch den Mittelgang, und die Ver­sammelten erhoben sich zu Ehren der Mutter.

Im Aufenthaltsraum des Bräutigams gingen Jacob Epstein in seinem geliehenen Stresemann und Extra Billys zwei Brüder in ihren geliehenen Anzügen nervös blinzelnd auf und ab und atmeten tief durch. Billys breite Schultern füllten seinen grauen Frack aus.

Der Bräutigam räusperte sich. »Mr. Smith, ich bin Ihnen wirk­lich dankbar, daß Sie hier bei mir sind.«

Chester lächelte. »Billy, das ist das vierte Mal, daß du mir ge­dankt hast. Ich bin gern hier.«

»Bin wohl ein bißchen hibbelig.«

»Billy« - Chester legte ihm seine Hand auf die Schulter - »in ungefähr zwanzig Minuten ist die Trauung vorüber, und dann bist du ein verheirateter Mann. Alles wird anders. Wenn wir heiraten, denken wir viel an das Körperliche, aber zu einer Part­nerschaft gehört mehr.«

»Sir«, stimmte Billy zu.

»Ich glaube, auch wenn ich drei Leben hätte, ich würde die Frauen nie verstehen. Sie sind eigenartig.« Chester lächelte den großen jungen Mann an, der vor ihm stand. »Aber ihr müßt am gleichen Strang ziehen, miteinander reden und über die kleinen Nervereien hinweg sehen, die euch auf die Palme bringen. Und noch etwas - sag ihr, daß du sie liebst. Manchmal meinen wir, sie wissen es, aber aus irgendeinem Grund müssen die Frauen es öfter hören als wir.« Er streckte die Hand aus. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt.«

»Danke, Mr. Smith.« Billy schüttelte ihm die Hand. Die Or­ganistin spielte die Erkennungsmelodie für den Bräutigam.

»Ich begleite euch hinein.«

Er führte die jungen Männer zum Gang rechts vom Altar. »Billy, zähl bis fünf, damit ich zu meinem Platz kommen kann, okay?« Als Billy nickte, zwinkerte er ihm zu. »Du hast dir ein wunderbares Mädchen ausgesucht.« Dann schlich er leise durch den Seitengang.

Als die Musik verstummte, gingen Billy und seine Trauzeu­gen hintereinander vor den Altar. Sie stellten sich kerzengerade auf.

Der Hochzeitsmarsch erschallte. Mary erschien im Vestibül, ihr Vater neben ihr kämpfte mit den Tränen. Er küßte sie rasch durch den Schleier, bevor sie durch den Mittelgang schritten. Maizie bildete die Nachhut und träumte von ihrer eigenen Hochzeit, die eines Tages stattfinden würde. Billy drehte sich um, als er den Hochzeitsmarsch hörte, und der überwältigende Anblick von Mary in ihrem blendend weißen Brautkleid zauber­te ein Lächeln reinen Glücks in sein Gesicht. Wer an diesem Tag zugegen war, würde den Ausdruck in Extra Billy Bitters Gesicht nie vergessen. Es war wahrlich eine Liebesheirat.

Louise weinte in ihr Spitzentaschentuch. Juts legte den Arm um sie, auch ihr stiegen die Tränen in die Augen. Warum, wuß­te sie nicht. Vielleicht waren es Tränen der Hoffnung, der Hoff­nung, daß diese zwei irgendwie zusammen überleben würden, daß sie die Knüppel überleben würden, die ihnen das Leben zwischen die Beine warf, und daß sie ihre eigenen Unzuläng­lichkeiten überleben würden.

Sogar Chester weinte.

Juts blickte über den Gang und bemerkte, daß Millard Yost sich die Augen abtupfte. Dann fiel ihr der Aushang ein, den er in jedem Schaufenster von Runnymede angebracht hatte, als sein Irish Setter weggelaufen war.


VERMISST

Seamus, dicker Irish Setter, kastriert

wie ein Mitglied der Familie


Ihre Schultern bebten. Louise umarmte sie fester, weil sie dach­te, das heilige Sakrament rührte Juts in tiefster Seele. Dann sah sie das Gesicht ihrer jüngeren Schwester.

»Hör auf«, zischte Louise leise.

»Ich kann nicht.« Juts erstickte fast.

»Ich werde mein erstes Magengeschwür nach dir benennen.« Louise stieß Juts so fest mit dem Ellenbogen an, daß hinter den Schwestern ein hörbaresUmpf zu vernehmen war. Die Hoch­zeitsgäste nahmen an, beide seien von Emotionen überwältigt. Insoweit hatten sie Recht. Glücklicherweise verbarg die Kon­vention, um was für Emotionen es sich handelte. Die Menschen sehen, was sie sehen wollen.

Juts fühlte Chessys starke Hand, die ihre nahm und sanft drückte. Sie riß sich zusammen, doch sie wußte, nie würde sie an diese Hochzeit denken können, ohne an Seamus zu denken, den dicken Irish Setter.

Braut und Bräutigam drehten auf der Fahrt zu ihren Flitterwo­chen nach Baltimore eine Ehrenrunde um den Platz. Etwa acht Kilometer außerhalb der Stadt schaltete Extra Billy das Radio ein. Auf der Stelle kehrte er um und fuhr an diesem eisigen Morgen des 7. Dezember nach Runnymede zurück.

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