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Dave sagte: »jetzt erzähle ich dir, was der junge Mr Devane sah, als er verbotenerweise in die Tasche mit den Beweismitteln lugte, Steffi. Ich bin überzeugt, dass er den beiden Polizisten eins auswischen wollte. Er erwartete nicht, in so einer kümmerlichen Sammlung tatsächlich etwas Aussagekräftiges zu finden. Da war zum einen der Ehering des Fremden, ein schlichter Goldring ohne jede Gravur.«

»Der wurde ihm abgenommen?« Stephanie merkte, wie die beiden Alten sie ansahen, und ihr wurde klar, dass sie etwas Dummes gesagt hatte. Wenn der Mann identifiziert worden war, hatte seine Frau den Ring bekommen. Der Tote mochte sogar mit dem Ring am Finger bestattet worden sein, wenn seine Hinterbliebenen das so wünschten. Aber bis dahin war er ein Beweisstück und musste als solches behandelt werden.

»Ja«, sagte sie, »natürlich. Wie dumm von mir. Aber eins noch: Irgendwo muss es doch eine Frau gegeben haben. Eine Mrs Colorado Kid, oder?«

»Ja«, bestätigte Vince Teague ziemlich schwerfällig.

»Wir haben sie irgendwann gefunden.«

»Hatten sie Kinder?«, fragte Stephanie, weil sie fand, dass der Mann genau im richtigen Alter für eine ganze Schar von Sprösslingen war.

»Lass uns erst woanders weitermachen, wenn es dir recht ist«, sagte Dave.

»Kein Problem«, entgegnete Stephanie. »’tschuldigung.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, beruhigte er sie und grinste schwach. »Will nur nicht den Faden verlieren. Das passiert schnell, wenn man keinen … wie sagst du noch mal. Vincent?«


»Wenn man kein Seil zum Festhalten hat«, ergänzte Vince. Auch er lächelte, aber sein Blick war irgendwie abwesend. Stephanie fragte sich, ob der Gedanke an Colorado Kids Kinder diese Abwesenheit hervorgerufen hatte.

»Genau, hier gibt’s überhaupt kein Seil zum Festhalten«, bestätigte Dave. Er überlegte und zählte dann mehrere Stichpunkte an den Fingern ab, um zu beweisen, dass er absolut nichts vergessen hatte. »In der Tasche mit den Beweismitteln war der Ehering des Verstorbenen, siebzehn Dollar in Scheinen – ein Zehner, ein Fünfer, zwei Einer – sowie ein bisschen Kleingeld, insgesamt vielleicht ein Dollar. Außerdem, sagte Devane, sei eine Münze dabei gewesen, die nicht amerikanisch war. Seiner Meinung nach war die Schrift darauf russisch.«

»Russisch?«, staunte Stephanie.

»Das heißt kyrillisch«, murmelte Vince.

Dave fuhr fort: »Des Weiteren eine Rolle Pfefferminzbonbons und eine Packung Big-Red-Kaugummi mit nur noch einem Streifen. Ein Streichholzbriefchen mit einer Briefmarkenwerbung vorne darauf – die hast du bestimmt schon mal gesehen, bekommt man in jedem Lebensmittelgeschäft gratis –, und Devane meinte, er hätte einen rosa Abrieb auf der Zündfläche unten sehen können. Und dann die Packung Zigaretten, offen, es fehlten nur eine oder zwei. Devane glaubte, es fehlte nur eine, was der einzelne Zündstreifen auf dem Streichholzbriefchen bestätigen wurde, meinte er.«

»Aber keine Geldbörse«, bemerkte Stephanie.

»Nein.«

»Und keinerlei Papiere.«

»Nein.«

»Hat mal einer die Theorie aufgestellt, dass vielleicht jemand das letzte Stück Steak und die Brieftasche des Toten gestohlen

hat?«, fragte sie und musste kichern, noch ehe sie die Hand vor den Mund halten konnte.

»Steffi, das haben wir überlegt und wir sind auch alle anderen Möglichkeiten durchgegangen«, sagte Vince.

»Wir haben sogar erwogen, dass eines der Küstenlichter ihn am Hammock Beach abgesetzt hat.«

»Sechzehn Monate nachdem Johnny Gravlin und Nancy Arnault den Mann fanden«, fuhr Dave fort, »wurde Paul Devane eingeladen, ein Wochenende bei den Eltern seiner Freundin in Pennsylvania zu verbringen. Ich nehme an, dass Moose-Lookit Island, Hammock Beach und der Tote das Letzte waren, das er damals im Kopf hatte. Er sagte, er wollte mit seiner Freundin am Abend ausgehen, ins Kino oder so. Mutter und Vater waren in der Küche, machten den Abwasch, und Paul hatte angeboten zu helfen, war aber ins Wohnzimmer verbannt worden, weil er ja nicht wisse, wo alles hingehöre. Da saß er also, schaute sich an, was gerade im Fernsehen lief, und warf einen Blick auf den Fernsehsessel von Papa Bär, und siehe da: Auf Papa Bärs kleinem Beistelltisch, direkt neben Papa Bärs Fernsehzeitung und Papa Bärs Aschenbecher, lagen Papa Bärs Zigaretten.«

Dave hielt inne, grinste Stephanie an und zuckte mit den Schultern.

»Schon komisch, wie so was manchmal läuft: Da tragt man sich doch, wie oft das nicht funktioniert. Wenn die Packung andersherum gelegen hätte, so dass er nicht auf den Boden, sondern auf den Deckel geschaut hätte, dann wäre der Unbekannte immer noch der Unbekannte und nicht zuerst Colorado Kid und dann Mr James Cogan aus Nederland, einer Stadt westlich von Boulder. Doch Devane schaute auf den Boden der Schachtel und somit auf die Steuermarke. Es war eine Marke wie eine Briefmarke und sie erinnerte ihn an die Schachtel Zigaretten in der Tasche mit den Beweismitteln. Du musst wissen, Steffi, dass einer von Paul Devanes Aufpassern – ich weiß nicht mehr, ob O’Shanny oder Morrison – ebenfalls Raucher gewesen war und dass es zu Pauls Aufgaben gehörte, ihn regelmäßig mit Camel-Zigaretten zu versorgen. Die hatten zwar auch eine Marke drauf, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass es eine andere war als auf der Packung des Toten. Er meinte, dass die Marke des Bundesstaates Maine auf den Packungen, die er für den Polizisten kaufte, ein Tintenstempel gewesen sei, wie man ihn manchmal auf die Hand gedrückt bekommt, wenn man in irgendeinem Dorf zum Tanzen geht oder … keine Ahnung …«

»Zum Heuwagenausflug mit anschließendem Picknick auf dem Gernerd-Hof?«, ergänzte Stephanie lachend.

»Genau!«, sagte er und richtete den Finger auf sie wie eine Pistole. »Egal, jedenfalls war das nicht so eine Erkenntnis, wo man aufspringt und ›Eureka!‹ ruft. Trotzdem kam Devane während dieses Wochenendes in Gedanken immer wieder darauf zurück, denn die Erinnerung an die Schachtel ließ ihm keine Ruhe. Zum einen fand er, dass die Zigaretten des Toten auf jeden Fall einen Stempel aus Maine haben mussten, egal woher er stammte.«

»Wieso?«

»Weil nur eine fehlte. Welcher Raucher raucht nur eine in sechs Stunden?«

»Ein schwacher Raucher?«

»Ein Mann, der eine volle Schachtel hat und nicht mehr als eine Zigarette in sechs Stunden herausnimmt, ist kein schwacher Raucher, sondern ein Nichtraucher«, sagte Vince sanft.

»Außerdem hatte Devane die Zunge des Toten gesehen. Ich auch – ich kniete direkt vor ihm und leuchtete ihm mit Doc Robinsons Ohrenspiegel in den Hals. Sie war bonbonrosa. Auf keinen Fall eine Raucherzunge.«

»Ach, und das Streichholzbriefchen«, sagte Stephanie nachdenklich. »Nur einmal gezündet?«

Vince Teague lächelte sie an. Lächelte und nickte.

»Nur einmal gezündet«, bestätigte er.

»Kein Feuerzeug?«

»Kein Feuerzeug«, erwiderten beide Männer gleichzeitig und mussten lachen.


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