TEIL DREI

53

Die Fliederzweige bogen sich unter dem Gewicht zahlloser bunter Schmetterlinge, die sich auf den nahrhaften Blüten nie­dergelassen hatten: rot gefleckte Schillerfalter, deren knalliges Blau sich fächerförmig über die schwarzen Flügelspitzen aus­breitete; gelbe und schwarze Schwalbenschwänze, die wie ele­gante Tänzer über den duftenden blaßlila Blüten schwebten; ein riesengroßer Ritterfalter mit einem schmalen gelben Band, das sich waagerecht von Spitze zu Spitze über die schwarzen Flügel zog. Eckenfalter, bescheidener in der Farbgebung, nicht aber in der Musterung, flogen so dicht an Nickels kleinen Ohren, daß der Lufthauch der Flügel sie kitzelte. Es wimmelte von schwe­felgelben Schmetterlingen, von blauen Faltern in allen Schattie­rungen, von Dickkopffaltern und Postillions, Bläulingen, Pfau­enaugen, Weißlingen und Schachbrettfaltern, Weidenbohrern und winzigen seidengewächsfarbenen Schmetterlingen.

Jedes Mal, wenn das zweijährige Mädchen einen Schmetter­ling haschen wollte, entwischte er ihr flatternd. Yoyo, die dem zweibeinigen Neuzugang inzwischen sehr gewogen war, rekelte sich auf der Seite unter dem Fliederstrauch. Zu träge, um einen Schmetterling zu fangen, sah sie ihnen genüßlich beim Gaukeln zu, während ihre Schwanzspitze wippte, als spiele der Wind mit ihr. Ein übermütiger orangegelber Chrysipusfalter schwirrte an ihrer Nase vorbei. Yoyo schlug lässig nach ihm und verfehlte ihn.

Yoyo und Buster waren die beiden besten Freunde des Kin­des, Louises Doodlebug war der Dritte im Bunde. Sie spielte mit anderen kleinen Kindern: ihrem zwei Jahre älteren Cousin Oderuss, dem kleinen Jackson Frost, der auch zwei Jahre älter war, Robert Marker, ein Jahr älter, und Ursula Vance, ebenfalls ein Jahr älter.

Nickel konnte schon früh laufen. Sie hatte eine außergewöhn­liche Körperbeherrschung. Doch sie sprach kaum, was Juts dermaßen beunruhigte, daß sie mit dem Kind zum Arzt ging, der befand, daß ihr Kehlkopf und ihre Stimmbänder in Ordnung seien und ihre geistigen Fähigkeiten für ihr Alter überdurch­schnittlich schienen. Er kam zu dem Schluß, daß Nicole Smith einfach kein Bedürfnis hatte zu reden. In Wahrheit spielte sie so viel mit Yoyo und Buster, daß Worte sich erübrigten.

»Nein« war ihr allerdings geläufig, und sie machte energisch Gebrauch von diesem Wort, wann immer Juts oder Louise sie zu etwas drängen wollten, das sie nicht interessierte, wie zum Beispiel Puppen. Sie wollte auch keine Babynahrung in Glä­schen zu sich nehmen, die man ihr als kulinarischen Leckerbis­sen anbot. Schlimmer noch, das Kind mochte keine Milch. Julia Ellen fürchtete, sie würde austrocknen, denn sobald sie sie von ihrer Spezialrezeptur entwöhnt hatte, wollte sie nur noch Was­ser trinken. Deshalb gab Juts ihr Coca-Cola ins Babyfläschchen, und Nickel gluckste vergnügt. Wenn andere Mütter ihre unkon­ventionellen Methoden kritisierten, erwidert sie: »Dann seht doch zu, wie ihr mit ihr fertig werdet.«

Nach wenigen Versuchen, der Kleinen ihren Willen aufzu­zwingen, gaben es Mary Miles Mundis, Frances Finster, Lillian Yost und andere passionierte Mütter bald auf, sich mit dem kleinen Lockenkopf zu beschäftigen. Lillian hatte ihr erstes Kind 1943 durch eine Fieberkrankheit verloren, jedoch ein Jahr später einen gesunden Jungen zur Welt gebracht, und sie und Julia sahen ihren ungefähr gleichaltrigen Knirpsen oft gemein­sam beim Herumkrabbeln zu. Millard junior, kurz Mill, war ein süßes Baby mit flammend roten Haaren und so unglaublich vielen Sommersprossen, daß er aussah wie ein Schecke.

Nickel hatte nichts gegen kleine Kinder in ihrem Alter, doch sie fühlte sich mehr zu Tieren und gelegentlich zu Erwachsenen hingezogen. Sie hatte die beunruhigende Angewohnheit, reglos und stumm dazusitzen und mit ihren braunen Augen jede Be­wegung der Erwachsenen zu verfolgen.

Sie liebte Cora, aber Hansford war ihr unheimlich; sein Bart kratzte. Sie himmelte Ramelle an und klatschte jedes Mal in die Hände, wenn die gertenschlanke grauhaarige Schönheit er­schien.

Mary und der inzwischen aufsässigen Maizie schenkte sie kaum Beachtung, doch Pearlie und Extra Billy zockelte sie hin­terher. Sie lächelte, wenn Louise ihr einen Hundekeks gab. Dann ließ sie sich auf die Erde plumpsen und versuchte, den Keks zu mampfen wie Buster oder Doodlebug. Sie brachte auch Oderuss dazu, einen Keks zu essen, was Mary nicht gerade für Nicky einnahm. Geduldig warteten die Hunde, bis sie ihre Tro­phäe Leid war oder Oderuss den Keks hinwarf und liegen ließ, und dann schnappte ihn sich einer von ihnen. Wenn das Kind weinte, warf Buster zu aller, besonders Yoyos Erstaunen den Keks Nickel wieder vor die Füße.

Tante Dimps prophezeite, das Kind werde später einmal Tier­dompteuse. Ramelle trug Nickel in den Stall, setzte sie auf ein Pferd und hielt sie fest. Nickel zeigte keine Furcht, worauf Ra­melle erklärte, das Kind würde einmal eine so gute Reiterin wie Celeste. Louise sagte, Nickel werde Schriftstellerin, worauf alle lachten, da Julia Ellen schon beim Schreiben eines Einkaufszet­tels Zustände bekam. Das einzige Buch im Hause Smith war die Bibel, von der Julia keinen Gebrauch machte. Cora erklärte allen, Nickel werde, was sie werden wolle. Sie habe ihren eige­nen Willen.

Die Einzige, die sich jeglicher Vorraussagen enthielt, war Mutter Smith. Sie weigerte sich, die Kleine zu sehen, auch ließ sie Chessy mit dem unehelichen Kind nicht in ihr Haus. Rupert schien sich so oder so nicht für dieses Thema zu interessieren, doch er rauchte stärker und kippte ein paar Whiskey mehr als sonst. Chester besuchte seine Mutter weiterhin gehorsam jeden Dienstag, aber ansonsten zu keiner anderen Zeit, ungeachtet ihrer flehentlichen Bitten und gelegentlichen Wutausbrüche. Mutter Smith wurde immer verbitterter, doch da sie in diesem Leben keine Freundschaften gepflegt hatte, kümmerte es nie­manden.

Zwei Soldaten, die 1945 auf Urlaub durch Runnymede kamen, verliebten sich in die Stadt. Sobald Pierre und Bob aus der Ar­mee entlassen waren, erwarben sie den SalonCurl 'n' Twirl von den Hunsenmeirs. Juts steckte ihre Hälfte des Geldes in Sparob­ligationen für Nickel; es war das einzige Mal in ihrem Leben, daß sie Vernunft bewies. Zur allgemeinen Überraschung schlug Louise über die Stränge und kaufte sich ein eigenes Auto. Pear­lie wäre fast gestorben. Erst recht, als er mit ihr mitfuhr. Loui­ses Buick Coupe, in einem schönen Jagdgrün, erregte sie wie kaum etwas in ihrem Leben.

Eines Nachmittags, als Juts es satt hatte, hinter Nickel herzu­laufen, ließ sie sich in den weißen Liegestuhl fallen. Louise hielt in der Einfahrt und stieß den Zweisigpfiff aus.

»Ich bin im Garten«, antwortete Juts auf das Signal, das sie seit ihrer Kindheit benutzten.

Buster eilte hinaus, um Doodlebug zu begrüßen. Yoyo blieb, wo sie war. Kein Hund lohnte die Anstrengung.

Louise, die Handtasche am Arm - Schuhe, Tasche, Hand­schuhe und Hut waren aufeinander abgestimmt -, trippelte in den Garten und rief beim Anblick der Schmetterlingswolke: »So etwas habe ich ja noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht.«

»Das mußt du fotografieren.«

»Ich bin zu müde, um den Apparat zu holen.«

»Ich hol ihn.« Louise huschte in die Vorratskammer, wo Juts die kleine schwarze Rollfilmkamera aufbewahrte. Als sie zu­rückkam, machte sie Schnappschüsse von Nickel, wie sie nach Schmetterlingen haschte und sich mit Buster und Doodlebug im Gras wälzte. Auf einer Aufnahme, von der sie hoffte, daß sie gelungen sei, sprang das Kind in die Luft, den großen Zebra­Schwalbenschwanz, der mit voll ausgebreiteten Flügeln auf den großen Papaubaum hinter dem Fliederstrauch zusteuerte, eben außer Reichweite.

Juts klatschte rhythmisch in die Hände. »Tanz, Nicky, tanz für Tante Wheezer.«

Nickel ließ von der Schmetterlingsjagd ab und drehte sich zu den Erwachsenen um. Sie stemmte die Hände in die Hüften.

Louise animierte sie ebenfalls und sang: »Backe backe Ku­chen.« Juts sang mit.

Das Kind hob die Hände über den Kopf und machte ein paar Ausfallschritte; Doodlebug und Buster jaulten und kläfften, einer rechts von ihr, einer links.

Yoyo, entrüstet über dieses Getue, blieb reglos unter dem Flieder liegen. Nach dem Tanz warf sich Nickel auf die Erde und gurrte: »Miezekätzchen.«

Yoyo gähnte.

Nickel kroch vorsichtig zur Katze und legte sich hin, den Kopf auf den Händen, um es Yoyo gleichzutun, deren pelziger Kopf auf den Vorderpfoten ruhte.

Louise knipste drauflos. Dann setzte auch sie sich hin und leg­te den Fotoapparat auf den niedrigen weißen Holztisch. »Diese Energie. Wo haben sie die her?«

»Ich weiß nicht. Aber ich könnte was davon gebrauchen. Wenn wir nicht eingespannt wären - ich meine, wenn wir tun könnten, was unser Körper will -, dann wären wir bestimmt mehr wie sie.«

»Wer weiß.« Louise zog ihre Schuhe aus. »Maizies Konzert ist Ende Mai. Nicht vergessen.«

»Nein.«

»Sie ist sehr von sich eingenommen, das kann ich dir sagen. Maizie hat sich, hm, nach dem kleinen Zwischenfall in der Klo­sterschule auf Musik verlegt.« Der kleine Zwischenfall bestand darin, daß Maizie ihr Zimmer in Brand gesteckt hatte und von der Schule geflogen war. Louise zog es vor, sich nicht näher darüber auszulassen. »Du meine Güte. Jetzt will sie nach New York und im Symphonieorchester spielen. Mit lauter Yankees. Ich habe ihr gesagt, sie würde sich hundsmiserabel fühlen und reumütig nach Hause gekrochen kommen.«

»Sie sind zwar Yankees, aber musikalische Yankees, und wenn sie es schafft, nun, dann hat sie erst recht meinen Re­spekt.«

»Ich will nicht, daß meine Tochter so weit weg ist, in so einer großen lauten Stadt.«

»Hm, in Baltimore ist auch nicht gerade Totenstille.«

»Baltimore ist zivilisiert. Dort gibt es noch Familien.«

Sie wollte damit sagen, daß es dort Menschen mit einwand­freien Ahnentafeln gab, die bis zu Lord Baltimore zurückreich­ten, was Louise auch für sich selbst in Anspruch nahm. Sie verschwieg die Familiengeschichte der Hunsenmeirs, die gera­dewegs zu einem hessischen Soldaten führte, einem Söldner, der sich, da er genug von König Georg hatte und von Maryland angetan war, kurzerhand von der Truppe entfernt hatte.

»In New York gibt es auch Familien. Schließlich haben sie den Colony Club, den Knickerbocker Club und...«

Louise fiel ihr ins Wort. »Das ist nicht dasselbe.«

»Ist es wohl.«

»Nein, ist es nicht. Viele der Leute dort sind auf merkantilem Wege zu Geld gekommen.« Louise bediente sich eines ge­schraubten Vokabulars, um ihren gesellschaftlichen Status zu erhöhen. »Und außerdem stammen viele von Kriegsgewinnlern ab, die noch schlimmer sind als das Rife-Gesindel.«

Juts winkte ab. »Wenn du meinst.«

»Komm mir bloß nicht so. Ich kann's nicht ausstehen, wenn du so bist. Abstammung ist wichtig.« Sie schniefte. »Und New York ist voller Juden.«

»Na und?«

»Julia, wenn Maizie nun mit einer Person jüdischen Glaubens anbändelte? Das geht einfach nicht.«

»Jesus war Jude.«

»Ach, dummes Zeug. Es gibt den einen Wahren Glauben, die eine Wahre Kirche und nur den einen Weg. Früher oder später wirst du deinen Irrweg bereuen. Und Jesus war kein Jude. Er war Christ.«

Juts setzte sich aufrecht hin, ihre Müdigkeit schlug in Verär­gerung um. »Wo warst du heute Morgen, bei der Beichte? Wir kauen diesen frommen Scheiß jetzt einmal die Woche durch. Rund zwei Stunden lang glaubst du, du seiest frei von Sünde.«

Louise verschränkte die Arme. »Ich will mich nicht streiten.«

Juts witterte Unrat. »Louise, was hast du angestellt?«

»Nichts.« Ihre Stimme schwang sich in die Luft wie ein Schmetterling.

»Louise.« Juts zog den Namen ihrer Schwester in die Länge. »Louise Alverta - ich kenne dich.«

»Nichts.« Louise schüttelte den Kopf.

»Eine Affäre?« Juts hoffte auf etwas Aufregendes.

»Wie kannst du so etwas auch nur denken?«

»So was kommt vor.« Julia senkte die Stimme, ihre Hoffnung schwand dahin.

»Du mußt es ja wissen.«

»He, ich war's nicht!«

Wheezie fand selbst, daß ihre Bemerkung gemein war. »Du hast Recht. Aber Julia, du hast nichts als Sex im Kopf.« »Ist ja nicht wahr. Ich höre bloß gern Geschichten. Findest du es nicht faszinierend, wer sich mit wem einläßt?«

»Nein«, log Wheezie, und was für eine Lüge!

»Ach komm.«

»Durchaus nicht.«

»Als ob es dir egal wäre, daß Rob McGrail dauernd mit Pierre und Bob zusammen ist. Jungs unter sich.«

»Bloß weil sie schwul sind, heißt es noch lange nicht, daß sie so sind.«

»Na gut. Mary Miles Mundis nimmt jeden Tag Tennisstunden. Findest du das nicht merkwürdig?«

»Jeden Tag eine?«

»Der Tennislehrer sieht tausendmal besser aus als Harold, auch wenn Harold mehr Geld hat als Gott.«

Louise beugte sich vor, gierig nach Klatsch, sah jedoch ein, daß ihr Eifer Juts nur bestätigen würde. »Ich denke kaum an solche Sachen. Du hast eine schmutzige Phantasie.«

»Hört, hört!«

»Ich geh nach Hause.« Doch sie rührte sich nicht vom Fleck.

»Warum bist du hergekommen?«

»Um meine Schwester zu sehen.«

»Natürlich.« Juts blickte um sich. »Wo ist Nickel?«

»Sie muß hinter die Garage gegangen sein. Hier ist sie nicht.«

»Dann ist sie wohl ins Haus spaziert.«

»Sie ist zu klein, um an den Türknauf zu kommen.«

»Wo sie auch ist, Buster und Doodlebug sind bei ihr.«

Wheezie stand auf und ging ums Haus, Juts schaute in die Nachbargärten. Louise kam zurück. »Juts, ich weiß nicht, wo sie ist.«

»Weit kann sie nicht sein. Die kleinen Beinchen können nicht so schnell laufen.« Julia rannte zum Bürgersteig und dort, mit­ten auf der Straße, spielte Nickel. »Nicky«, rief sie, »bleib, wo du bist«, und stürmte los.

»Sag ihr, sie soll von der Straße runtergehen!« Louise sprinte­te hinter ihrer Schwester her. Juts langte bei der Kleinen an und nahm sie auf den Arm; die Hunde sprangen an ihr hoch. »Nicky, du darfst nicht weggehen, ohne es Mummy zu sagen - und geh nie auf die Straße.«

Louise kam hinzu, aufgeschreckt, mit rotem Gesicht. Sie drohte mit dem Finger. »Daß du das nie wieder tust!«

Nickel drohte ihrer Tante unerschrocken zurück.

»Juts, du mußt das Kind bestrafen, und zwargleich.«

»Sei nicht patzig zu Tante Wheezie, Kind.« Juts zog ihre Zi­garetten aus der Tasche ihres Hauskleids. Sie zündete sich eine an und gab Nickel eine zum Spielen.

»Nein, Julia, du mußt ihr den Hintern versohlen. Dasselbe sa­ge ich Mary wegen Oderuss. Sei streng. Sei konsequent. Nicky ist weggelaufen. Sie ist trotzig. Sie hätte umkommen können!«

»Ich versohle sie erst, wenn sie es noch einmal tut.«

»Du ziehst einen Satansbraten groß. Du hast nicht die leiseste Ahnung von Mutterschaft«, klagte Louise, immer noch aufge­wühlt, als sie zum Haus zurückgingen. »Aber was sollte ich auch anderes erwarten?«

»Was soll das denn bitte heißen?«

»Nun ja, du hast das Kind nicht in dir getragen. Es ist etwas anderes, wenn Kinder in einem wachsen.« Louise zog ihren letzten Trumpf aus dem Ärmel.

»Schwachsinn.«

»Siehst du, eine richtige Mutter würde vor einem Kind nicht fluchen.«

Julia lief rot an und zischte: »Halt deine gottverdammte Klap­pe.«

»Ich muß doch sehr bitten.« Louises Stimme klang hohl.

»Du wirst mich noch um was ganz anderes bitten. Du hast deine Kinder auf deine Art erzogen, und ich erziehe mein Kind auf meine Art. Und komm mir bloß nicht noch einmal mit die­sem Mist von wegen es muß in einem wachsen, sonst helfe mir Gott, ich schlag dir deine gesamten Goldfüllungen in die Gur­gel.«

»Sei doch nicht so empfindlich.«

»Wenn du denken würdest, bevor du den Mund aufmachst, kämst du nicht halb so oft in Schwierigkeiten.« Juts rempelte Louise mit der Schulter an und zwang ihre Schwester, das Ge­wicht zu verlagern.

»Wer im Glashaus sitzt.«

»... soll nicht mit Steinen werfen.«

»Der Spatz in der Hand.«

». ist besser als die Taube auf dem Dach. Gleich und Gleich.«

».gesellt sich gern.«

»Ein rollender Stein.«

». setzt kein Moos an.« Wheezie lächelte, als sie das Latten­tor aufstießen. Sie betrachtete Nickel, die nicht wie eine Hun­senmeir aussah, obwohl Rillma mütterlicherseits, von der irisch-maurischen Seite her, mit Cora verwandt war. Ihr kam der Gedanke, daß es für ein braunäugiges Kind womöglich be­fremdlich war, mit Eltern aufzuwachsen, die beide blonde Haa­re und strahlend graue Augen hatten. Wenn Louises Töchter sie ansahen, konnten sie gewissermaßen sich selbst wiedererken­nen; das Gefühl würde Nickel nie kennen. Louise war über­zeugt, daß dies ins Gewicht fiel. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß sich das Kind ohne solche Bindungen und Erwartun­gen unter Umständen freier fühlte.

»Louise, Mutter zu sein ist viel schwerer, als ich gedacht hat­te, aber Kindererziehung hat nichts mit Abstammung zu tun.« Juts hatte nach diesem Schrecken nicht die Kraft, Louise zu­sammenzustauchen.

»Siehst du nicht, daß alles, was du jetzt tust, später auf dich zurückfällt? Du kannst das Kind nicht ohne Zügel.«

»Ich hab nur eine Sekunde nicht hingeguckt.«

»Das genügt. Denk dran, was Tadja BonBon passiert ist.« Tadjas kleiner Junge war im Jahr zuvor im Schwimmbad er­trunken. Sie war nur einen Augenblick lang abgelenkt gewesen. Alle hatten ihr die Schuld gegeben, was das Ganze noch schlimmer machte. »Ich möchte nicht, daß du noch mehr Kummer hast, als du ohnehin schon hattest. Sie ist ein eigensin­niges kleines Ding, und sie braucht eine starke Hand. Sie sind wie Tiere, Julia, du mußt sie im Griff haben, sonst stellen sie alles auf den Kopf, verpulvern dein Geld und gehen fort, ohne auch nur danke zu sagen. Mein Gott, sieh dir die Bitters­Sippschaft an. Extra Billy ist der Einzige, der sich bemüht hat, etwas aus sich zu machen, und er ist immer noch reichlich un­geschliffen. Du mußt standhaft bleiben.«

Juts erwiderte: »Manchmal habe ich den Eindruck, du hast lauter Perlen ohne Schnur.«

54

Grün wogte das Gras auf den Wiesen. Daß der Frühling sich auch dieses Jahr beeilt hatte, verhieß einen guten Start für die Ernte, und die Bauern prophezeiten, wenn das Wetter sich hiel­te, würden sie dreimal reichlich Heu einfahren können.

Chester lebte nach der Devise>Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben<. Abends arbeitete er an der Vollendung der Sattelkammer von Harry Mundis. Harry wollte wie ein engli­scher Lord leben. Freilich hatten die echten englischen Lords in zwei Weltkriegen so viel verloren, daß viele in kalten Häusern froren, um Heizkosten zu sparen. Schlimmer noch, manche teilten ihre großen Güter auf. Harry jedoch verdiente sich dumm und dämlich, zuerst mit Regierungsaufträgen während des Krie­ges und danach mit dem Abriß derselben Gebäude und dem Verkauf des Materials an Bauunternehmer. Das war nicht unge­setzlich, solange er das Material als gebraucht deklarierte, und das tat er. Da Geld nach dem Krieg knapp war, war mancher froh, Ziegelsteine, Bauholz, Seitenwandungen und Dachrinnen zu reduzierten Preisen zu bekommen. Den Stahl hortete er.

Mundis' Aufstieg zum glanzvollen Konkurrenten der Rifes und Chalfontes rief Bewunderung, Neid und sogar Verwirrung hervor. Mary Miles gehörte zu den Verwirrten. Sie hing an ih­ren alten Freundinnen, ihren alten Gewohnheiten; auch ihr altes Haus hatte ihr besser gefallen. Sie hatte nichts gegen Geld, im Gegenteil, aber sie sah keinen Grund, mit ihrem Reichtum zu protzen - außer, wenn es um neue Autos ging. Wie die meisten Menschen ihrer Generation, die vor der Erfindung des Verbren­nungsmotors geboren waren, schwärmte sie für Autos.

Als die schrägen Sonnenstrahlen lange goldene Schatten war­fen, machte Chester Feierabend. Er fuhr über den Platz und hielt an, um sich zu vergewissern, daß die Eisenwarenhandlung ab­geschlossen war. Trudy sperrte gerade das Juweliergeschäft ihres Gatten zu. Chester wandte den Blick ab. Seit dem peinli­chen Abend des Luftangriffs hatte er nur das eine Mal mit ihr gesprochen, als er die Affäre beendete.

Lange Zeit hatte er sich gefühlt wie ein Toter. Alle hatten sich nur um Juts gekümmert. Niemand hatte seinen Kummer beach­tet. Er bezweifelte nicht, daß auch Trudy sich eine Zeit lang schrecklich gefühlt - und ihn wie die Pest gehaßt hatte. Als sie Senior Epstein heiratete, war er zugleich eifersüchtig und er­leichtert gewesen. Jacob, ein guter Mensch, war nicht mehr einsam, und Trudy hatte einen zuverlässigen Ehemann.

Chester hatte sich nie vorgestellt, wie schwierig es war, das Ehegelöbnis zu halten. Er schwankte zwischen Scham und dem Glauben, daß es so verwerflich nicht war, dem Leben mehr Glück abringen zu wollen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß dieses Glück entsprechendes Leid verursachen würde.

Doch eins war sicher: Er liebte sein kleines Mädchen. Als er die Tür öffnete, stürmte Buster herbei, Juts rief aus der Küche, und Nicky lief zu ihm, so schnell ihre Beine sie trugen. »Dad­dy!« Es klang nicht unbedingt wie »Daddy«, aber er wußte, was sie meinte.

»Wie geht's meinem Cowboy? Was macht meine Beste?« Er gab ihr einen Kuß und schwenkte sie herum. Sie quietschte. Buster sah interessiert zu. Chester gab ihr noch einen Kuß und ließ sie herunter, aber sie klammerte sich an sein Bein. So ging er mit dem zweijährigen Klotz am Bein in die Küche. »Hast du schon mal so einen großen Floh gesehen?«

Juts lachte. »Dein großer Floh war heute ein ungezogenes Mädchen.«

»So?« Er schüttelte sein Bein, was abermals entzücktes Quiet­schen auslöste.

»Sie ist zur Ecke spaziert und hat sich mitten auf die Straße gesetzt, und Chessy, ich schwöre - Louise ist meine Zeugin, sie war dabei -, ich habe sie höchstens ein Sekündchen aus den Augen gelassen.«

»Hast du das wirklich getan?«

Nickel schüttelte den Kopf.

»Sie hat mich so erschreckt, daß ich zwei Aspirin nehmen mußte. Ich hab trotzdem noch Kopfschmerzen. Man muß sie an die Leine nehmen.«

Chester hob Nicky hoch. »Du bist kein großer Floh. Du bist ein Hündchen. Was meinst du, soll ich dir so eine Leine besor­gen wie Busters?«

Darauf nickte sie, dann schlang sie die Arme um seinen Hals und legte ihre Wange an seine.

Chester hatte nicht gewußt, daß eine solche Liebe existierte. Er wußte nur, daß das Vatersein sein Leben ein für alle Mal verändert hatte. Endlich fühlte er sich als Mann. Er ging Kon­flikten aus dem Weg, wenn er konnte, doch wenn es sich nicht vermeiden ließ, rückte er ihnen neuerdings ohne Umschweife zu Leibe. Dies entging weder seiner Frau noch seiner Mutter oder seinen Freunden - so wenig wie sein glückliches Strahlen, wenn irgend jemand Nickys Namen erwähnte: So schnell wie Chester zog kein anderer in Maryland ein Foto seiner Tochter hervor, dem wunderbarsten, schönsten, klügsten kleinen Mäd­chen auf der Welt. Gelegentlich war sie auch das böseste. Und sie schweißte ihn und Juts wieder zusammen.

»Nicht auf der Straße spielen, Cowboy.«

Sie sah ihn ernst an. »Äh - « Ihre Sprechkünste waren noch nicht so weit gediehen, daß sie hätte erklären können, weshalb sie mitten auf die Straße wollte.

»Wie wär's mit Hühnersuppe zum Abendessen?«

Juts überlegte kurz. »Bißchen warm dafür, oder?«

»Ist mir egal, Schatz, du kennst mich doch. Ich esse alles. Fressen oder gefressen werden.« Er stellte Nicky auf den Bo­den, aber sie klammerte sich gleich wieder an ihn.

Julia legte den Finger der Länge nach an die Nase, eine eigen­artige Geste, die sie Celeste Chalfonte abgeschaut hatte. »Ich brate ein Huhn und.« Das Klingeln des Telefons brachte sie aus dem Konzept. »Mist, ich hab nasse Hände.«

»Ich geh dran.« Er wartete ab, bis es zweimal geklingelt hatte, ihr Signal des Gemeinschaftsanschlusses, dann eilte er zum Treppenabsatz und nahm ab. Er hörte einen Augenblick zu. »Wir sind gleich da.«

»Juts, Hansford ist.« - er wägte seine Worte - »zusammen­gebrochen.«

Sie trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und warf es sich über die Schulter, stellte rasch den Herd aus, dann sah sie Nickel an. Juts wußte nicht, was sie erwartete, wenn sie zu ihrer Mutter kamen. Was bedeutete »zusammengebrochen«?

»Vielleicht sollten wir das Kind lieber nicht mitnehmen. Ob Ramelle wohl auf sie aufpassen kann?«

Sanft sagte er: »Ich glaube nicht, daß dazu Zeit ist, Schatz.«

Sie fuhren zu Cora. Später hatte Juts überhaupt keine Erinne­rung an die Fahrt. Sie fühlte sich, als sei sie unter Wasser, aber sie wußte nicht, warum. Sie hatte gedacht, sie mache sich nichts aus Hansford. Daß Louises Auto schon da war, beruhigte und ängstigte sie zugleich.

Chester trug Nickel hinein. Ihre Augen weiteten sich. Sie spürte die aufgewühlte Stimmung. Chester überließ das Kind Mary, die mit Extra Billy, dem kleinen Oderuss und Maizie im Wohnzimmer saß, und folgte seiner Frau in das kleine Schlaf­zimmer. Hansford saß im Bett und atmete mühevoll. Cora tupf­te ihm mit kalten Tüchern die Stirn ab. Juts setzte sich an die andere Bettseite, Louise stand am Fußende, mit dem Gesicht zu Hansford.

Sein qualvolles Röcheln vibrierte im Raum. Trotz der Schmerzen und der Atemnot war bei er klarem Verstand. Er streckte Julia Ellen seine Hand hin; sie nahm sie und brach in Tränen aus. Er tätschelte ihr die Hand.

»Hab keine Angst, Pop«, weinte sie. »Du wirst wieder ge­sund.«

Er lächelte sie an. Es war das erste Mal, daß sie ihn Pop ge­nannt hatte.

Chester stand neben Juts. Paul trug die Wasserschüssel in die Küche und kam mit einer anderen zurück, in der Eiswürfel schwammen. Louise rührte sich nicht vom Fleck.

»Die Kinder!«, japste Hansford.

Endlich kam Louise zu sich. Sie holte Mary, Maizie, Oderuss und Nickel.

Maizie kniete sich neben Cora zu ihrem Großvater. Er berühr­te ihren Kopf, als würde er sie salben. Mary mochte nicht nie­derknien, aber er griff nach ihrer Hand, und sie überließ sie ihm. Oderuss versteckte das Gesicht hinter seinen Händen. Als Nickel zu wimmern anfing, nahm Chester sie Mary ab. Hansford deutete auf das Kind, und Chester ließ sich auf ein Knie nieder. Die Kleine hockte auf dem anderen Knie, so daß Hansford sie anfassen konnte. Er berührte ihre weiche Wange.

»PopPop geht Heia machen.« Er lächelte in ihr trauriges Ge­sicht.

»Nein!« Ihre Lautstärke schreckte alle auf.

»Sch-sch.« Chessy schaukelte sie auf seinem Knie, aber sie ließ sich nicht beruhigen.

»Nein! PopPop dableiben.« Sie brach in Tränen aus. Sie konn­te zwar PopPops Bart und seinen Kautabakgeruch nicht leiden, aber ihn selbst hatte sie gern.

Zum ersten Mal liefen Hansford Tränen über die Wangen; sie verschwanden in seinem Bart, den Cora sorgfältig gekämmt hatte. Er schüttelte den Kopf, ließ seinen Blick über seine Lie­ben schweifen. Er hatte sein Leben verschwendet. Er hatte Co­ra, Louise und Julia verlassen. Bei seiner Rückkehr hatte er, verzehrt von Not und unterdrücktem Kummer, erfahren, was wahre Liebe wert war, aber auch, daß sich manches nicht wie­der gutmachen ließ. Und nun war es zu spät, um es jemand an­derem zu sagen, einem anderen Mann, der vor der einengenden Verantwortung geflohen war. Ein Mann mußte nicht nur den Mut aufbringen, im Kampf zu bestehen, sondern auch, zu Hause zu bestehen. Als junger Mann war es Hansfords größte Furcht gewesen, in dieser abgelegenen Stadt gefangen zu sein, die Welt zu verpassen. Statt dessen war er in seiner Selbstsucht gefangen gewesen und hatte die Liebe verpaßt.

»Hansford, ich bring dich ins Krankenhaus«, sagte Chester.

Pearlie flüsterte Chessy zu: »Dazu ist keine Zeit.«

Hansford winkte Louise, aber sie wollte nicht näher treten.

»Louise, um Gottes willen«, flehte ihre Mutter.

»Wem gehört dieses Land wirklich?«, fragte Louise kalt.

Hansford deutete auf Cora.

»Louise«, sagte Cora streng, »mach deinen Frieden mit dei­nem Vater, sonst lastet es schwer auf dem Herzen bis ans Ende deiner Tage.«

»Meinem Vater?« Louises Stimme triefte vom Gift der alten Wunde. »Mein Vater hätte für uns gesorgt, Momma. Hast du die Zeit vergessen, da wir nicht genug zu essen hatten?«

»Celeste hat uns nicht verhungern lassen.« »Du hast nicht gleich angefangen, bei Celeste zu arbeiten.«

»Dies ist nicht der Zeitpunkt für solche Diskussionen. Erlöse ihn von seinem Leiden und vergib ihm. Eines Tages muß auch dir vielleicht vergeben werden, Tochter.« Cora wrang das Tuch aus.

»Ich bin wohl doch nicht so eine gute Katholikin, wie ich dachte.« Louise machte auf dem Absatz kehrt und ging hinaus.

Erschüttert küßten Mary und Maizie rasch Hansfords Hand, dann folgten sie ihrer Mutter.

»Es tut mir Leid«, sagte Pearlie zu dem Mann, der vor seinen Augen zusammenschrumpfte. »Sie ist durcheinander. Sie meint es nicht so.«

Cora wischte ihm mit einem trockenen Tuch Wangen und Bart ab. Hansford blinzelte und nahm Pearlies Hand, der seine drückte und sie dann losließ.

Pearlie ging zu seiner Frau ins Wohnzimmer. Er hatte alle Hände voll mit ihr zu tun.

Hansford nahm Julias Hand. »Verzeihst.?«, war alles, was er krächzend herausbrachte.

»Ich verzeihe dir, Pop. Ich wünschte, du hättest uns nicht ver­lassen, aber ich verzeihe dir.«

Er drückte noch einmal ihre Hand und ließ sie dann los. Er lä­chelte ihr zu, streckte dann die Hand nach Chester aus, der das Kind auf einem Arm hielt. Er nahm Hansfords Hand mit seiner anderen.

»Sie. braucht. dich.« Hansford zeigte auf das Kind. Er stach ein paarmal mit dem Finger in die Luft, versuchte, noch mehr zu sagen.

»Ich werde mein Bestes tun, Sir. Ich sterbe für die beiden, wenn es sein muß.« Chester fing ebenfalls an zu weinen.

Hansford lächelte noch einmal und sprach seine letzten Worte. »Lebe. für. sie.«

Dann setzte er sich mit jäher Anstrengung kerzengerade auf. Er streckte die Hand nach Cora aus, die ihn mit aller Kraft hielt, während er seinen Geist jedwedem Abenteuer empfahl, das im Jenseits lockte.

»Gute Reise«, schluchzte Cora.

Juts und Chessy ließen sie ein paar Minuten mit ihm allein. Juts ging an der zornigen, würgenden Louise vorbei, die sich bereits rechtfertigte. Juts beachtete sie so wenig wie eine meckernde Ziege. Chessy folgte seiner Frau und drückte Nickel an sich, die wieder weinte.

Die Sonne ging unter. Nahe dem Haus klopfte ein Rotkopf­specht an eine Baumrinde, in der es von saftigen Insekten wimmelte, und holte sich eine letzte Mahlzeit vor dem Feier­abend.

Julia hatte die flüchtige Vorstellung, daß der Specht per Mor­sezeichen verkündete:Hansford Hunsenmeir ist tot. Juts hat ihren Vater verloren - zum zweiten Mal. Sie schüttelte den Kopf und barg von Schmerz überwältigt das Gesicht in den Händen. Sie suchte Trost bei ihrem Mann, und er war da.

Spät in der Nacht, als der Bestattungsunternehmer gegangen war, nachdem Wheezie alle angeschrieen und beschimpft hatte, nachdem Cora sich mit bemerkenswerter Würde gefaßt hatte, nachdem Mary und Maizie ihre Mutter nach Hause begleitet hatten, Juts endlich eingeschlafen war und das Kind in seinem Gitterbettchen träumte, Yoyo an sie gekuschelt, ging Chester unruhig auf und ab.

Er fand keinen Frieden. Schließlich schnalzte er Buster zu, warf einen Mantel über seinen Schlafanzug und ging nach draußen, die eine Seite der baumbestandenen Straße hinauf und die andere hinunter.

Er dachte über das Leben nach. Als Junge hatte er von Hel­dentaten, Kriegsruhm und schnellen Autos geträumt. Er träumte immer noch von schnellen Autos, aber er war reif genug, um zu wissen, daß Kriege keinen Ruhm bringen und Heldentaten äu­ßerst selten sind. Die beharrliche Weigerung, der Verzweiflung oder der Maßlosigkeit nachzugeben, erschien ihm jetzt helden­haft. Für diejenigen zu sorgen, die einen brauchten, schien ihm heldenhaft. Er würde auf dieser Erde leben und sterben und, wie Hansford, vergessen sein, wenn diejenigen, die ihn gekannt hatten, ebenfalls tot waren. Als junger Mensch hätte er diese Erkenntnis furchtbar gefunden. Jetzt war es einfach eine Tatsa­che. Ruhm, Vermögen und Macht, diese Jugendträume waren ihm nicht beschieden. Er zehrte nicht von einer täglichen Kost großer Siege. Das Leben war nicht so. Er ging weiter und wei­ter, Buster an seiner Seite, und als der Morgenstern hell und klar leuchtete, sagte er laut: »Das Leben ist nicht so - es ist besser.«

55

Weiße Kaskaden ergossen sich über Juts' Gartenzaun. Die Kreppmyrte blühte. Juts plagte sich damit, ein stabiles weißes Spalier aus 10 x 10 cm großen Quadraten an der Garage zu befestigen. Nickel rannte im Garten herum, dicht gefolgt von Buster.

Das Ende des Spaliers kippte nach vorn.

»Nicky, komm zu Momma.«

»Nein.« Nickel lief schneller.

»Ich brauch dich, du mußt mir helfen.«

Das Wort>helfen< wirkte Wunder. So klein sie war, sie mach­te sich gern nützlich. Sie lief zu Juts.

Juts zeigte auf das Ende des Spaliers. »Kannst du dich an die Mauer lehnen?«

Nickel ging hinüber, stellte sich bäuchlings platt an die Wand und drückte so das Spalier dagegen.

»So ist es gut. Bist ein starkes Mädchen.« Juts schlug auf ihrer Seite rasch einen Nagel ein, dann lief sie dahin, wo Nickel stand, und schlug auch dort einen Nagel ein. »Danke.« Sie klappte die Trittleiter auf und kletterte nach oben, wo sie den nächsten Nagel einschlug. Dann trug sie die Trittleiter ans ande­re Ende und wiederholte die Prozedur. Als sie heruntergeklettert war, bewunderte sie das Spalier. Sie stellte sich muschelrosa Rosen vor, die sich daran hochrankten. Oder wollte sie rubinro­te Rosen? Dann wiederum entlockte ihr die Vorstellung von gelben ein Lächeln. »Ach was, ich pflanze sie alle.«

Schwere Schritte, Nickels Quieken und Busters Freudengebell verkündeten Coras Ankunft. Cora hatte in den letzten paar Jah­ren stark zugenommen. Sie atmete schwer.

»Momma, warum hast du nicht angerufen, ich hätte dich doch abgeholt und hergefahren.«

»Mit welchem Auto?« Cora fächelte sich Luft zu. In ihrer Ge­neration waren Fächer so modisch wie nützlich.

»Ich hätte mir Wheezers geliehen.«

»Von wegen. Hallo, mein wilder Indianer.« Cora bückte sich, um Nickel einen Kuß zu geben.

Als sie die Stimme hörte, kam Yoyo von dem Rotahorn her­untergeklettert. Sie wartete ein paar Sekunden. Rennen war unangemessen. Dann schlenderte sie hinüber und rieb sich am Bein der alten Dame.

»Diese Katze.« Juts lachte. »Sie liebt dich. Möchtest du eine Cola oder eine Limonade?«

Juts lief in die Küche und kam mit einem großen Krug Limo­nade auf einem Tablett zurück. Nickel trug die Servietten. Sie ging zu ihrer Großmutter. Cora gab vor, die verschiedenen Far­ben zu begutachten. Sie suchte sich die rote aus, legte sie dann zurück und zwinkerte. Sie nahm sich eine grüne, weil sie wußte, daß Nickel die rote wollte.

Als Nickel sich setzte, um aus einem Zinnbecher ihre Limo­nade zu trinken, legte Cora ihr die rote Serviette auf den Schoß. »Rot ist deine Farbe.«

Nickel kicherte.

»Julia, du hast einen grünen Daumen. Den hattest du schon immer. Louise hat einen schwarzen Daumen.« Sie deutete ein Lächeln an. »Aber Louise kann gut organisieren.«

»Sie sagt den Leuten, was sie zu tun haben. Komm, Momma, leg die Füße hoch.« Juts stellte ihr Glas auf den Tisch und holte eine angestrichene Milchkiste. »Findest du nicht auch, daß an so einem heißen Tag die Füße anschwellen?«

»Wenn ich noch mehr anschwelle, platze ich wie ein Luftbal­lon.« Sie hielt sich das nasse Glas an die Stirn. »Eine Affenhit­ze.«

»Hundstage.« Julia rief dem Terrier zu, der sich unter der Kreppmyrte zurückgezogen hatte: »Findest du nicht, Buster­knabe?«

Cora atmete ein und wieder aus, schloß die Augen, setzte dann das Glas ab. »Sommer - Glühwürmchen und Angeln, Gewitter und Regenbögen. Hast du gewußt, daß beides nötig ist, Regen und Sonnenschein, damit ein Regenbogen entsteht?«

»Ja.« Juts merkte, daß ihre Mutter auf etwas hinaus wollte.

»Das Leben ist ein Regenbogen. Ich weiß erst, wie sehr ich das Leben liebe, seit ich dem Ende näher gekommen bin.«

»Momma.« Juts war beunruhigt.

»Oh, keine Bange. Ich bin nicht krank, aber ich bin alt, Schätzchen. Mein Leben liegt größtenteils hinter mir. Es ist so schnell vergangen. Wenn ich morgens aufstehe, tun mir die Knie weh, und ich weiß nicht, warum. Dann guck ich in den Spiegel und seh dieses alte Gesicht. Ich muß darüber lachen. Ich wach jeden Morgen auf und meine, ich bin zwanzig und hab zwei kleine Kinder, die auf Bumblebee Hill rumlaufen. Bin wohl selbstsüchtig. Ich will nicht, daß es irgendwann aufhört.«

Juts hatte einen dicken Kloß im Hals. »O Momma, du hast noch ein langes Leben vor dir.«

»Das will ich hoffen.« Sie trank, dann streckte sie die Hand nach ihrer Tochter aus. »Genieße jede Minute, Julia, und freu dich an der Kleinen. Hör zu, ich war vorige Woche bei Edgar Frost und hab dir und Louise das Haus überschrieben. Wir ha­ben es so geregelt, daß ich bis zu meinem Tod dort wohnen kann, und er hat mir nicht einen Penny berechnet. Ich kann mich nicht erinnern, daß er vor dem Krieg so großzügig war.«

»Er war ziemlich großzügig.«

»Muß wohl an mir liegen. Ich finde, alle sind verändert zu­rückgekommen. Die, die zurückgekommen sind.«

»Vaughn ist erstaunlich.«

»Ja.«

Vaughn Cadwalder, dessen Beine unterhalb der Knie ampu­tiert waren, wies jegliches Mitleid zurück und kam erstaunlich gut zurecht. Man sagte, es sei ein Glück für ihn, daß er noch Knie hatte, weil er sich Holzbeine anschnallen und mit Stöcken gehen konnte. So konnte man es auch sehen. Die Ärzte bastel­ten fortwährend am Sitz der Holzbeine herum. Sie taten oft weh und verursachten Geschwüre an den Stümpfen. Er beklagte sich nicht. Wenn er schnell vorwärts kommen wollte, benutzte er den Rollstuhl.

»Momma, ich liebe Bumblebee Hill - aber ich liebe es mit dir, und ich wünschte, du würdest nicht so reden. Du hättest doch mit der Überschreibung des Hauses und der fünfzig Morgen noch warten können.«

»Warten, worauf? Wenn ich erst weiß, daß es mit mir zu Ende geht, ist es zu spät.« Julia schwieg, und Cora fuhr fort: »Ich sage es Louise heute Abend. Sie ist in Littlestown. Hat sie ir­gendwas zu dir gesagt?«

»Worüber?«

»Darüber, wie sie ihren Vater behandelt hat?«

Nickel streckte die Beine von sich. »Auf-auf, Mamaw, auf­auf.«

»Nicky, still.«

»Laß sie doch, Julia, sie hat so ruhig gesessen, ich dachte schon, sie ist ein Mäuschen.« Cora sagte zu dem Kind: »Wenn du spielen willst, Liebes, geh nur. Mamaw und Mommy haben hier was durchzukauen.«

Nickel sah ihre Mutter an.

Juts griff Coras Vorschlag auf. »Hol dir doch dein Auto!«

»Nein.« Nickel hüpfte von ihrem Stühlchen, ging zu dem Spa­lier und ahmte ihre Mutter nach, begutachtete es, ging zum ei­nen Ende, dann zum anderen und hämmerte in die Luft.

Juts kam auf die Frage ihrer Mutter zurück. »Wheezie sagt nichts. Gewöhnlich redet sie ja wie ein Wasserfall, aber über Hansford.«

»Diese Gefühle mit sich rumzutragen, ist so, als würde man einen Stein mit sich rumtragen. Ich weiß nicht, warum ich nichts gemerkt habe.«

»Louise sieht die Dinge schwarzweiß. Das weißt du doch. Hansford hat uns verlassen, also ist er von Grund auf böse. Vielleicht schmerzt so was mehr, wenn man klein ist. Ich weiß es nicht, Momma, ich kann mich kaum erinnern.«

»Du warst nicht viel größer als Nickel.« Sie leerte ihr Glas. »Ist Josephine Smith schon mal vorbeigekommen?«

»Nein. Sie läßt sie nicht mal ins Haus, davon abgesehen ver­suchen wir es auch gar nicht erst. Chessy geht jeden Dienstag hin, bleibt zwei Stunden und kommt wieder nach Hause. Seine Brüder schauen heimlich bei uns herein, wenn sie sie besuchen kommen, was sie immer seltener tun. So eine grauenhafte Frau.«

»Überlasse sie Gott, Julia. Sonst trägst auch du noch einen schweren Stein mit dir herum. Böse Menschen handeln so, weil in ihnen etwas blutet.«

»Ist mir egal, wenn sie verblutet.« »Halte die andere Wange hin.«

»Momma, das kann ich nicht. Ich bin keine so gute Christin - allerdings hab ich auch nie vorgegeben, eine zu sein.«

»Wenn der Herr gewollt hätte, daß wir bessere Menschen sind, dann hätte er die Gebote vielleicht etwas leichter ge­macht.« Cora lächelte. »Aber wir können uns bemühen. Wenn du ihr nicht vergeben kannst, dann vergiß sie einfach.«

»Ich könnte ihr möglicherweise vergeben, wie sie mich be­handelt. Nicht, daß es mir leicht fiele, aber was sie Nickel an­tut. Am liebsten würde ich sie mit dem Traktor überfahren, den Celeste dir vermacht hat. Ja, ich würde die Zicke gern platt walzen.«

»Aber nicht doch, Juts.« Cora drohte ihrer Tochter mit dem Finger. Sie verriet ihr wohlweislich nicht, weshalb sie wirklich in die Stadt gekommen war.

56

Es war ein weiter Weg bis zu Josephine Smith, und das in der brütenden Hitze - um fünf Uhr war es so sengend heiß wie zur Mittagszeit. Cora hatte Juts nicht gesagt, wohin sie ging, als sie sich verabschiedete. Zum Glück waren die Bürgersteige von den ausladenden Ahornbäumen, Eichen, Ulmen und Robinien beschattet, die Runnymedes hübsche Straßen säumten.

Als sie bei der schlichten schwarzen Tür der Smiths ankam, schnappte sie keuchend nach Luft. Die Haustür war offen, die Fliegentür geschlossen. Cora öffnete sie und bediente den glän­zenden Messingklopfer.

»Wer ist da?«, hallte Josephines Stimme durch die Fliegentür. Dort angelangt, blieb Josephine wie angewurzelt stehen. »Was willst du hier?«

»Dich besuchen.«

»Ich habe dir gesagt, daß ich nie wieder mit dir sprechen wer­de.«

»Das war vor der Jahrhundertwende.«

»Jetzt haben wir 1947. In meinen Augen siehst du heute kein bißchen besser aus«, keifte Josephine.

Cora überhörte die Bemerkung und sprach geduldig weiter: »Das ist so lange her. Laß uns den Streit, den wir damals hatten, nicht auf die jungen Leute abwälzen.«

»Das tue ich gar nicht. Ich konnte Chester nicht davon abhal­ten, Julia zu heiraten.«

»Auch das ist lange her, Josephine. Sie haben 1927 geheiratet. Ich spreche von heute.«

»Heute?«, echote Josephine schnaubend, offensichtlich in dem Glauben, sie habe sich in letzter Zeit nichts zuschulden kommen lassen.

»Dein Sohn liebt sein kleines Mädchen. «

»Sie ist nicht sein kleines Mädchen.« Josephines Stimme trief­te von Gehässigkeit. »Sie ist Rillma Ryans Balg, wie wir alle wissen. Die ganze Stadt weiß es.«

»Rillma hat sich zur falschen Zeit in den falschen Mann ver­liebt. Das sollte dir bekannt vorkommen.« »Was willst du damit andeuten, Cora?«

»Daß das Kind nichts dafür kann. Daß Chester glücklich ist und es nur noch an dir fehlt. Du solltest das Baby annehmen.«

»Sie ist kein Baby. Sie ist zweieinhalb. Ich habe sie gese­hen.«

»Von weitem.«

»Cora Zepp« - Josephine nannte sie bei ihrem Mädchenna­men -, »geh bloß deiner Wege. Ich will kein Enkelkind, das in Schande geboren ist.«

»Nickel ist jedenfalls so geboren. Du hast an deiner Schande hart arbeiten müssen.«

»Raus hier!«

»Du bist am Ende, Josephine. Du tust mir Leid.«

»Verlaß meinen Grund und Boden, sonst rufe ich den She­riff.«

Cora ging, blieb auf dem Bürgersteig stehen, der öffentliches Eigentum war und brüllte zurück, was gänzlich uncharakteri­stisch für sie war, aber inzwischen hatte sie den Siedepunkt erreicht: »Er hat dich nie geliebt, Josephine, und das hast du dir selbst eingebrockt, verflixt noch mal.«

Das war zu viel. Josephine riß die Fliegentür auf. Sie stürmte zum Bürgersteig und blieb an der Grenze ihres Grundstücks stehen. »Verschwinde!«

»Dieser Bürgersteig gehört zu York County, Pennsylvania.«

»Verschwinde! Er hat mich geliebt. Du hast ihn dir zurückge­stohlen.«

»Du hast ihn verstoßen. Als er hierher zurückgekrochen kam, hättest du Frieden schließen können. Wir hätten alle Frieden schließen können. Aber du wolltest nicht mal mit ihm spre­chen.«

»Er war ein heruntergekommener alter Blutsauger, und er hat bekommen, was er verdient hat.«

Cora, deren Rock ein willkommenes Lüftchen zauste, war jetzt ganz ruhig. »Am Ende, Josephine, bekommen wir alle, was wir verdienen.«

»Ich bin froh, daß er tot ist.« Josephine wollte durchaus nicht hören, daß sie bekommen würde, was sie verdiente. Sie hatte es schon. Sie war ungeliebt, einsam, gerade mal geduldet von ih­rem Mann und ihren Söhnen. Immerhin hielt sich Rupert an sein Ehegelöbnis, in guten wie in schlechten Zeiten. Er hatte nur schlechte erwischt.

Cora richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, die nicht mehr als 1,57 betragen konnte, doch sie hatte etwas an sich, das sie grö­ßer erscheinen und Josephine schrumpfen ließ. »Er hat seine Sünden bereut. Im Sterben hat er zuerst an andere gedacht und zuletzt an sich selbst. Er starb als Mensch. Du hast ihn einmal geliebt. Er war es wert.«

»Du hast ihn nie geliebt.«

»Nicht so, daß es dir aufgefallen wäre.« Cora lächelte matt. »Aber ich habe ihn geliebt.«

Josephines Knie gaben nach. Ihre Wut verwandelte sich in ei­nen furchtbaren Schmerz, den sie sich ein halbes Jahrhundert lang vom Leib gehalten hatte. Sie schob das Gefühl von sich, doch es kam mit derartiger Wucht zu ihr zurück, daß es sie umwarf. »Er hat sich mir aufgedrängt«, wimmerte sie.

»Nein, hat er nicht. Du hast es dir so oft vorgelogen, daß du es glaubst. Hansford hatte es nicht nötig, sich einer Frau aufzu­drängen, das weißt du genau.«

Josephine war so aufgewühlt, daß ihr der Mund offen blieb. Als hätte sie eine 38er-Kugel von hinten getroffen, sank sie auf die Knie.

Cora eilte hinzu, griff ihr unter die Arme und richtete sie auf. Josephine bewegte die Lippen, ohne einen Ton herauszubrin­gen. Sie sah aus wie ein Fisch.

»Komm, Jo, es ist heiß hier draußen. Ich bring dich ins Haus.«

Als Cora ihre erbittertste Feindin zur Haustür schleppte, liefen die Telefondrähte schon heiß. Caesura Frothingham, die in ih­rem schicken Wagen vorbeiführ, erfaßte das Drama, und auf der gegenüber liegenden Straßenseite hatte Frances Finster alles beobachtet.

Mühsam setzte Josephine einen Fuß vor den anderen. Cora half ihr ins Haus, fand die Küche und schenkte ihr kaltes Was­ser ein. Die Hand am Hals, krümmte sich Josephine in Ruperts Sessel zusammen.

»Hier, ein kleiner Schluck wird dir gut tun.«

Mit zitternden Händen nahm Jo, die einst so hübsche Frau, das Glas; Wasser tropfte ihr aufs Kinn. Sie zögerte, trank dann noch einen Schluck. Ein blechernes Quietschen - wie eine ungeölte Bremse - war der einzige Laut, der sich ihr entrang, als sie Cora das Glas zurückgab. Cora stellte es auf den Tisch.

»Jo, wir sind alt, aber es ist noch viel Leben in uns. Es ist leichter, glücklich zu sein, als unglücklich zu sein. Der liebe Gott hat uns nicht zum Unglücklichsein erschaffen.«

»Ich bin schon vor langer Zeit gestorben«, flüsterte Josephine.

»Hm - du kämpfst um deine Wiedergeburt.« Cora wollte ihr das Glas reichen, doch Josephine wies es zurück, weil es ihr schon besser ging. »Ich war schon immer der Ansicht, daß Jesu Auferstehung von den Toten genau das bedeutet. Nicht, daß sich Gräber öffnen, sondern daß wir ins Leben zurückkehren können. Kannst du dir nicht vorstellen, daß ich mich genauso gefühlt habe wie du?«

»Das kann nicht sein.« Josephine erstickte fast an ihrer eige­nen Stimme.

»Vielleicht nicht aus denselben Gründen, aber so gut wie alle, denen man in Runnymede begegnet, haben furchtbares Leid erfahren oder sich dem Tode nahe gefühlt. Sie sind zurückge­kommen.«

»Wer bist du, mir zu sagen, wie ich zu leben habe?« Ein jäher Zorn beflügelte sie.

»Niemand.«

»Laß mich in Ruhe.«

»Na schön.« Cora wandte sich zur Tür. »Aber wenn du nicht zurückkommen kannst, Jo, tu den Kindern nicht weh, sei nicht so kalt zu ihnen. Sie brauchen dich.«

»Niemand braucht mich!«, entfuhr es Josephine voller Wut und Gram.

Cora schloß leise die Tür, froh über den Sonnenschein, und war es noch so schwül.

In jenem Sommer geschah noch mehr. Cora las Louise wegen ihres abscheulichen Verhaltens Hansford gegenüber die Levi­ten, am Abend desselben Tages, an dem sie sich Josephine Smith vorgeknöpft hatte. Louise blähte sich auf wie ein vergif­teter Hund. Sie wollte Bumblebee Hill nicht mit Julia teilen. Sie war durchaus selbstsüchtig, was sie natürlich nicht zugab, doch ihr Einwand war, daß Julia eine Verschwenderin und es der sicherste Weg in den Bankrott sei, das Eigentum mit ihrer jün­geren Schwester zu teilen. Cora sagte, sie müßten lernen, sich zusammenzuraufen. Schließlich hätten sie das als Besitzerinnen desCurl 'n' Twirl auch getan. Louise entgegnete, nur, weil sie die Bücher geführt habe. Schön, erklärte Cora, dann solle sie sie wieder führen. Immerhin konnte Cora Louise das Versprechen abringen, wenn sie ihrem toten Vater nicht vergeben könne, wenigstens zu vergessen. Es tue nicht gut, Haß mit sich herum­zutragen. Louise wollte es versuchen.

Alle steckten in Geldnöten, abgesehen von den ganz Reichen wie Ramelle, den Rifes, den Falkenroths und den funkelnagel­neureichen Mundis. Die Lebenshaltungskosten stiegen sprung­haft um mehr als dreißig Prozent an. Heimkehrende Soldaten, endlich entlassen, fanden keine Arbeit, obwohl die Frauen, die während des Krieges eingesprungen waren, in Scharen den Laufpaß erhielten.

Nachdem Extra Billy sich mit einer eigenen Farm abgemüht hatte, erklärte er sich einverstanden, in Pearlies Geschäft einzu­steigen. Wie so viele Kriegsteilnehmer wachte er Nacht für Nacht aus gräßlichen Albträumen auf. Mary nahm eine Arbeit bei der Telefongesellschaft an, wurde aber im Nu wieder schwanger.

Tante Dimps stellte Doak Garten, der von der Marine zurück war, in ihrem Blumengeschäft ein. Zwar wurde eisern gespart, doch bei Begräbnissen, Hochzeiten, Jubiläen und Geburten waren Blumen unerläßlich.

Alle Welt bekam Kinder.

Nickel, entschieden einsilbig, durfte jetzt mit Chester und Ju­lia Ellen Dienstagabends Josephine und Rupert Smith besuchen. Man erzählte sich, daß Josephine so manchen Nachmittag im Gebet und Zwiegespräch mit Pastor Neely verbrachte. Er riet ihr, auf die Worte Jesu zu hören: »Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.« Sie rang innerlich mit sich, doch sie sah das Licht. Zwar wurde sie dadurch nicht freundlicher oder wärmer, aber sie mußte krabbeln, bevor sie laufen konnte. Nickel war bei den Smiths noch schweigsamer als zu Hause. Sie saß in der Ecke und sah sich die Bilder imNational Geographic an. Sie wollte unbedingt lesen. In Gesellschaft von Yoyo und Buster kletterte sie am Regal hoch, um die Familienbibel zu holen, schlug sie auf und tat so, als läse sie der Katze und dem Hund laut vor. Die beiden waren schwer beeindruckt.

57

Der>Wechsel< war Gegenstand verstohlener, tief schürfender Gespräche zwischen Louise und ihren besten Freundinnen. Ev Most und Juts kicherten über dieses Thema. Juts und Ev, ehe­malige Schuldkameradinnen, spürten noch keinerlei Anzeichen. Nachdem sie vor wenigen Jahren leise die vierzig überschritten hatten, waren sie durchaus nicht in Eile.

Hitzewallungen, unerwartete Blutungen, Reizbarkeit und Verwirrung machten der etwas älteren Truppe zu schaffen. Juts hatte den weiblichen Organen nie das geringste Interesse entge­gengebracht. Wenn sie ihre eigenen Röhren und Innereien nicht scherten, dann scherten sie die anderen erst recht nicht. Das hinderte Louise nicht daran, sich in ausführlichen Schilderun­gen zu ergehen.

An diesem Freitag im September 1948 gönnten sich die Hun­senmeir-Schwestern auf dem Yorker Markt einen ausgiebigen Einkaufsbummel. Reihenweise fleischige Kürbisse - leuchtend weiße Patissons, gelbe Gartenkürbisse, runde grüne Ölkürbisse - lockten sie. In Kisten glitzerten prachtvolle späte Brombeeren, Hirnbeeren und Blaubeeren. Auf gestoßenem Trockeneis lagen durchwachsene Filetstücke, ganze Schinken und saftige Lamm­koteletts, durch Petersiliensträußchen voneinander getrennt.

Die Amish-Frauen trugen Hauben und Schürzen; die Männer nickten den Schwestern zu, wenn sie sich ihren Ständen näher­ten. Kartoffeln, Mais, Möhren, Radieschen so rot wie Rubine, Okra, Bohnen aller Sorten und Erbsen füllten Körbe über Kör­be. Nickel konnte die Auslagen nicht sehen, aber sie konnte die Waren riechen. Wenn ihr Blick gelegentlich auf eine Katze fiel, die an einem Stand arbeitete, blieb sie stehen und schwätzte mit ihr. Irgendwann merkte Juts, daß die Kleine abhanden gekom­men war und ging denselben Weg zurück, bis sie sie fand, meist auf der Erde hockend und ein Kätzchen streichelnd.

»Ach, da bist du. Verzeihung, Mrs. Utz, Nicky liebt Katzen.«

Mrs. Utz lächelte. »Ich auch.«

»Du kommst jetzt mit mir.«

Nickel gewahrte den Befehlston und auch Tante Wheezie, die an der Ecke des Gangs wartete. Den Lockenkopf gesenkt, folgte Nickel ihrer Mutter.

Kaum waren sie bei Louise angelangt, ließ sie wieder eine Schilderung ihres Zustands vom Stapel. ». wie gesagt, da saß ich mit Paul am Tisch und urplötzlich - also, das war einfach zu viel. Keine Vorwarnung, kein Garnichts und der arme Pearlie - du weißt ja, wie die Männer sich bei solchen Sachen anstellen, ich dachte, er wird ohnmächtig. Wie gut, daß sie keine Kinder kriegen. Bei dem vielen Blut würden sie glatt sterben.«

»Da fragt man sich, wie sie einen Krieg überstehen können, nicht?«, warf Julia trocken ein.

»Ja. Oh, das hab ich ganz vergessen, dir zu erzählen. Frances Finster sagt, als sie in meinem Alter war, hatte sie Ohnmacht­sanfälle.«

»Von dem vielen Formaldehyd im Bestattungsinstitut.«

»Julia, das ist nicht wahr. Eines Tages wirst du das auch durchmachen.«

»Wenn, dann wirst du's nicht erfahren.«

»Was soll das heißen?«

»Daß ich nichts von den Wechseljahren hören will. Warum sollte ich dann darüber sprechen?«

»Weil es eine neue Erfahrung ist. Ich möchte andere an mei­nen Erfahrungen teilhaben lassen.«

»Du läßt mich nicht teilhaben, du schwallst mich zu.«

»Und worüber sprichst du? Julia Ellen Hunsenmeir. Julia El­len Hunsenmeir. Julia Ellen Hunsenmeir.«

Juts zuckte die Achseln. »Ich bin eben interessant.« Sie drehte sich um. Keine Nickel. »Wo ist das Kind schon wieder hin? Sie ist wie ein kleines Wiesel, witscht einfach weg. Mary und Mai­zie waren meines Wissens nicht so.«

»Nein.« Louises Antwort war schnippisch.

»Dieser Ton gefällt mir nicht.«

»Meine Mädchen haben sich wie Mädchen benommen. Sie waren folgsam. Und Marys Jungen - hören auf ihre Mutter. Nickel hat entschieden zu viel Freiheit. Du bringst ihr keine Disziplin bei.« »Von wegen. Sie steht jeden Morgen um dieselbe Zeit auf und geht jeden Abend um dieselbe Zeit ins Bett, und sie ißt zur sel­ben Zeit wie Chessy und ich. Sie lernt Recht und Unrecht unter­scheiden, so weit sie es jetzt schon versteht. Sie wird nicht aus­fallend. Sie gehorcht recht gut.«

»Sie trägt Jeans und T-Shirts. Das schickt sich nicht.«

»Ach, du meine Güte.« Aufgebracht brach Juts das Gespräch ab, um ihre Tochter zu suchen. Sie ging den Gang entlang. Kei­ne Nickel. Sie ging zum Mittelgang des Marktes zurück. Keine Nickel. Sie ging an der Seite entlang, wo sich ein kleines Re­staurant mit Wachstuchtischdecken befand. Nickel stand auf einem Stuhl, die Hände auf dem Tisch und>las< die Rückseite desYork Dispatch, während ein älterer Herr die Titelseite las. Seine Besucherin störte ihn nicht im Geringsten. Sein breit­krempiger schwarzer Hut lag auf dem Holzstuhl neben ihm.

»Verzeihen Sie bitte.«

Er sah auf. »Wir leisten einander Gesellschaft.«

Nickel zog ihre Mutter an der Hand und zeigte auf die Schlag­zeile. »Truman.«

»Schätzchen, komm jetzt. Tante Wheezie ist heute ungedul­dig.« Sie wandte sich wieder an den Herrn. »Nett, daß Sie ihr ein neues Wort beigebracht haben.«

»Ich habe es ihr nicht beigebracht. Sie hat es von der Schlag­zeile abgelesen.«

»Truman.« Nickel zeigte wieder auf die Zeitung.

»Sie muß es von jemandem gehört haben.« Julia lächelte und hob Nickel an einem Arm vom Stuhl.

»Nein.« Nickel trat nach ihrer Mutter.

Juts stellte sie unsanft auf den Boden. »Mach das noch einmal, und ich erteile dir eine Lektion, die du nie vergessen wirst, jun­ge Dame.« Sie nickte dem Mann zu, der seine Nase schon wie­der in die Zeitung gesteckt hatte, und zerrte das bekümmerte, aber schweigende Kind mit sich.

Als sie Wheezie erblickte, die Hände in die Hüften gestemmt, sagte Juts: »Sie hat Zeitung gelesen.«

»Klar, Mike.« Wheezie benutzte einen alten Ausdruck, der bei ihnen>nie im Leben< oder >du hast Recht< oder je nach Tonfall alles Mögliche bedeutete.

»Nickel, Momma findet es wunderbar, daß du Wörter lesen kannst, aber du darfst nicht weglaufen, ohne es mir zu sagen.« Sie wandte sich an Louise. »Ich glaube, sie hat das WortTru­man aufgeschnappt. Sie hat ständig auf die Zeitung gezeigt und >Truman< gesagt. Sie ist ein neugieriger kleiner Floh.«

»Na klar, zumal du in deinem ganzen Leben kein einziges Buch ganz durchgelesen hast. Aber« - Louise atmete ein, ein bedeutungsschwangerer Hauch von Überlegenheit - »das war ja zu erwarten.«

»Was soll das denn nun wieder heißen, Wheezie?«

»Ach« - sie hob in gespielter Arglosigkeit die dünnen Augen­brauen und die Stimme - »nichts.«

»Scheißdreck.«

»Julia, sprich nicht so in der Öffentlichkeit.«

»Runde Gebilde.« Juts rang sich ein schmallippiges Lächeln ab. »Rund wie Ködel.«

»Hörst du wohl auf - und das vor deinem Kind.«

»Sie wird nichts sagen. Man kriegt ja kaum zwei Piepser aus diesem Kind heraus.«

»Du brauchst ein zweites Kind. Sie braucht eine Schwester oder einen Bruder.«

»Nein«, kam die ziemlich laute Antwort von Nickel.

»Widersprich Tante Wheezie nicht, sie weiß, was gut ist für kleine Mädchen.«

»Ich will kein kleines Mädchen sein.«

Dieser vollständige Satz verschlug den beiden Frauen die Sprache. »Wie bitte?«, brachte Louise schließlich heraus.

»Truman. Ich will Truman sein.« Sie stand da, mit gespreizten Beinen und vor der Brust verschränkten Armen.

Juts sah auf das kleine Biest hinunter. »Ich glaube, sie will Präsident sein.« Dann brach sie in Lachen aus.

»Du darfst sie nicht ermutigen, Juts, sonst kommst du in Teu­fels Küche.«

»Sei doch nicht immer so ernst. Wenn sie Präsident sein will, Herrgott, dann laß ihr den Traum.«

Louise lächelte süßlich. »Nicky, Mädchen können nicht Präsi­dent sein. Du kannst Krankenschwester werden. Das wäre schön. Viele kleine Mädchen werden später Krankenschwester. Du würdest Menschen helfen. Oder du könntest ein Instrument spielen. Maizie spielt Klavier.«

»Nein!«

Juts nahm ihre Hand. »Komm, Kind, wir haben noch eine Menge Einkäufe zu erledigen. Diesen Kram besprechen wir später.«

Als sie an einem Stand mit einem großen Schild vorbeikamen, auf demFletchers Früchte< zu lesen war, zeigte Nickel nach oben. »Früchte.« Es klang allerdings mehr wie »Früü-te«.

Louise starrte sie mit einem seltsamen Ausdruck in ihrem ern­sten Gesicht an. »Woher kennt sie das?«

»Ich weiß es nicht.« Juts zuckte die Achseln. »Ich erzähle ihr andauernd Geschichten.«

»Sie ist dreieinhalb. Kinder lernen erst mit sechs lesen.«

»Hm - ich nehme an, sie ist ein bißchen voraus. Außerdem wird sie im November vier.«

Louise legte ihre Hand unter Nickels Kinn und sah in die braunen Augen, die ihren Blick unerschrocken erwiderten. »Schweig lieber, Nicky. Manchmal ist es besser, nicht so, äh, klug zu sein.«

»Laß sie in Ruhe, Louise.« Juts kniete nieder. »Nicky, du darfst lesen, was du willst, falls du wirklich lesen kannst. Ich glaube, Tante Louise meint, es ist unhöflich, auf Dinge zuzei­gen und ein Wort zu rufen. Komm jetzt weiter.«

»Das habe ich nicht gemeint«, brummte Louise. »Sie wird da­durch zum Außenseiter. Du mußt bedenken, wie sie mit anderen Kindern auskommt. Sie sammelt Minuspunkte, bevor sie über­haupt loslegt.«

»Kinder denken nicht so.«

»Das lernen sie schnell genug von ihren Eltern.«

»Müssen wir uns denn immer Gedanken darüber machen, was in einem Jahr sein wird oder in zehn Jahren? Was Lillian sagen wird oder Fannie Jump oder Caesura, die alte Schachtel? Was Father O'Reilly denken wird und he, der Papst könnte sich fürchterlich aufregen. Morgen kann uns ein Hurrikan von der Erdoberfläche pusten, und wenn der es nicht schafft, wie wäre es im nächsten Frühjahr mit einer Sintflut von Noahs Ausmaß? Wenn ihre kleinen Freunde ihr Dinge vor den Latz knallen, wird sie schon herausfinden, daß manche Menschen Kotzbrocken sind. Und sie wird hoffentlich so gescheit sein, sich mit denen nicht abzugeben.«

Louise wirbelte zu ihr herum. »Du tust dem Kind keinen Ge­fallen, wenn du ihm Flausen über seinen Status in den Kopf setzt. Es ist nicht gut für ein Mädchen, so auffallend klug zu sein. Klug sein kann man in der Ehe, nicht vorher.«

»Mein Gott, sie ist noch keine vier Jahre alt, und du hast sie schon verheiratet.«

»Jemand muß ja vorausdenken. Du bist wie die Heuschrecke. Ich bin wie die Ameise.«

»Jetzt sind wir auf einmal Insekten.«

»Ich weiß, was gut ist. Habe ich dir nicht gesagt, daß Chester Smith auf keinen grünen Zweig kommt? Ihr zwei werdet bald kein fahrendes Auto mehr haben, ihr werdet eure alte Karre schieben müssen. Habe ich Mary nicht dasselbe gesagt? Wenn Pearlie Extra Billy nicht eingestellt hätte, würden sie auf der Straße betteln gehen. Habe ich es ihr nicht gesagt?«

»Das hast du allerdings.« Julia wurde langsam wütend.

»Und habe ich Maizie nicht gesagt, sie soll nicht nach New York gehen? Sie soll so eine Dummheit gar nicht erst in Be­tracht ziehen? Nein, sie wollte nicht auf mich hören. Und was schreibt sie mir jetzt? Daß sie aufs College gehen will, aber keines, das der Kirche angegliedert ist. Was ist denn das für ein Wunsch? Was würde mich das kosten? Ich weiß, was gut für sie ist.« Sie hielt inne. »Nicky muß lernen, wo sie hingehört. Das Leben ist viel leichter, wenn man das weiß. Sie wird eine zweite Rillma Ryan, wenn du dies nicht im Keim erstickst.«

Als sie an leckeren gebackenen Pasteten vorbeikamen, sagte Julia leise: »Und, Louise, wo gehörst du hin?« Vor lauter Wut hatte sie gar nicht gemerkt, daß Louise in Nickels Beisein den Namen ihrer Mutter preisgegeben hatte.

»Dumme Frage.«

Juts' Stimme nahm einen drohenden Ton an. »Was Nickel an­geht, halt die Klappe. Halt einfach die Klappe. Sag ihr nicht, wo sie hingehört. Sie wird es selbst herausfinden; denn die Welt ist weiß Gott voll von Leuten wie dir, die ihr wegen etwas, das jemand anders getan hat, einen Platz im Leben absprechen!«

Nickel, die das Gezerre satt hatte, stahl sich unbemerkt davon.

»Ich habe die Welt nicht geschaffen, ich lebe bloß auf ihr!«

»Aber du tust nicht das Geringste, um sie besser zu machen.«

»Ich für mein Teil halte nichts davon, wenn Menschen ohne die Segnungen der Ehe körperliche Beziehungen pflegen.«

»Jesus Christus steh mir bei!«

»Du sollst den Namen unseres Erlösers nicht mißbrauchen.« Louise trat an einen Stand mit Kattunschürzen. »Ich brauche eine neue Schürze.«

»Du brauchst ein neues Mundwerk.«

Wheezie ging darauf nicht ein. Sie sah zwei kleine Schuhe un­ter der Stoffdrapierung der Holzbude hervorlugen. »Nicky?«

»Sie ist nicht hier«, lautete die entschlossene Antwort.

Louise bückte sich und hob den Zipfel einer bunten Steppdecke an. »Was machst du da drunter?«

»Nachdenken.«

»Tag, Mrs. Stoltz, meine kleine Nichte findet Ihre Steppdecken so schön.« Louise rang sich ein Lächeln ab.

Mrs. Stoltz, die so breit war wie hoch, hob die Decke auf der anderen Seite des Standes an. »Aha.«

»Verzeihung.« Juts trat hinzu, ließ sich auf ein Knie nieder und streckte die Hand aus. »Vorwärts, Trab, Cowboy.«

»Nein.«

»Nickel, du kommst auf der Stelle da raus oder du wirst es be­reuen.« Bei jedem harschen Wort wippte die Zigarette in ihrem Mund auf und ab.

»Nein.«

Juts, die bis zum Äußersten gereizt war, wenngleich sie sich nicht erklären konnte, warum, klemmte ihre Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger und hielt das glühende Ende an Nik­kys Oberarm. Nur eine ganz leichte Berührung, doch sie erzielte die gewünschte Wirkung. Das Kind stürmte heraus - zu ge­schwind für Juts, um es zu packen. Nickel raste durch den Gang.

»Mögen die Heiligen uns behüten.« Louise schüttelte den Kopf. Sie war seit der Volksschule nicht mehr gerannt. Louise fand rennen unweiblich.

»Dazu braucht es mehr als Heilige.« Juts trabte ihrem ent­schwindenden Kind hinterher und rief dabei über die Schulter: »Steh nicht da wie ein Sack Scheiße! Beweg dich!«

»Ich lasse mir solche Grobheiten nicht gefallen.« Murrend be­gab sich Louise in den nächsten Gang und marschierte forsch unter den alten Hängelampen entlang, wobei sie einen Blick in die Buden warf, um nachzusehen, ob das Kind dort unterge­schlüpft war.

Die beiden Schwestern trafen sich am Schinkenstand am Ende der Gänge. Die große Bude erstreckte sich horizontal über die Hauptgänge.

Juts schnippte Glut auf den Boden und trat sie in dem Säge­mehl aus, das vor dem Stand verstreut war. »Ich weiß gar nicht, wie sie so schnell laufen kann.«

»Sie ist hier irgendwo. Versuchen wir's in den zwei Gängen da drüben.«

Nickel war in keiner Bude zu finden. Sicherheitshalber fragte Louise den Aufseher, ob er sie gesehen habe. Er verneinte, wies jedoch darauf hin, daß Kinder draußen spielten, wo Marktkörbe und Abfall hingeworfen wurden. Er sei dort gewesen, um auf­zuräumen und in der Gasse seien vielleicht zehn, fünfzehn Kin­der gewesen. Juts ging hinaus in den milden Septembersonnen­schein; ein Hauch von Herbst lag in der Luft. Sie sah einen Schwarm Kinder, doch ihres war nicht dabei.

Sie ging zu Louise am Süßwarenstand.

»Ich war mir sicher, sie würde hierher kommen. Kinder lieben Süßigkeiten.«

»Wheezie, versuchen wir's im Restaurant. Vorhin war sie auch dort.«

Sie liefen hin, jede besorgter, als sie der anderen gegenüber zugeben wollte. Keine Nickel.

Verzweifelt ließ sich Juts einen Moment auf einen Stuhl fal­len. »Das ist, als würde man mit einem Affen leben. Sie rennt und springt und wälzt sich herum. Sie klettert auf Äste und schaukelt daran. Wenn ich morgens aufstehe, ist sie schon auf. Gestern hat sie alle Schranktüren aufgemacht, jede Einzelne, sogar die über der Anrichte. Sie ist auf die Anrichte geklettert. Sie hat nichts rausgenommen, Gott sei Dank, aber alle Türen standen offen. Sie kann stundenlang in der Vorratskammer sit­zen und die Etiketten auf den Dosen angucken. Sie geht in mei­nen Kleiderschrank. Sie probiert meine Schuhe an. Letzte Wo­che hat sie sich Puder und Lippenstift ins ganze Gesicht ge­schmiert und Chessys beste Fliege ruiniert, weil sie die auch anhatte, einfach um den Hals gebunden. Herrgott im Himmel, was machen bloß die Leute, die mehr als ein Kind haben?« Ehe Louise erwidern konnte, daß ihre beiden nie so waren, warf Juts ihr einen strengen Blick zu. »Das ist deine Schuld.«

»Meine Schuld?« Wheezie fuhr sich mit der Hand an den Hals. Ihr Nagellack paßte zu ihrem Lippenstift.

»Du wolltest, daß ich ein Kind habe.«

»Was, ich?«

»Ist doch wahr, Louise. Morgens, mittags und abends hast du mir eingehämmert, ich sei keine richtige Frau, weil ich keine Mutter sei, und da siehst du mal, wie blöd ich war, ich habe dir geglaubt! Ich will keine Mutter sein. Das ist Schwerstarbeit, und zwar ununterbrochen.«

Louise, die gewöhnlich keinen Augenblick zögerte, sich zu verteidigen und ihre Schwester zu verhöhnen, überlegte, wägte ihre Worte. »Manche Tage sind besser als andere.«

»Tage? Ich wäre zufrieden, wenn ich nachts mal durchschla­fen könnte. Sie steht morgens um halb sechs auf. Ich höre sie, aber weil ich am Tag davor dauernd hinter ihr her war, bin ich so müde, daß ich gleich wieder einschlafe.«

»Wenigstens macht sie keinen Krach.«

»Nein, aber eines Tages steckt sie wahrscheinlich das Haus in Brand. Sie ist zu allem fähig!«

»Das wächst sich aus«, prophezeite Louise zuversichtlich.

»Hätte ich bloß nicht auf dich gehört.«

Louise beugte sich über sie. »Du bist erledigt. Zugegeben, sie ist ein kleiner Wildfang, aber sie ist ruhig.«

»Ruhig - sie ist praktisch stumm. Sie spricht kaum drei zu­sammenhängende Worte, und das ist mir unbegreiflich, denn das Kind ist klug, Wheezie. Manchmal ist sie so klug, daß es mir Angst macht. Wenn diese braunen Augen mich betrachten - da komme ich mir vor, als würde mich ein Tiger beobachten.« »Sie lernt. Als Maizie klein war, ist sie mir von einem Zim­mer zum anderen nachgelaufen und hat auf alles gezeigt, weil sie lernen wollte, wie Stuhl und Lampe heißen. Du mußt beden­ken, sie sieht die Welt zum ersten Mal.«

»Ja, zum Donnerwetter, und ich hab das Gefühl, ich sehe sie zum letzten Mal. Ich weiß nicht, ob ich das überlebe.«

»Überlasse sie Chessy für einen Tag.«

»Sie würde den Laden demolieren.«

»Er kann sie samstags oder sonntags einen halben Tag neh­men.«

»Kann ich sie nicht zurückgeben?« Juts rang sich ein blasses Lächeln ab.

»Das ist nicht dein Ernst.« Louise richtete sich gerade auf. »Es gab Tage, da wollte ich meine zurückgeben - natürlich gab es niemanden, dem ich sie hätte zurückgeben können, aber ich hätte allen beiden mit Freuden den Hals umgedreht.«

»Du - die perfekte Mutter?«

Ein schiefes Lächeln huschte über Louises hübsches Gesicht. »Zeige du mir eine Mutter, die nicht wenigstens einmal im Le­ben davon träumt, ihre Kinder zu Engeln zu machen, und ich zeige dir eine schamlose Lügnerin.«

»Ja - aber im Ernst, ich bin dieser Aufgabe nicht gewachsen.«

»Das ist niemand.«

»Warum hast du mich dann dazu getrieben?«

»Hab ich nicht. Nun ja - vielleicht habe ich ein, zwei Mal von Mutterschaft gesprochen.«

»Ein, zwei Mal - pro Tag!«

»Hat sie dich und Chester nicht wieder zusammengebracht?«

»Schon, aber jetzt haben wir nie Zeit für uns. Wenn wir ins Bett gehen, sind wir sogar zum Reden zu müde.« Juts fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, das nur eine winzige Spur Grau aufwies. »Wir müssen sie suchen.«

Sie verließen das Restaurant. In einer Ecke der zweigeschos­sigen Markthalle war ein Balkon. Er war dunkelgrün gestrichen und beherbergte hölzerne Schaukelstühle und eine Damentoilet­te. Wenn eine Dame sich mitten im Gemüse verausgabt hatte, konnte sie die Treppe hinaufsteigen, die Füße hochlegen, ein bißchen schaukeln und von einem kleinen Rattanfächer Ge­brauch machen. Auf dem Tisch vor der Toilette lag stets ein Stapel Fächer bereit. Juts hob gerade rechtzeitig den Blick, um zu sehen, wie Nickel einen Fächer über die Balkonbrüstung trudeln ließ. Das Kind stand auf der Brüstung.

»O Gott.« Julia sprintete den Gang entlang wie Jesse Owens.

Ratlos bemerkte Louise, daß sich Leute unter dem Balkon versammelt hatten. Die umsichtige, damenhafte Louise sah, wie der Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit jetzt auf der Brüstung tanzte. »Ach, du Scheiße«, flüsterte sie. Sie linste rasch nach rechts und nach links, erleichtert, daß niemand ihre ungehobelte Äußerung vernommen hatte. Dann eilte sie ihrer Schwester nach - ohne recht zu wissen, was sie tun sollte.

Juts kam unter dem Balkon abrupt zum Stehen. Nicky bewarf ihre Mutter mit Fächern.

»Nicky, Schätzchen, laß das bleiben. Sonst verletzt du noch jemanden.«

Louise trat hinzu und machte den Mund auf, um eine War­nung zu rufen. Nickel tanzte; sie packte einen Pfosten und dreh­te sich um ihn. Das Kind war sich offensichtlich keiner Gefahr bewußt.

Juts schlug ihrer Schwester die Hand auf den Mund und be­schmierte sie mit ihrem eigenen Lippenstift.

»Nicht.«

»Meine Dame, ist das Ihr Junge?«, fragte ein Mann mittleren Alters, die Stirn besorgt gerunzelt.

»Das ist mein Mädchen.« Juts sprach zu der Menschenmenge: »Erschrecken Sie sie nicht.« Dann wandte sie sich an Louise: »Du gehst die Treppe rauf. Ich spreche mit ihr, während du sie von hinten packst. Wenn sie fällt, versuche ich sie aufzufan­gen.«

»Julia, sie wird dir die Arme brechen.«

»Du machst dir zu viele Gedanken. Geh schon.«

Louise schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf.

Julia lächelte ihrem hüpfenden Kind zu. »Schätzchen, du bist ein Äffchen. Ich wette, du kannst nicht runtersteigen und dich auf einen Schaukelstuhl setzen.«

»Kann ich wohl.«

»Zeig es mir.« »Nein«, rief sie trotzig. Nickel gefiel es, im Mittelpunkt zu stehen. Es war prickelnd, alle Blicke auf sich gerichtet zu sehen.

Louise schlich leise hinter sie, packte sie um die Taille und hievte sie von der Brüstung. Unten wurde gejubelt.

»Nickel« - Louise zitterte - »du darfst nicht einfach so weg­laufen.«

Polternde Schritte ertönten auf der Holztreppe. Juts kam mit hochrotem Gesicht oben an. »Nicky, du hättest dir den Hals brechen können.«

»Nein.« Nickel schüttelte den Kopf.

Julia nahm ihrer Schwester das Kind ab.

»Für heute hatten wir genug Abenteuer.« Louise sackte in sich zusammen. »Ich habe meine Tüten beim Schinkenstand gelas­sen. Wir sollten unsere Sachen holen und nach Hause fahren.«

»Einverstanden.« Juts drückte das Kind, bevor sie es herunter­ließ. »Versprichst du mir, daß du nicht mehr einfach wegläufst, Nicky?«

Nickel nickte, aber ohne große Begeisterung.

Als sie den Yorker Markt verließen, meinte Juts zu hören, wie Nicky »Rillma Ryan« vor sich hin flüsterte, redete sich jedoch ein, daß sie in Wirklichkeit »Truman« sagte.

58

»Ein Schatz«, pries Juts das alte Nummernschild, das Nickel im Bach hinter Coras Haus gefunden hatte. Es war ein sengend heißer Tag. »Komm, wir waschen die Farbe ab. Das Ding ist ja ganz schwarz.«

»Neunzehneinundvierzig.« Nickel nannte stolz die Jahreszahl.

»Zahlen kannst du prima, Nicky.« Juts gab der Kleinen das Nummernschild, die es unter die Pumpe hielt, während sie den Schwengel herunterdrückte. Als nach wenigen Sekunden das Wasser herausschoß und Nickel naß spritzte, kicherte sie.

Juts nahm ihr das tropfende Nummernschild ab und wischte es mit einem alten Lappen sauber. Cora hatte immer einen Stapel Lappen an der Pumpe liegen.

»Momma, was hast du mit deinem freien Tag angefangen?«, fragte Juts ihre Mutter.

»Einen Eimer Erbsen gepflückt.« Cora zwinkerte Nickel zu. »Ich hatte Hilfe.« Während sie zu dem himmelblauen Haus auf dem Hügel zurückgingen, fügte Cora hinzu: »Rillma hat auch geholfen. Sie hat auf einen Plausch vorbeigeschaut.«

Juts versteifte sich. »Oh.«

Cora wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. »Mach dir keine Sorgen.«

»Es ist zu verwirrend, vor allem für. « Juts deutete mit dem Kopf auf Nickel.

»Du bist verwirrt.«

»Gar nicht wahr!« Juts warf das Nummernschild hin.

Nickel hob es auf, wischte mit der Hand den Staub ab und sah ihre Mutter an.

»Wir müssen alle miteinander auskommen, Julia.«

»Sie gehört mir.«

»Blut bleibt Blut.«

»Halt den Mund.«

»Sei nicht frech zu mir, Juts. Ich bin immer noch deine Mut­ter.«

Juts ließ sich auf die Verandastufe sacken. Cora sah ihrer Tochter ins Gesicht, doch die untergehende Sonne stach Julia in die Augen, weshalb sie sie mit der rechten Hand beschattete.

»Ein Kind ist kein Spielzeug, Julia, du kannst sie nicht ganz für dich allein haben.«

»Sie gehört mir!«

»Sie gehört sich selbst, jawohl, genau wie du dir selbst ge­hörst. Laß den Dingen ihren Lauf. Laß den Menschen ihren Lauf. Sonst bekommst du Probleme. Wenn nicht jetzt, dann später.«

»Probleme?« Juts war fassungslos. »Das einzige Problem ist, daß alle sagen, was ich als Mutter zu tun habe. Du sagst dies, Louise sagt das - Herrgott noch mal.«

»Das kriegt jede Mutter zu hören. Ich hab's von meiner zu hö­ren gekriegt. Das geht zu einem Ohr rein und zum anderen raus.«

Juts sah Nickel an, betrachtete dann beide. »Nicky, geh dir die Hände waschen, dann fahren wir nach Hause.«

»Nein.«

»Tu, was ich dir sage.«

»Nein.«

Juts sprang auf und gab Nickel einen Klaps auf den Hintern. »Los, setz dich ins Auto. Auf der Stelle.«

Mit dem Nummernschild in der Hand verzog sich Nickel ins Auto.

»Mutter, sie ist trotzig. Vielleicht wäre sie das nicht, wenn sie wirklich mein Kind wäre.«

»Das spielt keine Rolle - und sie ist dein Kind.«

»Warum reiben mir dann alle unter die Nase, daß sie's nicht ist? Daß ich nicht ihre leibliche Mutter bin.«

»Ich sage so etwas nicht, und ich bindeine Mutter. Auf wen willst du nun hören?«

»Du hast Recht - ich bin so erledigt, Momma.«

»Mach dir nicht so viel Sorgen. Dann kommst du auch wieder zu dir.«

Als Chessy später nach Hause kam, lief Nickel ihm mit dem Nummernschild entgegen. Er sagte, das sei ja ein toller Fund, und half ihr, es vorn an ihrer roten Spielzeugkiste zu befestigen.

Der Abend war schwül. Chester setzte sich hin, um Radio zu hören. Juts machte sich in der Küche zu schaffen, wo sie ihre Geschirrtücher ordnete.

»Komm her. Ich hab Sehnsucht nach dir.«

Mit Geschirrtüchern beladen setzte sie sich neben ihn aufs So­fa. »Die sehen aus wie Schweizer Käse.« Sie bohrte ihren Fin­ger durch ein Loch in einem Handtuch. »Ich kann sie flicken.« Sie bemerkte seinen abwesenden Blick. »Hörst du mir über­haupt zu?«

»Verzeih, Schatz. Mit kommt da ein Gedanke.« Beim letzten Wort hob er unsicher die Stimme.

»Na, so was, ich ruf gleich Popeye Huffstetler an, damit das morgen in der Zeitung steht.«

»Bin gleich wieder da.« Er ging auf Zehenspitzen nach oben, gefolgt von Yoyo, und notierte sich die vier Ziffern des Num­mernschilds. Dann beugte er sich über Nickel und küßte sie auf die Wange. Als Nächstes rief er Harper Wheeler an. »He, altes Haus.«

»Chessy, was gibt's?«, fragte der Sheriff.

»Nicht viel. Tust du mir einen Gefallen?«

»Kommt drauf an.«

»Nickel hat bei Cora ein übermaltes Nummernschild aus dem Bach gefischt. Es ist ein 1941er Kennzeichen aus Maryland, die Ziffern sind neun drei eins drei. Kannst du rauskriegen, wem das gehört hat?«

»Klar. Kann ein, zwei Tage dauern.«

»Ich hab da so eine Ahnung - weiß nicht, wieso, aber - ich sag's dir, sobald du's rausgekriegt hast.«

»Kein Problem. Grüß mir deine Frau.«

»Mach ich.«

Juts hatte das Radio leise gedreht, um mithören zu können. »Was hast du für eine Ahnung?«

»Es ist verrückt, Schatz, aber ich habe das Gefühl, daß das Nummernschild was mit dem Brand bei Noe zu tun hat. Fannie Jump hat gesagt, sie konnte das Nummernschild an dem Auto nicht erkennen, weil es übermalt war.«

59

Maizies zahlreiche Klavierkonzerte in ihrem Heimatstaat waren samt und sonders ein Erfolg gewesen. In New York reichte musikalisches Talent allein nicht aus, um ganz nach oben zu kommen. Ihr Abstecher dorthin war von gnadenlos kurzer Dau­er. Tausende wie sie strömten in die Hängenden Gärten des Neon, allesamt hoch talentiert. Auch fehlte es diesen viel ver­sprechenden jungen Menschen nicht an Ehrgeiz. Doch ein be­sonderer Funke, etwas, das sich nicht erlernen ließ, trennte die Stars von den lediglich Begabten.

Diese Erkenntnis traf Maizie mit der Wucht einer Kugel. Zer­knirscht gab sie auf und nahm den nächsten Zug nach Runny­mede. Vier Stunden später trat sie auf den vertrauten Bahnsteig. Ein schwacher Geruch nach Teer und abgestandenem Wasser, der vom Dampf kam, hing über den Gleisen.

Es war, als sähe sie den Bahnhof von Runnymede mit neuen Augen. Die geschrubbten Böden, an den Türpfosten hauchdünn abgetreten, das Eisengitter über den Fahrkartenschaltern, der Trinkbrunnen an der Seitenmauer zwischen den Damen- und den Herrentoiletten - alles kam ihr kleiner vor. Sie selbst fühlte sich auch kleiner.

Sie hatte ihre Eltern nicht verständigt. Niemand wußte von ih­rer traurigen Ankunft.

Ihr brummte der Kopf. Sie schleppte sich durch die Haupthal­le und stieß die Eingangstür auf. Kein Auto erwartete sie, kein Geschwätz von Patience Horney, die frühmorgens und abends ihre Brezeln verkaufte. Am Nachmittag legte sich Patience zu Hause hin.

Prachtvolle Tigerlilien, die in diesem Jahr erst spät blühten, bedeckten die Böschung gegenüber dem Parkplatz. DasKlak­kerdiklack des abfahrenden Zuges nahm Maizies Träume mit sich. Maizie Trumbull, ganze einundzwanzig Jahre alt, fühlte sich als Versagerin, als sie durch die Gasse zumClarion- Gebäude stapfte. Ihr schwerer Koffer schleifte über den Boden. DasBumpedibump machte sie noch niedergeschlagener. Sie dachte daran, ein Taxi zu rufen, aber sie hatte kein Geld. Zwar kannte sie alle Taxifahrer in Runnymede und hätte nur bis vor die Haustür zu fahren und sich das Geld von ihrer Mutter zu leihen brauchen, doch sie brachte es nicht über sich, zuzugeben, daß sie vollkommen pleite war.

Sie war so überwältigt von dem, was sie verloren zu haben glaubte, daß sie nicht erkannte, was sie gewonnen hatte. Eine Schlappe kann so wertvoll sein wie ein Sieg, wenn man sie zu nutzen weiß. Und Runnymede war voller Leben, Musik und Dramatik, in seinem eigenen Tempo. Jeder Weiler, jedes Städt­chen, jedes Dorf und jede Großstadt hatte ein bestimmtes Tem­po, eine eigene Persönlichkeit. Maizie gehörte hierher. Sie hatte die Heimat ihres Herzens gefunden.

In diesem Augenblick fand sie darin keinen Trost. Sie setzte sich auf ihren Koffer und weinte. Dann zog sie sich aus und rannte um denClarion-Parkplatz. Sie kollerte wie ein Truthahn, bis Harper Wheeler, von Walter Falkenroth gerufen, in seinem Streifenwagen angefahren kam. Harper forderte sie auf, sich wieder anzuziehen. Kaum hatte er ihr den Rücken zugekehrt, hatte sie sich wieder ausgezogen. Schließlich fesselte er die halb Entkleidete mit Handschellen an die Innenseite der Autotür. Mit einer Hand konnte sie nicht viel machen, sie konnte sich ledig­lich die Bluse aufknöpfen. Und sie schaffte es, mit den Schuhen nach ihm zu werfen.

Sie kreischte auf dem gesamten Weg zu Louise. Harper hatte sie vorher verständigt. Sicherheitshalber rief er auch Pearlie an, für den Fall, daß Maizie außer Kontrolle geriet. Er wollte eine Frau nicht schlagen.

Als er in die Zufahrt einbog, wurde er von Juts und Chessy empfangen. Louise hatte ihre Schwester benachrichtigt, die wiederum ihren Mann angerufen hatte.

Maizie öffnete die Autotür und schwenkte die nackten Füße heraus. Sie schrie: »Ich bin zu Hause, verfluchter Pöbel, ihr. Ich bin zu Hause, und ich hasse euch alle.« Sie fing wieder an, sich auszuziehen.

Louise lief zu ihr, um sie zu bändigen. Maizie schlug sie mit der freien Hand mitten ins Gesicht.

»Wirst du wohl deine Mutter nicht schlagen.« Juts packte ihre rechte Hand, als Harper die Handschellen aufschloß.

»Maizie.« Erschüttert legte Pearlie die Arme um seine Toch­ter, die kreischend um sich schlug. Chester packte sie an den Armen. Zur Belohnung biß sie ihn.

»Louise« - Harpers Stimme war auffallend sanft -, »ich rufe auf der Stelle Doc Horning.«

Mit kreidebleichem Gesicht nickte Louise stumm, als Harper zu seinem tragbaren Funkgerät griff. »Wagen zwölf, Wagen zwölf. Esther, treiben Sie Dr. Horning auf. Sofort. Zehn-vier.« Er wartete. »Doc, Harper. Können Sie gleich zu Louise Trum­bull kommen? Maizie braucht Hilfe, bringen Sie ein Beruhi­gungsmittel mit. Beeilen Sie sich. Keine Sorgen wegen eines Strafzettels.« Danach hängte er das handliche Funkgerät wieder an einen kleinen Haken unter dem Armaturenbrett.

»Ich geh nie wieder zur Messe«, verkündigte Maizie mit tri­umphierender Stimme.

»Schaffen wir sie hinein.« Harper packte Maizie an den Fü­ßen; sie hatte sich auf die Erde geworfen.

Doc Horning kam an, als die Männer sie durch die Haustür trugen. Sie hielten sie fest, während er sie mit einem Beruhi­gungsmittel außer Gefecht setzte. Sie schrie Zetermordio, als die Injektionsnadel zustach. Sie wurde aufs Sofa getragen; das Mittel wirkte rasch.

Louise zitterte so stark, daß Juts sie in die Arme nahm.

»Hat sie sich schon jemals so aufgeführt?«, fragte der Doktor. Seine randlose Brille war ihm von der Nase gerutscht.

»Nein«, antwortete Pearlie. Louise schüttelte den Kopf.

»Keine rebellische Phase? Schlechter Umgang?«

»Widerworte, aber mehr nicht. Mary war die Schwierige.« Louise ließ sich von Julia zu einem Sessel führen. Sie erwähnte auch den Brand in der Klosterschule nicht, aber Doc Horning wußte natürlich Bescheid. Dergleichen ließ sich schwerlich über Jahre verschweigen.

»Also, das passiert eben mit den jungen Leuten. Sie muß die Tabletten die nächsten zwei Tage nehmen.« Er gab Louise ein kleines Röhrchen. »Bringen Sie sie am Dienstag zu mir, wenn sie einverstanden ist, und dann führe ich ein paar Untersuchun­gen durch. Wenn sie sich sträubt, werde ich sie mit Ihrer Er­laubnis zu Dr. Lamont in Hagerstown bringen.«

Beide Eltern nickten.

»Was fehlt ihr?« Juts blieb dicht bei Louise.

Er verschränkte die Hände, drehte sie einwärts und ließ unab­sichtlich die Knöchel knacken. »Ich weiß es nicht. Meinem Eindruck nach ist sie bei guter Gesundheit, nur etwas durchein­ander. Der Verstand kann aussetzen wie ein überlasteter Motor - Sie kennen das bestimmt, wenn manche Dinge stehen bleiben, bevor sie den Geist aufgeben? Sie wird sich höchstwahrschein­lich fangen. Ich würde Ihnen raten, sie nicht zu bedrängen. Stel­len Sie ihr keine Fragen. Lassen Sie sie schlafen, und wenn Sie sie anschreit, gehen Sie nicht darauf ein. Sie wissen, wo Sie mich finden.«

»Danke«, sagten Pearlie und Louise wie aus einem Munde.

Chester ging mit Harper zum Streifenwagen, Pearlie begleitete Dr. Horning hinaus.

»Chester, der Klatsch wird euch zwangsläufig zu Ohren kom­men. Maizie hat sich ausgezogen und ist splitternackt um den Clarion-Parkplatz gelaufen. Walter Falkenroth hat mich angeru­fen. Bring du es Louise bei. Ist vielleicht weniger peinlich, wenn sie's von dir erfährt.«

»Du meinst, sie ist übergeschnappt?«

»Ich weiß es nicht. Je länger ich lebe, desto weniger weiß ich und desto mehr sehe ich.«

»Ja, das Gefühl kenne ich.« Chester wischte sich mit der Hand über die Stirn, eine unbewußte Geste der Besorgnis.

»Oh, fast hätte ich's vergessen. Nachricht aus Baltimore. Das alte Nummernschild - war ein Firmenfahrzeug der Rife- Konservenfabrik. Ich bin hingefahren und habe Teresa gebeten, in den Firmenunterlagen nachzusehen.« Er hielt inne. »Sie sagt, das Nummerschild gehörte zu einem 1938er Ford. Sie konnte sich nicht an das Fahrzeug erinnern, aber es gab Unterlagen darüber.«

»Das ist alles?«

»Was Teresa betrifft. Nicht, was mich betrifft. Niemand hat damals einen Pkw oder Lieferwagen als gestohlen gemeldet. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Napoleon oder Julius Rife den Verlust eines Fahrzeugs einfach so hinnehmen. Ich sage dir, was ich tun werde, Chessy. Ich gehe morgen angeln. Kommst du mit?«

60

Ein leichter Nieselregen malte vollendete Kreise auf den tiefen Bach. Harper, Chessy, Pearlie und Noe schleppten Fischernetze. Chessy hatte Nickel mitgenommen, weil Julia sich um Louise kümmern mußte. Unter dem Einfluß des Beruhigungsmittels war Maizie einigermaßen ruhig. Doch sobald die Wirkung nachließ, kollerte sie wieder wie ein Truthahn. Sie blieb ange­zogen, weil Louise sie mit einer Gerte gezüchtigt hatte. Mary, die zurzeit im Bon-Ton arbeitete, hatte versprochen, nach der Arbeit zu helfen.

Wegen der ungewöhnlichen Hitze trug niemand einen Re­genmantel. Der Nieselregen tat gut. Chessy, Pearlie und Nickel angelten aus einem kleinen Kahn heraus. Sheriff Harper Whee­ler und Noe Mojo waren schneller, ihr Boot hatte den Rumpf unter der Kimm, und der Außenbordmotor war größer.

»Daddy?«

»Ja, Schätzchen?«

»Beißen die Fische an?«

»Heute nicht.«

»O. B. sagt, bei Regen fischt es sich am besten«, zitierte sie den Stallburschen.

»Er hat Recht, aber wir suchen nach einem Lieferwagen.«

»Können Lieferwagen schwimmen?«

Pearlie lächelte. »Dieser nicht.«

»Oh.« Sie ließ ihre Hand ins kühle Wasser baumeln und sah den kleinen Wellen zu.

Fannie Jump Creighton kam zu der kleinen Anlegestelle ge­fahren. Sie kurbelte ihr Fenster herunter. »Seit wann seid ihr schon hier draußen, Jungs?«

»Sonnenaufgang«, antwortete Noe.

»Warum habt ihr mich nicht angerufen?«

»Haben noch nichts gefunden. Wozu fünf Cent verschwen­den?«, erwiderte Harper Wheeler.

Sie sah auf ihre mit Diamanten besetzte Armbanduhr. »Zeit fürs Mittagessen. Kommt ihr in die Stadt, oder soll ich euch etwas rausbringen?« »Wir kommen rein. Nur noch ein paar Minuten.« Harper schob seine Pfeife in den anderen Mundwinkel. Sie war nicht angezündet, aber das Saugen beruhigte ihn.

»Daddy?«

»Was, Schätzchen?«

»Da drüben ist ein großer Fisch.« Sie zeigte auf ihn. Wasser tropfte von ihrem Zeigefinger.

»Wie schön.«

»Guck doch.« Sie klang beleidigt, weil er ihrem Fisch keine Beachtung schenkte.

»Wo?«

»Da. Das ist bestimmt ein Riesenkatzenfisch.«

»Bestimmt nicht.« Er winkte Harper zu. »Guck mal, hier drü­ben.«

Als Harper und Noe näher kamen, klatschten die kleinen Wel­len an die Seite des Kahns.

»Da drüben.« Chessy zeigte hin.

Pearlie blinzelte. »Was immer es ist, es ist groß.«

»Es ist ein Wal«, sagte Nickel überzeugt.

»Nicky hat ihn zuerst gesehen«, lobte Chester sein Mädchen.

»Schwer, in dem Regen überhaupt was zu sehen«, brummte Harper; denn es regnete jetzt stärker.

»Soll ich auswerfen?«, fragte Noe.

Er hob die Angel über den Kopf, ließ sie kreisen und warf den Haken gekonnt in die tiefe Seite des Baches. Eine Sekunde später zog er an. »Hab was erwischt.«

Sie schufteten den ganzen restlichen Nachmittag; mit Hilfe von Yashew Gregorivitchs Abschleppwagen, den Harper orga­nisiert hatte, zogen sie den verrosteten Lieferwagen aus dem Bach. Die Worte>Rife-Konserven< auf der Seite waren übermalt worden. Das Nummernschild fehlte.

Fannie stand mit offenem Mund da, als der Lieferwagen aus seinem nassen Parkplatz gehievt wurde.

»Wie ist er da runtergekommen?«, fragte sie.

»Na ja, in sieben Jahren ist er zwangsläufig ein bißchen abge­trieben, auch wenn er schwer ist. Schließlich hatten wir in den letzten Jahren schwere Regenfälle im Frühjahr.«

»Irgend jemand hätte ihn doch mal sichten müssen.« »Nicht, wenn der Fahrer ihn an der tiefsten Stelle des Baches versenkt hat, und das wäre hinter Toad Suck Ferry.« Die alte Fährstation lag ungefähr zweieinhalb Kilometer nördlich der Lagerhalle und vom Sans Souci. Die Station, die nicht mehr in Betrieb war, befand sich an der breitesten und tiefsten Stelle des Baches.

Fannie ging langsam um den baumelnden Lieferwagen herum. »Das ist er. Das kann ich beschwören. Und schade um das gute Stück, dieser zwielichtige Scheißkerl.« Da fiel ihr Nickel ein. »Verzeihung, Nicky. Tante Fannie sollte man den Mund stop­fen.«

»Warum bloß wollten die Rifes Sie abfackeln?« Harper fä­chelte sich mit seinem Sheriff-Cowboyhut.

»Keine Ahnung.«

»Ach, kommen Sie, Noe, irgendwas muß denen doch gestun­ken haben.« Harper ärgerte sich, weil er für die Brandstiftung im Jahre 1941 noch immer kein Motiv gefunden hatte.

»Ich spreche doch kaum mit den Rifes. Was sollten sie gegen mich haben, abgesehen vom Nächstliegenden?«

»Das ist nicht der Grund.« Pearlie lehnte an dem Abschlepp­wagen.

»Es muß einen Grund geben, verdammt!« Harper stemmte die Hände in die Hüften. »Man fackelt andere Leute doch nicht grundlos ab.«

Noe zuckte die Achseln. »Es war Pearl Harbor.«

»Daddy, was ist Pearl Harbor?«, flüsterte Nickel.

»Erklär ich dir später.«

Sie griff nach seiner Hand, zuversichtlich, daß er sein Ver­sprechen halten würde.

»Wir können nicht hundertprozentig davon ausgehen, daß es die Rifes waren. Es hätte einer ihrer Angestellten sein können oder jemand, der ihren Lieferwagen gestohlen hat und was ge­gen Noe hatte. Oder vielleicht war es wirklich wegen Pearl Harbor. Damals haben wir das jedenfalls geglaubt«, sagte Fan­nie.

»Wenn ein Lieferwagen der Rife-Konservenfabrik gestohlen worden wäre, glauben Sie nicht, daß ich umgehend lautes Ge­schrei zu hören gekriegt hätte?« Harper schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, die zwei haben da mitgemischt.« Dann fügte er hinzu: »So, Jungs, unseren Lieferwagen haben wir gefunden. Jetzt gilt es, plausible Schlußfolgerungen zu ziehen.«

»Verflixt noch mal.« Fannie spuckte auf die Erde, keine da­menhafte, aber eine angebrachte Geste, denn Popeye Huffstetler kam in seinem alten Wagen angebraust.

»Dieser aufgeblasene Trottel!« Harper schlug sich mit seinem Hut aufs Bein. Chessy hob Nickel hoch und setzte sie auf seine breiten Schultern. »Hansford sagte immer, Popeye könnte ei­nem sogar feuchte Träume vermasseln.«

Die Männer und Fannie brachen in Gelächter aus.

»Daddy, was sind feuchte Träume?«

»Äh - das erklär ich dir später, Schätzchen.«

»Hansford hat etwas Merkwürdiges gesagt, als ich ihn verhört habe. Was war das noch gleich wieder?«

Popeye fuhr vor, in der einen Hand den Notizblock, während er mit der anderen den Motor abstellte. Er feuerte Fragen ab, noch bevor er mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Als er Pearlie erblickte, platzte er heraus: »Louise schweigt sich aus über Maizies Auftritt und.«

»Maul halten, Huffstetler!« Pearlie lief rot an.

»He, es geht hier um Informationen, und Ihre Tochter hat sich beimClarion zur Schau gestellt und.« Er kam nicht zum En­de, weil Pearlie ihm einen rechten Haken verpaßte.

»Wenn Sie auch nur ein Wort über die Probleme meiner Tochter drucken, schlag ich Ihnen die Zähne aus, Sie dämliches Stück Scheiße!« Pearlie trat auf den taumelnden Popeye zu, dessen Notizblock und Stift im sandigen Lehm lagen.

»Paul, es muß Ihnen doch klar sein, daß alles, was die Leute in dieser Stadt tun oder sagen, von Interesse ist und daß ich den Bürgern gegenüber die Verantwortung für.« Als er zurück­wich, fiel er über einen Baumstamm.

Paul stellte sich rittlings mit geballten Fäusten über ihn. »Ich trete keinen Mann, der am Boden liegt, was ich von Ihnen nicht sagen kann.«

Popeye rappelte sich hoch. »Es geht um Informationen«, wie­derholte er. »Die ganze Stadt weiß Bescheid. Liefern Sie mir Ihre Seite der Geschichte.«

Pearlie holte zu einem linken Haken aus; seine Hände waren flink für einen Amateur. Popeye duckte sich und wich seitwärts aus.

Harper, der es nicht eilig hatte, einzugreifen, schlenderte ge­mächlich zu Pearlie. »Pearlie, überlassen Sie das mir.«

Chessy stand jetzt neben seinem Schwager. »Komm, Pearlie. Ich fahr dich nach Hause.«

»Gib's ihm, Onkel Pearlie!« Nickel klatschte begeistert in die Hände.

Mit Tränen in den Augen ließ Pearlie es sich gefallen, daß Chester seinen Arm um ihn legte und ihn zum Auto führte.

Fannie wartete beim Wagen.

Keiner hörte, was Harper zu dem Reporter sagte, aber alle hörten Popeyes lautes »Jawohl, Sir«.

Der Sheriff trat wieder zu der Gruppe. »Noe, ich habe Popeye gesagt, er kann kommen, wenn wir um Ihre Fabrik herum bud­deln. Ist Ihnen das recht?«

»Seit wann buddeln wir um meine Fabrik herum?« Noe legte verwundert den Kopf schief.

»Seit mir eingefallen ist, was Hansford zu mir gesagt hat.« Er hakte die Finger in seinen Gürtel, zwinkerte Nickel zu und stol­zierte davon.

61

»Ich bin nicht verrückt.«

»Hab ich auch nicht gesagt.« Mary sah auf ihre kleine Arm­banduhr, als sie die von Bäumen gesäumte Straße entlang schlenderten.

»Wenn ich so langweilig bin, geh doch nach Hause.«

»Sei nicht so empfindlich. Billy hat bald Feierabend.«

»Ich bin aber empfindlich. Alle glotzen mich an. Schön, ich hab mich ausgezogen und bin um den Parkplatz gelaufen. Ich hab niemanden erschossen.«

»Nein.«

»Also.« Maizie bemerkte, daß die Fensterläden von Orrie und Noe Tadjas Haus dunkelgrün gestrichen waren. Schräge Sonnenstrahlen fielen auf das verlockende Grün des Rasens. »Wann haben sie das gemacht?«

»In der Woche, als du in New York warst. Billy hat ihnen die Läden gestrichen, als Ausgleich für die paar Mal, die er zu spät gekommen ist.« Mary seufzte. »Daddy geht ihm manchmal auf die Nerven, und er geht Daddy auf die Nerven.«

»Er hat alle überrascht«, stellte Maizie fest, ohne näher zu er­klären, womit Billy alle überrascht hatte.

»Nicht so sehr wie du.«

Maizie zuckte die Achseln, machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück.

Mary holte sie im Eilschritt ein und nahm ihre Schwester am Arm. »Ich wollte nicht schroff sein. Großer Gott, hoffentlich höre ich mich nicht an wie Mom.«

»Nein. Sie stopft mir dauernd diese Tabletten in den Rachen. Ich spucke sie aus, sobald sie aus dem Zimmer ist. Junge, schmecken die bitter.«

»Es gibt nichts Schlimmeres als Magnesiamilch.«

»Wohl wahr.«

Ein Blauhäher kreischte über ihnen.

»Ich liebe diese Jahreszeit. Billy und ich gehen gern im Mondschein spazieren und riechen die Blätter, wenn sie sich bunt färben.« »In mich wird sich nie einer verlieben.« Maizie schlug die Augen nieder.

»Das ist nicht wahr.«

»Würdest du dich in eine Frau verlieben, die nackt um den Clarion gelaufen ist?«

»Ich weiß nicht.« Mary zögerte. »Warum hast du das getan?«

»Mir war danach.« Sie machte einen Riesenschritt nach vorn. »Weißt du, was los ist, Mary? Es hängt mir alles zum Hals raus. Seit ich zurückdenken kann, heißt es tu dies, sag das, mach dein Kleid nicht schmutzig, wasch dir die Hände, sprich nicht mit vollem Mund, häng deine schmutzigen Sachen nicht öffentlich zum Lüften raus, küsse nicht bei der ersten Verabredung, pflege keinen schlechten Umgang, blablabla - ich hab's satt. Ich hab's satt, mir anzuhören, was die alten Ärsche von früher erzählen. Gibt es einen Quadratzentimeter in Runnymede, der nicht mit Erinnerungen von irgendwem getränkt ist?«

Mary, die selten Dinge hinterfragte, war erstaunt über den Ausbruch ihrer Schwester. »Mann, darüber hab ich nie nachge­dacht.«

»Tausend unsichtbare Fäden binden mich fest.«

»Wenn dich nichts festbindet, schwebst du davon.« Mary lachte nervös.

»Du hast Billy und die Jungs.«

»Ja. ich wünschte nur, wir hätten mehr Geld.«

»Auch das hab ich bis obenhin satt. Geld, Geld, Geld. Seit ich zurückdenken kann, hat Momma Geldsorgen. Und als sie den verflixten Friseursalon hatte, hat sie jeden Tag das Geld aus der Registrierkasse abgeschleppt. Weißt du noch? Sie hat die Fünf­centstücke in rote Pappröhrchen und die Geldscheine in Leinen­tüten gesteckt und ist zur Bank gerannt. Geld, Geld, Geld!«

»Du weißt doch, wie Momma ist.«

»Sie will, daß ich so werde wie sie.«

»So ist sie mit allen. Es liegt nicht an dir.«

»Aber ich hab's satt.«

»Maizie, du kannst es satt haben, aber du mußt dich deswegen nicht ausziehen, und du mußt nicht kollern wie ein Truthahn.«

Maizie brach in Lachen aus. »Das tu ich, um sie zum Wahn­sinn zu treiben. Es macht ihr Angst.«

Abrupt blieb Mary stehen. Sie war schockiert. »Das ist ge­mein.«

»Wie du mir, so ich dir.«

»Warum bist du so wütend auf Mom?«

»Weiß ich nicht.«

»Vergiß es. Nimm sie dir nicht so zu Herzen.«

»Du hast leicht reden. Du wohnst ja nicht mehr bei ihr.«

»Das müßtest du auch nicht, wenn du eine richtige Arbeit hät­test.«

»Was soll ich denn in Runnymede machen, verdammt noch mal?«

»Du könntest Unterricht geben.«

»Ich habe keine Ausbildung.«

»Arbeite bei Yosts. Sie brauchen noch jemanden in der Bäckerei.«

»Millard ist ein Lüstling.«

»Ist das wahr?«

»Ja.«

»Irgendwas muß es doch geben.«

»Du hast keinen Grund zur Sorge.«

»Ich hab aber Sorgen«, widersprach Mary. »Wir haben so we­nig Geld. Ich arbeite halbtags im Bon-Ton.«

»Das meine ich nicht. Ich meine, du weißt, was du tust. Ich weiß überhaupt nichts. Ich fühle mich irgendwie verloren, auch wenn ich weiß, wo ich bin.«

Als sie sich dem Haus näherten, wurde Marys Schritt be­schwingter, denn Billys verbeulter roter Lieferwagen kam um die Ecke gebogen.

»Was sagt er über mich?«, fragte Maizie düster.

»Nichts. Billy ist nicht so.« Mary überlegte einen Moment, dann sagte sie rasch, bevor er den Bordstein erreichte: »Was immer er in Okinawa gesehen hat.« Sie drehte die Handflä­chen nach oben, eine unwillkürliche Geste, und ließ den Ge­danken unvollendet. »Kleinigkeiten prallen an ihm ab.«

»Nicht mehr so ein Draufgänger?«

»Er ist voller Tatendrang, aber er ist anders, seit.«

»Du hast Glück.«

»Deins wird noch kommen.«Maizie kollerte, dann kicherte sie. »Das ist gräßlich!«

62

Louise schlief in einem Korbsessel auf ihrer umzäunten Veran­da. DasPlitschplatsch des Regens auf der Glyzine, die sich an den Verandapfosten hochrankte, hatte sie eingelullt. Doodlebug döste zu ihren Füßen.

Julia sah zu ihr herein, mit Nickel an ihrer Seite.

»Momma«, flüsterte Nickel, »soll ich ihr was vorsingen?«

Das Kind, eine Frühaufsteherin, kroch immer zu Juts und Chester ins Bett und weckte sie mit »Hoppe, hoppe, Reiter«. Sie sang mit ihrer hübschen Stimme selbst ausgedachte Reime über Yoyo, Buster, Vögel, Raupen und Pferde, die mit »Guten Mor­gen!« endeten.

»Nein.«

»Aber Momma, warum schläft sie? Jetzt ist keine Schlafzeit.«

»Sie ist müde.«

»Ist Maizie auch müde?«

»Ja, Maizie ist nicht ganz bei sich.«

»Ist Doodlebug müde?« Die Ohren des Boston Bullterriers zuckten vor und zurück, als Nickel seinen Namen nannte.

»Ja«, antwortete Juts gereizt. Sie nahm Nickel an der Hand und ging mit ihr von der Veranda in die Küche. Sie hatte Un­mengen Kartoffelsalat und Biskuits für ihre Schwester gemacht. Die Speisen waren so weit abgekühlt, daß sie sie in den Kühl­schrank stellen konnte. Jedes Mal, wenn Juts zu Besuch kam, beneidete sie Wheezie um ihren neuen Kühlschrank. Sie selbst benutzte noch einen Eiskasten.

Schlurfende Schritte in Pantoffeln kündigten Maizie an.

»Zeit für deine Medizin?«

»Ich schlucke diesen Scheiß nicht mehr«, erwiderte Maizie trotzig, dann bemerkte sie Nickel. »Verzeihung, Nicky. Ich habe ein schlimmes Wort gesagt.«

»Ich kenn auch ein schlimmes Wort.«

»Tatsächlich?«

»Deckchen.«

»Das ist kein schlimmes Wort.«

Als Maizie den Kühlschrank aufmachte, ging innen ein Licht an, das Neueste an Komfort. Sie nahm einen Krug Limonade heraus. »Möchte jemand?«

»Nein danke.« Juts lehnte sich an die Anrichte.

»Nick?«

»Nein.«

»Nein und weiter?«, sagte Juts streng.

»Nein danke.«

»Schon besser.«

»Maizie, der Doktor möchte, daß du deine Tabletten nimmst, bis sie aufgebraucht sind. Ist ja nicht mehr lange.«

»Stimmt.« Maizie warf die Tabletten in den Ausguß.

Juts griff in den Abfluß, zu spät. Sie behielt die Fassung.

»Dr. Horning stellt sicher noch mal ein Rezept aus. Ich rufe ihn an.«

»Nein. Ich bin nicht verrückt. Ich hab mich ausgezogen, aber ich bin nicht verrückt.«

»Ich zieh mich auch aus«, erklärte Nickel.

Das tat sie allerdings. An heißen Tagen erlaubte Juts ihr, bar­fuß in kurzen Hosen und ohne Hemd herumzulaufen.

»Nicky, willst du nicht« - Juts sah aus dem Fenster; es regnete stärker - »ins Wohnzimmer gehen? Tante Wheezie hat so schö­ne Bilderbücher.«

»Weiß ich.« Sie kannte sie alle auswendig.

»Tante Juts, sie kann ruhig hier bleiben. Ich kriege keinen Koller.«

»Der Doktor hat gesagt, wir sollen dich nicht zu viel fragen. Den Druck nicht noch erhöhen oder so. Ich weiß nicht.«

»Weißt du, was passiert ist?« Sie stellte das leere Limonaden­glas auf die Anrichte. »Ich bin aufgewacht und konnte nichts sehen. Meine Augen konnten sehen, aber ich nicht. Völlige Leere.«

»So geht es uns allen dann und wann.«

»Ich habe kein Leben, Tante Juts.« Ihre Kehle schnürte sich zusammen. »Leer.«

»Natürlich hast du ein Leben«, entgegnete Juts.

»Weißt du was? Wenn ich Mutter angucke, denke ich, werde ich einmal so aussehen? Werde ich mich eines Tages so aufführen? Es liegt im Blut. Das macht mir solche Angst, daß ich nicht mehr geradeaus gucken kann. Nicky hat Glück gehabt.«

Den Kopf schief gelegt wie ein wißbegieriger Vogel sah Nik­ky sie mit ihren wachen braunen Augen an.

»Das will ich hoffen.« Doch Juts war beunruhigt. Was, wenn Nickel nun wieihre Mutter würde oder wie ihr unsichtbarer Vater? Was, wenn ihr eigener Einfluß sich verflüchtigte und nicht mehr Spuren hinterließ als eine Parfümwolke?

»Tante Julia, wozu lebt man denn? Ich will nicht in diesem Kaff leben und sterben. Ich will nicht werden wie meine Mutter oder meine Schwester. Ehrlich gesagt will ich auch nicht wer­den wie Dad. Es ist so eng. Alles ist so eng.«

»Ich sage mir, wo ich bin, da ist die Welt.« Julia meinte es ernst. »Was hast du da oben erlebt?«

»Was habe ich hier erlebt?«, gab Maizie wehmütig zurück. »Nichts. Ich habe wohl gedacht, mein Leben würde so sein wie ein Film. Nicht wie das hier.«

»Hab Geduld«, riet ihr die, die sich selten geduldete.

»Warum? Wozu? Ich habe nicht mal einen Freund. Was soll ich machen, bis der Märchenprinz kommt?« Ihre hellblauen Augen trübten sich. »Mutter möchte, daß ich Krankenschwester oder Lehrerin werde. Krankenschwester? Ich will keine Bett­pfannen wechseln, ich will nicht alten Männern den Puls mes­sen oder Fremde baden. Ich will keine Menschen anfassen, die ich nicht kenne. Mutter meint, es ist ein anständiger Beruf und in meiner Freizeit kann ich Klavier spielen.«

»Und wie wär's mit Lehrerin?«

»Ich würde die Blagen umbringen.«

»Hm, du könntest Sekretärin werden oder im Bon-Ton arbei­ten, das heißt, wenn sie Leute einstellen.«

Maizie schüttelte den Kopf.

»Ich will Cowgirl werden«, rief Nickel dazwischen.

»Still, Nicky«, schalt Juts sie milde.

»Ich kann arbeiten!« Nicky zeigte sich streitlustig.

»Ich spreche mit Maizie. Halt du dich da raus.«

Nickel stemmte die Hände in die Hüften. »Ich werde Cow­girl!« Ihre Augen funkelten. »Ich und Maizie.«

»Aber ja, Nicky«, besänftigte Maizie sie.

Nickel hob die Stimme. »Siehste!«

»Willst du wohl still sein.«

»Ist schon gut, Tante Juts. Laß uns hier verschwinden. Fahren wir irgendwohin.«

»Dann muß ich deine Mutter aufwecken.«

»Das mach ich.« Nickel hüpfte auf die Veranda und legte die Hände um den Mund. »Koller, koller, koller!«

Louise fuhr so schnell aus dem Korbsessel, wie Juts auf die Veranda gerannt kam. Juts packte Nickel am Arm und schlug sie fest auf den Hintern. Nickel zuckte zusammen, weinte aber nicht. Maizie krümmte sich vor Lachen.

»Mach das nie wieder!« Juts ließ Nickels Arm nicht los.

Louise blickte von Nickel zu Maizie. »Was ist hier los?«

»Es ist ansteckend«, johlte Maizie.

»O Gott, nein.« Louise griff sich an den Hals.

»Mutter, reiß dich zusammen. Ich hab bloß Spaß gemacht.«

»Das ist nicht lustig.« Louise, ganz gekränkte Würde, wandte sich an Nickel. »Du bist ein ungezogenes Mädchen.«

»Ich und Maizie gehen jetzt weg.« Nickel riß sich von ihrer Mutter los und stapfte zu Maizie. »Komm.«

»Bis dann.« Maizie nahm sie an der Hand, winkte den Schwe­stern zu und wollte zur Tür.

»So, und wohin geht ihr, wenn ich fragen darf?« Louise sprin­tete zur Haustür.

»Laßt uns zur Lagerhalle fahren«, schlug Juts vor. »Chessy und Pearlie sind da draußen. Vielleicht haben sie was gefun­den.«

»Und wenn es Leichen sind?« Louise schürzte die Lippen.

»Na, prima.« Maizie öffnete die Tür.

Louise flüsterte Juts zu: »Es scheint ihr besser zu gehen. Hat sie ihre Medizin genommen?«

»Nein, sie hat sie in den Ausguß gekippt.«

»Was?«

»Louise, darum können wir uns später kümmern. Es scheint ihr besser zu gehen. Konzentrieren wir uns auf das Positive.«

»Ich muß Dr. Horning anrufen.«

»Ruf ihn später an, komm jetzt.«

»Du hast leicht reden.« »Sie ist nicht krank. Wirklich nicht.«

»Los, kommt!«, rief Maizie; sie und Nickel saßen schon im Auto. Nickel hüpfte auf dem Sitz auf und ab.

»Moment noch.« Louise trat hinaus, dann flüsterte sie Juts zu: »Wenn sie nicht krank ist, was fehlt ihr dann?«

»Ich habe kein Wort dafür. Sie ist gegen eine Mauer gerannt, und jetzt muß sie sich unten durchgraben, drüberklettern oder mitten durchstürmen.«

»Und was zum Teufel soll das heißen?« Louise schnappte wü­tend nach Luft, weil sie geflucht hatte. »Wirklich, das macht mich ganz fuchsig.«

»Besser als gallig.«

Louise verzog das Gesicht. »Was hat sie dir erzählt?«

»Sie versucht herauszufinden, was sie mit ihrem Leben anfan­gen soll. Das ist nicht so sonderbar.«

»Sie wird heiraten und Kinder kriegen, das wird sie mit ihrem Leben anfangen, und in der Zwischenzeit kann sie ein bißchen Geld verdienen. Wenn sie Krankenschwester ist, lernt sie einen Arzt kennen. Das ist der Plan.«

»Dein Plan.«

»Julia, jemand muß ja für sie denken.«

»Kommt jetzt!«, rief Maizie und fügte dann hinterhältig hin­zu: »Koller, koller, koller.«

Nickel stimmte ein.

»Ich sollte sie beide windelweich prügeln.« Louise stampfte zum Auto hinaus. »Werdet ihr wohl sofort aufhören!«

Julia hüpfte auf den Beifahrersitz. »Leichen, wir kommen.«

Als sie auf der gewundenen Straße zur Fabrik fuhren, flüsterte Nickel Maizie hinter vorgehaltener Hand zu: »Ich mach die Augen zu.«

»Was hat sie gesagt?« Louise lebte in ständiger Angst, etwas zu verpassen.

»Wenn dort Leichen sind, macht sie die Augen zu.«

Juts lachte. »Und was tut sie gegen den Gestank?«

Nicky zwickte sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nase, was alle zum Lachen brachte.

In der Fleischlagerhalle wurden keine Leichen zutage geför­dert. Aber man hatte einen Raum ausgegraben, der durch einen Tunnel zu erreichen war. Noe und seine Frau Orrie sowie Fan­nie Jump Creighton, Harper Wheeler, Harmon Nordness, Ches­sy und Pearlie standen in der kühlen, mit Ziegelsteinen gemau­erten Kammer.

Juts trat ein. »Die ist ja so groß wie eine Turnhalle!«

Vom Boden bis zur Decke stapelten sich Kanonenkugeln, Kartätschen, Kanister und Patronen. Es war ein Arsenal.

Louise und Maizie traten ein, ihnen blieb der Mund weit offen stehen.

Nickel lief zu ihrem Dad.

»Seht euch das an.« Fannie zeigte auf die linke Seite der Kammer.

Die ganze Ausrüstung trug den Stempel der Konföderierten, C.S.A.

»Und jetzt sehen Sie hierher.« Harper geleitete die Damen.

Die Munition trug den Stempel U.S.A.

»Dieser Mistkerl. Es stimmt, was man sich über ihn erzählte! Er hat im Krieg an beide Seiten verkauft«, ereiferte sich Juts. »Wenn Celeste das doch sehen könnte. Ihr Vater hat Cassius Rife verachtet.«

»Vielleicht machen sie es im Jenseits unter sich aus«, witzelte Harper Wheeler.

»Aber warum sollte sich jemand heute deswegen beunruhi­gen? Warum das Gebäude niederbrennen?«, fragte Louise.

»Wer weiß?« Harper schüttelte den Kopf. »Versicherung. Pearl Harbor hat ihnen den perfekten Zeitpunkt geliefert. Diese habgierigen Schweine. Sie haben so viel, aber sie wollten noch mehr.«

»Ich habe Julius angerufen. Er sagt, er weiß nichts von dieser Kammer«, teilte ihnen Harmon Nordness mit. »Rein gar nichts.«

Da die Rifes auf der Pennsylvania-Seite der Grenze wohnten, oblag es Sheriff Nordness, den Anruf zu tätigen.

»Vielleicht hat Brutus es gewußt und seinen Söhnen nichts gesagt oder es nur einem erzählt.« Pearlie überlegte. »Nee, sie haben es beide gewußt.«

»Ja«, sagte Chester. »Sie haben vermutlich Papiere des alten Herrn gefunden.« »Wen geht das heute noch was an?« Julia starrte auf das Zeug.

»Uns«, sagte Fannie Jump. »Uns alle. Wir sind aufgewachsen mit Geschichten, wie Cassius seine Millionen gescheffelt hat, aber niemand konnte etwas beweisen. Es war wie bei den Skla­venhändlern, so schlimm war es damals im Krieg, hat Celestes Daddy immer gesagt. Das ist achtzig Jahre her, also gar nicht so lange. Es ist, als würde man gleichzeitig an Hitler und Roose­velt Waffen verkaufen.«

»Was ist ein Sklavenhändler?«

Fannie antwortete Nickel: »Das ist einer, der die Schwarzen auf einem Schiff aus Afrika hierher gebracht und verkauft hat. Lange, lange vor diesem Krieg. Es waren meistens Schiffskapi­täne aus Boston oder New York. Sie sind sehr reich geworden.«

Nickel lächelte. Sie lernte gern etwas Neues, doch oft war sie verwirrt. Wurde man verschifft und verkauft, wenn man böse war?

»Ich muß eine rauchen.« Harper Wheeler geleitete alle aus der Kammer und durch den Tunnel, der mit Kreuzbögen konstruiert war.

Maizie ging zu ihm. »Sheriff, es tut mir Leid, daß ich Ihnen Ärger gemacht habe.«

»Mach dir deswegen keine Gedanken. Alles vergeben und vergessen.«

Als sie wieder in den Regen hinaustraten, stellten sie sich im hinteren Teil der Fabrik unter, der von dem Brand nicht so sehr in Mitleidenschaft gezogen war wie der vordere. Harper wies Noe verschmitzt an: »Sie werden jetzt wohl Popeye anrufen müssen.«

Noe lächelte. »Hier gibt's kein Telefon.«

»Ich habe ein Funkgerät im Auto«, sagte Harmon Nordness.

»Ich geh mit Ihnen eine Wette ein«, sagte Harper zu Noe.

»Was für eine Wette?«

»Ich wette mit Ihnen, daß Julius Rife schon einen gewieften Burschen aus New York angeheuert hat, der für ihn mit Popeye spricht.«

»Das ist keine Wette. Das ist eine Tatsache«, sagte Juts.

Louise, Maizie und Pearlie, der froh war, daß es seiner jünge­ren Tochter so viel besser ging, fuhren im Auto nach Hause.

Chessy, Juts und Nickel quetschten sich in ihren Wagen. Julia wollte zu ihrer Mutter fahren und ihr alles berichten, was ge­schehen war.

Die Scheibenwischer schabten hin und her. Nickel drückte die Nase am Fenster platt. »Koller, koller, koller.«

»Hör auf damit!« Juts langte über den Sitz und knallte ihr ei­ne.

63

Der Spätsommer hielt an. Die Gewißheit, daß der Winter folgen würde, verlieh ihm seine besondere Süße. Ringfasanen tummel­ten sich in den Maisfeldern, und Wachteln tippelten durch nied­riges Dickicht; Füchse rannten überall umher. Als Juts in Nik­kels Alter war, hatte ihr Onkel - er war jetzt schon lange tot - sie einmal mit auf die Jagd genommen. Er züchtete englische Setter, wunderbare Jagdhunde, und an jenem Tag hatte er drei Fasane erlegt. Juts mußte weinen, als sie vom Himmel fielen, aber sie hatte sich nicht geweigert, sie zu essen.

Die Jahreszeiten lösten Erinnerungen an ganz besondere Erei­gnisse aus. Lieder taten dieselbe Wirkung.>Red Sails in the Sunset< erinnerte Juts an ihre Probleme mit Chessy wegen Tru­dy. Jedes Mal, wenn das Lied gespielt wurde, schaltete sie das Radio aus.

Die bunten Herbstblätter faszinierten Nickel. Sie las sie von der Erde auf, um sie aufzubewahren. Sie konnte sie schon un­terscheiden: Pappeln waren leuchtend gelb, Zuckerahorn flam­mend rot und die meisten Eichenarten variierten von einem reinen Gelb bis zu Knallorange oder Braun. Die Weiden, inzwi­schen gelb, warfen ihre Blätter über dem alten Brunnen im Gar­ten ab. Nickel kletterte mühelos hinauf, ihre bloßen Füße such­ten einen Halt, und oben angekommen setzte sie sich auf den niedrigsten Ast. Sie lauschte dem Rauschen der Blätter, und einmal hockte auf einem Zweig über ihr eine Spottdrossel.

Je größer Nickel wurde, desto weiter entfernte sie sich von ih­rer Mutter. Ihr Lieblingswort war nach wie vor »Nein«. Sie stand mit der Sonne auf und eilte zum Frühstück. Spiegeleier aß sie besonders gern. Danach zog sie ihre Schuhe an, ließ die Schnürsenkel baumeln und ging zu Juts, vorsichtig, um nicht zu stolpern. Sie bat sie, ihr die Schuhe zuzubinden, dann stürmte sie zur Tür hinaus und kam erst mittags zurück oder wenn sie gerufen wurde.

Julia hatte erwartet, der Mittelpunkt der Welt ihres Kindes zu sein. Als Säugling hatte Nickel nur ihr gehört. Aber mit jedem neuen Tag wollte Nickel mehr der Welt gehören. Sie war keine Schmusekatze. Sie kam nie angelaufen, um ihre Arme um Julias Hals zu schlingen. Sie nahm ihre Hand, aber das war auch alles. Sie gab ihr einen Gutenachtkuß. Sie wollte mit Tieren spielen, Tieren aller Art, und einmal hatte sie eine winzige Mokassin­schlange aufgehoben, um sie ihrer Mutter zu zeigen. Julia, die in kritischen Situationen fast immer die Ruhe bewahrte, sagte Nickel einfach, sie solle die Schlange dahin zurückbringen, wo sie sie gefunden hatte, weil die Schlangenmutter sich Sorgen machte. Nickel gehorchte unverzüglich. Ein direkter Befehl hätte bei diesem Kind nichts gefruchtet.

Aber Juts war einsam. Nickel brauchte sie nicht, und sie woll­te gebraucht werden. Natürlich brauchte das Kind Nahrung, Kleidung und Obdach - und jedes Buch, das sie in die Finger bekommen konnte -, aber Juts schien sie nicht zu brauchen. Das nagte an Juts.

Auch Maizies nervlicher Zustand machte ihr Angst. Maizie hatte sich erholt, aber sie wußte noch immer nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Louise, die ewige Zuchtmeisterin, hatte ihr gesagt, sie werde nicht für ihren Unterhalt aufkommen; Maizie sei kräftig, gesund und intelligent genug, um für sich selbst zu sorgen. Das brachte Maizie zum Weinen und Louise in Panik. Trotzdem ließ sie nicht von ihrer Forderung ab, Maizie solle arbeiten. Die schlimmste Schmach in Runnymede war, als Faul­pelz zu gelten.

Juts fragte sich, welche Arbeit Nickel einmal finden würde. Der einzige Beruf, der ihr bislang in den Sinn kam, war Tierärz­tin. Sie wußte nicht, wie sie und Chester dem Kind das College ermöglichen sollten. Aber bis dahin war ja noch viel Zeit.

Heute wehte eine leichte Brise, die die sahnigen Wolken am blauen Himmel segeln ließ; es war bisher der vielleicht schönste Tag in diesem Herbst. Julia lehnte am Lattenzaun vor Celestes Stall. O. B. Huffstetler hatte Nickel auf Rambunctious gehoben, und Peepbean, sein Sohn, der inzwischen sieben war, ritt auf General Pershing. Nickel, zu klein für einen Sattel, ritt ohne. Schon übertraf sie Peepbean an Kunstfertigkeit zu Pferde.

O. B. dem die Reitkunst über alles ging, war über seinen Sohn so empört, wie er von Nickel entzückt war.

Ramelle, die wegen eines Bandscheibenleidens neuerdings am Stock ging, stand neben Juts unter einer riesigen Kastanie, die einem Teil des Reitplatzes Schatten spendete.

»Mit einem Kind auf dem Rücken ist Rambunctious der sanf­teste Bursche, den man sich denken kann, aber mit einem Er­wachsenen ist er ein Teufelskerl. Er hat Celeste so in Rage ge­bracht, daß sie ihr Schimpfwortvokabular erweitern mußte. Sie hätte ein ganzes Schimpfwörterbuch schreiben können.«

»Sie fehlt mir.« Juts schnupperte an den Blättern. »Sie hat den Herbst geliebt.«

»Manchmal glaube ich, sie ist in der Nähe. Klingt verrückt oder?«

»Für mich nicht.« Julia glaubte an Geister, verlor aber kein Wort darüber.

»Nickel wird mal eine Reiterin.«

»Sie ist besessen.«

»Als Spotts in Nickys Alter war, beschloß sie, die Königin von England zu sein. Weißt du noch? Sie hat ein ganzes Jahr lang ein Diadem getragen.«

Juts schüttelte den Kopf. »Sie mußte einfach Schauspielerin werden, das steht fest.«

»Sie hat langsam genug davon. Ich glaube, ihre Arbeit im Krieg hat ihr besser gefallen als die Schauspielerei. Sie sagt, daß sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben nützlich vorge­kommen ist.«

»Ich weiß, was sie meint. Ich habe die Arbeit beim Luftschutz geliebt.«

»Die Nacht, als die Sirene losheulte, werde ich nie verges­sen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Juts trocken.

»Guck mal, Momma!« Nickel streckte die Arme hoch; Ram­bunctious ging in langsamen Trab.

»Großartig«, rief Juts, dann fragte sie Ramelle: »Sind Sie gern Mutter gewesen?«

»Nicht pausenlos. Eigentlich fand ich es wunderbar, bis Spotts vierzehn wurde. Dann hätte ich sie mit Freuden nach Sibirien geschickt.«

Juts zuckte zusammen. »Ja, Mary ist in diesem Alter auch auf­sässig geworden. Aber Maizie nicht.«

»Das holt sie jetzt nach.«

»Und es führt kein Weg dran vorbei?«

»Ich glaube nicht, Julia, aber du hast noch Zeit, bevor sie al­lem widerspricht, was du sagst, die scheußlichsten Sachen an­zieht, die sie finden kann, und nur für ihre Freunde lebt.«

»Soweit ich mich entsinne, hab ich das nie getan.«

»Ach, Julia.« Ramelle brach in Lachen aus, dieses silberhelle Lachen, mit dem sie wieder wie einundzwanzig klang. »Du hast nie aufgehört damit.«

Auf dem Reitplatz hob O. B. Peepbean am Gürtel hoch, da der Junge von General Pershings Rücken gerutscht war. Peepbean fing an zu heulen. Nickel starrte ihn ungläubig an. Sie hatte kein Mitgefühl, und O. B. leider auch nicht.

»Oh-ha«, bemerkte Juts.

»Der Junge wird am Ende Pferde meiden wie die Pest.« Ra­melle trat unter der Kastanie hervor und klopfte mit ihrem Stock an den Zaun. »O. B. kommen Sie mal einen Moment her.«

Als O. B. zu ihr ging, stellte sich Nickel auf Rambunctious' Rücken, winkte mit den Armen und rief: »Momma, komm mit mir reiten.«

»Nein.«

Ramelle, die auf leicht erhöhtem Grund stand, beugte sich zu O. B. hinüber. »Wir müssen anders mit Peepbean vorgehen.«

»Ihn festbinden.«

»Nein. Verbieten Sie ihm für eine Weile das Reiten. Wenn er muß, widerstrebt es ihm. Wenn Sie ihn nicht beachten, wird er es von sich aus wollen - glaube ich.«

»Momma, bitte!«, rief Nickel.

»Nur zu, Miz Smith. Probieren Sie's. Pershing ist das faulste Pferd, das Gott je erschaffen hat.«

»Ich kann nicht reiten.«

»Wenn Sie tanzen können, können Sie auch reiten.«

»Wickel dir deinen Rock um die Beine, sonst scheuerst du dich wund«, riet ihr Ramelle.

Juts, die kein Angsthase war, sprang über den Zaun und schwang sich auf Pershing.

Vor lauter Begeisterung, daß ihre Mutter mit ihr ritt, klatschte Nickel in die Hände, was Rambunctious bewog, ein paar Schrit­te zu gehen. Nickel stellte sich wie eine Akrobatin auf den Pfer­derücken.

Juts ritt neben Nicky. Sie umrundeten den Reitplatz, und zum ersten Mal plapperte Nicky wie ein Blauhäher. Sie erzählte ihrer Mutter, daß Pershing gern Pfefferminz aß und Rambunctious Äpfel mochte, aber man müsse sie ihm schneiden. Sie sprudelte, plätscherte und quiekte geradezu vor Glück, so sehr, daß Juts lachen mußte.

»Momma, ich hab dich lieb«, sagte Nickel, als ihr Ritt zu En­de war.

»Ich hab dich auch lieb.« Juts glitt hinunter und fing Nickel auf, die sich vom Pferd katapultierte und fest damit rechnete, entweder auf den Füßen zu landen oder sich abzurollen. Das Kind kannte keine Furcht. Was ihre Mutter gleichermaßen freu­te und ängstigte.

»Laß mich!« Nickel langte hinauf nach Rambunctious' Zü­geln; O. B. warf sie ihr zu. Er hielt Pershing, und zusammen führten sie die Pferde in den Stall.

»Muß ich Pershing abbürsten?«, jammerte Peepbean, der ih­nen folgte.

»Nein«, antwortete O. B.

»Ich mach das. Bitte, Mr. Hoffy.« Nickel konnte nicht »Huff­stetler« sagen.

»Schön.« O. B. lächelte. Er mußte ihr eine Satteltruhe heran­ziehen, und sie stellte sich darauf.

Ramelle und Juts warteten unter der Kastanie. Nur wenige Kastanien waren an der Ostküste übrig geblieben, nachdem sie um die Jahrhundertwende von einer schrecklichen Fäule heim­gesucht worden waren. Aber diese eine, weit entfernt von den anderen Bäumen, breitete ihre langen Äste aus und wurde mit jedem Jahr mächtiger.

»Sie hat mir gesagt, sie hat mich lieb.« Noch immer verblüfft, schüttelte Juts die Pferdehaare von ihrem Rock.

»Kinder merken nicht, daß wir Gefühle haben. Sie wissen, wann wir böseauf sie oder zufriedenmit ihnen sind, aber sie wissen nicht, daß wirunabhängig von ihnen Gefühle haben. Ich kann mir denken, daß du dich manchmal ungeliebt gefühlt hast. Mir ist es jedenfalls so ergangen«, sagte Ramelle. Ihre Men­schenkenntnis war einer der Gründe, weshalb Celeste sie geliebt hatte. Celestes Menschenkenntnis war im Allgemeinen von Zynismus geprägt gewesen.

»Meistens bin ich erschöpft. So hatte ich mir das nicht vorge­stellt.«

»Glaub mir, Julia, wenn wir wüßten, worauf wir uns einlas­sen, würde keine Frau auf der Welt ein Kind gebären.«

»Ich habe keins geboren.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ich frage mich bloß, entgeht mir etwas? Louise hat mich einmal tief getroffen mit ihrer Behauptung, ich könnte Nickel nie so nahe sein, weil ich sie nicht in mir getragen habe.«

»Louise ist nicht gerade eine Expertin für Mutterschaft.«

»Sie hält sich aber dafür.«

»Julia, Louise hält sich für eine Expertin für alles. So war sie schon immer. Ich glaube nicht, daß das Gebären eine Frau ihren Kindern auch nur einen Deut näher bringt. Sie aufzuziehen, das ist die wahre Prüfung.«

»Aber sie ist ein eigensinniges kleines Ding. Sie geht einfach weg, macht, was sie will.«

»So ist sie eben.«

»Sie meinen, sie wäre auch so, wenn ich ihre leibliche Mutter

wäre?«

»Höchstwahrscheinlich, ja. Kinder kommen mit allem, was sie brauchen, auf die Welt. Sie sind geformt. Wir beeinflussen sie, aber ihr Charakter ist festgelegt. Ich habe so manches herzens­gute Kind gesehen, das von gräßlichen Eltern zugrunde gerich­tet wurde« - sie hielt inne -, »und ich habe so manche herzens­gute Eltern gesehen, die von einem Kind zugrunde gerichtet wurden.« Sie atmete den scharfen Herbstgeruch ein. »Sie sind, was sie sind. Die Frage ist, stehstdu ihr nahe?«

Juts rieb sich am Ohr; ihr Ohrring zwickte. »Manchmal. Ich glaube, Chessy steht ihr näher als ich.«

»Chester muß sie nicht Tag für Tag erziehen. Die Väter haben die leichtere Rolle.« »Ich dachte schon, ich bin keine gute Mutter. Sie haben mir etwas Mut gemacht.«

»Das denken alle Mütter. Sei nicht so streng mit dir.«

»Ich bin entweder zu streng mit mir oder zu nachgiebig. Ich kann keinen Mittelweg finden.«

Ramelle lächelte. »Ich mache dir einen Vorschlag.«

»Ja?«

»Warum kommst du nicht her und reitest mit Nickel? Wenn du mit ihr teilst, was sie liebt, anstatt sie dazu bekehren zu wol­len, was du liebst - wie O. B. es macht -, dann werdet ihr zu­sammenwachsen.«

»Hm.« Juts dachte über das großzügige Angebot nach. »Ich würde Ihnen die Nutzung der Pferde bezahlen.«

Ramelles Lachen verlor sich im Wind. »Und Celeste würde mich für den Rest meines Lebens verfolgen. Die Chalfontes und die Hunsenmeirs gehören schließlich zusammen.«

»Also gut.« Julia strahlte.

Sie gingen zum Stall. Dort stand Nickel auf Celestes alter Sat­teltruhe und bürstete Pershings Rücken. Sie sang dem Pferd vor, sie sang O. B. vor und sogar der Sonne.

»Du bist eine gute Mutter«, sagte Ramelle.

Juts war so erleichtert, daß ihr beinahe die Tränen kamen.

Zwei Stunden später kamen ihr bereits wieder Zweifel, als Nickel beim Rundgang um den Platz erklärte: »Ich weiß ein neues schlimmes Wort.«

»Oh.«

»Kackhaufen.«

»Nicky.«

»Und weißt du was?«

»Ich kann's kaum erwarten.«

»Grandma Smith ist der größte Kackhaufen aller Zeiten.«

Juts fing an zu lachen. Zur Feier von Nickels Wortschatz be­lagerten sie Cadwalders Theke und teilten sich einen Eisbecher.

Vaughn füllte Waren auf und verweilte vor dem Shampoo- Regal. Er war flink in seinem Rollstuhl.

Als sie aufgegessen hatten, hüpfte Nickel zu dem gut ausse­henden Mann hinüber.

»Kann ich mitfahren?« »Klar.«

»Nickel!« Julia wollte sie packen.

Vaughn lächelte Juts an, sein Gesicht war alt und doch jung. »Ich habe nichts dagegen.«

Nickel kletterte auf seinen Schoß. Er stieß mit seinen kräftigen Händen die Räder an und drehte mit Nickel eine Runde durch den Laden. Juts konnte sich nicht erinnern, wann sie Vaughn das letzte Mal hatte lachen hören.

64

Karfreitag, ein trostloser Tag an diesem 15. April 1949, depri­mierte Juts, die mit Nickel auf dem Weg zur Kirche war. Loui­se, die die Kirche St. Rose of Lima besuchte, hatte Nickel in Aufruhr versetzt, als die Schwestern sich an der Nordostecke des Runnymede Square trennten. Nickel wollte wissen, warum Wheezie nicht mit ihnen in die evangelische Kirche ging. Loui­se, das Gesicht von einem schwarzen Schleier verhüllt, salba­derte, sie würde Nickel liebend gern mit in dieEine Wahre Kir­che nehmen.

Das Kind, das inzwischen viereinhalb war, gab Louise zu ver­stehen, daß sie die evangelische Kirche besuche, nicht dieEine Wahre Kirche, woraufhin Louise die Irrwege des Protestantis­mus erläuterte und sich über die Gefahren für die Kinderseele ausließ, diese zarte Perle.

Natürlich wollte Nickel sich keinen Gefahren aussetzen, we­der auf Erden noch in der Ewigkeit. Juts sagte Louise, sie solle ihre große Klappe halten. Louise stürmte davon, und Nickel schrie: »Ich bin keine Perle!«

Passanten meinten, Nickel schimpfe über ihren Onkel Pearlie. Schließlich rang sich Juts ein Lächeln ab und schleppte ihr ste­tig wachsendes Kind die Marmorstufen des schlichten imposan­ten Tempels der Heiligkeit und nicht zu knappen Wohlstands hinauf.

Kaum hatte sie sich gesetzt, fing Nickel an zu zappeln. Juts kniff sie. Das Kind funkelte sie an, saß aber still. Dann bestach Juts sie mit einem Sen-Sen. Während Nickel das graue Erfri­schungsbonbon lutschte, nahm sie die Kirchgänger in Augen­schein. Es waren noch ein paar andere Kinder da, aber nicht viele.

Gelangweilt griff sich Nickel ein dickes rotes Gesangbuch und blätterte darin. Sie formte die Worte in übertriebenem Flüster­ton.

Juts legte den Finger auf den Mund.

Trotzig äffte Nickel die Geste ihrer Mutter nach.

Wie immer am Karfreitag waren die Vorhänge in der Kirche aus schwarzem Samt, und das Chorpult, die Kanzel, der Altar waren mit schwarzem Samt bedeckt. Keinerlei Blumen oder Farben belebten den strengen, schönen weißen Innenraum.

Die schwermütige Atmosphäre machte Nickel nervös. Um drei Uhr erzitterte die Orgel, und die schwarzen Vorhänge wur­den zugezogen.

»Momma!« »Still.«

»Mach das Licht an!«

»Wirst du wohl still sein.«

»Mach das Licht an!« Ein Anflug von Furcht lag in Nickels Stimme.

»Sei still!«, zischte Julia.

»Ich will's nicht dunkel haben!« Nickel schob sich an ihrer Mutter vorbei und lief durch den Mittelgang zur Tür, die ge­schlossen war. Donald Armprister, ein Kirchendiener, der an der Tür Posten bezogen hatte, packte Nickel, da sie die Tür nicht aufstoßen konnte. Er machte Anstalten, das Kind zu Julia zu schleppen.

»Nein!« Nickel trat ihn ans Schienbein.

Auf ihren hohen Absätzen klapperte Juts durch den Gang, schnappte sich ihren Engel, öffnete die Tür und beförderte das Kind ins Vestibül. Mit einem lautenKlick schloß sie die Tür hinter sich.

Donald steckte sein langes, anmutiges Gesicht zur Tür heraus. »Juts, brauchen Sie Hilfe?«

»Ich brauche einen Prügel.«

Er zwinkerte ihr zu und schloß die Tür wieder, worauf die Gemeinde abermals in die Düsternis von Christi Kreuzigung getaucht wurde.

»Tu das nie wieder!« Juts gab Nickel einen Klaps auf den Hintern. Ihre Unterröcke milderten den Schlag.

»Ich mag die Dunkelheit nicht.«

»Und ich mag dein Benehmen nicht.« Juts gab ihr sicherheits­halber noch einen Klaps.

Nickel riß sich los und lief zurück zur Innentür.

Juts rannte ihr nach. »O nein, das tust du nicht.« »Dann geh ich in Tante Wheezies wahre Kirche.«

»Wenn du auch nur einen Fuß in St. Rose of Lima setzt, schmier ich dir eine, daß du dein Gesicht nicht wieder er­kennst«, drohte Juts. »Jesus hatte nie so ein ungezogenes klei­nes Mädchen.«

»Jesus hatte auch keinen kleinen Jungen.« Nickel schob die Unterlippe vor. »Vielleicht hatte er Kinder nicht gern. Vielleicht hat er gelogen. Er wollte nicht, daß wir zu ihm kommen.«

»Himmel, wo hast du bloß diese Ideen her?« Juts hob ver­zweifelt die Hände. »Raus mit dir, junge Dame. Du hast mir und allen anderen den Gottesdienst verdorben.«

»Hab ich gar nicht.«

Julia zerrte sie unsanft zur Eingangstür und hinaus in den kal­ten, grauen Tag. »Du hast dich unmöglich benommen und mich blamiert. Ich weiß nicht, wie ich mich da drin noch mal blicken lassen kann.«

»Keiner kann dich sehen. Die Lampen sind aus.« Wie die meisten Kinder besaß sie einen gnadenlos logischen Verstand.

»Ich hab dir doch gesagt, es ist Karfreitag, Nicky. Das ist ein heiliger Tag.«

»Was ist daran heilig, Mommy? Das Dunkle mag ich nicht, und der Sitz kitzelt.«

»Wie meinst du das, der Sitz kitzelt?«

»Wenn Tante Dimps Orgel spielt, kitzelt es.«

Juts dachte darüber nach. »Hm - kann schon sein.«

»Dann muß ich immer aufs Klo.«

»Mußt du jetzt?«

»Ja.«

»Hältst du es bis Cadwalder aus? Ich will nicht wieder mit dir hier reingehen. Das Bon-Ton ist noch näher. Kannst du's solan­ge aushalten?«

»Ja.«

Sie gingen zu dem großen Kaufhaus.

Nickel fragte: »Warum ist Jesus gestorben? Wenn er der Sohn Gottes war, sollte er nicht sterben.«

»Er starb für unsere Sünden.«

»Ich habe keine Sünden«, rechtfertigte Nicky sich rasch.

»Und ob du welche hast, und heute hast du dir eine ganz gro­ße geleistet.«

Das Bon-Ton war geschlossen. Auf einem Schild an der Flü­geltür stand zu lesen: »Ab 16 Uhr 30 wieder geöffnet.«

»Verdammt.«

»Momma, ich muß.«

Juts sah sich um. »Komm mit.«

Sie zog sie in den Park und forderte sie auf, schnell unter George Gordon Meades Statue ihr Geschäft zu verrichten.

»Momma, hier ist Hundekacke.«

»Eben. Los, mach schnell.«

Sie ließ ihren Baumwollschlüpfer herunter, beugte sich vor, um ihn nicht zu beschmutzen, und erleichterte sich.

»Ich brauche Klopapier.«

»Hier, nimm ein Kleenex.« Juts kramte in ihrer Handtasche und gab ihr ein Papiertaschentuch. »Mach schnell. Wer weiß, sonst sieht dich noch jemand.«

Das Kind tat wie geheißen. »Krieg ich jetzt noch mehr Är­ger?«

»Nein, du hast deinen Auftritt in der Kirche wieder gut ge­macht, indem du auf George Gordon Meade gepinkelt hast. Er war ein Yankee.«

»Grandma Smith ist ein Yankee.«

»Allerdings.«

»Hat Jesus Yankees lieb?«

»Ich nehme an, das muß er, aber wir nicht.«

»Sieht der liebe Gott alles, was wir tun?«

»Ja.«

»Dann hat er gesehen, wie ich auf George Gordon Meade Pipi gemacht habe.« Nickel runzelte die dunklen Augenbrauen. »Das finde ich nicht schön.«

»Er war bestimmt mit dringenderen Angelegenheiten beschäf­tigt.«

Sie gingen in der kühlen Luft nach Hause. Katze und Hund begrüßten sie stürmisch. Erleichtert schlüpfte Juts in ein be­quemes Hauskleid.

»Warum geht Tante Wheezie in eine andere Kirche?«

»Weil sie blöd ist.« Juts zeigte zur Treppe. »Zeit fürs Bad.« »Ist Maizie deshalb weggegangen?«

»Nein, sie ist weg, weil sie wieder zur Schule geht.«

»Wann kann ich gehen?«

»Diesen Herbst. Dann kommst du in den Kindergarten, und darüber bin ich sehr froh.« Juts sagte nicht, daß sie dann ein bißchen Ruhe und Frieden haben würde.

»Ist das wie die Sonntagsschule?«

»So ähnlich, aber du mußt nicht beten und die Bibel lernen. Du wirst lesen lernen.«

»Kann ich schon«, prahlte sie.

»Du wirst es noch besser lernen.«

Juts hatte sie ins Badezimmer bugsiert und knöpfte ihr das Kleid auf. Sie drehte die Wasserhähne auf, nachdem sie den Gummistopfen in den Wannenabfluß gesteckt hatte. Der Stop­fen hing mit einer kleinen Kugel an einer Kette an dem vernickelten Wasserhahn. Yoyo blieb dem Badezimmer fern, aber Buster marschierte mutig hinein. Er wußte, daß das Bad nicht für ihn bestimmt war, weil es nicht nach Flohshampoo roch. Nickel hielt sich am Wannenrand fest, hob dann ein Bein her­über und prüfte mit den Zehen das Wasser. Sie zögerte, dann zog sie das andere Bein nach.

»Muß ich in die Sonntagsschule?«

»Warum sollest du nicht?«

»Du hast gesagt, ich hab die Kirche verdorben.«

»Vergebung ist Teil des Christentums.«

»Den Teil mag ich nicht.«

»Man muß es im Ganzen praktizieren. Man kann sich nicht einfach was aussuchen.«

»Tust du auch. Du nimmst nur die Teile, die du magst.«

»Moment mal.« Mit der Seife in der Hand gab ihr Juts einen entschiedenen Klaps.

»Tust du aber. Du vergibst Grandma Smith nicht.«

Das machte Juts stutzig. »Ich bemühe mich, aber es ist sehr, sehr schwer.«

»Sie kann uns nicht leiden.«

»Nein.«

»Warum?« »Aus reiner Bosheit, würde ich sagen. Und deswegen mußt du in die Sonntagsschule, damit du eine bessere Christin wirst als ich.« Munter übernahm Juts das Ruder des Gesprächs und steu­erte es in ruhigere Gewässer. »Du gehst doch gern in die Sonn­tagsschule.«

»Meistens schon.« Nicky schlug mit den flachen Händen aufs Wasser.

»Das genügt.«

»Ich mag nicht immerJesus liebt mich< singen.«

»Wie kommst du darauf?« Juts stupste sie an.

»Sonntagsschule.«

»Ach ja, richtig. Aber Ursie Vance und Franny hast du doch gern.«

Frances Finsters Enkelin war nach ihrer Großmutter benannt.

»Ursie mag ich nicht mehr.«

»Wieso nicht?«

»Sie hat gesagt, wenn ich meine Gebete nicht spreche, komm ich in die Hölle, wenn ich sterbe.«

»Du sprichst deine Gebete.«

»Ich laß die Stelle mit dem Sterben aus. Die mag ich nicht.«

Zur Schlafenszeit weigerte sich Nicky zu sagen: »Bevor ich wache, sterbe ich.« Sie sagte nur: »Nimm meine Seel', ich bitte dich.«

»Mach dir darüber keine Sorgen.«

»Und Ursie quatscht immer dazwischen, wenn die Lehrerin Bibelgeschichten erzählt. Sie wollte wissen, welche Farben Josephs Mantel hatte. Ich hoffe, sie dreht sich um und verwan­delt sich in eine Salzsäule.«

Juts war nicht davon erbaut, daß man Vier- und Fünfjährigen von Sodom und Gomorrha erzählte.

»Erzähl mir die Geschichte.«

Nickel seufzte. Wie konnte ihre Mutter die Geschichte nicht kennen? »Lot und seine Frau sind vor bösen Menschen wegge­laufen. Und Lots Frau sollte sich nicht umdrehen.« Sie hielt inne, versuchte sich auf die Einzelheiten zu besinnen und been­dete dann fröhlich ihre Geschichte: »Lots Frau war des Tages eine Salzsäule und des Nachts ein Feuerball.«

65

Neunzehnhundertfünfzig war das Jahr, in dem Louise Bonbon­rosa entdeckte. Angetan mit bonbonrosa Plastikohrringen, pas­sendem Armband und abgestimmtem Lippenstift, die zu Rock und Pullover in Marineblau kontrastierten, ergänzte sie diese Farbkombination gelegentlich mit Limonengrün. Sie schwärmte außerdem für Blaßrosa und Schwarz. Julia konterte mit blau­grünen und weißen Stoffen.

Die Bewohner von Runnymede ließen den Krieg hinter sich, so gut sie konnten, und stürzten sich mit Begeisterung auf Mu­sik, das Baugewerbe, große Autos und endlosen Klatsch. Aber Klatsch ließ sich ja ohnehin nicht aufhalten. Hätte Hitler ge­siegt, würden sie jetzt über ihn und den deutschen Gauleiter herziehen, der ihnen die richtige Gesinnung eintrichtern sollte.

Nickel ging in den Kindergarten, und es gefiel ihr gut. Chessy hatte den Laden umgestaltet und einen Mitarbeiter eingestellt. Er machte jetzt auch Reklame, und weil das Geschäft so gut lief, hatte er einen nagelneuen Kühlschrank für die Familie ge­kauft. Den Eiskasten stellte er in die Garage und bewahrte Werkzeug darin auf. Maizies Zukunft blieb im Dunkeln, und als Wheezie ihr deshalb einmal zusetzte, sagte sie nur: »Koller, koller, koller.« Fortan schwieg Louise.

Juts und Nickel nahmen weiterhin Reitunterricht. Reiten und Gärtnern waren ihre gemeinsamen Unternehmungen, allerdings entging Julia nicht, daß Nickel lieber mit Chessy zusammen war. Sie verstand nicht, warum die Kleine ihr trotzte, jedoch alles tat, was ihr Vater verlangte.

Louise, die ewige Expertin für Mutterschaft, erklärte, daß Mädchen sich an ihre Väter hielten, Jungen an ihre Mütter. An­dere beteten diesen Gedanken nach, und es schien durchaus etwas Wahres dran zu sein; denn Lillian Yosts kleiner Junge schrie Zetermordio, als sie ihn zum ersten Mal in den Kinder­garten brachte. Ihm quollen fast die Augen aus dem Kopf, sein Gesicht lief rot an - kein schöner Anblick - als es Zeit für seine Mutter war, zu gehen.

Mrs. Miller, die Erzieherin, sagte zu Lillian, sie müsse gehen, einfach weggehen, und sei es noch so schwer. Schließlich habe die Welt nichts für Muttersöhnchen übrig. Yost junior hämmer­te gegen die Tür, trat um sich, machte in die Hose. Nickel zog ihn von der Tür weg. »Sei still, du Schreihals.« So sehr dies Mrs. Miller für Nickel einnahm, es raubte Lillian Yost den letz­ten Nerv, als sie davon hörte. Sie blies Juts den Marsch, die alle damit verblüffte, daß sie nicht die Beherrschung verlor.

Nickel und Peepbean Huffstetler kabbelten sich im Stall, im Kindergarten, überall. Da er drei Jahre älter war als das kraus­haarige Mädchen, konnte er sie verdreschen. Sie rächte sich zu Pferde. Sie lief ihm buchstäblich den Rang ab, was ihr noch mehr Aufmerksamkeit von O. B. und noch mehr Hass von Peepbean eintrug.

Juts war mit Nickel nach York gefahren, um einen Walt­Disney-Film anzusehen. Der Vorführer, der über genau zwei Gehirnzellen verfügte, ließ eine Wochenschau laufen, in der Horden von Kindern zu sehen waren, die im Schutt von Dres­den herumwühlten. Am Straßenrand lag ein toter Hund. Der Kommentator sprach vom Leid in dem Teil Deutschlands, der unter sowjetischer Verwaltung stand. Nickel schluchzte wegen des Hundes und der Kinder, und Juts mußte mit ihr das Kino verlassen. Wie konnte man einer Fünfjährigen erklären, daß andere Fünfjährige der Feind gewesen waren? Sosehr Juts sich an diesem kalten Januartag bemühte, sie konnte niemandes Kinder verurteilen, nicht einmal die der Japaner, die sie nach wie vor von ganzem Herzen haßte.

Sie erklärte Nickel, daß Erwachsene Kriege führten und Un­schuldige darunter zu leiden hatten. Nickel konnte es nicht ver­stehen. Noch Wochen danach fragte sie alle, ob sie sterben würde. Und ob sie Buster und Yoyo retten könne, wenn es Krieg gäbe. Juts sah sie bei Mutter Smith in alten Ausgaben von Life stöbern; Josephine trennte sich von nichts, außer ihrer Freundlichkeit. Bilder vom Krieg zogen Nickel an.

Juts konnte sich nicht erinnern, als Kind vom Ersten Welt­krieg so gebannt gewesen zu sein, aber sie hatte endlich begrif­fen, daß Nickel nicht ihr Ebenbild war.

Eines Nachmittags schrubbte Juts auf Händen und Knien den Küchenfußboden. Yoyo, die inzwischen rundlich geworden war, faulenzte auf der Anrichte. Buster sah von der Diele aus zu. Im Radio lief>I Love Those Dear Hearts and Gentle Peo­ple<. Juts sang mit ihrer hübschen Sopranstimme mit.

Juts sang das Lied zu Ende: »... that live and love in my ho­metowns.«

Ein leises Klopfen am Fenster zum Garten veranlaßte sie auf­zustehen. Sie ging auf den Fußballen zur Hintertür.

»Rillma?«

Rillma Ryan, eine hinreißende Schönheit mit ihren knapp dreißig Jahren, nickte.

»Hallo, Juts.«

»Komm rein.« Als Juts die Tür öffnete, kam ein kalter Luft­strom herein. Buster bellte die Besucherin an.

»Ich möchte nicht auf deinen nassen Fußboden treten.«

»Ich wisch die Abdrücke auf. Ich wußte gar nicht, daß du nach Hause kommst.«

»Ich hatte es auch nicht vor, aber ich habe bei der Arbeit eine Zulage erhalten, und da dachte ich, ich komme Mom besuchen und - das Kind.«

Nackte Angst durchfuhr Juts. Sie hatte Rillma gern. Alle hat­ten Rillma gern. Aber wenn sich nun herausstellte, daß Blut dicker war als Wasser? Was, wenn Nickel irgendwie ihre Mut­ter erkannte und Juts im Stich ließ? Und dennoch, wie konnte sie Rillma die Höflichkeit verweigern, sie hereinzubitten? Im­merhin hatte sie Juts ihr Kind gegeben.

»Kann ich dir etwas zu essen oder zu trinken anbieten?«

»O nein, danke. Ist Nickel in der Schule?«

»Im Kindergarten. Sie ist nur halbtags dort, aber ich genieße die drei Stunden. Wir wechseln uns jede Woche ab, die Kinder hinzubringen. Das klappt ganz gut.«

»Mom sagt, sie platzt vor Tatendrang.«

»Das stimmt. Komm, wir gehen ins Wohnzimmer.«

»Ich hätte anrufen sollen, Juts, aber ich hatte Angst, du wür­dest nein sagen. Du weißt aber, daß ich dir nie Unannehmlich­keiten machen würde?«

»Das will ich hoffen.« »Mom sagt, Louise wird bald neunundvierzig und macht des­wegen einen Aufstand.«

Juts schlug die Beine übereinander, als sie sich in den tiefen Sessel setzte. »Sie bekennt sich nicht mal zur Vierzig.«

»Ich habe Mary kurz gesehen. Sie sieht sehr gut aus - ein biß­chen müde, aber gut.«

»Sie ist glücklich.«

»Was macht Chessy?«

»Ist immer noch derselbe. Er liebt Nicky. Sie ist der Mittel­punkt seiner Welt.« Julia hielt inne. »Ich glaube, so glücklich wie jetzt war er, seit ich ihn kenne, noch nie, und das will viel heißen bei diesem Drachen von einer Mutter.«

»Ich weiß, Mom hat mir alles erzählt. Sie sagt, Cora ist in Jo­sephines Haus marschiert und hat ihr die Leviten gelesen, und Josephine wollte tagelang niemanden sehen oder sprechen, und dann hat sie sich am Riemen gerissen.«

»Sie duldet Nicky. Nicky geht ungern hin, aber ich habe ihr einmal erklärt, daß sie es für Daddy tut, denn auch wenn wir Grandma nicht mögen, Daddy liebt sie. Seitdem geht sie brav mit.«

Die Haustür flog auf. »Buster! Yoyo!« Die Tiere stürmten zu Nickel. »Hallo, Momma.« Sie hörte auf, Katze und Hund zu knuddeln, und starrte die schöne Fremde an. »Hallo.«

»Hallo«, erwiderte Rillma. Juts schien es, als müsse Rillma schwer schlucken.

»Nicky, das ist Rillma Ryan, sie ist zu Besuch hier.«

Nicky hopste zu ihr - sie ging nie, wenn sie hüpfen oder ren­nen konnte - und gab ihr die Hand, wie man es ihr beigebracht hatte. »Hallo, Miss Ryan.«

»Hallo, Nickel. Du kannst Rillma zu mir sagen.«

»Hübscher Name.«

»Mein Bruder hat mich so genannt.«

Nickel konnte sich auf keinen Mann namens Ryan besinnen, der ungefähr in Rillmas Alter war. Inzwischen kannte sie alle Leute in Süd- und Nord-Runnymede. »Momma, wie kommt es, daß ich Rillmas Bruder nicht kenne?«

Rillma antwortete: »Er ist an einer Rückenmarkshautentzün­dung gestorben, als ich so alt war wie du.«

Nickel war geknickt. »Hab ich was Schlimmes gemacht?«, fragte sie Juts.

»Nein, Herzchen, das konntest du nicht wissen.«

Nickel warf Mantel und Schal ab und brachte beides gehor­sam in den Abstellraum hinter der Küche. Als sie wiederkam, lächelte sie die Besucherin an. Sie hatten denselben Teint und dieselben Augen, doch Nickel sah es nicht. Sie hatte auch eine Ryan-Stimme, aber die hohen Wangenknochen, die vollen Lip­pen und die sportliche Figur waren ein väterliches Erbe.

»Gehst du gern in den Kindergarten?«

Alle Erwachsenen stellten dieselbe Frage.

»Ja, Ma'am.«

»Sag ihr, was du am liebsten hast«, redete Juts ihr zu.

»Pferde.«

»Nein, im Kindergarten.«

»Malen. Bei Mrs. Miller dürfen wir mit Fingerfarben malen.«

»Wie schön.«

»Wo wohnen Sie?«, fragte Nickel. Die Grundzüge gepflegter Konversation brachten ihr die Mittwochstee-Damen und ihre Angehörigen bei. Der Mittwochstee war der Vorläufer des An­standsunterrichts und der darauf folgenden Benimmschule; die Teilnahme war ein Muß für Kinder, deren Eltern Wert auf gute Manieren legten.

»Portland, Oregon.«

»Oh.« Sie hatte keine Ahnung, wo das sein könnte.

»Das liegt ganz auf der anderen Seite am Pazifischen Ozean.«

»Oh.« Nickel überlegte angestrengt, was sie noch sagen könn­te. »Gibt es in Portland Pferde?«

»Ja. Aber die Stadt ist für ihre Rosen berühmt. Sie liegt an ei­nem großen Fluß, der ins Meer fließt. Wenn du größer bist, kannst du sie ja vielleicht einmal besuchen.«

»Das wäre schön.« Sie verstummte. Ihr Gesprächsstoff war erschöpft, und jetzt brannte sie darauf, draußen zu spielen, ob­wohl es kalt war. »Momma, darf ich meine lange Hose anziehen und rausgehen?«

»Ja, natürlich.« Juts zündete sich eine Chesterfield an, nach­dem sie Rillma eine angeboten hatte. Rillma hatte abgelehnt.

»War nett, Sie kennen zu lernen, Rillma. Haben Sie ein klei­nes Mädchen oder einen kleinen Jungen zum miteinander Spie­len?«

Rillma lächelte. »Nein.«

»Tschüs.« Gefolgt von Katze und Hund sauste sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer. Sie zog sich in Windeseile um, rannte hinunter und zur Tür hinaus.

Die beiden Frauen warteten, bis die Haustür zugefallen war.

»Sie hat gelernt, nicht mehr so mit den Türen zu knallen.«

»Sie ist ein süßes Kind.« Rillma lächelte verkniffen.

»Sie war für mich bestimmt.« Die Röte schoß Julia in die Wangen.

»Das ist wahr.«

»Weiß irgend jemand in Portland Bescheid?«

»Nein.«

»Gibt ja auch keinen Grund.«

»Nein. Ich weiß nicht mal, ob ich's meinem Mann erzählen würde. Das heißt, falls ich überhaupt heirate.«

»Ein schönes Mädchen wie du heiratet bestimmt.«

Rillma senkte die Stimme. »Ich traue den Männern nicht.«

»Wer hat was von Trauen gesagt?« Juts stieß den Rauch durch die Nase aus.

»Wie kann man jemanden lieben, dem man nicht traut?«

Juts zuckte die Achseln. »Man tut es einfach, Rillma. Sie kön­nen nichts dafür, daß sie sind, wie sie sind, so wenig, wie wir was dafür können, daß wir sind, wie wir sind - glaube ich.«

»Jetzt bin ich ins Fettnäpfchen getreten, nicht?«

»Mein Gott, Rillma, wir sind hier in Runnymede. Jeder weiß alles über jeden. Ich hab's überlebt. Du hast es überlebt. Man macht einfach weiter.«

Rillma schlug die glänzenden braunen Augen nieder, dann hob sie den Blick. »Ich möchte lieber allein sein.« Sie atmete hörbar ein. »Du weißt, wie das ist, wenn einem alles Mögliche durch den Kopf schießt? Als das alles passierte, dachte ich, mein Leben wäre vorbei.« Sie hielt inne. »Aber irgendwie hat sich dann alles eingerenkt.«

Rillma stand auf und streckte die Hand hin, doch statt eines Händedrucks umarmte sie sie. »Danke. Ich hatte gefürchtet, du würdest mich nicht hereinlassen.«

Juts hielt ihre Zigarette von sich, um Rillma nicht anzusengen. »Du kannst mir schreiben. Ich schreibe zurück.«

»Mach ich.«

Als Rillma sich entfernte, sah Juts ihr nach, wie sie den Bür­gersteig entlang ging. Juts brach in Tränen aus, ohne zu wissen, warum, als die anmutige Gestalt im Nichts verschwand.

66

»Was hast du gemacht?« Louise stand mitten in Bear's Kauf­haus in York und befühlte den Spitzenstoff eines Büstenhalters.

»Ich habe ihr erlaubt, Nickel zu besuchen.«

»Das kannst du doch nicht machen.« Mit dem nächsten Atem­zug fragte sie: »Weiß Chester Bescheid?«

»Natürlich.«

»Und er hat sich nicht aufgeregt?«

»Nein.«

Sie ließ den BH fallen. »Ihr seid beide nicht bei Trost. Blut spricht zu Blut. Ihr bringt euch in Schwierigkeiten.«

»Nicky war es schnurzegal. Sie war höflich und ist dann zum Spielen rausgelaufen.«

Louise schlug einen ernsten Tonfall an und unterstrich ihn durch viel sagendes Kopfschütteln. »Sie hat bei dem Kind nichts zu suchen. Sie hat es abgegeben. Nickel ist euer Kind.«

»Ich habe es nicht fertig gebracht, sie abzuweisen. Sie kann sich sowieso nicht um ein Kind kümmern, und Chessy und ich haben Nickel rechtmäßig adoptiert. Sie kann gar nichts ma­chen.«

»Und wenn Nickel sie ansieht und sich selbst erkennt?«

»Nicky sieht Rillma nicht ähnlich.«

»Sie spricht schubweise, lange Pausen und plötzlich ein Aus­bruch«, sagte Louise. »Das ist ungewöhnlich. Vielleicht stimmt was nicht mit ihr. Vielleicht weiß sie innerlich, daß sie nicht Blut von deinem Blut ist.«

»Über Pferde kann sie sprechen, Louise. Manchmal bist du ein richtiges Ekel.«

Inmitten von Spitzenschlüpfern - rosa, gelb, weiß und aufrei­zend schwarz -, gerieten sich Louise und Juts in die Haare. Die Kundinnen in der Wäscheabteilung sahen sich die unverhoffte Vorstellung an.

»Ekel? Ekel? Wer ist denn mit geliehenen Benzingutscheinen den weiten Weg in das dreckige Pittsburgh gefahren, um dein Baby zu holen? Wer hat sich mit Chester beim Fahren abge­wechselt? Du hast einen Kurzschluß in der Birne! Du verstehst überhaupt nichts von Mutterschaft.«

»Halt die Klappe«, sagte Juts drohend.

»Außerdem hättest du Rillma Ryan nie, niemals erlauben dür­fen, das Kind zu sehen!«

»Sag mir nicht immer, was ich zu tun habe.« Juts schlug sie mit einem Büstenhalter.

»Redefreiheit - wir sind hier in Amerika.«

»Verdammt noch mal, Wheezie, halt den Mund.«

Wheezie warf den Kopf zurück, als ihr der nächste BH ins Gesicht flog. »Du versuchst, mich meiner bürgerlichen Rechte zu berauben.«

»Nein, ich versuche, dir das Maul zu stopfen! Ich hab dich satt.«

Louise schnappte sich eine Hand voll Schlüpfer und lud sie auf Juts' Kopf ab. Einer blieb an ihrem Ohr hängen. Damenwä­sche schwebte herab wie kleine seidene Fallschirme. Der Abtei­lungsleiter, ein gezierter Affe in braunem Anzug, kam durch den Gang gestürmt.

»Meine Damen, meine Damen.«

»Halten Sie sich da raus.« Juts warf einen Büstenhalter nach ihm.

Er zog ihn sich vom Gesicht; sein Ehering fing eine Sekunde lang das Licht der Deckenbeleuchtung ein. Verkäufer verließen ihre Posten, um ihm beizustehen. Mittlerweile hatte sich eine Menschenmenge versammelt, und Frauen lasen die seidenen Prachtstücke auf. Die meisten in der Absicht, sie zu bezahlen. Einige nicht.

Man riß die zwei Schwestern auseinander und beförderte sie auf die Straße. Ein rosa Schlüpfer hatte sich zwischen den bei­den oberen Knöpfen von Louises Bluse eingenistet. Sie stürmte die Straße hinunter.

»Diebin!« Juts zeigte auf das rosa Requisit.

Louise blieb stehen, entdeckte den Schlüpfer und kehrte um. Sie öffnete die Eingangstür zum Kaufhaus, ließ ihn huldvoll auf den Boden fallen und steuerte dann über den Platz auf die George Street zu.

»Du findest ja wohl allein nach Hause.«

Juts, hochrot im Gesicht, lief hinter ihr her. »Blechquassel­strippe!«

»Sei nicht so kindisch.«

Ein vertrautes, wenn auch runder gewordenes Gesicht lächelte sie an. Bunny Von Bonhurst kam den Schwestern auf dem Bür­gersteig entgegen und winkte ihnen zu.

»Bunny.« Louise schaltete den Gesellschaftsgang ein und rang sich ein Lächeln ab. »Ich habe dich Jahre nicht gesehen.«

Bunny, in einem schicken beigen Kostüm, umarmte Louise und dann Julia. »Ich bin aus Salisbury gekommen, um Rollie und die Kinder zu besuchen.« Rollie war ihr Sohn. »Wie geht's euch denn so?«

»Ich kann nicht klagen«, sagte Louise, die ständig klagte.

»Du siehst gut aus«, log Juts; sie fand Bunny Von Bonhurst fett wie eine Zecke.

»Wie ich höre, bist du jetzt Mutter.«

»Ja, sie ist ein Quälgeist.«

»Das sind sie alle.« Bunny lachte herzhaft. »Sagt mal, ich hab an euch gedacht im Krieg, als ich in der Zeitung den Artikel über die deutschen Flugzeuge las. Ihr müßt Todesängste ausge­standen haben.«

»Allerdings«, erwiderte Louise wahrheitsgemäß, und sie lä­chelte, als die daran zurückdachte.

»Das war vielleicht eine Nacht.« Juts beschloß, Louise die Hölle heiß zu machen. »Louise hatte das Fernglas, und wir ha­ben was gehört. Natürlich dachten wir nicht im Traum daran, daß es der Feind sein könnte, obwohl wir ausgebildet waren, nach ihm Ausschau zu halten. Jedenfalls haben sich dicke Wol­ken am Himmel gewälzt, und dann sah Louise sie in V- Formation direkt auf uns zukommen. Mir ist fast das Herz ste­hen geblieben.«

Louise ging es jetzt ebenso, denn sie war überzeugt, daß ihre wütende Schwester sie mit einem ungeschminkten Bericht bloß­stellen würde. »Aber Julia. Bunny will bestimmt nicht alle Ein­zelheiten hören.«

»O doch!«

»Hm« - Julia leckte sich die Lippen - »Wheezie schrie >Deutsche<, und ich hab den großen Scheinwerfer auf die Flugzeuge geschwenkt, aber die waren sehr weit oben. Wheezie hat die Sirene gekurbelt. Es war mitten in der Nacht. Die Leute kamen aus ihren Häusern gerannt; Caesura Frothingham, du erinnerst dich an sie.« Als Bunny nickte, fuhr Juts fort: »... hat so laut gebrüllt, daß sie Tote hätte aufwecken können:>Die bringen uns um!<, dann ist sie wie ein kopfloses Huhn rumge­rannt, bis sie sich schließlich unter ihrem Auto verkroch. Als ob das was genützt hätte. Und.«

»Julia, wirklich.« Louise sah demonstrativ auf ihre Armband­uhr. »Bunny, es war so schön, dich mal wieder zu sehen.«

»Weißt du, das Seltsame mit diesen Deutschen war, daß sie plötzlich verschwanden. Die Wolken müssen weiter westlich wohl doch dichter gewesen sein, oder vielleicht sind sie umge­kehrt und zum Meer zurückgeflogen.« Juts grinste Louise hä­misch an, dann schenkte sie Bunny ein reizendes Lächeln.

»Pearlie war fest überzeugt, daß sie aus Neufundland kamen«, sagte Louise abgehackt.

»Das ist aber weit weg.« Bunny runzelte die Stirn.

»Sie haben keine Flugzeugträger«, rieb Juts ihr unter die Na­se.

»Sie hätten sich einen von den Japanern leihen können. Im­merhin standen sie auf derselben Seite.« Louise erdolchte sie mit ihrem Blick.

»Ja, die waren schwer auf Achse.«

Bunny kicherte. »Juts, du änderst dich nie.«

»Leider.« Louise lächelte steif. »Immer noch die böse kleine Schwester.« Sie nahm Julia am Arm, schob sie die Straße hin­unter und rief Bunny über die Schulter zu: »Komm uns doch mal besuchen. Wir haben uns so lange nicht gesehen.«

Bunny winkte. »Mach ich.«

Als sie außer Hörweite waren, zischte Louise: »Wenn du noch einmal auch nur darauf anspielst, was damals in der Nacht pas­siert ist, schneid ich dir die Kehle durch.«

»Dann sei mal lieber sehr nett zu mir.«

»Ich bin nett zu dir. Ich versuche, eine kommende Katastro­phe zu verhindern.«

»Wenn ich deinen Rat wünsche, werde ich dich darum bitten. Andererseits« - das hämische Grinsen erschien wieder - »bist du meine große Schwester. Dein Geburtstag steht vor der Tür, und du wirst bald fünfzig.«

»Werd ich nicht!«

»Stimmt, ich vergaß. Du bist 1901 geboren. Du wirst erst neunundvierzig. Da werden wir wohl noch ein Jahr auf den großen Tag warten müssen.«

»Ich bin nicht neunundvierzig.«

»Das ist aber komisch, Wheezie, denn ich bin fünfundvier­zig.«

»Du warst nie gut in Mathematik.«

Sie fuhren schweigend nach Hause. Louise war gewarnt und wollte Julia nicht noch mehr provozieren, und sie war immer noch so wütend, daß sie nicht wagte, den Mund aufzumachen. Juts summte auf dem ganzen Heimweg, unterbrach ihre musika­lische Träumerei nur, wenn sie auf der Route 116 an Vertrau­tem vorbeikamen. Sie genoß es, Louise in der Hand zu haben. Sie ließ sie sogar in Spring Grove anhalten, um sich eine Cola zu kaufen, weil sie wußte, daß der Gestank von der nahe gele­genen Papierfabrik Louise den Magen umdrehen würde.

Als Wheezie in Juts' Einfahrt anhielt, sprang Juts aus dem Auto, schnappte sich ein paar Päckchen und sagte: »Ich habe eine neue Devise ->Sag die Wahrheit und mach dich davon. < Neunundvierzig!« Sie schloß den Wagenschlag und flitzte zum Haus.

67

Alle, die auf Louises Geburtstagsfeier eingeladen waren, muß­ten die Illusion aufrechterhalten, daß sie knapp die vierzig über­schritten hatte.

Nickel, die Feste aller Art liebte, stand an der Tür und nahm die Mäntel entgegen. Sie warf sie auf das Bett in Louises Schlafzimmer. Als der Haufen zu groß wurde, warf sie die Mäntel auf Doodlebugs Bett, weil sie dachte, auf das Bett käme es an. Das einzig Dumme dabei war, daß Ramelle Chalfontes Nerzmantel Flöhe bekam.

Extra Billy und Mary betätigten sich als Barkeeper und Be­dienung. Mary reichte Tabletts mit Horsd'reuvres herum. Sie faßte es nicht, daß Menschen so viel essen und trinken konnten.

Lillian Yost begrüßte Juts. »Was sagst du zu Natalie Bitters?« Natalie war Billys Großtante. »Eine Bärenkonstitution, und dann - mir nichts, dir nichts hinüber.«

»Popeye Huffstetler hat die Todesanzeige verfaßt. Er schrieb: Natalie Bitters hat in den liebenden Armen Jesu die ewige Ru­he gefunden<« Juts kicherte. »Das war gelogen. Nicht mal Jesus würde diese Zicke wollen.«

Wäre Juts umsichtiger gewesen, hätte sie gesehen, daß Natalie Bitters' einzige Freundin in diesem Leben, Samantha Dingledi­ne, hinter ihr stand.

»Wie kannst du so etwas sagen?«

»Sie war ungefähr so attraktiv wie Ziegenködel«, erwiderte Juts, die dem Alkohol kräftig zugesprochen hatte, während sie bei den Vorbereitungen für das Fest half.

»Ich gehe!« Samantha schob sich zur Tür.

Louise, die Samantha nicht verprellen wollte, weil sie ein gro­ßes Haus zu streichen und Pearlie sich um den Auftrag bemüht hatte, eilte zu ihr. »Hör nicht auf Juts. Sie hat weniger Verstand, als Gott einer Gans gegeben hat.«

»Gans oder Gänsen?« Juts kniff die Augen zusammen.

Louise, der die Anspielung nicht entging, legte ihren Arm um Samanthas Schultern und zwinkerte dabei Juts zu, in der Hoff­nung, sie dadurch zu ihrer Verbündeten zu machen. »Feind hört mit.«

»Meinst du mich oder deine Schwester?«

»Entschuldige, Samantha. Das sagen Juts und ich immer, um uns gegenseitig zu beruhigen.«

Als Louise zur Bowleschüssel kam, leerte Nickel dort gerade ein Glas Bowle.

»Stell das Glas hin, du kleine Säuferin.«

»Hm?« Erschrocken sah Nicky ihre Tante an, deren roter Lip­penstift leicht verschmiert war.

Louise riß Nickel das Glas aus der Hand. Juts schritt ein. »Wheezie, sie wußte nicht, daß es eine Schüssel für Kinder und eine für Erwachsene gibt.«

»Du könntest mal versuchen, sie zu erziehen.«

Nickel lauschte dieser Auseinandersetzung, während Saman­tha Dingledine sich zurückzog. Dann tauchte sie geschwind ein neues Glas in die Bowle, die ihr ausgezeichnet schmeckte.

»Ich erziehe sie ja!«

Louise entging der zweite Vorstoß auf die Bowle nicht. Sie packte Nickel am Handgelenk. »Wag es nicht, die Bowle zu trinken.«

»Laß sie in Ruhe.« Juts schlug Louise so fest auf den Rücken, daß ihre falschen Zähne in die Schüssel flogen.

Louise konnte nicht schreien, weil dann alle gemerkt hätten, daß sie keine Zähne hatte. Sie hoffte, daß niemand das Gebiß hatte herausfliegen sehen, aber natürlich hatten es viele beo­bachtet. Sie fischte in der Schüssel umher.

Nickel hielt dies für ein lustiges Angelspiel, also tauchte sie ihre Hand ebenfalls in die Schüssel. Ihre flinken Finger fanden die Prothese.

»Hier, deine Zähne, Tante Wheezie.«

Louise schloß beide Hände um die dargebotene Beute und zischte durchs Zahnfleisch: »Das sind nicht meine Zähne«, und stampfte wütend nach oben.

»Momma, was hab ich falsch gemacht?«

»Gar nichts. Willst du mir helfen, die Schüssel auszuleeren?« Julia nahm die Schüssel, wobei sie darauf achtete, keine Bowle zu verschütten. Sie trug sie in die Küche; Ramelle Chalfonte hielt ihr die Küchentür auf.

Sie schüttete den Inhalt in den Ausguß.

»Momma, warum ist Tante Wheezie böse auf mich?«

»Sie ist brummig, weil sie eine alte Schachtel ist.« Juts schrubbte die Schüssel sauber.

Ramelle trat zu ihnen. »Brauchst du eine helfende Hand?«

»Ja, und einen Fuß«, witzelte Juts. »Nicky, schüttelst du bitte mal die Hawaii-Bowle?«

Nickel nahm die große Büchse und schüttelte sie. Ramelle suchte nach einem Büchsenöffner oder Dosendorn.

»Da ist er ja.« Sie stieß zwei sich gegenüberliegende Löcher in die Büchse. »Ich glaube, wir brauchen zwei davon. Nickel, kannst du noch eine schütteln?«

»Okay.« Während Nickel die blaue Büchse kräftig schüttelte, fragte sie: »Der wievielte Geburtstag ist heute?«

»Laut Louise oder tatsächlich?« Juts bremste sich. »Ganz egal, Herzchen. Tante Louise ist neununddreißig. Sie ist ganz oft neununddreißig geworden. Sie wird noch neununddreißig sein, wenn du neununddreißig bist.«

Nickel, die den Sarkasmus ihrer Mutter nicht mitbekam, stell­te die Büchse neben die Bowlenschüssel. Sie sah zu, wie Juts eine Flasche billigen Wodka hineinschüttete. Als Juts sich um­drehte, um sich die Hände an einem rotweißen Geschirrtuch abzuwischen, schüttete Nickel eine zweite Flasche hinein. Ra­melle wollte etwas sagen, besann sich jedoch und kicherte hin­ter vorgehaltener Hand.

Die Frauen riefen Pearlie herein, damit er die schwere Schüs­sel hinaustrug.

Danach geriet die Feier in Fahrt.

»He, Wheezie«, rief Juts ihr zu, als sie wieder erschien, »auf deinen Geburtstag.« Sie hielt ihr ein Glas hin.

»Du weißt, ich trinke nicht.«

Alles blieb stehen und rief: »Komm schon.«

»Amüsier dich. Du hast Geburtstag.«

»Schön, nur ein Schlückchen.« Louise kippte ihr Glas hinun­ter. Im Laufe des Abends brauchte sie noch viele Schlückchen.

Millard Yost tanzte eng mit Louise, sehr eng.

Pearlie tippte ihm zum Abklatschen auf die Schulter. Millard wollte nicht loslassen. Pearlie tippte abermals. Musik erfüllte den Raum. Millard wollte immer noch nicht loslassen. Darauf­hin zog Pearlie ihn von Louise weg, doch Millard, der der Bow­le reichlich zugesprochen hatte, streckte die Arme nach seiner Partnerin aus und packte, vielleicht nicht unabsichtlich, ihre Brüste. Pearlie holte aus und streckte ihn mit einem Fausthieb nieder.

Lillian, über das Benehmen ihres Mannes erbost, stand über seiner reglosen Gestalt. »Ihr könnt ihn behalten, ich geh nach Hause.« Sie stürmte aus dem Haus und knallte die Tür hinter sich zu.

Chessy, der ebenfalls ein bißchen beschwipst war, sagte: »Schaffen wir ihn hier raus, Jungs.«

Die Männer hoben Millard hoch und legten ihn in Maizies al­tes Schlafzimmer.

Nickel, die länger auf war als sonst, zupfte ihre Mutter am Kleid. »Momma, was hat Mr. Yost?«

»Er ist besoffen.«

»Warum wollte er Tante Wheezie nicht loslassen?«

»Ah.« Juts überlegte kurz, dann wiederholte sie etwas, das Celeste immer gesagt hatte: »Die Bande der Ehe sind so schwer, daß es zwei, manchmal drei braucht, um sie zu tragen.«

Nickel legte sich oben neben Doodlebug schlafen, beide auf dem Nerzmantel ausgestreckt. Zuvor jedoch verkündete sie allen, die es hören wollten, daß sie niemals heiraten würde.

Derweil schleppte Louise Juts in die Küche. Beide waren wacklig auf den Beinen.

»Julia, du darfst keine Witze über mein Alter machen.«

»Ich hab heute Abend keinen einzigen Witz gemacht.«

»Ich trau dir nicht.«

»Ich bin deine Schwester.«

»Eben.« Louise verschränkte die Arme. »Du mußt nämlich bedenken, daß wir täglich acht Stunden schlafen.«

»Und?«

»Acht ist ein Drittel von vierundzwanzig, stimmt's?«

»Stimmt.«

»Ich tu nichts, wenn ich schlafe. Mein Körper und mein Geist ruhen.«

»Stimmt.« Juts lehnte sich gegen die Anrichte, froh über den Halt.

»Also lebe ich in diesen acht Stunden nicht richtig, drum kön­nen sie nicht zu meinem Alter zählen. Man kann nur die Stun­den zählen, in denen man weiß, was man tut. Ich bin zwei Drit­tel so alt wie in den Papieren. Verstehst du?«

»Ja.« Juts war verwirrt, aber es klang plausibel.

»Also, Julia, bin ich in Wirklichkeit erst zweiunddreißigkom­madrei Jahre alt, aber das kann ich nicht sagen, weil es für die anderen zu schwer zu begreifen ist. Darum sag ich einfach, ich bin neununddreißig. Wenn mein Alter die neununddreißig ein­holt, bin ich erst wirklich neununddreißig, denn bis dahin sind es ja noch sechs Jahre. Ich weiß, was ich tue. Du solltest auf mich hören.«

68

Der Sommer 1950 mit seinem blaßblauen Himmel und der niedrigen Luftfeuchtigkeit bildete einen herrlichen Kontrast zu den üblichen Sommern. Wenn es mal schwül wurde, setzten sich die Leute mit Fächern auf ihre Veranden; alte Männer mit Panamahüten fanden sich auf dem Platz ein, wo sie sich im kühlenden Schatten der Bäume niederließen.

Juts schlenderte mit Nicky, die lustlos hinter ihr herzockelte, durch den Park. Anders als ihre Schwester, die gern große blu­menreiche Hutkreationen trug, ging Juts barhäuptig. Dies bot ihr ausgiebig Gelegenheit zu beweisen, daß sie nicht ein einzi­ges graues Haar hatte. Sie war stolz darauf, zumal sie nicht auf Färbemittel zurückgriff, und doppelt stolz, da sich an Louises spitzem Haaransatz ein auffälliger Silberstreif zeigte.

Mary Miles Mundis kreuzte in einem nagelneuen Cadillac vorüber, der so breit war, daß er beide Fahrbahnen einnahm. Sie winkte, was ihren Unterarm zum Wabbeln brachte. Das fetter werdende Bankkonto der Familie hatte auch Mary Miles Fett ansetzen lassen.

»Momma, wann wird Mrs. Mundis' Schwimmbecken fertig?«

»Bald.«

»Läßt sie Kinder rein?«

»Nur brave Kinder.«

Nickel blinzelte ihre Mutter mißtrauisch an, kniff die Lippen zusammen und knallte mit einer imaginären Peitsche.

Juts meinte nur: »Du hast zu viele Lash-LaRue-Filme gese­hen.«

Lash LaRue, ein beliebter, stets schwarz gekleideter Cowboy­held, konnte mit seiner Peitsche einem Gegner die Zigarette aus dem Mund schlagen.

»Momma, stimmt es, daß du Daddy ein Hundefuttersandwich gegeben hast?«

»Wo hast du das denn gehört?« Juts' graue Augen leuchteten. »Hat dir das meine werte Schwester erzählt?«

Nickel hatte längst gelernt, daß Herausforderung die beste Methode war, um etwas aus ihrer Mutter herauszukitzeln. »Weiß ich nicht mehr.«

»Du weißt es ganz genau, du kleines Biest, du hast ein mes­serscharfes Gedächtnis. Wenn du mir jetzt nicht sagst, wer dir das erzählt hat, darfst du nicht mit zu Mrs. Mundis' Pool­Party.«

Das saß. »Tante Wheezer.«

»Tante Wheezer was?«

»Tante Wheezer hat gesagt, du warst wütend auf Daddy und hast ihm ein Hundefuttersandwich mit Senf und Gurken und Salat gegeben.«

»Ich habe nichts dergleichen getan.« Sie gelangten zum Kon­föderiertendenkmal für die ruhmreichen Toten der unbefleckten Niederlage. »Es war Katzenfutter.«

Nicky prustete los. »Momma!«

»Er hat den Unterschied nicht geschmeckt.« Julia überlegte kurz. »Herzelchen, laß dir von mir einen Rat geben, der dir im Moment vielleicht nicht viel bedeutet, aber später wirst du mir dafür dankbar sein. Dein Vater hätte was viel Schlimmeres ver­dient gehabt als ein Katzenfuttersandwich, aber das ist Jahre her.« Sie sah zu Epsteins Juweliergeschäft auf und dachte bei sich, obwohl es vor Jahren passiert war, ging es nie vorbei. »Wenn es Hoden oder Räder hat, ist Ärger vorprogrammiert.«

Da Nicky sich viel im Pferdestall aufhielt, wußte sie, was Ho­den waren. »Oh«, gab sie zur Antwort. Sie erspähte Louise, die mit zwei Einkaufstüten beladen aus dem Bon-Ton kam und den Platz überquerte. »Tante Wheezie!« Sie hüpfte über den schat­tigen Fußweg, um ihre Tante zu begrüßen, die sie fast immer gern hatte.

Juts trat zu ihnen. »Was hast du da drin?«

»Dies und das.«

»Ich wette, alles da drin ist nützlich und du hast Jahre gewar­tet, um es zu erstehen.«

»Fang bloß nicht so an«, warnte Louise. »Wollen wir uns nicht einen Moment setzen?«

»Nicht auf der Nordseite. Laß uns rübergehen.« Juts ging ein paar Schritte zurück und ließ sich auf eine hübsche schmiedeei­serne Bank plumpsen. »Hast du Mary Miles Mundis' nagelneu­en, soll heißen, zwei Minuten alten, Cadillac gesehen?«

»Ich hatte noch nicht das Vergnügen.«

»Du brauchst bloß ein paar Minuten zu warten, denn sie kreuzt durch die Stadt. Sie dürfte jeden Moment wieder den Platz passieren.«

»Er ist rot«, warf Nickel ein.

»Ein roter Cadillac.« Louise seufzte. »Muß toll sein. Harold verdient das Geld, und Mary Miles gibt es aus.«

»Man kann es nicht mit ins Grab nehmen.«

»Nickel, hör nicht auf deine Mutter. Das Geld rinnt ihr durch die Finger. Man muß sparen.«

»Ja, Tante Louise.« Nickel baumelte mit den Beinen, weil sie nicht bis auf den Boden reichten. Die schmiedeeiserne Bank war kalt unter ihrem Hintern.

»Wieso hast du meinem Kind erzählt, ich hätte Chessy ein Katzenfuttersandwich zu essen gegeben?«

»Ich dachte, es war Hundefutter.«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Ich weiß nicht«, wich Louise aus. »Ist mir so eingefallen.«

»Deswegen brauchte es dir noch lange nicht aus dem Mund zu fallen.«

Louise wurde vor weiteren Rechtfertigungen bewahrt, als sie den roten Cadillac erblickte, der am Emmitsburg Pike anhielt, ein Farbklecks zwischen dem feierlichen Weiß der beiden Rat­häuser.

»Sie sollte lieber der Kirche Geld spenden.«

»Einen Scheiß sollte sie.«

»Deine Mutter beliebt sich unfein auszudrücken«, bemerkte Louise trocken.

»Du bist natürlich so voll der Milch der frommen Denkungs­art, daß du muhst. Kein schlimmes Wort entschlüpft deinen vollkommenen Lippen.«

»Ich hatte in dieser Bon-Ton-Tüte was für dich. Jetzt behalte ich es selbst.« Louise verschränkte die Arme.

»Was?«

»Ich beschenke doch niemanden, der mich beleidigt. Meine eigene Schwester!« »Dafür sind Schwestern da.« Julia lächelte. »Da kommt sie. Ich glaube, sie hat den Schalldämpfer ausbauen lassen.«

Sie lauschten, als das tiefe Brummen des großen V-8-Motors den Platz erfüllte. Selbst die Vögel verstummten.

»Kannst du dir vorstellen, so viel Geld zu haben?«

»Ja.« Juts blickte ganz verträumt. Sie kam auf die Einkaufstü­te zurück. »Was hast du mir gekauft?«

»Pfoten weg!« Louise schlug Juts auf die Hand. Sie griff hin­ein und zog einen Eierschneider heraus, ein kleines mit Drähten bespanntes Gerät, das wie eine Miniaturharfe aussah.

»He, kann ich gut gebrauchen. Danke.« Juts küßte ihre Schwester auf die Wange, sachte, um ja keinen Lippenstift zu hinterlassen.

Nickel rutschte voller Erwartung näher an ihre Tante heran.

»Und das ist für dich.« Louise brachte ein Cowboy-Halstuch zum Vorschein.

»Toll!« Nickel rollte es sogleich zusammen und band es sich um den Hals. »Danke, Tante Wheezie.«

»Sag>vielen Dank<. >Danke< ist unhöflich.« Juts wies mit dem Finger auf das Kind.

»Vielen Dank, Tante Louise.«

»Gern geschehen.«

Mary Miles kurvte um den Platz.

»Was glaubst du, wie viel Sprit das Ding verbraucht?« Juts blies Rauch aus.

»Zum Glück gibt es auf der Baltimore Street eine Tankstelle.« Louise sah dem Wagen sehnsuchtsvoll nach. »Ach, übrigens, daß ich's nicht vergesse. Die Pool-Party steigt diesen Samstag. Alle sind eingeladen.«

»Peepbean auch?«, fragte Nickel.

»Alle.«

»Grandma Smith?«

»Die auch«, erwiderte Louise.

»Ich kann's nicht erwarten, den Fettkloß im Badeanzug zu se­hen«, sagte Juts.

»Juts, Josephine Smith wird niemals einen Badeanzug anzie­hen. Sie wird unter einem Sonnenschirm sitzen. Sie wird sich über die Hitze beklagen, auch wenn's ein Tag wie heute ist. Sie wird Rup laut zurufen, er soll ihr einen Limonadencocktail bringen, dabei weiß ich ganz genau, daß es ein Gincocktail sein wird. Nach einer Stunde wird sie sich langweilen und sich von Rup nach Hause bringen lassen. Oder besser noch, sie wird sich von Chessy fahren lassen.«

»Ist vielleicht ganz gut so. Ein Zelt wäre gerade groß genug für sie.«

Die Pool-Party, mit idealem Wetter gesegnet, zog die ganze Stadt an. Niemand wollte sie versäumen. Und wie Louise vor­ausgesagt hatte, ruhte Josephine Smith unter einer großen Ei­che, fächelte sich, trank einen Cocktail, die Füße auf einem kleinen Kissen, das der aufmerksame Gastgeber ihr gebracht hatte.

Weil der Sommer eben erst anfing, waren alle kreidebleich, was manche Gäste dicker aussehen ließ, als sie waren. Mary Miles hatte ein paar Pfund zugelegt, aber ihre Körperfülle war wenigstens gut proportioniert. Zudem hatte ihr Badeanzug ein Röckchen.

Juts, deren schöne Figur immer noch straff war, spritzte und planschte herum. Auch Louise war gut in Form. Juts konnte sich ihr gegenüber eine boshafte Bemerkung über Trudy Ep­stein nicht verkneifen, die jetzt ein kleines Bäuchlein vor sich hertrug.

Juts hatte gewußt, daß die Epsteins kommen würden. Immer­hin war praktisch die ganze Gegend eingeladen. Wenn sie nicht mit Trudy zusammentreffen wollte, hätte sich Juts weigern können, hinzugehen. Das hätte sie aber natürlich nie getan. Schließlich wollte sie der Mittelpunkt der Party sein.

Nickel spielte mit den anderen Kindern. Sie und Peepbean be­spuckten sich gegenseitig. Er rang sie nieder. Obwohl sie nur halb so groß war wie er, sprang sie auf und boxte ihn mit der ganzen Kraft ihrer Fäuste in die Seite. O. B. schritt ein, bevor weiterer Schaden angerichtet werden konnte.

»Das reicht. Man schlägt keine Mädchen.«

Peepbean rieb sich die Augen, um die Tränen zu verbergen, und bemerkte: »Sie ist kein Mädchen. Sie ist eine dumme Sau.«

O. B. zog ihm die Ohren lang. »Halt die Klappe!«

Nickel sah mit sichtlicher Genugtuung zu.

Jackson Frost, fast zwei Jahre älter als die fünfeinhalbjährige Nickel, legte ihr seinen Arm um die Schultern. »Komm, wir holen uns ein Eis.«

Mary Miles und Harold hatten die Tische mit Hot Dogs, Hamburgern, Kartoffelsalat, Krautsalat, weißen Bohnen in To­matensauce, Salat aus drei Sorten Bohnen, Soleiern, kaltem Schinken und Brathühnern beladen. Auf dem Tisch mit den Süßspeisen standen große Wannen mit Speiseeis, das ringsum in Trockeneis gepackt war, die begehrteste Sorte Schokoriegel und Erdnußklümpchen, die Mrs. Anstein eigens für diesen An­laß zubereitet hatte.

Louise ließ sich auf einer großen Luftmatratze nieder. Sie paddelte mit beiden Händen.

Juts schwamm zu ihr. »Laß mich auch rauf.«

»Kein Platz.«

»Geh schwimmen und überlaß mir die Matratze für eine Wei­le.«

»Nein. Ich will meine Haare nicht naß machen. Ich war heute bei Pierre, und sie sind genau, wie ich sie haben will.«

»Dies ist eine Pool-Party.«

»Das heißt nicht, daß ich schwimmen muß.« Louise schloß die Augen. »Laß mich einfach hier herumtreiben.

Du weißt, wie viele Chemikalien in diesen Pools sind. Meine Haare könnten sich komisch verfärben.«

Nickel beobachtete, wie ihre Mutter unter die Matratze tauch­te und sie umkippte. Louise kam prustend an die Oberfläche, während Juts davonschwamm.

»Deine Mutter ist gemein.« Peepbean hatte sich an Nickel he­rangeschlichen.

»Sei still«, warnte Jackson ihn.

»Sei du doch still.«

»Peepbean, du bist 'ne olle Laus.« Nickel wandte sich von ihm ab, um die Szene im Pool zu beobachten. Sie trug ihre roten Cowboystiefel, ihren Badeanzug und ihr Halstuch. Juts hatte ihr mühevoll klarzumachen versucht, daß dies nicht der richtige Aufzug für eine Pool-Party war, aber Nicky wollte weder auf die Stiefel noch auf das Halstuch verzichten.

»Ich kann nicht schwimmen!«, brüllte Louise.

Mrs. Mundis drehte das Radio auf, vermutlich nicht, um Loui­ses Schreie zu übertönen. Sie wollte nur die Musik lauter haben, und sie schenkte dem Drama in ihrem Schwimmbecken kaum Beachtung.

Nickel lief zu Chessy. »Daddy, Tante Wheezie übernimmt Wasser.« Nickel hatte den Ausdruck von einem der vielen Vete­ranen aufgeschnappt.

»Juts!«, rief Chessy seiner Frau zu, die ihre Schwester demon­strativ nicht beachtete.

»Ich sacke ab!«, jammerte Louise.

»Ich rette dich.« Nickel sprang ins Wasser, mit Stiefeln und allem drum und dran und ging unter wie ein Stein. Gleich dar­auf tauchte der Lockenkopf an der Oberfläche auf. Sie paddelte wie ein Hund zu ihrer Tante.

»Ich ertrinke!«

»Nicht schnell genug.« Juts sah, daß ihre Schwester nicht spaßte. Schlimmer noch, ihre Haare wurden naß.

Juts schob einen Arm unter den Rücken ihrer Schwester und hievte sie hoch. »Tritt mit den Beinen. Nicht mich, verflixt noch mal«, sagte Juts, als sie einen Schlag an ihrem Schenkel spürte. Sie bugsierte die strampelnde Louise zur Luftmatratze.

Kaum hatte Louise die Seite der Matratze gepackt, bespuckte sie Juts mit Wasser. »Du hast mich runtergeschubst.«

»Tut mir Leid.«

»Von wegen!«

Ein kurzes Japsen von Nickel schreckte Juts und Chessy auf.

»Daddy, meine Beine sind müde.« Das waren sie allerdings. »In Cowboystiefeln kann man nicht so gut schwimmen.«

Chessy sprang kopfüber hinein, daß das Wasser zu allen Sei­ten spritzte, und packte sein Kind. Sie legte die Arme um seinen Hals. »Schätzelchen, Daddy hält dich.«

»Ich kann schwimmen, ich kann richtig schwimmen.«

»Ich weiß, ich weiß.« Er klopfte ihr auf den Rücken. »Aber mit Cowboystiefeln ist es keine gute Idee.«

»Alles in Ordnung mit ihr?«, rief Juts.

»Ja.«

»Aber mit mir nicht!« Louise paddelte an den Beckenrand.

Unterdessen waren die Partygäste aufmerksam geworden.

Louise kletterte aus dem Wasser und sank schwer atmend auf die Beckenmauer. »Sie will mich umbringen. Sie will meine Hälfte vom Erbteil.«

Julia ging nicht darauf ein, was die immer noch nach Luft schnappende Louise noch mehr erzürnte.

Pearlie schob sich durch die Menschenmenge zu Louise vor und stand ihr bei. Auch Mary kam zu ihrer Mutter.

Peepbean lauerte Nickel am Süßspeisentisch auf. »Blöde Henne.«

Nickel zuckte die Achseln. Da Peepbean soeben eine Bemer­kung über Nickels Herkunft mit angehört hatte, kam er sich mächtig stark vor. Sie huschte an ihm vorbei. Er folgte ihrer Wasserspur.

»Blöd. Du bist ein blöder Bankert.«

Nickel wußte nicht genau, was>Bankert< bedeutete, nur, daß es kein schönes Wort war. »Sei still, Peepbean.«

»Du hältst dich für so schlau, aber du bist ein blöder Bankert.«

Extra Billy Bitters, der unmittelbar hinter Peepbean stand, hat­te es gehört. Er wollte nicht, daß dieses Gespräch eskalierte. »Peepbean.«

Peepbean dreht sich um und sah den blonden Mann hinter sich aufragen. »Ja, Sir?«

»Zeit, daß du schwimmen gehst.«

»Ja, Sir.« Peepbean lief zum Becken und rutschte hinein.

Extra Billy ging zu O. B. berichtete ihm, was er gehört hatte und bat O. B. Peepbean einen väterlichen Rat zu erteilen. O. B. ohnehin unzufrieden mit seinem Sprößling, wurde blaß. Billy klopfte O. B. auf die schmale Schulter. »Es ist bloß, das Kind soll es nicht wissen - jedenfalls noch nicht.«

O. B. nickte. »Von Kirk wird sie es nicht erfahren.« O. B. be­nutzte den Vornamen seines Sohnes nur selten.

Unterdessen wickelte Nickel hingebungsvoll Baby-Ruth­Schokoriegel aus. Die meisten Erwachsenen befaßten sich noch mit Louise. Nicky warf die Schokoriegel ins Wasser.

»Schatz«, brüllte Harold Mundis, während Peepbean seine Runden schwamm. »Da ist Scheiße im Pool.«

»Harry, das kann nicht sein. Keiner hatte Zeit dazu.«

Unbeirrt von dieser Weisheit deutete Harold auf die anstößi­gen Schokoriegel. »Scheiße schwimmt.«

»Ihr braucht mich gar nicht so anzugucken«, schrie Louise. Ihre Lungen hatten sich von der Strapaze erholt. »Ich hatte Angst, aber nicht solche Angst.«

Juts, die von schwesterlicher Liebe triefte und diesen Augen­blick genoß, gurrte: »Ganz ruhig, Louise, Angst wirkt sich bei vielen Leuten so aus.«

»Ich habe nicht in Mary Miles' Pool gemacht!« Louise setzte sich aufrecht, ihre Augen funkelten.

»Aber jemand hat's getan«, bemerkte Harry, der kein feinfüh­liger Mensch war.

Nickel rief: »Peepbean Huffstetler.«

Just in diesem Moment tauchte Peepbean auf, der unter Was­ser geschwommen war. Er wollte damit protzen, wie weit er tauchen konnte. Aller Augen ruhten auf ihm. Er lächelte, hielt sich die Nase zu, machte eine Rollwende und verschwand wie­der. Als er diesmal auftauchte, schaukelte ein Schokoriegel in Augenhöhe auf ihn zu.

»Igitt.« Er schob Wasser zu dem Riegel, der daraufhin fort­trieb, dafür jedoch hielten mehrere andere auf den Jungen zu, lauter kleine braune Torpedos. Er schrie, spritzte Wasser nach allen Seiten und schwamm zum Beckenrand. Er kletterte hin­aus, und alle starrten ihn an. Sie waren zu höflich, um mit dem Finger auf ihn zu zeigen, doch alle Anwesenden wußten, daß Peepbean Huffstetler in den Pool gekackt hatte.

69

Chessys Beine glühten hinten Windelwundrosa, weil sie zu viel Sonne abgekriegt hatten. Er zuckte zusammen, als er an diesem Abend unter die Bettdecke schlüpfte.

Yoyo, die sich am Fußende des Bettes lümmelte, spürte sein Unbehagen. Sie erhob sich, streckte sich, tappte übers Bett und legte sich neben seine Hand. Er streichelte das Tier.

Juts kam mit einem Tiegel Wundsalbe aus dem Badezimmer. »Dreh dich um.«

»Ich glaub nicht, daß das auch nur das kleinste bißchen hilft.«

»Das Menthol wird dir gut tun. Komm schon.«

Er drehte sich um, und sie schlug die Bettdecke zurück. Yoyo rutschte zum Kissen vor, um besser sehen zu können.

»Weißt du, was Extra Billy mir erzählt hat? Fast hätte ich's vergessen.« Er zuckte zusammen, als der erste weiße Salben­klacks seine Wade berührte. »Er hat mir erzählt, Peepbean Huffstetler hat Nickel einen Bankert genannt. Er hat O. B. des­wegen zur Rede gestellt.«

»Der Junge tickt nicht richtig.« Juts rieb zu fest.

»Juts.«

»Verzeihung.«

»Ich finde, wir müssen es Nicky sagen, bevor sie in die Schule kommt. Alle wissen es. Am Ende werden es auch die Kinder wissen, mit denen sie spielt. Ich will nicht, daß sie es von ihnen erfährt.«

»Bis September ist es noch lange hin.«

»Nein, wir haben schon Juni. Die Zeit rennt!«

»Ach, jetzt brauchen wir es ihr noch nicht zu sagen.«

»Wir müssen es tun, bevor die Schule anfängt.«

Juts hielt mit dem Einreiben inne. »Laß sie noch ein Weilchen mein Kind sein.«

Er drehte den Kopf, um sie anzusehen. »Sie ist dein Kind, Juts. Wenn du es ihr nicht sagst, tu ich es.«

Sie hob die Stimme. »Nein, das wirst du nicht.«

»Ich lasse es nicht zu, daß ein Rotzlöffel wie Peepbean.«

Sie unterbrach ihn. »Er nimmt es ihr übel, daß sie so viel bes­ser reitet als er. O. B. beschäftigt sich mehr mit ihr als mit sei­nem eigenen Sohn.«

»Das Warum schert mich nicht, sondern das Wann.« Er drehte sich um; seine Beine kribbelten. »Wir müssen mit ihr spre­chen.«

Juts schraubte den Deckel des kobaltblauen Glastiegels wieder zu. »Hast du das Gefühl, daß sie dein Kind ist?«

Er blinzelte, dann stammelte er: »Sie ist mein Baby, egal wo sie hergekommen ist.«

»Hm.« Juts rieb den bestickten Saum des Bettlakens zwischen linkem Daumen und Zeigefinger. »Ich sehe mich kein bißchen in ihr.«

»Du sollst nicht dich sehen. Du sollst sie sehen.«

»Ich weiß, daß Louise sich selbst sieht, wenn sie Mary an­schaut. Maizie sieht aus wie Pearlie.«

»Was hat das Aussehen damit zu tun?«

»Ich weiß nicht. Manchmal sehe ich eine kleine Fremde.«

Er spürte Zorn in sich aufsteigen und schluckte ihn herunter. »Nun ja, Juts, vielleicht sieht sie in uns große Fremde.«

»Schon möglich.«

»Was hast du denn erwartet?«

»Ich weiß nicht. Mehr, nehme ich an. Irgendwas. Sie ist so verflucht selbständig. Ich hatte gedacht, sie würde mich brau­chen.«

»Tut sie auch.«

»Nein, Chessy. Sie guckt sich allein um. Sie ist« - ihr fiel kein anderes Wort ein - »selbständig.«

»Gut so. Sieh doch, wie schwer Maizie zu kämpfen hatte, um von ihrer Mutter loszukommen. Wenn sie den Mädchen mehr Freiheit gelassen hätte, wäre es vielleicht nicht so schlimm ge­kommen, besonders für Maizie.«

»Ich weiß nicht. Ich fand nie, daß Louise sie erdrückt hat.«

»Ich schon.«

»Männer sind anders. Ihr liebt Kinder nicht so wie wir.«

»Julia Ellen, das ist ja wohl das Dümmste, was ich je gehört habe.« »So, und warum fällt es den Männern dann so leicht, ihre Kinder im Stich zu lassen?«

»Das sind keine richtigen Männer«, gab Chessy zurück. »Und du kannst nicht jeden Mann über den gleichen Kamm scheren wie deinen Vater. Nickel ist neugierig auf die Welt und sie hat keine Angst. Überlasse sie sich selbst, Juts. Sei froh, daß sie kein Duckmäuser ist.«

»Aber ich glaube nicht, daß es ihr was ausmacht, ob ich ihre Mutter bin oder nicht.«

»Aber natürlich macht es ihr was aus.« Er setzte sich auf und legte seinen Arm um sie. »Sie ist ein Kind. Sie denkt nicht an dich, sie denkt an sich. Kinder wollen nicht egoistisch sein, sie sind es aber.«

»Ich denke immer, irgendwas fehlt.«

»Nichts fehlt. Wirklich. Wir müssen uns mit ihr zusammen­setzen, bevor die Schule anfängt, Julia.« Er betonte ihren Na­men.

»Louise sagt das Gegenteil. Sie meint, wir sollten es ihr nie erzählen. Wenn doch, würde Nickel sich nicht als unser Kind fühlen.«

»Louise redet Stuß - nett ausgedrückt.«

Juts stellte den Salbentiegel auf den Nachttisch, dann kroch sie auf der anderen Seite ins Bett. Sie drehte sich auf die Seite und sah sich Yoyo in voller Pracht gegenüber. Sie schob sich weiter hinunter, um Chessys Gesicht zu sehen, über das gerade Yoyos Schwanz schnippte.

»Schatz, findest du, daß ich eine gute Mutter bin?«

»Natürlich.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Sie wartete ein wenig. »Ich wünschte, Wheezie wäre länger im Wasser geblieben.«

»Hm?«

»Dann hätten alle gedacht, die Baby-Ruth-Riegel wären von ihr.«

»Das Gesicht von Harry Mundis, als er sie herausfischte und sah, daß es Schokoriegel waren.« »Und wie Peepbean ums Becken rannte und rief:>Ich habe ja gesagt, ich hab nicht in den Pool geschissen. < Himmel, das war ein Bild für die Götter.«

»Hast du dich mal gefragt, wie die Schokoriegel in den Pool kamen?« Er kicherte.

»Nicky. Ich weiß, daß es Nicky war. Wer sonst würde auf so eine Idee kommen?«

Sie brachen in Lachen aus.

Chessy sagte: »Bei dem hat sie endgültig verschissen.«

70

Am nächsten Morgen schnitt Juts ihre Glyzine zurück, die die gesamte vordere Veranda zu überwuchern drohte, als Louise in der Einfahrt bremste, die Autotür zuschlug und die Eingangs­stufen hinaufstürmte.

»Wie konntest du?«

»Wie konnte ich was?«

»Du hast mich vor allen Leuten blamiert. Das werde ich nie vergessen. Ich mag dir vergeben, aber vergessen - nie.«

»Ich hätte dein Floß nicht umkippen sollen.« Juts klang zer­knirscht. War sie aber nicht.

»Das war noch das Geringste. Ich lag da, die Lungen voll Wasser, rang nach Luft, und dann mußte ich mich gegen den Verdacht wehren, ich hätte mich ins Becken entleert.«

»Wheezie, alle wissen, daß du's nicht warst.«

Louises lange schwarze Wimpern klimperten. »Es sah aber eine Weile ganz danach aus. Diese Blamage.«

»Sieh es doch mal so.« Juts klopfte auf die Unterseite eines frischen Päckchens Zigaretten; das Zellophan fühlte sich schön glatt an. »Niemand wird die Party oder dich je vergessen.«

Buster zockelte um die Ecke, sah Wheezie und sprang an ihr hoch, um sich streicheln zu lassen. Nickel sauste hinterdrein.

»Hallo, Tante Wheezie.«

»Was hab ich da gehört, du hast dich mit Peepbean gezankt?«

»Er hat angefangen.«

»Nickel, er ist nicht der Hellste.«

»Hat wohl im Mutterleib nicht genug Sauerstoff gekriegt«, fügte Juts hinzu.

Nickel stemmte die Hände in die Hüften. »Peepbean ist 'ne Moosbeere.«

Louise hob die Augenbrauen. »Und was ist eine Moosbeere, wenn ich fragen darf?«

»Ein Popohaar mit Kacke dran.«

»Wo schnappst du nur solche Sachen auf?« Louise war entrü­stet. Sogar Juts war sprachlos.

»Jackson Frost hat gesagt, Peepbean ist 'ne Moosbeere. Ist er auch.«

»Das mag ja sein, junge Dame, aber ich will das Wort nie wieder aus deinem Munde hören.« Juts wies mit ihrer rot glü­henden Zigarette auf Nicky.

»Warum nicht? Momma, er hat mich Bankert genannt, und das ist auch ein schlimmes Wort. Warum muß ich lieb sein? Das ist nicht gerecht.«

Die zwei Schwestern wechselten viel sagende Blicke. Louise machte eine Handbewegung, als wollte sie sagen, »du zuerst«.

Juts zog heftig an ihrer Zigarette. »Eine Südstaatenlady vergilt eine Grobheit nicht mit einer anderen. Sie lächelt und geht.«

»Mom!«

Juts hob die Hand. »Ich habe nicht gesagt, daß es leicht ist, aber damit verdienst du dir Respekt auf allen Seiten. Peepbean ist es nicht wert, daß man sich aufregt.«

»Weißt du, was ein Bankert ist?«, wagte Louise sich vor.

»Nein, aber es ist ein schlimmes Wort.«

»Wollen wir es nicht dabei belassen?«, warf Juts rasch ein.

»Wenn er mich schlägt, schlage ich zurück.« Nickel funkelte ihre Mutter trotzig an.

»Wehren sollst du dich schon.«

»Damit sagst du ihr, sie soll ihn schlagen«, murrte Louise.

»Nein, sag ich nicht, aber Kinder sind grausam. Wenn sie nicht zurückschlägt, wird sie windelweich geprügelt.«

»Sie ist nicht sehr groß.«

»Ich bin schon groß, ich kann jemand hauen.« Nickel ballte die Fäuste. »Und Angst habe ich auch keine.«

»Das sieht man.« Louise seufzte. »Ich kann mich bei meinen Mädchen an solche Probleme nicht erinnern.«

»Das waren andere Zeiten.« Juts hatte keine Lust auf einen Vortrag über Louises mädchenhafte Töchter.

»So lange ist das gar nicht her.«

»In Jahren vielleicht nicht, aber sonst schon. Durch den Krieg hat sich alles verändert.«

Louise überlegte eine Weile. »Ja, es ist anders geworden.«

Nickel betrachtete ihre Gesichter. »Wenn ich groß bin, zer­malme ich Peepbean zu Pulver.« »Das ist kaum die richtige Lösung.«

»Halte die andere Wange hin.<« Louise zitierte aus der Bibel.

»Nein.«

»Nickel...« Juts runzelte die Stirn.

»Nein.«

»Es steht in der Bibel.« Louise wiederholte, was Nickel längst wußte.

»Ich bin nicht Jesus.«

»Natürlich nicht, Herzchen, aber du mußt danach streben, wie Jesus zu leben.« Louises Stimme triefte von Heiligkeit.

»Nein.«

»Schluß jetzt, Nicky, das reicht«, sagte ihre Tante streng.

»Jesus wurde gekreuzigt. Ich will nicht gekreuzigt werden.«

»Jesus starb für unsere Sünden.« Louise war ausgesprochen salbungsvoll.

»Ich hab keine Sünden.«

»Und ob. Wir werden sündig und unrein geboren.«

»Ich geh in die Badewanne.«

Erbost über diese Halsstarrigkeit, redete Louise auf das Kind ein. »Wir werden mit der Erbsünde geboren, Nickel. Das ist das Wort Gottes.«

»Ich habe keine Sünden, und ich halte die andere Wange nicht hin.«

»O Nicky, was würde Jesus denken, wenn er dich hörte?«

Sie starrte ihre Tante an. »Jesus ist nicht hier.«

»Sehet, ich bin bei euch allezeit.<« Louises Stimme schwang sich zum Himmel empor.

»Er ist nicht hier! Er schert sich nicht um mich.«

»O doch«, stieß Louise erschüttert hervor.

Juts war so platt, daß sie wortlos zusah und lauschte - eine Premiere für sie.

Nickel trat auf ihre Tante zu, bereit, es auch mit ihr aufzu­nehmen. »Wenn Jesus mich lieb hätte, würde er nicht zulassen, das Peepbean mich ärgert.«

»Er weiß, daß du stark genug bist, um auf dich selbst aufzu­passen.« Das war ein kluges Argument von Louise, aber Nickel kaufte es ihr nicht ab.

»Jesus hat Kinder im Krieg sterben lassen.« »Nicht das schon wieder«, flüsterte Juts und hob ihre Stimme. »Nickel, ich verstehe auch nichts von diesen Dingen. Willst du nicht an deiner Seifenkiste weiterbauen? Ja?«

Das Kind warf den beiden einen langen, vorwurfsvollen Blick zu und ging hinaus.

Juts atmete aus. »Herrgott, ich wünschte, sie hätte diese Wo­chenschau nie gesehen. Es liegt Monate zurück.«

»Die mit dem toten Hund?«

»Und den vielen Waisenkindern. Woran sie sich alles erin­nert.« Juts schüttelte den Kopf.

»Als wir Strümpfe für die GIs strickten, hab ich nicht an die Kinder da drüben gedacht. Du?«

»Nein.«

Louise zuckte die Achseln. »Warum baut sie eine Seifenkiste? Mädchen können nicht beim Rennen mitfahren.«

»Das weiß ich.«

»Das nächste Rennen ist erst in einem Jahr. Das Letzte ist eben erst vorbei.«

Da Louises Haus an der Ziellinie lag, hatten sich alle dort ver­sammelt, und Nickel war von dem Wettrennen ungeheuer be­eindruckt gewesen.

»Es gibt ihr was zu tun. Sie bastelt gern.«

»Sie sollte lieber nähen.«

»Sie kann Nähen nicht ausstehen.«

»Julia, man kann Kinder nicht tun lassen, was sie wollen. Man muß sie anleiten.«

»Ich habe keine Lust auf deine Belehrungen. Hör auf damit.«

»Okay, okay. Eins muß ich jedoch anmerken: Als Sonntags­schullehrerin taugt Tante Dimps offenbar nicht viel. Nicky ist.«

»Louise, ich mein's ernst. Ich will nichts mehr hören. Ich bin fünfundvierzig Jahre alt, und selbst ich tue mich immer noch schwer damit, an die unbefleckte Empfängnis und die Auferste­hung zu glauben. Wieso kommt Jesus zurück, aber niemand sonst?«

»So etwas darfst du nicht mal aussprechen. Das ist Gotteslä­sterung.« »Das Christentum ist nicht sehr logisch, und wenn Nicky ei­nes ist, dann ein logischer Kopf.«

»Es geht um Glauben. Dazu braucht man keinen Verstand.«

»Das sehe ich.«

Diese Stichelei entging Louise. Sie setzte sich auf die Schau­kel, eine Glyzinenranke zu ihren Füßen. »Juts, ich glaube, du hast eine schwierige Aufgabe vor dir.«

»In jeder Hinsicht.« Juts setzte sich neben ihre Schwester. »Wie der Gouverneur von North Carolina zum Gouverneur von South Carolina sagte.«

Louise fiel ein:»Lange nichts getrunken, was?<«

71

Eine Seele schwebte in Lebensgefahr. Louise kam zu ihrer Ret­tung. Sie schenkte Nickel einen Rosenkranz, perlweiß, und schärfte ihr ein, ihn nicht ihrer Mutter zu zeigen. Sie brachte der Kleinen bei, dieVaterunser undGegrüßet seiest du Maria zu beten. Sie erbot sich, mit Nicky spazieren oder ins Kino zu ge­hen, und ging statt dessen heimlich mit ihr zu einer erbaulichen Messe in die Kirche St. Rose of Lima.

Nicky, die empfänglich war für Prunk und Gepränge, bewun­derte die flackernden Votivkerzen, die Heiligenbilder, die Ge­mälde, die satten Farben der Gewänder.»Nomine Dominus, Filius et Spiritus Sanctus.« Sie konnte es mit Louise auf Latei­nisch singen.

Der verschwörerische Charakter ihrer Ausflüge war für Nichte und Tante von großem Reiz. Juts zu hintergehen war ein prickelndes Gefühl.

»Sag deiner Mutter bloß nichts davon. Feind hört mit.«

»Wir haben keinen Feind«, erwiderte Nickel.

Louise wurde wieder einmal daran erinnert, daß Kinder nichts von der Vergangenheit wissen. »Im Krieg hatten wir Angst vor Spionen. Überall hingen Plakate, auf denen stand:>Pst, Feind hört mit.< Das bedeutete, man durfte keine Geheimnisse aus­plaudern, weil dies dem Feind helfen könnte.«

»Ist Mom der Feind?«

Louise antwortete gedehnt: »Sie ist nur ein schrecklich fehlge­leitetes Menschenkind.«

»Hattest du im Krieg Angst vor dem Feind?«

»Allerdings. Ich war es, die am Runnymede-Tag die deutsche Bomberstaffel gesehen hat. deine Mutter war auch dabei. Sie hat nicht viel getan. Ich habe den Feind identifiziert.«

»Donnerwetter«, rief Nickel ehrfürchtig.

»O ja.« Louise nickte. »Und denk dran, tu so, als wären wir im Krieg. Christen gegen Ungläubige. Feind hört mit.«

Juts, die froh war, von den Mühen liebender Mutterschaft be­freit zu sein, kamen Nickels Ausflüge nicht verdächtig vor. Solange Nicky sagte, sie habe bei Cadwalder einen Eisbecher mit heißer Schokoladensoße gegessen oder Lash LaRue gefalle ihr im Kino besser, bemerkte Juts bei ihrer Tochter nichts von geistlicher Erhebung.

Wie alle Hunsenmeirs war Louise in die evangelische Kirche hineingeboren. Erst als Heranwachsende hatte sie sich dem einen wahren Glauben in die Arme geworfen - oder besser, in den Rachen. Da Louise sich die Menschen besser wünschte, als sie waren, war sie zu lebenslanger Enttäuschung und Verbitte­rung verdammt. Die katholische Kirche ermöglichte es ihr, die­se Enttäuschung zu überleben, deren schwerste ihre ungeratene Schwester war.

Juts' Benehmen nagte an ihr. Wenn Louise sich bei Tisch be­kreuzigte, machte Juts das Dollarzeichen. Sie malte ein $ in die Luft, fuhr zweimal mit dem Finger hindurch und ließ ein über­aus ehrfürchtiges »Amen« folgen.

Louise fürchtete, Nickel könnte durch solche unterhaltsamen Blasphemien verdorben werden.

Die Kindererziehung fehlte ihr. Sie hatte die Streiche, Sprüche und Fragen von Mary und Maizie geliebt, bis sie vierzehn wa­ren. Dann jedoch dachte sie, Gott sei herabgestiegen, habe ihre zwei anbetungswürdigen Töchter gestohlen und durch zwei aufsässige Faulpelze ersetzt.

Maizie hatte den Sommer über eine Arbeit in Baltimore ange­nommen. Louise war einigermaßen erleichtert, daß Maizie all­mählich wieder die Alte wurde.

Obwohl sie Mary fast jeden zweiten Tag sah, hatte sie nie das Gefühl, Zeit mit ihr zu verbringen. Es war eine ewige Hetze. Sie hütete die Kinder ihrer Tochter. Sie liebte Kinder, haßte es aber, als Großmutter angesehen zu werden. Sie erlaubte den zwei kleinen Jungen nicht, Großmutter zu ihr zu sagen. Sie nannten sie Wheezie.

Nickels Faszination von St. Rose of Lima ließ Louise gele­gentlich vergessen, daß sie und ihre Nichte nicht blutsverwandt waren. Sie wollte Nickel mit ins Hochamt nehmen. Bislang hatten sie nur die Frühmesse besucht. Das Hochamt wäre die Krönung. Nickel würde der Kirche fürs Leben gehören.

Sie schenkte Nickel auch ein schwarzes Büchlein,Der Schlüs­sel zum Himmel, und schärfte dem Kind ein, daß Juts weder das Büchlein noch den kostbaren Rosenkranz jemals finden dürfe.

Nickel wickelte beides in ihr Halstuch und versteckte es in der Ecke ihrer Spielzeugkiste. Da Nickel ihr Halstuch sonst immer trug, suchte Juts es eines Morgens, dachte, das Kind habe es vielleicht in eine Tasche gestopft, fallen gelassen oder irgendwo vergessen, obwohl Nicky selten etwas vergaß. Sie klappte den Deckel der Spielzeugkiste auf und sah das rote Halstuch, vier­eckig gefaltet. Sie schlug es auseinander, und der Rosenkranz undDer Schlüssel zum Himmel fielen heraus.

»Die kann was erleben, daß ihr Hören und Sehen vergeht.« Juts drückte ihre allgegenwärtige Zigarette aus.

Sie warf das Halstuch in die Wäsche und bügelte es dann mit den anderen Kleidungsstücken. Als Nickel nach Hause kam, fand sie ihre Kleidung ordentlich auf dem Bett gestapelt, das Halstuch obenauf.

»Oh-oh.« Nicky öffnete ihre Spielzeugkiste.Der Schlüssel zum Himmel ruhte auf dem Bauch eines abgenutzten Teddybä­ren. Sie machte den Deckel wieder zu und überlegte, ob sie aus der Hintertür huschen und zu Wheezie rennen oder so tun sollte, als sei nichts geschehen. Als sie sich auf ihre Truhe setzte und über diese Krise nachdachte, hörte sie Juts' Schritte. Ein langer Schatten fiel neben die Tür. Yoyo kam zuerst hereingeschlüpft, gefolgt von Juts. Buster, der auf Nickels Bett lag, hob den Kopf und ließ ihn wieder fallen. Buster wurde langsam schwerfällig.

Juts ließ den Rosenkranz um ihren Finger kreiseln. »Nicky, hier ist deine Halskette.«

Nickel starrte auf das hypnotische Kreiseln. Sie hielt die ge­wölbten Hände darunter, und Juts warf den Rosenkranz hinein.

»Ich bin nicht böse auf dich.« Juts hatte sich vor Nicky aufge­baut. »Aber ich hab eine Stinkwut auf meine Schwester, diese fromme Eule. Komm.« Sie nahm Nickels Hand.

Sie fuhren mit dem Bus in ein Scherzartikelgeschäft auf der Frederick Road. Ein schwacher Geruch nach Moder und Alko­hol waberte durch den Laden. Er war muffig, eng und düster und voll gestopft mit Artikel wie Fliegen in falschen Eiswür­feln, Furzkissen, Gummischlangen und -spinnen, Groucho-Marx-Nasen sowie Erotikartikeln, Letztere verborgen hinter der Theke. Dort thronte wie ein Koloß eine entfernte Cousine von Rob McGrail.

»Momma, wenn ich das unter Wheezies Sitz lege, gibt es ei­nen Riesenknall.« Nickel hielt das Furzkissen in die Höhe.

»Das ist zu groß zum Verstecken. Ich hab eine bessere Idee.« Sie kaufte ein großes, täuschend echtes Stück Plastikkotze und erklärte Nickel auf der Heimfahrt, was sie in ihrem ersten Hochamt zu tun hatte.

»Momma, warum magst du die katholische Kirche nicht?«

Die Ahornbäume schwankten über ihnen. Ein leichter Wind milderte die Hitze. »Die evangelische Kirche ist für mich gut genug, und sie sollte auch für dich gut genug sein. Im Übrigen ist eine Kirche so schlimm wie die andere, also bleib bei der, die du kennst. Louise hält sich für die Jungfrau Maria, und Ce­leste Chalfonte hat an allem Schuld.«

Nickel wußte, wer Celeste war, wenn auch aus dem einzigen Grund, daß sie am Tag vor Nickels Geburt gestorben war und die Leute noch immer von ihr sprachen. »War Celeste katho­lisch?«

»Nein, sie war Episkopalin, ging aber genauso gerne in die evangelische Kirche. Das ist eine lange Geschichte. Ich mach's kurz. Louise hat gern auf einem alten Klavier von Celeste ge­spielt - nach Gehör, wohlgemerkt. Wheezie ist sehr musika­lisch. Nach einem Riesenknatsch, weil Celeste Louise das Kla­vier nicht schenken wollte, hat Momma Celeste im Stich gelas­sen - sie hat bei Celeste gearbeitet, weißt du -, Celeste gab nach und überließ Momma schließlich das Klavier. Louise war völlig aus dem Häuschen. Sie spielte von morgens bis abends und war so entsetzlich entzückend, daß Carlotta Van Düsen, Celestes ältere Schwester, sie in die Immaculata-Akademie aufnahm und Celeste Wheezies Ausbildung bezahlte. So ist Louise katholisch geworden. Wegen dem Klavier.«

»In St. Rose of Lima ist es schön.«

»Ja, sicher, aber ich will nicht, daß mein Kind sich von so ei­nem Itaker in Rom befehlen läßt.«

»Was ist ein Itaker?«

»Ach - egal. So, hast du dir gemerkt, was ich dir gesagt ha­be?«

Nickel nickte.

Der 23. Juli war das Fest der drei Weisen. Die Gebeine von Kaspar, Melchior und Balthasar befanden sich angeblich im Kölner Dom, bloß war von Köln jetzt nicht mehr viel übrig, und über den Verbleib der Gebeine der weisen Männer wurde wohl­weislich geschwiegen. Vielleicht hatte ja ein streunender Schnauzer nach der Bombardierung ein heiliges Abendmahl genossen.

Das Fest fiel auf einen Sonntag, und Louise spann eine Ge­schichte, weshalb sie Nickel an diesem Tag brauchte, auch wenn es bedeutete, daß sie den evangelischen Gottesdienst ver­säumte. Juts tat, als glaubte sie ihr.

Als Louise an diesem Sonntag ihre Nichte abholte, lag die Plastikkotze zusammengefaltet in Nickels weißer Lackleder­handtasche, die zu ihren weißen Spangenschuhen paßte. Ein weißes Band war um ihre schwarzen Kraushaare gebunden.

Nickel übte im Geiste jeden Schritt. Sie war schweigsam, aber das war sie meist, so fiel es Louise nicht auf. Auch war sie zu sehr damit beschäftigt zu erklären: »Ich will ja nichts gegen deine Mutter sagen, aber.«, um sodann eine Litanei von Julia Ellens Sünden vom Stapel zu lassen, in der Hoffnung, daß Nik­kel sie für sich behalten würde.

Louise trug so viel Schmuck zum Hochamt, daß sie einem schillernden Käfer glich, glänzend gepanzert. Sie lotste Nickel durch den Mittelgang in die Nähe des Altars. Am Ende der Bankreihen nahmen sie Platz. Pearlie, der im Rückstand war und an den Wochenenden arbeitete, hatte die Frühmesse be­sucht, deshalb waren sie nur zu zweit.

Mary Miles Mundis saß gegenüber, Rob McGrail ganz vorn. Nickel erwiderte jedermanns Lächeln. Alle fragten sich natür­lich, warum das Kind mit Louise in der Kirche war und nicht mit ihrer Mutter in der evangelischen.

Die Prozessionshymne setzte ein, und die Musik erfüllte die schöne kleine Kirche. Licht strömte durch die leuchtenden Buntglasfenster.

Father O'Reilly schritt durch den Mittelgang, ihm voraus Peepbean, der Meßdiener, der das Weihrauchfaß schwenkte. Ein älterer Junge unmittelbar hinter Peepbean hielt den golde­nen Krummstab. Hinter Father O'Reilly ging der neue Jung­priester, Father Stewart.

Als Peepbean an der Bank vorbeikam, brüllte Nickel: »Dein Handtäschchen brennt!« Dann warf sie die Plastikkotze.

Sie warf sie nicht an die Stelle, die Julia ihr vorgegeben hatte, nämlich Father O'Reilly vor die Füße. In ihrer Aufregung holte Nickel nicht weit genug aus, und die Kotze spritzte vor Mary Miles Mundis, der bei dem Anblick hundeübel wurde.

Peepbean sprang aus dem Weg, wobei er das Weihrauchfaß ein wenig zu hoch schwenkte. Es rutschte ihm aus der Hand und flog kreiselnd in Richtung Altar.

Father Stewart scherte geistesgegenwärtig aus der Prozession aus und sprintete ins Vestibül, um den Küster zu holen.

»Ich bring sie um!«, schrie Louise, als Peepbean ausholte, um Nickel einen Schwinger zu verpassen.

»Peepbean hat Röcke an«, hänselte Nickel ihn.

Die Gemeinde war in Aufruhr, als Louise Nickel am Handge­lenk aus der Bankreihe zerrte, sie einen Moment in der Luft baumeln und dann fallen ließ, als Peepbean zum nächsten Schwinger ausholte.

Father O'Reilly schnappte sich Peepbean, Louise schleppte Nickel hinaus.

»Hast du dir das ausgedacht?«

»Nein.«

DasKlick-Klack von Louises hohen Absätzen hallte durch das marmorne Vestibül. Mit beiden Händen stieß sie die Tür auf, die so heftig zurückschwang, daß sie Nickel umwarf. Die rap­pelte sich hoch, öffnete die Tür und blieb auf der obersten Stufe stehen, von wo aus sie Louise zu ihrem Auto hasten sah. Louise brauste davon und ließ das Kind stehen.

Nickel ging zu Fuß nach Hause. Als sie dort ankam, versuchte Juts gerade auf Händen und Knien die Telefondrähte miteinan­der zu verbinden. Louise hatte in einem Tobsuchtsanfall die Kabel aus der Wand gerissen. Ihre würde sie auch noch aus der Wand reißen. Einmal, in den zwanziger Jahren, hatte sie im Bon-Ton eine Telefonzelle demoliert. Sie hatten ihre Kunden­karte zurückverlangt.

Louise mußte fünf Jahre gute Führung vorweisen, bis sie von dem Kaufhaus eine neue Karte bekam.

Juts blickte auf, als Nickel ins Haus stapfte.

»Gut gemacht.«

»Peepbean hat sein Handtäschchen nach mir geworfen.«

»Ha!« Julia lachte, nachdem sie vorsichtshalber ihre Chester­field aus dem Mund genommen hatte. »Wie du hier sehen kannst, hatte deine Tante Wheezie einen schlechten Moment. Davon hat sie mit neunundvierzig vielleicht zu viele gehabt.« Sie lachte wieder, dann streckte sie die Hand nach Nickel aus, die sich zu ihr setzte.

»Da.« Sie bot Nickel einen Zug aus ihrer Zigarette an. »Hast es verdient.«

Nickel nahm die Zigarette in den Mund und inhalierte vor­sichtig.

»Nicht zu stark. Okay, jetzt rauslassen.«

»Schmeckt komisch.«

»Ich liebe den Geschmack. Jeden Tag segne ich die Indianer dafür, daß sie dieses Kraut angebaut haben.« Juts lächelte und fummelte wieder an den Drähten. Sie streckte die Hand nach der Zigarette aus, aber Nickel nahm noch einen Zug.

»Momma, wenn ich groß bin, will ich genauso sein wie du. Dann rauche ich Chesterfield.«

Juts' Lachen ging in ein Summen über, als sie überlegte, wie dieser Streich noch zu übertreffen wäre: Mit einer Torten­schlacht in der Sixtinischen Kapelle?

72

Aus der offenen Farbdose, die auf der Abdeckplane stand, tropfte es mintgrün. Lillian Yost, wieder hochschwanger und hochbeglückt, hatte beschlossen, den Flur im oberen Stockwerk mintgrün zu streichen. Millard erfüllte ihr jeden Wunsch, wenn sie schwanger war, teils aus Stolz und teils aus schlechtem Ge­wissen, weil er sie in der Bäckerei so hart rannahm.

Extra Billy Bitters tauchte einen breiten Pinsel in die Farbe. Eine Zukunftsvision - offene Farbdosen, rosa, blau, grün, weiß, beige, eierschale, rot - erschreckte ihn. Sein Blick trübte sich, er hielt den Pinsel einen Moment zu lang, und ein dicker Tropfen platschte auf seinen Schuh.

»Pop.« Er hatte sich angewöhnt, seinen Schwiegervater so zu nennen.

»Hm.« Pearlie bearbeitete die Holzverkleidung.

»War's das?«

»Hm?« Pearlie sah nicht auf.

Billy rückte der Wand mit raschen, geübten Pinselstrichen zu Leibe. »Ich meine, als du aus Frankreich zurückkamst. was hast du da gemacht?«

»Angefangen, bei Bob Frankel zu arbeiten.«

»Das war alles?«

»Ich war verdammt froh, am Leben zu sein.«

»Tja.« Billy verstummte.

»Weißt du, Billy, manchmal grübelt man zu viel. Manchmal sehe ich die Gesichter meiner Kameraden. komisches Zeug. Da war zum Beispiel so ein magerer Italiener aus Massachu­setts, Vito Capeto. Wir haben zusammen frisches französisches Brot gegessen, diese langen Stangen, und er hat französisches Brot mit italienischem Brot verglichen, ich wollte, ich könnte ihn nachahmen. Witziger Junge.« Er hielt inne. »Ich war wohl selbst noch ein Junge.« Er atmete aus. »Zwei Tage später waren wir im Wald bei Belleau, ich bin ausgerutscht, aufs Gesicht gefallen, hatte Schlamm in der Nase, hab keine Luft gekriegt. Die Erde hat gebebt. Ein Meer aus Schlamm hat sich auf mich gewälzt, ich bin drunter vorgekrochen, hab alles gekrallt, was fest war. Wie ich aufstehe, war Vito oben im Baum, hing in den Ästen wie eine Stoffpuppe. Und jetzt streiche ich hier Häuser.«

»Tja.« Billy lächelte den älteren Mann erleichtert an.

»Und weißt du was? Ich weiß immer noch nicht, wofür ich gekämpft habe. Der Krieg zur Beendigung aller Kriege.« Hohn lag in Pearlies Stimme.

»Hast du dich je eingesperrt gefühlt?«

»Da drüben?«

»Hier.«

Es folgte eine lange Pause. »Klar. Nach Marys Geburt hatte ich schwer zu kämpfen. Ich hab das Würmchen geliebt.« Er stand auf und sah seinem Schwiegersohn ins Gesicht. »Aber wenn die Kinder erst mal da sind, kannst du nicht weg. Du hast Oderuss und David. Jungen brauchen einen Vater. Denkst du daran abzuhauen?«

»Nein. Es ist bloß, manchmal hab ich das Gefühl, ich krieg keine Luft. Ich weiß nicht, warum.« Seine Miene hellte sich auf. »Dann will ich in meinen Wagen steigen, die Jungs reinladen und mich besaufen. rausgehen und den Mond anheulen.«

Pearlie gab ein kleines Heulen von sich, und Billy stimmte ein. Das Heulen löste sich in Gelächter auf.

Billy brach abrupt ab und fragte eindringlich: »Was soll ich bloß tun, Pop?«

»Du sollst das Beste draus machen.« Pearlie legte seine Hand auf Billys Schulter. »Man muß aus dem Vorhandenen schöp­fen.«

73

Louise ging Juts drei Wochen aus dem Weg - ein Rekord. Sie frönte dem erhebenden Gefühl, ein Opfer zu sein. Sie konnte den Kopf schütteln, die Stimme senken und salbadern, Julia Ellen führe Nickel auf den Pfad der Untugend. Erfüllt von köst­licher Pein, der Mittelpunkt von Mitgefühl und Zuwendung, erzählte sie Orrie Tadja, Juts sei keine gute Mutter, weil sie keine leibliche Mutter sei. Diese Erklärung brandete wie ein Präriefeuer durch Runnymede; einige stimmten Louise zu, an­dere nicht, doch alle steuerten eine Variante des Themas bei, über die Zukunft des Kindes, Juts' Persönlichkeit und das Le­ben im Allgemeinen.

Die menschliche Zunge ist wie das Klappern einer Klapper­schlange: Ohne wäre der Mensch besser dran.

Mutter Smith genoß diesen Sturm in vollen Zügen. Julia El­lens Ruf wurde ruiniert, doch Josephine wusch ihre Hände in Unschuld. Trudy Epstein war auch nicht gerade betrübt darüber, denn ihre Version der Vergangenheit lautete, daß Chessy sie aufrichtig geliebt habe und nur aus Rücksicht auf gesellschaftli­che Konventionen bei seiner Frau geblieben sei. Seit sie mit Senior Epstein verheiratet war, hielt sie klugerweise den Mund, was aber nicht hieß, daß es ihr unrecht war, wenn ihre Freun­dinnen mit Trudys Version der Geschichte hausieren gingen.

Mary Miles Mundis sagte zur allgemeinen Überraschung: »Wir hatten ein bißchen Aufregung nötig.«

Ramelle erfuhr von dem Gerede durch Ev Most, die Juts sehr mochte, aber nicht diejenige sein wollte, die sie davon unter­richtete. Ramelle erzählte es Cora, die an diesem Tag arbeitete, und Cora schnappte sich ihre Handtasche und marschierte zur Tür hinaus. Ramelle sprang ins Auto, um sie zu Louise zu fah­ren. Cora verlor selten die Beherrschung, aber sie war so wü­tend, daß sie nicht klar sehen konnte.

Bei Trumbulls angekommen, stellte Ramelle den Motor ab und wartete.

Louise saß auf der hinteren Veranda, zu ihren Füßen Körbe mit Garn, daneben Doodlebug. Sticken und Leiden waren ihre beiden Hobbys.

Cora warf ihre Handtasche auf die Erde und baute sich vor ih­rer Tochter auf, die über den Anblick ihrer Mutter so überrascht war, daß sie die Nadel mit dem königsblauen Faden mitten in der Luft hielt.

»Momma. «

»Krankheit kommt zum Mund rein und Unheil wieder raus. Du solltest deinen halten.«

»Ha?« Sie steckte die Nadel ins Kissen, drückte das Kissen aber an die Brust.

»Du bringst Juts noch um. Du kannst nicht rumerzählen, sie ist keine gute Mutter, weil sie das Kind nicht geboren hat. Das ist nicht recht.«

»Es ist wahr.«

»Du darfst das nicht sagen. Es ist grausam.«

»Sie ist grausam zu mir.«

»Kann sein, aber sie ist nicht grausam zu deinen Kindern oder deinen Enkelkindern, und du tust Nickel weh.«

»Tu ich nicht.«

»Die ganze Stadt weiß, daß sie nicht Julias Kind ist.«

»Das haben sie immer gewußt.«

»Ja, aber sie haben nicht drüber geredet. Jetzt tun sie's. Nicky wird die Seitenblicke mitkriegen.«

»Schön, das ist Julias Problem. Sie hätte Nickel schon längst sagen sollen, wer sie ist.«

»Und wer ist sie?« Cora verschränkte die Arme.

»Rillmas Kind.«

Cora war so wütend, daß sie Louise um ein Haar eine Ohrfei­ge verpaßt hätte. Ihr Gesichtsausdruck jagte ihrer Tochter sol­che Angst ein, daß sie das Kissen zum Schutz hochhielt. Cora riß es ihr aus den Händen.

»Sie ist Julias Kind. Sag nie wieder, daß sie Rillmas Kind ist.«

»Aber Momma.« Louise bekam ein flaues Gefühl im Ma­gen.

»Nix Momma. Louise, du setzt alles daran, daß Nicky noch schwerer zu kämpfen hat. Alle wissen, daß Juts ihre Marotten hat. Aber nicht alle finden, daß Juts eine schlechte Mutter ist. Viele finden es jetzt, weil du so 'ne große Klappe hast. Du willst dich rächen. Schön, das hast du geschafft, aber Nicky ist es, der du weh tust, und sie hat dir nichts getan, überhaupt nichts.«

Wheezies Unterlippe zitterte. Cora hob ihre Handtasche auf und ging ohne ein weiteres Wort.

74

»Juts?«, rief Louise am Gartentor. Als sie keine Antwort be­kam, stieß sie den Zweisigpfiff aus. Mit dem Pinsel in der Hand kam Juts aus der Garage. »Ich bin hier drin.«

Nicky, einen kleineren Pinsel in der Hand, hörte ihre Tante Louise und blieb nah bei Juts.

Von vier hölzernen Küchenstühlen tropfte knallrote Farbe auf Zeitungspapier.

»Streichst die Stühle neu, wie ich sehe«, sagte Louise.

»Sie hatten es nötig.« Juts stieß Nickel an.

»Hallo, Tante Wheezie.«

»Hallo, Nicky, hab dich lange nicht gesehen.«

»Ja, Ma'am.« Nicky machte sich wieder über die Stuhlbeine her.

»Ich muß dich mal kurz sprechen.«

»Okay.« Juts war mißtrauisch.

»Allein.«

»Nicky, ich geh kurz mit Wheezer in den Garten.«

»Vielleicht solltest du besser den Pinsel hier lassen.« Louise hatte die Vision, daß Juts ihr Kleid damit ruinierte.

Juts legte den Pinsel auf die Dose. Sie gingen über das Gras, das Ende August dunkelgrün war, zu einer kleinen Bank unter einem Rosenspalier.

Louise hob an. »Wir müssen das aus der Welt schaffen.«

»Hm.«

»Du zuerst.« Louise zauderte.

»Du wirst aus meinem Kind keine Katholikin machen. Wir beide sind uns in religiösen Fragen nicht einig, und ich nehme es dir übel, wenn du Nicky hinter meinem Rücken zur Messe schleifst.«

»Hmm.« Es war schwerer, als Louise gedacht hatte, denn sie glaubte, alles werde gut, wenn alle Menschen auf der Welt ka­tholisch wären. »Es hat mich beunruhigt, als sie neulich an Je­sus gezweifelt hat. Ich habe sogar mit Father O'Reilly darüber gesprochen.« »Sie ist ein Kind. Kinder sagen allerhand. Weißt du nicht mehr, als Maizie vier war, wie sie Junior McGrail einen Elefan­ten genannt hat?«

Wheezie erwiderte: »Äh... doch.«

»Du gehst in deine Kirche. Ich geh in meine.«

»In Ordnung.« Louise verschränkte die Hände. »Ich war wü­tend. Ich hab ein paar Sachen in der Stadt rumerzählt, die ich lieber nicht gesagt hätte.«

Juts hob den Kopf. »Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, daß du eine schlechte Mutter bist.«

»Ach.« Juts schlug die Beine übereinander. »Das hast du schon öfters gesagt.«

»Ja, ich weiß, aber ich war so wütend wegen der Dreikönigs­messe, daß ich es zu Orrie Tadja und noch ein paar anderen gesagt habe. Ich habe gesagt, du gibst ihr keine anständige christliche Erziehung, und das tut mir Leid. Sogar die Männer reden darüber, dabei interessieren sie sich doch sonst nur für ihresgleichen.«

»Das kann ich nicht ändern - aber ich wünschte in der Tat, du hättest es nicht getan.«

»Ich auch.« Louise fing an zu weinen.

Als Louise gegangen war, kehrte Juts in die Garage zurück. Nickel hatte zwei Stuhlbeine fertig. Sie überließ es ihrer Mutter, die Sitze und Rückenlehnen zu streichen, weil die mehr beach­tet wurden als die Beine. Wenn sie eine Stelle übersah oder wenn zu viele Tropfen haften blieben, würde es nicht auffallen.

»Entschuldige, hat länger gedauert, als ich dachte.«

»Guck mal.« Nicky zeigte auf ihr Werk.

Juts ging in die Hocke, suchte nach Tropfen. »Sehr gut. Nicht eine Stelle ausgelassen. Aber hier ist ein kleiner Tropfen.«

»Ich mach ihn weg.« Nicky fuhr eifrig mit dem Pinsel über die Stelle und strich sie glatt. »Momma, die werden schön.«

»Wirf nichts weg, behalt es hier, aus Alt mach Neu, das merke dir«, sang Juts. Den Spruch hatte sie als Kind gelernt. »Möch­test du Limonade?«

»Klar.«

Sie schenkten sich ein und setzten sich unter das Rosenspalier, wo es kühl war. Yoyo sah von ihrem Plätzchen in dem großen Baum zu.

»Momma, anstreichen macht Spaß.«

»Das ist gut.«

»Wenn ich groß bin, kann ich vielleicht bei Onkel Pearlie ar­beiten.«

»Nein - wenn du groß bist, hast du deine eigene Firma.«

»Tante Wheezie sagt, so was ist nichts für Mädchen.«

»Tante Wheezie hat immer versucht, eine Dame aus mir zu machen. Das hat nicht geklappt. Jetzt versucht sie es mit dir. Laß dir von niemandem etwas vorschreiben. Tu, was du für richtig hältst. Das heißt nicht, daß es einfach wird, aber du mußt nur kräftig scharren.«

»Wie ein Huhn?«

»Ja. Früher oder später kommt ein Käfer zum Vorschein.« Juts zog ein Päckchen Zigaretten aus der tiefen Tasche ihres Hauskleides. Sie war froh, daß sie rauchte, denn sonst würde sie zu viel trinken. Das war teuer und führte oft zu größerem Ärger.

»Nickel, weißt du, was>adoptiert< bedeutet?«

»Wie aus dem Tierheim?«

»Ah - ja.«

»Ich weiß, wir haben Yoyo und Buster, aber Momma, da sind all die Hündchen und Kätzchen. Wir haben bestimmt noch Platz für eins.«

Juts lächelte. »Zwei reichen. Du bist groß genug, um ein paar Dinge zu erfahren, und du hast Grips im Köpfchen. Daddy und ich konnten keine Kinder haben. Wir wollten unbedingt ein Baby. So hab ich dich gekriegt. Eine Dame hat dich geboren, und dann haben Daddy und ich dich adoptiert. Du bist was Be­sonderes.«

Nickel trank ihre Limonade, überlegte lange und sagte dann: »Heißt das, ich krieg keine Weihnachtsgeschenke?«

Juts war verwirrt. Sie hatte damit gerechnet, daß Nickel ihr Löcher in den Bauch fragen würde über Adoption, Mütter, Vä­ter, das ganze Drum und Dran. »Wieso solltest du keine Weih­nachtsgeschenke kriegen?«

»Wenn der Weihnachtsmann mich woanders sucht?«

Juts lachte, mehr aus Erleichterung denn aus Belustigung. »Der Weihnachtsmann weiß, daß du hier bist. Er weiß, daß du zu mir gehörst.«

»Ah.«

»Herzchen, möchtest du sonst noch etwas wissen?«

Nickel schüttelte den Kopf, trank ihre Limonade aus und ging wieder in die Garage. Was sie einmal angefangen hatte, brachte sie gern zu Ende.

75

Chessy grummelte, weil er bei dem Adoptionsgespräch nicht dabei gewesen war, aber Juts erzählte ihm von Louises Angrif­fen. Sie sagte, ihrem Gefühl nach sei es genau der richtige Zeit­punkt gewesen, deshalb habe sie es rasch hinter sich gebracht, und Nicky scheine es so oder so nicht sonderlich zu interessie­ren.

Er wollte Nicky etwas sagen. Er wollte ihr sagen, daß er sie von ganzem Herzen liebte, daß sie seine Tochter war. Doch als er dabei zusah, wie sie mit den Tieren spielte, dachte er sich, daß sein Bedürfnis, es ihr zu sagen, größer war als ihr Bedürf­nis, es zu hören. Und überhaupt, Taten sagten mehr als Worte. Er hob sie hoch, küßte sie auf die Wange und spielte Fangen mit ihr.

Louise, die nach ihren Ausfälligkeiten ganz zerknirscht war, stapfte durch die Stadt und erzählte allen, sie habe es nicht so gemeint. Juts' Juxereien hätten sie geärgert, und als sie die auch noch in die Kirche trug, habe sie rot gesehen. Das Schauspiel, wie Louise zu Kreuze kroch, wurde als ebenso bemerkenswert empfunden wie die Geschichte mit der Plastikkotze.

Die einen meinten, Louise habe einen Rückzieher gemacht, dabei habe sie von Anfang an Recht gehabt. Andere meinten, sie habe gelernt, daß zwei mal Unrecht nicht Recht ergibt. Wie­der andere fragten sich, ob sie ein wenig reifer geworden sei, waren sich jedoch einig, daß die Zeit dies zeigen würde. Zuge­zogene wie Pierre und Bob vomCurl 'n' Twirl begriffen nicht, wie die beiden Schwestern miteinander so kindisch und mit allen anderen einigermaßen erwachsen umgehen konnten. Die­jenigen, die mit den Hunsenmeir-Mädchen aufgewachsen wa­ren, zuckten die Achseln: So waren sie eben. Niemand erwarte­te, daß sie sich änderten, und während einige dies begrüßt hät­ten, empfanden die meisten ihre Mätzchen als Gegengift für die Ödnis der Kleinstadt.

Der Wirbel legte sich, just als die Kinder des Geburtsjahr­gangs 1944 eingeschult wurden. Nickel, die sich auf die Schule freute, hüpfte auf dem ganzen Weg. Sie trug ein adrett gebügeltes kariertes Kleid mit dunkelgrüner Smokarbeit am Oberteil und hatte eine kleine Büchertasche und eine Butterbrotdose bei sich. Sie besaß zwei neue gelbe Bleistifte, Minenstärke No. 2, ein Holzlineal, einen großen rosa Radiergummi und eine kleine Metallschablone mit Zahlen und Buchstaben.

Juts bummelte den ganzen Weg über. Nickel wollte nicht an der Hand gehen; sie war vollauf damit beschäftigt, jedem Kind hinterherzulaufen, das auf die Violet-Hill-Schule zusteuerte. Nicht mal die großen Kinder schüchterten sie ein. Diejenigen, die Bücher trugen, machten mächtig Eindruck auf sie. Sie konn­te es nicht erwarten, Bücher aus der Schule nach Hause zu tra­gen.

An dem rot gestrichenen Tor des alten Ziegelgebäudes blieben Juts und die andere Mütter der Erstkläßler stehen, winkten zum Abschied, wünschten Glück. Sobald Nickel durch das Tor hop­ste, strömten Juts die Tränen über die Wangen. Sie wischte sich die Augen, dann bemerkte sie, daß es den anderen Müttern ge­nauso erging.

Charlene Nordness stand neben Juts. »Ich bin eine große Heulsuse.«

Lillian Yost schniefte. »Sie gehören uns nicht mehr. Dies ist ihr erster Schritt in die Welt.«

»Können sie nicht noch ein bißchen länger klein bleiben?«, meinte Juts wehmütig.

»Für mich würde ich die Uhr gerne zurückdrehen, aber nicht für Kirk. Ich kann es immer gar nicht erwarten, ihn aus dem Haus zu haben«, erwiderte Peepbeans Mutter. Er war sitzen geblieben, und sie fragte sich, ob ihm dies zur Gewohnheit wer­den würde. Sie hatte den wiederkehrenden Albtraum, daß Peep­bean mit einundzwanzig das sechste Schuljahr abschloß.

»Mädels, laßt uns zu Cadwalder gehen. Ein Eiskrem-Soda ist genau das Richtige nach einer Heulerei.«

Sie marschierten hinüber, und wer saß an der Theke?

Maizie Trumbull.

»Maizie, was machst du denn hier?«

»Tante Juts, ich habe es keinen Tag länger ausgehalten. Ich mußte weg aus Baltimore, nach Hause. Mom war so stolz, daß ich dort gearbeitet habe, aber ich kann Großstädte nicht ausstehen. Ich kann nicht mehr, Tante Juts. Ich habe Angst, nach Hause zu gehen und es Momma zu sagen.«

»Laß uns vorher deinen Dad aufsuchen. Aber wir essen erst mal ein Eiskrem-Soda. Möchtest du auch eins?«

Vaughn kam in seinem Rollstuhl herein. Er war überrascht, Maizie zu sehen. »Hallo. Hier ist es langweilig ohne dich.«

Maizie fiel auf, wie grün seine Augen waren. »Kommst du da hinten ran, um mir mein Eiskrem-Soda zu machen? Du machst sie am allerbesten.«

»Klar. Dad und ich haben Stangen angebracht, damit ich hin­ter der Theke alles machen kann, was ich will.« Er lenkte den Rollstuhl ans Ende, griff nach einer Stange und zog sich hoch, dann an den Stangen entlang - seine Arme waren kräftig und muskulös -, bis er bei den Eismaschinen angelangt war. Er trug Holzbeine, aber die Ärzte arbeiteten immer noch an dem richti­gen Sitz, und der Muskeltonus in seinen Schenkeln war er­schlafft. Stehen konnte er jedoch ganz gut, er wankte nur ein kleines bißchen. Er machte Maizie ihre Lieblingssorte, Eis­krem-Soda mit Schokoladeneis, und schob es ihr über die dunk­le Marmortheke hin.

»Das Beste.« Sie seufzte. »Du bist der Beste.«

Juts, die mit den anderen Frauen scherzte, fiel auf, daß Maizie heute Morgen durchaus nicht mißmutig war, wie Juts erwartet hätte, sondern ausgesprochen aufgekratzt. Sie war besonders aufgekratzt, wenn sie mit Vaughn sprach.

Zum ersten Mal kam es Juts in den Sinn, daß die Wege des Herrn unerforschlich sind.

76

Der übernatürliche Glanz des Dezemberlichts entschädigte da­für, daß es so wenig davon gab. Juts haßte die kurzen Tage und die langen Nächte, doch sie freute sich an diesem besonderen Licht.

Sie hatte sich an diesem Samstag, neun Tage vor Weihnach­ten, bereit erklärt, beim Weihnachtssingen mitzumachen. Sie sang gern, und sie hatte Louise versprochen, Celeste Chalfontes alten Schlitten flottzumachen, damit sie für Leute singen konn­ten, die weiter außerhalb der Stadt wohnten. Unterwegs wollten sie an Bedürftige, die von St. Rose of Lima ausgesucht worden waren, Truthähne verteilen.

Seit Juts Nickel zu dem Streich mit der Plastikkotze angestif­tet hatte, bemühte sie sich, es an St. Rose wieder gutzumachen. Sogar Pastor Neely ermahnte sie, Buße zu tun. Sie erwiderte, Louise zur Schwester zu haben, sei Buße genug. Dennoch voll­brachte sie gute Taten. Leider konnte sie es sich nicht verknei­fen, auf diese aufmerksam zu machen, was nur bedeutete, daß sie noch mehr gute Taten vollbringen mußte. Es war nicht recht, sich selbst ins Licht zu rücken, wenn man dem Herrn diente.

Oben suchte Juts warme Kleidung, eine Decke, Handschuhe und Schals für sich und Nickel heraus. Chester und Pearlie wür­den nicht mitkommen, weil sie die Feuerwache für die öffentli­che Weihnachtsfeier nach dem Umzug am nächsten Abend herrichteten.

Unten saß Nickel mit einer nagelneuen Schachtel Malkreiden, die Wheezie ihr geschenkt hatte, auf dem Fußboden. Juts' Scheckheft eignete sich vorzüglich als Malbuch.

»Nickel, bist du so weit?«

Nickel steckte das Scheckheft hastig in Juts' Handtasche zu­rück. »Ja.«

Juts stampfte die Treppe hinunter, die Arme voller Mäntel und Kleider, die sie auf dem Sofa ablud. »Mist, ich hab die Wärm­flasche vergessen.« Sie rannte wieder nach oben, und Nickel zog einen Pullover, einen Mantel und ihre Handschuhe an. Ihre Jeans hatten ein Flanellfutter. Zum Schluß zog sie ihre Reitstie­fel an.

Juts kam mit der gefüllten roten Wärmflasche zurück. »Die hält unsere Füße warm.« Sie betrachtete die Reitstiefel. »Nicky, wie viel Paar Socken hast du an?«

»Eins.«

»Du kriegst kalte Füße. Hier, zieh die dünnen an, dann die dicken drüber. Das dürfte eine Weile helfen.«

Sie fuhren zu Celestes Stall. O. B. hatte Minnie und Monza vor den schönen Schlitten gespannte, er war dunkelblau mit goldenen Zierstreifen. O. B. hatte auch ein Percheronpferd na­mens Lillian Russell gesattelt, weil Rambunctious und General Pershing für ein kleines Mädchen auf einem langen Ritt zu tem­peramentvoll waren. Das wußte Nicky natürlich nicht. Sie meinte, sie könnte alles reiten. Lillian war zwar groß, aber fromm.

Juts und Nicky hatten tags zuvor den Stall mit Zweigen und Bändern und mit Gerstengarben dekoriert, an denen sich Pferde besonders freuten. Ramelle, in ihren Zobelmantel gehüllt, hatte bei den Vorbereitungen zugeschaut.

»Ist es nicht herrlich?« Julia strahlte.

»Es ist kalt«, nörgelte Louise.

»Du solltest froh sein. Es heißt, Kälte zieht die Poren zusam­men, und wenn man älter wird, vergrößern sich die Poren.«

»Hör auf. Weißt du, was ich von Pearlie zu Weihnachten be­komme?«

»Wenn ich's wüßte, würde ich's dir nicht sagen.«

»Ich würde es dir sagen, wenn ich wüßte, was Chester dir ge­kauft hat.«

»Aber erst, wenn ich dich bestochen hätte, zum Beispiel, oben das Badezimmer zu tapezieren.«

»Juts, das war vor Jahren. Du wolltest mich nicht vom Dach runterlassen, wenn ich dir nicht meinen Osterhut schenke - also sind wir quitt.«

»Hm, Unterröcke schenkt er dir keine mehr. Du hast genug, um ein Wäschegeschäft aufzumachen.« Sie sah auf ihre Uhr. »Auf die Plätze, fertig, los. Ramelle, im Schlitten ist noch Platz für eine Person.« »Nein. Ich wollte euch bloß verabschieden. Ich höre die Schlittenglocken so gern.«

»Ich auch.« Juts sprang hinauf und nahm die Zügel.

»Wer hat gesagt, daß du fährst?«

»Louise, du kannst Pferde nicht ausstehen.«

»Das ist nicht wahr.« Wheezie sah zu, wie O. B. Nicky auf Lillians breiten Rücken hob. »Nicky, du siehst aus wie eine Vogelscheuche. Hast du nichts Netteres anzuziehen - einen Rock zum Beispiel?«

»Ich hasse Röcke. Magnesiamilch.« Es gab nichts Schlimme­res als Magnesiamilch.

»Männer sehen gerne hübsche Beine«, sagte Juts, die selbst umwerfend schöne hatte.

»Mir egal.«

»Eines Tages wird es dir nicht mehr egal sein«, schalt Louise.

»Dies ist wärmer, Wheezie, und ich hab keine Schneehose mit passendem Oberteil für sie. Außerdem kümmert es sowieso keinen.«

»Mich schon.«

Juts faßte sich mit der Hand an den Kopf, als würde sie gleich ohnmächtig. Louise stieß sie fest in die Rippen.

»Autsch!«

Minnie und Monza, nach Minnie Maddern Fiske und Monza Alverta Algood, zwei berühmten Schauspielerinnen der Jahr­hundertwende, benannt, drehten die schönen kastanienbraunen Köpfe so weit nach hinten, daß sie die Insassen des Schlittens sehen konnten.

»Sie sind so weit.« O. B. nickte Nickel zu.

»Ich auch«, sagte sie fröhlich.

O. B. schob das große zweiflügelige Stalltor auf. Juts schnalz­te den Pferden zu, und nach kurzem Ruckeln glitten sie in den Schnee hinaus.

Louise trug einen eng anliegenden taubenblauen Mantel mit Schnürverschluß und Astrachankragen, einen Astrachanmuff, hohe Stiefel und dazu passende weiche schwarze Handschuhe.

»Du hast gesagt, du hättest nichts anzuziehen.«

Louise hob die Stimme. »Ach, das hier?«

»Ja, das. Wenn ich gewußt hätte, daß du dich wie ein Filmstar rausputzt, hätte ich mich auch ein bißchen aufgedonnert.«

»Du siehst gut aus.« Louise atmete die frische Luft ein. »Bloß Nicky sieht schluderig aus.«

Juts trug einen roten Pullover, einen roten Rock, schwarze Perlen und weiche Stiefel mit umgeschlagenen Stulpen, darüber einen dunkelgrünen Mantel mit einer Christbaumbrosche am Revers. Es war ein hübscher Aufzug.

»Seht euch vor mit dem Glatteis«, warnte O. B. als er die La­ternen auf beiden Seiten des Schlittens anzündete.

»Machen wir.« Juts schnalzte noch einmal, und mit bimmeln­den Schlittenglocken fuhren sie los.

Lillian Russell setzte sich in Bewegung, die Luftstöße aus ih­ren großen Nüstern verdichteten sich zu Wolken.

Die Leute winkten, als sie auf der Baltimore Street aus der Stadt fuhren. Ihr erstes Ziel waren Mrs. Abel und ihr Sohn, ein unverheirateter unangenehmer Sonderling, den Juts Un getauft hatte. Sie hielten vor dem windschiefen Holzhaus, sangen>The First Noel< und gaben Mrs. Abel einen Truthahn. Sie dankte ihnen und machte die Tür gleich wieder zu, weil es kalt wurde im Haus.

Juts schraubte einen Flachmann auf und gönnte sich einen Schluck. Dann bot sie ihn Louise an.

»Nein danke, und du solltest auch nicht trinken.«

»Bloß ein Schlückchen. Vertreibt die Kälte.«

Nachdem sie fünf weitere Truthähne abgeliefert hatten, setzte leichtes Schneetreiben ein. Juts war in einen Seitenweg einge­bogen, um auf eine Straße zu stoßen, die in westlicher Richtung zum Haus der Mundis führte. Sie umrundeten Runnymede, und je weiter sie nach Westen kamen, desto steiler stieg der Weg an.

Schließlich erreichten sie die Einfahrt von Mrs. Mundis; ihr neues Haus stand auf einem Hügelkamm. Herrliche Hickory­bäume hoben sich wie stumme Wächter vor dem Himmel ab. Harry hatte die Geistesgegenwart besessen, auf einem alten Grundstück mit ausgewachsenen Bäumen und Sträuchern zu bauen. Große Ulmen durchsetzten die Weiden, und mächtige Eichen und Walnußbäume stachen wie schimmerndes Mattsil­ber vom Schnee ab.

In allen Fenstern des Hauses flackerten goldene Lichter. Mary Miles Mundis brauchte keinen Truthahn. Sie veranstaltete ihre traditionelle Weihnachtsfeier, und die Hunsenmeirs hatten sich geeinigt, daß dies ihre letzte Station sein sollte. Sie waren froh, ins Haus zu kommen, und sei es nur, damit Juts die Wärmfla­sche wieder mit heißem Wasser füllen konnte.

»Julia, sing nicht mit so viel Tremolo - und hör auf zu trin­ken.«

Die große blank polierte Tür mit den Messinggriffen flog auf. Mrs. Mundis erschien auf der Schwelle. »Frohe Weihnachten.«

Timmy Kleindienst brachte Minnie und Monza in den Stall. Er und ein Pferdepfleger spannten sie aus und warfen ihnen Decken über. Timmy und O. B. waren die besten Stallburschen in der Gegend.

Drinnen bewunderten Juts, Wheezie und Nicky die duftenden Girlanden, in die Apfelsinen, Äpfel, Trauben, Tannenzapfen, Stechpalmenzweige und silbern besprühte Eichenblätter ge­wunden waren. Schnüre aus Goldband waren hier und dort ein­geflochten, und ein breites kariertes Band schlängelte sich von einem Ende der Girlanden zum anderen.

Den riesigen Baum in reinem Weiß zierten glänzende rote Kugeln. Grüne Samtbänder waren an die Spitzen der Zweige gebunden, goldene Girlanden umschlangen den Baum, und ein Stern von Bethlehem bildete den krönenden Abschluß.

Nachdem Louise sich voll gestopft und über jede Kalorie ge­stöhnt hatte, setzte sie sich an den Steinway-Flügel. Sie spielte >God Rest Ye Merry, Gentlemen<, >Adeste Fideles<, >We Three Kings< und>It Came upon a Midnight Clear<.

Juts sprach dem Eierflip reichlich zu und erklärte, das sei der Beste, den sie in ihrem ganzen Leben gekostet habe. Darauf folgten Witze über das Alter, dann wandte sich das Gespräch dem Prozeß zu, den eine Versicherungsgesellschaft gegen die Familie Rife anstrengte, weil sie die Fleischverpackungsfabrik in Brand gesteckt hatte, um die Versicherungssumme zu kassie­ren. Die Untersuchungen der Versicherung waren im Schneckentempo vorangegangen, doch am Ende hatte sie genug Be­weise gesammelt, um zuschlagen zu können.

Der Schnee war dichter geworden. Juts sah aus dem Fenster, Louise trat zu ihr. »Ich fühl mich so wohl hier, ich will gar nicht wieder weg.«

»Wir sollten besser gehen.« Auch Juts wollte nicht.

Harry sagte im Stall Bescheid. Tim Kleindienst sagte, er wer­de die Pferde in fünfzehn Minuten fertig haben und sie direkt vors Haus bringen.

So hatte Juts Zeit für noch einen Eierflip.

Als sie im Schlitten saßen, stellte Juts fest, daß mehr Schnee gefallen war, als sie erwartet hatte. Nickel, die lieber auf Lillian Russell saß als im Schlitten, fand, daß es wunderschön aussah. Als sie den Schnee fortblinzelte, kitzelte es an den Augenlidern.

»Juts, wie viele Eierflips hast du getrunken?«

»Nicht genug.«

»Vielleicht sollte ich fahren.«

»Ich hab alles im Griff.« Julia ließ sich ungern die Zügel aus der Hand nehmen.

»Ich hab auch einen Eierflip getrunken«, rief Nickel.

»Ach?« Louise hob ungläubig die Augenbrauen.

»Momma hat mir einen gegeben.«

»Julia, wie konntest du?«

»Ein halber Eierflip macht mein Kind nicht zur Quartalssäufe­rin. Mach dir nicht ins Hemd, Louise. Du ziehst immer voreili­ge Schlüsse.«

»Einem Kind Alkohol einzuflößen ist nicht zum Lachen.«

»Ich hab nicht gelacht«, sagte Nickel prompt.

»Du bist anfällig für diese Dinge«, warnte Louise. »An mei­nem Geburtstag hast du Bowle getrunken.« Sie wandte sich Juts zu. »Paß bloß auf dieses Kind auf.«

»Ich werde es einsperren.« Der Schlitten schwankte ein biß­chen.

»Mach dich nicht über mich lustig. Ein Tropfen genügt, wenn man dazu neigt. Ein einziger Tropfen. Weißt du noch, wie der alte Onkel Franz, nachdem er jahrelang keinen Alkohol ange­rührt hatte, auf deiner Hochzeit ein Glas Sekt getrunken hat? Darauf ist er eine Woche lang auf Sauftour gegangen.« Whee­zies Stimme hatte den wichtigen Tonfall angenommen.

Juts summte.

»Nicky, versprich deiner Tante Louise, daß du keinen Alkohol trinken wirst.«

»Ja, Tante Louise.«

»Und fang auch nicht mit dem Rauchen an. Wenn Gott ge­wollt hätte, daß wir rauchen, hätte er uns einen Schornstein in den Kopf gesetzt.«

»Ja, Tante Louise«, schwindelte Nickel, die es nicht erwarten konnte, bis sie groß genug war, um zu rauchen. Sie fand es tod­schick.

»Wo ist Maizie heute Abend?« Juts wollte keine Predigt über anständigen Lebenswandel, wo doch der Eierflip so gut schmeckte.

»Mit Vaughn unterwegs. Sie sind mit der Clique weggegan­gen. Vaughn hält enge Verbindung zu seinen Kameraden vom Militär.«

»Vielleicht heiratet sie Vaughn.«

»Vielleicht auch nicht.«

»Sie wären bestimmt glücklich.«

»Du meinst, wenn zwei Menschen sich anschmachten, ist ih­nen ein gemeinsames Leben in Glück und Wonne beschieden.«

»Du hättest auch einen Eierflip trinken sollen. Hebt die Stim­mung.«

»Meine Stimmung ist gut, wenn's bloß nicht so gesäßkalt wä­re.«

»Arschkalt.«

»Gesäß.«

Nickel kicherte.

»Arsch, Louise, Arsch. Bei>Gesäß< verliert es den Sinn.«

»Ich nehme so etwas nicht in den Mund.«

»Mit dem Alter verlierst du deinen Sinn für Humor, weißt du das, Wheezie? Du wirst 'ne alte Schachtel.«

»Du bist älter als ich.«

»Was?«

Louise schob die Hände in ihren Muff. »Neununddreißig.«

»Schön.« Juts hob die Zügel an und gab den Pferden einen sanften Schlag auf den Rücken. Sie fielen in Trab.

»Nicht so schnell.« »Ich fahr nicht schnell, aber es wird kälter, es schneit doller, und ich will nach Hause.«

»Fahr langsam.«

»Louise, mach die Augen zu, wenn du Angst hast.«

»Wenn ich eins nicht ausstehen kann, dann ist es Trunkenheit am Steuer.« Louise schlug sie mit ihrem Astrachanmuff.

Um ihr zu trotzen, trieb Juts die Pferde zu einem schnelleren Trab an, und sie taten ihr den Gefallen.

Lillian trabte ebenfalls. Da sie einen breiten Rücken hatte, reichten Nickys kurze Beine kaum bis an die Flanken der grau­en Stute. Nicky hopste auf und ab wie ein Kastenteufel.

Juts sang einen eigenen Text zu der Melodie von »Winter­wunderland«. »Fünfzig Jahr, hört ihr's knistern? Fünfzig Jahr, ich hör's flüstern. Ich weiß es und du, sie gleicht einer Kuh, Falten.«

»Hör auf.«

Die Braunen schlackerten mit den Ohren, schritten mit den prächtigen Vorderbeinen aus, zwei Traber im Gleichmaß.

Vorn drohte eine tückische Kurve, und danach ging es gerade­aus nach Runnymede.

»Momma, ich fall runter.«

»Du bist keine Reiterin, bevor du siebenmal runtergefallen bist.«

»Bin ich schon. Langsamer, Momma.« Nicky fand mit der flanellgefütterten Jeans keinen Halt.

»Ergreif nicht für sie Partei, Nicky. Ich kann's nicht leiden, wenn du dich mit Louise verbündest.«

Unterdessen lag Nicky vorn übergekippt und hielt sich an Lil­lians Mähne fest. Ihr Galopp war schwerfällig, aber es war ein Galopp.

»Mähne fassen«, befahl Juts.

»Tu ich ja!«

»Du bringst uns um«, kreischte Louise. »Wir gehen in die Feiertagsstatistik ein. Wir werden die letzten Menschen im Staat Maryland sein, die beim Schlittenfahren umkamen.«

»Angsthase.« Juts schwenkte schnell um die Kurve und geriet aufs Glatteis unter dem Schnee. Die Schlittenglocken bimmel­ten heftig.

»Ich sterbe!«, brüllte Louise.

»Nur die Guten sterben jung.« Juts lachte, als der Schlitten sich auf die Seite legte und Louise in eine Schneewehe an der Straßenböschung kippte. Juts richtete den Schlitten auf, indem sie ihr Gewicht auf die andere Seite verlagerte.

Die aufgeregte Lillian beschloß, die Abkürzung über das Feld der Barnharts nach Hause zu nehmen. Ein breiter Bach begrenz­te das Anwesen. Er glitzerte wie ein dunkler Spiegel. Lillian sprang über den Bach, doch Nickel plumpste herunter wie ein toter Nachtfalter von einer Verandalaterne. Und krachte durchs Eis.

Juts' Schultern schmerzten, als sie Minnie und Monza zum Stehen brachte, ungefähr hundert Meter von der Stelle, wo Louise herausgefallen war. Die Pferde hoben und senkten die Köpfe, der Schaum um ihre Mäuler vermischte sich mit Schnee­flocken.

Das kalte Wasser reichte Nickel nur bis zur Taille, aber sie war mit solcher Macht durchs Eis gekracht, daß sie von oben bis unten durchnäßt war. Ihre Stiefel zogen sie wie Gewichte herunter, als sie versuchte, aus dem Bach zu kriechen. Lillian galoppierte über die gefrorene Erde davon; ihre Hufschläge verklangen.

Nickel wand sich aus ihrem durchtränkten Mantel, bekam eine knorrige Baumwurzel zu fassen und zog sich heraus.

»Alles in Ordnung, Nick?«

»Momma, ich kann Lillian niemals einfangen. O. B. bringt mich um.«

»Komm.« Juts drängte sie zur Eile, weil Minnie und Monza ungeduldig aufstampften. Sie hatte alle Hände voll zu tun.

»Kümmert sich denn keiner um mich? Wenn ich mir nun die Hüften gebrochen habe? Was, wenn ich mir eine Gehirnerschüt­terung zugezogen habe?«

»Du klagst, Louise, das heißt, dir fehlt nichts.«

»Weißt du, Juts, nicht mal schwarze Magie kann einen Hasen verwandeln!«, stieß Louise in unverhüllter Wut hervor und überließ es ihrer Schwester und ihrer Nichte, den tieferen Sinn dieser Aussage zu ergründen. Sie klopfte sich den Schnee ab, und wohl wissend, daß Juts nicht warten würde, weil die Pferde unruhig wurden, spurtete sie zum Schlitten.

Die triefende Nickel hievte sich hinauf, und Juts ließ die Pfer­de gehen.

»Herzchen, zieh deine Sachen aus. Wheezie, hilf ihr.«

»Ich hab mir den Knöchel verstaucht.«

»Wirst du Nickel wohl helfen?«

Louise zog ihre teuren Handschuhe aus und schälte dem Kind die schon gefrierenden Schichten vom Körper. Nicky zitterte, ihre Haut war ganz rot.

»Hier.« Louise wickelte sie in eine Decke und legte ihr die Wärmflasche auf den Bauch.

Das Kind klapperte mit den Zähnen.

Sie fuhren schweigend ein paar hundert Meter, dann fing Louise an zu kichern. Juts stimmte ein. Auch Nickel, die am ganzen Leib zitterte, kicherte schließlich, aber es klang mehr wie ein Gurgeln.

»Schnee und Eis hört man knistern«, begann Juts.

»... weil wir leis' nur noch flüstern.«

Alle drei sangen aus voller Kehle.

O. B. hörte sie und schob das große Tor auf. Als Lillian über den Feldweg galoppiert war, wußte er schon, daß etwas schief gegangen sein mußte. Peepbean war bei ihm.

»Hattet ihr Schwierigkeiten?«

»Bloß ein bißchen.« Louise winkte mit ihrem Muff, als er Monas Zügel nahm.

Peepbean sah zu, wie Louise Nicky zu O. B. herunterhob.

»Runtergefallen, runtergefallen«, trällerte Peepbean.

»Sei still, Kirk, bring sie zum Ofen, daß sie sich wärmen kann«, wies O. B. seinen Sohn an.

»Geh schon, ich komme gleich nach. Ich muß deine nassen Sachen aus dem Schlitten holen. Louise, vergiß deine Tasche nicht.« Juts gab Louise ihre Handtasche, dann holte sie ihre eigene. Sie wollte O. B. ein Weihnachtstrinkgeld geben, sah, daß sie kein Bargeld hatte, und zog ihr Scheckheft heraus.

Peepbean setzte Nickel an den Ofen. Er zog die Zipfel der Decke zurück, Nicky entriß sie ihm und zog sie eng um sich.

»Ich sag's nicht weiter.« »Peepbean, laß mich in Ruhe.«

»Ich weiß, daß du nichts anhast. Komm schon, laß mich gucken.«

»Nein.«

Er zog an der Decke, und Nicky stand auf. »Wenn du mich nicht in Ruhe läßt, sag ich's.«

Er blickte sie finster an. »Ich will dir mal was sagen, du Rotz­nase. Deine richtige Mom ist Rillma Ryan. Kleiner Bankert.«

»Ist mir doch egal.« Nicky nahm die Information in sich auf, wollte sich aber vor ihm nichts anmerken lassen. Sie erinnerte sich an Rillma Ryan. Das war die nette Dame, die einmal zu ihnen zu Besuch gekommen war. »Ist doch egal, wer meine Mom ist - ich kann trotzdem besser reiten als du.«

»Runtergefallen.«

»Ja, aber ich hab keine Angst, wieder aufzusteigen. Angstha­se! Angsthase! Angsthase!«

Er griff die Decke und rangelte mit Nicky. Louise kam herein. »Aufhören!«

Peepbean sah sie an wie ein junger Hund, der dabei erwischt wurde, wie er gerade Essen vom Tisch mopste.

»Wir haben bloß gespielt.«

»Ich hab nichts an. Er will mich sehen.« Nickel sagte die rei­ne, ungeschminkte Wahrheit.

»Die spinnt«, log Peepbean.

»Es ist Weihnachten. Soll ich es deinem Vater sagen, damit er dich verdrischt?«

»Nein.« Angst flackerte in seinem Gesicht auf.

»Dann ist Schweigen mein Weihnachtsgeschenk für dich.« Louise zeigte mit dem Finger auf ihn. »Aber wenn du Nickel noch ein einziges Mal ärgerst, kannst du eine Woche nicht sit­zen, weil dir nicht nur dein Vater den Hintern versohlen wird, sondern ich auch!«

»Nickel!«, rief Juts.

»Ja, Momma.«

»Komm sofort her.«

Nickel zuckte die Achseln und watschelte hinaus. Ihre Mutter hatte ihr mit Kreide aufgewertetes Scheckheft aufgeschlagen.

»Warst du das?« »Ich werde reich«, erklärte Nickel.

»Irgendwas wirst du auf alle Fälle. Hast du in mein Scheck­heft geschrieben?«

»Ja.«

Louise warf einen Blick auf das Scheckheft und brach in La­chen aus.

»Ermutige sie nicht noch.« Aber auch Juts lachte.

Nickel grinste verlegen, doch sie dachte über Rillma nach. Wenn Rillma wirklich ihre Mutter war, was hatte sie dann verbrochen, daß ihre Mutter sie verlassen hatte?

77

Eine bange Ahnung ergriff Nicky. Weihnachten rückte mit je­dem Tag näher, und sie fürchtete, daß der Weihnachtsmann ihre Geschenke unter Rillma Ryans Baum in Portland, Oregon, le­gen würde - falls Rillma tatsächlich ihre Mutter war.

Sie blickte in den goldgerahmten Spiegel in ihrem Zimmer. Sah sie aus wie Juts? Und was war mit Chessy?

Juts merkte nicht, daß Nicky noch stiller war als sonst. Die Weihnachtszeit verwandelte Juts in einen wirbelnden Derwisch, und außerdem war sie nicht besonders empfänglich für die Ge­fühle anderer Menschen. Da sie sich überwiegend mit sich selbst beschäftigte, entging ihr oft, was andere bewegte.

Juts' Baum, eine große Douglastanne, war geschmückt mit großen, glänzenden Kugeln in kräftigen Farben, Lametta, gül­denen Girlanden und hier und da handgeschnitztem Holz­schmuck aus Europa. Da der Krieg noch so frisch in Erinnerung war, wollte man es lieber nicht genauer wissen.

Als sie das weiße Laken um den Baum herum ausbreitete, zupfte Juts hier und dort, konnte aber ihre künstlerische Vision nicht verwirklichen. Der>Schnee< wollte nicht richtig liegen. Verärgert kroch sie unter den Baum, gefolgt von Yoyo.

»Wag es ja nicht, eine Kugel vom Baum zu schlagen.«

Yoyo saß auf dem Hinterteil und sah der ächzenden, stöhnen­den Juts zu. Dann krabbelte Juts rückwärts unter dem Baum hervor. Immer noch nicht richtig. Sie kroch wieder drunter. Flach auf dem Bauch liegend, knüllte sie das Laken, daß es Hügel und Täler bildete. Dann krabbelte sie wieder rückwärts hervor. Müde stützte sie den Kopf auf die Hände.

Yoyo blieb unter dem Baum. Juts döste ein Viertelstündchen, und als sie die Augen öffnete, blickte sie in den Kamin. Ein leichter Luftzug blies von oben herunter. Sie stand auf, ging zum Kamin und bückte sich, um den Abzug zu schließen. Sie hatte ihn absichtlich offen gelassen, hatte dann aber vor lauter Arbeit vergessen, Feuer zu machen. Als sie in den Kamin griff, erblickte sie einen kleinen Zettel, der an die Innenmauer geklebt war.

Sie riß ihn ab, hielt sorgsam die rußige Hand von ihrem Kleid fern.

In kindlicher Krakelschrift stand auf dem Zettel:

Weihnachtsmann ich won hier Nicky.< Schreib- und Komma­fehler ignorierend, zerknüllte sie den Zettel und warf ihn in den Kamin, gerade als Nickel die Treppe hinunterkam, gefolgt von Buster, der mehr Lärm machte als sie.

»Momma!« Nickel rannte zum Kamin, um ihren Zettel zu ret­ten.

»Und wenn ich Feuer gemacht hätte?«

Nickel strich das Briefchen glatt.

Wütend riß Juts es ihr aus der Hand. »Du brauchst keinen Brief, verdammt noch mal! Der Weihnachtsmann weiß, wo du wohnst.«

»Sicher ist sicher«, erwiderte Nickel zaghaft. »Er kommt viel­leicht durcheinander.«

»Nicht er ist durcheinander, sondern du.«

»Ich wünsche mir so, daß er mir ein Roy-Rogers-Halfter bringt.«

»Hör auf mit deinen Geschenken. Weihnachten ist mehr als Geschenke.«

Aber nicht für eine Sechsjährige. Wäre Juts nicht so aufge­bracht gewesen, hätte sie sich darauf besonnen.

»Ich bin brav gewesen und.«

»O Nickel, der Weihnachtsmann ist eine fromme Lüge. Mach dir keine Sorgen wegen deiner Geschenke. Die wirst du schon kriegen.«

Nickel trat einen Schritt zurück, aschfahl im Gesicht. »Mom, du hast gesagt, der Weihnachtsmann findet mich.«

»Es gibt keinen Weihnachtsmann, Herrgott noch mal. Es ist ein Märchen, das erzählen die Leute den Kindern, damit sie Ruhe geben. Es gibt keinen, der oben am Himmel mit Rentieren fährt. Vergiß es.«

Nickys Augen trübten sich. »Und der Osterhase?«

»Hast du schon mal einen Hasen gesehen, der größer ist als ein Brotkorb? Auch so eine faustdicke Lüge. Fang nicht an zu heulen, Nicky. Um Gottes willen, das sind Märchen. Du kriegst deine Geschenke. Das ist doch die Hauptsache für dich.« »Gar nicht wahr!«, schrie Nickel und erschreckte damit Julia Ellen und sich selbst.

Yoyo kletterte vorsichtshalber auf den Baum. Buster bellte.

»Ich hab keine Zeit für diese Albernheiten.« Juts machte kehrt und steuerte auf die Küche zu.

»Du hast mich angelogen!« Wie ein Racheengel wies Nicky mit dem Finger auf Juts.

Juts drehte sich blitzschnell um. »Sprich nicht so mit mir, verwöhntes Blag. Ich bin deine Mutter.«

»Nein, bist du nicht.«

Juts stand da wie angewurzelt. Sogar Buster verstummte.

Nickel senkte die Stimme. »Rillma Ryan ist meine Mutter.«

Zitternd flüsterte Juts: »Wer hat dir das gesagt?«

»Peepbean Huffstetler.«

Hierauf blieben sie lange still. Juts legte die Finger an die Schläfen. »Rillma Ryan hat dich auf die Welt gebracht. Sie war in der Klemme, und du bist dabei rausgekommen. Ich wollte ein Baby, da hab ich dich genommen. Warum ich diese Plage woll­te, weiß ich nicht. Ich hätte mir den Kopf untersuchen lassen sollen.« Diese beiläufige Gemeinheit schlüpfte ihr einfach so aus dem geschminkten Mund. Sie war so wütend und aufge­bracht, daß sie überhaupt nicht bedachte, wie sich das auf Nik­kel auswirkte.

»Wenn du nicht meine Mutter bist, kannst du mir gar nichts vorschreiben.« Nickel stemmte die Hände in die Hüften, und Tränen rollten über ihr glattes Gesicht.

»Hör zu, du Satansbraten. Du wärst tot, wenn ich dich nicht aus dem Waisenhaus geholt hätte.« Sie unterließ es wohlweis­lich, zu erwähnen, daß Wheezie und Chessy sie in der Eiseskäl­te aus Pittsburgh abgeholt hatten. »Ich habe dich gefüttert, ge­kleidet und dafür gesorgt, daß du rechtzeitig in die Kirche kamst. Solange du unter meinem Dach wohnst, wirst du tun, was ich sage.«

Nickel kehrte ihr den Rücken und ging nach oben.

Juts ging in die Küche und schenkte sich einen Kaffee ein, aber ihre Hände zitterten so sehr, daß sie die Tasse nicht an den Mund führen konnte. Wütend goß sie den Kaffee in den Aus­guß, dann knallte sie die Tasse an die Wand.

78

Das leise Klopfen an der Haustür wäre unbemerkt geblieben, wenn Ramelle nicht zufällig durch die große Diele gegangen wäre.

»Nicky.« Sie öffnete die Tür. Die Kleine hatte alles angezo­gen, was ihr nur eingefallen war, und trug ihr Federmäppchen bei sich. »Komm rein, mein Schatz.«

»Mrs. Chalfonte, ist G-Mom hier?«

»Ja. Jetzt ziehen wir dir erst mal die Sachen aus, dann gehen wir zu ihr. Meine Güte, hast du viel an. Ich weiß, es ist bitter­kalt draußen, aber nun ja.« Ramelle lächelte und sagte weiter nichts dazu. »Komm.«

Sie nahm Nicky an die Hand und ging mit ihr in die Küche.

Cora war beim Plätzchenbacken. »Hallo. Was machst du denn hier?«

Nicky trat zwischen die beiden Frauen, mit dem Rücken zu ihrer Großmutter, und sah Ramelle an. »Mrs. Chalfonte, ich will bei Ihnen arbeiten, genau wie G-Mom. Ich bin stark. Ich bin wirklich stark, und ich lerne schon schreiben. Ich kann fegen, und ich kann.«

Ramelles Lachen war glockenhell. »Nickel, du bist das süße­ste Ding auf der Welt.«

Nickel lächelte. »Ich fang gleich an. Ich hab alles mitgebracht, was ich brauche.«

Cora lachte. »Wo ist deine Mutter?«

»In Portland, Oregon.«

Schlagartig verging das Lachen. Cora wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie nahm ein paar Plätzchen vom Blech. »Setzen wir uns hier rüber.«

Die drei setzten sich in die Nische, Ramelle nahm Milch mit.

»Willst du uns nicht zuerst sagen, warum du so viele Sachen angezogen hast?«, fragte Ramelle sanft.

»Ich geh nicht wieder zu Momma. Ich kann bei G-Mom schla­fen und den ganzen Tag hier arbeiten. Ich arbeite gerne.«

»Du bist eine gute Arbeiterin«, lobte Ramelle sie.

Cora aß ein Erdnußplätzchen. »Die sind lecker, wenn ich das so sagen darf.« Sie legte ihren Arm um Nickel. »Wie war das mit Portland, Oregon?«

»Peepbean hat gesagt, meine Mutter ist Rillma Ryan, und Momma hat es auch gesagt. Ich mag Momma nicht mehr.«

»Weil sie nicht deine richtige Mutter ist?« Ramelle bemühte sich, ihren Fragen nicht das Gewicht zu verleihen, das sie ei­gentlich hatten. »Ich meine, deine leibliche Mutter. Eine richti­ge Mutter ist die, die dich großzieht.«

»Momma war gemein zu mir, und ich kann sie nicht leiden.«

»Was hat sie getan?« Cora trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte, dann hob sie die Hand. »Wir sagen es nicht weiter. Hand aufs Herz.«

Ramelle legte ebenfalls die Hand auf ihr Herz.

»Sie hat gesagt, es gibt keinen Weihnachtsmann und keinen Osterhasen, und sie hat gesagt, ich bin eine Klemme.«

»Eine Klemme?« Cora fragte sich, was das zu bedeuten hatte.

Nickel nickte. »Ich bin eine Klemme, und ich hab ihr Kopf­schmerzen gemacht. Ich muß nicht auf sie hören.«

»Ah - hm, darüber machen wir uns später Gedanken. Jetzt iß erst mal G-Moms Plätzchen. Ich muß mir die Hände waschen, bin gleich wieder da.« Ramelle ging hinaus, um Juts anzurufen.

»Sie ist was?«, stöhnte es am anderen Ende der Leitung. Juts wußte nicht, daß Nickel aus der Hintertür geschlichen war. »Ich bin gleich da.«

»Julia, das ist vielleicht keine gute Idee. Willst du mir nicht erzählen, was passiert ist, besonders mit der Klemme? Nickel sagt, du hättest ihr gesagt, sie sei eine Klemme.«

»Oh.« Am anderen Ende der Leitung war ein scharfes Ein­atmen zu hören. »Meine Nerven liegen blank und da.«

Als Ramelle Juts' Version der Geschichte gehört hatte, kam sie zurück. Sie setzte sich Cora und Nickel gegenüber.

»Lecker, die Plätzchen, nicht?«

»Ja, Ma'am.«

»Nicky, ich habe deine Mutter angerufen und ihr gesagt, daß du hier bist. Hast du ihr gesagt, daß du fortgehst?«

»Ich sag ihr gar nichts.« »Sie sagt, du kannst eine Weile hier zu Besuch bleiben, dann kommt sie dich holen.«

»Ich will nicht nach Hause.«

Cora wandte geschickt ein: »Du kannst Yoyo und Buster nicht im Stich lassen.«

»Können sie nicht bei mir wohnen?«

»Ich fürchte, nein, Liebes.« Cora drückte Nicky an sich.

»Und deine Mutter entschuldigt sich. Sie hat nicht gemeint, daß du eine Klemme bist, sie hat gemeint, Rillma hätte in der Klemme gesteckt. Das sagt man so. Ich glaube sie hat die Ner­ven verloren, und jetzt tut es ihr Leid.«

»Hast du auch die Nerven verloren?«, fragte Cora.

»Ja.« Nicky schlug die Augen nieder.

»Wenigstens hast du welche. Man muß nur wissen, wie man damit umgeht.«

»Ich will nicht auf sie hören.«

»Sie wollte auch nicht auf mich hören«, sagte Cora. »Aber so ist es eben mit Müttern und Töchtern. Sie ist deine Mutter. Sie ist nicht vollkommen, aber sie ist deine Mutter. Ich werde je­denfalls mit ihr sprechen, und dann bringen wir das ins Reine.«

»Wer ist mein Vater?«

Eine drückende Stille folgte dieser unvermeidlichen Frage.

Ramelle, unsicher, ob sie das Richtige tat, hielt es für besser, die Wahrheit zu sagen. Das Kind war genug belogen worden. »Dein Vater war Francis, der Neffe von Celeste Chalfonte. Rill­ma hat den Leuten erzählt, dein Vater sei ein Mann namens Bullette, aber das hat sie nur aus Rücksicht getan, weil Francis schon verheiratet war.«

»Mag er mich nicht?«

»Er ist am Ende des Krieges an Überarbeitung und Überla­stung gestorben. Er würde dich bestimmt lieben.« Ramelle bete­te um Unterweisung, weil niemand, nicht einmal Cora, die gan­ze Geschichte kannte. »Er und deine Mutter haben im Krieg zusammen gearbeitet und sich ineinander verliebt. Was eine wunderbare Geschichte mit glücklichem Ausgang hätte werden sollen, konnte nicht glücklich enden, weil Francis schon verhei­ratet war. Das einzig Glückliche, was dabei herauskam, warst du.« »Oh.«

»Nur Celeste, Gott sei ihrer Seele gnädig, und ich wußten, wer dein wirklicher Vater war. Er hat Rillma das Geld gegeben, damit sie nach Portland ziehen konnte. Celeste hatte Rillma die Stelle bei Francis besorgt, und sie hat sich immer dafür verant­wortlich gefühlt, obwohl sie es nicht war. Aber wir freuen uns, daß du da bist. Und niemand braucht die ganze Geschichte zu wissen.«

»Wetten, Tante Louise weiß es. Tante Louise sagt, sie weiß alles.«

»Tante Louise weiß es nicht.«

»Und Momma?«

»Nein«, antwortete Ramelle.

»Muß ich Momma lieb haben?«

»Du hast sie lieb - im Herzen.« Cora seufzte, als sie an die Gespräche dachte, die sie mit Juts und dann mit Louise würde führen müssen, bevor Juts auf Louise losging und ein neuer Krieg ausbrach.

»Wie kann man jemand lieb haben, wenn man ihn nicht leiden kann?«

»Man erinnert sich an die schönen Zeiten«, erwiderte Cora. »Und dann betet man, daß Gott einem den Weg weist. Weißt du, die Menschen brauchen Liebe, wenn sie am wenigsten lie­benswert sind.«

»Wie Momma?«

»Hm - ja.«

»Mrs. Chalfonte, haben Sie schon mal wen lieb gehabt, den Sie nicht leiden konnten?«

»Schon oft.«

Ein Klopfen an der Tür und ein »Ich bin's« kündigte Juts an.

»Denk dran.«, flüsterte Ramelle, doch bevor sie ihren Satz zu Ende sprechen konnte, war Juts bei ihnen. Sie nahm die Sze­ne in Augenschein, dann brach sie in Tränen aus. »Es tut mir Leid, Nicky, es tut mir so Leid.«

Nicky sah ihre Mutter schluchzen. Cora stand leise auf und umarmte ihre Tochter.

»Juts, wenn du bloß nachdenken würdest, bevor du den Mund aufmachst.« »Ich weiß.« Juts schluchzte weiter.

Ramelle dachte an die Worte Paul Valerys: »Ich habe mich geliebt, ich habe mich gehaßt, und dann sind wir zusammen alt geworden.«

79

Das Weihnachtsfest bescherte Nicky ihren Roy-Rogers­Revolver mit Halfter und Mutter Smith eine Angina. Sie über­stand sie. Juts fragte sich, wie viele Jahre sie noch mit ihrer Schwiegermutter aushalten mußte. Sie tat so, als freute sie sich, daß sie überlebt hatte.

Chester raste bis zur Erschöpfung zwischen Krankenhaus und Zuhause hin und her. Seine Brüder, die über die Feiertage zu Hause waren, waren keine große Hilfe. Er zog sich eine schwe­re Erkältung zu. Juts packte ihn ins Bett.

Nicky beschloß, nicht auf Jackson Frosts Weihnachtsfeier zu gehen. Juts wählte die Nummer für sie, und Nicky sagte Jack­son am Telefon, sie müsse sich um ihren Dad kümmern. Was sie auch tat. Sie brachte ihm Orangensaft, Tabletten und Wick VapoRub. Sie las ihm auch vor. Er hörte viermal hintereinander >Es war am Heiligen Abend und beteuerte, daß sie mit jedem Mal flüssiger las.

Einmal schlief er ein, und als er wirr aufwachte, saß Nicky auf der Bettkante und bewachte ihn. Sie tätschelte seine Hand, als wäre es Yoyos Pfote.

»Daddy, ich mach dich gesund.«

Er nieste. »Bestimmt.«

»Daddy, ich würde meine Weihnachtsgeschenke hergeben, wenn es dir davon besser geht.«

»Das brauchst du nicht.«

»Würde ich aber.« Sie küßte seine Hand und kuschelte sich neben ihn. »Du verläßt mich nicht, oder?«

»Nie.« Er fragte sich, was in dem Lockenkopf vorging.

»Du würdest mich nicht wieder zu Rillma Ryan bringen, oder?«

»Was?« Chester, der von den Ereignissen der letzten Tage nichts wußte, wurde schlagartig hellwach.

»Ich hab Angst, wenn Momma mal böse auf mich ist, gibt sie mich ab.« »Zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen, Schatz.« Er konnte es nicht erwarten, Juts in die Mangel zu nehmen. »Du gehörst hier zu mir, für immer und ewig.«

Sie schmiegte den Kopf in seine Armbeuge. »Ich hab dich lieb.«

»Ich hab dich auch lieb.« Er nieste.

»Ich hol dir noch Orangensaft. Mom sagt, du mußt ganze Ba­dewannen davon trinken.«

»Danke. Ich hatte genug. Aber du kannst mir einen großen Gefallen tun. Geh zu Momma und bitte sie, herzukommen und mir Gesellschaft zu leisten.«

»Okay.«

Als Juts' Schatten über die Schwelle schwebte, hatte er seine Fragen parat. Sie schickten Nicky in die Küche hinunter, um Yoyo und Buster zu füttern, was hieß, daß sie ungefähr eine Viertelstunde für sich hatten.

»Julia, woher weiß Nickel von Rillma?«

»Peepbean hat es ihr gesagt.«

»Warum hast du's mir nicht erzählt?«

»Hab ich vergessen.«

»Scheiße.« Er setzte sich aufrecht, sein Kopf brummte. »Du erzählst ihr ohne mich, daß sie adoptiert ist. Sie erfährt von Rillma Ryan. Wer bin ich denn hier, verdammt noch mal, der Türsteher? Du hast kein Recht, mir das zu verschweigen.«

»Chester, du hast Fieber.«

»Weich mir nicht aus!«

»Tu ich gar nicht.«

»Du hättest es mir sagen sollen.«

»Ich nehme an, Nicky hat's dir erzählt.«

»Gerade eben. Sie wollte wissen, ob du sie Rillma Ryan zu­rückgibst, wenn du böse auf sie bist. Das ist eine verteufelte Last für ein Kind, so zu empfinden.«

Juts wischte die Angst mit einer Handbewegung fort. »Sie wird es vergessen. Du weißt doch, wie Kinder sind.«

»Nein, weiß ich nicht. Aber ich weiß, wie du bist.«

»Deine Mutter kam ins Krankenhaus, und alles ist so schnell gegangen, ich wollte darauf zu sprechen kommen, hab ich aber nicht. Es tut mir Leid.« »Ich will die ganze Geschichte hören.«

»Nicht jetzt, Schatz, Nicky kann jede Minute wiederkommen. Ich verspreche dir, ich werde es dir erzählen. Alles.«

Er ließ sich aufs Kissen zurückfallen. Schweiß tropfte von seiner Stirn. Juts tupfte ihm das Gesicht ab.

»Ich hol dir einen Waschlappen mit Eiswürfeln. Das dürfte helfen.«

Sein Blick wanderte zu ihrem Hochzeitsfoto.Vergaßen alle Frauen Wesentliches oder bloß Juts? Er fragte sich, ob es eine weltweite Frauenverschwörung gab, um die Männer zu beherr­schen, sie dämlich dastehen zu lassen.

Juts und Nicky kamen zurück.

»Ich hab noch was vergessen«, sagte Juts.

»Was?« Er blinzelte, weil sein Kopf so schmerzte; sogar die Augen taten ihm weh.

»O. B. schickt Peepbean auf eine katholische Schule. Wenn er Aushilfsküster wird, bezahlt St. Rose die Schule. Popeye gibt das Küsteramt auf.«

»Der Junge ist irgendwie einfältig.« Chester schloß die Au­gen. Der kalte Waschlappen auf seiner Stirn tat gut.

Nickel wiederholte eine Redensart, die sie gehört hatte. »Er ist eine neue Feder an einem alten Hut.«

Chessy und Juts lachten. Irgendwie traf es die Situation genau.

80

Ein nebliger Apriltag im Jahre 1952 scheuchte Juts und Louise zum Arbeiten ins Haus. Ungeduldig suchte Juts ihre Schnittmu­ster heraus; das dünne Papier knisterte.

»Die gefallen mir nicht.« Louise rümpfte die Nase.

»Mir auch nicht.«

»Ich brauche einen neuen Hut. Laß uns nach Hagerstown fah­ren.«

»Ich kann dir einen Hut machen.«

Nicky, die an dem Küchentisch mit der Keramikplatte ihre Rechenaufgaben machte, sah Juts hinausgehen und mit einer BH-Schaumgummieinlage zurückkommen.

»Und was, wenn ich fragen darf, hast du damit vor?«, fragte Louise trocken. »Ich bin gepolstert.«

»Ich überzieh das Ding mit Satin, mach eine Schleife dran und einen kurzen Schleier. Schwarz oder vielleicht marineblau. Echt Tats.« So nannte Juts die berühmte Putzmacherin Gräfin Tatia­na.

»He.« Louise erwärmte sich für die Idee. »Schwarz, schwar­ze Schleife, mit Rot durchflochten.«

»Toll.« Begeistert kramte Juts in ihrem Weidenkorb, wo sie ihre Stoffreste aufbewahrte.

»Momma, ich will dieses Jahr beim Seifenkistenrennen mit­fahren, dann kann ich direkt vor Tante Wheezies Haus gewin­nen. Ich bin alt genug.« Mit sieben fand sie sich für alles alt genug.

Durch eine Wolke von Zigarettenqualm antwortete Juts: »Mädchen können nicht beim Rennen mitfahren.«

»Warum nicht?«

»Weiß ich nicht.«

Louise, eine Autorität auch auf diesem Gebiet, verkündete: »Weil du dabei deine Eierstöcke durcheinander rüttelst, und das gibt später Probleme.«

»Momma, was sind Eierstöcke?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Sie warf Wheezie den Mundhalten-Blick zu.

»Julia, sie muß diese Dinge lernen, früher oder später.«

»Später.« Juts schnippelte mit der Schere an dem schwarzen Satin herum.

»Ich will es jetzt wissen. Wenn die Schuld sind, daß ich nicht beim Seifenkistenrennen mitfahren kann, will ich sie nicht ha­ben.«

»Ha!«, platzte Louise heraus.

»Bist du wohl still«, warnte Juts.

»Ich will sie nicht, wenn ich nicht beim Seifenkistenrennen mitmachen kann.«

Juts knallte die Schere auf den Tisch, kleine Satinfetzen flo­gen durch die Luft. »Schönen Dank, Dr. Trumbull. Jetzt wird sie mich den ganzen Tag mit Eierstöcken löchern.«

»Was sind Eierstöcke?«

Louise räusperte sich. »Das sind kleine Teile in dir drin, damit du Kinder kriegen kannst. Eierstöcke sind eine Gabe Gottes.«

»Gott kann sie jemand anders geben. Ich will keine Kinder.«

Louises Mund zuckte. »Eines Tages wirst du froh sein, sie zu haben.«

»Ich schenke meine Eierstöcke jemand, der Kinder will. Ehr­lich. Ich brauch keine Eierstöcke.« Nicky schob ihre Schulhefte beiseite.

»Jetzt reicht's.« Juts klapperte mit der Schere wie mit einer potentiellen Waffe.

»Sie kann nicht einfach daherreden, sie will keine Eierstöcke oder keine Kinder.«

»Halt endlich die Klappe.«

Ein Ausdruck von globalem Überdruß, gefolgt von einem lei­sen Ausatmen, begleitete Louises Worte. »Aber woher solltest du das auch wissen.«

Juts fegte Schnittmuster, Stoff und Schaumgummieinlage zu Boden. »Halt die Klappe, hab ich gesagt!«

Louise hob ihren>Hut< auf und schrie: »Du klärst sie nicht an­ständig über die weibliche Natur auf. Aber was habe ich erwar­tet?«

Juts machte einen Satz auf sie zu, doch Louise suchte hinter Nicky Schutz. »Du hast eine böse Ader.« »Böse Ader! Ich sollte dir den Hals umdrehen. Du mußt im­mer die Schlaue sein, du weißt immer mehr als ich.« Juts schäumte dermaßen, daß sie nicht weitersprechen konnte.

»Ich glaube, ich bin hier überflüssig.« Louise marschierte rasch zum Windfang, um hinauszugehen.

»Andere Leute werden mit Reichtum, mit Schönheit, mit Grips gesegnet. Ich wurde mit einer Schwester gesegnet«, knirschte Juts mit zusammengebissenen Zähnen.

Als Louise sah, daß Julia die Schere auf den Küchentisch leg­te, spähte sie vom Windfang wieder herein. »Einer Schwester, die mit dir durch dick und dünn gegangen ist.«

»Und ich mit dir.«

»Du kannst dem Kind keine Flausen in den Kopf setzen.«

Juts erwiderte süffisant: »Ich versuche ja nicht, eine Chalfonte zu sein.«

Nicky legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Sie war ei­ne Chalfonte; zumindest war ihr Vater einer. In diesem Augen­blick erkannte sie, daß sie Juts überlegen war, weil Juts nichts von Francis wußte. Sie beschloß, wenn die Erwachsenen Ge­heimnisse vor ihr hatten, auch welche vor ihnen zu haben. Die­ses Spiel konnten beide spielen.

»Sie kann nicht beim Seifenkistenrennen mitfahren. Das ist gegen alle Regeln.«

»Blöde Regel.«

»Blöd oder nicht, das Rennen ist nur für Jungen.«

»Warum ist alles, was Spaß macht, für Jungs?« Nicky schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich kann alles, was Jungs machen, und ich kann's besser.«

»Vorerst ja«, sagte Louise. »Aber die Jungen werden größer und stärker.«

»Tante Wheezie, ich mach sie fertig, egal wie groß sie wer­den.«

»Viele Wege führen nach Rom«, sagte Wheezie. »Warum kämpfen, wenn du mit einem bloßen Lächeln gewinnen kannst?«

»Deine Tante Wheezie will dir damit sagen, daß Männer leicht um den Finger zu wickeln sind.«

»Ist das dasselbe wie nicht alle Tassen im Schrank haben?« »Nein, es ist etwas anderes, obwohl du oft genug feststellen wirst, daß sie nicht alle Tassen im Schrank haben.« Louise, die begeistert die Expertin gab, fuhr fort: »Ich erteile dir deine erste Lektion, wie man sich Männer gefügig macht.« Sie hob den Kopf, legte die Hand unters Kinn und berührte beim Sprechen mit dieser Hand ihren Ohrring. »Du bist klug, Paul, das wäre mir nie eingefallen.« Ihre Stimme trillerte, jede Bewegung kün­dete von Entzücken und Ehrfurcht.

»Zweite Lektion.« Juts lachte. »Du bist so stark. Ich hätte das nicht mal hochheben können.«

Die Schwestern lachten.

Nicky lachte nicht. »So was mach ich nicht.«

»Dann, Herzchen, laß mich die Erste sein, die es dir sagt: Du wirst mit den Männern einen Reinfall erleben.«

Louise fügte eifrig hinzu: »Wenn du die Tricks erst be­herrschst, hast du leichtes Spiel mit ihnen - sogar mit den Schwulen.«

»Was ist ein Schwuler?«

»Ein Weichling«, antwortete Louise.

»Wie Peepbean Huffstetler?«

»So ähnlich«, erklärte Juts. »Wheezie will sagen, daß alle Männer gern von den Frauen beachtet werden, auch wenn sie keine heiraten wollen. Du neigst dich ein wenig zu ihnen hin, tust, als sei jedes Wort aus ihrem Mund ja sooo interessant, und schwups, ist es um sie geschehen.« Sie schnippte mit den Fin­gern.

»Sie merken bestimmt, daß man nur so tut.« Nicky konnte nicht glauben, daß diese albernen Tricks funktionierten.

»Nix da«, sagte Juts.

»Du bist noch zu klein«, ergänzte Louise. »Den kleinen Jungs ist es egal, aber wenn sie erst, na, vielleicht sechzehn sind.«

Julia unterbrach sie. »Wenn ihre Stimme sich verändert, das ist das Zeichen. Dann gib's ihnen.«

Nicky sah ihre Mutter und ihre Tante ernst an. »Kann ich nicht sein, wie ich bin?«

Louise lachte ungehemmt, was sie selten tat, ein Lachen tief aus dem Bauch heraus. »Nicky, von einem Mann geliebt zu werden, ist nicht dasselbe, wie von einem Mann erkannt zu werden. Sie brauchen dich überhaupt nicht zu kennen. Ach, sie wissen ja nicht mal, wie sie es anstellen sollen.«

Nicky mochte nicht glauben, daß Menschen jahrelang zu­sammenleben konnten, ohne sich zu kennen. Sie dachte, Whee­zie würde sie veräppeln. »Momma, kennt Daddy dich nicht?«

Juts verschränkte die Arme. »Doch, ich glaube schon, aber Louise und ich sind uns beim Thema Männer eben nicht einig. Er weiß vielleicht nicht, warum ich etwas tue, aber er kann dir ganz genau sagen, was ich in einer bestimmten Situation tun werde.«

»Julia« - Louise senkte die Stimme - »du weißt ja selbst oft nicht, warum du etwas tust.«

»Doch, um mit dir abzurechnen.«

»Das ist allerdings die reine Wahrheit, und ich habe eine Zeu­gin.« Louise zeigte auf Nicky.

»He, sollen wir dir beibringen, wie man flirtet?« Juts amüsier­te sich bestens.

»Momma, ich mach mir nichts aus dem Zeug. Ich will beim Seifenkistenrennen mitfahren.« Nicky schob ihre Stifte zurück und sprang vom Stuhl. »Ich geh nach oben. Darf ich?«

»Klar, Mike.«

Als sie gegangen war, sagte Juts zu Louise: »Ich werde nicht schlau aus ihr.« Ein ratloser Ausdruck erschien in Juts' Gesicht, das trotz ihrer siebenundvierzig Jahre noch jugendlich wirkte. »Sie will keine Kleider anziehen, ich kann sie nicht für Nähen oder Kochen erwärmen. Ich muß sie praktisch zu den Partys ihrer Freundinnen schleifen. Hast du schon mal ein Kind gese­hen, das sich nichts aus Partys macht?«

»Nicht, daß ich wüßte, aber sie sind nun mal nicht wie wir. Diese Lektion hat mir Mary sehr bald erteilt, und dann hat Mai­zie es unmißverständlich vorgeführt. Die Sache mit Vaughn macht mich nervös. Er ist schwer hinter ihr her.«

»Du solltest dich freuen, Louise, was willst du denn? Sie er­obert die Welt nicht als Pianistin, und sie hat keine Unterrichts­zulassung - was soll sie denn machen?«

Louise drehte an ihrem Ehering. »Ich weiß nicht. Sie wird ihn sein Leben lang pflegen müssen.« »Er kommt gut zurecht.« Juts boxte ihre Schwester an die Schulter. »Du machst dir doch Sorgen ums Geld. Er wird eines Tages den Drugstore übernehmen. Dann hat sie für den Rest ihres Lebens ausgesorgt.«

»Ich weiß nicht.«

»Sorgen sind dein Leben, weißt du das?«

»Du wirst eines Tages haufenweise Sorgen haben, wenn Nik­ky sich ernsthaft verliebt. Sie braucht bloß an einen miesen Kerl zu geraten. Ein Einziger genügt.«

»Vielleicht ist es umgekehrt genauso, und bei denen genügt auch eine Einzige, wer weiß.« Juts drehte den Wasserhahn auf und hielt ihre Zigarette darunter, um sie zu löschen. »Wer weiß, was aus Nicky wird? Sie tanzt nach ihrer eigenen Pfeife. Wenn ich daran denke, daß Blut dicker ist als Wasser, erinnere ich mich an Rillma als Kind. Sie war ganz anders als Nickel.«

»Sie klingt wie du. Sie packt die Dinge an wie du«, sagte Louise beschwichtigend.

»Ja?«

»Ich glaube, sie sind wie Schwämme. Sie saugen alles auf.«

»Manchmal fühle ich mich wie eine Köchin, ein Hausmäd­chen, eine Waschfrau, ein Chauffeur - sogar eine Kranken­schwester -, aber ich weiß nicht, ob ich mich wie eine Mutter fühle.«

»So fühlen sich Mütter eben - und erwarte bloß keinen Dank dafür.«

81

Trotz der Ermahnungen ihrer Schwester, man müsse wissen, wo man hingehört, verschwor sich Juts mit Nicky und baute mit ihr eine Seifenkiste. Chessy hörte sich ihre Argumente an und dachte, was soll's?

Sie machten das Garagentor zu und verbrachten die nächsten zweieinhalb Monate damit, das Gefährt zu bauen. Chessy feilte an der Aerodynamik der Kiste, die eine niedrige, spitze Schnau­ze und glatte, windschnittige Seiten bekam. Nicky übernahm die Aufgabe, zu schmirgeln und immer wieder zu schmirgeln, bis die Holzoberfläche glänzte wie Glas.

Juts und Chessy machten sich Gedanken um die Lenkung. Ei­ne schnelle Seifenkiste ist mitunter schwer zu halten. Juts hatte das Zeug zur Mechanikerin. Sie kroch unter den Wagen, prüfte die Zugstangen und den Sitz der Räder unter dem Fahrgestell. Sie zeichnete Entwürfe. Chester vertiefte sich mit ihr in die Zeichnungen, Nicky ebenso.

Beim Bau der Seifenkiste hielten die drei Smiths zusammen wie Pech und Schwefel. Am meisten genoß es Nicky, wenn sie alle in der Garage waren, auch Buster und Yoyo, und sangen. Juts die zweite Stimme, Chester Baß und Nicky die Melodie. Sie sorgte sich nicht wegen Rillma Ryan, wenn sie zusammen arbeiteten, und Juts war zu beschäftigt, um die Geduld mit ihr zu verlieren.

Nicky fand heraus, daß wenn sie mit Juts spielte - denn für sie war es ein Spiel -, Juts glücklich war. Sie hatten einmal in der Woche Reitunterricht, und danach begleitete Nicky Juts manchmal bei ihren Einkaufstouren. Sosehr sie das langweilte, sie heuchelte Interesse für die Kleider, auf die Juts sie aufmerk­sam machte.

Nun, da sie ein bißchen größer war, verbrachte sie die Sams­tage bei Chessy im Geschäft. Wie ihr Dad bastelte sie gern, aber sie hütete sich, in Juts' Gegenwart zu großen Enthusiasmus an den Tag zu legen, denn Juts war sogar auf Chessy eifersüchtig.

Mit ihren sieben Jahren hatte Nicky gelernt, sorgsam mit ihren Gefühlen umzugehen. Beseelt von grenzenlosem Tatendrang und Wagemut, spielte sie die meiste Zeit draußen, tat die meiste Zeit, was man ihr sagte, und beobachtete die Menschen viel mehr, als daß sie ihnen zuhörte. Sie hatte schon eine wichtige schmerzhafte Lektion fürs Leben gelernt, nämlich, daß die Menschen sie zwar gern haben mochten, sie sich aber um sich selbst kümmern mußte; sie konnte nicht erwarten, daß andere es taten. Mit Ausnahme von Chessy.

Juts war es egal, was in Nicky vorging. Für sie zählte nur das sichtbare Ergebnis. Das galt für alles und jeden, und in dieser Beständigkeit lag ein gewisser Trost.

Chessy zeichnete die Konturen der Nummer 22 auf beide Sei­ten des Gefährts, das jetzt glänzend königsblau gestrichen war. Zusammen malten sie die 22 golden aus.

Harry Mundis, der Leiter des Rennens, herrschte allein über sein großes Reich, daher war es nicht so schwierig, sich an ihm vorbeizuschummeln. Nicky meldete sich unter dem Namen Jackson Frost an, weil sie wußte, daß Jackson den 4. Juli am Strand verbringen würde.

Das Wetter, wolkenlos und mit ungewöhnlich geringer Luft­feuchtigkeit, verhieß einen denkwürdigen Unabhängigkeitstag. Auf dem Platz war ein Feuerwerk vorbereitet, beide Feuerweh­ren nahmen teil. Flaggen zierten die ganze Stadt, und alle Be­wohner hißten auf der Veranda oder auf dem Rasen eine Fahne.

Nicht wenige ließen auch ihre Flaggen von Maryland oder Pennsylvania flattern, was zur Farbenpracht beitrug.

Die Männer kramten ihre Kreissägen und Panamahüte hervor, während die Damen hin und her überlegten, ob sie bei der Hitze Nylonstrümpfe anziehen müßten. Die Mutigeren und Hübsche­ren entschieden sich für Shorts und Leinensandalen. Seit Louise behauptet hatte, Juts hätte Krampfadern, verzichtete Juts auf Shorts.

Die Häuser an der Rennstrecke füllten sich mit Menschen. Wannen mit Eis hielten Bier, Sodawasser, Limonade und für die Siegreichen Limonenlimo kalt. Kühltaschen mit Trockeneis enthielten Erdbeer-, Schokoladen- und Vanilleeis.

Louise, die Dame des Hauses, hatte eine Menge Gäste, die Wests gegenüber ebenso. Louise und Pearlie gingen hinüber, um zu plaudern, doch da Senior Epstein und Trudy mit den Wests feierten, blieb Juts, wo sie war. Wenn möglich, ging sie den Epsteins aus dem Weg.

Die älteren Damen - Cora, Ramelle und Fannie Jump, die langsam taub wurde - saßen auf Schaukelstühlen auf der Ve­randa. Extra Billy, Doak und die anderen jungen Männer tum­melten sich auf dem Rasen vor dem Haus und spielten mit ei­nem Tischtennisball Baseball, nachdem sie zuvor in der Parade mitmarschiert waren. Ihre Freundinnen und Ehefrauen spielten Hufeisenwerfen. Vaughn war im Hufeisenwerfen nicht zu über­treffen, er schlug sie alle vom Rollstuhl aus. Die meisten Kinder kreischten und jagten einander, unter dem immergleichen Vor­wand, eins hätte das andere geschubst oder eins hätte mehr Eis gekriegt als das andere. Die Mütter kümmerten sich nicht dar­um.

Pearlie heizte den großen Grill aus Ziegelsteinen an, den er und Chessy vor Jahren gebaut hatten. Ganz Runnymede war sich einig, daß er die besten Steaks in der Stadt brutzelte. Juts und Louise brachten gemeinsam Platten mit Speisen zu Cora, Ramelle und Fannie Jump und versorgten alle mit Getränken.

Ein regelrechtes Erdbeben hatte die Stadt erschüttert, als die Versicherungsgesellschaft O. B. Huffstetler als den von den Rifes angeheuerten Brandstifter identifizierte. Ramelle weigerte sich, ihn zu entlassen, solange er nicht eindeutig überführt war. Sie wußte nicht, was sie tun würde, wenn er sich tatsächlich als der Übeltäter herausstellen sollte.

Die Kapellen marschierten an diesem Morgen unter wolkenlo­sem Himmel. Die Veteranen teilten sich auf, je nachdem, in welchem Krieg sie gekämpft hatten. Jeder Politiker aus den beiden Bezirken war in einem Cabriolet gekommen, und die Schönheitsköniginnen winkten allen zu. Die Geschäftsleute warben mit Festwagen für ihre Waren, der Wagen des Installa­teurs stellte ein riesiges Klo dar, was zu allerlei Bemerkungen Anlaß gab.

Ein langes Transparent war straff über die Ziellinie des Sei­fenkistenrennens gespannt.

Juts sah auf die Uhr und schlich sich fort, was in dem Tumult leicht zu bewerkstelligen war. Nickel, die Schutzbrille im Ge­sicht, die Haare unter eine Baseballkappe der York White Roses gestopft, eilte mit ihr. Da sie bei den Kleinen mitfuhr, würde sie zeitig starten.

Bevor Juts sie bei ihrer Kiste zurückließ, flüsterte sie: »Kopf runter.«

»Okay.«

»Und mit niemandem sprechen, sonst verrät dich deine Stim­me. Viel Glück.«

»Danke.« Nicky war ganz flau im Magen.

Als Juts wieder an der Ziellinie war, tuschelte sie mit Chessy, der sich kurz vom Grill entfernt hatte. Louise scheuchte alle auf den Bürgersteig oder die Veranda, je nachdem, was ihnen lieber war.

»Wo ist Nicky?«

»Irgendwo in der Nähe.«

Louise bohrte weiter. »Sie hat noch nie ein Rennen verpaßt. Wo ist sie?«

»Wahrscheinlich auf der anderen Straßenseite. Da drüben ist Popeye. Siehst du ihn? Oje.« Sie zeigte auf den Reporter.

Louise ließ den Blick über die Menge auf der anderen Stra­ßenseite schweifen, dann bannte sie Juts mit ihrem Todesstrahl. »Sag bloß, du läßt sie.«

»Ach, du spinnst doch.«

»Ich kenne dich. Du bist doch ein offenes Buch für mich!« Louise sprang auf und ab, so aufgebracht war sie.

»Reg dich ab, Wheezie, es ist bloß ein Seifenkistenrennen, Herrgott noch mal. Sie kandidiert nicht für die Präsidentschaft.«

Der Ansager verkündete: »Und im dritten Lauf Jackson Frost, Nummer zweiundzwanzig, und Roger Davis, Nummer einund­sechzig - und los!«

Als Nicky nach einem großartigen fliegenden Start den Hügel hinunterdonnerte, wußte Louise genau, wer in Wagen zweiund­zwanzig saß.

»Das ist eine Schande«, wetterte Louise. »Halt sie auf.«

»Ich halte gar nichts auf.«

»Das ist nicht fair gegenüber Roger Davis. Der Lauf wird nicht anerkannt.«

»Verdammt noch mal, Nicky nicht teilnehmen zu lassen, ist nicht fair gegenüber Nicky.« »Das ist ein anderes Paar Schuhe.«

»Von wegen.« Juts reckte den Hals, um die Kisten zu sehen. Nicky war in Führung. »Weiter so, zweiundzwanzig!«

Ringsum wurde gebrüllt.

»Das geht so nicht.« Louise stürmte zur Ziellinie. Sie hob die Arme.

Juts sprintete ihr nach und stieß sie aus dem Weg. Chessy stürmte über die Ziellinie, um Louise festzuhalten. So landeten sie auf der Straßenseite der Wests, und Trudy warf Chester einen innigen Blick zu. Für alle Fälle schubste Juts ihre Kontra­hentin.

Senior Epstein rief entrüstet: »Juts, lassen Sie doch die Ver­gangenheit ruhen.«

»Schlampe!«

»Alte Schlampe.« Trudy holte aus und knallte ihr eine.

Juts ballte die Faust und rammte sie Trudy in die Kinnbacken, daß sie rückwärts taumelte.

In dem vibrierenden Gefährt spannte Nicky alle Muskeln an. So schnell war sie noch nie im Leben gefahren. Sie spähte hoch und sah ihre Mutter und ihren Vater, Louise, Trudy und Senior in einer Rauferei, die von Minute zu Minute mehr Menschen einbezog. Sie ging vor Roger über die Ziellinie, schwenkte aber nach rechts, weil die Schlägerei sich bis auf die Straße ergoß. Das ratternde Gefährt hüpfte über den Bordstein, rollte auf zwei Rädern weiter, und Extra Billy und die anderen sprangen aus dem Weg. Gottlob besaß Maizie die Geistesgegenwart, Vaughn aus der Gefahrenzone zu schieben. Die Leute stieben auseinan­der wie Flipperkugeln. Die Smiths hatten eine verdammt gute Seifenkiste gebaut. Das Ding rollte immer noch und krachte schließlich in Louises hölzernen Fahnenmast.

Während Chester und Senior ihre Ehefrauen trennten, wand Louise sich los. Sie lief über die Straße, ihre Sandalen schlapp­ten bei jedem Schritt. Sie schob sich durch die Menge und zerr­te die benommene Nicky aus ihrer Siegerkiste.

»Wenn deine Mutter dir nicht beibringt, dich wie eine Dame aufzuführen, werde ich es eben tun!« Sie ließ ihre Hand auf Nickys Hinterteil klatschen.

»Mom!« Maizie packte ihre Hand.

»Das ist Nicky. Ich sage dir, das ist nicht Jackson Frost, es ist Nicky.«

Louise griff nach Nickys Schutzbrille. Sie riß den Kopf weg, und die Brille flutschte ihr wieder aufs Gesicht.

»Es ist Nicky.« Maizie klappte vor Staunen der Kinnladen herunter.

Nicky setzte ihre Brille ab. »Ich hab gewonnen!«

Billy, Vaughn, Doak und ihre Freunde lachten, und Billy hob Nicky auf seine Schultern.

Der Ansager, von dem Tohuwabohu in Kenntnis gesetzt, brummte: »Es gibt eine Disqualifikation im dritten Lauf. Der Sieger ist Roger Davis.«

»Ich hab gewonnen!«, schrie Nicky, die jetzt auf Billys Schul­tern stand. »Ich hab gewonnen!«

Juts, die von Chester und Pearlie über die Straße geschleppt wurde, fluchte, was das Zeug hielt. Als sie Nicky erblickte, klatschte sie in die Hände. »Ich habe gewußt, daß du's schaffst.«

»Sie haben sie disqualifiziert.« Louise spie die Worte förmlich aus.

»Ist mir egal. Sie hat gewonnen, und alle haben es gesehen. Nur das zählt.«

»Du verdirbst das Kind. Sie kann nicht dauernd meinen, daß sie tun kann, was ihr gefällt.«

»Ach, Mrs. Trumbull.« Extra Billy nannte seine Schwieger­mutter immer Mrs. Trumbull. »Das müssen Sie ihr schon las­sen, sie hat Mumm.«

»Und verstößt gegen die Regeln!« Louise hatte Flecken im Gesicht.

»Na und?« Juts war euphorisch, weil Nicky gewonnen und sie die vermaledeite Trudy Epstein endlich einmal vermöbelt hatte.

»Sie hat sich lächerlich gemacht«, sagte Louise.

»Besser, als wenn es jemand anders tut«, erwiderte Juts.

»Das Kind hat im Leben genug zu kämpfen, ohne daß du sie dazu anstiftest. Du hast nicht mehr Grips, als Gott einer Gans gegeben hat.«

Da riß ein Drähtchen in Juts' Kopf. »Wenn ich mich recht ent­sinne, Louise, bist du die Letzte, die über Gänse sprechen soll­te.«

Angst durchfuhr Louise. Sie rief »Feind hört mit!«, doch Juts war nicht mehr zu bremsen. »He, alle mal herhören, erinnert ihr euch an den Fliegeralarm? Das waren Kanadagänse. Louise hat wegen Kanadagänsen die Sirene gekurbelt und mich zu Ge­heimhaltung verpflichtet. So, Schwester, wie war das jetzt mit den Regelverstößen? Da kannst du doch mithalten!«

Louise stand da wie eine gerupfte Gans.

Der Aufruhr, den diese Enthüllung auslöste, übertraf den Tu­mult an der Ziellinie. Nicht nur die Geschichte erschien imCla­rion, sondern auch ein Foto der raufenden Hunsenmeirs. Popeye hatte wieder zugeschlagen.

82

Ganz die Dramadiva, trug Louise nach der Enthüllung am 4. Juli zwei Wochen lang einen schwarzen Schleier. Alle wußten, wer sich darunter verbarg.

Caesura Frothingham, inzwischen steinalt, erklärte, der Schleier sei eine große Verbesserung. Noe Mojo vermutete, Louise sei in Trauer.

Juts, die zunächst dachte, sie würde von Vorhaltungen ver­schont bleiben, stellte fest, daß sie so köstlich munden mußten, daß die Leute ihr mit Freuden auch welche zuteil werden ließen.

Orrie Tadja Mojo drohte Juts mit dem Finger und sagte, sie habe ihre Schwester verraten. Worauf Juts sie anblaffte, von Louises bester Freundin erwartete sie nicht, fair behandelt zu werden.

Ev Most, von einer ihrer vielen Reisen zurück, verteidigte Juts, vertraute jedoch ihrem Mann an, daß Julias Freundin zu sein zuweilen sehr strapaziös sei.

Mutter Smith schrieb einen Brief an den Herausgeber der Trumpet, in dem sie sich über Funktionsträger beschwerte, die blinden Alarm schlugen. Sie führte den Bezirksbeauftragten von York auf der Pennsylvania-Seite an, doch ganz Runnymede wußte, daß Louise und Juts gemeint waren.

Das wurmte Cora, die Juts einen Brief an den Herausgeber des Clarion diktierte. Darin hieß es: »Josephine redet Scheiße.«

Walter Falkenroth rief Cora an und empfahl, den Brief umzu­formulieren. Ramelle, die einen kühleren Kopf bewahrte, half ihr, und der Brief erschien einen Tag nach Josephines Attacke.

Er lautete: »Louise Trumbull und Julia Ellen Smith haben ei­nen Fehler gemacht. Wir sind froh, daß es keine deutschen Flugzeuge waren.«

Am nächsten Tag erschien ein Brief von Juts, in dem sie schrieb: »Louise hat's vermasselt. Ich hab's vertuscht. Wenig­stens hatten wir ein bißchen Abwechslung.«

Daraufhin machte Louise ihrem Unmut gründlich Luft. Die Bewohner von Maryland schickten ihre Antworten stets an die Zeitung von Maryland, deren Auflage nach oben schnellte. Louises ausführliche Antwort mußte auf zwei Absätze gekürzt werden. Die letzte Zeile lautete: »Ich würde für mein Vaterland sterben.«

Beim Herrenfriseur wurde gescherzt, das würde sie mögli­cherweise müssen.

DasCurl 'n' Twirl platzte beinahe vor Klatsch über die Schwestern und Neuigkeiten von der Brandstiftung: O. B. hatte abgestritten, das Lagerhaus angezündet zu haben, und den teu­ren Edgar Frost beauftragt, ihn zu verteidigen. Man mutmaßte, daß das Geld vom alten Julius Rife kam.

Vaughn machte Maizie einen Heiratsantrag, doch angesichts der geladenen Atmosphäre beschlossen sie zu warten, bevor sie es öffentlich bekannt gaben. Nicht einmal Louise wußte davon.

Cora erklärte ihren Töchtern in aller Ruhe, wenn sie nicht zu­sammen gehängt würden, dann würden sie getrennt hängen. Darauf setzten sich beide Schwestern, von Cora am Schlafitt­chen gepackt, an ihren Küchentisch und schrieben noch einen Brief an denClarion. Diesmal entschuldigten sie sich für jegli­che Unannehmlichkeiten, die sie den Bürgern von Runnymede bereitet haben mochten.

Als sie den Brief unterschrieben hatten, ließ Cora sie los.

Mürrisch blieben sie am Tisch sitzen.

»Mädchen, ihr stellt die Geduld aller lebendigen Heiligen auf die Probe.«

»Ich hätte unser Geheimnis mit ins Grab genommen.« Louise berührte das kleine goldene Kreuz, das um ihren Hals hing.

»Wenn du stirbst, Wheezie, bist du so alt, daß du alles verges­sen hast. Nur die Guten sterben jung.«

Louise beschwor ihre Mutter, die sich vor ihnen aufgebaut hatte. »Da hast du's; was für eine Klugscheißerin. Setzt immer noch eins drauf. Ich hasse sie.«

»Du hast angefangen.«

»Hab ich nicht.«

»Louise, du bist einundfünfzig Jahre alt.«

»Mutter!«, winselte Louise.

»Julia, du bist jetzt siebenundvierzig. Das ist keine Art, sich aufzuführen.« »Ich hab ihr gesagt, sie soll Nicky nicht am Rennen teilneh­men lassen. Mit ihr ist nicht zu reden. Sie hört nie zu«, jammer­te Louise.

»Es ist ungerecht. Wenn Nicky ein Rennen fahren will, dann soll sie fahren. Wir haben kein Verbrechen begangen, Louise.«

»Und dann hast du auch noch Trudy Epstein geschubst. Nicht genug damit, zuzulassen, daß sich das Kind als Junge ausgibt, du mußtest auch noch in aller Öffentlichkeit auf diese Frau los­gehen.«

»Sie hat gesagt, er sei nur aus Pflichtgefühl bei mir geblieben. Daß er in Wirklichkeit sie liebt. Blöde Pute.«

»Hat sie das wirklich gesagt?« Louise beugte sich vor.

»Wenn du nichtUnsere Liebe Frau von den Schleiern gespielt hättest, hätte ich dir alles erzählt, aber du sprichst ja seit dem 4. Juli nicht mit mir. Es gibt vieles, was du nicht weißt«, sagte Julia geheimnisvoll. Sie wußte, daß sie damit Louises Neugier weckte.

»Aber warum hat sie das vor allen Leuten gesagt? Sie gibt sich doch sonst solche Mühe, rechtschaffen zu sein, die Ärm­ste.« Louise hatte nicht viel für Trudy übrig.

»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Vielleicht dachte sie, daß sie damit durchkommt. Daß es außer mir niemand hört.«

»Hat es jemand gehört?«

»Den Anfang nicht, aber als ich ihr eine geschmiert habe, klar, da haben es alle gehört, weil sie gleichzeitig mit dir rumge­schrieen hat, Wheezie.«

»Ich habe nur versucht, einer peinlichen Situation zuvorzu­kommen.«

»Deswegen bist du mitten auf die Straße gerannt? Um einer peinlichen Situation zuvorzukommen? Raffiniert«, erwiderte Juts trocken.

»Du wolltest ja bei Nickel nicht einschreiten.«

»Nein, weil ich nicht fand, daß wir was Unrechtes taten.«

»Jungs machen, was Jungs machen, und Mädchen machen, was Mädchen machen.«

»So ein Quatsch.«

»Als Nächstes will sie noch bei den Orioles mitspielen. Na, warum eigentlich nicht? Wieso du dich überhaupt mit dieser Zweitligamannschaft abgibst, die auf dem letzten Loch pfeift, werde ich nie begreifen.«

»Wart's nur ab, Louise, eines Tages wird Baltimore wieder in der Ersten Liga spielen. Genau wie vor dem Ersten Weltkrieg. Wir werden eine richtig gute Mannschaft haben, und dann kön­nen wir die Yankees schlagen.«

»Träum schön weiter, Schwesterherz.«

»Wollt ihr zwei euch wohl vertragen! Mir ist es egal, wer in Baltimore bei was gewinnt. Ich will das hier jetzt bereinigen. Kein Ablenkungsmanöver.« Cora holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück.

»Was gibt's da zu bereinigen? Wir haben den Brief geschrie­ben.« Juts setzte sich seitlich auf ihren Stuhl.

»Du hast gesungen. Das gibt es zu bereinigen. Wir würden sonst nicht in diesem Schlamassel stecken. Julia, es steht auch noch in anderen Zeitungen. Die Leute lachen über uns!«

»Laß sie doch. Wenigstens lachen sie - und weinen nicht. Ich erweise der Öffentlichkeit einen Dienst.«

»Auf meine Kosten«, schmollte Louise.

»Ich hab nicht gesagt, daß Gänse deutsche Flugzeuge sind.«

Louise quollen schier die Augen aus dem Kopf, ihre Sehnen traten am Hals hervor. »Du hast mitgemacht! Das ist genauso schlimm wie falschen Alarm zu schlagen.«

»Seid still, alle beide. Zweimal Unrecht ergibt nicht Recht.«

»Ja, aber warum soll ich dafür büßen, daß sie so blöd war?«

»Julia Ellen, das ist keine Art, um diese Wunde zu heilen.«

Louise schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wunde? Wunde? Ich sag dir, was das ist, das ist ein Dolchstoß in den Rücken, von meiner Schwester, vor aller Welt! Wo bleibt deine christliche Nächstenliebe? Oh, ich erwarte nicht, daß du eine liebevolle Schwester bist. Nein, dazu kenne ich dich zu gut. Du zuerst, alle anderen zuletzt, aber um der christlichen Nächsten­liebe willen hättest du mir diese Demütigung ersparen können.«

»Es gab nur einen Christen, und der starb am Kreuz.« Julia stimmte mit Nietzsche überein, ohne daß es ihr bewußt war. Ihr gefiel der Ausspruch einfach.

»Julia.« Coras Ton war streng.

»Sie hat mir vorgeworfen, ich sei eine schlechte Mutter!« Juts stand auf. »In ihrem Vorgarten, mit Millionen Leuten drumrum. Ich laß mir den Mist keine Minute länger gefallen. Sie kann von Glück sagen, daß ich sie nicht umgebracht habe.«

»Ich habe nicht gesagt, daß du eine schlechte Mutter bist.«

»Und ob du das gesagt hast.«

»Ich habe gesagt, du stiftest Nicky an, gegen die Regeln zu verstoßen. Und« - sie gebot mit erhobener Hand Schweigen - »daß sie auch so schon genug durchzustehen hat.«

»Ach, nun bist du wohl Schwester Toleranzia? Das ist dassel­be wie zu behaupten, daß ich eine schlechte Mutter sei, was du hinter meinem Rücken sowieso tust. Mir kommt alles zu Ohren, weißt du. Alles, was du sagst, kommt mir zu Ohren. Wir sind schließlich in Runnymede. Das Letzte, was an den Leuten hier stirbt, ist ihr Mundwerk. Wahrscheinlich tratschen die Toten beim Bestattungsunternehmer weiter.«

»Ich habe nie gesagt, daß du eine schlechte Mutter bist.«

»Wie bitte? Mir scheint, ich hör nicht richtig.«

»Ich habe das nicht gesagt! Ich habe gesagt« - und sie klang wie eine Anwältin vor Gericht - »daß du eine besonders schwe­re Last zu tragen hast, weil Nicky nicht dein Kind ist.«

»Du hast gesagt, ich muß ein Kind haben. Nun hab ich eins.«

»Aber sie ist nicht deins.«

»Ich bin trotzdem eine Mutter!«

»So was Ähnliches.«

»Louise, das ist schlicht und einfach Blödsinn«, warf Cora ein.

»Ja, weil sie es nämlich war, die mir dauernd in den Ohren lag, ich würde nie wissen, was Glück ist, wenn ich kein Kind hätte. Schön, ich hab eins. Was fang ich jetzt damit an?«

»Da hast du's« - Louise zeigte auf ihre Schwester, sah aber ihre Mutter an -, »so spricht keine richtige Mutter.«

»Wie oft bist du zu mir gekommen und hast mir was vorge­jammert über deine Mädchen. Du wirst langsam vergeßlich.« Cora taten die Füße weh. Sie setzte sich. Das hier würde wohl noch länger dauern.

»Ich bin eine Mutter. Ich seh nicht, was daran so großartig ist. Es ist ein Haufen Arbeit. Und du hast mich dazu überredet.« »Hab ich nicht. Seit deiner Hochzeit warst du am Jammern, daß du ein Kind willst. Und hab ich dir nicht gesagt, du sollst ihn nicht heiraten? Er wird die Welt nie erobern.«

»Er hat mich erobert.«

»Oh, ich vergaß.« Louise schürzte die Lippen.

»Er ist ein guter Mensch. Er hat einen Fehler gemacht, aber er ist ein guter Mensch.« Cora mochte Chester.

»Du hast ihn geheiratet, um seiner Mutter eins auszuwischen«, erwiderte Louise.

»Gar nicht wahr. Die Zimtzicke ist mir vollkommen schnup­pe.«

»Ich geh nach Hause«, verkündete Louise.

»Nicht, bis ihr euch vertragt.«

»Wie kann ich mich mit ihr vertragen? Sie ist unmöglich. Sie hat an die Zeitung geschrieben, daß ich Schuld war. Schlimm genug, daß sie ihre große Klappe aufgerissen hat, da hätte sie es nicht auch noch schriftlich verbreiten müssen.«

»Das hab ich nicht geschrieben. Ich hab geschrieben, du hast es vermasselt und ich hab's vertuscht. Eins so schlimm wie das andere.«

»Ach ja?« Louise verschränkte die Arme.

»Jawohl. Und ich hätte das alles nicht getan, wenn du dir nicht wegen Nicky ins Hemd gemacht hättest.«

»Ich hab aber Recht. Mom, sag ihr, man kann Kinder nicht machen lassen, was sie wollen. Das Rennen ist für Jungs.«

»Ich fand es lustig.«

»Momma!«

»Ach, Louise, was Mädchen und Jungs tun, das ist wie die Mode. Das ändert sich. Zu meiner Zeit hat keine Frau ihre Fes­seln gezeigt, schon gar nicht die Waden. Heute rennen die Leute halb nackt herum. Frauen gehen ohne Hut.« Cora zuckte die Achseln.

Louise warf ein: »Manche Dinge ändern sich nie.«

»Nenn mir eins«, forderte Juts sie auf.

»Der Tod.«

»Okay, noch eins.«

»Frauen gebären Kinder und Männer nicht.«

»Das macht zwei.« »Steuern.«

»Die ändern sich. Als ich jung war, gab es keine Steuern. Und so sollte es wieder sein.« Für Cora war die Regierung eine scheinheilige Diebesbande.

»Noch mehr Dinge, die sich nie ändern?« Julia piekste sie mit dem Finger.

»Faß mich nicht an. Die Sonne geht im Osten auf.«

»Das zählt nicht. Menschliche Dinge.«

Louise überlegte, dann hob sie die Hände. »Mir fällt nichts mehr ein. Aber ich meine immer noch, du hast Unrecht.«

»Ich nicht.«

»Das ist doch nicht so wichtig. Gebt euch die Hand und ver­tragt euch.«

»Ich geb ihr nicht die Hand, bis sie aufhört, mir vorzuschrei­ben, wie ich mein Kind zu erziehen habe.«

»Du fragst mich um Rat, und dann beschwerst du dich, wenn ich ihn dir gebe.«

»Komm schon, Louise.«

»Du eignest dich nicht zur Mutter.«

»Ein bißchen spät, um noch was dran zu ändern!«

»Sie hat Recht, Louise. Das Kind ist da.«

»Und der Schaden ist angerichtet.«

»Oh, großartig, jetzt ist Nicky geschädigt.«

»Ich habe nicht Nicky gemeint. Ich meinte, daß du das mit den Kampfflugzeugen an die große Glocke gehängt hast.«

»Ich finde, wir sind quitt.«

»Das sehe ich auch so. Jetzt gebt euch die Hand und vertragt euch, und um Gottes willen haltet endlich den Mund.«

Widerwillig gaben sich die beiden Schwestern die Hand.

Als Cora an diesem Abend in den Schlaf hinüberglitt, fragte sie sich, ob sie eine gute Mutter gewesen war. Sie konnte ihre beiden Töchter nie zu der Einsicht bewegen, daß sie beide ins selbe Horn tuteten.

83

»Guck mal.« Nicky reichte Juts ein gelb gebundenes Handbuch.

»Sie wird begeistert sein.« Juts lachte und klemmte sich das Vollständige Gitarrengebetsbuch unter den Arm. »Tante Whee­zie kann alles spielen.«

»Auch Mundharmonika?« Nicky zog ein Mundharmonika­buch hervor.

»Darüber ist sie erhaben. Komm weiter, wir müssen eine Bü­chermappe für dich finden.«

»Aber ich möchte ein Buch für Daddy.«

»Daddy ist nicht gerade eine Leseratte, Herzchen.«

»Aber er liest mir vor.«

»Das ist was anderes. Du mußt lernen, daß nicht alle die Din­ge mögen, die du gern hast. Daddy würde sich bestimmt über eine neue Fliege freuen. Wir gehen nachher ins Bon-Ton.«

»Okay.«

Hand in Hand schlenderten sie durch den Gang zur Abteilung für Schulbedarf. Rote Büchermappen, blaue, hellbraune, sogar knallgrüne, füllten eine Reihe im Regal. Juts nahm eine in die Hand und legte sie zurück. Sie war viel zu groß.

»Die hier gefällt mir, Momma.«

Juts nahm die knallrote Leinenmappe und machte sie auf. In der Klappe war Platz für Stifte und ein Lineal. Die große Innen­tasche war zweigeteilt. Der Riemen aus stabilem Gurtband soll­te wenigstens ein Schuljahr halten. Sie sah nach dem Preis: $ 6,95. Das war etwas mehr, als sie ausgeben wollte.

»Halt sie mal.«

»Die gefällt mir«, wiederholte Nicky.

»Mir auch, aber laß mich die anderen noch angucken. Die hier ist ein bißchen teuer.«

Sie stöberte herum, konnte aber keine finden, die ihr besser gefiel. Die Billigeren waren zu schäbig, die Teureren kamen nicht in Frage.

Nicky hielt den Mund. Sie hatte gelernt, daß es nichts half, ih­re Mutter zu bedrängen.

»Schön, ich kaufe sie, wenn wir dafür auf etwas anderes ver­zichten.«

»Ich brauch kein neues Kleid«, sagte Nickel, die Kleider nicht ausstehen konnte.

»Ein großes Opfer.« Juts lachte, dann erspähte sie Louise, die gerade die Eingangstür zu dem Discount-Laden aufstieß. »Hier, nimm das, Louise soll es nicht sehen.« Sie gab Nicky dasVoll­ständige Gitarrengebetsbuch zurück. »Was machst du hier?« Sie winkte Louise zu.

»Hallo, Nicky.«

»Hallo, Tante Wheezie.«

»Wir sind in der Kirche früher fertig geworden. Das ist das erste Mal seit der Gründung, daß eine Versammlung des Da­menvereins zur Besserung im Namen Jesu zeitig aufgehört hat.«

»Du hast dich gebessert, wo du kannst.« Juts zwinkerte Nicky zu, dann hakte sie Louise unter. »Ich möchte dir etwas zeigen.« Hinter ihrem Rücken gab sie Nicky per Handzeichen zu verste­hen, sie solle die Büchermappe und das Buch zur Kasse brin­gen. Als Juts und Louise hinzukamen, hatte Verna BonBon, noch eine aus der umfangreichen Sippschaft, die Sachen schon in eine braune Papiertüte gesteckt. Louise kaufte ein Paar koral­lenrote quadratische Ohrringe mit einem präparierten Seepferd­chen in der Mitte.

Sie traten in die Hitze der letzten Augusttage hinaus.

»Wo geht der Sommer hin?«, sagte Louise seufzend. »Bald haben wir schon September.«

»Ich weiß es nicht, aber er vergeht jedenfalls schneller als der Winter.« Juts deutete auf eine Parkbank. »Setzen wir uns. Nicky möchte dir ein Geschenk machen.«

Nicky zog eifrig das Vollständige Gitarrengebetsbuch hervor.

»Das ist aber nett.« Louise küßte sie auf die Wange, dann schlug sie das Buch beiHeilig, heilig, heilig< auf. »Das ist einfach. Oh, Maizie und ich können im Duett spielen. Ich spiele Klavier. Sie verliert sich zu sehr am Klavier.«

»Momma sagt, Maizie sieht genauso aus wie du.« Nickel streckte die Füße auf der Parkbank von sich. »Aber ich seh nicht aus wie meine Momma.« »Ich glaube, Maizie und ich sehen uns wirklich ähnlich. Und Juts und ich haben eine starke Ähnlichkeit. Sie hat das hübsche­re Lächeln.«

Juts erwiderte das Kompliment. »Du hast die schöneren Haa­re.«

»Ich finde euch beide hübsch. Wenn ich groß bin, will ich aussehen wie ihr.«

»Wenn du groß bist, siehst du aus wie du. Und wie wir heute aussehen, wird bis dahin sowieso so aus der Mode sein, daß du darüber lachst.«

»Meinst du?«

»Meine ich«, erwiderte Juts.

»Weißt du noch, diese gräßlichen hohen Knöpfstiefel, die wir immer getragen haben? Das hielten wir damals für den letzten Schrei.« Louise lachte.

»Ja.« Juts lächelte. »Weißt du, woran ich mich erinnere? Als wir klein waren, ging eine Dame im Sommer nicht ohne Son­nenschirm aus dem Haus. Eigentlich war es doch hübsch, mit Mom über den Platz zu gehen, und alle Damen hatten Sonnen­schirme in verschiedenen Farben - manche mit Spitze, andere mit Rüschen. Damals wußte man sich noch zu kleiden. Wenn das so weitergeht, trägt man überhaupt nichts mehr, wenn Nik­ky groß ist.«

»Der menschliche Körper wurde geschaffen, sich zu bedecken. Im Garten Eden.«

Juts unterbrach sie. »Der Garten Eden hat damit nichts zu tun. Kannst du dir Josephine Smith nackt vorstellen?«

»Lieber nicht.«

»Und Walter Falkenroth, dürr wie eine Bohnenstange?«

Louise schüttelte angewidert den Kopf.

»Und dann Caesura Frothingham, wahrscheinlich, als würde man einen Elefanten sehen, mit vielen Runzeln. Sie muß fünf­undneunzig sein, mindestens.«

»Und Harmon Nordness?«

Darauf brachen sie in schallendes Gelächter aus, denn die Wampe des Sheriffs gewann jedes Jahr an Umfang. Bald würde er beim Gehen seinen Bauch auf einem Karren vor sich her schieben müssen.

Nicky betrachtete ihre Beine; die goldenen Härchen reflektier­ten das Sonnenlicht. »Und ich?«

»Das ist was anderes. Kinder sind schön«, antwortete Louise.

»Peepbean nicht.«

»Er sähe gar nicht übel aus, wenn man seine Zähne richten ließe.«

»Wahre Schönheit kommt von innen«, zitierte Juts.

»Hübsch ist, was gefällt.«

Beide Schwestern schnippten mit den Fingern und sagten: »Der Schein trügt.« Dann lachten sie.

»Das sagt G-Mom immer.« Nickel lachte mit ihnen.

»Wir sollten ihre Sprüche aufschreiben. Sie hat ständig Le­bensregeln zitiert. Ab und zu läßt sie eine vom Stapel, als wären wir noch Kinder.« Julia streifte ihre Espadrilles ab; ihre Füße brannten.

»Sind wir wohl auch noch; für sie werden wir immer Kinder bleiben, genau wie Mary und Maizie für mich immer Kinder bleiben werden.«

»Momma, was sind das für Regeln?« Nicky sprang von der Bank. Die harten Latten taten ihr am Hintern weh. Sie war da nicht gut gepolstert.

»Regeln. Okay, hier sind ein paar Verkehrsregeln:Steh immer zu deinem Wort. Verrate nie einen Freund. Trage jede Nieder­lage mit Fassung. Mehr fallen mir nicht ein.«

»Such dir deine Freunde mit Sorgfalt aus. Du kannst nicht je­dermanns Freund sein. Das geht nicht«, fügte Louise hinzu.

»Wie lautet die goldene Regel?«, fragte Juts Nickel.

»Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem an­deren zu.«

»Falls du die Übrigen mal vergißt, hilft dir das Sprichwort. Aber leicht ist es nicht. Puuh, ich muß was trinken. Gewöhnlich macht mir Hitze nichts aus, aber heute schafft sie mich.« Juts stand auf. Sie gingen in Richtung Cadwalder, Nickel stürmte außer Hörweite voraus.

»Nicky dachte, das Gitarrenbuch könnte dir gefallen. Sie kann so süß sein. Ich hab's nicht über mich gebracht, ihr zu sagen, du möchtest lieber etwas anderes; sie hat es nämlich ganz allein ausgesucht.« »Sie ist ein kluges Köpfchen.«

»Ich wollte ihr das Würfelpuzzle mit der Laus kaufen. Alle Kinder sind verrückt nach dem Spiel, aber ihre Büchermappe hat sechs fünfundneunzig gekostet, so muß sie mit dem Spiel noch etwas warten. Sie nennt Peepbean Laus, was schon mal besser ist alsArschloch. <«

»Wenn du aufhören würdest zu fluchen, würde sie diese Aus­drücke nicht aufschnappen.«

»In Runnymede fluchen alle. So vergeudet man keine Zeit damit, nach dem richtigen Wort zu suchen.«

»Ich fluche nicht.«

»Hatte ich vergessen.«

»Ich nicht.«

Juts ging nicht weiter darauf ein. Ihr Blick ruhte auf Nickel, die jetzt über den Platz hüpfte, der ihr riesig vorkommen mußte. »Sie ist eine Wucht, nicht? Ich liebe sie.«

»Das ist es, was sie brauchen. Wenn mehr Kinder geliebt würden, hätten wir viel weniger Ärger auf dieser Welt.«

»Ich bemühe mich, eine gute Mutter zu sein.«

»Ich weiß. Bist du auch, Juts. Ich hacke wegen Kleinigkeiten auf dir herum, aber im Großen und Ganzen, doch, du bist eine gute Mutter. Kinder können einen zum Wahnsinn treiben. All­mählich denke ich, jede Mutter, die ihre Blagen nicht erwürgt, ist eine gute Mutter.« Sie winkte Lillian Yost zu, die am Park­rand vorbeiging.

»Chester geht so toll mit ihr um. Komisch, wenn ich ihn mit Nicky spielen sehe, liebe ich ihn um so mehr. Ich fange an, ihm wieder zu trauen.«

»Männer spielen mit Kindern, weil sie selbst Kinder sind.«

»Du bist manchmal zu streng mit den Männern.«

»Ha!«, schnaubte sie. »Zeig mir die Frau, die die Einkom­mensteuer erfunden hat. Na?«

»Eins zu null für dich.«

»Guck mal!«, rief Nicky, dann schlug sie ein Rad.

»Gut gemacht«, rief Juts. »Mir spukt eine Coca-Cola im Kopf herum. Komm, Nicky.« An der Ecke blieben sie stehen, sahen nach rechts und nach links, dann sprinteten sie zu Cadwalder hinüber.

Nachdem sie mit Flavius Cadwalder geplaudert hatten und auch mit Vaughn, der, ohne irgend jemanden einzuweihen, nicht einmal seinen Vater, am Abend Paul aufsuchen wollte, um seine Absichten kundzutun, gingen die drei erfrischt hinaus.

»Er wird um ihre Hand anhalten.« Louise, mit treffsicherer Intuition, war nervös.

»Besser als ihren Fuß«, witzelte Juts, und Nicky mußte ki­chern. »Gräm dich nicht so, Wheezie. Es ist gut so. Man hat es im Gefühl, wenn es stimmig ist.« Sie gingen zur Lee Street, wo Juts abbiegen würde, um nach Hause zu gehen.

»Schon möglich.«

»Hier ist unsere Ecke«, erklärte sie überflüssigerweise.

Louise blieb einen Moment stehen, dann platzte sie heraus: »Wenn du eine bessere Antwort hast, sag sie mir.«

»Worauf?« Julia war perplex.

»Weiß ich nicht.« Louise rang die Hände. »Manchmal habe ich das Gefühl, als würde eine Welle über mir zusammenschla­gen, und ich bin ganz krank vor Sorgen - um Vaughns Gesund­heit und.«

»Louise, zwei Jahre mit dem richtigen Mann sind besser als zwanzig mit dem falschen. Jetzt mach dich mal nicht verrückt. Wirklich. Sieh doch, wie gut es mit Mary und Extra Billy geht.«

»Sie zanken sich manchmal wie Hund und Katze.«

»Wer nicht?«

»Paul und ich haben uns nie so gezankt.«

»O doch. Ich weiß noch, einmal hat er das Auto genommen, hat sich betrunken, ist ewig weggeblieben, und Chessy mußte ihn suchen gehen.«

»Celeste hat ihn auf ihrem Pferd nach Hause gebracht.« Loui­se mußte lachen, als sie daran dachte.

»Wenn man für jemanden Gefühle hegt, können die sich er­hitzen. Besser, als kalt zu bleiben, oder?«

»Ich weiß.« Louise standen Tränen in den Augen. »Juts, wer­den wir langsam alt?«

Juts zuckte die Achseln. »Ich fühle mich nicht alt.« Sie legte den Arm und die noch mädchenhaft schmale Taille ihrer älteren Schwester. »Fühlst du dich alt?«

»An manchen Tagen fühle ich mich wie hundert, und ich weiß nicht mal warum. Und die seltsamsten Dinge schwimmen durch meinen Kopf, wie kleine Boote. Ich erinnere mich an Aimes und wie sehr Mom ihn geliebt hat.« Coras Freund war 1917 gestorben. »Ich erinnere mich an Celeste, wie sie ihr Kinn ge­hoben hat, ohne ein Wort, bloß das Kinn gehoben, und dann tat man besser daran, zu parieren. Ich erinnere mich an die Stroh­hüte, die wir einmal Ostern getragen haben. Du hast von mei­nem die Bänder abgerupft, und ich habe geheult. Ich erinnere mich, wie ich Mary das erste Mal im Arm hielt und dachte, dieses runzlige rote Gesicht ist das Schönste, was ich je gesehen habe. Oh, und ich erinnere mich an die Schlagzeilen imClarion und in derTrumpet, als die Titanic untergegangen war, und die Liste mit den Vermißten, die jeden Tag vor dem Zeitungsge­bäude angeschlagen wurde.« Ihre Stimme verklang, und sie machte eine zaghafte Handbewegung, als versuchte sie, die Flut von Emotionen aufzuhalten.

»Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal Flieder gerochen habe.« Juts lächelte, dann umarmte sie Louise. »Wir sind wan­delnde Enzyklopädien.«

»Aber es ist ein einziges Kuddelmuddel.«

»So sieht es in allen Köpfen aus. Wenn du jemanden fragen würdest, was er vor zwei Tagen zum Frühstück oder zu Mittag gegessen hat, könnte er es dir nicht sagen.«

»Harmon Nordness schon. Idabelle McGrail hätte es vor zwei Wochen auch noch gewußt, als sie noch lebte.«

»Du weißt, was ich meine.«

»Ich weiß, aber Juts, was passiert, wenn wir nicht mehr da sind?« Ein Hauch von Verzweiflung lag in der Luft.

»Wie meinst du das?«

»Was geschieht mit den Erinnerungen, mit allem, was ich ge­sehen und gehört und getan und gelernt habe? Puff.« Tränen liefen ihr über die Wangen. Nicky griff nach ihrer Hand. Sie konnte niemanden weinen sehen. Louise drückte ihre Hand, konnte aber nichts sagen.

»Ich habe da eine Theorie« - Juts lächelte, um Louise aufzu­heitern -, »daß es im Himmel eine gigantische Bank gibt, die Erinnerungsbank. Alles wird dort gespeichert, und wenn ein Neuzugang wie Nicky erfahren möchte, was du erfahren hast, konsultiert sie die Erinnerungsbank.«

»Julia, du spinnst.«

»Eine Bibliothek ist eine Erinnerungsbank.« Juts atmete den Geruch von frisch gemähtem Gras ein. »Ein Lied ist eine Erin­nerungsbank. Das Lied>Der Mann, der die Bank von Monte Carlo sprengte< ist voller Erinnerungen für jemanden, der um die Jahrhundertwende gelebt hat, wie Momma. Nicky braucht es nur zu hören. Ich glaube, alles bleibt hier, in der einen oder anderen Form.«

»Nur wir nicht.«

»Tja, nur wir nicht. Wir müssen wohl den Frühjahrstrieben Platz machen. Hansford hat uns Platz gemacht, sogar Idabelle McGrail, das dumme Stück. Sie sind abgetreten, damit wir an­treten konnten.«

»O Juts«, flehte Louise, »ich will nicht abtreten. Ich will nichts verpassen - niemals.«

»Nur die Guten sterben jung, Louise. Keine Bange.«

Louise schwieg eine Minute, holte schniefend Luft und lächel­te dann durch ihre Tränen. »Wir werden ewig leben.«

»Ja.«

Die Schwestern gaben sich einen Kuß und trennten sich. Nik­ky nahm Juts' Hand. Sie war mucksmäuschenstill und sprach erst, als sie das Gartentor aufstießen. Buster kam ihnen steifbei­nig entgegen, und Yoyo sprang unter der großen blauen Horten­sie hervor.

»Momma, du wirst nicht sterben.«

»Nicht so bald, hoffe ich.«

»Und Tante Wheezie wird nicht sterben.«

»Ach, nein.« Juts bückte sich, um Buster zu kosen.

»Ihr alle werdet nicht sterben, weil ich mich an euch erinne­re.«

Juts lachte. »So ist es, mein Kind.«

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