Aminadabarlee litt unter den langen Nächten von Tenebra; aber die Männer, die während dieser Zeit mit ihm zu tun hatten, hatten noch mehr auszuhalten.
Der Drommianer konnte es kaum ertragen, um sich herum Menschen zu sehen, die mit den verschiedensten Arbeiten beschäftigt waren, von denen keine Einfluß auf die Rettung seines Sohnes hatte — und das zwei ganze Tage lang. Er ärgerte sich darüber, obwohl er genau wußte, daß nichts unternommen werden konnte, solange die Eingeborenen auf Tenebra zur Bewegungslosigkeit verdammt oder gar bewußtlos waren. Diese Überlegung hatte keinen Einfluß auf seine Gefühle, die ihm sagten, irgend jemand — oder eigentlich sogar jeder — müsse etwas tun.
Angesichts dieser Tatsache war es kein Wunder, daß Rich völlig damit ausgelastet war, Aminadabarlee bei einigermaßen erträglicher Laune zu halten.
Bisher war der riesige Drommianer noch nicht gewalttätig geworden, aber die meisten Wissenschaftler waren vorsichtig genug, ihm nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Die Zahl der Vorsichtigen erhöhte sich ständig, hatte Raeker festgestellt.
Raeker selbst machte sich in dieser Beziehung keine Sorgen denn er vertraute darauf, daß der Diplomat sich wie bisher beherrschen würde. Außerdem hatte er genügend zu tun und konnte sich nicht um anderer Leute Probleme kümmern. Zum Glück hatte der Roboter bisher noch nicht eingreifen müssen, um die hilflos treibenden Eingeborenen vor Meerestieren zu schützen, denn vorläufig waren noch keine aufgetaucht. In gewisser Beziehung war das eine Erleichterung, obwohl Raeker vom beruflichen Standpunkt aus enttäuscht war. Er hätte zu gern die geheimnisvollen Lebewesen gesehen, die in einer der vergangenen Nächte Nicks Herde dezimiert hatten.
Wenige Stunden später wurde die Strömung plötzlich so schwach, daß sie das Floß und die vier Passagiere nicht mehr bewegen konnte. Raeker brauchte den Roboter nicht mehr zu steuern und wäre fast in seinem Sessel vor den Bildschirmen eingeschlafen.
Als der Tag anbrach, verdampfte das überschüssige Wasser, und das Floß und seine Insassen stiegen langsam empor. Unglücklicherweise kenterte es jedoch dabei, so daß Raeker einige Stunden lang zusehen mußte, wie seine Schüler hilflos mit den Köpfen nach unten hängend im Meer trieben. Schließlich blieb das Floß in einem der zahlreichen Teiche, der nicht weiter austrocknete, so daß der Roboter eingesetzt werden mußte.
Der Teich war zum Glück so seicht, daß die Maschine das Floß ohne weiteres vor sich her bis ans Ufer schieben konnte. Als die vier Eingeborenen wieder atmen konnten, dauerte es nicht mehr lange, bis sie aus der Bewußtlosigkeit erwachten.
Unterdessen war auch der Bathyskaph aus dem Meer aufgetaucht. Er lag wie das Floß in einem Teich, saß aber auf Grund. Auf diese Weise fanden Easy und ihr Freund sich in einer Burg mit Wassergraben wieder, der für Swift und seine Leute ein unüberwindbares Hindernis darstellte.
Denn Swift war bereits erschienen, obwohl der abgetriebene Bathyskaph in der vergangenen Nacht eine beträchtliche Entfernung zurückgelegt haben mußte. Das Meer war nicht mehr zu sehen, berichtete Easy; der Sturm hatte das Schiff weit landeinwärts getragen. Sie schien sich aber trotzdem keine Sorgen zu machen, denn ihrer Erzählung nach kam sie glänzend mit Swift aus. Easy zuckte nicht einmal mit der Wimper, als Raeker Nicks Mißgeschick schilderte und hastig hinzufügte, daß die Eingeborenen sich jetzt in Sicherheit befanden.
Im Augenblick dachte Raeker nicht so sehr an die Rettung der beiden Kinder, sondern eher an die Notlage seiner Schüler. Gewiß, Nick, Betsey, Jim und Jane waren noch einmal davongekommen und hatten sogar die Karten und ihre Waffen gerettet — aber was war aus dem Lager geworden? Raeker fiel es schwer, Optimist zu bleiben, wenn er daran dachte, welche Schwierigkeiten der Verlust der Herde mit sich bringen konnte. Deshalb war er angenehm überrascht, als sich herausstellte, daß wenigstens der Karren mit den beweglichen Besitztümern der Gruppe noch an seinem Platz stand. Die Herde war nirgendwo zu sehen.
„Ich glaube, wir können etwas Zeit sparen“, sagte er schließlich, als feststand, welche Gegenstände noch zu gebrauchen waren. „Wir machen uns auf den Weg zur Küste und tragen das Floß mit. Der Karren bleibt hier, und wir hinterlassen eine Nachricht für die anderen, die uns entweder folgen oder ein neues Lager einrichten. Wir unternehmen die ersten Versuche mit dem Floß und suchen die Küste ab, bis es dunkel wird.“
„Wie meinst du das?“ erkundigte sich Nick. „Sollen wir nur so lange suchen, daß wir vor Anbruch der Dunkelheit dieses Lager erreichen, oder wollen wir die Suche erst bei Anbruch der Dunkelheit abbrechen?“
„Wir suchen so lange wie möglich und bewegen uns erst in der Dämmerung landeinwärts“, entschied Raeker.
„Dann müssen die anderen sofort nach ihrer Ankunft das Lager verlegen und zu uns nach Süden kommen. Ohne die Herde sind wir auf das angewiesen, was wir tagsüber erlegen.“
„Ohne die Herde? Ich dachte, Jim und Jane hätten einige Stück Vieh gefunden?“
„Richtig, aber längst nicht alle. Wir dürfen keine mehr schlachten, bevor nicht wieder Junge ausgeschlüpft sind. Diesmal waren nicht einmal Schuppen zu finden.“
„Vielleicht haben die Tiere sich nur verlaufen.“
„Möglich, aber das macht keinen Unterschied für uns. Wenn wir jetzt alle aufbrechen, können wir nicht nach ihnen suchen.“
Raeker überlegte angestrengt. Der Verlust der Herde bedeutete einen schweren Schlag für die Eingeborenen; die Ausbildung und Erziehung, die ihnen bisher vermittelt worden waren, genügten allein nicht, um aus Nomaden ein Kulturvolk mit geistigen Interessen zu machen. Ohne die Herde würden Raekers Schüler ihre Zeit damit verbringen müssen, sich nach Essen umzusehen und auf die Jagd zu gehen. Trotzdem würden sie überleben; Easy und ihr Begleiter mußten jedoch vermutlich sterben, wenn sie nicht bald gerettet wurden. Deshalb bestand das Problem eigentlich nicht darin, ob und wie viele Eingeborene nach der Herde suchen sollten, sondern wer von ihnen mit dem Floß an die Küste marschieren sollte.
Selbstverständlich war anzunehmen, daß zwei Eingeborene das Floß weniger als vier belasten und unter Umständen zum Kentern bringen würden. Andererseits konnten vier es rascher fortbewegen — Raeker fiel plötzlich ein, daß er vergessen hatte, mit Nick darüber zu sprechen, wie das Floß überhaupt fortbewegt werden sollte. Vermutlich würden die Eingeborenen Paddel herstellen müssen, denn auf einem praktisch windstillen Planeten war von Segeln nicht viel zu erwarten. Wenn das Floß aber mit Muskelkraft fortbewegt wurde, war es bestimmt besser, so viele Muskeln wie möglich zur Verfügung zu haben.
„Ihr macht euch jetzt alle auf den Marsch zum Meer. Das Problem mit der Herde können wir später lösen. Wenn das Floß euch nicht alle trägt, gehen die Überzähligen zurück und suchen nach dem Vieh.
Zunächst haben die Rettungsmaßnahmen den Vorrang.“
„Wird gemacht.“ Nick gab die zustimmende Antwort nicht so bereitwillig, wie Raeker annahm, denn schließlich hatte er sein ganzes Leben lang gehört, daß die Herde der wichtigste Besitz der Gruppe sei.
Wenn die Suche nach dem Bathyskaphen plötzlich noch wichtiger war, mußte der Lehrer großen Wert darauf legen; Nick war keineswegs dieser Meinung und machte sich deswegen Sorgen.
Die vier Eingeborenen konnten das Floß ohne Mühe transportieren, obwohl heftige Windstöße sie am Vorankommen hinderten — heute blies der Sturm noch heftiger als am Abend zuvor, überlegte Nick. In gewisser Beziehung war das sogar ein Vorteil; ein letzter Blick auf die wenigen Tiere, die jetzt die ganze Herde darstellten, zeigte ein riesiges Schwebetier, das von dem Wind weitergetrieben wurde und trotz aller Anstrengungen nicht wieder zu der fast hilflosen Herde zurück konnte. Nick wies seine Begleiter auf diese Tatsache hin, um zu verhindern, daß sie sich Sorgen machten, die nicht gerechtfertigt waren.
Als sie kurze Zeit später die wenigen Kilometer bis zur Küste zurückgelegt hatten, verloren sie keine Zeit, bevor sie das Floß ausprobierten. Sie trugen es in tieferes Wasser, setzten es ab und kletterten hinauf.
Es zeigte sich trotz der Belastung durch die vier Eingeborenen schwimmfähig — gerade noch. Die Luftkissen sanken so tief ein, daß die vier mit den Füßen im Meer standen. Trotzdem bestand die größte Schwierigkeit nicht darin, an der Oberfläche zu bleiben, sondern in dem labilen Gleichgewichtszustand der ganzen Konstruktion. Nicks Freunde waren zwar alle gleich alt, aber ihr Körpergewicht unterschied sich teilweise beträchtlich voneinander. Das Floß sank ständig an einer Seite tiefer ein, worauf die Eingeborenen sich hastig an die gegenüberliegende Seite zurückzogen, die nun ihrerseits zu sinken begann. Sie brauchten einige Minuten, bis sie gelernt hatten, wie sie ihr unterschiedliches Gewicht verteilen mußten, um allzu heftige Schwankungen zu vermeiden.
Etwas länger dauerte es allerdings, bis sie gelernt hatten, wie man mit den Paddeln umging, die sie unter Fagins Anleitung hergestellt hatten. Der Roboter selbst konnte hier nicht mehr viel ausrichten; wenn er an der Küste blieb, war auf den Bildschirmen nicht mehr deutlich genug zu erkennen, was sich auf dem Meer abspielte. Folgte er jedoch dem Floß, dann riß die Verbindung mit Nick ab, denn die Grenzschicht zwischen Schwefelsäure und Luft verschluckte Schallwellen fast völlig.
„Warum lassen Sie Ihre Leute überhaupt suchen?“ erkundigte sich Aminadabarlee bei Raeker. „Der Roboter kann schneller an der Küste entlangrollen, als sie das lächerliche Floß paddeln, und der gestrandete Bathyskaph schwimmt ohnehin nicht im Meer. Warum lassen Sie Ihre Schüler die Maschine nicht zu Fuß begleiten, wenn Sie meinen, daß sie etwas ausrichten können?“
„Sie haben durchaus recht, Councillor“, antwortete Raeker ungerührt, „aber leider sind die beiden Kinder eben nur per Floß erreichbar. Wir würden Zeit verlieren, wenn Nick und seine Freunde zurückkommen müßten, um das Floß zu holen nachdem sie festgestellt haben, wo der Bathyskaph liegt.“
„Richtig“, antwortete der Drommianer. Raeker warf ihm einen erstaunten Blick zu, denn dieses Zugeständnis hatte er keineswegs erwartet; aber er hatte nicht genügend Zeit, sich mit den Gründen dafür zu befassen, denn Nick mußte weiterhin beobachtet werden. Dann erinnerte er sich jedoch an Richs Ermahnungen und wandte sich nochmals an den Diplomaten. „Mir ist eben eingefallen, wie Sie uns helfen könnten, Sir. Sie haben doch mit Ihrem Sohn gesprochen — glauben Sie, daß er sich besser fühlen würde, wenn er eine nützliche Beschäftigung hätte?“
„Zum Beispiel?“
„Nun, wenn er Sprachen so rasch lernt, wie Easy Rich es angeblich kann, wäre er vielleicht eher in der Lage, etwas von den Höhlenbewohnern zu erfahren.
Swift weiß ganz offensichtlich, wo Nicks Lager und der Bathyskaph sich befinden; uns wäre schon viel damit geholfen, wenn jemand aus ihm herausbekommen könnte, wie man von einem zum anderen kommt.“
Raeker konnte den Gesichtsausdruck des Drommianers nicht deuten, aber in der Stimme des anderen schwang eine gewisse Hochachtung mit.
„Das ist der erste vernünftige Vorschlag, den ich seit fünf Wochen von einem Menschen gehört habe“, sagte er. „Ich werde Aminadorneldo erklären, was er zu tun hat.“
Aminadabarlee machte sich sofort auf den Weg in die Nachrichtenzentrale der Vindemiatrix, denn der Bildschirm in Raekers Kontrollraum war in einer entfernten Ecke angebracht, in der sein massiger Körper kaum genügend Platz fand. In der Nachrichtenzentrale herrschte reger Betrieb, und der Drommianer erkannte das Gesicht des Mädchens auf dem Bildschirm, um den sich die Männer scharten. Sein Sohn war ebenfalls zu sehen, stand allerdings im Hintergrund — wie immer, überlegte Aminadabarlee — und hörte schweigend zu. Die Männer lauschten aufmerksam, und der Drommianer tat unbewußt das gleiche, ohne sich sofort in den Vordergrund zu drängen.
„Wir bekommen immer wieder dieselbe Antwort“, berichtete Easy eben. „Zuerst schien er überrascht zu sein, daß wir überhaupt danach fragten; jetzt ist er darüber hinweg, behauptet aber nach wie vor, daß Nick und Fagin ihm gesagt haben, wo wir sind.“
„Das klingt reichlich merkwürdig“, meinte einer der Wissenschaftler. „Sind Sie wirklich davon überzeugt, daß Sie ihn richtig verstanden haben?“
„Völlig“, antwortete Easy, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Swift behauptet, daß alle seine Informationen von Nick stammen, der sie wiederum von dem Roboter haben soll. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, was Nick dem Späher erzählt hat, aber vielleicht ergibt sich aus den Tonbandaufzeichnungen ein Hinweis. Entweder ist der Späher selbst auf die richtige Idee gekommen, oder Swift hat seinen Bericht entsprechend ausgewertet. Ich halte allerdings die erste Lösung für wahrscheinlicher.“
Easy Rich war nicht leicht zu erschüttern und wußte genau, was sie sagte. Aminadabarlee war natürlich anderer Meinung; seit Easy zugegeben hatte, daß sie sich nicht mehr genau an eine Unterhaltung erinnern konnte, die sie selbst verfolgt hatte, war sie beträchtlich in seiner Achtung gesunken. Andererseits konnte er sich selbst nicht erklären, was die Höhlenbewohner der unverfänglichen Beschreibung einer unbekannten Gegend hatten entnehmen können.
Dann fiel ihm plötzlich etwas ein, und er ließ sich auf das Deck zurücksinken, um ungestört nachdenken zu können. Vielleicht geschah dann endlich etwas; er schämte sich fast bei dem Gedanken daran, daß er bisher die gesamte Planung Menschen überlassen hatte. Wenn sie nur einen Augenblick lang den Mund halten würden, damit er denken konnte …
Aber die Wissenschaftler dachten gar nicht daran, sondern unterhielten sich weiter mit dem Mädchen.
„Mir ist eben etwas eingefallen“, sagte einer der Geophysiker plötzlich aufgeregt. Aminadabarlee überlegte weiter und achtete nicht auf den Mann.
„Vielleicht klingt es ein bißchen komisch — aber die verhältnismäßig primitiven Wilden auf der Erde und anderen Planeten hatten sozusagen einen sechsten Sinn. Unsere Vorfahren wußten zum Beispiel ganz genau, wann der Frühling bevorstand…“
„Was hat das mit Tenebra zu tun?“ fragte ein anderer.
„Tenebra hat praktisch kein Wetter, wenn man das Wort im strengen Sinn gebraucht; aber die dortige Geomorphologie verändert sich so regelmäßig, daß man fast von jahreszeitlich bedingten Schwankungen sprechen kann. Ich habe eben daran gedacht, daß Nick dem Späher erzählt hat, daß der Bathyskaph einige Tage lang bewegungslos in einem See schwamm, bevor er von einem Fluß ins Meer geschwemmt wurde.
Wenn wir die Verhältnisse auf Tenebra richtig beurteilen, muß es sich dabei um einen neuen Fluß gehandelt haben! Diese Information genügt vermutlich für jeden Eingeborenen — jedenfalls für alle, die in ihrer Jugend mit den Überlieferungen ihres Stammes vertraut gemacht worden sind. Wahrscheinlich wußten sie nicht genau, wo sie diesen Fluß zu suchen hatten; aber immerhin war ihnen die Gegend bekannt, in der er zu finden sein mußte.“
„Hat jemand in letzter Zeit nachgesehen, ob aus dem Laboratorium Alkohol fehlt?“ fragte einer der Zuhörer. Diese Bemerkung machte den anderen wütend, so daß er jetzt seine Behauptung unbedingt beweisen wollte.
„Miß Rich!“ rief er. „Sie haben gehört, was ich eben ausgeführt habe. Fragen Sie doch Swift, ob es nicht wahr ist, daß er weiß, wann neue Flüsse oder Hügel entstehen. Fragen Sie ihn, wie er es wagt, in einer Höhle zu leben, die jederzeit über ihm zusammenbrechen kann!“
„Wird gemacht“, versprach Easy. Ihr Gesicht verschwand von dem Bildschirm. Aminadabarlee war zu wütend, um darauf zu achten. Wie kam dieser vorlaute Trottel auf die unverschämte Idee, anderer Leute Überlegungen als seine eigenen anzupreisen? Nur noch eine Minute, dann hätte Aminadabarlee den gleichen Vorschlag gemacht. Andererseits war er vielleicht doch nicht so gut, wenn man nüchtern darüber nachdachte — aber warum sollte man ihn nicht ein wenig verbessern?
Aminadabarlee wollte sich bereits mit seinem Sohn deswegen in Verbindung setzen, als ihm auffiel, daß der Junge ebenfalls nicht mehr auf dem Bildschirm zu sehen war. Nun, das war vielleicht ganz gut so; das Mädchen brauchte bestimmt den Beistand eines intelligenten Wesens. Kurze Zeit später kehrten die beiden Kinder an den Bildschirm zurück.
„Sie scheinen recht zu haben“, sagte Easy zu dem Geophysiker. „Die Eingeborenen konnten gar nicht verstehen, daß jemand nicht weiß, wann Erdbeben, neue Flußläufe und Hügel zu erwarten sind. Sie selbst sind so daran gewöhnt, daß sie kaum noch sagen können, auf welche Anzeichen besonders zu achten ist.“ Die Wissenschaftler starrten sich überrascht an.
„Lassen Sie sich alles erzählen, Miß Rich“, bat einer von ihnen. „Schreiben Sie alles auf und geben Sie es an uns weiter selbst wenn Sie es nicht verstehen.
Dann brauchen wir später nur noch mit Raekers Schülern zusammenzuarbeiten und weitere Untersuchungen anzustellen.“
Diese unsinnige Aufforderung brachte Aminadabarlee an den Rand der Verzweiflung. Er drängte die Männer rücksichtslos beiseite, richtete sich vor dem Bildschirm zu voller Größe auf, sah an Easy vorbei und sprach hastig auf seinen Sohn ein. Die Wissenschaftler unterbrachen ihn nicht, denn niemand wollte mit dem Riesen anbinden, weil keiner beurteilen konnte, wie der Drommianer darauf reagieren würde.
Außerdem hatte Councillor Rich an Bord der Vindemiatrix verbreiten lassen, daß der Diplomat in keiner Weise belästigt oder behindert werden dürfe.
Aminadorneldo versuchte den Redestrom seines Vaters einige Male zu unterbrechen, hatte aber keinen Erfolg damit denn der Drommianer schwieg erst, als ihm nichts mehr einfiel, was er im Augenblick hätte sagen können. Zur allgemeinen Überraschung antwortete dann jedoch nicht der Junge, sondern Easy Rich; allerdings sprach sie Englisch, weil selbst sie die hohen Töne der anderen Sprache nicht hervorbringen konnte.
„Wir haben ihn bereits verständigt, Sir. Doktor Raeker hat mich gebeten, Sie davon zu benachrichtigen, sowie ich Gelegenheit dazu hätte; Sie hatten den Kontrollraum gerade verlassen, und ich habe Sie erst eben gesehen. Nick ist verständigt worden, wie gesagt, und das Boot müßte noch vor Anbruch der Dunkelheit die Stelle der Küste erreichen, die uns am nächsten liegt. Dann soll es landeinwärts transportiert werden; Swift meint, daß die Scheinwerfer des Bathyskaphen vom Meer aus zu sehen sein müssen, deshalb ist der Roboter in das Lager zurückgekehrt, um dort den Rest der Gruppe abzuholen und auf den Weg hierher zu bringen.“
Der Drommianer schien verblüfft zu sein, aber er war wenigstens höflich genug, ebenfalls Englisch zu sprechen.
„Sie haben also Swift bereits gebeten, Ihnen den Weg von dem Lager zu dem Bathyskaphen zu erklären?“ fragte er langsam.
„Ja, natürlich. ›Mina‹ ist schon vor einer halben Stunde auf diese Idee gekommen. Ich hätte Sie oder Doktor Raeker früher informieren müssen.“ Die Mitteilung, daß sein Sohn diesen Vorschlag gemacht hatte, beruhigte Aminadabarlee wieder; die anwesenden Wissenschaftler fragten sich allerdings im stillen, ob das Mädchen wirklich die volle Wahrheit sagte.
Schließlich kannten sie das Alter des jungen Drommianers und hatten in den vergangenen Wochen Gelegenheit gehabt Easy Rich besser kennenzulernen.
„Wie lange braucht man, um bis zu Ihnen zu kommen — wann kann Nick dort sein, meine ich?“ erkundigte sich Aminadabarlee.
„Swift sagt, daß er am späten Nachmittag eintreffen müßte, wenn er marschiert wäre; wie lange die Fahrt mit dem Floß dauert, kann er natürlich nicht beurteilen.“
„Haben Sie ihm von dem Floß erzählt?“
„Selbstverständlich. Er hatte sich bereits überlegt, wie er den Bathyskaphen erreichen könnte; der Teich, in dem wir liegen, ist zum Waten zu tief, und seine Leute können anscheinend nicht schwimmen. Ich habe ihm den Vorschlag gemacht, ein Floß aus Holz zu bauen, aber das Holz auf diesem komischen Planeten ist schwerer als Wasser.“
„Sie scheinen sich ja glänzend mit diesen Leuten zu unterhalten. Beherrschen Sie ihre Sprache wirklich so gut?“
„Ziemlich gut, aber wir sind noch etwas zu langsam. Das soll Sie aber keineswegs davon abhalten, Swift eine Frage zu stellen, Sir. Möchten Sie etwas von ihm erfahren?“
„Danke, im Augenblick nichts“, antwortete der Diplomat hastig. „Haben Sie zufällig daran gedacht, Ihrem Freund Swift ein Floß in der Art vorzuschlagen, wie Nick eines gebaut hat?“
„Selbstverständlich, aber das erwies sich als undurchführbar. Seine Leute können jede Menge Häute heranschaffen, wissen jedoch nicht, wie man luftdichte Säcke daraus macht. Nick hat sie zusammengeklebt, aber die Höhlenbewohner sind nicht imstande Leim herzustellen, und ich konnte ihnen auch nicht helfen. Swift wartet jetzt, bis Nick mit seinem Floß kommt.“
„Und dann nimmt er es ihm natürlich weg, nehme ich an.“
„Oh, nein! Er hat durchaus nichts gegen Nick. Ich habe ihm erzählt, wer Nick ist — daß der Roboter die Eier gestohlen hat, die Swifts Leute in der Höhle zurückgelassen hatten. Ich glaube, daß er jetzt ein wenig auf die Maschine zornig ist, aber das spielt schließlich keine Rolle. Ich habe ihm versprochen, ihm alles beizubringen, was er wissen möchte, und daß Nick, der schon eine Menge gelernt hat, ihm ebenfalls helfen wird. Wir kommen recht gut miteinander aus.“ Der Drommianer war verblüfft und ließ sich seine Verblüffung deutlich anmerken.
„Hat Doktor Raeker Ihnen das alles vorgeschlagen?“
„Nein, ich bin selbst darauf gekommen — oder besser gesagt, ›Mina‹ und ich haben uns das alles allein ausgedacht. Wir überlegten uns, daß es besser wäre, wenn wir die Höhlenbewohner als Freunde hätten; vielleicht wären sie gar nicht imstande gewesen, den Bathyskaphen zu beschädigen, aber wir wollten jedenfalls nichts riskieren.“
„Richtig.“ Aminadabarlee war noch immer einigermaßen überrascht. Er beendete das Gespräch durchaus höflich — Easy gegenüber hatte er sich nie zu Äußerungen hinreißen lassen, die regelmäßig Bestandteil seiner Unterhaltungen mit Raeker oder anderen Menschen waren — und machte sich auf den Weg in den Kontrollraum. Die Wissenschaftler stellten dem Mädchen schon wieder alle möglichen Fragen, bevor er den Raum verlassen hatte.
An diesem Tag schien er jedoch dazu verurteilt zu sein, immer nur zu den ungünstigsten Zeiten von einem Raum zum anderen unterwegs zu sein. Vorher war er auf dem Korridor gewesen, als Easy Raeker und Nick die Stelle beschrieben hatte, an der sich der Bathyskaph befand; jetzt war er wieder dort, während die beiden Suchteams, die den Vulkan entdeckt hatten, zurückkehrten und ihrem Lehrer Bericht erstatteten.
Diesmal hatte er sogar in seiner Kabine eine kurze Pause eingelegt, um zu essen, so daß er erst in den Kontrollraum kam, als der Bericht längst zu Ende war.
Unterdessen waren die vier Eingeborenen in Begleitung des Roboters nach Süden unterwegs, wobei sie den Karren mit den restlichen Besitztümern der Gruppe hinter sich her zogen. Unterwegs mußten sie einen endlosen Strom von Fragen aller Art beantworten, die von den aufgeregten Wissenschaftlern der Vindemiatrix gestellt wurden. Einige der Männer waren in der Nachrichtenzentrale geblieben, aber die meisten drängten sich jetzt in dem Kontrollraum zusammen. Der noch immer leicht verwirrte Drommianer brauchte einige Minuten, bis er begriff, was hier diskutiert wurde.
„Vielleicht läßt sich die Entfernung durch Triangulation bestimmen — der Wind über dem Lager und dem Bathyskaphen bläst doch darauf zu.“
„Aber dazu müßte man die genaue Position der beiden Punkte kennen. Außerdem wissen wir nicht, wie stark der CoriolisFaktor die Windrichtung beeinflußt.“
„Auf einem Planeten wie Tenebra bestimmt nur geringfügig. Aber ihr dürft nicht von falschen Voraussetzungen ausgehen — der Berg ist bereits auf den Karten eingezeichnet. Deshalb müßte man die Windrichtung als Hilfsmittel benützen können, um die Position unseres Bathyskaphen festzustellen, falls…“
Gesprächsfetzen dieser Art drangen an das Ohr des Drommianers und erhöhten seine Verwirrung noch mehr. Wenig später, als er erraten hatte, daß irgendwo auf Tenebra ein Vulkan entdeckt worden sein mußte, begann er zu verstehen, was hier diskutiert wurde; er konnte sich gut vorstellen, wie sich ein Vulkan, der ungeheure Hitze ausstrahlen mußte, auf die dichte Atmosphäre des Planeten auswirkte. Dann fiel ihm eine andere Frage ein, die er sofort beantwortet haben wollte.
„Wie stark kann der Wind eigentlich werden? Besteht eine Gefahr für die Kinder, wenn das Meer jede Nacht weiter landeinwärts flutet und den Bathyskaphen mit sich trägt? Ist zu erwarten, daß die Kinder bis in die Nähe des Vulkans geschwemmt werden?“
„Nein, deswegen brauchen Sie sich vorläufig noch keine Sorgen zu machen, Sir“, antwortete einer der Wissenschaftler. „Ob Wind oder nicht, das Meer besteht in größerer Entfernung von der normalen Küste auf jeden Fall zum größten Teil aus Wasser, in dem unser Bathyskaph nicht schwimmfähig ist. Außerdem möchte ich wetten, daß Wasser bereits kilometerweit von dem Vulkan entfernt verdampft.“
„Trotzdem könnte das Schiff weitergetrieben werden, denn zwischen Flüssigkeiten und Gasen besteht doch dort unten kaum ein Unterschied.“
„Der Unterschied besteht aber in der Viskosität, die…“ Aminadabarlee hörte schon gar nicht mehr zu; er hatte wieder einen Grund zur Sorge, und er machte sich gern Sorgen. Er ging so rasch wie möglich in die Nachrichtenzentrale zurück, weil er verhindern wollte, daß sich während seiner Abwesenheit etwas Wichtiges ereignete. Glücklicherweise erreichte er sein Ziel, ohne die Männer über den Haufen zu rennen, die ihm in dem Korridor begegneten.
Die Wissenschaftler hatten die Unterhaltung mit Easy abgebrochen, als die neue Attraktion auftauchte; der Bildschirm, über den die Verbindung mit dem gestrandeten Bathyskaphen hergestellt wurde, war dunkel. Aminadabarlee überlegte nicht erst, ob die Kinder vielleicht schliefen oder sich nur mit den Höhlenbewohnern unterhielten; gleichfalls dachte er nicht darüber nach, ob er die Frage, die ihn im Augenblick beschäftigte, überhaupt mit den beiden diskutieren sollte. Wahrscheinlich hätte er Raeker für den gleichen Versuch getadelt; aber seine eigene Ungeschicklichkeit war natürlich eine andere Sache.
„Miß Rich! Aminadorneldo!“ rief er mit schriller Stimme in das Mikrophon. Als nach einer Minute noch keine Antwort zu hören war, wiederholte er den Ruf — diesmal allerdings bereits wesentlich ungeduldiger. Jetzt erschien Easy auf dem Bildschirm und rieb sich den Schlaf aus den Augen; der Drommianer schien diese Geste jedoch nicht zu verstehen oder ignorierte sie absichtlich.
„Wo ist mein Sohn?“ fragte er.
„Im Bett.“ Easy war zu müde, um höflich zu antworten.
„Na, vielleicht genügt es, wenn ich nur mit Ihnen spreche. Haben Sie gehört, daß die Wissenschaftler herausbekommen haben, was den Wind verursacht?“
„Ja; soweit ich informiert bin, ist daran ein Vulkan schuld. Ich bin kurz danach eingeschlafen. Hat sich etwas Neues ergeben?“
„Eigentlich nicht. Aber einem dieser ›Wahrsager‹ ist eingefallen, daß der Bathyskaph vielleicht jede Nacht etwas weiter auf den Vulkan zutreibt, bis Sie wirklich in Schwierigkeiten geraten. Was hält Ihr Freund Swift davon? Er weiß doch angeblich alles über diesen Planeten und hat den Bathyskaphen bisher jeden Morgen gefunden.“
„Jedenfalls erreichen wir den Vulkan innerhalb der nächsten Tage bestimmt nicht — bisher ist noch kein Lichtschein zu erkennen.“
„Sie erkennen ihn nicht; viel wichtiger ist, was die Eingeborenen sehen und glauben. Haben Sie Swift danach gefragt?“
„Nein. Ich habe erst jetzt von diesem Problem erfahren. Trotzdem mache ich mir keine Sorgen; wenn die Höhlenbewohner das Licht gesehen hätten, wären wir benachrichtigt worden — sie hätten es nämlich für die Scheinwerfer des Roboters gehalten. Wenn überhaupt, erreichen wir den Vulkan frühestens in einigen Tagen — bestimmt nicht schon morgen.“
„Wie kann man nur so kurzsichtig sein? Ich kann einfach nicht begreifen, wie die Menschen es je zu einer Zivilisation gebracht haben. Intelligente Leute planen voraus.“
„Intelligente Leute ziehen aber auch keine voreiligen Schlüsse“, antwortete das Mädchen wütend; es hatte offenbar zum erstenmal seit dem Unfall die Geduld verloren. „Ich mache mir keine Sorgen wegen übermorgen oder der Zeit danach, weil wir morgen bereits Tenebra verlassen werden. Seien Sie bitte so freundlich, Mister Sakiiro mitzuteilen, daß er die Pinasse bereithalten möchte, damit er uns aufnehmen kann.“
Easy kehrte dem Bildschirm wortlos den Rücken zu und verschwand.