Es ist schon merkwürdig, was nach einer seismischen Erschütterung im Gedächtnis haften bleibt wie Baumwollreste an einer abgezupften Samenkapsel.
Der Salon war sonntags und montags geschlossen, also spazierten Julia und Louise mit Buster und Doodlebug um den Platz. Selbst die Hunde waren trübsinnig. Das Postamt auf der Nordseite stand hinter dem prächtigen Rathaus am Platz. Das aus Granit errichtete Postamt mit den dorischen Säulen - das Rathaus hingegen hatte ionische Säulen -, ragte hoch auf. Zwei enorme Kohlenbecken, ein halbes Stockwerk hoch, flankierten die Treppenstufen. Obwohl blasses Winterlicht durch die glühenden Wolken sickerte, brannte das Feuer in den Becken. Eine Schlange von jungen, mittleren und sogar alten Männern zog sich den Emmitsburg Pike entlang; eine zweite Schlange wand sich um das Rathaus fast bis zur Hanover Street.
Arm in Arm standen die Schwestern da und gafften. Billy Bitters, einen abgetragenen Schal um den Hals, wartete geduldig. Sobald er die Nachrichten im Radio gehört hatte, war er umgedreht und nach Hause gefahren. Die Flitterwochen mußten warten. Er war umringt von Ray Parker, Jacob Epstein, Doak Garten und anderen Freunden. Er lächelte und winkte den Hunsenmeirs zu. Juts winkte zurück. Louise nickte. Schlimm genug, daß er ihre Tochter geheiratet hatte. Jetzt würde er sie auch noch verlassen.
Sie gingen zum Postamt von Süd-Runnymede, einer bescheideneren Angelegenheit aus weißem Balkenwerk mit einer lang gestreckten Veranda und grünen Fensterläden. Die amerikanische Flagge wehte auf Halbmast, ebenso die Flagge von Maryland, eine ausnehmend schöne rotschwarz-gelbe Staatsflagge, viergeteilt und mit dem Wappen von Lord Baltimore verziert. Das Postgebäude stand mit der Front zur Baltimore Street. Eine Schlange von Männern wand sich am Platz entlang in westlicher Richtung; Nachzügler hatten sich in der Gasse zwischen der Bibliothek und dem Postamt angestellt. Eine weitere Schlange erstreckte sich nach Osten die ganze Baltimore Street hinunter. Paul Trumbull und Chester Smith standen nebeneinander in dieser Schlange.
Juts ließ Louise stehen und rannte los. Louise brauchte eine Sekunde, bis sie ihren Mann dort in der Kälte stehen sah. Dann rannte auch sie hin.
»Chester, tu's nicht. Du bist sechsunddreißig. Du bist zu alt.«
»Schatz, geh nach Hause.«
»Du kannst nicht in den Krieg ziehen. Ich werde verhungern!«, wimmerte sie.
»Du wirst nicht verhungern.«
»Man wird dich nicht nehmen. Ich sage dir, du verschwendest deine Zeit.«
»Julia Ellen, du hast hier nichts zu suchen.«
»Wieso nicht? In der Schlange stehen sogar Frauen.«
»Hm - ah«, druckste er herum, »zwei aus derselben Familie können sich nicht melden.«
Louise las mittlerweile Pearlie die Leviten. Er blieb standhaft.
Schließlich gingen die Schwestern weinend fort. Da sie die Hälfte ihrer Schulden abbezahlt hatten, schauten sie bei Cadwalder herein und trafen Flavius Cadwalder ebenfalls in Tränen aufgelöst an.
»Mädels, entschuldigt.« Er wischte sich die Tränen fort.
»Wo ist Vaughn?«
»Er stand heute Morgen um sechs in der Eiseskälte vor dem Postamt.« Stolz und Sorge sprachen aus seinem Gesichtsausdruck. »Vaughn hat sich zum Militär gemeldet. Er war der Erste, der sich heute verpflichtet hat.«
»Hm.« Juts überlegte einen Moment und sagte dann: »Sie haben einen wunderbaren Sohn großgezogen. Er wird bestimmt ein guter Soldat.«
Er drückte eins der dünnen weißen Baumwolltücher, die zum Abtrocknen der Gläser dienten, an sein Gesicht.
Louise klopfte ihm über die Theke hinweg auf die Schulter. »Flavius, alles wird gut.«
Er wischte sich die Augen. »Wheezie, nichts wird mehr sein wie früher. Die Welt ist verrückt geworden.« Er schniefte. »Und ich vergesse ganz, was sich gehört. Was darf ich euch bringen?« »Wir wollen eigentlich gar nichts. Wir wissen nicht, was wir tun sollen.« Louises Lippen zitterten. »Unsere Männer stehen auch in der Schlange, sie melden sich hinter unserem Rücken zum Militär.« Louise fing an zu weinen.
Darauf mußten auch Julia und Flavius weinen. Die Yosts kamen herein. Bald weinten alle, die eintraten. Man war erschüttert, verwirrt und zutiefst besorgt.
Lillian sagte: »Ted Baeckle wird weder Chessy noch Pearlie nehmen. Keine Bange.«
Ted Baeckle war der Rekrutierer der Armee. Als Deutschland am 1. September 1939 in Polen einmarschiert war, hatte Juts vorsorglich Ted aufgesucht und ihn gebeten, Chester nicht einzuziehen, sollte er sich freiwillig melden.
Ted hatte erwidert, sie solle sich keine Sorgen machen. Die Vereinigten Staaten befänden sich nicht im Krieg. Wenn sie in den Krieg einträten, würde er ihren Mann freistellen. Das war allerdings zwei Jahre her, und jetzt machte sie sich große Sorgen.
»Im Bürgerkrieg haben sie Männer über sechzig und zwölfjährige Jungen genommen.« Juts tupfte sich die Augen ab. »Woher wissen wir, daß es nicht wieder so wird?«
»So schlimm steht es nicht mit uns«, erklärte Lillian.
Die Tür schwang auf. Doak Garten kam herein. Er lächelte ihnen zu. »Marine!«
»Mein Gott«, rief Louise aus, dann rang sie sich ein Lächeln ab. »Du hast es richtig gemacht, Doak, uns allen ist bloß - ich weiß nicht, wie uns ist.«
»Elend«, antwortete Juts, die Hand unterm Kinn.
In diesem Moment kam Ray hereingefegt. Er und Doak klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Für sie war dies ein großes Abenteuer.
Louise fragte Ray: »Ist Extra Billy noch in der Schlange?«
»Ja, Ma'am, Mrs. Trumbull, und er will sich fürs Marinekorps melden.«
»Typisch«, brummte sie.
Julia flüsterte: »Louise, du kannst so ekelhaft sein. Der Junge könnte immerhin umkommen.« »Sei nicht so theatralisch, Julia. Er ist zu dickköpfig, um zu exerzieren. Er wird den Krieg im Bau verbringen.« Sie hätte fast hinzugefügt: »Und was soll ich mit einer heulenden Mary und einem schreienden Baby anfangen?«
Louise hatte sich gründlich geirrt.
»Du weißt, wie sehr ich den Krieg verabscheue, ganz egal, was ihn ausgelöst hat«, erklärte Mutter Smith. »Gottlob hat Ted Baeckle Vernunft an den Tag gelegt.«
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, sah Chester verstohlen auf die Uhr. »Ja, Mutter.«
»Wozu habe ich dich großgezogen, wenn du auf unmoralischem Treiben beharrst? Krieg ist unmoralisch.«
»Ted hat mich zum stellvertretenden Kommandeur im Warndienst des Zivilen Luftschutzes ernannt. Das ist immerhin besser als nichts. Celeste Chalfonte steht natürlich an der Spitze. Sie wird alle auf Vordermann bringen.« Chessy seufzte.
»Das A und O des Krieges.« Jo Smith schob das Kinn vor.
»Ich werde nicht die Hände in den Schoß legen, nach dem, was in Pearl Harbor passiert ist.«
»Du sollst nicht töten. Du kannst die Zehn Gebote nicht ändern. Es sind die Zehn Gebote, nicht die Zehn Empfehlungen.« Da sie keinen Sinn für Humor hatte, merkte Josephine Smith nicht, daß sie komisch war. »Was schmunzelst du so?«
»Nichts, Mutter.«
»Deine Brüder waren so vernünftig, sich nicht freiwillig zu melden.«
»Bulova wird für den Krieg produzieren, somit trägt Joseph zu den Kriegsanstrengungen bei.« Kaum waren die Worte aus seinem Mund, wünschte er, sie zurückrufen zu können. Niemand ging aus einer Auseinandersetzung mit Mutter Smith als Sieger hervor.
»Versuch nicht, dich hinter Joseph zu verstecken«, fauchte sie.
»Mutter, ich habe eine Verabredung.«
»Ich kann mich nicht erinnern, daß du dienstags abends Termine hast.«
»Nun, jetzt habe ich einen.«
»Ich nehme an, deine Frau hat dich angestiftet, dich freiwillig zu melden.« »Nein. Sie wollte nicht, daß ich hingehe. Ausnahmsweise seid du und Juts euch einig.«
Ihr Räuspern war ein Zeichen der Mißbilligung.
»Grüß Dad von mir.«
Sie folgte ihm zur Tür. »Was macht Julias Vater? Nutzlos herumsitzen wie ein Klotz im Wald?«
»Er macht dies und das am Haus. Er kann kaum atmen.«
»Wird's nicht mehr lange machen«, sagte sie genüßlich. »Der Lohn der Sünde, möchte ich meinen.«
»Der Lohn von zu vielen Zigaretten und dem Staub, den er in den Minen von Nevada eingeatmet hat, Mutter.« Chessy zählte bis zehn. »Als er hier wegging, ist er in die Minen gegangen. Er versucht, etwas gutzumachen.«
»Er wäre besser unter der Erde geblieben.« Sie schürzte die Lippen. »Deiner Frau kleben die Zigaretten am Mund fest. Wenn Lungenleiden in der Familie liegen, wird es sie auch erwischen.«
Seine Mutter redete noch, als er den Motor seines Wagens anließ. Schließlich schloß sie die Tür, damit die Kälte draußen blieb.
Er parkte hinter der Tanzschule. Hinter allen Straßen von Runnymede lagen Gassen, was Anlieferungen erleichterte und es den Fahrern auch ermöglichte, starkem Verkehr auszuweichen.
Er lief die Treppe hinauf und öffnete die Tür.
»Hallo, tut mir Leid, daß ich etwas zu spät komme. Meine Mutter redet wie ein Wasserfall.«
Ihr Blick war getrübt, obwohl sie lächelte. »Ist nicht weiter schlimm. Ich hatte eine Stunde, die länger gedauert hat. Ich habe vorige Woche ein paar neue Platten gekauft.« Sie hielt inne. »Wie ich höre, haben Sie sich freiwillig gemeldet.« Sie setzte die Nadel auf die Schallplatte, und es erklang>I Don 't Want to Set the World on Fire<.
»Ach, nein.« Er nahm sie in die Arme, bereit, loszulegen. »So tapfer bin ich nicht.«
»Ich habe Sie in der Schlange gesehen.«
»Wo waren Sie?« Er wirbelte sie herum.
»Bei Yosts. Ich bin kurz vorbei, um mir einen Doughnut zu holen und einfach mit jemandem zu sprechen. Alles ist so schrecklich, und es macht mir solche Angst. Jedenfalls, ich habe Sie da mit Pearlie gesehen. Die Yosts waren so aufgeregt, daß sie den Laden für heute zugemacht haben, als ich draußen war.«
»Alle sind erschüttert.«
Sie senkte die Stimme. »Haben Sie sich rekrutieren lassen?«
»Ted nimmt mich nicht. Er sagte, ich sei ein alter Mann.«
»Sie sind überhaupt nicht alt.« Sie sah ihn an.
»Hm - wie auch immer, Ted hat mich zum stellvertretenden Chef des Zivilen Luftschutzes ernannt. Wenigstens tu ich was.«
»Ich bin froh, daß Sie nicht fortgehen.«
Seine Augen strahlten belustigt. »Es gefällt Ihnen wohl, jeden Dienstag auf die Zehen getreten zu bekommen.«
Sie erwiderte nichts. Im Laufe der Unterrichtsstunde fügte sie Drehungen und Wendungen in den Walzer ein, einen Tanz, den sie beide genossen. Chessy verlor allmählich seine Hemmungen und entwickelte sich zu einem guten Tänzer.
Nach jeder Stunde setzten sie sich gewöhnlich für ein paar Minuten hin und plauderten.
»Geht es Ihnen gut? Sie wirken etwas bedrückt.«
Sie faltete die Hände und beugte sich vor. »Was, wenn die Japaner mit ihren Flugzeugträgern an die Westküste fahren? Sie könnten San Francisco und Seattle bombardieren. Es wird lange dauern, unsere Flotte wiederaufzubauen.«
»Ich nehme an, uns sind noch ein paar Schiffe in San Diego und Newport News geblieben. Es würde zu einer Seeschlacht kommen, bevor so etwas wie in Pearl Harbor noch einmal passieren könnte. Die Marine führt täglich Aufklärungsflüge durch. Das hoffe ich zumindest.«
»Und wenn die Deutschen nach dem Erfolg der Japaner nun denken, sie könnten uns angreifen? Vor dem Hafen von Baltimore sollen U-Boote gesichtet worden sein.«
»Die Engländer konnten Baltimore nicht einnehmen, und die Deutschen werden es auch nicht können. Der Staat Maryland mag ja winzig sein, aber wir sind zäh.« Er lächelte. »Also meine Mutter, die kann sich ängstigen, und Julias Schwester Wheezie - das ist auch so eine. Sie ängstigen sich genug für uns alle. Seien Sie unbesorgt - denn Josephine Smith und Louise Trumbull ängstigen sich für Sie mit.«
Das brachte sie zum Lachen, was ihre hübschen Züge noch reizender machte. »Sie haben Recht. Ich wünschte, ich wäre so geistreich wie Sie.«
Jetzt lachte er. »Trudy, Sie sind die erste Frau, die mich jemals geistreich genannt hat.« Er stand auf. »Ich muß nach Hause. Bis nächsten Dienstag.« Er zögerte einen Moment. »Die Tanzerei macht mir richtig Spaß. Sie sind eine gute Lehrerin. Ich hätte nie gedacht, daß ich tanzen lernen könnte.«
»Danke.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich weiß, Sie wollten in den Krieg ziehen, aber ich bin so froh, daß Sie uns hier beschützen werden.« Sie küßte ihn auf die Wange.
Auf dem ganzen Weg die Hanover Street hinunter spürte er ihre Lippen wie Feuer auf seiner Wange.
»Was meinen Sie?«, fragte Harper Wheeler, der Sheriff von Süd-Runnymede, den Bäcker Millard Yost, Chef der freiwilligen Feuerwehr.
»Brandstiftung. Hat nicht mal versucht, die Spuren zu beseitigen.« Millard zeigte auf herumliegende Lappen und Benzinkanister.
»Ein verteufelter Hinweis.« Harper spuckte auf die wassergetränkte Erde, wo sich in der bitterkalten Nachtluft schon Eis bildete.
»Ja.« Millard sah seinen Männern beim Aufrollen der Schläuche zu.
Chessy fuhr mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz von Sans Souci, Fannie Jump Creightons Nachtclub, der neben dem Fleischlagerhaus stand, welches das Ziel des Brandstifters gewesen war. Die Autos der freiwilligen Feuerwehren von Nord- und Süd-Runnymede nahmen fast den ganzen Parkplatz ein. Der Brand war zwar auf der Südseite, aber die Feuerwehren standen einander bei und pfiffen auf die Staatsgrenze.
Chessy eilte hinzu, um Pearlie zu helfen, der mit rotem Gesicht Schläuche schleppte. »Mist, das muß ausgerechnet in der Woche passieren, wo ich frei habe.«
Pearlie grunzte. »Ich konnte verdammt noch mal nichts tun.«
»Du hast verhindert, daß es auf Fannies Club übergreift. Das ist schon eine Menge.« Er bemerkte Fannie, die in ihren teuren Bibermantel gehüllt in ihrem Buick saß. »Hat sie Alarm geschlagen?«
»Ja, zuerst hat sie ihren Club geräumt und dann den Strom abgestellt. Das hat sie hier drüben auch versucht, aber es war schon zu spät.«
»Du brauchst mich hier ja nicht. Ich sehe nach Fannie.«
Er klopfte ans Autofenster. Sie kurbelte es herunter. »Fannie, alles in Ordnung?«
Sie nickte grimmig.
Als er sich auf den Beifahrersitz setzte, kurbelte sie das Fenster wieder hoch. Matilda, die Katze vom Lagerhaus, hatte sich voller Panik, aber unversehrt, in Fannies voluminösem Mantel vergraben.
»Wissen die Mojos es schon?«
»Ich hab's Orrie noch nicht gesagt, und Noe ist in Washington.«
»Oh.« Chester zögerte. »Was macht er da?«
»Er wollte sich nicht hier in die Schlange stellen; er schämt sich so, weil er Japaner ist. Deshalb ist er nach Washington gefahren, um unseren Kongreßabgeordneten zu bitten, ihn zu rekrutieren. Noe hat viel für seine Wahlkampagne getan, wie Sie wissen.«
»Herrgott noch mal!« Chester fluchte selten in Gegenwart einer Dame. »Hups - Verzeihung, Fannie.«
»Ich sage noch viel schlimmere Sachen.«
»Er hat Pearl Harbor nicht bombardiert. Warum soll er sich schämen? Hätte ich das nur gewußt. Ich wäre nie auf so einen Gedanken gekommen.«
»Jemand anders schon.« Sie blickte zu dem zerstörten Betrieb hinüber.
»Wer könnte so etwas tun?«
»Wer weiß schon, was die Leute denken? Noe ist gebürtiger Japaner, das genügt scheinbar.«
»Er ist einer von uns.« Chester verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust.
»Einer von uns< heißt weiß, angelsächsisch und protestantisch, mit ein paar eingestreuten Katholiken zur Verzierung.«
»Ah, so denke ich nicht.«
»Ich auch nicht, Chessy, aber viele denken so. Er ist eine Zielscheibe. Die haben uns bombardiert, also verbrennen wir einen von denen. Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen - so ähnlich. Das Lagerhaus gehört den Rifes. Noe hat es nur gemietet.«
Stumm beobachtete er die Gestalten mit ihren großen Feuerwehrhelmen. »Wie geht es weiter?«
»Das weiß nur Gott - falls es ihn kümmert.« Sie streichelte den weichen Kopf der Katze. »Wenigstens ist Matilda in Sicherheit.«
»Und Sie auch.« Er seufzte. »Ich war auf dem Weg nach Hause und habe den Feuerschein gesehen.« Er sah auf die Uhr. »Juts fragt sich bestimmt schon, wo ich bleibe.«
»Sie wird Verständnis haben.« Fannie seufzte schwer. Ein kalter Atemhauch schlug sich in der schneidenden Luft auf der Windschutzscheibe nieder. »Ich sollte jetzt wohl lieber Orrie informieren. Sie ist sowieso schon völlig außer sich, weil Noe sich zum Militär meldet. Das hier wird ihr den Rest geben.«
»Er spricht Japanisch. Das macht ihn unentbehrlich.«
»Ich flitze mal zum P. T. - was meinen Sie?« Sie hatte Juts' Bezeichnung für Louises Haus aufgeschnappt. »Orrie wird Louise brauchen.«
»Gute Idee«, stimmte Chester zu.
»Wissen Sie, ich hatte ein komisches Gefühl, daß so etwas passieren würde. Seit Fairy Thatcher siebenunddreißig in Deutschland verschollen ist, ist mir die Welt suspekt. Fairy ist natürlich tot. Ich weiß ganz genau, daß sie tot ist. So eine reiche Frau, und fliegt auf diesen sozialistischen Quatsch - armes Ding. Sie hatte noch nie einen Funken Verstand besessen. Wahrscheinlich hat die SS sie erschossen, oder jemand in einer blitzsauberen Uniform hat sie kaltgestellt. Ich weiß es nicht, Chester. Ich bin eine alte Frau. Mir scheint, die Welt ist aus den Fugen geraten.«
Ritterlich widersprach er: »Fannie Jump, kein Mensch würde Sie alt nennen - und die Welt ist aus den Fugen geraten. Ich glaube, Fairy hat das früher erkannt als wir.«
»Sie ist dafür gestorben. Wenn die Deutschen nicht auf ihresgleichen hören wollten, dann hörten sie auch nicht auf eine Amerikanerin, die ihnen sagte, daß die Nazis Unheil bringen.« Tränen traten ihr in die Augen. »Celeste und ich sitzen manchmal zusammen und unterhalten uns. Die Menschen haben sich verändert.Dieses Land hat sich verändert. Nicht nur, daß wir alt und verschroben werden, man kann die Gewalt riechen.« Sie hielt inne, dann brummte sie: »Da kommt Popeye, der verdammte Schnüffler. Können Sie sich eine Frau vorstellen, die den heiraten würde? Sie wird.«
Ein Klopfen am Fenster unterbrach sie. Sie kurbelte es herunter.
»Mrs. Creighton, ich habe vergessen, Sie zu fragen, wann genau Sie den Brandgeruch bemerkt haben.«
»Gegen halb neun.«
»Danke. Hallo, Chester. Wissen Sie irgend etwas?«
»Ich bin dümmer, als die Polizei erlaubt, Popeye, das wissen Sie doch.«
Er linste über seine Brille hinweg. »Wie haben Sie denn dann von dem Brand erfahren?«
»Ich habe auf dem Heimweg den roten Schein gesehen, und da bin ich hierher gefahren.« Er streichelte die verschreckte Katze. »Hab auch die Sirenen gehört.«
Popeye blätterte in seinem Stenoblock. »Lassen Sie mich das überprüfen.« Er lächelte Fannie an. »Sie haben zu der Zeit, als Sie das Feuer rochen, ein Auto wegfahren sehen?«
»Popeye, das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich habe einen alten Ford gesehen, einen Model A, und das Nummernschild war übermalt.«
»Hmmm.«
»Warum sind Sie nicht eingezogen worden?« Ein Anflug von Boshaftigkeit färbte ihre Stimme.
Er erwiderte gleichmütig: »Plattfüße.«
»Wie praktisch«, bemerkte sie bissig.
»Sie könnten zum Zivilen Luftschutz gehen«, schlug Chessy freundlich vor.
»Ein Reporter ist vierundzwanzig Stunden im Einsatz. Die freie Presse ist das Rückgrat einer Demokratie, also leiste ich meinen Beitrag.«
»Darauf möchte ich wetten.« Fannie funkelte ihn böse an.
Popeye wandte sich an Chessy: »Irgendeine Ahnung, wer so etwas tun könnte?«
»Ein Arschloch.«
»Aber, aber«, schalt er. »Das können wir nicht drucken.«
»Dann lassen Sie's bleiben.« Wut ballte sich in Chessys Kehle zusammen. »Wer das getan hat, sollte auf dem Runnymede Square ausgepeitscht werden. Noe Mojo kann ebenso wenig dafür, daß er gebürtiger Japaner ist, wie ich dafür kann, daß meine Familie aus England stammt. Er ist ein guter Mensch. Wie Sie wissen, Popeye, ist Noe kein reicher Mann. Er kann diesen Verlust nicht abdecken.«
»Das Gebäude gehört den Rifes.« Popeye kritzelte noch etwas.
»Es gehört ihnen zwar, aber wir kennen den Vertrag nicht. Wenn Noe nun haftbar gemacht wird? Dann ist er ruiniert.«
»Ich rufe Zeb Vance an. Danke für den Hinweis.«
Zeb Vance betrieb eine Versicherungsgesellschaft in der Stadt.
»Machen Sie, was Sie wollen«, sagte Fannie. »Popeye, ich kürze hiermit das Interview ab. Orrie braucht mich.«
In seinen Augen ging ein Licht an. »Oh.«
»Ja, und wenn Sie mir folgen und versuchen, Aufnahmen zu machen, schlag ich Ihnen die Fresse ein. Könnte sogar eine Verbesserung sein.« Sie startete ihren Motor, brachte ihn auf Touren und ließ Popeye auf dem Parkplatz stehen.
ImCurl 'n' Twirl herrschte am nächsten Morgen gedrückte Stimmung.
Juts und Louise hatten nicht die Kraft, aufeinander herumzuhacken, geschweige denn, auf anderen.
Freundinnen, die zu ihrem verabredeten Termin kamen, beklagten die jüngsten Ereignisse. Wer würde in einem Ort wie Runnymede absichtlich Feuer legen?
Mutmaßungen kursierten reichlich; einige Frauen waren überzeugt, daß der Missetäter ein Jugendlicher sei, der ein bißchen Aufregung suchte. Die beunruhigendste Ansicht vertrat Celeste Chalfonte. Sie war der Meinung, ein Vorfall wie der in Pearl Harbor biete faulen Menschen einen Vorwand, Rache zu üben. Die Tat habe nur scheinbar einen politischen Hintergrund.
»Was meinen Sie genau damit?« Juts hielt die Polierbürste über Celestes langen, aristokratischen Fingernägeln in der Luft.
»Noe ist erfolgreich. Der Brandstifter nicht. Der Brandstifter ist der getretene Wurm.«
»Sie glauben also, es ist jemand von uns.«
»Nicht jemand von uns in diesem Raum, aber - ja.«
Julia schauderte. »Ein entsetzlicher Gedanke.«
Louise rührte eine Bleichlösung für Ev Most an, die dies abstreiten würde, wenn man sie fragte. Ev, Juts' beste Freundin, hatte gerade sechs schwere Monate in Clarksburg, West Virginia, hinter sich, wo sie die todkranke Mutter ihres Mannes gepflegt hatte. Die leidende Seele war endlich erlöst worden. »Als der alte Brutus noch lebte, konnten wir ihn für jede Tragödie verantwortlich machen.«
»Die gegenwärtige Rife-Sippe würde eher Blut saugen als vergießen.« Celeste lehnte sich mit halb geschlossenen Augen zurück. »Brutus war wenigstens ein ernst zu nehmender Gegner. Nein - hier haben wir es mit einem unbedeutenden Wicht zu tun, der sich jetzt sehr mächtig vorkommt.« Dann fragte sie: »Wann kommt Noes Zug an?« »Halb acht«, erwiderte Louise. Sie hatte bereits allen erzählt, daß Orrie die Nachricht sehr tapfer aufgenommen hatte und heilfroh war, daß Matilda lebte.
»Meine Damen, wir sollten den Zug in Empfang nehmen.«
Viele teilten Celestes Meinung. Als Noe am Bahnhofausstieg, waren seine Freunde und die ihm Wohlgesinnten zur Stelle, ebenso der unvermeidliche Popeye Huffstetler.
Noe teilte dem lästigen Reporter mit, daß man ihn bei der Armee genommen hatte und ihn höchstwahrscheinlich einsetzen würde, um Nachrichten des Feindes zu entschlüsseln.
»Was ist das für ein Gefühl, gegen Ihr Land zu kämpfen?«, fragte Popeye.
Noe, der im Angesicht der Dummheit die Fassung bewahrte, antwortete: »Dies ist mein Land.«
»Aber sind Sie nicht wütend? Jemand hat Ihren Betrieb in Brand gesteckt.«
Noe zuckte die Achseln. »Ich bin wütend, ich bin traurig.«
»Was glauben Sie, wer das getan hat?« Popeye ließ nicht locker.
»Halten Sie endlich den Mund.« Chessy zog Noe fort.
Walter Falkenroth stand in der Gruppe, doch es war sein eisernes Prinzip, sich bei seinen Reportern nicht einzumischen. Allerdings warf er Popeye einen mißbilligenden Blick zu.
Orrie hielt sich tapfer, bis sie ihren Mann umarmte, dann weinte sie wie ein Baby.
»Unsere ganze harte Arbeit«, schluchzte sie.
Er flüsterte ihr ins Ohr: »Es wird schon wieder, Liebes. Wir sind noch jung. Wir bauen alles wieder auf, wenn der Krieg vorüber ist.«
Extra Billy hatte den Arm um Mary gelegt und küßte sie auf die Wange.
»Billy, weißt du irgendwas darüber?«, fragte Mary ihre Quelle der Weisheit.
»Nein, aber ich würde es gern rauskriegen.«
Ihre Augen trübten sich. »Ich kann nicht glauben, daß du mich verläßt.«
»Ich komm ja wieder.« Er küßte sie nochmals.
Zeb Vance schob sich nach vorn. »Noe, Sie sollen wissen, daß Julius und Pole Rife mit mir zusammenarbeiten. Wir finden eine Lösung, keine Bange.«
»Danke, Zeb.«
»Ich trete in sechs Wochen meinen Militärdienst an. Wenn wir bis dahin nicht alles unter Dach und Fach haben, übernimmt Priscilla Donaldson in meinem Büro den Fall. Sie wird ihre Arbeit gut machen.« Er drückte Noe die Hand und scherzte: »Ihr Mädels werdet wohl ohne uns auskommen müssen.«
Marys lautes Heulen durchdrang die Stille. Dann fingen auch die anderen Frauen an zu weinen.
Father O'Reilly hob die Hand zum Segen. »Freunde, lasset uns zusammen beten.«
Gesagt, getan, und jeder wußte, daß sie zum letzten Mal alle zusammen waren.
Anfangs hatten ihre pelzgefütterten Halbstiefel die Kälte abgehalten, aber Juts war den ganzen Tag auf den Beinen gewesen - einkaufen. Inzwischen waren ihre Zehen blau gefroren.
Louise, Toots und Juts hatten sich jeweils einen Tag frei genommen, um ihre Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Juts meinte, an alle gedacht zu haben - sie hatte eine große Katzenminzemaus für Yoyo gekauft und Kauknochen für Buster und Doodlebug -, dann fiel ihr ein, daß sie ein Geschenk für Hansford brauchte. Sie hatte den kranken Mann nicht in ihr Herz geschlossen, aber sie konnte ihn nicht übergehen - nicht Weihnachten.
Ihre Kundinnen bekamen alle eine kostenlose Maniküre. So konnte niemand behaupten, daß sie jemanden begünstige.
Sie wußte, wenn sie heute Abend einschlief, würde ihr jemand einfallen, den sie vergessen hatte.
Als sie an Senior Epsteins Juweliergeschäft vorbeikam, erblickte sie Chester. Sie duckte sich und spähte um den Türpfosten. Er kaufte goldene Ohrringe in Muschelform. Sie liebte Ohrringe!
Vereinzelte Schneeflocken kreiselten vom bleiernen Himmel. Die Pakete wurden schwer. Durchgefroren bis auf die Knochen, setzte Juts sich auf eine Bank am Platz und wünschte, sie wäre eine Taube, die hoch auf einem Ast hockte und die Menschen unten beobachtete.
Ein riesiger Kranz war am Denkmal der drei konföderierten Soldaten niedergelegt worden. Der Schnee in ihren Augenhöhlen ließ sie blind aussehen. Ein noch größerer Kranz, gespendet von Caesura Frothingham, zierte George Gordon Meade. Der Schnee nahm zu. Die Lichter der Läden glitzerten durch das dichter werdende Grau und Weiß.
Einen flüchtigen Augenblick lang fühlte Juts, wie kostbar dieser Ort für sie war, und sie wußte, daß jenseits des Atlantiks eine Engländerin, der sie nie begegnen würde, ihre eigene kleine Stadt ebenso sehr liebte. Aber Juts war in Sicherheit. Die Engländerin nicht. Juts wollte schier das Herz brechen aus Kummer um alle Frauen in der Welt. Sie hatten noch nie einen Krieg geführt, doch leiden und sterben taten sie in ihnen zuhauf.
Kleine Ringe in Rot, Gelb, Grün und Blau umgaben die bunten Weihnachtslichter in den Schaufenstern. Juts stand auf, schüttelte den Schnee ab und machte sich auf zum Bon-Ton, ihrer letzten Station.
Die wirbelnden Flocken, die Farben, die beißende Kälte, das Geräusch der Reifenketten im Schnee, ein gelegentliches Hupen, das Bellen eines Hundes, der es leid war, vor einem Geschäft auf sein Herrchen zu warten, aus solchen Lauten bestand ihr Weihnachten.
Juts brütete nicht viel. Sie nahm das Leben, wie es kam. Sie wußte nicht, wohin ihr Leben strebte, nur, daß es schneller dort anlangte, als sie erwartet hatte.
Sie betrachtete ihr Leben als übersteuerten Autoskooter, als Windrädchen mit nackten Frauen darauf, als Schokoriegel und Würfelspiele, Longhornochsen und hitzige Pokerrunden, Radschlagen bei Sonnenaufgang und eine Spur von Traurigkeit bei Sonnenuntergang. Sie dachte an den Geruch von Busters Fell, wenn er aus dem Regen ins Haus kam, und an Yoyos putzige Angewohnheit, zerknülltes Papier aus dem Papierkorb zu fischen. Sie dachte an Chesters Lachen, den Geruch von Benzin und frisch gemähtem Gras und jetzt den feuchten Geruch fallenden Schnees.
Zum ersten Mal fragte sie sich, was ihre Mutter für Erinnerungen hatte. Wenn dies alles ein Leben ausmachte - Eindrücke -, wie waren dann Coras?
Sie stieß die Drehtür vom Bon-Ton an und trat ein, betrachtete mit kindlichem Staunen die hohen Stützpfeiler, die mit rotem und goldenem Papier umwickelt waren. Die Holztheken waren mit rot-goldenen Wimpeln geschmückt und hatten einen Weihnachtsmann in der Mitte, allerdings trugen die diversen Weihnachtsmänner die Uniformen der Landstreitkräfte, der Marine, der Marineinfanterie, der Luftstreitkräfte und der Küstenwache. Die Schaufensterpuppen trugen die Uniformen der Alliierten.
Jemand rempelte Juts von hinten an.
»Verzeihung«, sagte Juts und trat aus dem Weg.
Tante Dimps, ebenfalls mit Paketen beladen, antwortete: »Julia Ellen, willst du nicht Yoyo mitbringen und mal sehen, was ihr zu den Dekorationen einfällt?«
Juts lachte und dachte dann, was für ein Glück es war, daß sie in Runnymede lebte. auch wenn sie es mit Leuten wie Josephine Smith teilen mußte.
Mary faltete ein Blatt mittel-blaues Papier in der Mitte zusammen und schob es sorgfältig in den Luftpostumschlag. Ihre Mutter würde über den Luftpostluxus meckern. Dem würde sich eine Aufzählung von Marys übrigen überflüssigen Ausgaben anschließen. Vorsichtshalber steckte sie ihre Briefe in ihre Büchertasche und sauste von der Schule zum Postamt.
Als es leise an ihrer Tür klopfte, legte sie schnell ihr Chemiebuch auf den Umschlag.
»Herein.«
»Es schneit wieder. Wollen wir zum Teich? Wir könnten Schlittschuh laufen.«
Mary sah aus dem Fenster in die Dunkelheit. »Hmm, ich weiß nicht.«
»Ach komm, Mary, die Feuerwehr hat große Fackeln aufgestellt, damit wir was sehen können. Alle gehen hin. Das ist doch toll!«
»Geh du nur.«
»Du hast bestimmt wieder an Billy geschrieben. Wenn du mit mir Schlittschuh laufen kommst, kannst du ihm alles darüber erzählen. Er ist ein guter Schlittschuhläufer.«
Mary, die sich gerne bitten ließ, wurde ein wenig schwach. »Na ja.«
»Du kannst ihm erzählen, wer dort war, was sie anhatten, wer hingefallen ist und wie sehr du ihn vermißt.«
»Ich kann ohne ihn nicht leben. Ich denke jede Minute an ihn.«
Maizie nickte ausdruckslos.
»Du verstehst das nicht«, sagte Mary mürrisch.
»Ah - Mensch, Mary, das ist nicht fair.« Maizie zog eine Schublade auf.
»He, das sind meine Socken.«
»Wenn du nicht mitkommst, brauche ich sie.«
»Nimm deine eigenen Socken, verdammt noch mal.«
»Ich sag Momma, daß du Schimpfwörter benutzt. Wenn du Schlittschuh laufen würdest, hättest du bessere Laune und brauchtest nicht zu fluchen.« Sie zog ihre Söckchen aus und ließ sich auf die Bettkante fallen.
»Leg sie zurück!« Mary schnellte von ihrem Stuhl hoch, um sich die Socken zu schnappen.
Maizie versteckte sie hinter ihrem Rücken. »Nee.«
»Ich hab nicht gesagt, daß ich nicht mitkomme. Du hast nicht richtig zugehört.«
Maizie setzte sich auf die dicken Socken. »Lies mir deinen Brief vor, dann geb ich dir deine Socken - aber nur, wenn du wirklich Schlittschuh laufen gehst.«
»Ha!«, schnaubte Mary. »Ich les dir gar nichts vor.«
»Wie soll ich dann lernen, was es heißt, verliebt zu sein?«
Mary, die darauf brannte, ihre neu entdeckten Gefühle mitzuteilen, hob verstohlen ihr Chemiebuch hoch. »Nur zum Teil. Ich les dir nicht alles vor.«
»Okay.«
»Lieber Bill<« - sie räusperte sich -»>alles ist grau ohne dich...<«.
Maizie unterbrach sie. »Im Winter ist es immer grau.«
Hochmütig zuckte Mary die Achseln. »Du hast kein Gespür für - Poesie.« Mary faltete ihren Brief zusammen. »Ich les dir nichts mehr vor.«
»Ach komm. Ich schleif auch deine Kufen.«
Mary faltete das Blatt wieder auseinander, das Papier knisterte leicht.»>Ich denke an dich, wenn ich den Himmel sehe. Ich denke an dich, wenn ich Misteln sehe. Ich denke an dich, wenn Doodlebug bellt - immerzu. Ich denke...<«.
Fünfzehn Minuten später war Mary mit dem Vorlesen ihrer glühenden Epistel fertig.
»Wie romantisch.« Maizie ließ sich verträumt rücklings aufs Bett sinken.
Mary sprang rasch vom Stuhl und schnappte sich eine Socke, die unter Maizies Po hervorlugte. »Ätsch.«
»Da.« Maizie warf ihr die andere zu und setzte sich auf. »Was schreibt Billy?«
Mary zog einen Brief aus Parris Island, South Carolina, hervor. Die Handschrift war ein riesiges Gekrakel.
»Liebe Mary, der Ausbilder scheißt mich zusammen. Die Milben sind schrecklich. Es ist furchtbar hier. In Liebe, Bill.<«
Maizie wartete einen Moment, dann schwenkte sie die Füße auf den Boden. »Das ist alles?«
»Männer sind keine großen Briefeschreiber«, verteidigte Mary ihren lakonischen Ehemann.
Erstaunliche Reife an den Tag legend, schloß Maizie: »Wenigstens weißt du, daß er an dich denkt. Komm, wir gehen zum Teich.«
Tabakflecken sprenkelten Hansford Hunsenmeirs bläuliche Lippen. Trotz seiner Atembeschwerden konnte er von dem lindernden Nikotin nicht lassen. Wenn er schon sterben mußte, dann jedenfalls nach seinem eigenen Gusto.
Er zog an seiner Zigarre, und graublauer Rauch kräuselte sich zur Decke von Celestes Küche. Hansford, einen kleinen Berg Sattelzeug vor sich auf dem großen Holztisch, besaß flinke Finger. O. B. Huffstetler, Celestes Stallbursche, war mit seinen Verrichtungen im Rückstand. Der junge Mann war geschafft von seinem sechs Monate alten Kind, einem Jungen, den sie Kirk getauft hatten, aber Peepbean nannten. Peepbean, der mit einer kräftigen Lunge auf die Welt gekommen war, machte die Nacht hindurch reichlich Gebrauch davon. Niemand hatte O. B. oder seine Frau gewarnt, daß Babys die Gesundheit ebenso gefährden wie den Charakter.
Zu Hansfords Linken war das Lederreparaturwerkzeug säuberlich angeordnet, zu seiner Rechten lagen Stücke aus wertvollen englischen Leder in Havannabraun. Niemand stellte besseres Sattelleder oder besseren Stahl für Gebisse her als die Engländer.
»Julia, weißt du noch, wie du früher Pennys und Fünfer gespart hast?«, fragte ihr Vater. »Du warst noch keine drei, aber du wußtest, daß Geld etwas Besonderes ist, und hast jeden Penny aufgehoben, den dir jemand für ein Eis gegeben hat. Dann bist du über den Platz ins Bon-Ton marschiert und hast dir einen kleinen eisernen Sparelefanten mit erhobenem Rüssel gekauft. Louise hat dich ausgelacht, weil dein ganzes Geld für die Spardose draufgegangen war und du nichts mehr übrig hattest, um es reinzutun. Du hast geweint und geweint. Ich hab dir einen Penny für deine Spardose gegeben, und da hast du aufgehört zu weinen. Dann weinte Louise, weil sie meinte, ich hätte dich lieber als sie. Da gab ich ihr einen Penny, und sie war still. Du hast ihr deine Spardose zur Aufbewahrung für ihren Penny angeboten.« Er legte seine Zigarre auf einem großen Aschenbecher ab und machte sich an einem zerrissenen Kehlriemen zu schaffen. »Sie hat abgelehnt, weil sie meinte, wie solle sie dann ihren Penny von deinem unterscheiden.«
»An Louises Penny erinnere ich mich nicht.« Juts nahm sich einen geflochtenen Zügel vor, aus dem sich ein Strang gelöst hatte. Auch sie hatte geschickte Hände. »Aber die Spardose habe ich noch, und der erste Penny ist noch drin - als Glücksbringer.«
»Ist schon verrückt, was für Sachen einem plötzlich einfallen.« Er griff sich das gewachste Garn. »Maizie wünscht sich ein Kleid für eine Weihnachtsfeier. Louise will es ihr nicht kaufen. Wie wär's, wenn ich dir das Geld gebe und du kaufst dem Kind das Kleid. Wird Louise allerdings nicht freuen.«
»Louise kommt drüber weg.« Juts bemerkte einen flammend roten Kardinal, der von einem Stechpalmenstrauch im Garten aufflog. Celestes Küche war ihr Lieblingsraum in dem prachtvollen Haus. »Mir tut das Kind Leid. Sie spielt immerzu die zweite Geige nach Mary. Zum ersten Mal ist sie auf einen großen Ball eingeladen. Sie hat eine ganz andere Figur als Mary, also kann sie Marys alte Kleider nicht tragen.« Sie atmete durch die Nase aus.
Er führte den Faden durch ein Loch, das er mit einer Ahle gestochen hatte.
Cora kam herein und setzte Teewasser auf. »Ihr habt wohl was Wichtiges zu besprechen, ihr zwei.«
»Maizies Ballkleid«, sagte Hansford ohne nähere Erläuterung.
Cora nickte ihrer jüngeren Tochter zu. Sie hatte bereits drei Seiten der Geschichte gehört: Louises, Maizies und jetzt Juts'. Maizie war auf einen Ball eingeladen und hatte bei Bon-Ton das ideale Kleid gefunden, aus grünem Samt mit weißem Pelzbesatz. Juts war dabei gewesen, als sie es anprobierte, und hatte ihr gesagt, wie schön es aussehe. Aber das Kleid kostete einunddreißig Dollar, und Louise hatte sich geweigert, es auch nur in Erwägung zu ziehen.
Celeste, die einen Kimono in kräftigem Marineblau trug, stieß die Schwingtür auf.
»Ich brauche etwas Heißes.«
»Schon aufgesetzt.«
»Hmmm.« Sie betrachtete den Kessel.
»Wenn man zuguckt, kocht das Wasser nie«, sagte Cora.
»Ich weiß.« Sie lächelte. »Natürlich verratet ihr keiner Menschenseele, daß ich ein japanisches Kleidungsstück trage.«
»Besser als Lederhosen«, witzelte Juts.
»Da hätte ich kalte Beine.« Celeste setzte sich zu ihnen an den Tisch und durchstöberte ihr Sattelzeug. »Irgend etwas ist immer, nicht? Ich habe zwei Martingale zerrissen - das heißt, nicht ich, sondern Rambunctious - und, oh, danke.«
Cora stellte Celeste eine Tasse Tee hin, dann bediente sie Hansford, Juts und schließlich sich selbst, bevor sie sich neben Celeste setzte. »Maizie hat eine Stinkwut im Bauch.«
»Sie kann nicht nackt auf den Ball gehen.« Celeste lachte.
»Louise kriegt einen Tobsuchtsanfall.« Hansford schüttelte den Kopf.
»Wenn's nach Louise geht, ist sie die einzige Mutter auf der Welt. Ansonsten hat niemand von uns die leiseste Ahnung. Sie legt sich sogar mit dir an, Momma«, sagte Juts.
Cora lächelte. »Louise bildet sich eine Menge ein.« Sie fügte hinzu: »Selbst wenn ihr alle zusammenlegt und Maizie das Kleid kauft, wird Louise es zurückbringen, das steht fest.«
»Tja. Ekelhaft, gemein und herrisch - das steht auch fest.«
»So spricht eine richtige kleine Schwester«, bemerkte Celeste. »Ich war selbst eine.«
Hansford zog an seiner Zigarre. Er musterte Juts. »Sie ist wie deine Mutter«, bemerkte er kichernd zu Cora.
»Nun ja - Momma hatte auf alle Fälle Sinn für Humor.«
»Bepe war total bekloppt.« Hansford nannte Harriet Buckingham bei ihrem Kosenamen.
»Ich bin nicht verrückt. Louise ist verrückt. Ich bin vollkommen normal.«
»Ist die Erinnerung nicht gnädig?«, meinte Celeste.
»Moment mal, Hansford, Bepe war kein bißchen übergeschnappt.« Cora klapperte mit ihrer Teetasse; ihre Hände waren zierlich geblieben, obwohl sie mit den Jahren zugenommen hatte.
»Sie hat bei Pauline Basehart ein Netz über deinen Vater geworfen und ihn raus auf die Straße gezogen. Hat die Mädels wahrlich überrumpelt. Ich sag euch, das war ein Anblick.« »Na wenn schon. Ist lange her.«
»Wer war Pauline Basehart?«, fragte Juts.
»Die Puffmutter«, klärte Celeste Juts auf.
»Mom!«, rief Juts.
»Mein Vater hatte eine Schwäche für Frauen.«
»Schwäche - er ist daran gestorben. Da stand er mitten auf der Hanover Street, splitterfasernackt, und Bepe hat ihm den Arsch versohlt, bis er aus der Nase blutete. Er konnte sich nicht aus dem Netz befreien, und Pauline dachte nicht daran, ihm rauszuhelfen. Sie hat ein Mädchen losgeschickt, um Ardant Trumbull zu holen - Pearlies Großonkel -, der damals Sheriff war.«
»Das hab ich nicht gewußt«, rief Juts.
Hansford lachte. »Mädchen, in Runnymede ging es hoch her, bevor du auf die Welt kamst.«
»Mein Vater.« Cora zuckte die Achseln. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Er war nicht besser und nicht schlechter als viele andere, aber Bepe hat ihn Mores gelehrt.« Hansford schüttelte den Kopf.
»Du findest, ich bin wie Bepe?«, fragte Juts.
»Haargenau.« Hansford klatschte in die Hände. »Wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Alte Männer leben in der Vergangenheit«, hielt Cora ihm vor.
»Wenigstens kann ich mich dran erinnern. Harold Mundis' Großvater hat nicht mal seine Kinder erkannt, als er in meinem Alter war.«
»Ich erfahre ja allerhand.« Juts stand auf und schenkte allen noch einmal Tee ein. »Celeste, ich sterbe vor Hunger. Kann ich eins von Ihren Hörnchen haben?«
»Stell sie auf den Tisch. Dann haben wir alle was davon.«
Juts bewunderte das handbemalte Porzellan, als sie die Hörnchen mitten auf den Tisch stellte.
»Wir haben das Problem Maizie noch nicht gelöst.«
Ramelle kam zur Haustür herein. Sie hörten, wie sie den Schnee von den Füßen stampfte.
»Jemand zu Hause?«
»Wir sind in der Küche«, antwortete Celeste.
Ramelle kam herein und rieb sich die Hände. »Es wird eiskalt da draußen. Hörnchen! Cora, Sie haben sich selbst übertroffen.«
Ramelle quetschte sich neben Celeste und vernahm die ganze traurige Geschichte von Maizie und dem smaragdgrünen Kleid bei Bon-Ton, das es ihr angetan hatte. Cora machte frischen Tee.
»Kann sie nicht eins von Spotts' Kleidern anziehen? Maizie hat jetzt ungefähr ihre Größe, oder?«
»Prima Idee«, fand Celeste.
Sie marschierten nach oben zu dem riesigen Kleiderschrank aus Zedernholz. Das Treppensteigen strengte Hansford an. Keuchend setzte er sich auf einen Regency-Stuhl. Viele Kleider waren aus der Mode, doch ein entzückendes aus flammend rotem Chiffon war genau das Richtige.
»Maizie wird aussehen wie das leibhaftige Weihnachten«, sagte Ramelle.
»Und wenn Louise sagt, es ist ein Almosen?« Juts befühlte den hauchdünnen Stoff.
»Das laß mal meine Sorge sein«, erklärte Celeste.
Als sie hinuntergingen, sagte Julia zu Ramelle: »Louise reitet dauernd darauf herum, wie anders es ist, eine Mutter zu sein. Sie sagt immer, ich könne das nicht verstehen. Sie sind eine Mutter. Ich finde, Sie sind kein bißchen anders als vor Spottiswoods Geburt.«
»Äußerlich nicht; innerlich ja. Jemand anders trat an erste Stelle.«
»Oh«, antwortete Juts matt.
Cora hielt sich unten am Geländerknauf der dunklen Mahagonitreppe fest und wartete auf Juts. »Gräm dich nicht so deswegen. Du wirst nie ein Kind bekommen, wenn du die ganze Zeit dran denkst. Das bringt deine Innereien durcheinander.«
»Da hat sie Recht.« Celeste legte Juts den Arm um die Schultern.
»Bei mir steht Chessy an erster Stelle. Das kann ja nicht so ein Unterschied sein.«
»Chessy ist nicht hilflos«, erklärte Ramelle.
»Wollen wir wetten?«, entgegnete Juts.
»Alle Frauen meinen, die Männer seien hilflos ohne sie«, sagte Celeste. »In Wahrheit kommen sie ganz gut ohne uns zurecht. Vielleicht genießen sie es nicht so sehr, aber sie werden's überleben.«
Cora widersprach ihr. »Eine Frau kann ohne Mann leben, aber ein Mann nicht ohne Frau.«
»Was meinen Sie, Hansford? Sprechen Sie für die Männerwelt.«
»Nun ja, ein Mann kann vielleicht ohne Frau leben, aber dann wäre das Leben nicht lebenswert. Ich habe Männer in den Minen an Einsamkeit sterben sehen, jawohl.« Er kam wieder auf Juts' Dilemma zurück. »Mädchen, wenn du ein Kind willst, dann solltest du eins kriegen.«
»Ich weiß nicht, ob ich kann.« Juts schluckte schwer an den Worten.
»Du kannst«, sagte Celeste mit Bestimmtheit. »Der Doktor hat bei dir nichts festgestellt. Du mußt Chester dazu bewegen, zum Arzt zu gehen.«
»Männer sind eigen in solchen Dingen.« Hansford hustete; er brauchte ein paar Sekunden, um wieder zu Atem zu kommen. »Wenn er nicht hingehen will, Julia - es gibt Kinder, die ein Zuhause brauchen. Denk mal drüber nach.«
»Ich weiß nicht, ob Chessy ein Kind großziehen möchte, das nicht von ihm ist.«
»Hast du ihn gefragt?« Celeste ging die Dinge gewöhnlich ganz rational an, so daß die empfindlichsten Punkte gar nicht berührt wurden.
»Nein.« Juts' Stimme wurde schwächer.
»Also - frag ihn.«
»Ich kann nicht. Ich hab Angst.« Julias Kinn zitterte.
»Du mußt das Thema nur ganz geschickt zur Sprache bringen«, meinte Ramelle beschwichtigend.
»Ein unerwünschtes Kind würde nicht anerkannt. Mutter Smith würde sich anstellen wie von der Kuh ge...«
Celeste unterbrach sie: »Mutter Smith ist eine Kuh.«
Julia lächelte matt. »Chessy würde sich nicht gegen seine Mutter stellen, und sie wird kein Kind wollen, das nicht von ihrem Fleisch und Blut ist.«
»Ich glaube, du hast Recht, was Mutter Smith angeht, aber vielleicht unterschätzt du deinen Mann - immerhin hat er dich geheiratet«, sagte Ramelle.
Chessy war überrascht, als er zur Tanzstunde kam und noch zwei Paare antraf, Freunde von Trudy aus Baltimore. Sie sagte, dies sei ihr Weihnachtsgeschenk für ihn. Er habe sich zu sehr daran gewöhnt, mit ihr zu tanzen - er müsse auch mit anderen Frauen tanzen.
Nach ein paar verpatzten Anfängen stellte er fest, daß die Dame ihm folgte, wenn er sie sicher führte.
Nach der Stunde plauderte die Gruppe noch ein wenig. Weil nächste Woche Weihnachten war, war Trudy jeden Abend für Tanzveranstaltungen ausgebucht, entweder als Begleitung oder um Schwung aufs Parkett zu bringen. Die Schwestern von Gettysburg, die Töchter der Konföderation, der Kiwanis Club, der Elks Club, die Söhne von Cincinnatus, der Pilot Club, der Country Club von Nord-Runnymede... alle feierten.
Bevor er ging, gab Chessy ihr ein kleines Geschenk, in Goldpapier verpackt und mit einem roten Band umwickelt.
»Machen Sie es nicht vor Weihnachten auf.«
»Wie lieb von Ihnen!«
»Frohe Weihnachten allerseits.« Er winkte den anderen zu, als er die Tür aufmachte.
Trudy folgte ihm in den Flur. »Ich habe auch ein Geschenk für Sie.«
Er lächelte. Dies war die zweite Überraschung des Abends.
Sie sauste zurück in den Tanzsaal und kam mit einer schmalen, fast meterlangen Schachtel zurück. In der Mitte saß eine große Schleife, die aussah wie eine Papierchrysantheme mit geringelten Ranken. »Frohe Weihnachten, Mr. Smith.«
Er lachte über die förmliche Anrede. »Muß ich mit dem Öffnen bis Weihnachten warten?«
»Nein, aber wenn Sie nicht warten, sind Sie undiszipliniert.«
»Also gut.« Er trat auf die oberste Treppenstufe. »Ich beherrsche mich.«
Sie beugte sich vor und küßte ihn auf die Wange. »Frohe Weihnachten.«
Er wollte etwas sagen, errötete aber nur, worauf er sich umdrehte und die Treppe hinuntereilte.
Mary begutachtete ihre Schwester. Das Chiffonkleid stand Maizie ausgezeichnet. Mary war kein bißchen neidisch.
Sie hatte eine Postkarte erhalten. »Vermisse dich. Dein Billy.« Seinen spärlichen Worten entnahm sie Wogen glühender Liebe.
Der Schnee schimmerte bläulich im Zwielicht. Die Lichter der Häuser warfen goldene Sprenkel in den Schnee. In heller Aufregung fragte Maizie immerzu: »Ist er schon da?«
Louise antwortete: »Du hast noch eine Stunde Zeit, Maizie.«
»Momma, bis dahin fällt meine Frisur zusammen.«
»Nein, aber wenn du nicht still sitzt, zerknitterst du dein Kleid.«
»Wann kommt Tante Juts?«
»Wenn sie kommt. Sie muß vorher noch zur Kirche. Heute Abend werden die Lebensmittelkörbe ausgeteilt.«
»Und wann machen wir das, Mom?«, fragte Mary, obwohl sie mit den Gedanken in Billys Ausbildungslager in South Carolina war.
»Morgen. Es wäre praktischer, wenn alle Kirchen ihre Körbe für die Armen am selben Abend verteilen würden. Deine Tante bindet die Schleifen für die meisten, weil sie das so gut kann. Maizie, sitz still!«
»Mutter, die Zeit vergeht so langsam.«
»Warte, bis du so alt bist wie ich. Dann rast sie.«
Doodlebug kam hereinspaziert, auf der Suche nach etwas Eßbarem oder nach Gesellschaft, wobei das Eßbare Priorität hatte.
»Maizie, hast du deinen Dankesbrief an Mrs. Chalfonte schon geschrieben?«
»Wie kann ich mich bei ihr bedanken, bevor ich auf dem Ball war? Ich muß ihr doch erzählen, wie's war.«
Louise nahm ein Blatt Papier und einen Umschlag aus dem kleinen Sekretär in der Ecke. »Schreib wenigstens schon mal die Adresse auf den Umschlag. Ich kenne dich. Du schiebst das Schreiben vor dir her, und ich bin dann blamiert.«
»Nein, tu ich nicht.« Maizie setzte sich an den Sekretär.
Sie schrieb: »Mrs. Ramelle Chalfonte.«
Ehe sie die Anschrift hinzufügen konnte, hielt Mary das Ende ihres Federhalters fest. »Falsch.«
»Was ist falsch?« Maizie runzelte die Stirn.
»Mom, sie muß>Mrs. Curtis Chalfonte< schreiben, nicht?«
Louise beugte sich über Maizies Schulter. »O Maizie, du weißt doch, wie es sich gehört.«
»Wie denn?« Maizie, ohnehin schon kribbelig, wurde gereizt.
»Man spricht eine Dame mit ihrem Ehenamen an. >Mrs. Ramelle Chalfonte < würde man nur schreiben, wenn ihr Mann tot wäre.«
»Mutter, Ramelle ist das egal.«
»Ob ihr Mann tot ist oder nicht?«, zog Mary sie auf.
»Du weißt genau, was ich meine.« Maizie knallte den Federhalter auf den Sekretär. Tinte spritzte auf die lederne Schreibunterlage.
»Du Schwachkopf!« Louise schnappte sich den Federhalter. »Wenn was auf das Kleid kommt, krieg ich das nie wieder raus.«
»Entschuldigung.« Maizie ließ den Kopf hängen. Sie zog einen neuen Umschlag aus dem Fach und schrieb die korrekte Anschrift. »Da.«
»So, und morgen früh schreibst du ihr als erstes einen Dankesbrief, verstanden?«
»Ja.«
»Wieso hat Ramelle Celestes Bruder geheiratet?«, fragte Mary unbefangen.
»Weil sie Celeste nicht heiraten konnte«, antwortete Maizie ungeniert.
»Maizie, wie kommst du nur auf solche Ideen?« Louise war entrüstet.
»Das ist doch kein Geheimnis.« Maizie zuckte die Achseln.
»Fräulein Allwissend. Du hast keine Ahnung von der Beziehung zwischen Celeste und Ramelle. Niemand weiß, was hinter geschlossenen Türen vorgeht.«
»G-Mom schon.« Maizie schob trotzig das Kinn vor.
Louise seufzte. »G-Mom sollte die Klappe halten.«
»Mom, das schert doch keinen«, sagte Mary.
»Halt du dich da raus.« Louise schürzte die Lippen, die heute weihnachtsrot geschminkt waren. »Maizie, zappel nicht so herum. Du ruinierst sonst das Kleid. Wenn du einen Tropfen Saft auf das Kleid spritzt, dreh ich dir den Hals um, bis dir die Augen rausquellen. Hast du mich verstanden?«
»Ja.«
Juts steckte den Kopf zur Hintertür herein und stieß den Zweisigpfiff aus.
Maizie eilte in die Küche. »Tante Juts, wie findest du's?«
»So was Hübsches habe ich noch nie gesehen.« Juts warf ihren Schal über einen Stuhl. »Psst.« Juts drückte Maizie einen hellen Lippenstift in die Hand. »Laß das deine Mutter nicht sehen.«
»Danke.« Maizie zog vor Entzücken die zierliche Nase kraus.
»Und versuch nicht, ihn ohne Spiegel aufzutragen. Für den Trick braucht man Jahre.«
Ein Gepolter draußen, gefolgt von einem Klopfen an der Tür, verkündete die Ankunft von Maizies Begleiter. Angus trug eine rote Fliege und einen Kummerbund zu seinem gemieteten Frack. Louise begrüßte ihn.
»Da.« Er reichte Maizie ein Anstecksträußchen aus Orchideen.
»Soll ich es ihr anstecken?«, erbot sich Mary.
Angus nickte, und Louise winkte seinem Vater zu, der den alten Oldsmobil fuhr.
Juts reichte Angus Maizies Mantel. Er half ihr hinein, alle verabschiedeten sich höflich, und Louise lehnte sich an die Tür, als Maizie die Zufahrt hinunterzockelte.
»Seit letztem Weihnachten bin ich um zehn Jahre gealtert. Zwei Töchter. Probleme im Doppelpack. Warum gerade ich, o Herr?«
»WeilEr die Schnauze voll von dir hatte«, antwortete Juts.
»Das ist nicht komisch.« Louise trat ans Fenster und winkte, bis das Auto um die Ecke verschwand.
Mary, die keine Lust hatte, sich eine Litanei ihrer Verfehlungen anzuhören, verzog sich. »Ich geh nach oben, lernen.« »Lüg mich nicht an. Du gehst nach oben, um Billy wieder einen Roman zu schreiben. Der Junge wird noch blind vom Lesen deiner Briefe. Ich kann deine Handschrift kaum entziffern.«
»Es hilft, wenn du eine Brille aufsetzt.« Juts hatte Hunger.
»Ich brauch keine Brille.«
»Tatsächlich? Mir ist aufgefallen, daß du die Zeitung so weit vom Gesicht hältst, wie deine Arme reichen.«
»Das tun doch alle.«
Mary schlich auf Zehenspitzen nach oben.
Louise schleppte Juts in die Küche, wo Juts den Kühlschrank aufmachte und sich vom Käse ihrer Schwester bediente. Sie setzten sich an den Tisch.
Louise runzelte die Stirn. »Weißt du, ich hab so ein schlechtes Gewissen. Ich habe Maizie heute Abend einen Schwachkopf genannt.«
»Das hat sie längst vergessen. Sie ist viel zu aufgeregt.«
»Julia, manchmal sage ich was und meine es gar nicht so. Es rutscht mir einfach so raus.«
»Ich weiß.«
»Was soll das heißen?«, fragte Louise verärgert.
»Das heißt, ich weiß - mir geht es genauso.«
»Aber ich frage mich, woran werden sich Mary und Maizie mal erinnern? Werden sie mich als garstige Mutter in Erinnerung behalten? Manchmal bringen sie mich einfach auf die Palme, und ich habe das Gefühl, wenn ich ihre Stimmen oder das Wort>Mutter< noch einmal höre, fang ich an zu schreien. Und dann flutscht mir irgendeine Gemeinheit aus dem Mund.«
»So geht es doch allen.«
»Pearlie nicht.«
»Männer zählen nicht.«
Darauf mußte Louise lachen. »Das ist mal was Neues. Zumal, wenn's von dir kommt.«
»Du weißt, was ich meine. Sie werden anders erzogen. Sie fressen mehr in sich hinein. Sie denken vermutlich genauso viel gehässiges Zeug wie wir, aber sie sprechen es nicht aus.«
»Also, ich weiß nicht. Paul kommt oft nicht mal auf die naheliegendsten Dinge. Ganz einfache Sachen, wie zum Beispiel den Mädchen zu sagen, daß sie hübsch aussehen. Das ist kein gutes Beispiel, aber du verstehst, was ich meine.«
»Chester ist genauso.«
»Ihnen fehlt ein Teil im Gehirn. Ich weiß nicht genau, welches, aber sie haben irgendwo da oben ein Vakuum. Ich fürchte manchmal, daß Paul alles in sich verschließt, und dann macht es bumm.« Louise hob beide Hände. »So war es mit Hansford.«
»Ja, er ging hoch wie eine Rakete und kam runter wie ein Stock.« Juts hielt einen Augenblick inne. »Glaubst du wirklich, Pearlie könnte Wut oder Eifersucht oder sonst was in sich verschließen und eines Tages explodieren?«
»Ich weiß nicht.«
»Mir kommt er ziemlich ausgeglichen vor. Mach dir keine Sorgen. Du hast schon genug im Kopf.«
»Ich bin vierzig. Vor dir geb ich's ja zu«, flüsterte sie. »Du weißt es sowieso, aber ich wünschte, du würdest in der Öffentlichkeit nichts über mein Alter sagen. Warte nur, bis du so weit bist. Ich werde dich nicht damit aufziehen.«
»Versprochen?«
»Versprochen. Aber hier stehe ich mit vierzig, und ich habe das Gefühl, ich müßte etwas wissen, aber ich weiß nicht, was.« Louise drehte hilflos die Handflächen nach oben.
»Vielleicht gibt es nichts zu wissen, Wheezie. Vielleicht legen wir uns alles auf dem Weg zurecht.«
»Nein. Es muß mehr dahinter stecken.«
»Das glaube ich nicht. Das Leben ist ein Scheißspiel - der Schuß für 25 Cents. Wenn dir kalt ist, ist dir kalt, und wenn dir heiß ist, ist dir heiß.«
Sie saßen eine Weile still da, dann sagte Louise: »Ich habe Angst, daß das Leben an mir vorüberzieht.«
Juts stand auf und umarmte ihre Schwester. »Nein. Das Leben kann nicht an uns vorüberziehen. Wir sind das Leben.«
Jedes Jahr zogen die Weihnachtssänger in vier Gruppen auf den Hauptstraßen Hanover Street, Baltimore Street, Frederick Road und Emmitsburg Pike zum Platz. Wer über Schlitten, Heuwagen, Karren, Einspänner, Zweispänner oder andere Pferdefuhrwerke verfügte, war den Fußgängern voraus. Decken für Menschen und Tiere, Weidenkörbe bis obenhin voll mit Lebensmitteln, Krügen mit Flüssignahrung unterschiedlicher Ausprägung, Äpfeln und Mohrrüben für die Pferde, wurden auf den Wagen geladen.
Engelchen, meist von einem berittenen Erwachsenen begleitet, saßen rittlings auf ihren Ponys. Viele Häuser in Runnymede hatten auf ihrer Rückseite einen Stall, der aus demselben Material gebaut war wie das Haupthaus.
Bei so vielen Menschen, die durch den knirschenden Schnee zogen, war es ein Wunder, daß überhaupt noch jemand zu Hause geblieben war, um die Sänger zu empfangen. Die kleinen Ziegelhäuser, die vereinzelten Holzhäuser und die prächtigeren Steinhäuser hatten große Kränze an den Türen und Mistelzweige in den Torwegen hängen; Kerzen in den Fenstern hießen die Sänger willkommen.
Jedes Jahr trieb Mary Miles Mundis ihren Mann Harry an, einen Baum weiß zu sprühen. Noch Tage danach lief er mit weißen Farbklecksen auf Gesicht und Händen in der Stadt herum. Dann hängte Mary Miles, von allen M.M. genannt, riesige glänzende rote Kugeln und rote Girlanden an die Zweige. Der Baum erregte Aufsehen und spornte Junior McGrail und Caesura Frothingham, die Nachbarinnen zur Rechten und zur Linken, zum Wettstreit an. Auch sie drangsalierten Ehemänner, Söhne, Arbeiter und Freunde, Bäume weiß zu sprühen. Junior schmückte ihren mit dem Smaragdgrün Irlands; schließlich war sie eine McGrail, wenn auch nur durch Heirat. Caesura verzierte ihren Baum mit königsblauen Kugeln und goldenen Girlanden, sehr unionsgemäß.
Julia Ellen behängte ihren Baum mit allem, was sie finden konnte, wogegen Louise, die sich für die Stardekorateurin der Weihnachtsbaumwelt hielt, einen Laubbaum mit weißer Watte umhüllte, dann bunte Kugeln, Preiselbeerstränge als Girlanden und ganze Ladungen Lametta daran hängte und das Ganze mit einem großen Engel krönte.
Bei Celeste, die die höchsten Räume in Runnymede hatte, prunkte der größte Baum - Stützdrähte waren nötig, um ihn aufrecht zu halten -, abgesehen von dem, der genau in der Mitte vom Runnymede Square stand.
O. B. Huffstetler hatte Celestes zwei identische Reitpferde gestriegelt. Sie spannte sie gern ein, weil es sie an die prächtigen Karossen erinnerte, die sie als kleines Kind in der Rotten Row im Londoner Hyde Park gesehen hatte. So herrlich die Pferde aus der Zucht der Hanover Shoe Farm waren, sie unternahm die strapaziöse Reise nach Kentucky, um Reitpferde zum Fahren zu kaufen. Diese beiden graubraunen Stuten hießen Minnie und Monza. Minnie hatte einen Stern auf der Stirn, Monza eine Blesse im Gesicht.
Bei Sonnenuntergang herrschte in den kleinen und großen Ställen rund um Runnymede fieberhafte Geschäftigkeit.
Zwei lange Übergurte mit Glocken verschiedener Größe wurden Minnie und Monza übergestreift. An ihren Brustblättern klingelten Glocken. Die Rosetten, wo die Stirnriemen mit den Genickstücken zusammenkamen, trugen kleine Glöckchen, ebenfalls die Schweifriemen bis zum Kammdeckel. Auch auf jeder Seite des Schlittens hingen zwei Silberglocken. Celeste kutschierte, Ramelle saß neben ihr. Julia, die liebend gern Schlitten fuhr, hatte sich neben Chester und Louise gekuschelt. Pearlie saß ihnen gegenüber.
Mary und Maizie, die es für unter ihrer Würde hielten, mit ihren Eltern gesehen zu werden, sangen in der Gruppe, die über den Emmitsburg Pike zog.
Celeste und ihre Gesellschaft fuhren auf der Frederick Road.
Cora und Hansford trafen sich mit Walters Vater, Martel Falkenroth, einem Jugendfreund von Hansford. Martel fuhr einen Schlitten, den er zur Zeit des Spanisch-Amerikanischen Krieges bei den Amish gekauft hatte.
Als die einzelnen Gruppen an ihren jeweiligen Treffpunkten eintrafen, war das Geschrei der Kinder über die gesamte Mason-Dixon-Grenze zu hören.
Die Weihnachtssänger, die an jedem Haus anhielten, wurden mit Essen, Getränken und Jubel überhäuft. Oft packten sich die Bewohner warm ein und schlossen sich ihnen an, so daß die Stimmen weiter anschwollen, je näher sie dem Platz kamen.
Maizie, die auf dem Ball den Vogel abgeschossen hatte, tauchte nicht nur aus dem Schatten ihrer Schwester auf, sie schoß darunter hervor. Von Freunden umringt, viele von ihnen Jungen und im Kreis der Mädchen besonders willkommen, glühte Maizie vor Verzückung. Mary, die im Beisein ihrer Freundinnen stets geschickt ein paar Tränen um Billy verdrückte, nahm diese Verwandlung zunächst gar nicht wahr. Als sich der Umzug jedoch auf dem Pike nach Osten bewegte, wurde ihr schließlich klar, daß ihre kleine Schwester die Ballkönigin war. Es wollte ihr nicht in den Kopf, daß dieses Würmchen zu einem Schmetterling erblüht war. Mary fing sich wieder. Maizie war kein Schmetterling, sie war eine Motte. Sie, Mary, war der Schmetterling. Maizie mochte wohl eine von den hübschen Motten sein. Andererseits, was nützte es, ein Schmetterling zu sein, wenn es niemand merkte?
Als sie noch einen Häuserblock vom Platz entfernt waren, konnten die Weihnachtssänger auf der Frederick Road die anderen hören, die auf den verschiedenen Straßen herangezogen kamen. Ein Kribbeln fuhr Juts über den Rücken, als sie die Stimmen aus den drei anderen Richtungen nahen hörte. Sie erinnerte sich, wie sie es als Kind zum ersten Mal gehört hatte. Mit fünf hatte sie mit den Weihnachtssängern mitziehen dürfen, hatte aber erschöpft aufgegeben und mußte von ihrer Mutter auf den Schultern getragen werden. Damals war ihr die Nacht magisch erschienen, und sie war heute magisch. Groß glitzerten die Sterne am kristallklaren schwarzen Himmel. Der Mond, von einem pulsierenden Schein umgeben, lächelte zu ihnen herunter. Die gebogenen Straßenlaternen warfen einen warmen Schimmer auf den festgestampften Schnee.
Als die Gruppen den Platz erreichten, stimmten alle »Adeste Fideles« an, wobei sie sich gegenseitig zu übertreffen suchten, und näherten sich so dem riesigen symmetrischen Baum. Darunter saß Patience Horney, stocktaub, und jaulte nach Herzenslust. Sie hatte ihren Brezelkarren neben sich.
Der dicke Digby Vance, Kapellmeister der High School von Süd-Runnymede - hinter seinem Rücken Tonne und von Celeste Tonneau genannt - trat vor und hob seinen Taktstock. Alle verstummten.
»Adeste Fideles<«, sagte er.
Hunderte von Stimmen erschallten synchron:»Adeste fideles, Laeti triumphantes...<«.
Die kleine Barbara Tangerman schrie, als ihr Pony durchging. Sie war nicht in Gefahr, aber das Pony hatte genug - nicht so sehr von dem Gesang als von Barbara. Bucky Nordness, der auf seinem braven Target ritt, setzte ihr nach. Nur gut, daß er im Sattel geblieben war. Alle anderen waren abgesessen und hielten ihre Pferde am Zügel. Bucky holte Toothpaste vor dem Bon-Ton ein, wo das Pony stehen geblieben war, um die großen Schaufenster zu bewundern, die mit dem Weihnachtsmann und seinen Rentieren geschmückt waren. Barbara Tangerman war in den Schnee geplumpst und heulte, aber ihr war bei ihrem Abenteuer nichts passiert. Toothpaste, angetan von den Rentieren, wollte Target nicht folgen. Mit Äpfeln gelockt, fügte er sich schließlich.
Als sie>The First Noel< und>God Rest Ye Merry, Gentlemen sangen, fiel Julia auf, daß einige Männer schon in Uniform waren. Die im Ersten Weltkrieg gedient und sich dank besonderer Qualifikationen wieder hatten verpflichten können, trugen ihre Uniformen. Die jungen Männer, die bald aufbrechen sollten, beneideten sie.
Rillma Ryan, die über die Feiertage zu Hause war, sang mit der Gruppe auf der Baltimore Street - und brachte durch ihre bloße Anwesenheit die Männer in Wallung.
Während Juts das ganze Glück in sich aufsog, fiel es ihr schwer zu glauben, daß jemand in dieser Gruppe oder in einem der behaglichen Häuser Noe Mojos Betrieb niedergebrannt hatte. Sie verdrängte den Vorfall, doch er tauchte immer wieder auf, wie Kopfweh. Sie würde die Menschen nie verstehen. Diese Erkenntnis vertrieb das Kopfweh.
Andere Gedanken an den Krieg schlichen sich ein. Wie feierte man wohl das Fest in Paris? Oder London? Und wie stand es in Berlin - feierte man dort Weihnachten in dem Glauben, im Recht zu sein? Sie hatten schließlich den verfluchten Krieg angefangen. Warum mußten sie in Polen oder in die Tschechoslowakei einmarschieren? Dachte Hitler wirklich, die westlichen Mächte würden nicht kämpfen?
Sagte man der deutschen Bevölkerung die Wahrheit? Vielleicht wußten sie da drüben nicht Bescheid?
Ein Frösteln durchfuhr sie.Vielleicht wissen wir auch nichts. Sagt man uns die Wahrheit?
Wenn Popeye Huffstetler ein Musterbeispiel der freien Presse ist, dann gnade uns Gott, dachte sie.
Dann dachte sie an das große Plakat im Postamt. Es zeigte Menschen beim Schwatzen in einer Rüstungsfabrik, hinter ihnen ein von Torpedos getroffenes sinkendes Schiff.>Pst, Feind hört mit<, stand als Warnung darunter.
Die Sänger hatten>It Came upon a Midnight Clear< angestimmt, Juts' liebstes Weihnachtslied.
Sogar Mutter Smith auf der anderen Seite des Baumes schien sich zu freuen.
Maizie fragte Cora, ob sie glaube, daß die Menschen in Deutschland Weihnachtslieder sängen.
»Das nehme ich an.« Cora gab ihr einen Doughnut mit rotem Zuckerguß. Diese Sorte hatten die Yosts eigens zu diesem Anlaß gebacken.
»Ich versteh das nicht.« Maizie blinzelte.
»Was?« Cora behielt den Taktstock im Auge.
»Dann sind sie wie wir.«
»Mehr oder weniger.« Cora war startbereit für>Good King Wenceslas.<
Maizie sang mit ihrer Großmutter. Die Erwachsenen machten das Leben kompliziert. Wenn sie in der Welt zu sagen hätte, würde es keine Kriege geben, das stand für Maizie fest.
Nach dem Gesang tauschten die Menschen Nettigkeiten, Küsse, Umarmungen, Speisen und Getränke aus. Die bittere Kälte wurde mit innerem Feuer bekämpft. Für einen Abend wurden häusliche Querelen beiseite geschoben, finanzielle Nöte vergessen, zerbrochene Liebschaften übergangen und alte Feindschaften unterdrückt. Der Heilige Abend in Runnymede war dem Himmel so nahe, wie es menschenmöglich war.
Juts schwebte auf einer Wolke nach Hause, bis sie die Tür öffnete und entdeckte, daß ihre Dekorationen zerfetzt, die Geschenkpäckchen unter dem Baum zerrissen und die Kugeln, bis zu einer Höhe, die Yoyo erreichen konnte, in glitzernden bunten Splittern auf dem Boden zerschellt waren.
Dies war der schlüssige Beweis dafür, daß Katzen keinen Sinn für Weihnachten haben - ja vielleicht nicht einmal Christen sind.
Beim Weihnachtsessen bei Cora aßen alle wie die Scheunendrescher.
Juts hob ihr Glas. »Auf 1942, Louise. Bis Mai haben wir Flavius alles zurückgezahlt.«
»Bis auf den letzten Penny.« Chessy stieß mit seiner Frau an.
»Auf das Ende dieses Krieges, bevor - ihr wißt schon.« Mary hob ihr Glas.
Alle tranken und plauderten und beschenkten sich. Juts erging sich in Oohs und Aahs über das schöne goldene Armband, das sie von Chester bekam. Sie vermutete, daß die Ohrringe, die sie gern gehabt hätte, für seine Mutter bestimmt waren, die blöde Kuh. Ihr würden sie viel besser stehen. Trudy hatte Chester einen Spazierstock geschenkt. Er hatte ihn im Laden ausgepackt. Chester hatte Trudy die goldenen Muschelohrringe geschenkt. Er wußte nicht genau, ob es sich schickte, ihr Ohrringe zu schenken - vielleicht hätte er Parfüm nehmen sollen -, aber die Ohrringe paßten zu ihr.
Pearlie stand auf. »Ich geh Patience Horney holen.«
»Ach ja?« Louise roch den herrlichen Duft von Kirschholz im Kamin.
»Ihre Angehörigen sind alle tot, und sie ist allein. Ist mir gerade eingefallen.«
»Wirklich? Ist Rollie Englehard dieses Jahr gestorben?« Juts verlor den Überblick über die Zeit. »War das dieses Jahr?«
Rollie war Patiences letzter noch lebender Cousin gewesen.
»Ich glaube schon«, erwiderte Cora.
»Bin gleich wieder da.« Pearlie griff nach Hut und Mantel. Chessy begleitete ihn.
Zwanzig Minuten später kamen sie mit Patience zurück, die so glücklich war, daß sie unentwegt brabbelte. Das trieb den anderen die Tränen in die Augen, nicht nur, weil es sie freute, Patience glücklich zu sehen, sondern weil jeder von ihnen eines Tages in Patiences Lage geraten konnte. Niemand sieht voraus, was geschieht. Und es geschieht verdammt schnell.
Mary Miles Mundis behauptete, sie hätte den sechsten Sinn - eine schicke Vorstellung, da die meisten Menschen noch nicht mal ihre ersten fünf Sinne beisammen haben: Der Mensch nimmt wahr, was er wahrnehmen will.
Bei Chester, dem es nicht gegeben war, Streit zu suchen, um seine Intelligenz unter Beweis zu stellen, gingen solche Denkweisen zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus. Er gehörte zu den Männern, die ihre Frauen dazu treiben, ständig zu fragen: »Hörst du mir überhaupt zu?« Chessy grübelte nicht über den sechsten Sinn nach, aber wenn er ein wenig mehr auf sich und andere geachtet hätte, dann hätte er gewußt, was da um die Ecke gerasselt kam wie ein entgleister Straßenbahnwagen. Vielleicht hätte er sich retten können.
Um fünf verließ er die Eisenwarenhandlung, um seine Mutter zu besuchen. Sie rollte gerade Pastetenteig aus und drohte ihm mit dem Nudelholz. »Du kommst spät.«
Augenbohnen brodelten in einem Topf auf dem Herd, denn an Neujahr, das am kommenden Abend um 0 Uhr 01 begann, mußte sie Augenbohnen essen, weil sie ihr Glück brachten. Mutter Smith kochte sie erst, ließ sie dann bei ganz kleiner Hitze köcheln, gab hin und wieder Wasser und Sirup zu.
Chester erwiderte nichts, sondern ging in den Keller, um nach der Heizung zu sehen. Der Kohlenlieferant hatte die Tür zur Kohlenrutsche offen gelassen, und die eisige Luft wehte herein. Chessy schloß die Tür und schaufelte Kohlen in den Heizkessel. Er klopfte sich den Staub ab, als er die Holztreppe hinaufging, die bei jedem Schritt hallte. »Tommy hat die Tür aufgelassen.«
»Dieser Junge.« Sie schüttelte den Kopf. »Der wird nie imstande sein, das Geschäft seines Vaters zu übernehmen.«
»Er hat sich verpflichtet. Vielleicht ist er reifer, wenn er nach Hause kommt.«
»Tom West hat sich verpflichtet?«
»Zur Armee. Ted Baeckle hat mir erzählt, er hat bei dem Eignungstest so gut abgeschnitten, daß er nach der Grundausbildung auf die Offiziersschule gehen wird.«
»Das ist erstaunlich.«
»Ich weiß nicht, Mutter, vielleicht ist Tommy West einfach nur zur rechten Zeit am falschen Ort. West und Co. kann auch jemand anders leiten.«
»Lächerlich. Wo hast du bloß diese Ideen her? Von Juts?« Sie blinzelte.
»Weißt du, Mutter, ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht. Und bin selbst ein wenig erstaunt.« Sein Tonfall war scharf. »Mir ist klar geworden, daß ich nicht dich und Juts zugleich glücklich machen kann. Wenn ich etwas für dich tue, regt sie sich auf. Wenn ich etwas für sie tue oder ihrer Meinung bin, regst du dich auf. Ich habe beschlossen, es mir selbst recht zu machen. Dann ist wenigstens einer glücklich.« Weg war er.
Es schneite wieder, also fuhr Chessy langsam zur Tanzschule und parkte wie immer in der Gasse. Er nahm zwei Stufen auf einmal und stieß die Tür auf. Trudy trug die hübschen goldenen Muschelohrringe.
»Laß uns tanzen.« Er lachte, riß sie in seine Arme und küßte sie. Leidenschaftlich erwiderte sie den Kuß. Eins stand fest, für Chester Smith würde das Jahr 1942 anders aussehen als das Jahr 1941.
Yoyo kuschelte sich in die Wolldecke, die Juts sich um die Beine gezogen hatte, als sie sich vor dem lodernden Feuer auf dem Sofa niedergelassen hatte. Buster lag, den Kopf auf den Pfoten, vor Juts auf dem Boden, weil Yoyo ihn nicht aufs Sofa ließ.
»Ich hab dir ja gesagt, du sollst beim Weihnachtssingen, einen Hut aufsetzen.«
Louises Vorhaltungen waren in diesem Augenblick nicht willkommen. »Das sagst du jedes Mal, wenn auch nur ein Tropfen Feuchtigkeit in der Luft liegt, Louise. Du brauchst dir nichts drauf einzubilden, daß du ausnahmsweise mal Recht hattest.«
»Du bist keine brave Patientin.« Louise gab ihr einen heißen Tee. »Komm, Juts, trink einen Schluck davon.«
»Silvester, eine meiner Lieblingsnächte im ganzen Jahr, und ich liege krank zu Hause. Das ist genauso schlimm wie damals, als ich Weihnachten die Masern gekriegt habe.«
»Das war 1909!«
»Na und?« Juts kuschelte sich tiefer in die Decke und schob dabei die Zeitung auf den Boden.
Die Schlagzeile desClarion lautete: »Düsseldorf bombardiert.«
Wheezie hob die Zeitung auf und legte sie ordentlich zusammen. »Jetzt kriegen es die Deutschen wohl heimgezahlt.«
»Man hätte meinen sollen, sie wären so schlau einzusehen, daß, wenn sie London bombardieren, die Engländer über den Kanal fliegen und sie bombardieren.« Sie setzte sich etwas gerade auf und griff nach der Teetasse. »Kannst du dir das vorstellen, Wheezie, du bist hoch in der Luft, und vom Boden her wird auf dich geschossen, und andere Flugzeuge kommen und knallen dich vom Himmel runter? Ich kann es mir eigentlich nicht vorstellen, und dann die kalte Luft, wenn die Bombenklappen aufgehen.« Sie schauderte.
»Ich könnte zu Lande kämpfen, aber ich könnte kein Pilot oder Seemann sein.« Louise verschränkte die Arme. »Ich möchte jederzeit festen Boden unter den Füßen haben. He, wo ist Chessy?« »Ziviler Luftschutz, Dringlichkeitsversammlung. Er lernt das Morsealphabet und Flaggenwinken.«
»Wenn die Japaner Pearl Harbor von Flugzeugträgern aus bombardiert haben, warum können die Deutschen das nicht auch?«, fragte Louise.
»Haben die Deutschen Flugzeugträger?«
»Weiß ich nicht, aber sie haben U-Boote.« Louise blickte ins Feuer.
»Ich glaube, ich sollte ihn mit dir und Pearlie auf die Feier gehen lassen, was meinst du?«
»Hm, er kann nicht tanzen. Dann sitzt er bloß rum und guckt uns zu.«
»Trinken und Konfetti werfen kann er so gut wie ihr alle.« Juts' Lachen ging in Husten über.
Buster bellte, bevor die Ohren der Menschen das Reifengeräusch wahrnehmen konnten. Wenig später hörten Juts und Louise das Auto und sahen die Lichter, die kurz darauf ausgeschaltet wurden.
Chessy stieß die Hintertür auf, den Arm voller Lebensmittel. »Hallo.«
»Hallo, Chess.« Louise ging in die Küche, um ihm die Tüten abzunehmen. »Die Patientin ist« - sie senkte die Stimme - »brummig.«
»Ihr sprecht über mich«, rief Juts aus dem Wohnzimmer. »Ich weiß es.«
Chester ging auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer, seine Miene war ernst. »Wir haben über dich gesprochen.« Er schüttelte den Kopf. »Tuberkulose. Das Ende naht.«
Aus der Küche, wo Louise die Lebensmittel wegräumte, erklang ein Choral.
»Du würdest das nicht komisch finden, wenn du am Silvesterabend krank wärst«, schmollte Juts.
Louise kam mit Orangensaft und einer Flasche Gin, Silvesterhütchen und Fähnchen herein. »Juchhu!«
Juts lächelte. »Chester, war das deine Idee?«
»Ja.«
»Ich tu nur einen ganz kleinen Schuß Gin in den Orangensaft, weil du krank bist. Du wirst sturzbesoffen, wenn du nicht aufpaßt.« Louise maß den Gin ab, goß ihn in einen großen Glasbecher, gab den Orangensaft dazu und mischte den Drink. Dann schenkte sie die helle Flüssigkeit in Martinigläser, die Chester zur Feier des Tages herausgeholt hatte.
»Heißt das, ich soll mich betrinken, und du läßt mich dann allein?«, fragte Juts ihren Mann beschwörend.
»Nein, es heißt, wir feiern unser eigenes Fest.« Er setzte ein Hütchen auf.
Louise setzte sich auch eins auf, dann bückte sie sich, um Buster zurechtzumachen, der den Kopf hin- und herschlug und versuchte, das Ding abzuschütteln, was ihm schließlich auch gelang. Yoyo beäugte Louise mißtrauisch. Louise versuchte gar nicht erst, ihr ein Hütchen aufzusetzen.
Juts suchte sich ein lila Hütchen mit einer kleinen knallgrünen Quaste aus. »Junior McGrails Farben«, ulkte sie. Sie hob ihr Glas. »Prost.«
»Auf ein frohes, gesundes neues Jahr.« Louise hob ihr Glas, aus dem sie nicht trank, um ihrem Ruf, keinen Alkohol zu trinken, gerecht zu werden. Gelegentlich vergaß sie es, doch heute hatte sie ihren tugendhaften Abend.
»Louise.« Juts forderte sie mit einer Handbewegung zum Trinken auf.
»Nein, ich glaube, ich schenke mir ein Glas Orangensaft ein.«
»Dann brauchst du den hier ja nicht.« Chester kippte ihren Drink herunter.
Als es draußen hupte, sprang Louise auf. »Mach's gut, Schwesterherz, frohes neues Jahr, gute Besserung.«
»Bis Freitag geht es mir wieder so gut, daß ich arbeiten kann, keine Sorge.«
»Okay.«
»Frohes neues Jahr, Chester.« Louise küßte ihn auf die Wange, bückte sich und gab Juts einen Kuß, dann schwirrte sie aus der Tür.
»Gehst du nicht mit?«
Chester schüttelte den Kopf. »Ohne dich macht es keinen Spaß.«
»Im Ernst?«
»Im Ernst.« Er schaltete das alte Radio ein. Sie sangen mit, schwenkten ihre Lärminstrumente, worauf Buster zu bellen anfing. Yoyo ignorierte die ganze würdelose Prozedur. Chester fühlte sich nicht wie ein untreuer Ehemann. Es war eigenartig, aber irgendwie liebte er Juts mehr als vorher.
Um Mitternacht ging er mit einem großen Topf und einer Kelle nach draußen, um das neue Jahr einzuläuten. Juts brüllte »Frohes neues Jahr« und schlief danach prompt ein.
Von Pearl Harbor abgesehen schien der Krieg noch weit entfernt, aber wenn Juts über die rutschigen Wege auf dem Platz schlitterte oder, mit eingezogenen Schultern die Kälte abwehrend, bei Yosts Doughnuts kaufte, sah sie immer weniger junge Männer.
Albert Barnhart, Lillian Yosts jüngerer Bruder, war der Letzte, der eingezogen wurde. Er ging zur Küstenwache. Im Scherz sagte er zu den Hunsenmeir-Schwestern, er tue das nur, damit er einen kostenlosen Haarschnitt und Lillian ihre Fingernägel manikürt bekäme.
Weil sie nicht weniger patriotisch dastehen wollten als der Dickmops auf der anderen Seite des Platzes, hatten Juts und Louise eine große, kostspielige Anzeige in denClarion und in dieTrumpet gesetzt und einen kostenlosen Haarschnitt für Soldaten und eine Maniküre zum halben Preis für deren Ehefrauen, Mütter, Schwestern und Freundinnen angeboten. Der Laden brummte.
Von beiden Bürgermeistern schwer bedrängt, erklärte sich Celeste bereit, sich beim Roten Kreuz zu engagieren, was endloses Spendensammeln bedeutete. Chessy übernahm dafür weitere Pflichten beim Zivilen Luftschutz. Seine Tanzstunden am Dienstagabend behielt er bei. Gelegentlich ging er, wenn er Buster ausführte, in Trudys kleine Wohnung, aber das konnte er nicht zur Gewohnheit machen.
Der Zivile Luftschutz gewann Louise, Fannie Jump Creighton, Lillian Yost, Agnes Frost und die ganze Familie BonBon, soweit sie über achtzehn waren, für sich. An Männern schlossen sich Digby und Zeb Vance sowie O. B. Huffstetler an. Chessy mußte auch Runnymedes zwei Sheriffs ausbilden. Celeste ließ ihre Verbindungen in Washington spielen, um an die neuesten Instruktionsfilme zu kommen.
Die Ausbildung war härter, als die Freiwilligen erwartet hatten. Juts und Louise erlernten das Morsealphabet mühelos, aber Lillian Yost hatte schwer damit zu kämpfen.
In ihren Armee-Uniformen, Restbestände aus dem Ersten Weltkrieg, exerzierten sie mit Holzgewehren, bis sie Blasen bekamen. Fannie Jump nörgelte, das Exerzieren sei absurd. Ihre Aufgabe sei es, Flugzeuge zu identifizieren und die Bewohner im Falle einer Bombardierung in Sicherheit zu bringen. Wütend warf sie ihr Holzgewehr hin. Chester befahl ihr mit seiner tiefsten Baritonstimme, es aufzuheben. Sie gehorchte und marschierte weiter. Alle waren beeindruckt von der Art und Weise, wie Chester Fannie anherrschte.
Die Mitglieder des Zivilen Luftschutzes sahen die Filmvorführungen mit entschlossener Konzentration. Sie prägten sich deutsche, japanische und italienische Flugzeuge ein. Die Filme zeigten die Maschinen von allen Seiten, auch von unten und oben.
An den Wänden ihres kleinen Büros in der evangelischen Kirche waren Plakate mit Flugzeugsilhouetten angebracht, wie man sie vom Boden aus sah. Chessy stellte anhand von kleinen Tests fest, was sie gelernt hatten, wozu auch die feindlichen Kennzeichen gehörten, das schwarze Kreuz mit weißen Rändern für die deutschen Flugzeuge und die rote Sonne auf japanischen Flugzeugen.
Jede Nacht schoben zwei Personen Wache. Tagsüber war es einfacher, weil man die Flugzeuge sehen konnte. Chessy, der von Frauen überrannt wurde, die ihren Teil beitragen wollten, stellte fest, daß die Leute ihn respektierten. Sie wollten mit ihm arbeiten. Er war überrascht und erfreut.
Trotz aller Übung war es schwierig, am Nachthimmel ein Flugzeug allein anhand seiner Form zu identifizieren.
Chester trieb bei einer Schrotthandlung in Philadelphia ein großes Flakgeschütz und einen Flugabwehrscheinwerfer auf. Sie stammten aus dem Ersten Weltkrieg und funktionierten noch. Das Eintreffen der Flugabwehrausrüstung war ein triumphaler Moment für Chessy und seine Leute vom Warndienst. Im Kellergeschoß der evangelischen Kirche, wo die Versammlung stattfand, entbrannte ein hitziger Streit darüber, ob man sie beim Turm der Feuerwache oder auf dem Runnymede Square aufstellen sollte. Louise wollte den Flugabwehrscheinwerfer und die Kanone auf dem Platz haben, weil der Weg dorthin für sie kürzer war; sie erklärte allerdings, so sei es für alle eine Mahnung an den Krieg.
Caesura und Agnes wollten sie am Wachturm haben, näher bei sich zu Hause.
Schließlich stand Digby auf, hob seinen Taktstock und bat um Ruhe. Er schlug vor, den Flugabwehrscheinwerfer mit einem Kran in den Feuerturm zu heben; auf diese Weise könnten die beiden, die Geschütz und Scheinwerfer bedienten, zusammen sein, was hilfreich wäre, sollte der Ernstfall eintreffen. Er sei sicher, daß ein feindliches Flugzeug zu dem Scheinwerfer hinunterschnellen und versuchen würde, ihn zu zerstören, deshalb müsse das Geschütz ebenfalls dort aufgestellt sein. Falls einer verwundet würde, könne der andere einspringen.
Louise beharrte darauf, daß ihr Vorschlag besser sei. Wenn ein Flugzeug den Turm angriffe, müßten beide Leute dran glauben. Wenn sie getrennt wären, würde einer von beiden vielleicht überleben. Sie wies auch darauf hin, daß der Feuerturm ein Dach hatte, wodurch ein Teil des Lichtstrahls ausgeblendet würde.
Chessy besänftigte die Gruppe schließlich, indem er sagte, wenn ein Flugzeug sie überflöge, wäre es höchstwahrscheinlich ein Aufklärungsflugzeug. Ihre Aufgabe sei es, dies unverzüglich Colonel Frank Froling in der Waffenmeisterei in Hagerstown zu melden.
Louise polterte, es könnte mehr sein als nur ein Aufklärer - man sehe ja, was soeben in Hawaii passiert sei. Und was tat die Luftabwehr in der Waffenmeisterei?
Chester erklärte geduldig, in der Waffenmeisterei gebe es Sondertelefonleitungen nach Baltimore und Washington. Eingedenk der Erschütterung, die das Land soeben erlitten hatte, war der Zivile Luftschutz gut organisiert, auch wenn sich sein Hauptquartier in einer Waffenmeisterei befand.
Louise wollte den großen Scheinwerfer trotzdem auf dem Platz haben. Die Auseinandersetzung zog sich bis in die Nacht hinein. Digby Vance, müde und aufgebracht, schlug vor, die Entscheidung Colonel Froling zu überlassen.
Chester widersprach, weil der Colonel sonst das Vertrauen in sie verlieren würde. Sie müßten die Angelegenheit selbst regeln. Um ein Uhr morgens erreichten sie einen Kompromiß: Sie würden auf dem freien Grundstück hinter der episkopalischen Kirche St. Paul einen neuen Turm ohne Dach bauen. Bis der errichtet war, würden der Scheinwerfer und das Geschütz mitten auf dem Platz aufgestellt, rittlings auf der Mason-Dixon-Grenze. Die große Luftangriff-Sirene blieb im Feuerturm, solange der neue Turm gebaut wurde. Chester betete, er möge schnell fertig werden, was zum Glück auch geschah. Sodann wurde alles in den Turm geschafft.
Der Montagsbetrieb wurde gedämpft durch die Nachricht, daß Singapur an die Japaner gefallen war. General Percival, dem es an Wasser, Nahrung, Treibstoff und Munition fehlte, hatte sich ergeben. Die Leute, die sich bei Cadwalder an der Theke drängten oder zum Frühstück in eine Nische quetschten, fragten sich, wie sie schnell genug mobil machen konnten, um die japanische Dampfwalze und den deutschen Moloch aufzuhalten. DerClarion schätzte, daß sechzigtausend Angehörige der englischen und der Streitkräfte des Empire gefangen genommen worden seien; dieTrumpet dagegen nannte die etwas bescheidenere Zahl von fünfzigtausend. Alle fragten sich, was mit den Gefangenen geschehen würde.
Julia Ellen und Louise, erschöpft vom Dienst beim Zivilen Luftschutz in dieser eisigen Nacht, tranken Kaffee, aßen Hafergrütze, Eier, Speck und Biskuits, und langsam wurde ihnen warm.
»Ich freue mich auf den Frühling«, stöhnte Juts. »Meine Orioles müssen dieses Jahr besser werden.« Juts verweilte nicht gern beim Thema Krieg.
»Es kann nicht schlimmer werden als letztes Jahr«, erklärte Flavius hinter der Theke. »Die Birds haben ein neues Tief erreicht.«
»So viele Baseballprofis wurden eingezogen«, warf Harper Wheeler ein.
Die Nachteulen auf dem Weg nach Hause ins Bett und die Frühaufsteher fanden sich jeden Morgen um halb sechs gemeinsam bei Cadwalder ein. O. B. Huffstetler kam herein und setzte sich zu Harper.
»Morgen, Sheriff.«
»Morgen, O. B. Nehme nicht an, daß Miss Chalfonte heute ausreitet.«
»Nee. Montag haben wir Ruhetag.«
»Wann lassen Sie mich mal in dem protzigen Kombi mitfahren?«, rief Juts aus ihrer Nische.
»Jederzeit.« »Prima. Dann können Sie uns ja nach Hause bringen.«
»Juts, du bist aufdringlich.«
»Ich weiß, aber.«
»Macht überhaupt nichts.« O. B. lächelte.
»Sheriff«, rief Louise.
»Ja.«
»Nichts Neues in Sachen Noe?«
»Hören Sie, Louise, über bestimmte Aspekte dieses Falls kann ich nicht sprechen.«
Juts meldete sich zu Wort. »Sie sollten sich mal mit Hansford unterhalten. Er hat nichts zu tun als Sattelzeug zu reparieren, zu reden und zu denken. Das Denken überrascht mich.«
Sie machten sich wieder über ihr Essen her. Louise las laut aus Walter Winchells Kolumne vor, die in mehreren Zeitungen erschien, und Juts bestellte noch mal Biskuits und Hafergrütze.
Junior McGrail kam hereinmarschiert.
Trudy Archer stürmte herein, in einen langen schokoladenbraunen Mantel mit einem Besatz aus gefärbtem Kaninchenfell gehüllt. Die Männer an der Theke strafften ein wenig die Schultern. Trudy nahm ihren Hut ab, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und knöpfte ihren Mantel auf. Sie zwängte sich zwischen Harper und Junior. Nur gut, daß sie so schlank war.
»Hallo.«
»Hallo. Wie darf s sein heute Morgen?«, fragte Flavius mit breitem Lächeln. Wenn er lächelte, sah er aus wie sein Sohn.
»Knusprig, wie immer.«
Harper säuselte: »Das hör ich gern.«
Juts rief aus ihrer Nische: »Hören Sie nicht auf ihn. Alles leeres Geschwätz.«
Harper lachte, und Trudy drehte sich zu den Schwestern Hunsenmeir um. »Guten Morgen.«
»Was macht die Tanzschule?«, erkundigte sich Louise höflich.
»Blüht und gedeiht.«
»Ich wünschte, Sie könnten meinen Chessy zum Tanzen kriegen.« Julia blickte arglos vom Sportteil auf. »Ihm bricht allein bei dem Gedanken der kalte Schweiß aus.«
Trudy erwiderte ruhig: »Ich würde es Chester gern beibringen. Er hat sicher Talent.«
»Danach suche ich noch immer«, ulkte Juts.
Sie bemerkte Trudys Ohrringe, die gleichen, die Chessy vor Weihnachten bei Epstein in der Hand gehalten hatte. Sie fragte sich, ob Trudy sie gekauft oder ob ein Verehrer sie ihr geschenkt hatte. Ihr gefiel zwar das Armband, das sie von Chessy zu Weihnachten bekommen hatte, aber diese Ohrringe hatten es ihr einfach angetan. Sie überlegte, ob Epstein wohl noch so ein Paar besorgen könnte, allerdings konnte sie es sich sowieso nicht leisten.
»Hier.« Trudy bekam eine Tasse Kaffee.
»Guten Morgen, beisammen.« Senior Epstein wickelte sich den Wollschal vom Hals. »Ist es zu fassen, daß die Japsen Singapur eingenommen haben?«
Jacob Epstein, ein mitteilsamer Mann mit durchdringender Stimme, nannte sich selbst Senior, seit er einen Sohn hatte. Er gehörte zu den Menschen, die man einfach gern haben mußte. Er begrüßte alle, ließ sich auf einem Hocker an der Theke nieder und bestellte French Toast. Seine Frau war vor drei Jahren an Leukämie gestorben, und Jacob nahm seine Mahlzeiten meistens in Restaurants ein. Er fing gerade an, sich wieder nach Frauen umzusehen, und was er an Trudy Archer sah, gefiel ihm.
Als er sich mit Louise und Juts über den Dienst beim Zivilen Luftschutz unterhielt, bemerkte er Trudys Ohrringe. Rasch warf er einen Blick auf Juts' Ohren. Keine Ohrringe. Er sah Juts' Armband, als sie für einen Moment den Arm hob, um zu essen. Die goldenen Kettenglieder wurden unter ihrem Pulloverärmel sichtbar. Augenblicklich erfaßte Epstein die Situation, denn dies waren die einzigen goldenen Muschelohrringe, die er vor Weihnachten in seinem Geschäft gehabt hatte. Er wurde knallrot.
»Senior, geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Harper, jederzeit bereit, seine Erste-Hilfe-Manöver anzuwenden.
»Doch, doch«, murmelte der dunkelhaarige Mann.
Als sie hinausgingen, beugte sich Louise zu ihrer Schwester. »Hast du gesehen, wie Senior Trudy angestarrt hat? Mmm, Mmm.«
Juts nickte. »Das Feuer kann man verbergen, aber was macht man mit dem Rauch?«
Buster drehte sich dreimal im Kreis und ließ sich dann ans Fußende des Bettes fallen. Yoyo hatte sich schon unter der Bettdecke verkrochen, und als Juts, deren Füße vom kalten Fußboden eisig waren, ins Bett schlüpfte, knabberten kräftige Fangzähne an ihren Zehen.
»Yoyo, laß das, ich mag das nicht.«
Chessy rief aus dem Badezimmer: »Hast du denn den Knubbel unter der Zudecke nicht gesehen?«
»Ich suche in meinem Bett nicht nach Murmeltieren.« Juts schauderte. »Yoyo, komm hierher.«
Diese Aufforderung wurde mit einem trotzigen Miauen beantwortet. Juts zog sich die Decke über den Kopf und robbte zu der Katze. Sie wollte die Decke nicht abwerfen, da es zu kalt war. Der heulende Wind hatte die Winterkälte in jede Ritze des alten Hauses getragen.
Chester kam aus dem Bad und erblickte einen Berg unter der Zudecke. »Juts, was hast du der Katze zu fressen gegeben?«
Yoyo fand das gar nicht komisch. Sie liebte das Fußende des Bettes nicht nur, weil es warm war, sondern auch, weil Buster nicht unter die Decke kriechen konnte. Das Winseln, das er von sich gab, wenn sie unter den Laken verschwand, war Musik in ihren Ohren.
»Sie will nicht rauskommen. Sie entwischt mir, wenn ich sie fassen will, das raffinierte Stück.«
Chessy zog die obere Kommodenschublade auf, ein Hort für Katzenminze, Schlüsselketten, Kleingeld und Krawattenhalter auf seiner Seite, für Haarklämmerchen, Taschentücher und verzierte Haarspangen auf Juts' Seite. Er klapperte mit dem Deckel einer kleinen Hornschachtel. Yoyo verharrte und wägte die Situation ab: Entweder sie ließ sich Juts' ungeschickte Versuche, sie herauszuziehen, gefallen, oder sie kam freiwillig heraus und wurde mit Katzenminze belohnt. Sie entschloß sich zu Letzterem und schoß unter der Bettdecke hervor.
»Na also, du Rattengewitter.«
Buster öffnete neiderfüllt ein Auge und seufzte.
Chessy zerkrümelte ein paar leckere Katzenminzeblätter auf dem Fußende des Bettes, während Yoyo mit vor Vorfreude zuckenden Schnurrhaaren zusah. Als das letzte Blatt auf die Zudecke fiel, stürzte sie sich auf den berauschenden Leckerbissen.
Chessy schlüpfte unter die Decke und sah Yoyo bei ihren Kaspereien zu. Von ihrer Raserei erschöpft, ließ sie sich auf die Seite plumpsen, schnippte sacht mit dem Schwanz und atmete voll reiner, tiefer Wonne aus, ehe sie die Augen schloß.
»Es muß wunderbar sein, eine Katze zu sein«, sagte Chester.
»Diese Katze auf jeden Fall.« Juts kuschelte sich an ihn, um sich zu wärmen. »Schatz, wer hat heute Nacht Dienst?«
»Lillian und Caesura, glaube ich.« Er sah zum Fenster, das mit einer Eisschicht überzogen war. »Da draußen ist es arschkalt.«
»Wheezer und ich sind letzte Nacht fast erfroren, und heute ist es noch schlimmer. Nicht, daß ich Caesura nicht ein Quentchen Qualen wünsche, aber vielleicht nicht eine ganze Nacht. Schließlich ist sie nicht mehr die Jüngste.«
Chester stieg aus dem Bett und schob die Füße in seine abgetragenen Lederschlappen. »Pearlie hat Dienst bei der Feuerwache. Ich ruf ihn mal an.«
Als er wiederkam, fragte Juts: »Und?«
»Er geht jede Stunde raus, nach den Mädels sehen. Wir haben den Heizofen da oben.«
Juts unterbrach ihn: »Man muß sich direkt draufsetzen, um was zu fühlen. Ich kann die Kerosindämpfe nicht ausstehen.«
»Ich auch nicht, aber was Besseres haben wir nicht.«
»Es ging so lange gut, bis meine Hände und Füße blau anliefen. Wir konnten uns nicht mal streiten, so haben wir gefroren.«
Seine Augen blitzten. »Wer lange friert.«
»Hm?«
»Nichts. Schatz, gegen das Wetter kann ich nun mal nichts machen. Ich kann mich an keinen so ekelhaft kalten Winter erinnern. Vielleicht werde ich alt.«
»Wirst du nicht. Du bist sechs Monate jünger als ich.«
»Ich weiß nicht, was wir sind. Wir sind nicht mehr jung. Wir sind nicht direkt mittelalt, und alt sind wir erst recht nicht.« »Komisch, nicht?« Sie wartete einen Moment, dann schluckte sie und räusperte sich. »Chess, ich möchte ein Kind.«
Er schwieg einen Augenblick. »Ich auch, aber es hat eben nicht so geklappt, wie wir's geplant hatten.«
»Hm. ich war bei Doc Horning. Er sagt, bei mir sei alles in Ordnung. Ich möchte, daß du dich untersuchen läßt.«
»Ich kann Ärzte nicht ausstehen.«
»Die Zeit läuft uns davon. Ich bin sechsunddreißig.«
»Tja.« Er brach ab.
»Tu's für mich. Du mußt es ja niemandem erzählen. deiner Mutter schon gar nicht. Alles, was sie hervorgebracht hat, ist vollkommen, und damit bist du gemeint. Aber irgend etwas scheint nicht ganz zu funktionieren, verstehst du, was ich meine? Schatz?«
»Hm.«
»Du schiebst es auf die lange Bank. Laß dich untersuchen, Chester. Und wenn das Ergebnis schlecht ist, wissen wir wenigstens, was wir tun können.«
»Was können wir tun?«
»Adoptieren.«
»Ich weiß nicht.«
»Ich will ein Kind, und es ist mir egal, wie ich drankomme.«
»Mir nicht.«
»Dann geh zum Arzt.«
»Ich wünschte, deine Schwester würde die Klappe halten«, murmelte er.
»Louises Mundwerk wird auch ihren Tod noch überleben, aber hiermit hat sie nichts zu tun.«
»Hat sie wohl. Sie reibt es dir bei jeder Gelegenheit unter die Nase. Sogar ich habe ihr Gewäsch von wegenwahre Mutter< satt.«
»Auf alle Fälle brauche ich ein Kind, damit sie die Farm nicht ganz allein für sich kriegt.« Juts meinte dies nur halb im Scherz.
Chessy rieb sich das Kinn. »Deine Mutter würde Bumblebee Hill nie Louise allein vermachen. Keine Bange.«
»Und wenn Hansford zustimmt? Sein Name steht auf der Urkunde.« »Wird er nicht. Er mag Louise nicht besonders. Ihre Bettelei, die Farm doch den Enkelkindern zu vererben, macht keinen Eindruck auf ihn.«
Juts kicherte. »Sie ist ziemlich gräßlich zu ihm. Gestern hat sie gesagt, sein Bart sähe aus wie ein altes Vogelnest. Und das vor allen Leuten.«
»Wo war das?«
»Im Laden. Er ist vorbeigekommen.«
»Gut, daß deine Schwester in einer Stadt lebt, wo jeder jeden und seine Mucken kennt.«
Juts schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Mucken. Louise schon. Ich bin normal.« Er lachte. Dann bat sie ihn noch einmal leise: »Chester, gib mir dein Wort, daß du vor Ende des Monats zu Doc Horning gehst.«
Er seufzte. »Ich versprech's.«
Mutter Smith ließ sich zum Runnymede Square chauffieren. Sie war in einer Zeit geboren, da livrierte Kutscher auf dem Bock saßen. Sie hatte einmal gehört, daß verwegene Damen im Londoner Hyde Park ihre Karossen eigenhändig kutschierten, aber das würde sie ganz bestimmt nicht tun.
Mutter Smith wähnte sich als Herzogin, die dazu verdammt war, in einer Demokratie zu leben, noch dazu in einer genesenden Demokratie. Franklin D. Roosevelt, der seine dritte Amtszeit ausübte, hatte Washingtons Warnung in den Wind geschlagen, daß zwei Amtszeiten für einen Präsidenten genug seien. Mutter Smiths Wahn festigte sich mit den Jahren, bis er die Konsistenz von Beton besaß, welche nur zu oft auch die Konsistenz ihrer intellektuellen Fähigkeiten zu sein schien. Die Holtzapples, ihre Familie, hatten weder großen Reichtum noch großes Talent noch große Ländereien besessen. Einige erwiesen sich als annehmbare Zeitgenossen, doch selbst bei großzügigster Auslegung konnte man sie nicht als vornehme Familie bezeichnen. Die Smiths auch nicht, die der Dunker-Sekte angehörten und in bescheidenen Verhältnissen lebten, eine Familie, in die Josephine 1889 eingeheiratet hatte. Immerhin konnten sie einen Staatssekretär vorweisen, der Millard Fillmore, dem 13. Präsidenten der Vereinigten Staaten, gedient hatte. Rupert war genau wie seine Söhne ein gut aussehender Mann, und er betrieb ein einträgliches Bauunternehmen, aber reich war er nicht. Als Josephine Rupert heiratete, hatte sie geglaubt, ihn mit der Zeit verändern, ihn an ihren Lebensstandard heranführen zu können. Die Jahre hatten sie von dieser Illusion ebenso geheilt wie von ihrer Liebe zu Rupert.
Leute in ihrem Alter erinnerten sich, daß Josephine schon immer eine hohe Meinung von sich hatte, die mit zunehmendem Alter an Höhe gewann. Sie hatte keine Freundinnen, tat aber, als sei es ihr egal. Sie lebte für ihre Familie, was bedeutete, daß ihre Söhne Gefangene ihrer Tyranneien waren; zwei waren entkommen, und Chester war zu Hause geblieben. Ein Masochist. Obwohl er ihre Sticheleien und Schikanen an sich abprallen ließ, gab es Tage, da er sich, gefangen zwischen dem eisernen Willen seiner Mutter und der Unberechenbarkeit seiner Frau, wie ein heißes Hufeisen auf einem Amboß vorkam.
Heute war ein solcher Tag.
Als seine Mutter zu dem Wachturm hinter der St.- Pauls-Kirche hochsah, den Bisammantel eng um sich gerafft, murrte sie: »Warum tust du dir diese Strapazen an? Selbst wenn die Deutschen uns angriffen, würden sie sich nicht mit Runnymede abgeben.«
»DieHindenburg ist drübergeflogen.« Er erinnerte sie an den letzten verhängnisvollen Flug des Zeppelins, der über Runnymede kreuzte, während er darauf wartete, daß der Wind in New Jersey, wo das Luftschiff festmachen sollte, abflaute.
»Chester, widersprich mir nicht.« Die Kälte machte sich bemerkbar, und sie tippelte mit kleinen Schritten zum Auto zurück.
»Wenn wir im Pazifik bessere Beobachtungsposten hätten, wären wir vielleicht für den japanischen Angriff gewappnet gewesen. Wir hätten möglicherweise Zeit gehabt, unsere Schiffe aus Pearl Harbor zu entfernen.«
»Hätten, könnten, sollten, würden. ich behaupte trotzdem, daß es keinen erdenklichen Grund für dich oder sonst jemanden gibt, auf den Turm zu klettern und in der Kälte zu sitzen, worauf wartet ihr - auf Bomber?« Mit dem Fuß aufstampfend stand sie vor der Beifahrertür.
Chester öffnete den Wagenschlag, half ihr hinein, ging auf die andere Seite und rutschte hinters Steuer. »Soll ich dich bei Tante Dimps absetzen? Ich habe einen Termin. Ich könnte dich so gegen halb vier wieder abholen.«
»Wo gehst du hin?«
»Zu Dr. Horning.«
»Bist du krank?« Besorgnis schlich sich in ihre Stimme.
»Nein. Es ist Zeit für eine gründliche Untersuchung.«
»Mir siehst du gesund aus.«
»Bin ich auch, aber ich bin auch in einem Alter, in dem ich mich nicht unbedingt darauf verlassen sollte.«
»Papperlapapp, du bist noch keine Vierzig.«
»Wo soll ich dich absetzen, Mutter?«
»Nicht bei Tante Dimps. Daß wir zusammen zur Schule gegangen sind, heißt noch lange nicht, daß ich mir auf ihrem Klavier Bach anhören will. Ich könnte deinen Vater besuchen. Er ist erkältet, aber er wollte unbedingt zur Arbeit gehen.«
»Juts war furchtbar lange erkältet.«
Sie überhörte das und verschränkte die Arme. »Fahr schon, Chester.«
»Okay.« Er drehte den Zündschlüssel herum und fuhr auf die Straße; sirrend senkten sich die Schneeketten in die festgefahrene Schneedecke.
»Fehlt dir etwas? Ich habe Johnny sterben sehen. Wenn dir etwas fehlt, will ich es wissen.« Chesters älterer Bruder war gestorben, als Chester sechs war. John war Josephines Liebling gewesen. Sie sprach selten von ihm, aber seine Fotografie stand neben ihrem Bett.
»Ich sterbe nicht. Ich lasse mich untersuchen.«
»Juts steckt dahinter. Ich weiß es.« Als er nicht antwortete, ging sie zum Angriff über. »Verdorbenes Blut. Das ist das Zepp'sche Erbe, sage ich dir - und die Buckinghams hatten auch einen wüsten Zug, wie jeder weiß. Also, dieser Vorfall mit Otto Tangerman.« Sie hielt inne, senkte die Stimme. »Ich meine Günther, Ottos Vater, also das war unverzeihlich.« Sie starrte vor sich hin, als würde Chessy sie an etwas erinnern, das vor seiner Geburt geschehen war.
»Ah. welcher, Mutter, es gab so viele Vorfälle.«
»Das meine ich, das verdorbene Blut.«
»Und was war mit Günther Tangerman?«
»Hans, Coras Vater, hat den Leichnam aus der Leichenhalle gestohlen, ihm seine Uniform angezogen und ihn auf George Gordon Meades Statue gehievt. Das hab ich dir schon mal erzählt«, brummte sie, dann fuhr sie fort: »Er hat ihn rittlings hinter Meade gesetzt, die Arme um die Taille des Generals. Am nächsten Morgen sind alle furchtbar erschrocken. Die alte Priscilla McGrail ist bei dem Anblick in Ohnmacht gefallen. Hans hat die Angelegenheit, wie er es nannte, nie verwunden, obwohl er und Günther Freunde waren.«
Die Angelegenheit bestand darin, daß Günther bei den Unionisten gekämpft hatte, während Hans auf Seiten der Konföderation gewesen war.
»Was meinte Major Chalfonte dazu?«
»Daß Günther tot fester im Sattel saß als lebendig. Oh, es war ein furchtbarer Schock.« Sie faltete die behandschuhten Hände. »Wohin fährst du mich?«
»Zu Dad, oder hast du eine bessere Idee?«
»Hab ich dir gesagt, du sollst mich zu ihm fahren?« Ihre Augenbrauen schnellten fragend in die Höhe.
»Nein, du hast gesagt, er hat sich erkältet.«
»Oh.« Sie überlegte. »Das hab ich wohl, oder? Chester, ich möchte Rupert nicht sehen. Er ist nicht ganz auf der Höhe. Vielleicht bringst du mich besser nach Hause.«
»Wollen wir ins Bon-Ton? Bestimmt haben sie gerade eine weiße Woche; Julia spricht immer davon.«
»Ich brauche keine Bettwäsche.«
»Vielleicht sind auch Kleider heruntergesetzt.«
»Ich habe keine Zeit für diesen modernen Firlefanz, wo man alles durchsieht. Wenn ich Frauen mit so dünnen Fähnchen am Leib sehe, frage ich mich wirklich, was für ihre Ehemänner noch zum Anschauen übrig bleibt. Die Jugend von heute hat keinen Anstand.«
»Wir könnten zum Mittagessen zu Cadwalder gehen.«
»Davon kriege ich Blähungen.«
»Schön, dann bringe ich dich nach Hause.« Er fuhr langsam, weil er sich trotz der Schneeketten nicht auf die Griffigkeit der Reifen verließ. »Mutter, Julia möchte ein Kind.«
»Das habe ich schon mal gehört.«
»Sie ist besorgt wegen ihres Alters. Sie fürchtet, wenn wir noch warten, ist sie zu alt, um ein Kind zu bekommen.«
»Deine Frau ist selbst ein Kind. Sie könnte kein Kind erziehen.«
»Bei Buster hat sie es prima gemacht, als er noch klein war.«
»O Chester« - sie hob in gespielter Belustigung die Stimme -, »Kinder und Hunde sind durchaus nicht dasselbe. Deine Julia Ellen taugt nicht zur Mutter. Du dagegen wärst ein wunderbarer Vater.«
Nichts geht über Küsse und Schläge zur gleichen Zeit.
Chester erwiderte gelassen: »Kinder verändern die Menschen. Ich glaube, Julia hätte genug Verantwortungsbewußtsein.«
»Verdorbenes Blut. Hör auf mich. Was habe ich dir gesagt?«
»Wie steht es mit Hansfords Seite?« Er änderte seine Taktik.
»Von Hansford oder seinem Geschlecht kann nichts Gutes kommen.« Sie klappte den Mund zu wie eine Schildkröte.
Chester hatte begriffen, daß Angehörige einer Generation sich auf eine Weise kannten, die die jüngere Generation erst ergründen konnte, wenn auch sie älter geworden war. Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, seine Mutter oder seinen Vater je nach Hansford zu fragen, weil ja niemand gewußt hatte, daß er noch am Leben war. Nachdem er aufgetaucht war, wurden allmählich Fragen laut, bei Chester und auch bei anderen.
»Mutter, was meinst du, was mit ihm passiert ist, in all den Jahren, die er fort war?«
Sie starrte aus dem Fenster. »Er hat bekommen, was er verdient hat, das ist passiert.«
»Was meinst du damit?«
»Nichts.«
»Vielleicht kanntest du ihn besser, als ich dachte.« Chester wagte es ausnahmsweise, sie zu reizen.
»Was soll das nun wieder heißen? Ich habe meinen Söhnen nicht beigebracht, unverschämt zu sein.«
»Ich bin nicht unverschämt«, sagte er ruhig, »nur neugierig.«
»Neugierde brachte die Katze um.« Sie hielt inne. »Besucht eure noch den Gottesdienst in der Christuskirche?«
»Nein. Sie betet jetzt zu Hause.«
Mutter Smith drehte den Kopf und sah ihren Sohn an. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, und da sie gar keinen hatte, war er ihr zuweilen ein Rätsel, was sie natürlich nie zugeben würde. Es gehörte zu ihrem Rüstzeug, ihren Söhnen und ihrem Mann sowie jedem, der das Pech hatte, in ihr Kreuzfeuer zu geraten, zu erzählen, daß sie ihre Söhne in- und auswendig kannte.
Sie kamen zum Haus. Die schneebestäubte Blaufichte davor hätte einer Postkarte zur Zierde gereichen können.
Er begleitete seine Mutter zur Tür. »Mutter, wenn Julia und ich keine Kinder bekommen können.«
»Unsinn. Es liegt an ihr, nicht an dir.«
»Das spielt keine Rolle. Zum Ringelpiez gehören zwei.«
»Du sollst in meiner Gegenwart nicht ordinär sein.«
»Wenn sich herausstellt« - er blieb unbeirrt bei seinem Anliegen -, »daß wir keine Kinder bekommen können, erwägen wir eine Adoption. Würdest du ein Adoptivkind als Enkelkind anerkennen?«
»Niemals.«
»Meinst du, Louise setzt ihren weißen Luftschutzhelm je wieder ab? Vielleicht ist er auf ihren Kopf gepfropft.« Celeste zog an ihrer Zigarre, einer Montecristo Nr. 3, ein Laster, das sie vor allen außer Cora und Ramelle verbarg.
Cora, die Celestes erlesen gemustertes Tafelsilber mit einer in Silberpflegemittel getauchten Zahnbürste putzte, lachte. »Das Gute am Krieg ist, daß er mein Kind ein bißchen von Mary ablenkt.«
»Es bleibt ihr wohl nicht viel anderes übrig, als die Zügel zu lockern.« Celeste tat einen Zug, dann setzte sie hinzu: »Das nehme ich zurück. Sie könnte Gegenbeschuldigungen zu neuen Höhen verhelfen.«
»Sie kann die Klappe nicht halten, falls du das meinst.«
»Gewissermaßen.« Celeste nahm eine schwere Gabel und rieb sie mit einem grünen Tuch ab.
»Laß mich das machen.«
»Müßigkeit ist aller Laster Anfang.« Celeste lächelte und nahm sich die nächste Gabel vor. »Wie geht es Hansford heute?«
»Er ist bei O. B. im Stall. Er sagt, er will die Sattelkammer aufmöbeln, aber das Wort »aufmöbeln« beunruhigt mich.«
»Mich auch. Ich fürchte, es bedeutet Dollars.«
»Nein.« Cora schüttelte den Kopf. »Er würde hier anmarschiert kommen und dir Bescheid sagen, wenn es Geld kosten würde.«
»Bist du froh, ihn wieder zu Hause zu haben?«
Cora zuckte die Achseln. »Manches an ihm erinner ich noch von damals, aber ansonsten ist er ein alter Mann, den ich kaum kenne.«
»Ich glaube, nichts ist uns so fremd wie wir selbst, als wir jung waren. Er muß dich an dich erinnern, als du jung warst.«
»Da hab ich nicht drüber nachgedacht.«
»Hast du nie darüber nachgedacht, wer du warst, als du jung warst?«
»Nein.« »Cora« - Celeste stieß einen perfekten blauen Rauchring aus, der sich träge aufwärts kringelte -, »du erstaunst mich.«
»Was sollte ich über mich nachdenken - damals oder heute? Ich bin, was ich bin.«
»Glaubst du nicht, daß die Zeit die Menschen verändert?«
»Doch - aber was nützt es, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen?«
»Ich zerbreche mir nicht den Kopf - ich drehe und wende den Gedanken, wie wir früher die Pfeilspitzen gedreht und gewendet haben, die wir als Kinder fanden. Jeder kleine Splitter hat uns beglückt und fasziniert.«
»So laufen meine Gedanken nicht ab.« Cora lächelte, die Hände auf den Hüften. »Manchmal läuft da überhaupt nichts. Wie gesagt, manchmal sitz ich da und denk, und manchmal sitz ich nur.«
»Und ich denke manchmal zu viel.« Celeste pfiff einen Melodiefetzen, dann fragte sie: »Und - denkst du über irgend etwas nach?«
»Über Mary. Den Krieg. Unser Land gerät scheint's so alle zwanzig Jahre in so 'n Schlamassel. Wir ziehen eine neue Generation Männer groß, und die bleiben dann auf der Strecke.«
»Ja, darüber denke ich auch nach.«
Cora tauchte das Tafelsilber nach dem Abreiben in eine Schale mit warmem Wasser. »Juts macht mir Sorgen.«
»Julia?« Celeste hob überrascht die Stimme.
»Sie hat Chessy endlich dazu gebracht, zu Doc Horning zu gehen. Sie war in den letzten Jahren zweimal bei ihm. Bei ihr ist alles in Butter. Und wenn mit Chester was nicht stimmt?«
»Ah - das ist wirklich ein Problem.«
»Juts möchte unbedingt ein Baby.«
»Vielleicht könnte sie es ohne Hilfe ihres Mannes zustande bringen?« Celeste lächelte süffisant.
»Das wäre eine schöne Bescherung, was?«
»Viele Wege führen nach Rom.«
Cora schüttelte den Kopf. »Ich glaub nicht, daß mein Kind so was tun würde. Mit jedem Jahr wird ihr Kinderwunsch stärker.« »Ich habe Juts sehr gern, aber sie ist denkbar ungeeignet für das Leben einer Mutter, diesen Altar, auf dem das Ich täglich geopfert wird.«
»Das mit dem Altar hab ich nicht verstanden, aber ich würde sagen, sie hat noch viel zu lernen.«
Celeste lachte. »Juts ist der Inbegriff der kleinen Schwester: aufsässig, egoistisch und hinreißend.«
Cora lächelte. »Die beiden Mädchen hätten mich fast zur Flasche greifen lassen, als sie klein waren. Ich dachte mir, ach, eines Tages sind sie erwachsen, und dann ist Schluß mit dem Gebalge und Gezanke. Sie werden die besten Freundinnen.« Sie hielt einen tropfenden Löffel hoch. »Sie balgen und zanken noch immer.«
»Es ist unglaublich, nicht? Einzeln benehmen sie sich wie einigermaßen normale Menschen. Kaum sind sie zusammen, sind sie wieder sechs und zehn Jahre alt. Der Vorfall letztes Jahr bei Cadwalder war doch die Höhe.«
»Und das bloß, weil Juts keine Mutter ist. Siehst du, das macht mir Sorgen.«
»Ich dachte, weil Julia Louise daran erinnert hat, daß sie vierzig ist.« Sie tippte sich kurz mit dem Finger an die Nase. »Herrje, ihr einundvierzigster Geburtstag steht doch vor der Tür, oder?Und sie wird bald Großmutter. Und Juts wird.«
»Siebenunddreißig, am 6. März. Wenn Louise doch bloß vor Juts Geburtstag hätte, dann könnte sie besser schwindeln.« Cora schüttelte verzagt den Kopf.
»Weißt du, wo es enden wird, Cora? Eines Tages wird Mary vierzig sein und Maizie neununddreißig, und Louise wird allen erzählen, sie sei fünfundvierzig.«
Darauf brachen sie in schallendes Gelächter aus, die alten Freundinnen, die unter sich die Jahre nicht mehr zählten. Obwohl sie aus ganz unterschiedlichen Schichten stammten, kannten sie sich schon ihr ganzes Leben. Nach und nach hatten die materiellen Unterschiede an Bedeutung verloren. Übrig blieb nur der Charakter.
»Was hältst du davon, ein Kind zu adoptieren?«, fragte Cora.
»Ich?« Celeste war bestürzt.
»Julia.« »Also ist es ernst.«
»Scheint so.«
»Ich hoffe, das Kind hat Sinn für Humor - den wird es brauchen.«
»Ich bin ja auch noch da, um zu helfen.«
»Julia will immer im Mittelpunkt stehen. Trotz ihrer religiösen Manie, die so regelmäßig wiederkehrt wie Malaria, ist Louise die Verantwortungsbewußtere. Juts ist nicht glücklich, wenn sie nicht jemandem in die Suppe spucken kann, aber gewöhnlich ist es ihre eigene Suppe.«
»Ich weiß.« Cora lächelte beim Gedanken an ihre jüngere Tochter. »Sie hat schon im Mutterleib kräftig um sich getreten.«
»Und wie sieht es mit Chester aus?«
»Jeder Mann, der Josephine als Mutter aushält, hat verborgene Kräfte. Er wird ein guter Vater sein.«
»Weißt du Cora, das ist mir nie in den Sinn gekommen. Er ist vermutlich stärker, als wir denken. Er ist ja meist so schweigsam.«
»Wie soll er denn auch zu Wort kommen? Aber er wird sich aufschwingen, wart's nur ab.«
»Und dann wird er zwei Kinder haben - Julia und das Baby.«
»Sie wird sich zusammenreißen.«
»Juts? Niemals.« Celeste schüttelte den Kopf.
»Wollen wir wetten?«
Celestes Augen leuchteten auf, ihre Schultern strafften sich; nichts brachte ihr Blut so in Wallung wie eine Wette. »Du willst mit mir wetten, daß Julia Ellen Hunsenmeir die nötige Reife bekommt, um eine gute Mutter zu sein? Wie viele Jahre gibst du ihr?«
»Eins. Ein Jahr von dem Zeitpunkt an, wo das Baby da ist.«
Celeste lächelte verschmitzt. »Worum wetten wir?«
»Um deinen John-Deere-Traktor, den alten. Mitsamt Zubehör.«
»Cora!« Celeste lachte. »Das geht dir wohl schon eine ganze Weile im Kopf herum.« Cora nickte, und Celeste fügte hinzu: »Es könnte natürlich sein, daß nichts dabei herauskommt. Vielleicht kommt ja gar kein Kind.« »Sie kriegt ein Kind, und wenn sie es stehlen muß. Wart's nur ab.«
»Sag mal, über welchen Zeitraum reden wir hier eigentlich?«
»Wenn du glaubst, Louise ist hysterisch geworden, als sie vierzig wurde, dann warte, bis Julia Ellen so weit ist. Ach Gott.« Cora stieß mit dem Finger in die Luft, eine seltene Geste bei ihr. »Sie hat das Kind, bevor sie vierzig ist, und glaub mir, wenn sie keins kriegen oder adoptieren kann, dann klaut sie sich eins.«
Celeste verschränkte die Arme, biß sich auf die Lippe und überlegte. »Der John Deere. Und was bekomme ich, wenn ich gewinne?«
»Zwei Monate meine Arbeit umsonst.«
Celeste reichte ihr über den Ecktisch die Hand. »Abgemacht!« Sie konnte es nicht erwarten, Ramelle davon zu berichten!
Pearlie war für Lillian Yost eingesprungen, die sich eine schwere Erkältung zugezogen hatte. Er kauerte vor dem kleinen Kerosinheizofen, während Chester mit seinem Fernglas den dunklen Himmel absuchte. Ein beschichtetes Schaubild von feindlichen Flugzeugen, wie man sie von unten sah, lehnte an einer Wand des Turms.
Große, tiefschwarze Kumuluswolken wälzten sich von Westen heran.
»Da kommt wieder eins.« Pearlie zündete sich eine Zigarette an und bot Chessy eine an.
»Schon mal was anderes probiert als Lucky Strike?«, fragte Chessy. Er selbst rauchte Pall Mall.
»Wenn, würde ich's dir nicht sagen.« Er klopfte auf das Päckchen, so daß eine Zigarette weiter herausrutschte als die Erste.
Chester hockte sich neben Pearlie, um sich seine Zigarette an Pearlies anzuzünden. Er tat einen tiefen Zug. »Komisch, wie man sich an eine Marke gewöhnt. Julia und ihre Chesterfield. Sie hat damit angefangen, als sie zwölf war. Man kann sie nicht dazu kriegen, mal was anderes zu probieren, und wenn ich vergesse, nach der Arbeit ein Päckchen mit nach Hause zu bringen, krieg ich Ärger. Sie hat angefangen, mit Fanny Jump Creighton um Zigaretten zu pokern. Sie sagt, so gewinnt sie sie haufenweise und spart Geld.«
»Wird nicht lange dauern, bis Fannie sie rumkriegt, um Cents zu spielen und dann um Dollars.«
»Sie sagt, es vertreibt die Zeit.«
»Das Geld auch«, schnaubte Pearlie.
»Ich hätte dem Salon keine Chance gegeben. Ich dachte, du und ich würden früher oder später bei Rife arbeiten.«
»Ich auch.« Pearlie sah zum Winterhimmel hoch, der zur Hälfte klar war, mit Sternen wie große Eisbrocken, während die andere Hälfte aussah wie ein schwarzer Kessel. »Stell dir vor, du fliegst in so was rein.«
»Ich würd's gern mal probieren«, sagte Chessy.
»Ich habe einen Krieg miterlebt. Noch einen brauche ich nicht.«
Pearlie hatte ein falsches Alter angegeben, als er sich mit fünfzehn freiwillig zum Militär gemeldet hatte, und war wenige Wochen später nach Frankreich verschifft worden. Seine Erinnerungen an das Land bestanden aus Schlamm, zerbombten Städten und aufgeblähten Leichen. »Ich habe die amerikanischen Zigaretten lieben gelernt. Das französische Zeug ist so, als würde man Maisfasern lutschen, und wenn du richtig kotzen willst, mußt du bloß das türkische Kraut probieren.«
»Zu jung für den ersten Krieg und zu alt für diesen - so ein Mist.« Chessy spuckte einen Tabakkrümel aus. »Ich glaube nicht, daß ich zu alt bin. Ich bin heute kräftiger als mit zwanzig.«
»Und klüger. Sag einem Zwanzigjährigen, er soll zum Angriff aus dem Deckungsgraben springen, während aus allen Richtungen Maschinengewehrsalven fliegen, und er macht's. In deinem Alter überlegt man sich das zweimal.«
»Was nicht heißt, daß ich es nicht trotzdem tun würde«, sagte Chessy.
»Weißt du, die Politiker rufen den Sieg aus, bevor wir überhaupt drüben angekommen sind. Ich habe gegen die Deutschen gekämpft. Sie sind zäh, und sie sind schlau. Deine Chance könnte noch kommen, Chessy.«
»Meinst du, es wird so schlimm für uns?«
»Ja, das meine ich.«
»Glaubst du nicht, die Deutschen werden langsam mürbe?«
»Wenn sie genug Gebiete erobern, können sie ihren Nachschub aufstocken. Sie können auf der ganzen Linie siegen. Das Geheimnis ist Sprit. Im Ernst. Wenn sie ihre Treibstoffvorräte schützen, können sie den Sieg nach Hause tragen.«
»Und die Japaner?«
»Keine Chance. Der Krieg im Pazifik hat bei uns nicht Priorität, und trotzdem können wir sie schlagen.«
»Du bist so viel klüger als ich. Ich kümmere mich nicht viel um die Welt da draußen. Ich weiß, ich sollte es tun, aber.« Er hielt inne. »Ich habe hier schon genug am Hals.« Er drückte den Stummel aus. »Aber ich hab meine Landkarten studiert. Wenn die Deutschen Flugzeugträger haben, können sie uns angreifen, wo sie wollen. Oder sie können Neufundland einnehmen.«
Sein Schwager unterbrach ihn. »Keine gute Idee. Sie könnten es nicht halten, nicht mal lange genug, um Luftstützpunkte einzurichten.«
»Dann Kuba.«
»Ja, das würde funktionieren, wenn sie dafür genug Streitkräfte einsetzen wollen. Doch ja, das würde gehen.«
»Es heißt, Argentinien ist für Deutschland, obwohl es sich neutral gibt. Das ist ein reiches Land.«
»Reich und weit weg.« Pearlie hielt seine Füße an den Heizofen. »Schon merkwürdig, was im Kopf vorgeht, wenn man Landkarten liest und anfängt, wie ein General zu denken. Irgendwann denkt man, die Länder mit ihren verschiedenen Farben seien wie Fannies Pokerchips. Man hebt sie auf und steckt sie in die Tasche. Und all die Tausende, ja Millionen von Menschen, die an diesem Pokerchip dranhängen - sind bloß noch Ameisen.«
Die erste Schneeflocke trudelte träge herab, eine Vorankündigung dessen, was noch kommen würde. Die Männer zogen die Plane über die Turmöffnung. Die Plane war gerollt wie eine Jalousie, aber horizontal statt vertikal. So viele Freiwillige vom Zivilen Luftschutz hatten sich einen Schnupfen geholt, weil sie vom Regen durchnäßt oder von Schnee umhüllt gewesen waren, daher hatte Chessy die Plane angebracht. Jetzt konnte man, wenn Flugzeuge schlechtem Wetter trotzten, in der Sekunde, da man sie hörte, die Plane zurückrollen und den Suchscheinwerfer einschalten. Der zweite Mann konnte die Sirene ankurbeln. Sie setzten sich wieder vor den Heizofen. Der Schnee wurde dichter. Als der Wind zunahm, schwankte der Turm leicht.
»Mein Gott, Chessy.«
»Wird schon halten.«
»Erst versuchst du, mich tiefzukühlen, und jetzt werde ich unter einer Masse von Brettern begraben, mit einem dicken Suchscheinwerfer als Grabstein.«
»Nein, wir können den Scheinwerfer runterrollen, dann kracht er auf St. Rose.«
Pearlie lachte. Er schwieg eine Weile, bevor er sagte: »Du hast Glück, mein Lieber.«
»Hm?« Chesters blonde Bartstoppeln sprießten.
»Dienstags abends bei deiner Mutter.« Er hielt inne. »Und hin und wieder Schicht bei der Feuerwache, damit es unverfänglich aussieht.«
Der Schein beleuchtete Chesters erstauntes Gesicht; »Ich besuche tatsächlich dienstags meine Mutter.«
»Sie ist nicht die Einzige, die du besuchst.«
Chester spannte seine Gesichtsmuskeln an. Als er schließlich sprach, war seine Stimme so leise, daß man fast die Schneeflocken auf die Plane fallen hören konnte. »Nein. Ich nehme Tanzstunden. Ich möchte Juts überraschen.«
»Das dürfte dir gelingen.«
»Komm, Pearlie.«
»Ich bin kein Blödmann. Ich bin auch kein Richter. So was passiert eben. Ich sag dir bloß, daß du Glück hast. Deine Frau und deine Mutter können sich nicht riechen, also werden sie sich nicht austauschen, aber das heißt nicht, daß nicht irgendwann eine Panne passiert.«
»Ich sagte doch, ich nehme Tanzstunden.«
»Herrgott, Chester.« Pearlie funkelte ihn wütend an.
Ein leiser Seufzer, ein Stöhnen entfuhr Chester, der die Kälte jetzt arg spürte. »Ich weiß nicht, wie ich da reingerutscht bin.«
»Ich schon. Wir sind beide mit Frauen verheiratet, die lieber Befehle erteilen als entgegennehmen.« Paul zog eine Grimasse, die sich dann in einem Lächeln auflöste. »Ich könnte Louise umbringen. Wenn ich jedes Mal, da ich ihr den Hals umdrehen will, fünf Cent bekäme, wäre ich reicher als alle Rifes zusammen, aber.« Er zuckte die Achseln. »Ich habe zwei tolle Kinder. Ich hätte nie gedacht, daß ich.« Er hielt inne, weil er seine Liebe zu seinen Kindern nicht beschreiben konnte. »Und ich liebe Louise sogar, wenn ich sie hasse. Verrückt.«
»Ich hätte nie gedacht, daß es so sein würde - das Leben.«
»Mein Problem ist, ich habe überhaupt nie gedacht.« Paul sah seinem besten Freund in die Augen. »Jetzt denke ich. Ich denke für meine Familie. Ich denke, daß ich meine Töchter nicht beschützen kann, wenn sie die falschen Männer heiraten. Ich kann nicht mal meine Frau beschützen, wenn wir bombardiert werden. Und ich denke für dich, Mann. Du denkst, wir sind schon mitten im Unwetter - da hast du dich aber schwer geschnitten.«
»Was soll ich denn tun?«
»Liebst du sie?«
Chester stützte den Kopf in die Hände. »Ja.«
»Mist.«
»Es ist einfach passiert. Sie hält mich für das Beste seit Erfindung des Schnittbrots. Ich kann ihr nicht wehtun, Paul, ich kann nicht.«
»Es wird allen wehtun, nicht nur ihr. Wenn du jetzt mit ihr Schluß machst, wird es nicht so schlimm, wie wenn du wartest - es sei denn, du willst dich von Juts scheiden lassen.«
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Sie würde mich umbringen.«
»Liebst du sie noch?«
»Ja, aber anders.«
»Die wilde Anfangsphase, das ist wie ein Rausch. Am Anfang konnte ich meine Finger nicht von Wheezie lassen.
Das gibt sich. Aber ich liebe sie. Wir haben gemeinsam einen weiten Weg zurückgelegt. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen.« Er legte Chester seine Hand auf die Schulter. »Du mußt Verantwortung übernehmen. Wie gesagt, ich bin kein Richter. Wenn du eine Flamme in Baltimore oder York hättest, würdest du vielleicht damit durchkommen, aber in Runnymede?« Er schüttelte den Kopf.
Die leuchtenden Nagellackfarben hoben sich von dem dumpfen Grau draußen ab. Juts hatte eine Vorliebe für knallige Rottöne. Viele Kundinnen liebten Pastellfarben oder gar Mauve. Mauve empfahl sie immer den Damen, die ihre Haare blau tönten. Toots, die ein Gespür für Farben besaß, hatte noch keiner Kundin jenen Lavendelton verpaßt, der bei Junior McGrail und ihrer Generation so beliebt war. Louise und Juts hatten da keine Skrupel. Manche Damen wünschten es eben.
Junior McGrail war gestorben, und ihr Sohn Rob war am Boden zerstört. In kurzer Zeit ließ er den Schönheitssalon für anspruchsvolle Damen verkommen. Zu Robs Verteidigung sei gesagt, daß er wenig Neigung bewies, Haare blau zu tönen, zu bleichen und zu wickeln. Digby Vance verschaffte ihm eine Stelle als stellvertretender Kapellmeister, was ihm wieder etwas Halt gab.
Tante Dimps hatte den Salon gemietet und in ein Blumengeschäft verwandelt. Sie ließ sich wohlweislich von Dingledines beliefern, obwohl sie etwas teurer waren als die Blumenversteigerungen in Baltimore. Dafür schickten sie ihr viele Kunden.
Die Klatschzentrale quoll über von Nachrichten von Söhnen, Ehemännern und Freunden im Ausbildungslager. Vaughn Cadwalder hatte bei der Abschlußprüfung als bester seiner Einheit abgeschnitten. Darunter standen so aufregende Dinge wie »Orrie versteht nicht, wie irgend jemand in Washington, D.C. Auto fahren kann. Noe wurde zum Hauptmann ernannt und arbeitet rund um die Uhr.« Schließlich wurden in die rechte untere Ecke mit pfirsichfarbener Kreide Mitteilungen gekritzelt: »Fluffy hat sechs süße Kätzchen. In gute Hände abzugeben. Patsy BonBon.«
»Ich hab den Winter so satt«, klagte Mary Miles. »Harold nimmt jeden Winter sechs Kilo zu. Die Knöpfe springen von seinem Hemd, und wenn ich ihm taktvoll vorschlage, seinen Appetit zu zügeln, sagt er, das mußt ausgerechnet du sagen. Ich finde mich nicht dick.«
Juts massierte M. M.s Hände mit einer lindernden Lotion; in der trockenen Luft der Häuser wurden Hände und Lippen rissig. »Du warst nie dick.«
Mary Miles strahlte. »Du auch nicht.«
»Weil ihr nie Kinder hattet.« Wheezie beteiligte sich an dem Gespräch, während sie Tante Dimps' Locken schnitt. »Ich war dick wie eine Tonne, und ich habe ein ganzes Jahr gebraucht, bis ich das wieder los war. Ich weiß nicht, wann ich mich je so mies gefühlt habe.«
»Oh, da fallen mir etliche Male ein«, bemerkte Julia trocken.
»Deinetwegen«, schoß Wheezie zurück.
»Ich erinnere mich, wie ihr zwei bei einer Parade am 4. Juli um ein Haar die ganze Stadt in Brand gesteckt hättet.« Mary Miles lachte.
»Das ist so lange her, das hatte ich ganz vergessen«, tat Louise das Thema nonchalant ab.
»Komisch, wir nicht.« Tante Dimps kicherte. »Es war 1912, und Donald und ich waren frisch verliebt.« Donald war Dimps' verstorbener Mann. Er war bei einem entsetzlichen Zugunglück nördlich von Philadelphia ums Leben gekommen.
»Das kann doch nicht so lange her sein.« Louise vermied es, die Jahreszahl auszusprechen.
»Also, nach deinen Berechnungen warst du 1912 noch gar nicht auf der Welt.« Juts hielt den Blick fest auf Mary Miles' Daumen gerichtet.
»Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.« Wheezie hob trotzig das Kinn.
»Wirf jetzt bloß nicht mit Sprichwörtern um dich. Es war 1912, und Idabelle McGrail, Juniors Mutter, ging vor unserem Festwagen her und spielte auf ihrem Akkordeon America the Beautiful<. Ihr Sohn und ihr Enkel haben ihr musikalisches Talent geerbt.«
»Die Ärmsten«, murmelte Mrs. Mundis.
»Sie hat das Maultier erschreckt, das unseren Wagen zog«, flunkerte Juts.
»Ha! Du hast den Wagen in Brand gesteckt, Julia Ellen.« Louise erinnerte sich lebhaft an das Ereignis, auch wenn sie es vorzog, über die Jahreszahl hinwegzugehen.
»He, ich war nicht die Freiheitsstatue. Du hast die blöde Fackel gehalten. Du hast sie fallen lassen. Ich war ein kleiner Schlepper im Hafen von New York.«
»Ein kleiner Schlepper, der die Freiheitsstatue vom Sockel gestoßen hat.« Tante Dimps lachte. »Das Maultier erschrak, als der Wagen Feuer fing, und schoß mitten durch die Parade davon. O Gott, das werde ich nie vergessen. Donald hat mich gepackt und aus der Gefahrenzone geschoben. Das Maultier konnte er nicht stoppen. Und der alte Lawrence Villcher - wißt ihr noch, der Chef der Feuerwehr von Nord-Runnymede - hat die weiße Feuerspritze gewendet, und Increase Martin - damals haben sie bei der Feuerwehr noch Pferdewagen benutzt - hat die Feuerspritze von Süd-Runnymede gewendet, und die Wasserladung hat das Maultier gestoppt und das Feuer gelöscht.« Sie leckte sich die Lippen. »Das sauberste Maultier beider Staaten.«
»Und du hast in aller Öffentlichkeit geflucht.« Julia wollte von ihrer Missetat ablenken, egal, wie lange es her war.
»Ich fluche nicht«, entgegnete Louise eisig.
»An dem Tag schon.«
»Das Gedächtnis spielt den Menschen Streiche.« Louise zog ihre Erhabenheitsnummer ab, was Juts nur aufstachelte.
»Ich hab wenigstens eins.«
»Mein Gedächtnis ist scharf wie eine Reißzwecke.«
»Ja, und genauso spitz.« Juts unterdrückte ein Kichern.
Louise hielt eine nasse Haarsträhne zwischen Zeige- und Mittelfinger, die Schere verharrte in der Luft, was ihr einen leicht bedrohlichen Anstrich verlieh. »Du wirst mich nicht in Rage bringen. Ich hab genug Sorgen, ohne mich auch noch mit dir herumzuärgern.«
»Schon gut.« Juts war enttäuscht. Sie hatte Lust auf eine Kabbelei.
Mary Miles blickte angestrengt in die Ferne und versuchte sich zu erinnern. »Hat eure Mutter dabei nicht Aimes Rankin kennen gelernt?«
»Herrje, das weiß ich nicht.«
»Doch, stimmt«, bestätigte Louise.
»Wie geht's Hansford denn so?« Tante Dimps sprang von einem Mann in Coras Leben zum anderen, was für alle Anwesenden durchaus plausibel war.
»Besser. Er sollte arbeiten gehen«, antwortete Louise.
»Er sieht gesünder aus. Allmählich sollte man mal seinen Bart stutzen.« Juts hatte Mary Miles' Fingernägel vorbereitet und wählte nun die Farbe. »Wie wär's mit Kirsche?«
»Nein. Zu dunkel. Ich brauch was Belebendes.«
»Versuch's mit Whiskey«, empfahl Tante Dimps.
»Dimps, ich wußte gar nicht, daß du trinkst.« Louise gab sich empört.
»Nicht von mir aus. Andere treiben mich dazu.«
»Mich auch.« Juts griff zu Siegesrot, einer angemessenen Farbe für die Zeit.
»Mich auch«, rief Fannie aus dem Hinterzimmer, wo mal wieder ein Kartenspiel im Gang war.
»Das ist gut.« Mrs. Mundis lehnte sich zurück; Dimps' schlagfertige Antwort gefiel ihr.
»Hansford war ein gebildeter Mann. Geologie.« Dimps war etwa zwanzig Jahre älter als Juts, Wheezie und Mary Miles Mundis. »Ich war noch jung, als er fortging, aber ich weiß noch, daß meine Mutter sagte, hier hielte ihn nicht genug. Und sie sagte, egal, was für eine gute Frau Cora sei, es sei schwer für einen Mann mit College-Bildung, eine Frau zu haben, die...« - sie hielt einen Moment inne, lief tief rot an, und fuhr leise fort - ». nicht gebildet sei.«
»Nicht gebildet. Herrgott, Dimps, Mom kann weder lesen noch schreiben.« Juts traf den Nagel auf den Kopf.
»Nein, aber Cora ist klüger als wir alle.« Dimps wollte etwas gutmachen. »Trotzdem frage ich mich, ob meine Mutter nicht Recht hatte.«
»Ich hab was anderes gehört.« Mary Miles räusperte sich. »Meine Mutter sagte, es sei wegen Josephine Holtzapple gewesen.«
»Was?«, fragten beide Schwestern gleichzeitig.
»Ja. Nie davon gehört?« Mary Miles war erstaunt.
Tante Dimps deutete stirnrunzelnd mit dem Finger auf Mary Miles' Spiegelbild. »Ihr wart alle viel zu klein, um irgendwas zu wissen. Und überhaupt, seitdem ist viel Wasser über den Berg geflossen. Oder heißt es den Berg hinunter?«
»Hinunter.« Toots hatte die ganze Zeit geschwiegen, ja, sie hatte auf dem Stuhl gedöst, weil sie eine halbe Stunde Zeit hatte, bevor ihre nächste Kundin kam. Sie schlug die Augen auf.
»Wie meinst du das, es war wegen Josephine?« Juts hielt Mary Miles' rechte Hand.
»Meine Mutter sagte, Josephine sei in Hansford verliebt gewesen. Es heißt, sie sei zu ihrer Zeit eine schöne Frau gewesen.«
»Und bestimmt schon eine Zimtzicke«, murrte Juts.
»Hochnäsig.« Dimps wünschte, Mary Miles hätte den Mund gehalten.
»Wieso wissen wir nichts von dieser Geschichte?« Louise untersuchte Tante Dimps' Haare nach Spliß.
»Die jüngere Generation interessiert sich nicht für die ältere Generation. Ihr könnt euch nicht vorstellen, daß wir mal jung waren.«
»Dimps, du bist nicht alt.« Julia lächelte.
»Achtundfünfzig, und mit den vielen Pölsterchen, die ich mir zugelegt habe, sehe ich keinen Tag jünger aus. Noch ein bißchen mehr, und ich bin das gemästete Kalb.« Sie klopfte sich auf den Bauch.
»Du siehst prima aus.« Louise tutete in dasselbe Horn wie ihre Schwester. »Aber was meint Mary Miles eigentlich?«
»Ihr müßt bedenken, dies ist eine uralte Geschichte«, sagte Dimps, »und ich war noch sehr jung. Es heißt, daß Josephine in Hansford verliebt gewesen sei, aber er nicht in sie.«
»War er da schon mit Momma verheiratet?« Juts war schrecklich neugierig, wollte sich aber gleichgültig geben. Es gelang ihr nicht.
»Ja. Er hat eure Mutter wirklich geliebt, glaube ich. Ich glaube, er liebt sie immer noch. Euer Vater war ein junger Draufgänger. Genau der Typ, um das Herz einer so tugendhaften Person wie Josephine zu entflammen, die noch nicht lange mit Rupert verheiratet war. Hansford war reich an gutem Aussehen und arm an Verantwortungsgefühl, würde ich meinen.« »Aber du hast gesagt, er hat sie nicht geliebt.« Louise schnippelte die nächste Locke.
»Hat er auch nicht.« Toots ergriff wieder das Wort. »Ich kann mich noch erinnern. Ich ging damals in die Volksschule. Jedenfalls, was auch geschehen ist, Hansford ist weggegangen. Die Leute sagten, er wäre so oder so gegangen. Rastlos.«
»Hatte er eine Affäre mit ihr?« Es lag Juts nicht, um den heißen Brei herumzureden.
»Nein«, antwortete Dimps rasch.
»Also.« Mary Miles hielt inne. »Keiner weiß was Genaues, außer daß er mir nichts, dir nichts abgehauen ist. Einfach so.« Sie machte eine flatternde Handbewegung.
»Gib deine Hände wieder her«, befahl Juts.
»Und danach war's aus mit Josephine. Sie war immer ein Snob gewesen, aber danach wurde sie unausstehlich.«
»Ich frag ihn«, sagte Juts.
»Schlafende Hunde soll man nicht wecken«, warnte Dimps.
»Du hast gesagt, es ist eine uralte Geschichte«, entgegnete Juts.
»Nicht für sie und ihn. Mach bloß nicht wieder so viel Wind, Juts«, sagte Dimps.
»Warum hacken alle auf mir rum?«
»Weil wir dich nur zu gut kennen« Louise genoß es sichtlich, ihre Schwester zappeln zu sehen.
»Meine Schwiegermutter ist eine Kneifzange«, sagte Juts. »Ich hätte nichts dagegen, es ihr ein bißchen heimzuzahlen.«
»Überlasse sie dem Himmel«, empfahl Tante Dimps.
»Gott ist zu lahm.«
»Julia!« Louise gab sich schockiert. Eigentlich war sie es nicht, doch sie glaubte, daß alle Anwesenden sie für tief religiös hielten. Was niemand tat; man nahm allgemein an, daß sie den Pomp und das Zeremoniell des Hochamts liebte.
»Ist doch wahr, Louise. Ich sehe, wie Menschen mit Mord durchkommen. Gott sitzt auf seinem dicken himmlischen Hintern, und nichts passiert. Ich meine, warum tötet er Adolf Hitler nicht? Wenn ich das Böse sehen kann, warum kann Gott es nicht sehen?« »Die Menschen versuchen seit Anbeginn der Zeiten, eine Antwort auf diese Frage zu finden.« Toots hievte sich schwerfällig vom Stuhl. Sie war müde und mußte sich bewegen, um wach zu werden.
»Diese Mysterien sind zu groß, als daß unser Verstand sie fassen könnte.« Louise wußte auch keine Antwort, aber dies klang jedenfalls tiefgründig.
»Glaub ich nicht.« Juts zog einen Flunsch.
Mary Miles sagte: »Vielleicht hat Gott die Welt erschaffen und dann links liegen lassen. Wir haben ihn gelangweilt.«
»Wozu bete ich dann überhaupt?«
»Juts, du betest nie, außer wenn du was willst«, tadelte Louise. »Das ist bei dir wie einkaufen.«
»Du kennst doch meine Gebete gar nicht.«
»Ich kenne dich«, erwiderte Louise.
»Keine Philosophie war jemals in der Lage, Antworten auf die großen Fragen zu finden - und wir werden es auch nicht können. Man lebt von Gottvertrauen und Gebet, Mädels.« Tante Dimps zuckte zusammen, als Louise einen Lockenwickler zu stramm drehte.
»Ich habe eine Philosophie. Geburt führt zum Tod.« Juts steckte Wattebäusche zwischen Mary Miles' Finger, damit sie sie nicht schließen und den frisch aufgetragenen Lack ruinieren konnte.
»Du bist heute aber grantig.« Louise warf ihr einen wütenden Blick zu. »Schalt mal ab und halt die Klappe.«
»Ich bin nicht grantig. Ich will wissen, was zwischen unserem Vater und meiner Schwiegermutter vorgefallen ist.«
»Wie ich dich kenne, platzt du mit der Frage einfach raus«, grummelte Louise.
»Da kommt Hansford, Juts. Das ist deine Gelegenheit.«
Er öffnete die Tür und lächelte. Aller Augen richteten sich auf ihn. »Hallo, Mädels.«
»Hallo«, antwortete Toots schließlich.
»Komm ich ungelegen?«
»Nein«, antwortete Louise, ohne aufzusehen.
»Hansford, setz dich einen Moment, ich bin gleich bei dir.« Juts schob den Manikürwagen zur Seite.
»Soll ich mich woanders hinsetzen, Julia?«, fragte Mary Miles, hibbelig vor Ungeduld.
»Nein. Toots' Stuhl ist die nächste Viertelstunde frei, und das hier dauert nicht lange. Toots, okay?«
»Klar.« Toots ging ins Hinterzimmer, um frischen Kaffee zu kochen.
»Komm.« Juts wies auf den Stuhl, und Hansford ließ sich dankbar auf den bequemen Sitz sinken. Sie betrachtete seinen Bart aus jedem Winkel. »Manche Leute sehen einen langen Bart und denken an Weisheit. Ich denke an Flöhe.«
Die Damen brachen in Gelächter aus, was sowohl an der Anspannung lag als auch an der Tatsache, daß Julia Ellen wieder die Alte war.
Die kühlen, glatten Karten fühlten sich vertraut an in Juts' Händen. Von Kind an hatte sie Kartenspiele geliebt. Sie hatte sich ausgemalt, wie sie als Karodame verkleidet war, einen Buben als Diener, einen König als Gemahl. Sie konnte sich gut merken, welche Karten ausgegeben und welche im Stapel geblieben waren. Obwohl vier Jahre jünger als Louise, schlug sie sie schon mit sechs Jahren in Memory, Mau Mau und schwarzer Peter, was jedes Mal Geschrei, Gerangel und Tränen zur Folge hatte. Louise war eine schlechte Verliererin.
Yoyo hatte es sich auf Juts' Schoß gemütlich gemacht und schlief, und Buster schnarchte unter dem Kartentisch. Die alte Wanduhr in der Küche tickte; es war so still im Haus, daß Juts es hören konnte, obwohl sie im Wohnzimmer saß, eine Wolldecke um die Beine, um sich vor der Kälte zu schützen.
Sie hatte selten einen ruhigen Abend für sich. Gewöhnlich wollten Louise, Mary, Maizie oder Chessy etwas von ihr, und wenn nicht, riefen Freunde an oder kamen vorbei. Juts war gern unter Menschen, ganz besonders, wenn sie im Mittelpunkt stand, doch gelegentlich war sie sich selbst genug. So wie jetzt.
Sicher, sie war egozentrisch, aber sie war auch schlau genug zu wissen, daß die Welt sich nicht um sie drehte, so lieb es ihr auch gewesen wäre. Zucker, Kaffee und Benzin waren rationiert worden, eine Mahnung an sie und alle Übrigen, daß kleine Opfer gebracht werden mußten, damit andere Menschen größere bringen konnten. Letzte Woche hatte die Schlacht in der Javasee diese Opfer deutlich gemacht. Am 27. Februar, vergangenen Freitag, hatte ein kleines Geschwader von Schiffen der Alliierten die japanische Flotte angegriffen, die einen Invasionskonvoi schützte. Die zahlenmäßig unterlegenen Alliierten hatten den Kampf mit den Japanern aufgenommen. Am 1. März waren die alliierten Streitkräfte ausgelöscht. Die Evakuierung von Rangun schien so gut wie sicher.
Als Juts ihre Karten in einer Siebenerreihe für eine Patience auslegte, einem ihrer Lieblingsspiele, stellte sie sich vor, an Deck eines Zerstörers zu sein. Torpedos krachten in die Schiffsseiten, überall war der Geruch von Rauch und Flammen, ein Schiff hatte schwere Schlagseite, Männer schrieen, Kanonen feuerten, und über allem die entsetzliche Erkenntnis, daß sie untergingen, alle Mann an Deck. Sie fragte sich, ob die Angst die Oberhand gewann oder ob man so wütend wurde, daß man beschloß, so viele Feinde wie möglich mit in den Tod zu reißen.
Sie wollte den Tod nicht erkennen. Sie hoffte, er würde sich unverhofft an sie heranschleichen. Sie wollte sein Gesicht nicht sehen. Die armen Männer auf dem Grund der Javasee hatten dem Tod ins Auge geblickt.
Sie legte die Karovier auf eine Kreuzfünf. Dies würde eine lange Partie werden.
Über ihre Karten gebeugt, verscheuchte sie die Gedanken an den Tod. Sie dachte an Hansford. Sie hatte ihn rundheraus gefragt, was mit Josephine Holtzapple gewesen sei.
»Nichts.«
Mehr konnte sie nicht aus ihm herausquetschen, und Coras Antwort lautete: »Laß die Vergangenheit ruhen.«
Sie zog das Pikaß und das Herzaß. Sie hatte den Stapel in ihrer Hand noch gar nicht gebraucht. Das Spiel ließ sich gut an.
Yoyo drehte sich auf den Rücken, streckte eine Pfote in die Höhe, schlug die Augen auf und machte sie laut schnurrend wieder zu.
»Als ich das letzte Mal eine Patience gelegt habe, bist du auf den Tisch gesprungen und hast mir das Spiel verdorben.«
Yoyo schnurrte nur noch lauter.
Juts zog den Herzkönig, nachdem sie eine Karte plaziert hatte. Sie legte ihn an die Stelle links außen, die gerade frei geworden war, weil sie eine schwarze Sieben auf eine rote Acht hatte legen können.
Chessy wirkte in letzter Zeit reserviert. Sie schrieb dies seinem Termin bei Dr. Horning zu. Auch sie war nervös. Sie fühlte sich unvollständig ohne Kind. Um so schlimmer, daß Louise es ihr dauernd unter die Nase rieb. Juts hatte gedacht, die Ehe würde sie vollständig erfüllen. Sosehr sie Chessy liebte, die Ehe war nicht das allein Seligmachende, von dem sie geträumt hatte, als sie jung war.
Die Ehefrau mußte sie erst noch finden, die nicht für ihren Mann dachte. Manche Frauen mußten ihre Männer hintergehen, andere mußten sie sabotieren. Wieder andere verbrachten Tage, Wochen und Monate damit, ihren Männern weiszumachen, daß ihnen ein bestimmter Gedanke ganz von selbst gekommen sei, wenn er ihnen in Wirklichkeit von der Ehefrau eingepflanzt worden war. Das kostete sehr viel Energie. Chester konnte sie wenigstens direkt herumkommandieren.
Sie fragte sich, ob Männer unfähig waren, vorauszudenken, oder ob ihre Gedanken sich einfach vollkommen von denen der Frauen unterschieden. Sie dachte daran, ihr Haus abzuzahlen, Geld für den Notfall beiseite zu legen - nur tat sie es nie -, und dann dachte sie an ihre Freunde, ihre Feinde und schließlich an Kleider. Kleider machten Frauen. Daran glaubte sie fest, und sie war überzeugt, daß Louise von den maßgeblichen Leuten nie Ernst genommen würde, weil sie zu viel Mode schmuck trug. Caesura Frothingham trug ganz sicher zu viel Schmuck - dicke Klunker vor Sonnenuntergang. Wirklich schauerlich. Aber Louise fuhr für ein klirrendes Armband nach Baltimore und zurück. Um so besser, wenn auch die Ohrringe Töne von sich gaben.
Heute im Salon hatten Halskette, Armband, Ohrringe und Brosche einen solchen Lärm gemacht, daß Georgine Dingledine sie gebeten hatte, den Schmuck abzunehmen, solange sie sich an ihrem Kopf zu schaffen machte. Mit gequältem Lächeln hatte Louise das Armband vom Handgelenk gestreift - und dabei das Gummiband zerrissen, worauf kleine bemalte Holz- und Metallstückchen auf die Erde flogen. Das hatte ihr die Laune gründlich verdorben.
Juts konnte sich nicht erinnern, daß Chester jemals auf Kleidung geachtet hätte. Sie mußte ihn ins Bon-Ton schleppen, um ein Sakko oder eine Krawatte zu kaufen.
Tatsächlich konnte sie sich an keinen Mann erinnern, der Wert auf Kleidung legte. Sogar Millard Yost, der immer wie aus dem Ei gepellt aussah, wurde von Lillian eingekleidet.
Worüber sprach sie mit ihrem Mann? Hausarbeit, Geld, die Leute in der Stadt und ihren jeweiligen Tagesablauf. Sie fand das ausreichend, aber vielleicht sollte sie die Mühe auf sich nehmen, etwas über Stockcar-Rennen zu lernen. Chester und Paul waren beide begeisterte Anhänger der Rennen. Autos im Kreis herumfahren zu sehen, machte sie schwindlig, aber die beiden konnten sich stundenlang über das Thema auslassen.
Vielleicht fände er sie anziehender, wenn sie etwas über Stockcars lernte. Sie hatte gehört, daß die sexuelle Begierde von Männern mit solchen Taktiken neu entfacht werden konnte. Vielleicht hatten sie deswegen kein Kind.
Die Patience war aufgegangen, als er zur Hintertür hereinkam. Buster rappelte sich auf, um ihn zu begrüßen.
»Hallo, Schatz.«
»Hallo.« Sie hielt ihm ihre Wange zum Kuß hin. »Weißt du was, ich kann mit Zwischengas fahren.«
Er blinzelte. »Tatsächlich?«
»Ich kann auch eine Kurve auf zwei Rädern nehmen. Ich meine, ich sollte an Stockcar-Rennen für Damen teilnehmen.«
»Juts, du kannst Stockcar-Rennen nicht ausstehen.«
Sie sah auf ihre Karten, die jetzt in vier säuberlichen Häufchen lagen. »So - und was muß ich tun, um - hm - begehrenswert für dich zu sein?«
»Du bist begehrenswert für mich.«
»Schwarzer Unterrock?«
»Du brauchst keinen schwarzen Unterrock.« Er lächelte. »Was hat dich auf diesen Trichter gebracht?«
»Ich weiß nicht.« Sie hob die Karten auf und richtete die Kanten, indem sie mit dem Stapel auf die Tischplatte klopfte. »Du bist in letzter Zeit sehr abwesend.«
»Ach, Schatz, ich hab so viel im Kopf.«
»Ja, ich weiß, und ich bin scheint's nie drin.«
»Bist du wohl.« Er küßte sie auf den Mund.
Die Benzinrationierung tat Mary Miles Mundis' Drang zum Angeben keinen Abbruch. In einem neuen 1941er Pontiac V-8 Torpedo Coupe in sanftem Burgunderrot mit hellbraunem Zierstreifen und hellbrauner Innenausstattung kutschierte sie durch die Stadt. Harold hatte das Auto in Baltimore günstig erstanden, weil es seit Ende 1941 herumstand und der Händler, der für sein Inventar Steuern zahlte, es loswerden wollte. Die Benzinrationierung machte Autoverkäufern den Garaus, und die Autohersteller wandelten ihre Fabriken für Kriegsanstrengungen um. Neue Autos gab es keine.
Freilich fuhr Mary Miles Mundis mit dem Torpedo nur in der Stadt herum. Es gab nicht genug Benzin für weite Strecken, aber das war durchaus in ihrem Sinne. Der Hauptzweck des Automobils bestand nicht darin, als Transportmittel zu dienen, sondern den Neid ihrer Freundinnen zu schüren. Und das war ihr gelungen.
»Sieh mal einer an. Gondelt hier einfach durch die Gegend.« Louise schlug sich mit einem Kamm auf den Schenkel. »Mir würde das Auto besser stehen als ihr. Ihre Haare haben die falsche Farbe.«
»Sie wird sie passend färben«, sagte Toots Ryan.
Juts, die neben Louise und Toots am Fenster stand, sah dem schönen Wagen wehmütig nach. »Muß toll sein, so viel Geld zu haben.«
»So reich ist sie gar nicht. Wir sollen bloß glauben, daß sie reich ist. Harold ist Bauunternehmer. Seine Finanzlage muß die reinste Achterbahn sein.«
»Chessy sagt, am Krieg mit allem Drum und Dran wird Harold ein Vermögen verdienen. Er ist im Rennen um Regierungsaufträge in ganz Maryland, und weil wir so nah an Washington sind, hilft er persönlich mit ein paar Aufmerksamkeiten nach.«
»Das muß man Harold Mundis lassen, er hat Ehrgeiz«, bemerkte Toots.
»Ich wäre froh, wenn Pearlie ein bißchen mehr Biß hätte«, klagte Louise.
»Eins steht fest, mein Mann hat keinen und wird nie welchen haben. Er sagt, sobald man andere Leute einstellt, geht der Ärger richtig los.« Sie sah Mary Miles bremsen und die Rücklichter rot aufleuchten. »Was sind schon ein paar Sorgen gegen so viel Geld?«
»Wir kommen gut zurecht. Wir haben soweit keine Sorgen«, erklärte Louise. »Wir haben Flavius fast vollständig abbezahlt.«
»Frauen sind vernünftig.« Toots fuhr rasch mit der Zunge über die Zähne. »Männer verschwenden ihre Zeit damit, sich voreinander aufzublasen. Ich behaupte, sie sind mehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu imponieren als uns.«
Louise seufzte. »Ist eben eine Männerwelt.«
»Ja, und deswegen haben wir wieder Krieg«, erwiderte Juts spitz. »Mir ist es völlig schnuppe, wer an welchem Hebel sitzt. Ich meine, wenn man etwas kann, soll man es tun. Warum es in Männersache und Frauensache aufgeteilt ist, geht über meinen Verstand. Ich habe mehr Unternehmungsgeist als Chester. Ich liebe ihn über alles, aber er ist nicht der Typ, der anpackt, stimmt's?« Sie nickten, und sie fuhr fort: »Ich könnte wie Harold Mundis um Regierungsaufträge kämpfen, aber ich bekäme nicht mal einen Fuß in die Tür.«
»Du verstehst nichts vom Baugeschäft.« Louise blähte sich mächtig auf.
»Nein, aber es würde mir auch nichts nützen.«
»Deshalb ist es ja so wichtig, daß man eine gute Partie macht, Julia. Das hast du nie kapiert. Es kommt nicht drauf an, wie klug eine Frau ist. Wenn sie nicht mit dem richtigen Mann verheiratet ist, kann sie ihn auch nicht groß rausbringen. Dein ganzer Ehrgeiz kann Chester Smith kein Feuer unter den Hintern machen. Das habe ich dir schon 1927 gesagt.«
»Richard hat auch kein Feuer im Leib«, sagte Toots. Ihr Mann arbeitete beimClarion an der Laderampe.
»Sein Herz kann man nicht ändern.« Julia gab Louise unbeirrt Kontra.
»Ändern.Ignorieren. Männer sind wie Straßenbahnen, der nächste kommt bestimmt um die Ecke.« Theatralisch hielt sie inne. Sie senkte die Stimme. »Die Liebe spielt dabei die geringste Rolle - wirklich.«
»Bei dir.«
»Ich liebe meinen Mann, aber ohne Aussichten hätte ich ihn nicht geheiratet.« Sie kniff die Lippen zusammen. »Ich hatte Mommas Beispiel vor Augen. Ich wollte keinen Nichtstuer heiraten.«
»Ich habe eher den Eindruck, daß Hansford zu viel getan hat«, versetzte Juts bitter.
»Wir werden es nie erfahren. Sie halten alle dicht«, sagte Louise höhnisch. »Ach, wen kümmert's? Mich nicht. Bloß ein Haufen alte Leute, die rumsitzen und in Erinnerungen schwelgen. Erinnerungen sind das Einzige, was sie haben.«
»Louise, niemand weiß, was die Zukunft bringt. Es ist leichter, zurückzublicken.« Juts verschränkte die Arme.
»Das ist wahr.« Toots nickte. »Rillma sagt, manchmal fragt sie sich, ob Washington bombardiert wird. Man kann nie wissen.«
»Die Männer in Washington stehen doch bei ihr bestimmt Schlange.« Für einen flüchtigen Augenblick hätte Louise gern mit ihr getauscht.
»Sie hat ein Mitglied derFreien Franzosen kennengelernt. Er sieht gut aus, sagt sie. Bullette. Pierre? Louis? Ich hab's vergessen. Sie sagt, sie arbeitet rund um die Uhr, und Francis ist ein guter Chef. Er erinnert sie an Miss Chalfonte.>Mach es richtig oder mach es gar nicht.<«
»Da kommt sie wieder.« Juts lachte, als Mary Miles vorüberglitt.
»Wie oft ist sie heute Morgen wohl schon durch die Frederick Road gefahren?« Louise reckte den Hals. »Wenn sie in unsere Straße kommt, weiß man, sie fährt die Baltimore Street raus, kürzt durch die Gasse ab, kommt die Hanover Street runter und dann raus auf den Emmitsburg Pike. Sie sorgt dafür, daß sie von jedem einzelnen Menschen in dieser Stadt gesehen wird.«
Juts winkte für den Fall, daß Mary Miles zu ihnen hereinsah - was sie tatsächlich tat. Sie mußte einen Schlenker machen, um wieder auf die Straße zu gelangen. »Komisch, über Nacht ist der Frühling gekommen«, sagte Juts.
»Der Frühling und ihr neuer Pontiac.« Louise wischte die alten Nachrichten auf der Klatschzentrale ab. »Ich gebe wohl bekannt, daß Mary Miles ein neues Auto hat.«
»Lieber nicht«, riet Toots ihr.
»Ja, soll sie's doch selber tun«, meinte Juts. »Junge, heute ist aber auch gar nichts los. Fannie Jump hat sogar ihr Kartenspiel abgesagt. Frühlingsgefühle, nehme ich an.«
»Kommt überhaupt jemand?«, fragte Louise.
Juts ging zu dem großen Terminkalender und fuhr mit dem Finger die Spalte hinunter. »Keine Menschenseele. Ich würde sagen, nehmen wir uns den Rest des Tages frei. Ich habe auch Frühlingsgefühle.« Juts strich die Kalenderseite glatt. »Laßt uns irgendwohin fahren.«
»Wohin?«
»Ich weiß nicht. Irgendwo.«
»Wir haben kein Auto.«
»Wir brauchen uns nur an die Ecke zu stellen. Mary Miles kommt bestimmt wieder vorbei. Wir fahren per Anhalter.«
»Sie wird Doodlebug und Buster nicht im Auto haben wollen.«
Juts sah zu den aufwärts gewandten Hundegesichtern hinunter. »Ach, was soll's, machen wir einen Spaziergang.«
Sie bewunderten die Narzissen, die am Sockel des Konföderiertendenkmals aus der Erde lugten. Sie marschierten die Hanover Street hinunter, entschlossen, sich einen großen Appetit fürs Mittagessen zu holen. Buster bellte, drehte sich ein paar Mal im Kreis und setzte sich vor den Eingang zu Trudy Archers Tanzschule.
»Ist das nicht süß. Er möchte tanzen.« Julia Ellen lachte. Als sie pfiff, folgte er ihr und drehte sich noch einmal nach Trudys Tür um.
Ein Pappmond, eine Flasche Scotch und ein großes grünes Glas mit Badeschaum standen auf Trudy Archers Tisch. Den Mond und den Whisky hatte Chester ihr geschenkt. Das Schaumbad war ihre Idee gewesen.
Dienstags abends nach der Tanzstunde verließ er ihre Wohnung, um dann zu Fuß zurückzuschleichen. Manchmal nahm er Buster mit - sein Vorwand für einen Spaziergang. An den Abenden, wenn Juts beim Warndienst eingeteilt war, kam er spät nachts, wenn in Runnymede die Lichter in den Häusern erloschen, und ging vor Sonnenaufgang. Er kannte alle Einsatzpläne für den Warndienst, was seinen Umtrieben zugute kam. Wenn er Glück hatte, konnte er mit einem Mann von der Feuerwache mitfahren, am Wachturm vorbei; Trudy wohnte auf der Pennsylvania-Seite der Grenze. Dann stieg er im Stockdunkeln ein paar Straßen entfernt aus und lief rasch zu ihrer schmucken Wohnung.
Auf Chessys Klopfzeichen an der Hintertür - pa-pompa-pa- pom-pa - sprang Trudy auf. Sie ließ Chester und Buster rasch ein.
»Ich bin so froh, daß du da bist.« Sie schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn, dann führte sie ihn an der Hand ins Badezimmer, wo die mit schillernden Schaumblasen gefüllte Wanne einen außergewöhnlichen Abend verhieß.
Chessy war heute Abend mit der Absicht gekommen, die Affäre zu beenden. Jeden Dienstag wappnete er sich, um ihr zu sagen, es müsse Schluß sein, aber jeden Dienstag schmolz er in ihrer Gegenwart dahin. Dieser Dienstag bildete keine Ausnahme.
Er hatte festgestellt, daß er nicht an Juts dachte, wenn er bei Trudy war. Doch wenn er bei seiner Frau war, tagträumte er oft von Trudy, von ihrem geschmeidigen Körper und ihren grünen Augen. Weil Trudy neu für ihn war, dachte er öfter an sie. Er liebte Juts, obwohl er sich manchmal dermaßen über sie ärgerte, daß er Kopfweh bekam. Was ihn mit ihr verband, war ebenso sehr Loyalität wie Liebe. Juts ertrug die unaufhörlichen direkten und indirekten Beleidigungen seiner Mutter. Zudem war ihm auf Erden kein Erfolg beschieden, und sie fand sich damit ab, jeden Penny zweimal umdrehen zu müssen, was ihr bei ihrer Verschwendungssucht schwer fallen mußte. Sie kochte, putzte und gärtnerte, verrichtete die typischen Hausfrauenarbeiten auf ihre tatkräftige Art. Abgesehen davon, daß sie ihm sagte, was er zu tun und wie er es zu tun habe, fand er an seiner Frau nichts auszusetzen. Sosehr er Trudy begehrte, er konnte sich nicht vorstellen, einen Menschen zu verlassen, der sich nichts hatte zu Schulden kommen lassen. So etwas tat man nicht in Runnymede.
Als er sich in die Wanne gleiten ließ und Trudy ihm ein Glas Whisky reichte, schlug er sich die Sorgen aus dem Kopf.
Man lebt nur einmal, dachte er.
Sheriff Wheeler und Sheriff Nordness arbeiteten im Brandstiftungsfall von Noe Mojos Fleischlager eng zusammen. Beide Dienststellen sichteten sorgsam die vorliegenden Beweise und verhörten die Verdächtigen.
Anfangs hatte Harper Wheeler der allgemeinen Ansicht zugestimmt, daß es sich um einen dummen Streich handelte, der von Alkohol ebenso angefacht worden war wie vom Benzin. Harmon Nordness hüllte sich in Schweigen. Nicht, daß er jungen Männern, vom Angriff auf Pearl Harbor angestachelt, eine solche Tat nicht zutraute, doch die Beweise ließen eher auf jemanden schließen, der vorsätzlicher handelte als ein Jugendlicher, der Lumpen mit Benzin tränkte.
Die gemeinsame Arbeit der beiden Sheriffs ergab viele Fragen und wenig Antworten.
Harper saß auf Bumblebee Hill auf einem hochlehnigen Schaukelstuhl vor dem großen Kamin. Sanftes Zwielicht ergoß sich über die wogenden Hügel, aber die Abendtemperatur war unter fünf Grad gesunken. Das Feuer vertrieb die Kälte.
»Cora, danke für den heißen Kaffee. Sie kochen den besten Kaffee in ganz Runnymede.«
»Oh, danke, Harper. Wenn ihr Jungs mich nicht braucht, ich bin in der Küche.« Sie hatte sich vorgenommen, den kleinen Tisch am Fenster abzuschmirgeln und zu streichen. Ein dunkles Jägergrün wäre genau das Richtige, und sie wollte die Kante mit einem gelben Zierstreifen und kleinen Kringeln an den Ecken versehen.
Harper verschränkte die Hände wie im Gebet. »Hansford, ich stecke in einer Sackgasse. Ich rechne nicht damit, daß Sie mir helfen können, aber Sie sind der Letzte in Runnymede, den ich noch befragen muß.« Er kam ohne Umschweife zur Sache. »Wo waren Sie, als die Fleischfabrik brannte?«
»Hier - im Haus, bei Cora.«
»Ich wollte nicht andeuten, daß Sie es getan haben.«
»Hab ich auch nicht so verstanden. Es ist schließlich Ihre Aufgabe, jeden zu verdächtigen.« »Tja - allerdings.«
Gewitzt stellte Hansford seinerseits eine Frage: »Kennen Sie die Geschichte des Hauses, Sheriff?«
»Klar. Cassius Rife hat es vor dem Bürgerkrieg gebaut, und nach seinem Tod hat Brutus es weitergeführt.«
»Als Kaffeefabrik.« Hansford hustete und hielt sich ein frisch gebügeltes Taschentuch vor den Mund.
»Ja.«
»Kaffee ist wie die Börse, er hat Konjunkturen. Mit einer einzigen Ernte in Kolumbien kann man ein Vermögen verdienen oder verlieren. Ich nehme an, Cassius hat ein weiteres Vermögen verdient.«
»Ich dachte, es wäre bloß eine Kaffeefabrik gewesen, Sie wissen schon, wo die Bohnen gemahlen und verpackt werden.«
»Oh, war es auch. Aber er hat die grünen Bohnen in einem Eisenbahnwagon herbeigeschafft. Auf dem Gelände gibt es ein Nebengleis.«
»Das Gleis ist seit Ende der dreißiger Jahre stillgelegt.«
Hansford lehnte sich zurück und legte die Füße auf einen Schemel aus Strohgeflecht. Er ließ noch Platz für Harpers Füße. »Cassius hat die Fabrik lange vor meiner Geburt - 13. Februar 1869, der Vollständigkeit halber - gebaut. Als ich klein war, herrschte dort Hochbetrieb.
Ganz Runnymede war vom Duft nach frisch geröstetem Kaffee durchzogen. Entschieden besser als das Leben in Spring Grove, kann ich Ihnen sagen.« Er lachte. Spring Grove war eine Kleinstadt an der Route 116 nordöstlich von Runnymede, wo eine Papierfabrik den typischen Gestank kochender Pulpe verbreitete. »Das Geschäft florierte bis 1929, und dann war der alte Herr ja nicht mehr da. Er starb, hm« - er hob die Stimme - »Cora, wann ist Cassius Rife vor seinen Schöpfer getreten?«
»Muß um die Zeit von Julias Geburt gewesen sein. Vielleicht etwas nach 1905.«
»Hm« - Hansford zuckte die Achseln - »sagen wir mal irgendwann zwischen 1905 und 1908. Ich war jedenfalls noch hier, als er starb, also muß es spätestens 1908 gewesen sein. Brutus hat den Betrieb übernommen, die Konservenfabriken und natürlich die Rüstungsfabrik. Die Kaffeefabrik hat er verkauft, als die Marktpreise mal wieder im Keller waren.«
»Er hat sie 1915 an Van Düsen verkauft.«
»Carlottas Mann. Sah gut aus in einem Hemd von Arrow.« Damit wollte Hansford ausdrücken, daß in dem Hemd nicht viel drinsteckte.
»Dann hat Brutus sie fünf Jahre später zurückgekauft, für ein Zehntel des Preises, zu dem er sie losgeschlagen hatte; denn Van Düsen war nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen.« Harper lächelte. »Alles ganz legal.«
Hansford machte die Augen zu und wieder auf. »Brutus hat das kommen sehen, Sheriff, glauben Sie mir. Das gibt's nicht, daß ein Rife einen Profit nicht wittert. Die haben ja sogar am Tod verdient - überlegen Sie mal. Die sehen Geld, wo wir es gar nicht suchen.«
»Ich glaube nicht, daß Pole und Julius so schlau sind.«
Harper sprach von Napoleon Bonaparte Rife und seinem Bruder Julius Caesar Rife, die das Konglomerat gemeinsam leiteten. Ein dritter Bruder, Ulysses S. Grant Rife, hatte sich das Leben genommen, und der älteste Bruder, Robert E. Lee Rife, geboren 1899, war als Leiter der Stagecoach Bank nach San Francisco gezogen. Auch Julius und Pole hielten sich so wenig wie möglich in Runnymede auf, da sie die Verlockungen von New York City vorzogen.
»Jetzt habe ich ein bißchen in der Vergangenheit herumgestochert und ein paar Brocken zutage gefördert.« Mit seiner langsamen Sprechweise lullte Hansford Harper ein, der den Mann unterschätzte.
Harper erwiderte: »Es ist fraglich, ob die Versicherung zahlt, weil wir nicht herausfinden können, wer das vermaledeite Feuer gelegt hat. Julius und Pole machen mir die Hölle heiß. Man sollte meinen, die hätten genug Geld.«
Hansford zuckte die Achseln. »Ich sehe alles mit den Augen eines Bergmanns. Sie müssen hier tief schürfen, Harper, und wenn ich schürfen sage, meine ich schürfen.«
»Ich werde Ihren Rat beherzigen. Danke, Hansford.« Harper stand auf.
Auf die Armlehne des Sessels gestützt, stemmte sich Hansford hoch. »Versuchen die Rifes, aus Noe Geld rauszuquetschen?«
»Nein.«
»Das ist ungewöhnlich. Wie gesagt, Sie müssen tief schürfen und darauf achten, ob ein Armer plötzlich Geld hat.«
»Ich werde es beherzigen, wie gesagt.« Harper gab ihm die Hand und ging, ohne recht zu verstehen, worauf Hansford hinauswollte.
Tage kommen und gehen. Manchmal bleibt einer im Kopf haften wie Kaugummi an der Schuhsohle. Der 29. April war für Julia Ellen so ein Tag. Hitler und Mussolini trafen sich in Salzburg. Gab Julia auch vor, sich für das Tagesgeschehen zu interessieren, so interessierte sie sich doch weit mehr für ihre eigenen Angelegenheiten.
Louise war stolz auf Maizie, die in der Schule inzwischen sehr beliebt war. Die Unbeholfenheit der Vierzehnjährigen war mitunter schwer zu ertragen, doch da ihre gleichaltrigen Freundinnen selbst damit zu kämpfen hatten, fiel es ihnen gegenseitig nicht auf. Maizie war nicht nur bei den Mädchen beliebt, sondern auch bei den Jungen. Außerdem kümmerte sie sich um ihre betrübte Schwester.
Mary, ein hübsches Mädchen, fragte Maizie, was sie so beliebt mache. Maizie erwiderte: »Ich höre allen zu und unterbreche sie nicht.«
Zweifellos hatte sie Zuhören gelernt, weil ihre Mutter, ihre Tante und Mary sich gegenseitig die Redezeit streitig machten, aber das sagte sie nicht.
Wenn Juts gerade keine Kundinnen bediente, strich sie die großen Blumenkästen draußen vor dem Salon, hängte Körbe auf und arrangierte Blumen. Buster buddelte einen Kasten mit blaßgelben Tulpen aus und handelte sich dafür einen Klaps ein. Die beiden Schwestern arbeiteten fleißig an diesem Tag, angespornt durch die Tatsache, daß sie noch eine einzige Zahlung an Flavius Cadwalder zu leisten hatten, bevor sie schuldenfrei waren.
Als Juts sich nach Hause schleppte, war sie fix und fertig. Sie legte sich aufs Sofa und wollte dieTrumpet lesen, als Chester vorzeitig nach Hause kam.
»Hallo, Schatz«, rief sie.
»Hallo«, antwortete er aus der Küche. »Konnte früher weg. Möchtest du was trinken?«
»Nein, ich bin so müde, da würde ich glatt einschlafen.«
Sie hörte ihn Eiswürfel zerkleinern, dann erschien er mit einem Whiskey.
»Ich bin vollkommen erledigt.« Er setzte sich zu ihr aufs Sofa.
»Zieh bloß nicht die Schuhe aus. Das ist schlimmer als Senfgas.«
Er legte die Füße übereinander, seine Schuhe berührten fast ihr Gesicht. »Wir bauen Kampfflugzeuge, aber Stinkefüße können wir nicht kurieren.« Er schluckte. »He, wollen wir heute Abend ins Kino gehen?«
So geschlaucht sie auch war, die Energie für einen Kinobesuch brachte sie immer auf. Sie toupierte sich die Haare, während Chester seinen Whiskey austrank.
Sie kamen gerade rechtzeitig.
Nach der Vorstellung wirbelte ein dünner Nebel um den Runnymede Square.
»Wer ist heute Abend auf dem Turm?«
»Caesura und Pearlie.«
»Wie ist der denn da reingeraten?«
»Mir hat ein Mann gefehlt, da ist er eingesprungen. Schön ist es draußen heute Abend, nicht?« Sie schlenderten an der Bank vorüber, deren korinthische Säulen aus dem Nebel ragten.
»Bißchen feucht.«
Er hakte seine Frau unter. »Meine Untersuchungsergebnisse sind endlich gekommen.« Sie ging schweigend weiter, und er sagte: »Ich bin der Übeltäter. Es liegt an mir, daß wir keine Kinder haben können. Nicht genug Sperma.
Doc Horning meint, es könnte daher kommen, daß ich als Kind Mumps hatte.«
Julia sagte nichts. Sie blieben stehen, um die Auslagen im Schaufenster des Bon-Ton zu bewundern, eine Golfausrüstung vor einem täuschend echten Grün, wo die Flagge mit der Nummer 16 hing.
Als sie endlich sprach, war ihre erste Reaktion: »Hast du es deiner Mutter gesagt?«
»Nein. Das würde ich nie tun.«
»Ich kann nicht behaupten, daß ich überrascht bin, Chessy.« Sie drückte seinen Arm. »Irgendwas konnte nicht stimmen. Schließlich sind wir lange genug verheiratet, da hätte es ja mal klappen müssen, findest du nicht? Ich meine, es ist nicht so, daß wir's nicht geahnt hätten, aber jetzt haben wir Gewißheit.«
»Ja.«
»Wir können ein Kind adoptieren.«
»Das ist - nehmen wir es, wie es kommt, Julia. Meine Familie wird ein Adoptivkind nicht anerkennen.«
»Na und?«, entgegnete sie kampflustig.
»Meinst du nicht, daß ein Kind es dadurch sehr schwer hätte?«
»Das Lebenist schwer.«
»Du weichst mir aus.«
»Das Leben ist schwer. Das wird das Kind früh genug erkennen. So sehe ich das. Wenn wir das Kind lieben, wird es einen guten Start ins Leben haben. Wir müssen unser Bestes tun. Es ist mir schnurzegal, was deine Mutter denkt. Sie hat vom ersten Tag an kein gutes Haar an mir gelassen. Wir müssen ein Kind haben, Chester. Wenn es nicht bald geschieht, sind wir zu alt, um ein Kind aufzuziehen - dann sind wir zu festgefahren in unseren Gewohnheiten.«
»Schatz, gib mir etwas Zeit.«
»Wie viel Zeit?« Sie sah ihm ins Gesicht.
»Ich werde wissen, wann ich so weit bin.«
»Was ist das für eine Antwort?«
»Es ist die Einzige, die ich habe. Herrgott noch mal, Julia. Ich fühle mich abscheulich. Es ist alles meine Schuld. Ich muß das erst mal verkraften.«
»Es ist nicht deine Schuld. Es ist etwas in deinem Körper.«
»Ich habe aber das Gefühl, daß es meine Schuld ist.« Er hob ruckartig den Kopf. »Ich sage nicht nein, ich sage, ich brauche.« Er zuckte die Achseln. Gefühle auszudrücken lag ihm nicht. Er empfand viel, sagte aber wenig.
»Also gut.« Sie sprach nüchtern, als hätten sie eine Abmachung getroffen. »Hoffen wir, daß du es weißt, bevor ich die Geduld verliere.«
Er legte seinen Arm um sie, als sie die Straße überquerten und auf den Platz gingen. Der Nebel hatte George Gordon Meade eine Triefnase verpaßt.
Alle Jungs, die nach dem Angriff auf Pearl Harbor eingezogen worden waren, hatten ihre Grundausbildung absolviert. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die meisten von ihnen nach Übersee abkommandiert würden.
Rob McGrail und Doak Garten hatten die Schlacht um die Midway-Inseln verpaßt, zu ihrem großen Verdruß, denn die Zeitungen meldeten einen entscheidenden Sieg der Amerikaner; allerdings nahm man Kriegsnachrichten jetzt mit Vorbehalt auf. Sie waren zwar Kleinstädter, aber sie waren nicht dumm.
Der>Reichsprotektor von Böhmen und Mähren<, Reinhard Heydrich, war ermordet worden. Die Besatzungsmacht kündigte an, man werde das tschechische Dorf Lidice zerstören, als Vergeltung für die Ermordung eines Mannes, den die Deutschen selbst nicht leiden konnten. Die Engländer wurden in der Wüste überrollt, als die Deutschen nach Tobruk stürmten.
Unruhe ergriff die Amerikaner. Sie wollten jetzt kämpfen. Die Prozedur, Männer auszubilden, ausreichend Material aufzutreiben und über den Atlantik und den Pazifik zu schaffen, zog sich endlos hin.
Die Menschen tanzten länger, lachten lauter und waren ausgelassener denn je. Sie drehten dem Tod eine Nase, indem sie das Leben feierten. Julia tanzte am meisten von allen. Chester hatte seine Frau noch nicht mit seinen Tanzkünsten überrascht. Louise entdeckte Tanzveranstaltungen für sich; nicht, daß sie sie früher gemieden hätte, doch nun nahm sie vollen Herzens daran teil, weil sie, wie sie behauptete, die Moral hoben. Eigentlich tue sie es für die Jungs.
In diesem Jahr fiel der 15. Juni, der Runnymede-Tag, an dem man die Magna Carta feierte, auf einen Montag, was den Leuten ein verlängertes Wochenende bescherte. Der Festzug fand wie immer auf dem Runnymede Square statt, und die meisten Bewohner kleideten sich in Kostüme des dreizehnten Jahrhunderts, was bedeutete, in jede Menge gefärbte Bettlaken, die sie mit seidenen Zierkordeln umgürteten. Digby Vance mimte den König Johann, Millard Yost war der Anführer der Barone.
Die Brauereien lieferten Bierfässer, der Coca-Cola-Händler spendete alkoholfreie Getränke, und die Rifes kamen für die Hot Dogs auf. Nachdem König Johann seine wohlverdiente Strafe erhalten hatte, verging der Nachmittag mit Eierlaufen, Dreibeinwettläufen und Sackhüpfen.
Chester zwinkerte Trudy Archer zu, ging ihr aber aus dem Weg. Celeste und Ramelle siegten im Dreibeinwettlauf vor allen anderen, sogar vor den Kindern. Der Anblick der hoppelnden Celeste Chalfonte lähmte ihre Gegner.
Als die lange Dämmerung anbrach, spielte die Kapelle; Erwachsene und Kinder tanzten unter den sanft schwingenden Laternen. Julia Ellen und Louise hatten ab neun Uhr Dienst auf dem Turm, blieben aber bis zum letzten Lichtschimmer unten.
Als sie die Leiter hinaufkletterten, klang die Musik ganz entrückt. Juts schwenkte laut singend ihr Bein über die Seite des massiven Turmes. Als die Ältere meinte Louise, die Verantwortung zu tragen; sie prägte sich die Silhouetten der feindlichen Flugzeuge, die an einer Seite des Turmes lehnten, doppelt und dreifach ein. Juts überprüfte doppelt und dreifach den großen Suchscheinwerfer, das Flakgeschütz und die Sirene.
»Du hast sie doch in- und auswendig gelernt.«
»Kann nicht schaden, mein Gedächtnis aufzufrischen«, erwiderte Louise von oben herab.
»Wieviel hast du getrunken?«
»Ich trinke nicht.«
»Ach, wie konnte ich das vergessen«, lautete die sarkastische Antwort. Juts setzte sich.
»Wieviel hast du getrunken?«
»Ein Bier.« Was mindestens drei bedeutete. »Aber keine Bange. Ich hab's um sechs getrunken. Das hat sich längst verflüchtigt.«
»Wenn du die Leiter runter- und raufkletterst, weil du aufs Klo mußt, weiß ich, daß das wieder ein Juts-Spruch war.« Louise bezeichnete jede Schwindelei als Juts-Spruch.
Julia beugte sich über den Turm, um die Tanzenden unten zu beobachten. Ihr Fuß schlug den Takt mit. Die Farben der Kostüme - Scharlachrot, Königsblau, flammendes Orange, Gelb und Lila - regten ihre Phantasie an. Der Runnymede Square hätte wirklich ein Platz im mittelalterlichen England sein können.
»Glaubst du, die Toten hatten so viel Spaß wie wir?«
»Nein, sie sind tot.« Louise machte sich an ihrem Fernglas zu schaffen.
»Das meine ich nicht. Ich meine, als die Leute, die die Magna Carta unterzeichnet haben, noch lebten, glaubst du, da hatten sie so viel Spaß wie wir?«
Louise stellte sich neben ihre Schwester, um die Musik und das ausgelassene Treiben zu beobachten. »Ich weiß nicht. Sie hatten die>Einzig Wahre Kirche<, also wurden sie nicht von falschen Propheten in Versuchung geführt.«
Empört erwiderte Julia, eine laue, aber dennoch eine Protestantin: »Ich wette, sie haben bei Tanzmusik nicht an die Kirche gedacht. Ich wette, sie haben sich nicht um halb soviel Mist gesorgt wie wir. Und ich habe irgendwo gelesen - vielleicht in der Gesundheits-Kolumne der Zeitung - daß sie weniger Löcher in den Zähnen hatten, weil es keinen raffinierten Zucker gab. Ihre Süßigkeiten wurden mit Honig gemacht. Zuckerrohr kam mit der Neuen Welt auf. Da hast du's.«
»Was haben sie gemacht, wenn sie krank wurden? Gestorben sind sie. So war das.«
»Ach? Sterben tun wir auch - es dauert bloß länger. Weißt du, was ich noch denke?«
»Ich kann's kaum erwarten.« Louise erspähte Maizie, die mit einem Klassenkameraden tanzte, einem der zahlreichen BonBons.
»Ich glaube, wir wachsen unser Leben lang...«
Louise unterbrach sie. »Bei Junior McGrail war es sicher so. Sie hat zwei Chenille-Tagesdecken gebraucht, um sich einen Bademantel zu machen.«
»Das weiß ich noch. Und wenn wir nicht wachsen, schrumpfen wir.«
»Juts, du hast mehr als ein Bier getrunken.«
»Zwei, aber laß mich ausreden.«
»Dich ausreden lassen? Dann quatschst du die ganze Nacht.«
»Tu ich nicht, Louise, aber eins will ich dir sagen. Ich glaube, die Toten wachsen auch weiter. Wenn unsere Seelen unsere Körper verlassen, kann die Seele weiterlernen; wenn ich also mit Mamaw reden will, kann ich es tun, und das gilt für sie genauso wie für mich.« Juts sprach von ihrer verstorbenen Großmutter.
Da dies an Blasphemie grenzte, schwieg die streng dogmatische Louise eine Weile. »Da bin ich mir nicht sicher. Ich müßte Father O'Reilly fragen.«
»Denk doch selber.«
»Tu ich ja«, lautete die schnippische Antwort. Verärgert setzte Louise das Fernglas wieder an. »Ich traue meinen Augen nicht.«
»Was?«
»Chester tanzt.«
»Unmöglich.« Juts hielt einen Moment inne. »Es sei denn, jemand hat ihm zwölf Bier hinter die Binde gekippt. Er kann nicht tanzen.«
Sie griff nach dem Fernglas, aber Louise wehrte sie ab, weil sie am Himmel ein Dröhnen hörten. Louise suchte den Nachthimmel ab.
Julia plapperte weiter. »Muß jemand anders gewesen sein, nicht Chester.« Sie reckte den Hals, um in die samtige Dunkelheit zu spähen. »Louise.«
»Julia, sei still!« Louise suchte das Flugzeug. »Da ist es!«
»Es ist eins von uns.«
»Sei still!« Louise richtete das Fernglas auf das Flugzeug und hielt nach verräterischen Kennzeichen Ausschau. Eine große weiße Zahl war auf die Seite gepinselt, außerdem ein weißer Kreis mit einem weißen Stern darin. »Das ist eine Transportmaschine. Was hat die hier zu suchen?«
»Wollte wohl mal kurz zum Feiern runterkommen.« Juts wollte das Fernglas. »Vielleicht war das Wetter schlecht, dort, wo sie herkommt.«
»Kann sein.« Louise ließ das Fernglas sinken, das sie sich um den Hals gehängt hatte.
»Laß mich mal.« Juts griff nach dem Glas, und Louise streifte sich den Riemen über den Kopf.
Juts sah gar nicht erst nach dem Flugzeug. Sie richtete das Glas auf das Tanzvergnügen. »Er tanzt nicht. Er sitzt neben seiner Mutter, dieser Zicke.«
»Er hat mit seiner Mutter getanzt.«
»Mann, muß der voll sein.«
»Mir sah er nüchtern aus.«
»Vielleicht hat sie ihn geführt. Sie meint ja, das tut sie seit sechsunddreißig Jahren.«
»Ich sage dir, er hat mit seiner Mutter getanzt.«
Juts glaubte ihr nicht. Sie wechselte das Thema, wie immer, wenn sie Streit vermeiden oder Kritik aus dem Weg gehen wollte. »Ich hätte Lust, den alten Drachen zu fragen, was mit Hansford war. Möchtest du nicht auch ihr Gesicht sehen?«
»Nein. Das interessiert mich nicht.«
»Ach komm, Wheezer, er ist unser Vater.«
»Schöner Vater.«
Juts zuckte die Achseln. »Ich glaube, wir werden nie erfahren, was im Kopf eines anderen Menschen vorgeht. Vielleicht hatte er gute Gründe.«
»Seine Ausreden sind fadenscheinig. Ich verstehe nicht, warum du deine Zeit mit ihm verschwendest.«
»Weil er der einzige Vater ist, den wir haben, ob ein guter oder ein schlechter, und wenn er nicht mehr lebt, dann ist es vorbei. Dann werden wir nie erfahren, was er vom Leben gelernt hat.«
»Du hast es mit dem Lernen.«
»Manche lernen aus Büchern. Ich lerne von Menschen.«
»Und was hast du bis jetzt gelernt?«, fragte Louise herausfordernd.
»Daß jeder seine Gründe hat, egal, wie hirnverbrannt sie sein mögen. Die Leute denken eben, daß sie das Richtige tun. Adolf Hitler denkt, daß er das Richtige tut.«
»Das ist doch lächerlich. Das würde bedeuten, daß Hitler nicht Recht von Unrecht unterscheiden kann.«
»Das kann er. Er denkt, er hat Recht.«
»Das glaube ich nicht. Manche Menschen dienen dem Teufel.« »Ich glaube, manche Menschen dienen sich selbst - das kommt auf dasselbe raus.«
Louise rümpfte die Nase. Dieser Gedanke war neu für sie, und ihre erste Reaktion war stets, etwas Neues von sich zu weisen. Immerhin dachte sie darüber nach. »Ich weiß nicht.«
Sie saßen beisammen und lauschten. Von unten drang Gelächter herauf. Tränen liefen über Julia Ellens rosige Wangen.
Louise bemerkte es. »Juts, was hast du?«
»Ich weiß nicht.«
»Ist dir schlecht?« Louise wurde brummig. »Ich weiß, du hast zu viel getrunken. Dann quasselst du immer wie ein Wasserfall.«
»Hab ich nicht.« Juts hörte auf zu weinen. »Mir ist komisch, weiter nichts.«
»Wenn du hier oben auf dem Turm kotzt, wisch ich es nicht
weg.«
»Mir ist nicht schlecht!« Ihre Augen blitzten. »Ich bin irgendwie bedrückt. Louise, du kannst manchmal ein richtiges Miststück sein, weißt du das? Ich hacke nicht auf dir rum, wenn du bedrückt bist oder aus der Haut fährst.«
»Ich fahre nicht aus der Haut.« Louise reckte das Kinn.
»Von wegen.«
Louise überhörte das und fragte: »Was ist los?«
»Chester hat kein Wort mehr von einem Kind gesagt, seit er die Ergebnisse von Dr. Horning hat. Er sagt, er braucht Zeit, aber wie viel Zeit?«
»Es ist erst, hm - ein paar Wochen her. Dräng ihn nicht.«
»Ich habe keinen Ton gesagt.« Sie wischte sich die Tränen fort. »Wheezie, vielleicht liebt er mich nicht mehr. Wenn er mich liebte, würde er wissen, daß ein Kind mir alles bedeutet.«
»Er liebt dich. Vatersein ist für Männer scheinbar nicht so wichtig wie Muttersein für uns. Laß ihn in Ruhe.«
»Meinst du?«
»Männer sind wie Kinder, Juts. Ich weiß nicht, warum das nicht in deinen Kopf will. Du behandelst sie als Freunde, und das geht nicht. Chester ist ein großer Junge, also denkst du für ihn, gängelst ihn - verstehst du?«
»Gott, Louise, das ist so anstrengend. Ich möchte einen Mann, der selbständig entscheidet und handelt.«
»Den gibt es nicht.«
»Bei Pearlie scheint es zu klappen.«
»Ich treffe seine Verabredungen, ich führe seine Bücher, schmeiße den Haushalt, ich bestimme über große Anschaffungen - er ist zu unüberlegt -, und ich lege ihm jeden Morgen seine Kleidung zurecht. Worum muß er sich schon kümmern? Um gar nichts. Er braucht bloß morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Das wird sich nie ändern, Julia. Die Frauen haben die Männer seit undenklichen Zeiten im Griff.«
»Kein Wunder, daß wir fix und fertig sind.«
In der Tiefe der Nacht war nur noch die Musik von Patience Horney zu hören, die dem Freibier reichlich zugesprochen hatte. Sie lag mitten auf dem Platz ausgestreckt auf dem Rücken und sang aus Leibeskräften>Sweet Marie<. Gelegentlich variierte sie dies mit einer innigen Wiedergabe vonSilver Threads Among the Gold<.
Schließlich näherten sich beide Sheriffs dem Platz. Die Hälfte von Patience gehörte nach Pennsylvania und die andere nach Maryland. Patience war vermutlich der einzige betrunkene Mensch in der Geschichte der Vereinigten Staaten, der sich mitten auf der Mason-Dixon-Grenze schlafen gelegt hatte. Nach einem ausführlichen Disput, wo sie ihren Rausch ausschlafen sollte, im Nordgefängnis oder im Südgefängnis, schlossen die beiden Männer einen Kompromiß und fuhren sie nach Hause.
Sich wach zu halten verlangte allen, die beim Luftschutz Dienst taten, das Äußerste ab. Manchmal döste Juts ein, dann weckte Louise sie auf, und umgekehrt. Keine von beiden bemerkte, wie sich Chessy nach dem Fest mit Buster fortschlich. Wenn weder Chessy noch Juts nachts zu Hause waren, hatte dies die verheerende Folge, daß Yoyo wild herumwütete. Gewöhnlich kam Chessy früh genug nach Hause, um den Schaden zu beheben.
Gegen 0400 - Louise hatte sich angewöhnt, die Militärzeit zu verwenden - schliefen beide Schwestern im Sitzen, an die Seite des Turmes gelehnt. Louise schlug als Erste die Augen auf. Sie hörte ein merkwürdiges Geräusch. Sie blickte zum Himmel und sah preußisch-blaue Kumuluswolken über sich. Sie wußte, daß da oben Flugzeuge waren - nicht eins oder zwei, sondern ein ganzes Geschwader.
Sie rüttelte Julia. »Juts, Juts, aufwachen!«
»Häh?«
Louise war aufgesprungen und versuchte die Flugzeuge zu sichten, die jetzt näher kamen. Sie bemühte sich, durch ihr Fernglas etwas zu erkennen, aber die Wolken spielten Verstekken mit ihr.
Juts rappelte sich hoch, lauschte angestrengt auf das Geräusch, doch für sie klang es nicht nach Motoren; fest stand nur, daß da oben etwas war.
»Licht an«, befahl Louise.
Julia rollte hastig die Plane zurück und schaltete den großen Suchscheinwerfer ein, der jedoch einen Moment brauchte, um warm zu werden. »Scheiße, ist das Ding schwer.« Sie richtete ihn geradewegs in den Himmel.
»Kannst du ihn nicht rumdrehen - da drüben hin.«
»Laß die Kommandiererei.«
»Ich trage hier die Verantwortung«, fauchte Louise.
»Ach Quatsch.«
»Wenn das da oben feindliche Flugzeuge sind, wirst du für vieles geradestehen müssen.«
Das stopfte Juts den Mund. In zögerndem Gehorsam schwenkte sie den großen Scheinwerfer ächzend und stöhnend in Richtung des Lärms.
»Stukas!«, schrie Louise.
Die schwarzen Silhouetten in V-Formation hoch droben hätten die schlanken deutschen Sturzbomber sein können, deren Einsatz solch eine verheerende Wirkung hatte.
»Die Motoren hören sich aber komisch an.«
»Das liegt an der Höhe - Julia, halt weiter auf die Flugzeuge.«
»Ich hab sie in den Wolken verloren.«
»Bleib dran! Ich kurbel die Sirene.«
»Sollten wir nicht erst Gewißheit haben, bevor wir alle Leute aus den Betten jagen?«
»Besser,wir jagen sie raus als die Deutschen.« »Okay.« Julia stabilisierte den Scheinwerfer; ihre Schultern spannten sich, als sie versuchte, den Strahl in einen steileren Winkel zu bringen.
Louise kurbelte den dicken Holzgriff an der Sirene, und der tiefe Heulton, ein Ton des Schreckens in aller Welt, schrillte durch die Sommernacht.
»Louise! Louise!«, schrie Julia, doch Louise konnte sie bei dem ohrenbetäubenden Geheul nicht hören. »Es sind Kanadagänse!«
Die Menschen strömten in Nachthemden und Schlafanzügen, die Damen in pastellfarbenen Morgenröcken, aus ihren Häusern, als die Sirene die nächtliche Stille zerriß.
Juts klopfte Louise auf die Schulter. Sie hörte einen Moment auf zu kurbeln. »Kanadagänse!«, schrie Juts.
»Unmöglich.« Ihre Skepsis war durchaus berechtigt, denn diese schönen Vögel ziehen gewöhnlich im Frühjahr nach Norden und kehren im Herbst zurück.
Juts hielt den Scheinwerfer auf die Gänse gerichtet, die in die riesigen Wolken hinein und wieder hinaus segelten. »Guck doch selber!«
Louise sah die V-Formation direkt über ihren Köpfen fliegen. »Ogottogott.« Sie ließ das Fernglas sinken. »Julia, Julia, das darfst duniemandem erzählen.«
»Herrje, Louise, wir können die Leute nicht im Glauben lassen, daß es die Deutschen sind. Das bringt ganz Maryland in Aufruhr.«
»Das kannst du mir nicht antun!« Tränen kullerten ihr über die Wangen. »Kanadagänse«, weinte sie laut.
»Komm, Wheezer.« Juts überlegte und sagte: »Erzähl ihnen, es sind deutsche Gänse.« Sie hielt inne. »Jeder macht mal einen Fehler.«
»Aber nicht so einen.« Louise hob das Fernglas an die Augen. »O nein.« Dann nahm sie die Leute ins Visier. »O Gott!«
Die Menschen taumelten aus Hintertüren, kamen aus Haustüren gestürmt. Einige, die nach dem Runnymede-Tag vielleicht noch immer in Watte gepackt waren, sprangen aus dem Fenster.
Caesura Frothingham, die im Nachthemd mehr von sich enthüllte, als irgend jemand sehen wollte, kreischte: »Die bringen uns um«, just als Wheezie mit dem Flakgeschütz in die Luft schoß, um eine Attacke auf den Feind vorzutäuschen.
Mutter Smith wies zum Himmel, als Rupert sie zu Boden stieß.
Verna BonBon nahm erstaunlich ruhig jedes Haus in ihrer Straße ins Visier. Wenn sie keine bedrohlichen Gerausche hörte, würde sie sich nicht ins taunasse Gras legen.
Nachdem sie die Salve abgefeuert hatte, betrachtete Louise wieder mit dem Fernglas das Getümmel. Ein blecherner Ton schlich sich in ihre Stimme. »Juts - Juts, guck mal.«
In der Sekunde, da sie ihrer Schwester das Fernglas reichte und nach unten zeigte, wurde Louise klar, daß sie einen schrecklichen Schnitzer begangen hatte. Sie hätte diese Entdeckung für sich behalten sollen. Zu spät.
Juts richtete das Fernglas auf die Menschen unten, dann erfaßte sie, was Louises Blick auf sich gezogen hatte. Chessy kam von der Pennsylvania-Seite her die Straße heruntergerannt, begleitet von Buster. Etwa einen halben Häuserblock entfernt stand Trudy Archer in einem Spitzennachthemd und sah ihm nach. Juts gab ihrer Schwester das Fernglas zurück und stürzte zu dem großen Scheinwerfer. Unter Aufbietung aller Kräfte schwenkte sie den Strahl vom Himmel hinunter auf die Straßen, er streifte Lillian Yost, die Haare auf rosa Lockenwickler gerollt, und ließ Runnymede im schönsten Durcheinander erstrahlen.
»Hab ich ihn erwischt?«
»Haarscharf!«
»Auf frischer Tat«, sagte Juts mit zusammengebissenen Zähnen.
»Schwenk das Ding lieber wieder zum Himmel.«
»Ich will, daß er schmort.«
»Das wird er, aber wenn du es nicht wieder hoch schwenkst, schmoren auch wir.«
Juts stützte sich ab, indem sie einen Fuß gegen die Turmmauer stemmte, und wuchtete den heißen Scheinwerfer wieder gen Himmel. Das Gänsegeschrei erstarb, während das Geschrei unten an Lautstärke zunahm.
Die Erste, die sich am Fuß des Turmes einfand, war Fannie Jump Creighton, die gar nicht ins Bett gegangen war, oder richtiger, die nicht schlafen gegangen war. Der junge Mann an ihrer Seite war garantiert keinen Tag älter als achtzehn. Bei näherem Hinsehen entpuppte er sich als Roger Bitters, zwei Jahre jünger als sein Bruder Extra Billy.
»Was ist los?«, schrie Fannie hinauf.
»Stukas«, schrie Louise hinunter, »fliegen in etwa zehntausend Fuß, schätzungsweise.«
»Okay.« Fannie lief zur Feuerwache, um zu telefonieren. Harmon, dem heute Nacht kein Schlaf vergönnt war, hielt an, als sie ihm winkte. Sie steckte ihren Kopf durchs Fenster und teilte ihm mit, was Louise berichtet hatte. Er meldete es über Polizeifunk. Wohlweislich ließ er seine Scheinwerfer ausgeschaltet.
Verwirrt standen die Leute mitten auf der Straße. Caesura verharrte kauernd neben ihrem Wagen, um ja kein Risiko einzugehen. Die dicke weiße Cremeschicht, die sie sich aufs Gesicht geklatscht hatte, würde herumfliegende Trümmer absorbieren, ohne Caesura dadurch zu schaden.
Louise, nach ihrem Fauxpas nun wieder geistesgegenwärtig, kurbelte die Sirene und gab Entwarnung.
Sobald sie fertig war, kletterte Harper auf den Turm. »Was war los?«
Louise machte den Mund auf, der aber so trocken war, daß sie keinen Ton herausbrachte.
Juts gab rasch Auskunft: »Ein Geschwader deutscher Flugzeuge, in ungefähr zehntausend Fuß Höhe.«
»Konnten Sie sie erkennen?«
Louise nickte. »Stukas.«
Julia fügte hastig hinzu: »Ein Glück für uns, daß die Leute kein Licht gemacht haben, sobald wir Alarm schlugen. Die Verdunkelung hat uns gerettet.« Sie hörte ein Klappern unter sich, und als sie über die Kante lugte, sah sie, wie sich ihr Mann die Leiter hinaufhievte. Sie griff sich eine Thermoskanne und zielte direkt auf seinen Kopf. »Du elender Mistkerl!«
Harper blickte über die Kante. »Juts, er kann nichts dafür, daß er geschlafen hat. Beruhigen Sie sich. Der Anblick eines feindlichen Geschwaders bringt jeden aus der Fassung. Gut gemacht, meine Damen.«
Louise lächelte matt, aber Julia hatte eine Mission: Sie wollte ihren Mann umbringen.
Sie griff nach dem Fernglas. Louise entriß es ihr, Juts zog ihren Schuh aus und schlug ihn Chessy auf den Kopf.
»Julia«, rief er und klammerte sich an die Leiter. »Ich kann alles erklären.«
»Erklär es dem lieben Gott.« Sie zog den anderen Schuh aus.
Mit beunruhigender Schnelligkeit hatte sie zwei und zwei zusammengezählt: die Muschelohrringe und Chesters Tanz mit seiner Mutter.
Unten hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Louise packte ihre Schwester am Arm. »Das müssen Sie verstehen, Julia ist eine Kämpfernatur. Sie ist wütend, weil ich ihr mit dem Abfeuern des Flakgeschützes zuvorgekommen bin, stimmt's?« Eine bessere Geschichte fiel Louise nicht ein.
Juts blinzelte. »Ah.« Sie wandte sich an Harper. »Wir hatten sie, Harper. Wir hatten sie im Visier, aber die Wolken haben es uns vermasselt!«
Harper beugte sich herunter, hielt die Hände als Trichter an den Mund und rief: »Deutsche Flugzeuge. Es ist vorbei. Gehen Sie nach Hause.«
»Woher wissen wir, daß nicht noch mehr kommen?«, erwiderte Millard besonnen.
»Wissen wir nicht.« Louise beugte sich über die Kante, als Pearlie mit Mary und Maizie zum Turm gerannt kam. »Aber wir sind nicht ihr Ziel.«
Popeye Huffstetler, der seinen großen Durchbruch witterte, einen in mehreren Blättern erscheinenden Artikel mit seinem Namen unter der Überschrift, rief von unten so viele Fragen hinauf, daß Louise schließlich brüllte: »Popeye, ich werde Ihre Fragen alle beantworten, aber erst, wenn ich dem Chef vom Zivilen Luftschutz Bericht erstattet habe. Gehen Sie jetzt alle nach Hause.« Sie sah zu Chester hinunter. »Du kommst am besten mit mir, meinst du nicht?«
»Doch.«
Sie wandte sich an Juts. »Du mußt auch Bericht erstatten.«
»Mach ich.« Juts' Mund zitterte. Sie wußte nicht, ob sie schluchzen oder morden sollte.
Als sie die Leiter hinuntergeklettert waren und sich einen Weg durch die Menge zu Harpers Streifenwagen bahnten, ließ sich Julia nicht von Chester anfassen. Popeye folgte in seinem 1937er Chevy.
Louise erstattete pflichtschuldigst Bericht nach Hagerstown, wo sie Oberst Froling aufweckte. Dann beantworteten sie und Juts Popeyes hartnäckige Fragen. Buster saß geduldig neben Frauchens Knie. Chester stand hinter den Frauen. Louise war es gelungen, Pearlie zuzuflüstern, was geschehen war, daher hatte sich Pearlie neben Chester gestellt - für alle Fälle. Mary und Maizie hatte er nach Hause geschickt.
Millard Yost übernahm mit Roger Bitters, der sich freiwillig dazu erboten hatte, die Wache auf dem Turm. In Zeiten wie diesen durfte man den Turm nicht unbesetzt lassen.
Um halb sechs Uhr morgens waren die Berichte abgeschlossen.
»Komm, ich fahr dich nach Hause, Schatz.« Chester griff nach Julias Hand.
Sie zuckte zurück. »Ich gehe zu Fuß. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«
»Ich bring dich nach Hause«, sagte Louise und warf Chester einen bösen Blick zu. »Wir treffen uns dort.« Zu allen Übrigen sagte sie: »Wir sind erledigt, und ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß wir keine Angst hatten.«
Als die Gruppe ihnen Platz machte, atmete Juts tief durch und sagte: »Ich komme mir vor wie das Räderwerk schwerer Zeiten.«
Die Geschichte wurde zusammen mit Bildern der Hunsenmeir-Schwestern über die Nachrichtenagenturen UPI, AP und Reuters verbreitet. Am nächsten Tag wurden Juts und Louise so belagert, daß sie ihre Türen abschlossen.
Popeye, dessen Bericht von einer Nachrichtenagentur aufgegriffen wurde, war im siebten Blätterhimmel.
Das Drama der Untreue entfaltet sich selten hinter geschlossenen Türen. Wie das langsame Zischen aus einem porösen Reifen sickert die Kunde durch. Während Mutter Smith öffentlich der Heiligkeit des Ehestandes das Wort redete, gelang es ihr, ein paar Erklärungen dafür auszustreuen, weshalb Männer fremdgehen. Es müsse an der Frau liegen. Insgeheim weidete sie sich an Julia Ellens Kummer.
Sie machte sogar eine höhnische Bemerkung, als sie und ihr Mann Chester eines Tages besuchten, während Julia einkaufen war. Sie liefen im Garten umher, bemerkten die Gemüsebeete, und Rupert fragte seinen Sohn: »Was hat sie da angepflanzt?« Josephine antwortete hochmütig: »Saure Trauben.« Chester schwieg, wie immer.
Louise war erschrocken über den Verfall ihrer Schwester und fühlte mit ihr. Aus Mitgefühl wurde Ermunterung, was schließlich im Befehl mündete. »Jetzt krieg dich wieder ein.«
Juts schaffte es nicht.
Cora kümmerte sich besonders intensiv um ihre jüngere Tochter, und sogar Celeste, die sich häuslichem Morast gewöhnlich fern hielt, war um Julia besorgt und sagte zu Cora: »Der Kummer ist ihr aufs Gemüt geschlagen. Sie zieht sich in sich zurück. Es muß doch etwas geben, das wir tun können.«
»Was lange währt, wird endlich gut«, antwortete Cora.
»Was lange gärt, wird endlich Wut«, entgegnete Celeste, wobei sie überlegte, ob Wut helfen würde. Da sie Monogamie für eine schöne Illusion hielt, zog sie es vor, sich nicht darüber auszulassen. Aber Julia glaubte mit Herz und Seele an die Treue, und dieser unbedingte Glaube wurde nun für alle schmerzlich sichtbar. Gewöhnlich wurde Juts aufgrund ihrer Aufsässigkeit und Lebenslust unterschätzt, dabei war sie sehr empfindsam, und diesmal konnte sie ihre Gefühle nicht verbergen.
Es war, als sei ihr Geist gelähmt. Sie stand morgens auf, machte Frühstück, ging zur Arbeit, kam nach Hause, spielte mit Yoyo und Buster, aber das Leben bewegte sich weder vorwärts noch rückwärts.
Hansford hatte ein langes Gespräch mit Chester, der seine Untreue bereute. Er brach die Beziehung zu Trudy ab, und er weinte, weil er fürchtete, Juts für immer verloren zu haben. Sie blieb bei ihm, doch sie traute ihm nicht mehr.
Seine Mutter bedeutete ihm, er solle fortgehen. Das konnte er nicht. Er hatte den Menschen betrogen, der ihn am meisten liebte und von dem Tag an zu ihm gehalten hatte, da sie vor den Traualtar getreten waren.
Wenngleich seine Freunde sagten, so etwas passiere nun mal, konnte er weder das drückende Schuldgefühl abschütteln noch die Angst beim Anblick des Körpers seiner Frau. Sie verfiel zusehends.
Er ging mit ihr ins Kino. Bei einer sentimentalen Schnulze schluchzte sie so heftig, daß sie den Saal verlassen mußten. Die Zuschauer taten, als merkten sie es nicht. Bis zum nächsten Morgen hatte sich die Geschichte in ganz Runnymede herumgesprochen.
Auch Trudy Archer verlor ein paar Pfund. Sie liebte Chester, egal, wie hoffnungslos die Lage war. Nach geraumer Zeit fing sie an, mit Senior Epstein auszugehen. Der Juwelier war so begeistert von der weiblichen Gesellschaft, daß ihn ihr Status alsgefallene Frau< wenig kümmerte. Die Tanzschule profitierte gewaltig. Die Hälfte der Männer von Runnymede kam vorbei. So abwegig es war, aus schierer Furcht begleiteten die Frauen ihre Männer. Erloschene Ehevulkane brachen plötzlich aus. Unversehens hatte Trudy so mancher Verbindung eingeheizt.
Extra Billy fielen Julia Ellens Magerkeit und ihre traurigen Augen auf, als er auf Urlaub nach Hause kam, bevor er hinaus in den Pazifik verschifft wurde. Mary, die zu jung war, um zu verstehen, warum ihre Tante am Boden zerstört war, verzichtete auf Drängen ihrer Mutter auf eine kostbare Stunde mit ihrem Mann, um Juts zu besuchen. Mary war vor lauter Sorge selbst fast so dünn geworden wie Julia. Sie war klug genug, um zu wissen, daß Extra Billy bald ins Dickicht der Gefechte abkommandiert wurde.
Zwei Jahre vergingen, in denen Juts' Verfassung von tiefem Gram zu Dumpfheit und schließlich zu Wut überging. Allmählich genoß sie es wieder, ihre eingerostete Macht über ihren Mann auszuüben. Immerhin war sie das unschuldige Opfer und er die Verkörperung der männlichen Sünde. Chester nahm dies als Teil seiner Strafe hin. Juts legte ein bißchen zu und sah nicht mehr so abgezehrt aus. Viele führten ihre wiederhergestellte Gesundheit darauf zurück, daß Trudy und Senior Epstein im Juni 1944 heirateten. Jacob junior schickte ein Telegramm von der französischen Grenze und wünschte seinem Vater alles Gute.
Viele junge Männer aus der Grenzstadt meldeten sich zum Militär, kaum daß sie die High School hinter sich gebracht hatten. Andere rissen nach York oder Baltimore aus, gaben ein falsches Alter an und wurden schon mit sechzehn eingezogen.
Zeb Vance wurde bei einem Manöverunfall in der Heimat verwundet. Ray Parker, ein Panzerkanonier, fiel in der Nähe der deutschen Grenze im Kampf. Tom West verlor beim Sturm auf ein MG-Schützennest einen Teil seines Unterkiefers. Die Sorgen schweißten die Menschen enger zusammen. Nur wenige waren frei von Angst.
Rob McGrail landete in der Marinekapelle, was ihn schrecklich erzürnte. Er wollte kämpfen, zum Erstaunen derjenigen, die ihn als dickes, faules Kind in Erinnerung hatten. Das Soldatenleben härtete ihn ab und verlieh ihm in männlicher Gesellschaft eine gewisse Forschheit. Rob entwickelte sich zu einem gut aussehenden jungen Mann. Aber es ärgerte ihn, vor Würdenträgern auf dem Glockenspiel klimpern zu müssen.
Doak Garten wurde auf einem U-Boot zum Küchendienst verpflichtet. Rassendiskriminierung gab es unter Wasser genauso wie an Land, doch Doak, ein ungemein selbstbeherrschter Mensch, unterdrückte seine Verbitterung. Er war stolz darauf, seinem Land zu dienen, und ertrug die Wasserbomben so tapfer wie jeder andere an Bord. Wenn er auch keine Gleichstellung erringen mochte, so errang er sich doch Respekt. Das war ein Anfang. Als er auf Urlaub nach Hause kam, versprach er seinen Angehörigen, wenn der Krieg zu Ende sei, werde er es zu etwas bringen. Sie erwiderten, das sei ihm bereits gelungen.
Vaughn Cadwalder, im Kampf zum Leutnant befördert, wurde zweimal verwundet. Eine Kugel durchdrang seine Wade. Er ließ sich von den Ärzten zusammennähen und kehrte mit einer Drainage in der Wunde zu seiner Einheit zurück. Beim nächsten Mal wurde seine Schulter getroffen, die Kugel blieb im Schlüsselbein stecken. Die Ärzte schnitten das Blei heraus, verbanden ihn, fixierten seinen Arm in einer Schlinge, und wieder machte er sich davon, ohne auf die Einwände der Ärzte zu hören. Vaughn hatte für sich entdeckt, daß er der geborene Krieger war. Selbst als die Deutschen ihm beide Beine wegschossen und ihn zum Krüppel machten, kroch er weiter zum MG-Nest. Sein Zug nahm das Nest ein. Vaughn wurde mit der Silbersternmedaille ausgezeichnet.
Joe BonBon kämpfte in Italien. Seine wenigen Briefe waren voll des Staunens über die Schönheit des Landes und die komplette Beschränktheit seiner Führer.
Edgar Frost flog als Kopilot B-17-Bomber über Deutschland. Er wurde zum Captain befördert. Er haßte den Krieg, er haßte es, den Tod auf Menschen abzuwerfen, die er nicht sehen konnte, aber noch mehr haßte er Hitler und das, was er einem Land antat, das Edgar als Student der University of Maryland besucht hatte. Wenn dies die einzige Möglichkeit war, das Übel zu beenden, mußte es sein.
Es war, als hielte Runnymede kollektiv für seine Söhne und neuerdings auch seine Töchter den Atem an. Vicky BonBon ging mit ihren Brüdern zum Militär. Auch sie wurde nach Europa abkommandiert. Spottiswood Chalfonte, die das Dasein eines Glamourgirls in Hollywood gründlich satt hatte, warf den Krempel hin, wurde Lazarettschwester und diente auf den Philippinen. Was sie vom Krieg zu sehen bekam, waren die Wunden, innerlich und äußerlich.
Das Blatt hatte sich gewendet. Nachdem die Alliierten 1941, 1942 und sogar noch 1943 eine Niederlage nach der anderen eingesteckt hatten, drängten sie nun die Achsenmächte zurück.
Obwohl die Menschen in Runnymede, Spokane und Pueblo - ebenso wie in Medicine Hat, Rostow am Don oder Keswick, in Auckland oder Melbourne, überall, wo Alliierte waren - wußten, daß ihre Seite siegte, fürchtete jede einzelne Menschenseele die Tode, die noch kommen würden. Das Blatt hatte sich gewendet, aber es war immer noch blutrot.
Und so erschien der geringfügige Ehrverlust einer Frau in der Tat winzig klein, sogar für die Frau selbst. Rillma Ryan hatte Mitte März erfahren, daß sie schwanger war, ohne die Segnungen der Ehe. Sie weigerte sich, den Namen des Vaters preiszugeben, allerdings wurde hinter vorgehaltener Hand der Name Ballette genannt. Rillma konnte sich zu keiner Entscheidung durchringen. Sie war glücklich, ängstlich und schrecklich durcheinander. Ihre Mutter und Celeste Chalfonte fuhren gemeinsam mit dem Zug nach Washington. Rillma wollte das Kind behalten, doch Toots und Celeste rieten ihr ab. Sie würde überstürzt heiraten und ein unglückliches Leben mit dem falschen Partner in Kauf nehmen oder sich als ledige Mutter durchschlagen müssen. Das sei der sichere Weg in die Armut. Oder sie könne in den Westen ziehen und einen im Kampf gefallenen Vater erfinden - doch früher oder später komme selbst im entferntesten Winkel der Welt die Wahrheit ans Licht.
Rillma, die ihr Kind trotzdem behalten wollte, lenkte schließlich ein, als Celeste sie an etwas erinnerte. »Du hast einmal gesagt, du würdest alles für mich tun. Weißt du noch?«
»Ja«, erwiderte Rillma erstaunlich gefaßt.
»Dann wünsche ich, daß du Juts das Baby gibst. Chester hat sich mit einer Adoption einverstanden erklärt.«
Erst da brach Rillma zusammen. Doch sie ging auf Celestes Bedingungen ein. Das Merkwürdige war, daß niemand sich fragte, warum Celeste Chalfonte die Sache in die Hand genommen hatte. Sie waren daran gewöhnt, daß Celeste das Kommando führte.
Und so wurde Juts endlich Mutter. Chester betete, das Baby möge die Wunden heilen. Er suchte Rat bei Pastor Neely, weil er fürchtete, aufgrund seines Treuebruchs für die schwere Verantwortung der Vaterschaft ungeeignet zu sein. Pastor Neely erwiderte nur, daß es in einem solchen Fall wenig Väter in Runnymede gäbe.
Louise, die mit sich haderte, ob sie ein uneheliches Kind - das schließlich ein Vetter oder eine Cousine ersten Grades von Marys kleinem Oderuss wäre - in der Familie anerkennen sollte, suchte ebenfalls geistlichen Beistand. Father O'Reilly sagte ihr, die Sünde laste auf den Eltern, nicht auf dem Kind, und mit diesem Segen unterstützte sie von ganzem Herzen den Gedanken, das namenlose Kind gewissermaßen zu einem Hunsenmeir zu machen.
Cora und Hansford strichen fröhlich ein Zimmer in Julias Haus, förderten alte Babysachen zutage und bereiteten alles für die Ankunft vor. Sie strichen das Zimmer in einem hübschen Blaßgelb, was für einen Jungen ebenso angemessen war wie für ein Mädchen.
Mutter Smith kochte vor Mißbilligung. Selbst Rupert empörte sich über sie, obgleich auch er nicht von der Vorstellung erbaut war, daß ein uneheliches Kind den Namen Smith tragen sollte.
Der Engel kam am 28. November 1944 in einem kleinen, abgelegenen Krankenhaus zur Welt. Ein winziges Mädchen. Es war ein regnerischer, kalter Tag, ein Tag der Freude und der Trauer; am Vorabend hatte Celeste Chalfonte, dickköpfig und des Wartens auf das Baby müde, beschlossen, trotz der einbrechenden Dämmerung auszureiten und über Zäune zu setzen. Sie brach sich den Hals und war auf der Stelle tot. Sie bekam das Baby, dessen Adoption sie vorangetrieben hatte, nie zu sehen. Trotz ihrer Erschütterung und ihres Kummers versprach Ramelle Louise, als Patin des Kindes einzuspringen.
Juts weinte doppelt, über den Verlust von Celeste und aus Freude über das Baby.
Dieser 28. November sollte sich als denkwürdiger Tag erweisen, befrachtet mit Ereignissen und Bedeutungen, die sich erst mit den Jahren herausschälen würden. Rillma Ryan stahl sich mitten in der Nacht aus dem Krankenhaus und flüchtete mit ihrem noch namenlosen Kind.
In Wut und Verzweiflung machten sich Juts, Chessy, Louise und Toots auf die Suche nach dem Kind. Als Rillma schließlich drei Wochen später zur Vernunft kam, kam sie nach Hause gekrochen und erklärte, sie habe das Kind in einem katholischen Waisenhaus in Pittsburgh zurückgelassen. Alle legten ihre Bezugscheine für das rationierte Benzin zusammen, und Chessy und Louise fuhren hin, um das Baby abzuholen. Sie gaben sich als Ehepaar aus; sie habe ihn bei einer Affäre erwischt - dies war die Geschichte, die sie auftischten -, sei aber willens, sein Kind anzunehmen.
Julia hatte sich infolge der Aufregungen eine Lungenentzündung zugezogen und mußte in Busters, Yoyos, Marys, Maizies und Pearlies Obhut zu Hause bleiben.
Auf der Rückfahrt von Pittsburgh setzte ein tosender Schneesturm ein. Der Säugling wog nur viereinhalb Pfund. Dies war mit ein Grund, weshalb die braven Nonnen froh waren, die Kleine fortzugeben. Quer durch den Staat Pennsylvania hielten Chessy und Louise an, wo immer ein Licht brannte, an Tankstellen, an Bauernhöfen, um für den Säugling Milch zu ergattern und aufzuwärmen. Nicht einer wies sie ab, und viele schenkten ihnen Benzingutscheine, damit sie sicher nach Runnymede zurückkehrten.
Dort angekommen, brachten sie das Kind auf der Stelle zu Dr. Horning. Erschöpft brach Louise in heftiges Schluchzen aus, als der Arzt sie bat, Juts das Baby nicht zu bringen. Warum sollte sie Liebe für ein Kind entwickeln, das mit Sicherheit sterben würde?
Chester, mit dunklen Ringen unter den Augen, nahm Dr. Horning mit zitternden Händen das Baby ab und gelobte: »Dieses Kind wird nicht sterben. Sagen Sie mir, was ich zu tun habe.«
Und so stand Chester Smith in den folgenden sechs Monaten jede Nacht alle drei Stunden auf, um das magere Ding mit einer bestimmten Rezeptur zu füttern. Julia Ellen genas binnen eines Monats, und auch sie fütterte das Baby rund um die Uhr. Sie beklagten sich nie über den Mangel an Schlaf. Manchmal standen beide zur gleichen Zeit auf, obwohl einer die Gelegenheit zum Schlafen hätte nutzen sollen. Sie hielten das Mädchen gern zusammen im Arm. Bis zum 8. Mai war Nicole Rae Smith, von allen Nickel genannt, schließlich so dick, daß sie aussah wie ein Sumoringer. Sie war so gesund, daß sie in Daddys Armen mit ganz Runnymede den Tag des Sieges feiern konnte. Die Leute weinten, schrieen und tranken. Bestimmt würde die Welt von jetzt an eine Bessere sein.
Und Julia Ellen kehrte ins Reich der Lebenden zurück. Julia, die Chesterfield im Mundwinkel, Julia, die immer eine dicke Lippe riskierte, Julia, die ungehorsam war und bis zum Morgengrauen tanzte - Julia Ellen war endlich Mutter.