Dritter Teil — KALKI

16 Shiv

Auch Boyz haben eine Mutter.

Es war fast wie eine Heimkehr, durch die engen Galis zwischen den Hütten zu laufen, sich unter den Stromkabeln zu ducken, mit den guten Schuhen auf den Pfaden aus Pappkarton zu bleiben, denn selbst in der trockensten Trockenzeit waren die Gassen von Chandi Basti nur Matschpisse. Die Wege richteten sich immer wieder neu aus, wenn die Hütten zerfielen oder weitere Einheiten angebaut wurden, aber Shiv orientierte sich an den Wahrzeichen: Lord Ram Unzerstörbare Autoteile, wo die Brüder Shasi und Ashish einen VW in kleinste Teile zerlegten; Mr. Pilais Nähmaschine unter dem Regenschirm; Ambedkar, der Vertreter des Kinderkäufers, der erhöht auf seinen Gabelstaplerpaletten saß und süßen Ganja rauchte. Überall schauten die Leute, traten zur Seite und machten Gesten, um den bösen Blick abzuwehren. Leute starrten ihm nach, weil sie etwas außerhalb ihrer eigenen Existenz gesehen hatten, etwas mit Geschmack und Klasse und tollen Schuhen, etwas, das wirklich etwas war. Etwas, das ein Mann war.

Seine Mutter hatte zu seinem Schatten auf ihrem Türrahmen aufgeblickt. Er drängte ihr Geld auf, ein Bündel schmutziger Rupien. Er hatte ein bisschen Bares dabei von dem Mann, der die Überreste seines Mercedes abgeschleppt hatte. Jetzt war er blank, aber ein Sohn sollte einen Teil dessen, was er seiner Mutter schuldete, zurückzahlen. Mit einem »tss tss« tat sie, als würde sie es ablehnen, aber Shiv sah, wie sie es hinter dem Ziegelstein am Feuerplatz versteckte.

Er ist zurückgekehrt. Es ist nur ein Charpoy in der Ecke, aber es gibt ein Dach und ein Feuer und zweimal täglich Dal und das sichere Wissen, dass niemand und nichts, keine Killermaschine mit Krummsäbeln statt Händen, ihn hier finden wird. Doch auch hier lauert eine Gefahr. Es wäre einfach, in die Gewohnheit zurückzufallen, ein wenig zu essen, ein wenig in der Mittagssonne zu schlafen, ein wenig zu stehlen, ein wenig mit seinen Freunden abzuhängen, über dies und jenes zu sprechen und Mädchen nachzuschauen, und schon ist ein Tag, ein Jahr, ein Leben vorbei. Er muss nachdenken, reden, seine Schulden eintreiben und seine Gefälligkeiten einfordern. Yogendra macht seine Runden in der Basti und der Stadt, hört, was die Straße über Shiv sagt, der ihm den Rücken zugekehrt hat, der noch eine Spur von Ehrgefühl hat.

Und dann ist da noch seine Schwester.

Leela ist eine Warnung davor, dass ein Sohn und Bruder nicht von Diwali bis Guru Poornima warten sollte, um seine Familie wiederzusehen. Was einmal eine nett aussehende, stille, schüchterne, aber vernünftige Siebzehnjährige gewesen war — die schon verheiratet sein könnte —, ist zu einer Bibelchristin geworden. Eines Abends ging sie mit einer Freundin zu einer religiösen Veranstaltung, die von einem Kabelsender organisiert wurde, und kehrte wiedergeboren zurück. Es genügt nicht, dass sie den Herrn Jesus Christus gefunden hat. Alle anderen sollten ihn auch finden. Insbesondere der böööseste ihrer bööösen Brüder. Also kommt sie mit ihrer Bibel mit dem hauchdünnen Papier daher, von dem Shiv weiß, dass es die allerbesten Joints abgeben würde, und mit ihren kleinen Traktaten und ihrer nervigen Art.

»Schwester, dies ist meine Zeit der Ruhe und Erholung. Du unterbrichst sie. Wenn dir dein Christentum so viel bedeutet, wie du sagst, würdest du deinen Bruder respektieren. Ich glaube, irgendwo steht, dass du deinen Bruder ehren und respektieren sollst.«

»Meine Brüder sind meine Brüder und Schwestern in Christus. Jesus sagt, dass ihr meinetwegen euren Vater und eure Mutter hassen werdet und euren Bruder auch.«

»Dann ist das eine sehr dumme Religion. Welcher deiner Brüder und Schwestern in Christus hat dir Medikamente besorgt, als du wegen Tuberkulose am Verrecken warst? Welcher von ihnen ist in die Apotheke des reichen Mannes gebrettert? Du machst dich zu niemandem, zu nichts. Niemand wird dich heiraten, wenn du keine richtige Inderin bist. Deine Gebärmutter wird verdorren. Du wirst regelrecht nach Kindern schreien. Ich spreche es nicht gern aus, aber nur ich und kein anderer wird dir die Wahrheit sagen. Mutter nicht, deine Christenfreunde nicht. Du machst einen schrecklichen Fehler, bring das ganz schnell wieder in Ordnung.«

»Der schreckliche Fehler ist es, den Weg zur Hölle zu wählen,« sagt Leela trotzig.

»Und was glaubst du, was das hier ist?«, sagt Shiv.

Yogendra bleckt die Rattenzähne.

An diesem Nachmittag hat Shiv eine Verabredung: Priya aus dem Musst. Die guten Zeiten, sie sind nicht vergessen. Fünfzehn Minuten lang beobachtet Shiv den Chai-Stand, um sicherzugehen, dass sie es ist und nur sie allein. Priya ist Schmerz in seinem Herzen. Sie mit ihrer Hose, die eng an der Wölbung ihres Hinterns klebt, und ihrem dünnen Seidentop und ihrer Sonnenbrille mit Bernsteinrahmen und der blassen blassen Haut und den roten roten Lippen, die schmollen, während sie sich ungeduldig nach ihm umsieht und versucht, sein Haar, sein Gesicht, seinen Gang in der Menge der drängenden und starrenden Körper zu entdecken. Sie steht für alles, was er verloren hat. Er muss hier raus. Er muss sich wieder aufrichten. Wieder ein Raja sein.

Sie wippt auf den Stiefelabsätzen und stößt kleine Kiekser des Entzückens aus, ihn zu sehen. Er bringt ihr Tee, sie sitzen auf einer Bank an der Metalltheke. Sie bietet an, die Rechnung zu übernehmen, aber er zahlt mit seinem schrumpfenden Geldbündel. Chandi Basti wird es nicht erleben, dass eine Frau Shiv Faraji einen Tee bezahlt. Ihre Beine sind lang und sauber und urban. Die Männer von Chandi Basti begutachten sie mit ihren Augen, dann sehen sie den Saum des Ledermantels, den der Mann an ihrer Seite trägt, und gehen ihrer Wege. Yogendra sitzt auf einer umgestürzten Kunstdüngertonne aus Plastik und stochert in den Zähnen.

»Na, vermissen mich meine Frauen und meine Barkeeper?« Er bietet ihr eine Bidi an, nimmt sich Feuer vom Gasbrenner unter dem ratternden Wasserboiler.

»Du hast Riesenärger«. Sie steckt sich ihre an seiner an, ein Bollywood-Kuss. »Du kennst das Ashima-Inkassobüro?«

»Ein Haufen Ganoven.«

»Die Dawood-Gang. Für die ist Schuldenkaufen ein neues Metier. Shiv, die Dawoods sind hinter dir her. Das sind die Kerle, die Gurnit Azni auf dem Rücksitz seiner Limousine lebendig gehäutet haben.«

»Alles Verhandlungssache. Sie wollen viel, ich biete wenig, wir treffen uns in der Mitte. Das ist die Art, wie Männer Geschäfte machen.«

»Nein. Sie wollen, was du ihnen schuldest. Nicht eine Rupie weniger.«

Shiv lacht, das freie, verrückte Lachen, das in sich zerbricht. Er kann das Blau am Rand seines Blickfeldes sehen, das reine Krishna-Blau.

»Niemand hat so viel Geld.«

»Dann bist du tot, und es tut mir sehr leid.« Shiv legt seine flache Hand auf Priyas Oberschenkel. Sie erstarrt.

»Du bist hergekommen, um mir das zu sagen? Von dir habe ich etwas erwartet.«

»Shiv, an jeder Straßenecke gibt es Hunderte von Big Dadas wie du, und alle erwarten sie was.« Ihr Satz bricht ab, als Shiv ihr an das Kinn greift, die Finger hart in das weiche Fleisch presst und den Daumen über den Knochen reibt. Blaue Flecken. Er wird ihr blaue Flecken wie blaue Rosen verpassen.

Priya schreit auf. Yogendra zeigt seine Schneidezähne. Schmerz erregt diesen Jungen, denkt Shiv. Schmerz bringt ihn zum Lächeln. Die Leute von Chandi Basti starren. Er spürt Augen um sich herum. Starrt nur!

»Raja«, flüstert er. »Ich bin ein Raja«.

Er lässt sie los. Priya reibt sich den Kiefer.

»Das tat weh, Madar Chowd!«

»Da ist doch noch was, oder?«

»Du verdienst es nicht. Du verdienst, von den Dawoods mit einem Roboter aufgeschlitzt zu werden, Behen Chowd.« Sie zuckt, als Shiv wieder nach ihrem Gesicht greift. »Es ist eine kleine Sache, aber es könnte mehr drin sein. Eine ganze Menge mehr. Nur was abliefern. Wenn du’s richtig machst, sagen sie ...«

»Sagt wer?«

»Nitish und Chunni Nath.«

»Ich arbeite nicht für Brahmanen.«

»Shiv ...«

»Es geht ums Prinzip. Ich bin ein Mann mit Prinzipien.«

»Das Prinzip, von den Dawoods zu Kabob zerhackt zu werden?«

»Ich lasse mir nichts von Kindern befehlen.«

»Das sind keine Kinder.«

»Hier unten schon.« Shiv legt seine Hand auf die Leistengegend und zuckt. »Nein, ich arbeite nicht für die Naths.«

»Dann brauchst du auch nicht hierhin zu gehen.« Sie lässt ihre kleine Tasche aufschnappen und schiebt einen Zettel über die schmierige Theke. Darauf steht eine Adresse, draußen im Industriegebiet. »Und du brauchst dieses Auto nicht.« Sie legt einen Mietschlüssel neben den Zettel mit der Adresse. Er ist für einen Mercedes, einen großen, kali-schwarzen, Vier-Liter-SUV-Mercedes, wie ein Raja ihn fahren würde. »Wenn du nichts davon brauchst, werde ich jetzt gehen und für deinen Moksha beten.«

Sie schnappt sich ihre Tasche und rutscht von der hohen Bank herunter und drängt sich an Yogendra vorbei und stolziert in den hochhackigen Stiefeln, die ihren Arsch hin und her wippen lassen, über die Pappkartons.

Yogendra sieht Shiv an. Es ist dieser abgeklärte Blick, der in Shiv den Wunsch aufsteigen lässt, ihm den Kopf gegen die Blechtheke zu schlagen, bis er ein Knacken hört und es weich wird.

»Bist du damit fertig?« Er schnappt sich Yogendras Dose mit Tee und schüttet den Inhalt auf den Boden. »Sieht ganz so aus. Wir haben was Besseres vor.«

Der Junge schaltet sofort auf sein Fick-dich-selbst-Schweigen. In seinem Schädel ist er so alt wie ein Brahmane. Nicht zum ersten Mal wundert sich Shiv, ob er vielleicht ein reicher Junge ist, der Sohn und Erbe eines Piraten-Lords, rausgeworfen aus einer Limousine im Neonlicht von Kashi, damit er lernt, wie es wirklich in der Welt abläuft. Überleben. Hochkommen. Keine anderen Regeln gelten.

»Kommst du oder was?«, ruft er Yogendra zu. Irgendwo hat der Junge Paan zum Kauen gefunden.

An diesem Abend kommt Leela wieder vorbei, um ihrer Mutter mit den Blumenkohl-Puris zu helfen. Sie sind ein besonderer Genuss für Shiv, aber der Geruch von heißem Ghee in dem engen, dunklen Haus verursacht ihm Gänsehaut und Kopfjucken. Shivs Mutter und Schwester hocken am kleinen Gaskocher. Yogendra sitzt bei ihnen und trocknet die gekochten Puris mit zerknülltem Zeitungspapier. Shiv beobachtet den Jungen, wie er bei den Frauen hockt und die ofenheißen Brote in die Papiernester löffelt. Das muss für ihn einmal etwas bedeutet haben. Ein Herd, ein Feuer, Brot, Papier. Shiv beobachtet, wie Leela die Puris zu kleinen Ovalen zusammenklatscht und sie in das siedende Fett wirft.

Sie sagt in den häuslichen Frieden hinein: »Ich denke daran, meinen Namen zu Martha zu ändern. Der ist aus der Bibel. Leela kommt von Leelavati, die eine heidnische Göttin ist, aber in Wirklichkeit ist sie ein Dämon Satans aus der Hölle. Weißt du, wie es in der Hölle ist?« Beiläufig löffelt sie Blumenkohl-Puris mit einer Kelle aus Hühnerdraht heraus. »Die Hölle ist ein Feuer, das niemals erlischt, eine große, dunkle Halle, wie ein Tempel, nur größer als alle Tempel, die du je gesehen hast, weil er Platz haben muss für all die Menschen, die den Herrn Jesus nicht erkannt haben. Die Mauern und Säulen sind viele Kilometer hoch, und sie glühen feuergelb, und die Luft ist wie eine Flamme. Ich sage Mauern, aber es gibt nichts außerhalb der Hölle, nur massiven Fels, der sich auf ewig in alle Richtungen erstreckt, und die Hölle ist hineingemeißelt. Das heißt, selbst wenn du fliehen könntest, was du nicht kannst, weil du wie ein Paket zusammengekettet bist, könntest du nirgendwo anders hin. Und der Raum ist voll mit Milliarden und Abermilliarden Menschen, die alle wie kleine Bündel angekettet sind, alle übereinandergestapelt, tausend tief und tausend weit und tausend hoch, eine Milliarde in einem Haufen und Tausende von diesen Haufen. Die in der Mitte können überhaupt nichts sehen, aber sie können sich gegenseitig hören, und alle schreien. Das ist das Einzige, was du in der Hölle hören kannst, das große Schreien, das niemals aufhört, von den Milliarden von Menschen, angekettet und brennend, aber niemals verbrennend. Das ist es, in den Flammen brennen, aber niemals verbrennen.«

Shiv rührt sich auf dem Charpoy. Hölle ist etwas, das Christen gut können. In seiner Hose richtet sich sein Schwanz auf. Die Qualen, die Schreie, die schmerzvoll aufgetürmten Körper, die Nacktheit, die Hilflosigkeit, das hat ihn schon immer erregt. Yogendra legt die getrockneten Puris in einen Korb. Seine Augen sind tot, stumpf. Sein Gesicht ist das eines Tieres.

»Und die Sache ist die, dass es auf ewig so weitergeht. Tausend Jahre sind noch nicht einmal eine Sekunde. In der Hölle ist ein Brahma-Lebensalter nicht mal ein Augenblick. Tausend Brahma-Lebensalter, und du bist immer noch nicht am Ende. Es hat noch nicht einmal angefangen. Das wird mit dir passieren. Du wirst von den Dämonen hinuntergeholt und angekettet und oben auf den Haufen von Menschen gelegt, und dein Fleisch wird anfangen zu brennen und du wirst versuchen, in den Flammen nicht zu atmen, aber dann musst du es doch tun, und danach wird sich nie etwas ändern. Der einzige Weg, um der Hölle zu entgehen, ist dein Glaube an den Herrn Jesus Christus, wenn du ihn als deinen Herrn und Erlöser annimmst. Es gibt gar keinen anderen Weg. Stell es dir vor: die Hölle. Hast du überhaupt eine Ahnung davon, wie das sein wird?«

»Etwa so?« Yogendra ist schnell wie ein Messer in der Gasse. Er greift sich Leelas Handgelenk. Sie schreit auf, aber sie kann sich nicht befreien. Als er ihre Hand zum siedenden Ghee zieht, hat sein Gesicht den gleichen tierischen Ausdruck.

Shivs Tritt gegen seine Schläfe wirft ihn durch den Raum, verstreut die Puris in alle Richtungen. Leela/Martha flüchtet kreischend ins Hinterzimmer. Shivs Mutter schrickt vom Ofen zurück, weg vom heißen Fett und der tückischen Gasflamme.

»Schaff ihn raus, raus aus meinem Haus!«

»Oh, er geht schon«, sagt Shiv, während er mit zwei Schritten den Raum durchschreitet, Yogendra mit zwei Fäusten im T-Shirt anhebt und ihn auf die Gali hinauszerrt. Yogendras Blut pulsiert aus einem schmalen Riss über seinem Ohr, aber er grinst immer noch auf die gleiche dumpfe, animalische Weise. Shiv schleudert ihn auf die Gasse und tritt mit dem Stiefel nach. Yogendra wehrt sich nicht, versucht nicht, sich zu verteidigen, wegzurennen oder sich einzurollen, sondern erträgt die Tritte mit einem Leck-mich-Grinsen im Gesicht. Es ist, als würde man eine Katze prügeln. Katzen verzeihen niemals. Scheißkerl. Katzen ersäuft man im Fluss. Shiv tritt ihn, bis das Blau weg ist. Dann setzt er sich gegen die Hüttenwand und steckt sich eine Bidi an. Steckt noch eine an, reicht sie weiter an Yogendra. Der nimmt sie. Sie rauchen in der Gasse. Shiv macht die Kippe auf dem Pappkarton unter dem italienischen Schuhabsatz aus.

Der Raja der Scheiße.

»Komm, wir müssen ein Auto abholen.«

17 Lisa

Lisa Durnau hangelt sich den Tunnel hinauf ins Herz des Asteroiden. Der Schacht ist nur ein wenig breiter als ihr Körper, die Vakuumanzüge sind weiß und liegen eng an. Sie bekommt den Gedanken nicht aus dem Kopf, dass sie ein NASA-Spermium ist, das eine kosmische Yoni hinaufschwimmt. Sie zieht sich am weißen Nylonseil vorwärts und folgt Sam Raineys Profilsohlen. Dann halten die Füße des Projektleiters inne. Sie stößt sich von einem Knoten im Seil ab und schwebt halbwegs eine Vagina aus Stein hinauf, eine Viertelmillion Meilen von zu Hause entfernt. Ein Roboterarm streckt sich vom inneren Kern nach unten und zwängt sich an ihr vorbei, auf kleinen Manipulatorfingern kriechend. Lisa zuckt zusammen, als er ihren Druckanzug streift. Japanische Königskrabben sind ein Schrecken ihrer Kindheit, spindeldürre Dinger aus Chitin. Sie hat des Öfteren geträumt, wie sie die Bettdecke zurückschlägt und darunter eine solche Krabbe vorfindet, die die Scheren nach ihrem Gesicht ausstreckt.

»Warum die Verzögerung?«

»Hier ist eine Wendehöhle. Von nun an werden Sie die Wirkung der Gravitation spüren. Sie möchten sich bestimmt nicht mit dem Kopf nach unten weiterbewegen.«

»Dieses Tabernakelding hat ein eigenes Schwerkraftfeld?«

Sam Rainey zieht die Beine an, dann verschwindet er im Schimmern zwischen den Lumröhren. Lisa sieht ein vages Weiß, das einen Purzelbaum schlägt, dann blickt sein Gesicht durch das Visier in ihres.

»Passen Sie auf, dass Sie sich nirgendwo die Arme einklemmen.«

Lisa Durnau zieht sich vorsichtig in den Wendebereich hinauf. Die Stelle ist gerade groß genug, so dass sich ein gekrümmter Körper im Vakuumanzug vielleicht nie mehr daraus befreien kann. Sie zieht eine Grimasse, als der Fels über ihre Schultern kratzt.

Seit sie durch die Druckschleuse in das Ausgrabungszentrum von Darnley 285 ausgeschieden wurde, war alles beklemmend eng. In der ISS roch es muffig, doch in der Darnley-Basis herrscht ein Gestank, der einer konzentrierten Jahresdosis entspricht. Darnley ist eine instabile Trinität aus Weltraumwissenschaftlern, Archäologen und Ölarbeitern von der Nordküste Alaskas. Darnleys größte Überraschung war das, was die Bohrcrews entdeckten, als sie den Fels durchstoßen hatten und die Spycams hinunterließen. Es war kein Triebwerkssystem, kein phantastischer Sternenantrieb. Es war etwas ganz anderes.

Der Anzug, den man ihr gegeben hatte, passte wie eine zweite Haut, ein Mikrogewebe dünner als ein Sauerstoffmolekül, hinreichend flexibel, um sich damit in den engen Räumen der Darnley-Basis bewegen zu können, und gleichzeitig stabil genug, um einen menschlichen Körper vor dem Vakuum zu schützen. Lisa hatte sich, während ihr immer noch schwindlig vom Transfer aus dem Shuttle war, an einen Handgriff in der Druckschleuse geklammert und gespürt, wie sich der weiße Stoff immer fester auf ihre Haut legte. Die Leute der Crew hatten sich einer nach dem anderen umgedreht und waren in das Kaninchenloch getaucht, das den Eingang zum Felsbrocken bildete. Dann war sie an der Reihe, ihre Klaustrophobie zu überwinden und in den Schacht zu gleiten. Uhren tickten. Sie hatte fünfundvierzig Minuten, um reinzugehen, sich mit dem zu beschäftigen, was auch immer im Herzen von Darnley 285 wohnte, wieder rauszukommen und Captain Pilot Beths Shuttle zu besteigen, bevor der Rückflug begann.

Im Schlund des Asteroiden verschränkt Lisa Durnau die Arme vor der Brust, zieht die Beine an und macht einen Purzelbaum. Während sie sich am Seil nach unten hangelt, spürt sie ein klein wenig, dass etwas an ihren Füßen zerrt. Jetzt hat sie ein deutliches Gefühl von oben und unten, und ihr Magen gluckert, als er sich wieder in der natürlichen Richtung orientiert. Sie blickt zwischen ihren Füßen hindurch. Sam Raineys Kopf füllt den Schacht aus, umgeben von einem Halo. Da unten ist Licht.

Ein paar hundert Knoten schachtabwärts, und sie kann sich abstoßen und in Hundert-Meter-Sprüngen dahinschweben. Lisa jauchzt. Sie findet die Mikrogravitation viel aufregender und befreiender als den aufgedunsenen, übelkeitserregenden freien Fall.

»Vergessen Sie nicht, dass Sie wieder nach oben müssen«, sagt Sam.

Weitere fünf Minuten später und weiter unten ist das Licht ein heller, silberner Schein. Lisas Körper schätzt die Schwerkraft auf die Hälfte ein, und sie wird von Meter zu Meter stärker. Ihr Geist rebelliert empört über die Vorstellung, im absoluten Vakuum Gewicht zu haben. Plötzlich verschwindet Sams Kopf. Sie drückt die Finger und Zehen gegen die Wand und blinzelt durch ihre Füße auf eine Scheibe aus silbrigem Licht. Sie glaubt, ein Spinnennetz aus Seilen und Kabeln zu sehen.

»Sam?«

»Klettern Sie nach unten, bis Sie eine Strickleiter sehen. Halten Sie sich gut daran fest. Dann werden Sie mich sehen.«

Mit den Füßen voran und in einem viel zu engen Spermienanzug dringt Lisa Durnau in die Zentralhöhle von Darnley 285 ein. Unter ihr breitet sich das Netz aus Kabeln und Webleinen aus, das rund um das Dach der Höhle aufgespannt ist. Lisa setzt einen Fuß vor den anderen und arbeitet sich wie eine Seiltänzerin bis zu Sam Rainey vor, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Netz liegt.

»Schauen Sie nicht hinunter«, warnt Sam sie. »Noch nicht. Kommen Sie hier herüber und legen Sie sich neben mich.«

Lisa Durnau lässt sich bäuchlings auf eine Schlinge nieder und blickt hinunter ins Herz des Tabernakels.

Das Objekt ist eine perfekte Kugel aus Silbergrau. Es hat die Größe eines kleinen Hauses und hängt genau im Schwerkraftzentrum des Asteroiden zwanzig Meter unter Lisas Visier. Es strahlt ein stetiges, mattes, metallisches Licht aus. Während sich ihre Augen an den Chromschimmer gewöhnen, werden ihr Variationen bewusst, ein wogendes Chiaroscuro auf der Oberfläche. Der Effekt ist subtil, aber nachdem sie darauf aufmerksam wurde, erkennt sie Wellenmuster, die aufeinandertreffen, miteinander verschmelzen und neue Beugungsmuster erzeugen, grau in grau.

»Was passiert, wenn ich etwas darauf fallen lasse?«, fragt Lisa Durnau.

»Diese Frage stellt jeder«, sagt Sam Rainey in ihrem Ohr.

»Und? Was passiert?«

»Probieren Sie es selber aus.«

Das einzige Objekt, das Lisa gefahrlos entfernen kann, ist eins ihrer Namensschilder. Sie löst es vom Klettband am Brustteil ihres Anzugs und lässt es durch das Netz fallen. Sie hat sich vorgestellt, dass es im Flug flattert. Aber es fällt gerade und ungehindert durch das Vakuum innerhalb von Darnley 285. Das Schild ist kurz eine Silhouette vor dem Licht, dann verschwindet es im grauen Schimmer wie eine ins Wasser geworfene Münze. Wellen rasen über die Oberfläche und brechen sich an flüchtigen Strudeln und Spiralen. Es ist schneller gefallen, als es fallen sollte, denkt sie. Und sie hat bemerkt, dass es nicht hindurchgegangen ist. Als es auf die Oberfläche traf, wurde es annihiliert. Aufgelöst.

»Die Gravitation wird nach unten immer stärker«, stellt sie fest.

»An der Oberfläche beträgt sie etwa fünfzig g. Es ist wie ein schwarzes Loch. Nur dass ...«

»... es nicht schwarz ist. Also ... dumme, offensichtliche Frage ... was ist es?«

Sie hört über die Anzugverbindung, wie Sam den Atem durch die Zähne einsaugt.

»Na ja, es gibt EM-Strahlung im sichtbaren Spektrum ab, aber das ist die einzige Information, die wir von dem Ding erhalten. Alle Scans aus der Ferne, die wir ausprobieren, ergeben rein gar nichts. Abgesehen von diesem Licht ist es in jeder anderen Hinsicht ein schwarzes Loch. Ein leichtes schwarzes Loch.«

Nur dass es das nicht ist, begreift Lisa Durnau. Es macht mit eurem Radar und euren Röntgenstrahlen dasselbe wie mit meinem Namen. Es nimmt sie auseinander und annihiliert sie. Aber wozu, in was? Dann wird ihr ein kleines, wunderschönes Übelkeitsgefühl im Bauch bewusst. Es ist nicht die Umarmung der Gravitation oder der Wurm der Klaustrophobie oder die intellektuelle Furcht vor dem Fremden und Unbekannten. Es ist das Gefühl, an das sie sich aus der Toilettenkabine in Paddington Station erinnert: die Empfängnis einer Idee. Die morgendliche Übelkeit einer originellen Überlegung.

»Kann ich es mir aus größerer Nähe ansehen?«, fragt Lisa Durnau.

Sam Rainey rollt über das Netzgeflecht zu den Technikern, die in einem wackligen Nest aus alten Pilotensitzen und Sicherheitsgurten rund um ramponierte Instrumente kauern. Eine Gestalt mit den Schultern einer Frau und dem Namen Daen auf einer androgynen Brust überreicht dem Leiter einen Bildverstärker. Sam zieht ihn über Lisa Durnaus Helm und zeigt ihr, wie sie die knifflige Steuerung bedienen muss. Lisas Gehirn reagiert mit Schwindel, während sie mehrmals ran- und wegzoomt. Hier gibt es nichts, worauf man den Blick fokussieren könnte. Dann schwimmt es in ihr Sichtfeld. Die Haut des Tabernakels wimmelt von Aktivitäten. Lisa erinnert sich an Unterrichtsstunden in der Grundschule, als die Kinder eine Videokamera auf Teichwasser richteten und plötzlich überall Mikrotiere waren. Sie wandert die Skala hinauf, bis sich die zitternde Brown’sche Bewegung in Muster und Aktion auflöst. Das Silber ist das Zeitungspapiergrau von Atomen in Schwarz und Weiß, die kontinuierlich ihren Zustand ändern. Die Oberfläche des Tabernakels ist ein brodelndes Gewimmel fraktaler Bewegungen, von langsamen Wellenzügen bis zu flüchtigen Formationen, die übereinanderwuseln und sich gegenseitig auslöschen, um größere Strukturen zu bilden, die wie die Spuren in einer Blasenkammer in exotische und unvorhersagbare Fragmente zerfallen.

Lisa Durnau dreht die Feineinstellung hoch, bis die Anzeige bei X 1000 steht. Das körnige Gewimmel expandiert zu einem Flimmern in Schwarz und Weiß, ein hektisches Flackern, das hundertmal pro Sekunde neue Muster erzeugt. Die Auflösung ist denkbar unscharf, aber Lisa weiß, was sie ganz unten finden würde, wenn sie so weit hinunterkommen würde: ein Gitter aus einfachen schwarzen und weißen Quadraten, die von einem Zustand in den anderen wechseln.

»Zellulare Automaten«, flüstert Lisa Durnau, während sie über den fraktalen Wirbeln aus Mustern und Wellen und Dämonen hängt, wie Michelango kopfüber in der Sistina. Leben, wie Thomas Lull sofort erkannt hätte.

Lisa Durnau hat den größten Teil ihres Lebens in der flackernden schwarz-weißen Welt von zellularen Automaten verbracht. Ihr Großvater Mac — eine genetische Mischung aus schottisch-irischen Gegensätzen — war der Erste gewesen, der sie auf die Komplexitäten in den simplen Mustern der Spielsteine auf einem Othello-Brett aufmerksam machte. Ein paar grundlegende Regeln für den Wechsel der Farbe, basierend auf der Anzahl der angrenzenden schwarzen und weißen Steine, und man konnte barocke, filigrane Muster erwecken, die über das Brett wucherten.

Online entdeckte sie ganze Bestiarien aus schwarz-weißen Formen, die über ihren Flachbildschirm krochen, schwammen, schossen oder schwärmten, eine gespenstische Mimikry lebender Wesen. Ein Stockwerk tiefer in seinem Arbeitszimmer mit den theologischen Werken an den Wänden entwarf Pastor David G. Durnau Predigten, in denen er nachwies, dass die Erde achttausend Jahre alt war und der Grand Canyon von den Wassern der Sintflut geschaffen wurde.

In ihrem letzten Jahr an der Highschool, als ihre Freundinnen sie zugunsten von Abercrombie, Fitch und Skaterboyz im Stich ließen, versteckte sie ihre soziale Unbeholfenheit hinter den glitzernden Wänden von dreidimensionalen zellularen Automaten. Ihr Jahresabschlussprojekt, bei dem es um den Bezug der zierlichen Formen auf ihrem Computer mit den barocken Glasschalen von mikroskopischen Diatomeen ging, hatte sogar ihren Mathelehrer verblüfft. So konnte sie letztlich genau das studieren, was sie wollte. Also war sie ein Nerd. Aber sie konnte sehr schnell laufen.

In ihrem zweiten Jahr rannte sie zehn Kilometer pro Tag und stieß unter die schillernde Oberfläche ihrer schwarzweißen virtuellen Welt zur funkigen Bassline der Regeln vor. Einfache Programme, aus denen sich komplexes Verhalten entwickelt, waren der Kern der Wolfram-Friedkin-Vermutung. Sie hatte keinen Zweifel, dass das Universum mit sich selbst kommunizierte, aber sie musste herausfinden, was sich in der Struktur der Raumzeit und Energie verbarg, das den Kontrapunkt anregte. Sie wollte lauschen, wenn Gott stille Post spielte. Die Suche warf sie vom Schachbrett des Künstlichen Lebens in luftige, von Drachen heimgesuchte Regionen: Kosmologie, Topologie, M-Theorie und ihr Erbe, die M-Stern-Theorie. In jeder Hand hielt sie gedankliche Universen, führte sie zusammen und beobachtete, wie sie sich beugten und brannten.

Leben. Das Spiel.

»Wir haben ein paar Theorien«, sagt Sam Rainey. Nach sechsunddreißig Stunden im Drogenschlaf ist Lisa Durnau wieder in der ISS. Sie, Sam und die Agentin Daley bilden ein geordnetes, höfliches Kleeblatt in Null-G, eine unbewusste Reprise des stählernen Symbols, das den Weg zum Herzen von Darnley 285 weist. »Erinnern Sie sich daran, was passierte, als Sie Ihr Namensschild fallen ließen.«

»Es ist ein perfektes Aufzeichnungsmedium«, sagt Lisa. »Alles, womit es physikalisch interagiert, wird zu reiner Information digitalisiert.« Ihr Name ist nun ein Teil der Struktur. Sie ist sich nicht sicher, was sie davon halten soll. »Also nimmt es Dinge auf. Aber hat es jemals etwas von sich gegeben? Irgendeine Art von Transmission oder Signal?«

Sie fängt eine Transmission oder ein Signal zwischen Sam und Daley auf.

»Darüber werde ich gleich sprechen«, sagt Daley, »aber zuerst wird Sam Ihnen die historische Perspektive erläutern.«

»Sie spricht von der historischen Perspektive«, sagt Sam, »aber in Wirklichkeit ist sie archäologisch. Im Grunde trifft nicht einmal das zu, weil es viel zu nahe wäre. Es geht vielmehr um die kosmologische Perspektive. Wir haben Isotopenanalysen durchgeführt.«

»Ich kenne mich ein bisschen mit Paläontologie aus. Sie werden mich nicht mit Wissenschaft blenden.«

»Laut unserer Tabelle der Zerfallsprodukte von 238U ergibt sich ein Alter von sieben Milliarden Jahren.«

Als Kind eines Geistlichen neigt Lisa Durnau nicht dazu, den Namen des Herrn zu missbrauchen, aber jetzt entfährt ihr ein simples, ehrfürchtiges »Großer Gott!« Die Äonen von Alterre, die wie ein Abend vergehen, haben ihr ein Gefühl für Tiefenzeit gegeben. Doch der Zerfall radioaktiver Isotope reicht in die tiefste Zeit überhaupt, in einen Abgrund der Vergangenheit und Zukunft. Darnley 285 ist älter als das Sonnensystem. Plötzlich wird sich Lisa Durnau sehr der Tatsache bewusst, dass sie nicht mehr als ein Klumpen aus Knorpel und Nerven ist, der in einer Kaffeekanne mitten im Nichts durchgeschüttelt wird.

»War es das«, sagt Lisa Durnau vorsichtig, »was Sie mir unbedingt vorher mitteilen wollten?«

Daley Suarez-Martin und Sam Rainey blicken sich an, und Lisa Durnau wird klar, dass sie die Leute sind, auf die sich ihr Land verlassen muss, wenn es um die erste Begegnung mit etwas Außerirdischem geht. Keine Superhelden, keine Superwissenschaftler, keine Supermanager. Sie haben überhaupt nichts Supermäßiges. Alltagswissenschaftler und Beamte. Sie arbeiten sich voran und machen mit dem weiter, was sie vorfinden. Die ultimative menschliche Ressource: die Fähigkeit zur Improvisation.

»Wir haben mehr oder weniger seit Tag eins Videoaufnahmen von der Oberfläche des Tabernakels gemacht«, sagt Sam Rainey. »Wir haben eine Weile gebraucht, bis wir erkannten, dass wir die Kamera mit fünfzehntausend Bildern pro Sekunde laufen lassen müssen, um die Muster isolieren zu können. Wir haben sie analysieren lassen.«

»Um den Regeln auf die Spur zu kommen, die diesen Automaten antreiben.«

»Ich glaube, ich verrate kein Staatsgeheimnis, wenn ich sage, dass wir in unserem Land nicht die nötigen Kapazitäten dafür haben.«

Unser Land, denkt Lisa Durnau, während sie sich im Orbit um den stabilen L-5-Punkt befindet. Eingeschränkt durch euer eigenes Hamilton-Gesetz. Sie sagt: »Sie brauchen eine Mustererkennungs-Kaih höherer Stufe. 2,8 oder vielleicht noch höher.«

»Wir haben einige Entschlüsselungs- und Mustererkennungsspezialisten zur Verfügung«, sagt Daley Suarez-Martin. »Bedauerlicherweise leben sie in nicht besonders stabilen politischen Regionen.«

»Also brauchen Sie mich gar nicht, um den Rosetta-Stein zu finden. Wofür dann?«

»Hin und wieder haben wir unanfechtbare, erkennbare Muster empfangen.«

»Wie oft?«

»Dreimal. Auf drei aufeinanderfolgenden Einzelbildern. Am dritten Juli dieses Jahres. Das hier ist das erste.«

Daley lässt ein großes Hochglanzfoto im Dreißig-mal-zwanzig-Format durch die Luft zu Lisa Durnau schweben. Im Grau in Grau zeichnet sich das Gesicht einer Frau ab. Die Auflösung des zellularen Automaten ist hoch genug, um den etwas verwunderten Gesichtsausdruck abzubilden, den leicht geöffneten Mund, selbst eine Andeutung der Zähne. Sie ist jung, hübsch, von unbestimmbarer Rasse, und die huschenden weißen und schwarzen Punkte, die in der Zeit gefroren sind, haben ein ermüdetes Stirnrunzeln eingefangen.

»Wissen Sie, wer sie ist?«, fragt sie.

»Wie Sie sich vorstellen können, war diese Frage von höchster Priorität«, sagt Daley. »Wir haben überall angefragt, FBI, CIA, Finanzamt, Sozialversicherung und Reisepassdatenbanken. Kein Treffer.«

»Sie muss keine Amerikanerin sein«, sagt Lisa Durnau.

Das scheint Daley aufrichtig zu überraschen. Sie zieht das nächste Foto hervor und schiebt es Lisa zu, mit der Bildseite nach unten. Lisa dreht das Blatt um und greift unwillkürlich nach etwas, das nicht fällt, an dem sie sich festhalten kann. Aber hier fällt alles gleichzeitig, schon die ganze Zeit.

Er trägt eine andere Brille und hat den Bart zu einem Kranz aus Stoppeln gestutzt. Er hat sich das Haar wachsen lassen und eine Menge Gewicht verloren, aber die kleinen grauen Zellen haben den süffisanten, verunsicherten Blick bewahrt, der »Weg mit der blöden Kamera!« zu sagen scheint. Thomas Lull.

»Gütiger Gott«, haucht sie.

»Bevor Sie irgendetwas sagen, schauen Sie sich bitte diese letzte Aufnahme an.«

Daley Suarez-Martin lässt das letzte Foto schweben, vom Raum gerahmt.

Sie. Es ist ihr Gesicht, in Silber gezeichnet, aber deutlich genug, um das Muttermal auf der Wange zu erkennen, die Lachfältchen um die Augen, den kürzeren, sportlicheren Haarschnitt, den Ausdruck des geöffneten Mundes, der aufgerissenen Augen und der angespannten Gesichtsmuskeln, den sie nicht genau bestimmen kann. Furcht? Wut? Entsetzen? Ekstase? Es ist unmöglich und unglaublich und verrückt. Es ist verrückter als verrückt, aber sie ist es. Lisa Leonie Durnau.

»Nein«, sagt Lisa langsam. »Damit wollen Sie mich auf den Arm nehmen. Oder es sind die Drogen. In Wirklichkeit bin ich immer noch im Shuttle, nicht wahr? Das bilde ich mir nur ein, nicht wahr? Na los, sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Lisa, ich kann Ihnen versichern, dass Sie nicht unter Halluzinationen oder sonstigen Folgeerscheinungen des Fluges leiden. Ich zeige Ihnen hier keine Fälschungen. Warum sollte ich das tun? Warum sollten wir Sie den weiten Weg hierherbringen, um Ihnen gefälschte Fotos zu zeigen?«

Dieser beruhigende Tonfall. Diese typische Agenten- und MBA-Sprechweise. Frieden. Beruhigen Sie sich. Wir haben alles unter Kontrolle. Bleiben Sie rational, selbst wenn Sie es hier mit einer extrem irrationalen Sache zu tun haben. Lisa Durnau umklammert mit einer Hand ein Gurtband an der gepolsterten Wand der ISS-Nabe und begreift, dass die Abfolge der Ereignisse immer irrationaler geworden ist, seit die Leute in den Anzügen in ihrem Büro aufgetaucht sind. Schon vorher, in dem Moment, als ihr Gesicht im Gewimmel der Zellen auftauchte, war sie ohne ihr Wissen, ohne ihre Erlaubnis vom Tabernakel auserwählt worden. Alles war von diesem Ding im Himmel vorherbestimmt worden.

»Ich weiß es nicht!«, ruft Lisa Durnau. »Ich weiß nicht, warum ... es zuerst gar nichts hervorbringt und dann mein Gesicht zeigt. Ich weiß es nicht, okay? Ich habe es nicht darum gebeten, ich wollte es nicht, es hat nichts mit mir zu tun, verstehen Sie?«

»Lisa.« Wieder der besänftigende Tonfall.

Sie ist es, aber in einer Version, die sie noch nie zuvor gesehen hat. Sie hat ihr Haar noch nie so getragen. Lull hat niemals so ausgesehen. Älter, freier, schuldbewusster. Nicht weiser. Und dieses Mädchen — Lisa ist ihr nie begegnet, aber sie weiß, dass es geschehen wird. Es ist ein Schnappschuss aus ihrer Zukunft, der vor sieben Milliarden Jahren aufgenommen wurde.

»Lisa«, sagt Daley Suarez-Martin ein drittes Mal. Petrus erwachte beim dritten Hahnenschrei, nach der dritten Verleugnung. »Ich werde Ihnen sagen, was wir von Ihnen erwarten.«

Lisa Durnau nimmt einen tiefen Atemzug. »Ich weiß, was Sie von mir erwarten«, sagt sie. »Ich werde ihn suchen. Etwas anderes kann ich doch gar nicht tun, oder?«

Die Erde hat den kleinen Lightbody fest im Griff. Es ist drei Minuten her — Lisa hat die Sekunden mitgezählt —, seit die Manöverdüsen zuletzt gefeuert haben. Die Kaih hat sich entschieden. Jetzt liegt alles in den Händen der Geschwindigkeit und Schwerkraft. Mit dem Rücken voran schrammt Lisa Durnau am Rand der Atmosphäre entlang, in einem Ding, das immer noch wie eine überdimensionierte Orangenpresse aussieht, nur dass es jetzt, bei einer Rumpftemperatur, die sich der Dreitausend-C-Marke nähert, nicht mehr so spaßig ist wie unten in Canaveral. Eine falsche Ziffer hinter dem Komma, und aus dünner Luft wird eine solide Wand, die einen in den Weltraum katapultiert, wo niemand da ist, der einen auffangen könnte, bevor einem die Luft ausgeht oder man zum Feuerball wird und als Wolke aus Titanionen endet, die mit einem Hauch Kohlenstoff gewürzt ist.

Als Teenager hat sich Lisa Durnau in ihrem Zimmer im College-Wohnheim der größten Angst ihres Lebens hingegeben. Allein in der Dunkelheit zwischen den lärmenden Rohrleitungen hatte sie sich vorgestellt, wie es sein wird, wenn sie stirbt. Die Atmung versagt. Panik steigt auf, während ihr Herz nach Blut ringt. Von allen Seiten rückt die Schwärze näher. Das Wissen um das, was geschehen wird, dass man nichts dagegen tun kann und dass nach diesem kümmerlichen, unwürdigen letzten Moment der Bewusstheit nichts mehr sein wird. All dies wird mit Lisa Durnau geschehen. Kein Entkommen. Kein Ausweg. Das Todesurteil ist unwiderruflich. Sie hatte sich selbst geweckt, mit Eiseskälte im Bauch und schmerzender Gewissheit im Herzen. Sie hatte das Licht eingeschaltet und versucht, sich mit guten Gedanken abzulenken, hellen Gedanken, an Jungs und Laufen und was sie noch für diese Seminararbeit tun könnte und wo die Mädchen am Freitag ihren Mittagsclub abhalten könnten, aber ihr Bewusstsein kehrte immer wieder zu dieser schrecklichen, köstlichen Angst zurück wie eine Katze zum Ausgekotzten.

Genauso ist der Wiedereintritt. Sie versucht, an gute Dinge zu denken, helle Dinge, aber sie kann nur zwischen verschiedenen Übeln wählen, und das allerschlimmste Übel ist da draußen und erhitzt den Rumpf hinter der gepolsterten Wand auf Krematoriumstemperatur. Es brennt sich durch die Drogen. Es brennt sich durch alles. Du bist die Frau, die zur Erde fiel. Der Lightbody ruckelt. Lisa stößt einen leisen Schrei aus.

»Alles in Ordnung, reine Routine, nur eine Asymmetrie im Plasmaschild.« Sam Rainey ist auf der Beschleunigungsliege Nummer zwei angeschnallt. Er ist ein alter Hase, ist schon ein Dutzend Mal rauf und runter geflogen, aber Lisa Durnau riecht es, wenn man ihr Blödsinn erzählt. Ihre Finger haben sich um die Armlehne verkrampft, sie streckt sie, berührt kurz ihr Herz, um sich zu beruhigen. In der Tasche spürt sie das flache rechteckige Objekt, auf dem ihr Name geschrieben steht.

Wenn sie Thomas Lull findet, wird sie ihm den Inhalt ihrer rechten Brusttasche zeigen. Es ist ein Speicherblock, der alles enthält, was man über das Tabernakel herausgefunden oder gemutmaßt hat. Dann muss sie ihn nur noch überzeugen, beim Forschungsprojekt mitzumachen. Thomas Lull war der prominenteste, eklektizistischste, visionärste und einflussreichste wissenschaftliche Denker seiner Zeit. Regierungsmitglieder und Chatshow-Moderatoren waren gleichermaßen an seinen Meinungen interessiert. Wenn jemand eine Idee, einen Traum oder eine Vision hat, was dieses Ding sein könnte, das in seinem steinernen Kokon rotiert, wenn irgendjemand seine Botschaft und Bedeutung entschlüsseln kann, dann Thomas Lull.

Der Speicherblock ist nahezu allmächtig. Seine besondere Fähigkeit besteht darin, dass er jedes Überwachungskamerasystem auf erkannte Gesichter scannen kann. Außerdem ist er so konfiguriert, dass er sich, wenn er Lisas persönlichen Körpergeruch nicht mehr wahrnimmt, nach einer Stunde zu einem Klecks aus Proteinchips zersetzen wird. Seien Sie vorsichtig beim Duschen oder Schwimmen, und halten Sie das Gerät in der Nähe, wenn Sie zu Bett gehen, lauten die Anweisungen. Ihre einzige Spur ist eine unzureichend bestätigte Sichtung von Thomas Lull vor dreieinhalb Jahren in Kerala, Südindien. Die Offenbarung des Tabernakels hängt von einer einzigen unzuverlässigen alten Backpacker-Geschichte ab. Die Botschaften und Konsulate sind alarmiert, jegliche Form von Unterstützung zu leisten. Für die Spesen wurde eine Karte autorisiert. Der Kredit ist unbegrenzt, aber Daley Suarez-Martin, die weiterhin Lisa Durnaus Betreuerin sein wird, ob im Orbit oder auf der Erde, hätte gern irgendwelche Belege für die Ausgaben.

Der kleine Lightbody kracht auf die Luft, eine Schwerkraftfaust drückt Lisa Durnau tief in ihre Gelliege, und alles ruckelt, rattert und wackelt. Sie hat größere Angst als je zuvor, und es gibt nichts, absolut nichts, woran sie sich festhalten könnte. Sie streckt eine Hand aus. Sam Rainey nimmt sie. Sein Handschuh wirkt riesig, wie aus einem Zeichentrickfilm, ein winziger Punkt der Stabilität in einem fallenden, bebenden Universum.

»Irgendwann!«, ruft Sam mit zitternder Stimme. »Irgendwann! Wenn wir! Unten sind! Wollen wir uns! Zum Abendessen verabreden! Irgendwann?«

»Ja! Alles was! Sie möchten!«, heult Lisa Durnau, während sie kennedywärts dahinrast und eine lange, wunderschöne Plasmaspur über dem hohen Gras der Prärie von Kansas an den Himmel zeichnet.

18 Lull

Woran Thomas Lull merkt, dass er unamerikanisch ist: Er hasst Autos und liebt Züge, indische Züge, riesige Züge, als wäre eine ganze Nation unterwegs. Er fühlt sich wohl mit dem Widerspruch, dass sie gleichzeitig hierarchisch und demokratisch sind, die Passagiere bilden eine Gemeinschaft, die sich zeitweilig zusammenfindet. Sie ist lebenswichtig, so lange die Fahrt dauert, und verflüchtigt sich wie Morgennebel, wenn der Endbahnhof erreicht ist. Jede Reise ist eine Pilgerfahrt, und Indien ist eine Pilgernation. Flüsse, große Fernstraßen, Eisenbahnen — das sind die heiligen Dinge in sämtlichen Nationen Indiens. Seit Jahrtausenden sind Menschen über diese riesige Raute Land geströmt. Alles fließt wie Flüsse, die ineinandermünden, eine Weile gemeinsam unterwegs sind und sich schließlich wieder auflösen.

Westliches Denken rebelliert gegen solche Vorstellungen. Westliches Denken ist Autodenken. Bewegungsfreiheit. Selbststeuernd. Individuelle Auswahl und Selbstdarstellung und Sex auf den Rücksitzen. Die große Auto-Gesellschaft. In der Literatur und Musik waren Züge schon immer Maschinen des Schicksals, die das Individuum blind und unausweichlich in den Tod führen. Züge fuhren durch das Tor von Auschwitz, bis zu den Duschbaracken. Indien hat ein anderes Verständnis von Eisenbahnen. Es geht nicht darum, wohin die unsichtbare Lok einen bringt, sondern um das, was man durch das Fenster sieht, was man zu seinen Mitreisenden sagt, weil alle zusammen fahren. Der Tod ist ein riesiger, überfüllter Endbahnhof mit kaum verständlichen Ansagen und Anschlussverbindungen für neue Reisen. Zugwechsel.

Der Zug von Thiruvananthapuram bewegt sich durch ein weites Netz aus Gleisen in den großen Bahnhof. Schlanke Shatabdis schlängeln sich über die Weichen zu den Hochgeschwindigkeitsstrecken. Lange Pendlerzüge rollen heulend vorbei, mit Passagieren geschmückt, die an den Türen hängen, auf den Trittbrettern stehen, sich auf dem Dach drängen, die Arme durch die vergitterten Fenster geschoben, Gefangene der Weltlichkeit.

Mumbai. Die Stadt hat Thomas Lull schon immer angewidert. Zwanzig Millionen Menschen leben auf diesem ehemaligen Archipel aus sieben duftenden Inseln. Es herrscht abendlicher Hochbetrieb. Die Innenstadt von Mumbai ist das größte Einzelgebäude der Welt — Einkaufszentren und Wohnanlagen und Büros und Freizeiteinrichtungen, die zu einem vielarmigen und vielköpfigen Dämon miteinander verschmolzen sind. Im Herzen des Ganzen nistet der Chhattrapati Shivaji Terminus, ein Bezoar der viktorianischen Übersteigerung und Arroganz, nun vollständig überkuppelt mit Einkaufsvierteln und Geschäftsniederlassungen, wie eine Kröte, die von einer Kalksteinknolle umschlossen wird. In Chhattrapati Shivaji ist es nie auch nur einen Augenblick lang ruhig oder still. Es ist eine Stadt in der Stadt. Gewisse Kasten prahlen damit, einzig und allein hier vertreten zu sein, Familien behaupten, seit Generationen zwischen den Bahnsteigen und Gleisen und roten Ziegelpfeilern gelebt zu haben, die niemals das Tageslicht sehen. Fünfhundert Millionen Pilgerfüße schreiten jedes Jahr über den Raj-Marmor, umsorgt von unzähligen Trägern, Verkäufern, Gaunern, Versicherungsvertretern und Janampatri-Lesern.

Lull und Kij treten zwischen die Familien und Gepäckstücke auf den Bahnsteig. Der Lärm klingt wie ein Raubüberfall. Fahrplanansagen sind unverständliche Fanfaren aus dröhnenden Lautsprecheranlagen. Träger sammeln sich um die weißen Gesichter, zwanzig Hände greifen nach ihren Taschen. Ein dürrer Mann in roter Uniformjacke der MarathaRail nimmt Kijs Tasche. Schnell wie ein Messer schießt ihre Hand vor, um ihn festzuhalten. Sie neigt den Kopf, blickt ihm in die Augen.

»Ihr Name ist Dheeraj Tendulkar, und Sie sind ein verurteilter Dieb.«

Der falsche Träger zuckt zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen.

»Wir werden unsere Sachen selber tragen.« Thomas Lull nimmt Kij am Ellbogen und führt sie wie eine Braut durch das Gedränge aus Körpern und Gerüchen. Ihr Blick huscht im Strom der Leute von Gesicht zu Gesicht.

»Die Namen. All die Namen. Viel zu viele, um sie zu lesen.«

»Ich verstehe diese Götter-Sache immer noch nicht«, sagt er.

Die Rotjacken haben sich um den Gauner geschart. Laute Stimmen, ein Schrei.

Eine Stunde Wartezeit bis zur Abfahrt des Bharat Shatabdi. Thomas Lull findet Zuflucht in der Filiale einer globalen Cafeteria. Er zahlt westliche Preise für einen Pappbecher mit Holzrührer. In der Brust spürt er eine Beklemmung, die somatische Reaktion des Asthmatikers auf diese klaustrophobische, erbarmungslose Stadt unterhalb einer Stadt. Durch die Nase. Atme durch die Nase. Den Mund zum Sprechen.

»Das ist sehr schlechter Kaffee, findest du nicht auch?«, sagt Kij.

Thomas Lull trinkt ihn und sagt nichts. Er beobachtet das Kommen und Gehen der Züge und wie die Menschen auf dieser Etappe ihrer Pilgerfahrt herumlaufen. Unter ihnen ein Mann, der dorthin unterwegs ist, wohin ein Mann seines Alters und seiner Gesinnung niemals gehen sollte, zum Schauplatz eines dreckigen kleinen Wasserkriegs. Aber es ist ein Mysterium, eine Verlockung, es ist Wahnsinn und Waghalsigkeit, während man eigentlich nicht mehr zu empfinden erwartet als das Summen der universellen Mikrowellenhintergrundstrahlung im Knochenmark.

»Kij, zeig mir noch einmal das Foto. Es gibt etwas, das ich dir sagen muss.«

Aber sie ist gar nicht mehr da. Kij bewegt sich wie ein Geist durch die Menge. Menschen gehen ihr aus dem Weg und starren sie an. Thomas Lull wirft Bargeld auf den Tisch, setzt ihr nach, winkt ein paar Träger heran, die die Taschen nehmen sollen.

»Kij! Unser Zug ist da drüben!«

Sie geht weiter, ohne ihn zu hören. Sie ist die Madonna des Chhattrapati Shivaji Terminus. Eine Familie sitzt auf einem Dhuri unter einer Anzeigetafel und trinkt Tee aus Thermoskannen. Mutter, Vater, Großmutter, zwei jugendliche Mädchen. Kij geht auf sie zu, ohne Eile, unaufhaltsam. Einer nach dem anderen blicken sie auf, spüren, wie sich die Aufmerksamkeit des ganzen Bahnhofs auf sie richtet. Kij bleibt stehen. Thomas Lull bleibt stehen. Die Träger, die hinter ihm hertrotten, bleiben stehen. Thomas Lull spürt auf Quantenniveau wie jeder Zug, jeder Gepäckwagen und jede Rangierlok anhält, wie jeder Passagier, jeder Ingenieur und jeder Wachmann erstarrt, wie jedes Signal und jedes Zeichen und jede Anzeigetafel im Umspringen verharrt. Kij hockt sich vor die eingeschüchterte Familie.

»Sie wollen nach Ahmedabad fahren, aber ich muss Ihnen sagen, dass er nicht da sein wird, um Sie abzuholen. Er steckt in Schwierigkeiten. In großen Schwierigkeiten. Er wurde verhaftet. Er ist eines schwerwiegenden Vergehens angeklagt, Diebstahl eines Motorrads. Er wird in der Polizeiwache des Surendranagar District festgehalten, Nummer GBZ16652. Er braucht einen Anwalt. Azad und Söhne sind eine der erfolgreichsten Strafrechtskanzleien von Ahmedabad. Es gibt einen schnelleren Zug, mit dem Sie in fünf Minuten vom Bahnsteig 19 abfahren können. Dazu müssen Sie in Surat umsteigen. Wenn Sie sich beeilen, können Sie ihn noch erwischen. Schnell!«

Lull greift nach ihrem Arm. Kij dreht sich um. In ihren Augen sieht er Emotionen, die ihm Angst machen, aber er hat den Bann des Moments gebrochen. Die verängstigte Familie reagiert mit unterschiedlichen Arten panischer Hektik. Vater reckt die Brust, Mutter zieht den Kopf ein, Großmutter hebt lobpreisend die Hände, Töchter versuchen das Teegeschirr einzusammeln. Ein heißer, feuchter Fleck aus vergossenem Chai breitet sich auf dem Dhuri aus.

»Sie hat recht«, ruft Thomas Lull, während er Kij fortzerrt. Jetzt leistet sie keinen Widerstand mehr, wie jene, die er von den Strandpartys fortführt, die durch den Sand stolpern, die auf den schlechten Trips. »Sie hat immer recht. Wenn sie sagt, Sie sollten gehen, dann sollten Sie gehen.«

Der Chhattrapati Shivaji Terminus atmet aus und nimmt seinen kontinuierlichen niedrigschwelligen Schrei wieder auf.

»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?«, sagt Lull, während er mit Kij zum Bahnsteig 5 hetzt, wo der Raj Shatabdi von Mumbai nach Varanasi aufgerufen wurde, ein langer Krummsäbel in Grün und Silber, der in den Flutlichtern des Bahnhofs glänzt. »Was hast du diesen Leuten gesagt? Du hättest sonst was lostreten können.«

»Sie wollen ihren Sohn besuchen, aber er steckt in Schwierigkeiten«, sagt sie matt. Er glaubt, sie könnte jeden Augenblick zusammenbrechen.

»Hier entlang, Sir, hier entlang!« Die Träger führen sie durch die Menge. »Dieser Waggon, dieser Waggon!« Thomas Lull zahlt ihnen zu viel, damit sie Kij zu ihrem Platz bringen. Es ist ein reserviertes Zwei-Personen-Abteil, mit Beleuchtung, intim. Thomas Lull lehnt sich in den Lichtkegel. »Woher weißt du solche Sachen?«

Sie will ihn nicht ansehen, sie dreht den Kopf in die gepolsterte Rückenlehne. Ihr Gesicht ist aschfahl. Thomas Lull macht sich große Sorgen, dass sie einen weiteren Asthmaanfall bekommen könnte.

»Ich habe es gesehen, die Götter ...«

Er stürzt auf sie zu, nimmt ihr herzförmiges Gesicht in die Hände und dreht es, damit sie ihn ansieht.

»Lüg mich nicht an. Niemand kann so etwas sehen.«

Sie berührt seine Hände, und er spürt, wie sie sich von ihrem Gesicht lösen.

»Ich habe es dir erklärt. Ich sehe es wie einen Halo um die Menschen. Wer sie sind, wohin sie gehen, welchen Zug sie nehmen. Zum Beispiel diese Leute, die zu ihrem Sohn fahren wollten, nur dass er nicht für sie da sein würde. All das, und sie hätten nichts davon gewusst. Sie hätten im Bahnhof gewartet und gewartet, und Züge wären angekommen und abgefahren, und er wäre trotzdem nicht gekommen. Vielleicht wäre sein Vater zu seiner Adresse gegangen, aber dort hätte er nur erfahren, dass er an jenem Morgen zur Arbeit ging und sagte, er würde seine Familie vom Bahnhof abholen. Dann wären sie zur Polizei gegangen und hätten herausgefunden, dass man ihn verhaftet hat, weil er ein Motorrad gestohlen hat. Sie würden Kaution bezahlen müssen und nicht wissen, zu wem sie gehen sollten, um ihn herauszuholen.«

Thomas Lull sackt auf seinem Sitz zusammen. Er gibt sich geschlagen. Seine Wut und sein stumpfer Yankee-Rationalismus versagen angesichts der Worte dieses blassen Mädchens.

»Dieser verlorene Sohn, wie ist sein Name?«

»Sanjay.«

Automatische Türen schließen sich. Ein Pfeifen übertönt das Getöse des Bahnhofs.

»Hast du noch das Foto? Zeig es mir, das Foto, das du mir unten in den Backwaters gezeigt hast.«

Lautlos und sanft setzt sich der Zug in Bewegung. Bahnhofswallahs und Angehörige halten Schritt, um die letzte Gelegenheit für einen Verkauf oder einen Abschiedsgruß zu nutzen. Kij klappt den Palmer auf dem Tisch auf.

»Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt«, sagt Thomas Lull.

»Ich habe dich gefragt. Du hast gesagt: ›Irgendwelche Touristen. Wahrscheinlich haben sie ein Foto, das genauso aussieht.‹ Das war nicht die Wahrheit?«

Der elektrische Zug ruckelt über Weichen und wird mit jedem Meter schneller, als er in einen Tunnel eintaucht, gespenstisch erhellt von Entladungen der Oberleitungen.

»Es war eine Wahrheit. Sie waren wirklich Touristen. Das waren wir alle, aber ich kenne diese Leute. Schon seit Jahren. Wir sind gemeinsam durch Indien gereist, so gut kannten wir uns. Ihre Namen sind Jean-Yves und Anjali Trudeau. Sie beschäftigen sich mit der Theorie der Künstlichen Intelligenzen, an der Universität von Strasbourg. Er ist Franzose, sie Inderin. Gute Wissenschaftler. Als ich das letzte Mal von ihnen hörte, überlegten sie, an die University of Bharat umzuziehen — näher an die Sundarbans heran. Sie dachten, dort würde die bahnbrechende Forschung stattfinden, ungehindert durch die Hamilton-Gesetze und die Kaih-Lizenzbeschränkungen. Wie es aussieht, haben sie diesen Schritt getan, aber sie sind nicht deine wirklichen Eltern.«

»Warum nicht?«, fragt Kij.

»Aus zwei Gründen. Erstens, wie alt bist du? Achtzehn? Neunzehn? Sie hatten kein Kind, als ich sie vor vier Jahren kennenlernte. Aber der zweite Grund schlägt jeden Einwand. Anjali kam ohne Gebärmutter auf die Welt. Jean-Yves hat es mir gesagt. Sie konnte niemals Kinder haben, nicht einmal in vitro. Sie kann nicht deine biologische Mutter sein.«

Der Shatabdi bricht aus der Unterstadt hervor ins Licht. Eine gewaltige Ebene aus Gold fällt schräg durch das Fenster auf den kleinen Tisch. Der photochemische Smog segnet Mumbai mit Bollywood-Sonnenuntergängen. Der ewige braune Dunst lässt die Zikkurate und Wohnkomplexe so ätherisch erscheinen wie heilige Berge. Strommasten flackern vorbei. Thomas Lull beobachtet, wie ihre Schatten über Kijs Gesicht huschen, und er versucht, ihre Regungen zu entziffern, die Reaktionen in der blendenden Goldmaske. Sie neigt den Kopf. Sie schließt die Augen. Thomas Lull hört, wie sie Luft holt. Kij blickt wieder auf.

»Professor Lull, ich erlebe verschiedene starke und unangenehme Empfindungen. Ich möchte versuchen, sie zu beschreiben. Obwohl ich verhältnismäßig ruhig bin, spüre ich ein Schwindelgefühl, als würde ich fallen, nicht im physikalischen Sinne, sondern nach innen. Ich empfinde eine Übelkeit, die ich nur als Gefühl der Leere beschreiben kann. Alles kommt mir unwirklich vor, als wären diese gegenwärtigen Ereignisse nicht real, als würde ich das alles in meinem Bett im Hotel in Thekkady träumen. Ich spüre die Wirkung eines Schlages, jedoch ohne dass mir tatsächlich ein physischer Hieb versetzt wurde. Ich stelle mir vor, dass die physikalische Substanz dieser Welt dünn und zerbrechlich wie Glas ist und dass ich jeden Augenblick durchbrechen und ins Nichts stürzen könnte. Doch gleichzeitig stelle ich fest, dass mir tausend verschiedene Ideen durch den Kopf rauschen. Professor Lull, können Sie mir diese gegensätzlichen Empfindungen erklären?«

Die rasche Sonne Indiens geht jetzt unter und taucht Kijs Gesicht in einen roten Schein, wie das eines Anhängers von Kali. Der schnelle Zug rauscht durch die weitläufigen Basti-Viertel von Mumbai.

»Das empfindet jeder, wenn das eigene Leben zu einer Ansammlung von Lügen wird«, sagt Thomas Lull. »Es ist Wut und Enttäuschung, es ist Verwirrung und Verlust und Furcht und Schmerz, aber all das sind nur Namen. Wir haben keine Sprache für Emotionen außer der Emotion selbst.«

»Ich spüre, dass sich Tränen in meinen Augen sammeln. Das ist äußerst überraschend.« Dann bricht Kijs Stimme, und Thomas Lull hilft ihr in den Waschraum, fort von den Blicken der anderen Passagiere, damit sich die fremdartigen Emotionen ungehindert ausleben können. Zurück auf seinem Sitz ruft er einen Steward und bestellt eine Flasche Wasser. Er gießt ein Glas ein, fügt ein starkes Beruhigungsmittel aus seiner kleinen, aber wirksamen Reiseapotheke hinzu und staunt über die einfache Komplexität der Wellenmuster, die der stählerne Rhythmus der Räder auf die Wasseroberfläche überträgt. Als Kij zurückkehrt, schiebt er ihr das zitternde Glas über den Tisch zu, bevor sie mit irgendwelchen weiteren Fragen herausplatzen kann. Er hat selber genug davon.

»Austrinken.«

Es dauert nicht lange, bis das Beruhigungsmittel wirkt. Kij blinzelt ihn wie eine betrunkene Eule an und rollt sich katzengleich so bequem wie möglich auf dem Sitz zusammen. Dann ist sie weggetreten. Thomas Lulls Hand nähert sich ihrer Tilaka und hält dann inne. Es wäre ein ungeheuerlicher Übergriff, genauso schlimm, als hätte er seine Hand unter den Bund ihrer lockeren grauen Hose geschoben. Und das ist ein Gedanke, den er bis zu dieser Sekunde niemals in Worte gefasst hat.

Seltsames Mädchen, zusammengekauert wie eine schlaksige Zehnjährige auf ihrem Sitz. Er hat ihr Wahrheiten gesagt, die jedes Herz verängstigen würden, und sie hat sie wie philosophische Thesen behandelt. Als wären sie ihr völlig neu. Fremdartig. Warum hat er es ihr gesagt? Um ihre Illusion zu zerstören, oder weil er wusste, wie sie reagieren würde? Weil er ihren Gesichtsausdruck sehen wollte, während sie sich bemühte, die Empfindungen ihres Körpers zu verstehen? Er kennt die furchtsame Verblüffung von den Gesichtern der Beachclub-Kids, wenn sie von den Emotionen umgehauen werden, die von der Proteinprozessor-Matrix der Cyberabads zusammengebraut werden. Emotionen, für die ihre Körper weder einen Bedarf noch eine Entsprechung haben, die sie erfahren, aber nicht verstehen können. Fremdartige Emotionen.

Er hat noch viel Arbeit vor sich. Während der schnelle Zug an den leeren, versteppten Reservoirs des reinigenden Narmada vorbeistürzt und in die Nacht jenseits der Dörfer und Städte und verdorrten Wälder hineinrast, traumwandelt Thomas Lull. Ein alter bodenständiger Ausdruck von Lisa Durnau für Visionieren, für ungehindertes Phantasieren, wenn man sich zurücklehnt und die Gedanken bis zu den fernsten Grenzen des Möglichen abschweifen lässt. Diese Arbeit liebt er am meisten, und sie kommt der Art von Spiritualität am nächsten, zu der ein alter Heide wie Thomas Lull imstande ist. Es geht, denkt er, letztlich nur um Spiritualität. Gott ist unser eigener Geist, unser wahres, vorbewusstes Ich. Die Yogis haben es in all den Jahrtausenden völlig richtig erkannt. Die Ausarbeitung einer Idee ist niemals so aufregend wie das Feuer der Erschaffung, der Moment der brennenden Erkenntnis, wenn man urplötzlich über das absolute Wissen verfügt. Er beobachtet Kij, während Ideen durcheinanderpurzeln, zusammenstoßen und zerbrechen und erneut von der intellektuellen Gravitation zusammengezogen werden. Mit der Zeit werden sie zu einer neuen Welt verschmelzen, aber Thomas Lull weiß bereits genug, um sich ihre künftige Natur vorzustellen. Und davor hat er Angst.

Der Zug rast weiter und schiebt eine Bugwelle aus Licht in die Nacht, während er jede Stunde zweihundertachtzig Kilometer Indien verbraucht. Die Erschöpfung ringt mit der intellektuellen Begeisterung und kann sie schließlich bezwingen. Thomas Lull schläft ein. Er wacht erst beim kurzen Halt in Jabalpur auf, als der Zoll von Awadh eine flüchtige Grenzkontrolle durchführt. Zwei Männer mit Schirmmützen schauen Thomas Lull an. Kij schläft weiter, den Kopf in eine Armbeuge gekuschelt. Weißer Mann und westliche Frau. Unantastbare. Thomas Lull döst wieder ein, wacht einmal auf und erschaudert in urtümlicher, kindlicher Freude über das Rattern der Räder unter ihm. Er fällt in einen langen und unbesorgten Schlaf, der durch einen unplanmäßigen Ruck beendet wird, der ihn aus der Bewusstlosigkeit schmerzhaft gegen den Tisch wirft.

Gepäck stürzt aus den Ablagen über den Sitzen. Passagiere in den Gängen werden zu Boden geworfen. Schreie gehen in panisches Geplapper über. Der Shatabdi wird heftig erschüttert und noch einmal. Dann kommt er kreischend und zitternd zum Stehen. Die Stimmen steigern sich und verstummen. Der Zug steht reglos da. In den Lautsprechern knistert es, dann versagen sie ganz. Thomas Lull legt die Hände ans Gesicht und späht aus dem Fenster. Die ländliche Dunkelheit ist undurchdringlich, allumfassend, yonisch. In der Ferne glaubt er, Autoscheinwerfer zu erkennen, wippende Lichter, wie Taschenlampen. Jetzt kommen die Fragen, jeder fragt gleichzeitig, ob alle unversehrt sind, was geschehen ist.

Kij rührt sich murmelnd. Das Beruhigungsmittel ist wirksamer, als Thomas Lull erwartet hat. Jetzt wird er sich einer Wand aus Stimmen bewusst, die durch den Zug heranrückt, zusammen mit dem Gestank von brennendem Polycarbon in den Lüftungsrohren. Mit einer Hand schnappt er sich Kijs Tasche, mit der anderen zieht er sie hoch. Kij blinzelt ihn mit schweren Lidern an.

»Komm schon, Dornröschen. Wir werden hier außerplanmäßig aussteigen.« Er zerrt sie, immer noch halb bewusstlos, in den Mittelgang, packt die Taschen und zieht sie zu den rückwärtigen Schiebetüren. Hinter ihm explodiert das schwarze Panoramafenster in einem Regen aus Glaszucker, als ein Betonbrocken mit einem Schleuderseil hindurchbricht. Er prallt vom Tisch ab und triff eine Frau auf der anderen Seite der Sitzreihen. Sie geht zu Boden, während Blut aus einem zertrümmerten Knie spritzt. Die flüchtenden Passagiere stolpern über sie und stürzen. Sie ist tot, erkennt Thomas Lull mit einem schrecklichen, vertrauten Erschaudern. Die Frau oder jeder andere, der in dieser Woge untergeht.

»Beweg dich, verdammt!« Mit Schlägen gegen den Rücken stößt Thomas Lull die benommene Kij durch den Gang. Er sieht Flammen durch das leere Fenster, Flammen und Gesichter. »Weiter, weiter!« Hinter ihnen ist das Gedränge furchtbar. Erste Rauchfäden kriechen aus den Lüftungsschlitzen und unter der Tür zum vorderen Wagen hervor. Die Stimmen erheben sich in einem furchtsamen Chor.

»Zu mir! Zu mir!«, brüllt ein Sikh-Steward in Eisenbahnuniform, der auf einem Tisch neben der inneren Waggontür steht. »Einer nach dem anderen. Kommen Sie. Wir haben genügend Zeit. Sie. Jetzt Sie. Und Sie.« Er benutzt seinen Generalschlüssel, um aus der Schiebetür eine Menschenschleuse zu machen. Immer nur eine Familie auf einmal.

»Was zum Teufel ist hier los?«, fragt Thomas Lull, als er das Kopfende der Schlange erreicht hat.

»Karsevaks aus Bharat haben den Zug in Brand gesetzt«, antwortet der Steward leise. »Sagen Sie nichts. Jetzt gehen Sie.«

Thomas Lull schiebt Kij durch die Tür, blinzelt in die Dunkelheit außerhalb des Zuges.

»Verdammte Scheiße.« Ein Ring aus Feuer umschließt das kleine Lager aus benommenen, ängstlichen Passagieren und ihrem Hab und Gut. Die jahrzehntelange Arbeit mit den Ziffern zellularer Automaten befähigt Thomas Lull, Mengen mit einem Blick einschätzen zu können. Da draußen müssen fünfhundert von ihnen sein, die lodernde Fackeln halten. Funken wehen vom vorderen Ende des Zuges heran, orangeroter Rauch, im Zwielicht leuchtend, ein sicheres Anzeichen für brennenden Kunststoff. »Planänderung. Wir steigen hier doch nicht aus.«

»Was ist los? Was geschieht hier?«, fragt Kij, als Thomas Lull die Tür zum nächsten Waggon aufdrückt. Er ist bereits halb leer.

»Der Zug wurde angehalten. Von irgendwelchen protestierenden Shivajis.«

»Shivajis?«

»Ich dachte, du wüsstest alles. Hindu-Fundamentalisten. Die im Moment ziemlich stinkig auf Awadh sind.«

»Du bist sehr wortgewandt«, sagt Kij, und Thomas Lull kann nicht sagen, ob die Wirkung des Beruhigungsmittels nachlässt oder ihre bizarre Weisheit einsetzt. Aber das Leuchten von draußen wird stärker, und er hört das knallende, splitternde Krachen von Dingen, die gegen den Kadaver des Zuges geschleudert werden.

»Weil ich sehr, sehr große Angst habe«, sagt Thomas Lull. Er schiebt Kij an der nächsten Tür vorbei, die zur Nacht geöffnet ist. Er will nicht, dass sie die Schreie und den Lärm bemerkt, den er als Schießerei mit Handfeuerwaffen identifiziert. Die Waggons sind jetzt fast leer, und sie kämpfen sich weiter durch die nächsten zwei, drei. Dann, als ein lauter, dumpfer Knall den Zug erschüttert, wankt der Waggon und wirft Thomas Lull und Kij um. »Oh Gott!«, sagt Thomas Lull. Er vermutet, dass der Triebwagen explodiert ist. Draußen brüllt der Mob beifällig. Thomas Lull und Kij gehen weiter. Vier Waggons später treffen sie einen Kontrolleur, einen Marathi mit weit aufgerissenen Augen.

»Sie können hier nicht weiter, Sir.«

»Ich werde weitergehen, ob an Ihnen vorbei, über Sie hinweg oder durch Sie hindurch.«

»Sir, Sir, Sie verstehen nicht. Man hat auch das andere Ende in Brand gesteckt.«

Thomas Lull starrt den Kontrolleur in seiner ordentlichen Uniform an. Es ist Kij, die ihn fortzerrt. Sie erreichen den Vorraum eines Waggons, wo Rauch zwischen den Ritzen der verschlossenen Innentür hervordringt. Die Lichter gehen aus. Thomas Lull blinzelt in der Dunkelheit, dann schaltet sich die Notbeleuchtung am Boden ein und wirft ein unheimliches Grusellicht auf die Falten und Vorsprünge der menschlichen Gesichter. Die Außentür rührt sich nicht, sie bleibt fest verschlossen. Thomas Lull beobachtet, wie der Rauch den Waggon hinter der Innentür ausfüllt. Er versucht, an der Gummidichtung zu zerren.

»Sir, Sir, ich habe einen Schlüssel.«

Der Kontrolleur zieht einen schweren Inbusschlüssel an einer Kette aus der Tasche, steckt ihn in das Sechskantschloss und kurbelt die Tür auf. Die innere Waggontür ist schwarz vom Ruß, beult sich aus und wirft Blasen. »Nur noch wenige Augenblicke, Sir ...«

Die Tür hat sich weit genug geöffnet, um von sechs Händen vollständig aufgedrückt zu werden. Thomas Lull wirft das Gepäck in die Dunkelheit und sich hinterher. Er landet unglücklich, stürzt, rollt sich auf Steinen und Gleisen ab. Kij und der Eisenbahner folgen ihm. Er richtet sich auf und sieht, wie das Innere des Waggons, den sie verlassen haben, in erschreckendem Gelb aufleuchtet. Dann platzen alle Fenster gleichzeitig und versprühen zerkrümeltes Glas.

»Kij!«, ruft Thomas Lull durch den Tumult. Solche Geräusche hat er noch nie zuvor gehört. Schreiende und jammernde Stimmen, chaotisches Gebrüll und verschiedene Sprachen, alles zur Unverständlichkeit zerrissen. Heulende Motoren, ein stetiges Hämmern von Geschossen. Kinder, die in panischer Angst kreischen. Und hinter all dem das saugende, flüssige Röhren des brennenden Zuges, der sich wie ein verdorbener Räucherstab von beiden Enden her verzehrt. So muss es in der Hölle klingen. »Kij!«

Körper bewegen sich überall, überallhin. Thomas Lull hat inzwischen ein Gefühl für die Geographie des Gräuels. Die Menschen flüchten vom Kopfende des Zuges, wo es zu einer Serie von aktinischen Detonationen kommt, als elektrische Schaltungen hochgehen, während gleichzeitig eine Linie aus Menschen in Weiß wie eine Raj-Armee gegen sie vorrückt. Die meisten sind mit Lathis bewaffnet, einige tragen scharfe Hacken, andere Macheten. Eine agrarische Armee. Es gibt mindestens ein Schwert, das hoch über den Horizont der Köpfe erhoben ist. Einige sind nackt, mit weißer Asche bestrichen, Naga-Sadhus. Kriegerpriester. Alle tragen einen roten Fetzen am Leib, die Farbe Shivas. Flammen flackern an den Geschossen. Flaschen, Steine, zertrümmerte Teile des Zuges regnen auf die Passagiere herab, die sich ducken und flüchten, Gepäckbündel hinter sich herschleifend, ohne zu wissen, von wo sie den nächsten Angriff erwarten sollen. Von den Schusswaffen steigt Rauch auf. Der Boden ist übersät mit verlorenem, geplatztem Gepäck, Hemden und Saris und Zahnbürsten, die in den Dreck getrampelt und geschlurft werden. Ein Mann hält sich den blutenden Kopf. Ein Kind sitzt mitten zwischen den hetzenden Füßen, blickt sich verängstigt um, die Wangen vor Tränen glänzend, mit offenem Mund und stumm, da kein Schrei diesem Schrecken Ausdruck verleihen kann. Füße trampeln auf einem Bündel Stoff. Das Bündel zittert, als es von eilenden Schuhen getroffen wird. Knochen knacken. Thomas Lull bemerkt nun ein Ziel der allgemeinen Flucht: fort von den Männern in Weiß, auf eine Reihe niedriger Hütten zu, die sichtbar geworden ist, nachdem sich die Augen an das Dunkel des ländlichen Bharat gewöhnt haben. Ein Dorf. Eine Zuflucht. Nur dass eine zweite Welle von Karsevaks hinter dem brennenden Ende des Zuges hervorkommt und den Opfern den Weg abschneidet. Die Stampede stockt. Die Menschen sind eingekesselt. Sie gehen zu Boden, häufen sich übereinander. Der Lärm verstärkt sich.

»Kij!«

Dann ist sie vor ihm, als wäre sie aus dem Boden gewachsen. Sie kämmt sich Glaskrümel aus dem Haar.

»Professor Lull.«

Er greift nach ihrer Hand, zerrt sie zurück zum Zug.

»Auf dieser Seite des Zuges kommen wir nicht weiter. Wir gehen in die andere Richtung.«

Die zwei Reihen der Angreifer treffen sich und schließen einen Halbkreis. Thomas Lull weiß, dass alles in dieser Arena dem Tod geweiht ist. Es gibt nur eine kleine Lücke zu den dunklen, ausgedörrten Feldern. Die Familien fliehen dorthin, lassen alles fallen und laufen um ihr Leben. Asche wirbelt auf und weht im Aufwind des brennenden Zuges. Lull und Kij sind nun in Geschossreichweite. Steine und Flaschen schlagen gegen die Waggons und zersplittern zu gläsernem Schrapnell.

»Unten durch!« Thomas Lull duckt sich unter den Zug. »Pass auf!« Das Fahrgestell ist mit lebensgefährlichen Hochspannungskabeln und Tonnen voller Hydraulikflüssigkeit unter hohem Druck gespickt. Thomas Lull kriecht weiter und sieht sich einer Wand aus Autoscheinwerfern gegenüber. »Mist.« Die Fahrzeuge stehen in einer langen Reihe hundert Meter vom Zug entfernt. Laster, Busse, Pick-ups, Familienkarossen, Phatphats. »Wir sind eingekreist. Wir werden es einfach versuchen müssen.«

Kij wirft den Kopf in den Nacken.

»Sie sind da.«

Thomas Lull dreht sich um und sieht die Hubschrauber über der Lok des Zuges wummern, schnell, rücksichtslos und tief genug, um die Flammen zu einem Feuertornado aufzuwirbeln. Es sind blinde Insekten, und Kampfroboter hängen wie Eier an ihrem Libellenthorax. Sie tragen das Grün und Orange des Yin-Yang von Awadh auf der Nase. Pulslaser zur Aufstandsbekämpfung drehen sich in ihrem Gehäuse und suchen Ziele. Tief unter Delhi liegen Helikopter-Jockeys auf Gelbetten und beobachten alles durch ihre Pinealaugen, bewegen die Hände einen Zentimeter hierhin, ganz kurz dorthin, um den Pilotensystemen Anweisungen zu geben. Die drei Hubschrauber drehen sich über den abgestellten Fahrzeugen in der Luft, verbeugen sich in einer Robotergavotte voreinander und gehen auf Angriffskurs. Geschützfeuer knattert unterhalb der Linie der Scheinwerfer, Kugeln treffen mit weißen Blitzen die spindelförmigen Insektenpanzer. Aus zehn Metern Höhe werfen sie ihre Kampfroboter ab, steigen wieder auf, drehen sich und eröffnen das Feuer mit den Pulslasern. Die Roboter landen auf dem Boden und greifen sofort an. Schreie. Schüsse. Männer rennen zwischen den Autos hervor auf die freie Fläche. Die Hubschrauber erfassen die Ziele und feuern. Leise Knallgeräusche, matte Blitze, Körper stürzen, kriechen. Die Pulslaser zerblitzen alles, was sie berühren, zu Plasma und pumpen es zu einer expandierenden Schockwelle auf, ob es Kleidung ist oder die mit Asche beschmierte Haut eines nackten Naga. Die Karsevaks torkeln, die Brust vom Laserfeuer entblößt. Wie etwas aus einem japanischen Comic räumen die Aufstandsbekämpfungsroboter im Nu den Bereich der Fahrzeuge und entfalten ihre Schockknüppel.

»Runter!«, brüllt Thomas Lull und wirf Kij in den Staub. Die Männer flüchten, aber die hüpfenden Roboter sind schneller, brutaler und zielgenauer. Ein Körper kracht neben Thomas Lull zu Boden, das Gesicht von einem Sonnenbrand zweiten Grades versengt. Stählerne Hufe blitzen auf, und er legt die Arme über den Kopf. Dann rollt er zur Seite, um zu sehen, wie die Maschinen über den Zug hinwegsetzen. Er wartet. Die Hubschrauber sind immer noch in der Luft. Er stellt sich tot, bis sie weiterfliegen, zierliche Schnaken, die nie dazu gedacht waren, Menschen zu tragen. »Hoch! Los jetzt! Lauf!« Ein verdächtiges Kribbeln im Genick lässt Thomas Lull aufblicken. Ein Hubschrauber wendet ihm eine Sensorstaffel zu. Ein Gatling-Pulslaser richtet sich aus. Dann quillt Rauch zwischen Mensch und Maschine empor, die Kaih verliert die Spur, und der Hubschrauber überfliegt den Zug mit stotterndem Laserfeuer. »Geh hinter die Autos, duck dich hinter ein Rad, das ist der sicherste Platz«, ruft Thomas Lull durch den Tumult. Dann erstarren beide gleichzeitig, als die Luft zwischen den Fahrzeugen zu flimmern scheint und das Licht von den vielen Scheinwerfern in fliegende Scherben zerbricht. Männer in Kampfmontur werden immer deutlicher sichtbar. Thomas Lull zieht seinen Reisepass aus der Tasche und hält ihn hoch wie ein Prediger in alten Zeiten die heilige Schrift.

»Amerikanische Staatsbürger!«, ruft er, als Soldaten vorbeilaufen, deren Anzüge mit Spiegel und Infrarot getarnt sind. »Amerikanische Staatsbürger!« Ein Subadar mit perfekt gepflegtem Schnurrbart hält inne, um Thomas Lull zu mustern. Das Abzeichen seiner Einheit zeigt das ewige Rad Bharats. Er hält entspannt ein Mehrzweck-Sturmgewehr in der Armbeuge.

»Wir haben mobile Einheiten in der Nachhut«, sagt der Subadar. »Dort wird man sich um Sie kümmern.« Während er spricht, tauchen die Hubschrauber wieder über dem Zug auf, der nun zur Hälfte in Flammen steht. »Gehen Sie jetzt, Sir.« Der Subadar rennt los. Der führende Hubschrauber richtet sein Bauchgeschütz auf ihn aus und feuert. Thomas Lull sieht die Uniform des Offiziers aufleuchten, als sie den Laser absorbiert, dann hebt der Bharati seine Waffe und feuert eine Sam ab. Der Hubschrauber steigt auf und dreht in einer Wolke aus glitzernden Teilchen ab. Die kleine Rakete rast ihm im Zickzack hinterher, eine Feuerspur am Nachthimmel. Ein Regen aus Lametta in der Farbe des brennenden Shatabdi geht auf Thomas Lull und Kij nieder. Als sie die größere Gefahr erkannt haben, hat ein Trupp Kampfroboter auf dem Dach des Zuges Stellung bezogen und versucht, die Bharati-Soldaten mit Stunlasern und Lametta abzuwehren. Der Feuerschein spiegelt sich auf den verchromten Gelenken und Sehnen. Die Menschen schalten sie einen nach dem anderen mit EMP-Salven aus. Die Roboter fallen vom Zug und lösen sich in eine Gruppe faustgroßer Sub-Drohnen auf. Sie hüpfen umher, entfalten sich zu huschenden Skarabäen, die mit rotierenden Sensendrähten bewaffnet sind. Sie umschwärmen die Soldaten. Thomas Lull sieht, wie ein Mann zu Boden geht, und dreht Kij weg, bevor der Draht ihm das Fleisch bis auf die Knochen abschält. Der Subadar wirft einen von seiner Stiefelspitze, hebt den Gewehrkolben und zertrümmert das Ding. Aber es sind immer viel zu viele. Das ist die Taktik. Der Subadar ruft seine Männer zurück. Sie rennen. Die Skarabäen flitzen hinterher. Thomas Lull hält immer noch seinen Reisepass in der Hand, wie ein Kreuz, mit dem man vor dem Gesicht eines Vampirs herumwedelt.

»Ich glaube, dazu ist etwas mehr nötig«, sagt der Subadar, packt Thomas Lull am Arm und zerrt ihn mit sich. Hinter der Reihe der Fahrzeuge schälen sich Männer mit Flammenwerfern aus der Tarnung. Dann wird Thomas Lull bewusst, dass Kij ihm entglitten ist. Er brüllt ihren Namen. Er weiß nicht mehr, wie oft er diesen Namen während dieser Nacht schon in diesem verlorenen, von Furcht verstümmelten Tonfall gerufen hat. Thomas Lull reißt sich von dem Bharati-Offizier los.

Kij steht vor der huschenden, hüpfenden Linie der Kampfroboter. Sie lässt sich auf ein Knie nieder. Sie sind nur noch wenige Meter, wenige Augenblicke entfernt, mit schrillenden Sensendrähten. Sie hebt die linke Hand mit der Innenfläche nach außen. Der Ansturm der Roboter kommt zum Stillstand. Einer nach dem anderen, dann immer mehr auf einmal, ziehen sie ihre Waffen ein, rollen sich zur kugelförmigen Transitkonfiguration zusammen. Dann stürmt ein Bharati-Jawan vor und reißt sie zurück, und die Männer feuern mit den Flammenwerfern, Feuer gegen Feuer. Thomas Lull geht zu ihr. Sie zittert, ihr Gesicht ist mit Tränen und Ruß verschmiert, und sie hält immer noch den verdrehten Trageriemen ihrer kleinen Tasche in der Hand.

»Hat jemand eine Decke oder so etwas?«, fragt er, als die Soldaten sie durch die Fahrzeugreihe führen. Irgendwo entfaltet sich die Folie einer Rettungsdecke. Thomas Lull legt sie Kij um die Schultern. Der Soldat weicht zurück. Er hat schon Kaih-Kampfhubschrauber gesehen und gegen Roboter gekämpft, aber dies macht ihm Angst. Besser so, denkt Thomas Lull, während er Kij zur Wagenburg der Truppentransporter führt. Für uns alle.

19 Mr. Nandha

Alle fünf Leichen haben die Fäuste hochgereckt. Mr. Nandha hat schon genug Feuertote gesehen, um zu wissen, dass es etwas mit Biologie und Temperatur zu tun hat, aber eine ältere, voraufgeklärte Sensibilität sieht sie, wie sie gegen wirbelnde Flammen-Djinns kämpfen. Am Ende muss es etwas Dämonisches gehabt haben. Das Apartment ist immer noch voller Ruß. In der Luft schwebt Polycarbon-Asche, Schwaden verdampfter Computergehäuse. Als sie sich auf Mr. Nandhas Haut absetzt, verschmiert sie zu feinem, schwarzem Kajal. Erst bei einer Temperatur von über eintausend Grad verwandelt sich Plastik in reinen Kohlenstoffruß.

Varanasi, die Stadt der Kremationen.

Die Pathologen ziehen an schwarzen Säcken die Reißverschlüsse zu. Sirenen von der Straßen, die Feuerwehr rückt ab. Jetzt liegt der Tatort in den Händen der Polizeibehörden, von denen das Ministerium an letzter Stelle steht. Die Jungs von der Spurensicherung rauschen an Mr. Nandha vorbei und zeichnen Videos mit ihren Palmern auf. Er hält sich unbefugt in einem fremden Zuständigkeitsbereich auf. Mr. Nandha hat seine eigene vertraute Methodik, und für ihn führen simple Beobachtungen und die Anwendung seiner Vorstellungskraft zu Einsichten und intuitiven Erkenntnissen, die sich niemals durch das polizeiliche Prozedere fassen lassen.

Die erste Sinneswahrnehmung, die das Verbrechen auslöst, ist der Gestank. Er konnte das verbrannte Fleisch und die ölige, süßliche, erstickende Note des geschmolzenen Kunststoffs bereits im Foyer riechen. Der Gestank überlagert alle anderen Wahrnehmungen, so dass sich Mr. Nandha konzentrieren muss, um daraus Informationen gewinnen zu können. Er öffnet seine Nasenlöcher für Hinweise, Widersprüche, subtile Kontraste, die ihm verraten könnten, was hier geschehen ist. Ein Kurzschluss irgendwo zwischen den vielen Computern war die erste Idee des Brandermittlers. Kann er das unverkennbare elektrische Prickeln aus der Mischung isolieren?

An zweiter Stelle kommt der Gesichtssinn. Was hat er gesehen, als er den Schauplatz des Verbrechens betrat? Zwei Türen, die von hydraulischem Werkzeug der Feuerwehr aufgehebelt wurden, die äußere mit dem Standard-Türblatt des Apartmentblocks und die innere, grüne aus stabilem Metall, mit Riegeln, die von den Brechstangen der Feuerwehr verbogen wurden. Sie konnten die Tür nicht öffnen? Haben sie sich so gut gesichert, dass sie sich selbst den Fluchtweg abgeschnitten haben? Auf der Innenseite der Tür wurde die Farbe versengt, so dass nacktes, verrußtes Metall zutage tritt. Weiter. Der kleine Vorraum, das Wohnzimmer, die Schlafzimmer, die sie als Speicherfarm genutzt haben. Die Küche mit Skeletten von Schränken und Regalen an den Wänden. Das Melaminharz ist abgeblättert, aber die Spanplatten sind intakt. Spanholz überlebt. Asche und Schwärze, alle Gegenstände miteinander verschmolzen. Die Fenster sind nach innen geplatzt. Ein Druckabfall? Das Feuer musste sich fast verausgabt haben. Nur noch schwarzer Rauch. Sie mussten erstickt sein, bevor die Fenster zersprangen und frischer Sauerstoff die Feuerdjinns wiederbelebte. Geschmolzene Stummel von Computerlaufwerken fließen ineinander. Vikram wird retten, was noch rettbar ist.

Dann das Gehör. Dreitausend Menschen leben in dieser Wohnanlage, aber die Stille auf dem Stockwerk, wo es gebrannt hat, ist absolut. Nicht einmal das Zwitschern eines vergessenen Radios. Die Feuerwehrmänner haben die Absperrung aufgehoben, aber die Bewohner zögern noch, in ihre Apartments zurückzukehren. Es gibt Gerüchte, dass der Brand eine Racheaktion der Awadhis für das Shatabdi-Massaker war. Die Nachbarn zu beiden Seiten wurden erst aufmerksam, als die Wand heiß wurde und die Farbe Blasen warf.

Dann der Tastsinn. Der schmierige, gerinnende Schmutz des Rußes im Haar. Eine schwarze, schwebende Spinnwebe lässt sich auf Mr. Nandhas Ärmel nieder. Er will sie abklopfen, doch dann erinnert er sich daran, dass sie zu zehn Prozent aus menschlichem Fett besteht.

Als Fünftes der Geschmackssinn. Mr. Nandha hat die Technik von Katzen gelernt — die Nasenlöcher blähen, den Mund leicht öffnen, die Luft über den Gaumen streichen lassen. Es ist nicht besonders elegant, aber kleinen Jägern und Krishna Cops hilft es sehr gut.

»Nandha, was machen Sie da?« Chauhan, der staatliche Pathologe, tütet die allerletzte Leiche ein und klatscht das Etikett auf den Plastiksack.

»Ein paar vorbereitende Maßnahmen. Können Sie mir schon irgendwas sagen?«

Chauhan zuckt mit den Schultern. Er ist ein Bär von einem Mann mit der kaltschnäuzigen Jovialität der Leute, die sich mit dem Innenleben von gewaltsam getöteten Mitmenschen beschäftigen.

»Rufen Sie mich heute Nachmittag an, dann habe ich vielleicht etwas für Sie.«

Vaish, der verantwortliche Inspektor der Polizei, blickt auf, ungehalten über das unbefugte Betreten.

»Und sonst, Nandha?«, sagt Chauhan, während er zurücktritt und seine Leute in den weißen Anzügen den Sack auf eine Bahre heben. »Wie ich höre, rekonstruiert Ihre gute Ehefrau die hängenden Gärten von Babylon. Sie scheint ihr altes Dorf wirklich sehr zu vermissen.«

»Wer sagt das?«

»Ach, was halt so geredet wird«, antwortet Chauhan und macht sich Notizen zum vierten Opfer. »Seit der Party bei den Dawars spricht es sich herum. Eine interessante Frau. Also hat sie einen grünen Daumen, Nandha?«

»Ich lasse einen Dachgarten anlegen, ja. Wir überlegen, ob wir ihn für Veranstaltungen, Abendessen oder Gesellschaften nutzen. In Bengalen sind Dachgärten groß in Mode.«

»Bengalen? Dort ist vieles in Mode.« Chauhan betrachtet sich als gleichrangig mit Mr. Nandha, was Intellekt, Bildung, Karriere und Stellung betrifft. Abgesehen vom Ehestand. Mr. Nandha hat innerhalb der Jati geheiratet, Chauhan jedoch sehr weit darunter.

Mr. Nandha betrachtet stirnrunzelnd die Decke. »Ich nehme an, dass diese Wohnung mit einem Halon-Feuerlöschsystem ausgestattet war?«

Chauhan zuckt mit den Schultern. Inspektor Vaish erhebt sich. Er hat verstanden.

»Haben Sie irgendetwas gefunden, das wie ein Schaltkasten aussieht?«, fragt Mr. Nandha.

»In der Küche«, antwortet der Inspektor. Der Kasten befindet sich unter dem Waschbecken neben dem U-Rohr, an der umständlichsten Stelle. Mr. Nandha reißt die versengte Schranktür ab, hockt sich hin und leuchtet alles mit seiner Stifttaschenlampe aus. Diese Leute haben große Mengen an Mehrzweckreiniger benutzt. Für all die schwierigen Fälle, vermutet Mr. Nandha. Die Hitze ist sogar in dieses geschützte Kämmerchen eingedrungen, hat das Lötzinn und die Plastikabdeckungen gelockert. Mit ein paar Drehungen des Multifunktionswerkzeugs ist es aufgeschraubt. Die Serviceports sind intakt. Mr. Nandha schließt die AvatarBox an und ruft Krishna. Die Kaih bläht sich hinter der Enge des Waschbeckenunterschranks auf. Der Gott der kleinen häuslichen Dinge. Inspektor Vaish geht neben ihm in die Hocke. Hat er gerade noch empfindliche Feindseligkeit ausgestrahlt, scheint er nun ehrfürchtige Milde walten zu lassen.

»Ich greife auf die Dateien des Sicherheitssystems zu«, erklärt Mr. Nandha. »Es wird nur wenige Augenblicke beanspruchen. Ironischerweise haben sie ihre Speicherfarm mit Quantenschlüsseln geschützt, aber für das Feuerlöschsystem gibt es nur eine simple vierstellige PIN-Nummer. Und das«, sagt er, als die Befehlszeilen durch sein Sichtfeld scrollen, »scheint ihr Verderben gewesen zu sein. Haben wir eine geschätzte Zeit für den Ausbruch des Feuers?«

»Die Zeitschaltuhr des Herdes ist bei sieben Uhr zweiundzwanzig stehen geblieben.«

»Hier ist ein Steuerbefehl von der Versicherungsgesellschaft, zweifellos gefälscht, um sieben null fünf protokolliert, mit dem das Halon-Gas-System abgeschaltet wurde. Gleichzeitig wurden die Türen verriegelt.«

»Sie wurden eingesperrt.«

»Ja.« Mr. Nandha steht auf, klopft sich ab und bemerkt angewidert die weichen schwarzen Schmierflecken aus zehn Prozent menschlichem Fett, die sich auf ihm niedergelassen haben. »Und damit ist es Mord.« Er holt seine Avatare zurück in die Box. »Ich werde jetzt in mein Büro fahren, um meinen ersten Bericht vom Tatort zusammenzustellen. Ich brauche die intaktesten Prozessoren bis Mittag in meiner Abteilung. Und Mr. Chauhan.« Der Pathologe blickt von der letzten Leiche auf, die bis auf die Knochen verbrannt ist und ein Grinsen aus blutigen weißen Zähnen in verkohltem Schwarz zeigt. Er kennt diese Zähne — Radhakrishnas unverschämtes Affengrinsen. »Ich werde Sie um drei anrufen und erwarte, dass Sie bis dahin etwas für mich haben.«

Er stellt sich das Lächeln des Ermittlers vor, als er das ausgebrannte Gehäuse des Badrinath-Sundarban verlässt. Genauso wie er haben sie weder das Geld noch die Geduld, in ihrer Jati zu heiraten.

Beim Frühstück drehte sich das Gespräch ausschließlich um den Empfang bei den Dawars.

»Wir müssen eine Durbar geben«, sagte Parvati, strahlend und frisch mit einer Blume im langen, schwarzen Haar, während hinter ihr das fünfte Testspiel mit männlichen Baritonen murmelte. »Wenn der Dachgarten fertig ist, werden wir die Einladungen rausschicken, und dann wird man wochenlang darüber reden.« Sie zog ihren Terminkalender aus der Tasche. »Im Oktober? Dann dürfte er am besten aussehen, kurz nach dem späten Monsun.«

»Warum schauen wir das Cricketspiel?«, fragte Mr. Nandha.

»Ach, das? Ich weiß auch nicht, warum das läuft.« Sie wedelte mit der Hand, die Geste für Frühstück mit Bharti. Eine Studiotanzszene sprang auf den Bildschirm. »Da, glücklich? Oktober ist eine gute Zeit, es ist immer so ein langweiliger Monat. Aber es könnte nach den Dawars ziemlich abfallen, ich meine, es ist ein Garten, und ich liebe ihn sehr, und du bist so gut, ihn mir zu gönnen, aber es sind nur Pflanzen und Sämlinge. Was glaubst du, wie viel es sie gekostet hat, ein Brahmanenbaby zu bekommen?«

»Mehr, als sich ein für die Lizensierung von Künstlichen Intelligenzen zuständiger Ermittlungsbeamter leisten kann.«

»Oh, mein Liebster, ich habe nicht einen Augenblick lang daran gedacht ...«

Hör dir selber zu, mein Bülbül, dachte er. Plapper weiter, lass die Worte aus deinem Mund purzeln und geh davon aus, dass alles golden sein wird, weil du in jeder Sekunde deines Lebens von Farben, Bewegung und Blumen umgeben bist. Ich habe die Damen der Gesellschaft reden hören, aber nichts gesagt, weil sie recht hatten. Du bist altmodisch und offen und sagst, was dir auf dem Herzen liegt. Du bist völlig ehrlich, was deine Ambitionen betrifft, und das ist der Grund, warum ich dich von ihrer Gesellschaft fernhalten möchte.

Bharti plauderte und lächelte beim Frühstücksbankett mit ihren Prominenten! Gästen! des Morgens! Heute: Das besondere Funki-Puri-Frühstück von unserem Gastkoch Sanjeev Kapur!

»Ich wünsche dir einen guten Tag, mein Schatz«, sagte Mr. Nandha und schob seine halb geleerte Tasse mit ayurvedischem Tee von sich weg. »Vergiss diese versnobten Leute. Sie haben nichts, was wir brauchen. Wir haben uns. Ich komme vielleicht erst spät zurück. Ich muss einen Tatort untersuchen.« Mr. Nandha küsste seine wunderschöne Frau und kehrte zurück zu den verkohlten Überresten von Mr. Radhakrishna in seinem Sundarban, der sich unscheinbar in einem Apartment im fünfzehnten Stock der Diljit Rana Colony verbirgt.

Mr. Nandha lässt seinen feuchten Teebeutel am Faden baumeln, während er auf Varanasi hinausblickt und Sinn in das zu bringen versucht, was er in dem ausgebrannten Apartment gesehen hat. Das Feuer tobte heftig, aber es wurde eingedämmt. Kontrolliert. Ein inszenierter Brand. Eine Hohlladung? Ein Infrarotlaser durch das Fenster?

Mr. Nandha holt Bachs Violinkonzerte auf seinen Palmer, lehnt sich in seinem Ledersessel zurück, legt die Finger wie eine Stupa zusammen und wendet sich der Stadt vor dem Fenster zu. Sie war für ihn stets ein unfehlbarer und großzügiger Guru. Er befragt sie wie ein Orakel. Varanasi ist die Stadt des Menschen, und alle menschlichen Aktivitäten spiegeln sich in ihrer Geographie. Ihre Muster und Traumata haben zu Einsichten und Weisheiten geführt, die jenseits aller Vernunft und Rationalität liegen. Heute zeigt die Stadt ihm Feuermuster. An jedem Tag steigen mindestens ein Dutzend Rauchfahnen von Hausbränden auf. In der umtriebigen Mittelklasse wurde die Gewohnheit der Brautverbrennung abgeschafft, aber er bezweifelt nicht, dass einige der ferneren, blasseren Rauchwolken von »Küchenbränden« stammen.

Bei mir bist du sicher, Parvati, denkt er. Du kannst dich für immer darauf verlassen, dass ich dir nicht wehtun oder von dir genug haben werde, denn du bist etwas Besonderes, eine unbezahlbare Perle. Du bist vor dem Sati der Langeweile oder der Mitgift-Missgunst sicher.

Die militärischen Truppentransporter gehen immer noch im gleichen Rhythmus über der Skyline nieder. Wie viele Lakhs Soldaten sind es inzwischen? Im Polizeistreifenwagen hatte er die Schlagzeilen des Tages überflogen. Bharati-Jawans haben einen Awadhi-Übergriff an der Eisenbahnlinie westlich von Allahabad zurückgeschlagen. Roboter der Awadhis/Amerikaner haben eine Sitzstreik-Demonstration angegriffen, durch die ein Maratha-Shatabdi an der Hauptstrecke nach Awadh blockiert wurde. Mr. Nandha erkennt den Geruch der Meinungsmache der Ranas, stärker als Räucherstäbchen oder Kremationsrauch. Es ist eine Ironie, dass die Amerikaner, die die Hamilton-Gesetze verabschiedet haben, einen Krieg mit genau den Maschinen führen, denen sie so sehr misstrauen. Falls Kaihs höherer Generationen jemals Zugang zu diesen Kampfrobotern erhalten sollten ...

Mr. Nandha nimmt die Finger auseinander. Intuition. Erleuchtung. Eine Bewegung an seiner Seite: Ein Chai-Junge bringt seinen benutzten Teebeutel auf einer silbernen Untertasse weg.

»Chai-Wallah, schick Vikram zu mir herunter. Schnell.«

»Sofort, Sahb.«

Militärische Kaih-Abwehrkampfflugzeuge. Darauf trainiert, Cyberkampfeinheiten wie Jagdfalken zur Strecke zu bringen. Mit Pulslasern bewaffnet. Die Mordwaffe ist irgendwo da draußen, auf Patrouille, und schneidet durch den heiligen Luftraum über der heiligen Stadt. Jemand hat die militärischen Systeme geknackt.

Mr. Nandha riecht Vik, bevor seine übrigen Sinne sein Eintreffen melden.

»Vikram.«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

Mr. Nandha dreht sich mit seinem Stuhl herum. »Bitte besorgen Sie mir ein Protokoll der Bewegungen sämtlicher militärischer Kaih-Drohnen über Varanasi in den vergangenen zwölf Stunden.«

Vikram saugt die Unterlippe ein. Er trägt riesige Laufschuhe und Pseudoshorts, die ihm heute bis zu den Waden reichen, zusammen mit einem engen Top, das jemand mit seinem Kohlehydratumsatz niemals auch nur in Erwägung ziehen sollte.

»Machbar. Wofür?«

»Mir ist die Idee gekommen, dass dies kein konventioneller Brandanschlag war. Die Ursache könnte der Hochleistungs-Infrarot-Laserpuls eines militärischen Flugkörpers gewesen sein.«

Vik zieht die Augenbrauen hoch.

»Gibt es schon etwas Neues über die Quelle der Abschaltung des Sicherheitssystems?«

»Jedenfalls kam der Befehl nicht von der Versicherung Ahura Mazda in Varanasi. Die Spur wurde ziemlich gut verwischt, aber wir werden ihnen auf die Schliche kommen. Wir haben ein paar Ausgangsdaten aus den Resten gewonnen, die wir von Badrinath retten konnten. Was auch immer sie auszulöschen versucht haben, es wurde gleichzeitig eine Menge Zeug vernichtet, das gegen hohe Gebühren gemietet wurde. Wir haben Bodhisofts von Jim Carrey, Madonna und Phil Collins verloren.«

»Ich glaube nicht, dass sie an Bodhisofts oder auch nur an Informationen interessiert waren«, sagt Mr. Nandha. »Ich glaube, es ging um die Leute.«

»Wie kommt es, dass wir die Abteilung für Kaih-Lizensierung sind, es aber am Ende immer wieder mit Menschen tun haben?«, fragt Vikram und wippt auf seinen großen gepolsterten Joggingschuhen. »Und wenn Sie mich das nächste Mal so dringend sprechen müssen, würde es auch eine simple Nachricht tun. Diese Treppenstufen bringen mich um, Mann.«

Aber das würde sich nicht für einen hochrangigen Ermittlungsbeamten schicken, hätte Mr. Nandha gern erwidert. Ordnung, Anstand, saubere Anzüge, Varna. An seinem zehnten Holi hat seine Mutter sie als kleine Jedis verkleidet, mit wehenden Gewändern und neuen Super-Spritzpistolen aus dem Laden von Chatterjee, die im Gatling-Stil mit den fünf separaten Läufen und in jedem eine andere Festivalfarbe. Er hatte seine jüngeren Geschwister beobachtet, wie sie in ihren Kapuzenumhängen aus alten Bettlaken die Bewegungen geprobt hatten, wie sie mit den bunten Farben sst-sst-sst die Mächte der dunklen Seite niedergemäht hatten. Erneut spürt er die übelkeiterregende Beschämung, dass von ihnen erwartet wurde, in diesen demütigenden Lumpen und mit diesem billigen Spielzeug unter die Leute zu gehen, wo jeder sie sehen konnte. In jener Nacht hatte er sich aus seinem Zimmer geschlichen und die Sachen zur Kohlenpfanne von Dipendra gebracht, dem Nachtwächter, um sie ins Feuer zu werfen. Sein Vater war schrecklich wütend gewesen, seine Mutter verständnislos und vor allem enttäuscht, doch er hatte die Emotionen und Entbehrungen stoisch ertragen, weil er wusste, dass er etwas noch viel Schlimmeres verhindert hatte: die Beschämung.

Mr. Nandhas Finger tasten nach seinem Leichthoek. Er wird jetzt Parvati anrufen, wegen dieser Sache mit dem Brahmanenbaby, und er wird ihr sagen, was er wirklich über dieses Thema denkt. Er wird es klarstellen, damit sie Bescheid weiß und nie wieder davon anfängt. Er schiebt sich den Hoek über das Ohr, justiert unbewusst den Induktor und ruft die Nummer auf, als ein unerwarteter Anruf von außen hereinkommt.

»Umpf«, sagt Mr. Nandha ungehalten. Es ist Chauhan.

»Hab eine Neuigkeit. Ich kann Ihnen etwas zeigen, Nandha.«

»Es war ein Infrarotlaser, nicht wahr?«, sagt Mr. Nandha, als er in die Leichenhalle tritt. Die Toten liegen auf Keramiktischen, schwarze, geschrumpfte Mumien mit Schnappzähnen.

»Gut geraten«, antwortet der fröhliche, brutale Chauhan im Pathologengrün, von züchtigen Assistentinnen umgeben. »Ein kurzer intensiver Puls von einem Hochenergie-Infrarotlaser, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit flugfähig, obwohl ich einen gezielten Schuss von den Shanti Rana Apartments auf der anderen Seite nicht ausschließen würde.«

Eine der Leichen, noch schrecklicher verkohlt als die übrigen, gleicht einem schwarzen Stock, an dem blanke Rippen und gelbe Hüftknochen hängen, die Beine an den Knien gekappt. Der Gestank nach verbranntem Haar, Fleisch und Knochen ist in der sterilen neuen städtischen Leichenhalle von Ranapur viel schlimmer als im Apartment, wo er von den Kohlenwasserstoffen und Polycarbonaten überdeckt wurde. Aber in diesem sauberen, kühlen Raum gibt es letztlich nichts, was für einen Bewohner von Varanasi unvertraut oder verstörend wäre.

»Was ist mit ihm geschehen?«

»Ich vermute, dass er am Fenster stand, als der Feuerball hereinplatzte. Aber er ist gar nicht so interessant«, erklärt Chauhan, als sich Mr. Nandha über die unmenschliche Y-Form des Darwinware-Piraten beugt. »Im Gegensatz zu diesen beiden. Natürlich gibt es nichts, womit sie sich identifizieren ließen — bis jetzt habe ich nur oberflächlich herumgestochert —, aber diese Leiche ist männlich, die andere weiblich. Der Mann ist Europäer, von irgendwo zwischen Palermo und Paris, und die Frau ist Südinderin drawidischer Herkunft. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie ein Paar waren. Interessant ist, dass die Frau mit einer schweren Missbildung der Gebärmutter geboren wurde — sie war zweifellos nicht funktionsfähig. Mit guter alter Polizeiarbeit werden wir irgendwann herausfinden, wer sie waren, aber einen Hinweis kann ich Ihnen schon jetzt zeigen.«

Chauhan zieht eine gepolsterte Schublade auf und hält zwei Beweisbeutel aus Plastik hoch. In jedem befindet sich ein kleiner verkohlter Elfenbeinanhänger. Das Motiv ist ein weißes Pferd, das sich innerhalb eines Chakra-Kreises aus stilisierten Flammen aufbäumt.

»Wissen Sie, was das ist?«, fragt Chauhan.

»Kalki«, sagt Mr. Nandha. Er nimmt eine Scheibe und hält sie ins Licht. Das Stück ist kunstvoll gearbeitet. »Die zehnte und letzte Inkarnation Vishnus.«

Unmengen von heiligen Affen stürzen von den Bäumen und kommen auf weichen Knöcheln herbeigerannt, um den Lexus des Ministeriums zu begrüßen, als er vor dem alten Mughal-Jagdpalast vorfährt. Der Roboter tritt zwischen den Rhododendronbüschen hervor, um die Legitimation des Fahrers zu scannen. Das Personal hat den Garten verwildern und von Unkraut überwuchern lassen. Nur wenige Gärtner bestehen die Sicherheitsüberprüfung, und jene, die es schaffen, arbeiten nicht lange für ein Ministeriumsgehalt. Die Maschine hockt sich vor den Wagen und zeichnet mit dem Armgeschütz eine Linie über Mr. Nandha. Aus dem Kolben des linken Beins zischt es unregelmäßig, wodurch sie immer wieder zur Seite wegkippt, während sie die Ausweisdaten abfragt. Auch die Wartung lässt zu wünschen übrig. Mr. Nandha schürzt die Lippen, während die Affen den Wagen umschwärmen und mit ihren Fingerchen in den Ritzen herumstochern. Sie erinnern ihn an die Hände der verbrannten Leichen in Chauhans sauberer Leichenhalle, die schwarzen, verdorrten Fäuste. Ein Langur, der wie eine Kühlerfigur auf der Motorhaube hockt, masturbiert heftig zu den Klängen der Matthäus-Passion, die Mr. Nandha umweht.

Nachlässigkeit und Desinteresse führen zum Niedergang. Lausige Wartung und schlampige Sicherheit waren schuld, dass der Gefangene bei zwei Gelegenheiten hatte entkommen können. Das und verstohlene Roboter von der Größe und Beweglichkeit von Kakerlaken.

Der Sicherheitsroboter beendet die Überprüfung und stapft zurück ins Gebüsch, wie ein Jäger aus der späten Kreidezeit. Mr. Nandha fährt ruckhaft mit dem Wagen an, um die Affen zu verschrecken. Es wäre eine Horrorvorstellung für ihn, wenn sich eins der Tiere im Radlauf verfangen würde. Der Große Masturbator purzelt von der Haube. Mr. Nandha lugt nach vorn, um sich zu vergewissern, dass er keinen widerwärtigen Klecks Affenwichse auf dem Lack hinterlassen hat.

Als er mit dreizehn Jahren von Hormonen und Selbstzweifeln geplagt wurde, gab sich Mr. Nandha der Phantasie hin, einen heiligen Affen zu fangen, ihn in einen Käfig zu sperren und ihm langsam und systematisch jeden einzelnen kleinen Vogelknochen zu brechen. Er spürt immer noch ein Nachleuchten des Entzückens seiner damaligen freudigen Wut.

Ein paar hartnäckige Affen fahren auf dem Lexus den gesamten gekrümmten Weg bis zum Landhaus mit. Mr. Nandha verjagt sie mit Fußtritten, als er auf den knirschenden roten Kies hinaustritt, und setzt seine dunkle Brille auf. Der weiße Mughal-Marmor strahlt im Nachmittagslicht. Mr. Nandha entfernt sich ein paar Schritte vom Wagen, um den unverstellten Blick auf den Palast zu genießen. Er ist eine verborgene Perle, im Jahre 1613 von Shah Ashraf als Landsitz erbaut. Wo einst Jagdgeparden hoch auf Howdahs ritten und Mughal-Adlige über dem Sumpfland von Kirakat beizten, drängen sich nun von allen Seiten Fabrikbaracken und Lagerhäuser aus gepresstem Aluminium an das niedrige, kühle Landhaus. Doch die Genialität des Architekten hat Bestand: Die Säulenhallen umfassen das Haus, das von Dschungelgärten umgeben ist, und beide Epochen bleiben füreinander unsichtbar. Mr. Nandha bewundert die Ausgewogenheit der Kreuzgänge, die Tiefstapelei der Kuppel. Selbst angesichts der spätgotischen und barocken Triumphe Englands in Cambridge hat er die islamischen Architekten immer noch höher eingeschätzt als Christopher Wren und Reginald Ely. Sie bauten, wie Bach komponierte, stark und kraftvoll, mit Licht, Raum und Geometrie. Sie bauten zeitlos und für alle Zeiten. Mr. Nandha glaubt, dass es ihm nichts ausmachen würde, in einem solchen Gefängnis ausharren zu müssen. Hier würde er Abgeschiedenheit und Ruhe finden.

Kehrer mit emsigen Reisigbesen verbeugen sich vor Mr. Nandha, als er die flachen Stufen zur Kühle des Kreuzgangs hinaufsteigt. Das Ministeriumspersonal begrüßt ihn an der Tür und scannt ihn diskret mit Palmern. Mr. Nandha weiß ihre Gründlichkeit zu schätzen, auch wenn sie gelangweilt aussehen. Sie sind Beamte der Stufe EO1, aber sie haben sich nicht beim Ministerium beworben, um einen vermodernden Haufen alter Mughal-Steine zu bewachen. Mr. Nandha wartet darauf, dass der Wärter das transparente Plastikschloss öffnet, das wie eine hässliche Sexspielzeug-Yoni in der Wand aus kunstvoll gemeißeltem Alabaster steckt. Der letzte Sicherheitscheck zeigt grün an. Mr. Nandha tritt in den Bankettsaal. Wie immer hält er den Atem an, als er die weißen Steinjalis, das gebänderte Mauerwerk, die großzügige Geräumigkeit der niedrigen Zwiebelbögen, die Geometrie der azurblauen Dachziegel, die hohen Spitzfenster hinter Textilvorhängen bewundert. Doch der eigentliche Blickfang des Raumes ist nicht die strahlende Harmonie der Innenarchitektur. Es ist auch nicht der Faraday-Käfig, der in mühevoller Kleinarbeit in die Wände eingearbeitet wurde. Es ist der transparente Plastikwürfel, der genau im Zentrum steht. Er ist fünf Meter lang und fünf Meter hoch, ein Haus innerhalb eines Hauses, durch transparente Trennwände aufgeteilt in durchsichtige Räume mit transparenten Installationen und Kabeln und Stühlen und Tischen und einem transparenten Bett und einer transparenten Toilette. Mitten in dieser Transparenz sitzt ein dunkler, zum Fettansatz neigender Mann mit dichtem Bart. Er trägt eine weiße Kurta, ist barfuß und liest in einem Taschenbuch. Er hat Mr. Nandha den Rücken zugekehrt, aber als er seine Schritte auf dem kühlen Marmor hört, erhebt er sich. Er kneift kurzsichtig die Augen zusammen, dann erkennt er seinen Besucher und zieht den Stuhl an die transparente Wand. Er stupst mit einem Zeh gegen das Taschenbuch mit dem gebrochenen Rücken. Er trägt einen transparenten Zehen-Ring.

»Die Wörter bewegen sich immer noch nicht.«

»Die Wörter müssen sich nicht bewegen. Sie sind es, der von ihnen bewegt werden sollte.«

»Es ist eine sehr effektive Methode, um eine Virtual-Reality-Erfahrung zu komprimieren. Das muss ich zugeben. All das mit nur eins Komma vier Megs? Es ist nur so non-interaktiv ...«

»Aber es ist für jeden anders, der es liest«, sagt Mr. Nandha.

Der Mann im Plastikwürfel nickt nachdenklich. »Wo bleibt da das gemeinsame Erlebnis? Was kann ich also für Sie tun, Mr. Nandha?«

Mr. Nandha blickt auf, als er das Moskitosummen einer Hovercam hört. Sie dreht das Linsenauge auf den Plastikkäfig und steigt dann empor zum phantasievollen Schmuck des Kuppeldachs. Mr. Nandha zieht die Beweisbeutel aus der Jackentasche und hält sie hoch. Der Mann auf dem Plastikstuhl blinzelt.

»Sie müssen sie näher heranbringen. Ohne meine Brille kann ich nichts erkennen. Sie hätten sie mir lassen sollen.«

»Nicht nach dem letzten Mal, Mr. Anreddy. Die Elektronik war äußerst genial.«

Mr. Nandha drückt die Beutel gegen die Plastikwand. Der Gefangene kniet nieder. Mr. Nandha sieht, wie sein Atem die Transparenz beschlägt. Er keucht leise und unterdrückt auf.

»Woher haben Sie die?«

»Von ihren Besitzern.«

»Also sind sie tot.«

»Ja.«

J. P. Anreddy ist ein kleiner, plumper Asthmatiker Mitte zwanzig mit zu wenig Haar auf dem Kopf und viel zu viel davon auf den weichen Wangen, und er ist Mr. Nandhas größter professioneller Triumph. Er war ein Datenraja des Sinha-Sundarban, eine wichtige Station an der Kaih-Untergrundbahn, als Awadh die Hamilton-Gesetze ratifizierte und sämtliche künstliche Intelligenz oberhalb der Stufe 2,0 für illegal erklärte. Er machte eine astronomische Summe Geld mit der Umfirmierung von Kaihs, die er herunterstufte und denen er gefälschte Lizenzidentitäten verpasste. Fusionen von Mensch und Maschine waren seine Jugendsünde gewesen, eine Erweiterung seiner einhundertfünfzig Kilo, die überwiegend aus mittlerem Körperfett bestehen, um schlankere, beweglichere Roboterkörper. Als Mr. Nandha ihn wegen Vergehen gegen das Lizenzrecht verhaftete, hatte er sich einen Weg durch mehrere Staffeln von Servicerobotern gebahnt. In seiner Erinnerung verschmelzen die klickenden Plastikpeds mit den kleinen schwarzen Affenhänden, die seinen Ministeriumswagen bedrängt haben. Mr. Nandha erschaudert im hellen, warmen, nach Staub duftenden Raum. Er hatte den Datenraja durch seine Suite gehetzt, bis Indra sich in die Proteinmatrix-Chips an der Unterseite seines Schädels eingeklinkt hatte, mit denen Anreddy direkt auf seine maschinellen Erweiterungen zugreifen konnte, um sie alle mit einem einzigen EM-Puls durchbrennen zu lassen. J. P. Anreddy hatte drei Monate lang im Koma gelegen und fünfzig Prozent seiner Körpermasse verloren. Als er wieder zu Bewusstsein kam, hatte er festgestellt, dass sein Haus per Gerichtsbeschluss konfisziert und in sein persönliches Gefängnis verwandelt worden war. Jetzt lebte er im Zentrum seiner wunderschönen Mughal-Architektur in einem transparenten Plastikwürfel, wo jede Bewegung, jeder Atemzug, jeder Bissen, jedes Kratzen, jeder Floh und jede Fliege von den Hovercams überwacht werden konnte. Zweimal hatte er mit Hilfe von insektengroßen Robotern ausbrechen können. Obwohl er sie nicht mehr allein durch seinen Willen steuern konnte, hatte J. P. Anreddy nie seine Liebe zu winzigen krabbelnden Wesen verloren. Hier würde er so lange unter Hausarrest stehen, bis er Reue für seine Taten zeigte. Mr. Nandha ging davon aus, dass er in seiner Plastikverpackung sterben und vergammeln würde. J. P. Anreddy war nicht im Geringsten der Ansicht, dass er etwas Falsches getan haben könnte.

»Wie sind sie gestorben?«, fragt der Datenraja.

»Im Feuer, im fünfzehnten Stock von ...«

»Halt. Badrinath? Radha?«

»Niemand hat überlebt.«

»Wie?«

»Wir haben Theorien.«

Anreddy sitzt mit gesenktem Kopf auf dem transparenten Plastikfußboden. Mr. Nandha schüttelt die Medaillons heraus und hält sie an den Ketten hoch.

»Sie haben sie also gekannt.«

»Von ihnen gewusst.«

»Namen?«

»Irgendwas Französisches, obwohl sie Inderin war. Früher arbeiteten sie an der Universität, aber dann gingen sie hinaus in die freie Welt. Sie hatten mit einem Großprojekt zu tun, mit einer Menge Geld im Hintergrund.«

»Haben Sie jemals von einer Investmentgesellschaft namens Odeco gehört?«

»Jeder hat schon von Odeco gehört. Das heißt, alle, die in der Wildnis unterwegs sind.«

»Haben Sie jemals Geld von Odeco bekommen?«

»Ich bin ein Datenraja, ein großer, wilder, böser Mann. Staatsfeind Nummer eins. Jedenfalls war ich in einer anderen Sparte aktiv. Ich hatte mich auf Nano-Robotik spezialisiert. Sie auf hochentwickelte Kaihs, Proteinprozessoren, Computer-Gehirn-Interfaces.«

Mr. Nandha drückt die Amulette gegen die Plastikwand. »Kennen Sie die Bedeutung dieses Symbols?«

»Das reiterlose weiße Pferd, der zehnte Avatar.«

»Kalki. Der letzte Avatar, der das Ende des Zeitalters Kalis einläuten wird. Ein Name aus einer Legende.«

»Varanasi ist eine Stadt der Legenden.«

»Hier ist eine Legende unserer Zeit. Könnte Badrinath von Odeco finanziert worden sein, um eine Kaih der Generation Drei zu entwickeln?«

J. P. Anreddy lehnt sich zurück und wirft den Kopf in den Nacken. Der Siddha der huschenden Roboter. Er schließt die Augen. Mr. Nandha legt die Amulette auf den Fußbodenkacheln aus, in Anreddys Blickfeld. Dann geht er zum Fenster und zieht langsam den Vorhang hoch. Der sonnengebleichte Stoff faltet sich zu einer breiten Konzertina zusammen.

»Ich werde Ihnen jetzt unsere Theorie erklären, wie sie in Badrinath starben. Wir glauben, dass es ein gezielter Angriff durch eine Flugdrohne mit Laserbewaffnung war«, sagt Mr. Nandha. Er zieht den nächsten Vorhang hoch und lässt die blendende Sonne herein, den heimtückischen Himmel.

»Sie Mistkerl!«, ruft J. P. Anreddy und springt auf.

Mr. Nandha geht zum dritten Fenster hinüber. »Wir finden diese Theorie sehr überzeugend. Ein einziger Hochenergieschuss.« Er durchquert den Raum und begibt sich zu den gegenüberliegenden Fensterkreuzen. »Durch das Wohnzimmerfenster. Ein Präzisionsangriff. Die Kaih muss innerhalb weniger Millisekunden das Ziel erfasst, identifiziert und unter Beschuss genommen haben. Seit dem Überfall auf den Zug herrscht so viel Luftverkehr, dass niemand es bemerken wird, wenn eine einzelne Drohne von ihrem Patrouillenkurs abweicht.«

Andreddy hat die Hände gegen die Plastikwand gespreizt, und mit weit aufgerissenen Augen sucht er den weißen Himmel nach verräterischen Flecken ab.

»Was wissen Sie über Kalki?«

Mr. Nandha faltet den nächsten Vorhang zusammen. Jetzt ist nur noch einer übrig. Säulen aus Licht stehen schräg auf dem Boden. Anreddys Miene zeigt Schmerz, ein Cybervampir, der von der Sonne verbrannt wird.

»Sie werden Sie töten, Mann.«

»Das werden wir sehen. Ist Kalki eine Kaih der dritten Generation?«

Er nimmt die weiche Baumwollkordel des letzten Vorhangs in die Hand und zieht daran. Ein Lichtkeil breitet sich auf den Kacheln aus. J. P. Anreddy hat sich in die Mitte seines Plastikkäfigs zurückgezogen, aber er kann sich nicht vor dem Himmel verstecken.

»Nun?«

»Kalki ist eine Kaih der Generation Drei. Sie existiert. Sie ist real. Schon länger, als Sie glauben. Sie ist da draußen. Wissen Sie überhaupt, was Generation Drei bedeutet? Eine Intelligenz, die nach den üblichen Vergleichsmaßstäben den menschlichen Durchschnitt um das Zwanzig- bis Dreißigtausendfache übertrifft. Und das ist nur der Anfang. Hier geht es um emergente Eigenschaften, Mann. Die Evolution läuft eine Million Mal schneller ab. Und wenn sie hinter Ihnen her sind, können Sie nicht weglaufen oder sich verstecken. Sie können sich nicht ducken und hoffen, dass sie Sie vergessen werden. Was auch immer Sie tun, diese Kaihs können Sie sehen. Ganz gleich, welche Identität Sie annehmen, sie wissen es schon, bevor Sie es tun. Ganz gleich, wohin Sie gehen, sie werden schon vor Ihnen dort sein und auf Sie warten, weil sie es bereits erraten haben, bevor Sie selbst das erste Mal daran gedacht haben. Es geht hier um Gen-Dreier, Mann. Es sind Götter! Sie können keine Götter lizensieren.«

Mr. Nandha wartet die Tirade ab, bevor er die billigen, in der Hitze angelaufenen Kalki-Amulette einsammelt und in die Beutel zurücklegt.

»Vielen Dank. Jetzt kenne ich den Namen meines Feindes. Guten Tag.«

Er dreht sich um und läuft durch die staubigen weißen Lichtstrahlen zurück. Das Klacken seiner Absätze hallt vom edlen islamischen Marmor zurück. Hinter seinem Rücken hört er dumpfe Schläge von Fäusten gegen flexible Plastikwände und Anreddys ferne und gedämpfte Stimme.

»He, die Vorhänge, Mann! Lassen Sie mich nicht so zurück! Lassen Sie die Vorhänge nicht offen! Mann! Die Vorhänge. Sie können mich sehen! Verdammt, sie können mich sehen! Die Vorhänge!«

20 Vishram

Sein Schreibtisch ist groß genug, um darauf mit einem Kampfjet landen zu können. Er hat ein Büro aus Holz und Glas im obersten Stock. Er hat einen eigenen Cheflift und eine eigene Cheftoilette. Er hat fünfzehn Anzüge, die aus dem gleichen Stoff und nach dem gleichen Muster geschneidert sind wie der, den er getragen hat, als er sein Imperium erbte, und dazu passende handgefertigte Schuhe. Und als persönliche Assistentin hat er Indira, die die irritierende Fähigkeit besitzt, physisch vor ihm zu stehen und sich gleichzeitig auf seinem Desktop-Organizer und als Geist in seinem visuellen Kortex zu manifestieren. Er hat von diesen professionellen Sekretär-Systemen gehört, die zum Teil Mensch, zum Teil Kaih sind. So etwas gehört zum modernen Büromanagement.

Außerdem hat Vishram Ray einen brutalen Strega-Kater und ovale Sonnenbrandflecken um die Augen, wo er zu tief und zu lange in ein anderes Universum geblickt hat.

»Wer sind diese Leute?«, fragt Vishram Ray.

»Die Siggurdson-Arthurs-Clementi Group«, sagt Indira-auf-dem-Teppich, während Indira-auf-dem-Schreibtisch die Lotushände öffnet, um ihm einen Terminplan zu zeigen, und Indira-im-Kopf sich zu Porträtfotos von gut genährten weißen Männern mit teuren Anzügen und noch teureren Zähnen auflöst. Für ihre Ähnlichkeit mit Audrey Hepburn hat Indira-auf-dem-Teppich eine erstaunlich tiefe Stimme. »Ms. Fusco wird Ihnen im Wagen weitere Informationen geben. Und Energieminister Patel hat um einen Termin gebeten, genauso wie die energiepolitische Sprecherin der Shivaji. Beide wollen wissen, welche Pläne Sie mit dem Unternehmen verfolgen wollen.«

»Ich weiß selber nicht, welche Pläne ich habe, aber der ehrenhafte Minister wird sie als Erster erfahren.« Vishram hält an der Tür inne. Alle drei Indiras warten erwartungsvoll. »Indira, wäre es möglich, mit diesem ganzen Büro aus dem Ray Tower auszuziehen und es in die Forschungsabteilung zu verlegen?«

»Gewiss, Mr. Ray. Sind Sie mit diesen Räumlichkeiten unzufrieden?«

»Nein, es ist ein sehr hübsches Büro. Sehr ... geschäftsmäßig. Nur dass ich mich hier ... der Familie recht nahe fühle. Meinen Brüdern. Und wenn wir schon dabei sind, würde ich auch gern aus dem Haus ausziehen. Ich finde es ein bisschen ... erdrückend. Könnten Sie mir ein nettes Hotel suchen? Mit gutem Zimmerservice?«

»Gewiss, Mr. Ray.«

Als er geht, sind die Indiras bereits damit beschäftigt, Angebote von Umzugsfirmen und Hotels mit Penthouse-Suiten einzuholen. Im Ray-Power-Mercedes genießt Vishram Marianna Fuscos Chanel 27. Gleichzeitig spürt er, dass sie sauer auf ihn ist.

»Sie ist Physikerin.«

»Wer ist Physikerin?«

»Die Frau, mit der ich gestern zu Abend gegessen habe. Eine Physikerin. Ich sage es dir, weil du mir etwas ... schnippisch vorkommst.«

»Schnippisch?«

»Kurz angebunden. Verärgert. Du weiß schon. Schnippisch eben.«

»Ach so. Ich verstehe. Und das liegt an deinem Abendessen mit einer Physikerin?«

»Einer verheirateten Physikerin. Einer verheirateten Hindu-Physikerin.«

»Ich frage mich, warum du das Bedürfnis hast, mir zu sagen, dass sie eine verheiratete Frau ist.«

»Eine verheiratete Hindu-Physikerin. Namens Sonia. Deren Gehaltsscheck ich unterschreibe.«

»Als würde das eine Rolle spielen.«

»Natürlich. Wir haben ein professionelles Verhältnis. Ich habe sie zum Abendessen eingeladen, und dann sind wir zu ihr gegangen, wo sie mir ihr Universum gezeigt hat. Es ist sehr klein, aber von perfekter Gestalt.«

»Ich habe mich schon gefragt, wie du mir die Panda-Augen erklären wirst. Handelt es sich um ein Universum der Sonnenliegen?«

»Genau gesagt geht es um Nullpunktenergie. Und du hast sehr elegante Fußknöchel.«

Er glaubt, den Ansatz eines Lächelns zu bemerken.

»Gut. Wie gehe ich mit diesen Leuten um?«

»Gar nicht«, sagt Marianna Fusco. »Du schüttelst ihnen die Hände, du lächelst höflich und hörst dir an, was sie dir zu sagen haben. Ansonsten tust du gar nichts. Anschließend erstattest du mir Bericht.«

»Du wirst mich nicht begleiten?«

»Bei dieser Sache bist du auf dich allein gestellt, Funny Man. Aber sei darauf gefasst, dass Govind Ramesh heute Nachmittag ein Angebot unterbreitet.«

Als er am Flughafen angekommen ist, löst sich die Haut in Schuppen von Vishrams Augenpartie. Der Wagen fährt an den Entladezonen und den weißen Zonen, den Beladezonen und Abschleppzonen zur Bizjet-Zone durch die zweifach verbarrikadierte Sicherheitskontrolle auf das Rollfeld bis zu einem privaten Firmen-Senkrechtstarter, der wie eine Gottesanbeterin auf den Triebwerken und dem Heckleitwerk kauert. Eine assamesische Hostess in tadellosem traditionellem Kostüm öffnet die Türen, namastiert wie eine knospende Blüte und führt Vishram zu seinem Sitzplatz. Er hebt eine Hand, um Marianna Fusco zu grüßen, und der Mercedes fährt zurück. Heute fliegt er solo.

Die Hand der Hostess verweilt kurz, als sie Vishrams Sitzgurt überprüft, aber er bemerkt es nicht, weil in diesem Moment sein Magen und seine Eier nach unten sacken — der Senkrechtstarter springt in die Höhe, senkt die Nase und erhebt sich über die messingfarbenen Dächer von Varanasi. Ein unvermeidlicher Teil von Vishram Ray bemerkt die unmittelbare Nähe einer attraktiven Frau, aber er hält das Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt, während das Flugzeug über den Flusstempeln und Ghats und Palästen und Havelis abdreht und auf einen Kurs geht, der Ganga Devi folgt. Der Shikhara des Vishwanath-Tempels glänzt golden. Schließlich wird seine Aufmerksamkeit zur Hand auf seinem Bein gelenkt. Die Triebwerke schwenken in den Horizontalflug ein, und der Pilot bringt die Maschine auf Reiseflughöhe.

»Ich kann Ihnen eine Salbe für Ihre Stirn bringen, Sahb«, sagt das vollkommene, runde Gesicht, das wie ein Vollmond vor ihm schwebt.

»Ich werde es überleben, danke«, sagt Vishram Ray. Der erste Champagner wird gebracht. Vishram vermutet, dass es der erste ist. Er wird sich mit diesem ersten Zeit lassen, auch wenn von ihm erwartet wird, dass er die Gastfreundschaft missbraucht. Der Champagner ist kalt und sehr, sehr gut, und wenn Vishram Ray im Flug trinkt, fühlt er sich jedes Mal wie ein Gott. Die Bastis breiten sich unter ihm aus, vielfarbige Plastikdächer, die sich so dicht aneinanderdrängen, dass sie wie eine straff über den Boden gespannte Decke aussehen, auf der ein Festmahl serviert werden soll. Der Senkrechtstarter folgt der Linie des Flusses bis zum Rand des Luftraums von Patna, um dann nach Süden abzudrehen. Vishram sollte seine Unterlagen studieren, aber Bharat berauscht ihn zu sehr. Das gigantische Ballungszentrum der Slums löst sich in ein Gewebe aus Feldern und Dörfern auf, die von ermüdetem Gelb zu ausgetrocknetem Weiß verblassen, je weiter das Land vom Fluss entfernt ist. Vor zweitausend Jahren hätte es etwas anders ausgesehen, wäre Vishram Ray tatsächlich ein Gott gewesen, der durch das heilige Bharat zieht, um gegen die Rakshasas des schwarzen Südens Krieg zu führen. Dann fällt sein Blick auf eine Stromleitung und eine Gruppe von Windturbinen, die sich träge in der schweren, trockenen Luft drehen. Turbinen von Ray Power. Turbinen seines Bruders. Er blickt zum gelben Dunst des Horizonts. Bildet er sich einen schattigen Streifen im braunen Smog hoch oben in der Atmosphäre ein, die Schlachtreihe vorrückender Wolken? Kommt endlich doch der Monsun? Das verbrannte Gestein der Ebene verfärbt sich zu Beige und dann zu Gelb, bis das erste Grün von Bäumen erscheint und das Land ansteigt. Das Flugzeug steigt ebenfalls am Rand des Hochlands auf, und nun befindet sich Vishram über dichtem Wald. Im Westen steht eine Rauchfahne, die vom Wind nordwärts abgetrieben wird. Das Grün ist eine Lüge, denn dieser Hochwald ist nach drei Jahren Dürre ausgetrocknet und feuerhungrig. Vishram trinkt den Champagner aus — der nun warm und schal geworden ist —, als die Anschnallzeichen aufleuchten.

»Soll ich Ihnen das abnehmen?«, fragt die Hostess, die ihm wieder viel zu nahe ist. Vishram bildet sich ein irritiertes Zucken im perfekten, geschminkten Gesicht ein. Ich habe deinen Verführungskünsten widerstanden. Der Senkrechtstarter schwenkt in eine Landespirale ein. Eine Veränderung in der Tonhöhe verrät ihm, dass die Turbinen in die Landestellung gedreht werden, aber als Vishram nach unten blickt, kann er nichts erkennen, das wie ein Flughafen aussieht. Die Maschine treibt über dem Blätterdach des Waldes, so tief, dass die Triebwerke einen Sturm entfachen und die Blätter aufwirbeln. Dann erreicht der Triebwerkslärm einen Höhepunkt, und Vishram stürzt in den Wald. Vögel zerstieben in einer lautlosen Explosion in alle Richtungen, und dann hat er mit einem sanften Aufprall den Boden erreicht. Das Heulen verebbt zu einem Wimmern. Das Assam-Mädchen macht sich an der Tür zu schaffen. Hitze schwappt herein. Sie winkt ihm. »Mr. Ray.« Am Fuß der Treppe steht ein alter Rajput mit großem weißem Schnurrbart und einem so fest gewickelten Turban, dass Vishram aus Sympathie eine Migräne bekommt. Hinter ihm stehen ein Dutzend Männer in Khaki aufgereiht, mit seitlich hochgebogenen Schlapphüten und geschulterten schweren Sturmgewehren.

»Mr. Ray, herzlich willkommen im Tigerschutzgebiet Palamau«, sagt der Rajput mit einer Verbeugung.

Das Assam-Mädchen bleibt im Senkrechtstarter. Während sich der Rajput mit seinem Besucher vom Flugzeug entfernt, verteilen sich die Schlapphüte mit den Gewehren im Kreis. Die Maschine ist auf einer runden Fläche aus nackter Erde innerhalb eines dichten Hains aus Bambus und Gebüsch niedergegangen. Ein Sandweg führt durch die Bäume. Der Weg wird von stabil gebauten Schutzhütten gesäumt — in übertrieben hoher Anzahl, wie Vishram findet. Keine ist weiter als einen panischen Sprint von der nächsten entfernt.

»Wofür sind die?«, fragt Vishram.

»Für den Fall eines Tigerangriffs«, antwortet der Rajput.

»Ich glaube eher, alles, was uns fressen könnte, ist inzwischen kilometerweit entfernt, nach dem Lärm, den wir bei der Landung gemacht haben.«

»Ganz und gar nicht, Sir. Sie haben gelernt, das Geräusch von Flugzeugtriebwerken zu assoziieren.«

Womit? Vishram verspürt den Drang, danach zu fragen, aber irgendwie kann er sich nicht dazu durchringen. Er ist ein Stadtjunge. Aus der Stadt! Hört ihr das, ihr Menschenfresser? Vollgepumpt mit üblen Zusatzstoffen.

Die Luft ist sauber und riecht nach Wachstum und Tod und der Erinnerung an Wasser. Staub und Hitze. Der Weg macht einen Bogen, so dass der Landeplatz nach wenigen Schritten unsichtbar ist. Durch denselben Effekt bleibt die Hütte bis zum letzten Moment verborgen. Eben noch gab es nur Grün und Blätter und raschelnde Zweige, und plötzlich verwandeln sich die Stämme in Pfosten und Leitern und Treppen, und zwischen den Wipfeln breitet sich ein großes Baumhaus aus, wie eine Galeone, die vom Monsun mitgerissen und im Wald abgesetzt wurde.

Weiße Männer in bequemen und demzufolge teuren Anzügen beugen sich über das Geländer, um ihn winkend und lächelnd zu begrüßen.

»Mr. Ray! Kommen Sie an Bord!«

Sie reihen sich am Ende der Holzleiter auf, als würden sie einen Admiral auf ihrem Schiff empfangen. Clementi, Arthurs, Weitz und Siggurdson. Ihr Händedruck ist fest, ihr Blickkontakt klar, mit der aufgesetzten Fröhlichkeit von Geschäftsleuten. Vishram zweifelt keinen Augenblick lang daran, dass sie ihn beim Golf vornüberzwingen und ihm einen Mashie Niblick in den Arsch schieben würden — oder bei irgendeinem anderen muy macho Männermachtspiel. Seine Theorie in Bezug auf Golf lautet: Betreibe niemals eine Sportart, die von dir verlangt, dich wie dein Großvater zu verkleiden. Nach und nach kommen ihm ein paar Ideen zu einem netten kleinen Programm über das Thema Golf — wenn er denn immer noch ein Leben führen würde, in dem es um Comedy-Programme geht.

»Ist das nicht ein wunderbarer Ort für ein Mittagessen?«, sagt der große, akademisch wirkende Arthurs, als er Vishram Ray über den Laufsteg aus Holz führt und sie sich spiralförmig immer höher ins Blätterdach hinaufarbeiten. Vishram schaut blinzelnd nach unten. Die Männer mit den Gewehren blicken zu ihm hoch. »Wie schade, dass Bhagwandas meint, dass wir praktisch keine Chance haben, einen Tiger zu sehen.« Er hat den nasalen, leicht trötenden Akzent eines typischen Bostoners. Also dürfte er Buchhalter sein, schlussfolgert Vishram. In Glasgow sagten die Leute, man sollte sich stets katholische Anwälte und protestantische Buchhalter nehmen. Sie gehen zwischen Reihen von Kellnern in eleganten Pyjamas und mit Rudyard-Kipling-Turbanen hindurch. Eine doppelte Mahagonitür mit geschnitzten Schlachtszenen aus dem Mahabharata wird aufgerissen, ein Oberkellner führt sie zum Festmahl, das in einer Vertiefung im Boden mit Kissen und einem niedrigen Tisch angerichtet wurde. Es wäre der Gipfel des Kitsches, wenn nicht der Ausblick unter dem Dachgesims durch das Panoramafenster auf das Wasserloch gewesen wäre. Der Rand ist zu Matsch zertrampelt, aber Vishram glaubt, Chitals zu sehen, die nervös vom schmutzigen braunen Wasser nippen, während die Ohren in ständiger Alarmbereitschaft hin und her schwenken. Er denkt an Varanasi, an das widerliche Wasser und die Radaranlagen.

»Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, insistiert Clementi, ein breiter, dunkelhaariger Mann, teigig wie ein Inder und bereits mit dem Ansatz eines blauen Kinns. Die Westler lassen sich unter Geschnaufe und Gelächter nieder. Punkah-Fächer wedeln an der Decke und rühren die warme Luft um. Vishram setzt sich und macht es sich auf dem niedrigen Diwan bequem. Der Oberkellner bringt Mineralwasserflaschen. Saiganga. Gangeswasser. Vishram Ray hebt sein Glas.

»Meine Herren, ich bin gänzlich Ihrer Gnade ausgeliefert.«

Sie lachen mit übertriebener Anerkennung.

»Ihre Seele werden wir später einfordern«, sagt Weitz, der offensichtlich jemand ist, der sich an der Highschool, dem College, beim Sport und an der Business Law School nie allzu sehr anstrengen musste. Vishrams Publikumsgespür bemerkt, dass Siggurdson, der große, leichenblasse Kerl, das geringfügig weniger witzig findet als die anderen. Der Wiedergeborene, der mit dem Geld.

Das Mittagessen kommt auf dreißig winzigen Thalis. Es ist von jener exquisiten Einfachheit, die stets wesentlich kostspieliger ist als jede Opulenz. Die fünf Männer reichen die Gerichte herum und murmeln leise Hallelujas der Anerkennung für jede subtile Kombination von Gemüsen und Gewürzen. Vishram fällt auf, dass sie ohne jegliche Unsicherheit indisch essen. Ihre Marianna Fuscos haben sie sogar darauf gedrillt, welche Hand sie benutzen sollen. Doch abgesehen von den leisen Geschmacksoffenbarungen und gegenseitigen Ermunterungen, eine Kostprobe hiervon und ein Krümelchen davon zu nehmen, verläuft die Mahlzeit schweigend. Schließlich sind die dreißig silbernen Thalis geleert. Die Boys des Oberkellners flattern wie Tauben herein, um abzuräumen, und die Männer lehnen sich auf ihren bestickten Kissen zurück.

»Also, Mr. Ray, wir wollen gar nicht allzu viele Worte vergeuden. Wir sind an Ihrer Firma interessiert.« Siggurdson spricht langsam und gemessen dahinschreitende Worte, wie eine Herde Büffel, die zu gefährlicher Unterschätzung verlocken.

»Ach, wenn doch nur alles mir gehören würde, was Sie kaufen möchten«, sagt Vishram. Jetzt wünscht er sich, er hätte nicht eine Seite des Tisches ganz für sich allein. Alle Köpfe sind ihm zugewandt, jede Körpersprache richtet sich auf ihn.

»Oh, das wissen wir«, sagt Weitz.

Arthurs redet weiter. »Sie haben ein nettes kleines mittelgroßes Unternehmen, das Energie erzeugt und vertreibt. Gute Positionierung, rudimentäre semi-feudale Besitzstrukturen. Trotzdem hätten Sie das Geschäft schon vor Jahren ausweiten sollen, um die Aktiengewinne zu maximieren. Aber so etwas machen Sie hier ganz anders, das ist mir bewusst. Ich verstehe es nicht, aber es gibt in diesem Land sehr viele Dinge, die für mich offen gesagt überhaupt keinen Sinn ergeben. Vielleicht sind Sie ein wenig überkapitalisiert, und Sie haben zweifellos viel zu viel in soziales Kapital investiert. Das Budget Ihrer Forschung und Entwicklung würde bei uns zu Hause großes Erstaunen auslösen, aber Sie sind ziemlich gut in Form. Vielleicht keine Weltklasse und auch kein Marktführer, aber Sie stehen auf einem guten Platz in der Regionalliga.«

»Das haben Sie sehr nett gesagt«, erwidert Vishram mit gerade so viel Gehässigkeit, wie er sich in dieser Teak-Arena erlauben kann. Ihm ist klar, dass sie ihn pieksen und plagen und zu einer unbedachten Äußerung provozieren wollen. Er blickt auf seine Hände. Sie liegen ruhig und sicher am Glas, genauso, wie sie früher das Mikro gehalten haben. Es ist nicht schwieriger, als auf Zwischenrufer zu reagieren.

Siggurdson legt seine großen Fäuste auf den Tisch und beugt sich vor. Er will einschüchtern.

»Ich glaube, Sie haben noch nicht ganz die Ernsthaftigkeit dessen verstanden, was wir Ihnen sagen wollen. Wir kennen die Firma Ihres Vaters besser, als er selbst sie kennt. Seine Entscheidung kam plötzlich, aber nicht ganz überraschend. Wir haben unsere Modelle. Es sind gute Modelle. Damit lassen sich Vorhersagen mit akzeptabler Genauigkeit treffen. Dieses Gespräch hätte in jedem Fall stattgefunden, ganz gleich, was er in Bezug auf Sie entschieden hätte. Dass dieses Gespräch hier stattfindet, spiegelt wider, wie viel wir nicht nur über Ray Power wissen, sondern auch über Sie, Mr. Ray.«

Clementi zieht ein Zigarrenetui aus der Innentasche seiner Jacke. Er lässt es aufschnappen. Wunderschöne kleine schwarze kubanische Zigarillos wie Patronen in einem Magazin. Hungriger Schmerz schießt durch Vishrams Speicheldrüsen. Köstliches Rauchwerk.

»Wer steht hinter Ihnen?«, fragt er mit vorgetäuschter Lässigkeit. Er weiß, dass er die Sache wie einen Gazeschleier durchschaut. »EnGen?«

Siggurdson bedenkt ihn mit einem langen Blick, als wäre Vishram ein dummes Kind. »Mr. Ray.«

Arthurs befeuchtet die Lippen mit der Zunge, ein zartes, rosafarbenes zuckendes Zäpfchen, wie eine winzige Schlange, die in den Höhlungen seines Gaumens wohnt. »Wir sind die offiziellen Akquisitoren eines großen transnationalen Konzerns.«

»Und welches Interesse hat dieser große transnationale Konzern an der Forschungsabteilung von Ray Power? Könnte es etwas mit den Resultaten zu tun haben, die wir im Nullpunktlabor erzielt haben? Resultate, die zu schönen kleinen schwarzen Zahlen führen, während alle anderen nur große rote Zahlen vorweisen können.«

»Wir haben Gerüchte in dieser Richtung gehört«, sagt Weitz, und Vishram schlussfolgert, dass er das Gehirn hinter der ganzen Aktion ist. Arthurs ist der Geldmann, Siggurdson der Baron und Clementi der Vollstrecker.

»Mehr als nur Gerüchte«, sagt Vishram. »Aber die Nullpunkt-Geschichte steht nicht zum Verkauf.«

»Ich glaube, Sie haben mich möglicherweise missverstanden«, sagt Siggurdson langsam und gewichtig. »Wir wollen Ihre Firma nicht komplett kaufen. Aber wenn die Resultate, die Sie erzielt haben, in kommerziellem Maßstab reproduzierbar sind, könnte diese Sparte hohe Erträge abwerfen. Wir wären sehr daran interessiert, in diese Sparte zu investieren. Was wir möchten, Mr. Ray, ist Folgendes: Wir möchten einen Anteil an Ihrem Unternehmen kaufen. Es wäre genug Geld, um eine vollmaßstäbliche Demonstration der heißen Nullpunkt-Technologie durchzuführen.«

»Sie wollen mich nicht aufkaufen?«

»Mr. Siggurdson sagte Nein«, erwidert Clementi gereizt.

Siggurdson nickt. Er hat ein Lächeln wie ein Winter in Minnesota.

»Aha. Ich glaube, ich habe Sie missverstanden. Würden Sie mich für einen Moment entschuldigen, meine Herren? Ich müsste mal das Snanghar aufsuchen.«

Zwischen der exotischen Holztäfelung auf dem Thron sitzend steckt sich Vishram den Hoek hinter das Ohr und klappt den Palmer auf. Er will gerade Indira anrufen, als die Paranoia zuschlägt. Diese Männer in Anzügen hätten jede Menge Zeit gehabt, die Herrentoilette zu verwanzen. Er ruft eine Mail-Kaih auf, hebt die Hand wie ein Pianist, bereit, in der Luft zu tippen. Vielleicht benutzen sie Bindicams. Oder Bewegungssensoren, die das Spiel seiner Finger entziffern. Sie könnten Nanochips haben, die das Rauschen seines Palmers lesen — oder Sannyasins, die in die letzten Winkel seiner Seele blicken. Vishram Ray lässt sich auf dem Ring aus poliertem Mahagoni nieder und schickt eine Anfrage an Indira ab. Indira-im-Kopf meldet sich innerhalb einer Sekunde zurück, Kopf und Schultern materialisieren über dem Toilettenpapierhalter an der Innenseite der Tür.

Sie leiert Namen und Verbindungen herunter, die Vishram nur von den Wirtschafts- und Börsenseiten kennt, durch die er sich klickt, um zum Unterhaltungsteil zu gelangen, und die nur dann seine Aufmerksamkeit erregen, wenn er auf unbeabsichtigt komische Firmennamen stößt. Er denkt an die Khaki-Männer mit den schneidigen Schlapphüten und Sturmgewehren. He, Jungs, ihr seid am falschen Ort. Die Tiger sind hier oben.

Er tippt: HYPOTHETISCH: WARUM KÖNNTEN SIE MEINE FIRMA HABEN WOLLEN?

Eine Kaih-untypische Pause. Als Indira spricht, weiß Vishram, dass es die aus Fleisch und Blut ist.

»Um Sie auf ewig in Sorgfaltspflichtbestimmungen zu verstricken, mit dem letzlichen Ziel, die vollständige Kontrolle über das Nullpunktprojekt zu erlangen.«

Vishram sitzt auf dem warmen Mahagonisitz, und das Holz unter ihm und um ihn herum erscheint ihm heiß und erdrückend, wie ein in Sommererde bestatteter Sarg. So wird es von jetzt an immer sein.

»Danke«, sagt er laut. Dann wäscht er sich die Hände, um sich ein Alibi zu verschaffen, und kehrt zu den Männern am Tisch zurück.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich habe mich noch nicht ganz an die Umstellung meiner Ernährung gewöhnt.« Er setzt sich, verschränkt gewandt die Beine und macht es sich bequem. »Jedenfalls habe ich auch über Ihr Angebot nachgedacht ...«

»Lassen Sie sich Zeit«, schlägt Clementi vor. »Solche Entscheidungen sollte man nicht überstürzen. Schauen Sie sich unser Angebot an und melden Sie sich dann zurück.« Er schiebt eine Plastikhülle mit Hochglanzdokumenten über den Tisch.

Weitz jedoch lehnt sich zurück, unbeteiligt, und geht im Kopf die Möglichkeiten durch. Er weiß Bescheid, denkt Vishram.

»Danke, aber ich brauche keine weitere Bedenkzeit, und ich möchte nicht noch mehr von Ihrer Zeit vergeuden. Ich werde Ihr Angebot nicht annehmen. Mir ist klar, dass ich Ihnen eine Erklärung schuldig bin. Sie wird Ihnen vermutlich nicht einleuchten, aber der Hauptgrund ist der, dass mein Vater nicht wollen würde, dass ich es tue. Er war ein genauso starrköpfiger Geschäftsmann wie jeder von Ihnen, und er hatte keine Angst vor Geld, aber Ray Power ist zuallererst eine indische Firma, und weil es eine indische Firma ist, hat sie Werte und moralische und ethische Prinzipien, die sich extrem von der Art und Weise unterscheiden, wie Sie im Westen Geschäfte machen. Das ist kein Rassismus oder so, es geht nur darum, wie wir bei Ray Power arbeiten und dass unsere beiden Systeme inkompatibel sind. Der zweite Grund ist der, dass wir Ihr Geld nicht brauchen. Ich habe das Nullpunktfeld selbst gesehen.« Er legt einen Finger an die abblätternde Haut um seine Augen. »Ich weiß, dass Sie aus Höflichkeit nicht darauf gestarrt haben, aber das ist das Siegel der Bestätigung. Nur mit diesem Zeichen ist es echt. Ich habe es gesehen, meine Herren. Ich habe in ein anderes Universum geblickt, und sein Licht hat mich verbrannt.« Dann bricht es aus ihm hervor, der Moment, wenn man sich nicht mehr ans Drehbuch hält. Im Adrenalinrausch sagt Vishram Ray: »Wir werden ohnehin mit einer vollmaßstäblichen Demonstration an die Öffentlichkeit gehen, und zwar innerhalb der nächsten zwei Wochen. Und nebenbei bemerkt, habe ich vor drei Wochen mit dem Rauchen aufgehört.«

Danach gibt es Kaffee und sehr guten Armagnac, und Vishram ist sich klar, dass er dieses Getränk nie wieder ohne einen Wust von Erinnerungen genießen kann, aber die Gespräche sind höflich und gesittet und erlöschen bald, wie es unter Feinden mit Anstand üblich ist. Vishram möchte weg von hier, weg vom Holz und Glas und den Raubtieren. Er möchte allein an einem Ort sein, wo er das heftige glühende Brennen einer vollbrachten Tat genießen kann. Seine erste Entscheidung als Unternehmensleiter, und er weiß, dass er alles richtig gemacht hat. Dann werden zum Abschied Hände geschüttelt, doch als der Major und seine Jawans ihn zum Senkrechtstarter zurückbringen, bildet Vishram sich ein, mit einer anderen Haltung zu gehen, und dass sie alle es sehen, es verstehen und es akzeptieren.

Auf dem Rückflug versucht die Hostess nicht, sich ihm zu nähern.

Vor dem Ray Tower verlädt eine Gruppe Kulis Firmenmöbel in eine Flotte Umzugslastwagen. Vishram spürt, während er im Lift zu seinem ehemaligen Büro hinauffährt, immer noch das Nachbrennen des Adrenalins. Der Cheflift legt einen unplanmäßigen Halt im dritten Stock ein, wo ein kleiner, adretter, vogelähnlicher Bangla in schwarzem Anzug eintritt und Vishram anlächelt, als würde er ihn schon ein Leben lang kennen.

»Darf ich anmerken, Mr. Ray, dass Sie die richtige Entscheidung getroffen haben«, sagt der Bangla und strahlt übers ganze Gesicht.

Der gläserne Lift erklimmt die gewölbte Holzsteilwand des Ray Tower. In der Stadtlandschaft brennen immer noch mehrere Feuer. Der Himmel ist in edlem, samtigem Aprikosengelb getönt.

»Und wer«, sagt Vishram Ray, »zum Teufel sind Sie?«

Wieder strahlt der Bangla. »Ach, nur ein bescheidener Diener. Mein Name, wenn Sie darauf bestehen, ist Chakraborty.«

»Ich muss Ihnen sagen, dass ich eigentlich gar nicht in Stimmung für Geheimnistuerei bin«, sagt Vishram.

»Verzeihung, Verzeihung. Zur Sache. Ich bin Anwalt und wurde von einer gewissen Firma beauftragt, Ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Diese Botschaft lautet: Wir unterstützen uneingeschränkt Ihre Ankündigung einer möglichst bald erfolgenden Leistungsdemonstration.«

»Wer ist wir?«

»Eher was als wer, Mr. Ray.«

Der Glaslift steigt immer höher in den bernsteinfarben leuchtenden heiligen Smog von Varanasi hinauf.

»Also was?«

»Odeco ist ein Unternehmen, das einige wenige, sorgfältig ausgewählte und sehr spezifische Investitionen tätigt.«

»Und wenn Sie wissen, dass ich soeben ein Angebot von einer Gesellschaft abgelehnt habe, von der ich wenigstens schon einmal gehört habe, was glauben Sie dann, was Odeco mir bieten könnte?«

»Genau das, was wir auch schon Ihrem Vater geboten haben.«

In diesem Moment wünscht sich Vishram, dieser gläserne Kokon hätte den imaginären Halteknopf, der zur vorgeschriebenen Ausstattung von Hollywood-Aufzügen gehört. Aber er hat keinen, so dass sie weiter am Fassadenrelief von Ray Power hinaufsteigen.

»Mein Vater hat keine Partner in die Firma aufgenommen.«

»Mit allem Respekt, Mr. Ray, aber da muss ich Ihnen widersprechen. Was glauben Sie, wer das Geld für den Teilchenbeschleuniger investiert hat? Das Budget für das Nullpunktprojekt hätte selbst Ranjit Ray in den Bankrott getrieben.«

»Was versprechen Sie sich davon?«, fragt Vishram. Seine Held-des-Volkes-Aura ist verpufft. Spiele innerhalb von Spielen, Ebenen der Zugangsberechtigung und Geheimhaltung, Namen und Fakten und Masken. Gesichter, die sich Zutritt zu seinem Lift verschaffen und mit ihm über die geheimsten Transaktionen plaudern.

»Nur Erfolg, Mr. Ray. Nur Erfolg. Um die Botschaft meiner Auftraggeber zu wiederholen und vielleicht zu verstärken: Odeco ist sehr daran interessiert, dass Sie Ihre Absicht in die Tat umsetzen, eine vollmaßstäbliche Demonstration des Nullpunktprojekts durchzuführen. Die Gesellschaft möchte, dass Sie wissen, dass man Sie unterstützen wird, um den Erfolg des Projekts zu gewährleisten. Was auch immer dazu nötig ist, Mr. Ray. Ah. Das hier scheint mein Stockwerk zu sein. Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Mr. Ray.«

Chakraborty schlüpft zwischen den Türhälften hindurch, bevor sie sich vollständig geöffnet haben. Vishram fährt ein ganzes Stockwerk weiter, bis ihm einfällt, noch einmal zurückzukehren und dort anzuhalten, wo der seltsame kleine Mann ausgestiegen ist. Er blickt in den gekrümmten Korridor. Nichts, niemand zu sehen. Er könnte in irgendein Büro gegangen sein. Genauso gut könnte er in ein anderes, ein Nullpunkt-Universum übergewechselt sein. Die sinkende Sonne knallt in die Liftkabine, aber Vishram erschaudert fröstelnd. Er muss heute Abend irgendwohin ausgehen, fort von alldem hier, wenn auch nur für ein paar Stunden. Aber welche Frau wird er fragen?

21 Parvati

Die Aprikose fliegt in hohem Bogen hinaus über die Brüstung, dreht sich langsam und hinterlässt eine Blutspur aus Saft. Sie verschwindet zwischen den Gebäuden, fällt der weit unter ihnen liegenden Straße entgegen.

»Die hat also die Boundary in der Luft überschritten. Und was ergibt das?«

»Eine Sechs!«, ruft Parvati und klatscht in die Hände.

Die Linie ist ein Strich aus Gärtnerkreide, das Wicket ein Sperrholzkasten für Sämlinge, von dem drei Seiten abgeschlagen wurden und das sie senkrecht aufgestellt haben. Krishan stützt sich auf seinen Schläger — einen Spaten.

»Eine Sechs ist technisch gesehen ein schwacher Wurf«, sagt er. »Der Schlagmann muss sich darunter positionieren, und er kann nicht richtig einschätzen, wohin der Ball fliegt. Es ist zu einfach für die Feldspieler, die Chance zu nutzen und ihn zu fangen. Der wahre Enthusiast wird einer Vier stets mehr Beifall zollen als einer Sechs. Es ist ein stärker kontrollierter Wurf.«

»Ja, aber es sieht wesentlich kühner aus«, sagt Parvati. Dann fliegen ihre Hände hoch, und sie legt sie auf den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. »Verzeihung, aber ich habe gerade daran gedacht, dass jemand dort unten ... jemand, der sich keiner Schuld bewusst ist und urplötzlich mit Aprikose bekleckert wird ... und er denkt sich: Was ist hier los? Aprikosen fallen vom Himmel. Das sind die Awadhis! Sie bombardieren uns mit Obst!« Sie krümmt sich vor Lachen.

Krishan versteht den Witz nicht, aber er spürt, wie die Ansteckung des Gelächters an seinem Zwerchfell zerrt.

»Noch mal, noch mal!« Parvati nimmt sich eine neue Aprikose aus dem zusammengelegten Tuch, rafft ihren Sari, nimmt einen kurzen Anlauf und schleudert die Frucht mit seitlich ausholendem Arm.

Krishan zieht die Aprikose mit einem Slice herunter und lässt sie hüpfend auf die Entwässerungsschlitze der Brüstung zurollen. Abgeplatztes Fruchtfleisch spritzt ihm ins Gesicht.

»Vier!«, ruft Parvati und drückt vier Finger gegen den Arm.

»Genau genommen ist es ein No-Ball, weil er geworfen und nicht gebowlt wurde.«

»Ich kann diese Überarm-Sache nicht.«

»Das ist gar nicht so schwer.«

Krishan bowlt nacheinander eine Handvoll Aprikosen, mit langsamer Rückhand, beim Abschwung schneller werdend, während er mit dem freien Arm ausbalanciert. Die weiche Frucht springt in den Rhododendronbusch.

»Jetzt versuchen Sie es.«

Er wirft Parvati eine unreife Aprikose zu. Sie fängt sie geschickt auf und entblößt den Ärmel ihres Choli. Krishan beobachtet das Spiel ihrer Muskeln, während sie in ihrer umständlichen, eleganten Kleidung versucht, Anlauf zu nehmen, aufzutreten und zu schwingen. Die Aprikose entgleitet ihrem Griff und fällt hinter ihr zu Boden. Parvati dreht sich herum und bleckt vor Verzweiflung die Zähne.

»Ich schaffe es einfach nicht!«

»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

Die Worte sind ausgesprochen, bevor Krishan begreift, was er gesagt hat. Als Junge hat er während einer Unterrichtsstunde einmal im Schul-Web gelesen, dass jedes Bewusstsein in der Vergangenheitsform geschrieben werden muss. Wenn dem so ist, werden alle Entscheidungen unbewusst und ohne Schuldgefühle getroffen, und das Herz spricht die Wahrheit, wenn auch unartikuliert. Sein Weg ist ihm bereits vorgezeichnet. Er tritt hinter Parvati. Er legt ihr eine Hand auf die Schulter. Mit der anderen nimmt er ihr Handgelenk. Sie schnappt nach Luft, aber ihre Finger lassen die reife Aprikose nicht los.

Krishan bewegt ihren Arm zurück, hinunter, dreht die Handinnenfläche nach oben. Er führt sie vorwärts, weiter vorwärts, drückt die linke Schulter nach unten und bewegt den rechten Arm hinauf. »Jetzt auf dem linken Fuß drehen.« Sie verharren für einen heiklen Moment in ihrem Tanz, dann zieht Krishan ihr Handgelenk zum Zenit. »Jetzt loslassen!«, befiehlt er. Die gespaltene Aprikose fliegt aus ihren Fingern, schlägt auf den Holzbelag und zerplatzt.

»Eine schöne Schrittfolge«, sagt Krishan. »Jetzt versuchen Sie es gegen mich.« Er bezieht Stellung an der Linie, sichtet mit seinem Spatenschläger und gewährt Parvati seinen gesamten sportlichen Respekt. Sie zieht sich hinter den zweiten Kalkstrich zurück, rückt ihre Kleidung zurecht, nimmt Anlauf. Sie stürmt vor und lässt die Frucht los, die zuerst die Spalte zwischen den Bodenbrettern trifft und dann rotierend in schiefem Winkel abprallt. Krishan tritt mit seinem Spaten vor, die Aprikose streift die Kante, springt hinüber und zerplatzt am Wicket. Der labile Holzkasten kippt um. Krishan klemmt sich den Spaten unter den Arm und verbeugt sich.

»Mrs. Nandha, Sie haben mich ganz klar aus dem Spiel geworfen.«

Am nächsten Tag stellt sie Krishan ihre Freunde vor, die Prekashs, die Ranjans, die Kumars und die Maliks. Parvati legt die Magazine wie Dhuris auf dem sonnengewärmten Holzbrettern aus. Die Luft ist an diesem Morgen still und schwer wie gegossenes Metall und hält den Verkehrslärm und den Rauch unter einer Hochdruckschicht am Boden. Parvati und ihr Mann hatten am vergangenen Abend Streit. Sie haben sich auf seine Art gestritten, die darin besteht, dass er Erklärungen abgibt, die er dann mit erhabenem Schweigen verteidigt. Ihre Einwürfe wischt er mit verachtungsvollen Blicken weg. Es war der alte Streit: seine Müdigkeit gegen ihre Langeweile, seine Abgeschiedenheit gegen ihr Bedürfnis nach Gesellschaft, seine zunehmende Kälte gegen ihre tickenden Eierstöcke.

Sie öffnet die Chati-Magazine und klappt die farbigen Mittelseiten aus. Perfekte Brautwerbungen, glänzende Hochzeiten, ausgefaltete Scheidungen. Krishan hockt im Schneidersitz da, die Hände um die Zehen gelegt.

»Das ist Sonia Shetty, sie spielt Ashu Kumar. Sie war mit Lal Darfan verheiratet — im wahren Leben, nicht in Stadt und Land —, aber sie haben sich im vergangenen Frühling scheiden lassen. Das hat mich wirklich überrascht, alle dachten, sie würden auf ewig zusammenbleiben, aber man hat sie immer wieder mit Roni Jhutti gesehen. Sie war bei der Premiere von Prem Das, in einem hübschen Silberkleid, also glaube ich, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis wir ihre Heiratsanzeige lesen. Natürlich hat Lal Darfan alle möglichen Sachen über sie gesagt, dass sie faul und eine Schande ist. Ist es nicht seltsam, wie Schauspieler ganz anders als ihre Rollen in Stadt und Land sein können? Dadurch hat sich meine Meinung über Dr. Prekash ziemlich geändert.«

Krishan blättert die dicken Hochglanzseiten um, die nach Petrochemie duften.

»Aber auch sie sind doch gar nicht real«, sagt er. »Diese Frau war im wirklichen Leben nie verheiratet, sie war gar nicht zusammen mit einem anderen Schauspieler auf irgendeiner Premiere. Sie sind nur Software, die glaubt, eine andere Form von Software zu sein.«

»Das weiß ich natürlich«, sagt Parvati. »Niemand glaubt, dass sie echte Menschen sind. Bei den Prominenten ging es noch nie darum, was real ist. Aber es ist nett, so zu tun, als ob. Es ist, als würde es noch eine zweite Geschichte zu Stadt und Land geben, aber eine, die mehr Ähnlichkeit mit unserem Leben hat.«

Krishan schaukelt langsam vor und zurück.

»Verzeihen Sie bitte, aber vermissen Sie Ihre Familie sehr?«

Parvati blickt von den Glamour-Fotos auf. »Warum fragen Sie das?«

»Mir ist nur aufgefallen, dass Sie Menschen, die nicht real sind, wie Familienmitglieder behandeln. Sie interessieren sich für ihre Beziehungen, für sämtliche Wechselfälle ihres Lebens, falls man es so bezeichnen kann.«

Parvati zieht ihren Dupatta über den Kopf, um sich vor der hochstehenden Sonne zu schützen.

»Ich denke jeden Tag an meine Familie, meine Mutter. Oh, ich möchte nicht zurück, nicht einen einzigen Moment, aber ich dachte, mit so vielen Menschen, wo so viel los ist, wenn ich in der Hauptstadt lebe, stünden mir hundert Welten offen, durch die ich streifen könnte. Aber hier ist es leichter, unsichtbar zu sein, als es das jemals in Kotkhai war. Hier könnte ich komplett verschwinden.«

»Kotkhai, wo liegt das?«, fragt Krishan. Über ihm vermischen und verstricken sich die Kondensstreifen von Flugzeugen, von Aufklärern und Killern, die sich zehn Kilometer über Varanasi gegenseitig jagen.

»Im Distrikt Kishanganj, in Bihar. Sie haben mir soeben etwas Seltsames bewusst gemacht, Mr. Kudrati. Ich maile täglich meiner Mutter, und sie erzählt mir von ihrer Gesundheit und wie es Rohini und Sushil und den Jungen geht, was all die Leute machen, die ich aus Kotkhai kenne, aber sie erzählt mir nie etwas über Kotkhai.«

Also erzählt sie ihm von Kotkhai, weil sie es eigentlich sich selbst erzählt. Sie könnte zu den Ansammlungen von rissigen Lehmziegelhäusern zurückkehren, die sich um die Tanks und Pumpen drängen, sie könnte wieder über die leicht geneigte Hauptstraße mit den Geschäften und Werkstätten der Steinmetze unter den Markisen aus Wellblech spazieren. Dies war die Welt der Männer, die Tee tranken und Radio hörten und sich über Politik stritten. Die Welt der Frauen war draußen auf den Feldern, an den Pumpen und Tanks, denn Wasser war das Element der Frauen — und die Schule, wo die neue Lehrerin Mrs. Jaitly aus der Stadt abendliche Klassen abhielt und Diskussionsgruppen leitete und eine Mikrokredit-Genossenschaft aufbaute, die mit Eiergeld finanziert wurde.

Dann veränderte sich alles. Lastwagen von Ray Power kamen mit Männern, die ein Zeltdorf errichteten, so dass es einen Monat lang zwei Kotkhais gab, während man für sie Windturbinen und Sonnenkollektoren und Biomasse-Generatoren baute und nach und nach jedes Haus, jeden Laden und jeden Tempel mit einem Netz aus durchhängenden Kabeln verband. Sukrit, der Batterieverkäufer, verfluchte sie, weil sie einem guten Mann das Geschäft ruiniert und eine gute Tochter in die Prostitution getrieben hatten.

»Wir sind jetzt Teil der Welt«, hatte Mrs. Jaitly ihren Frauen in der Abendschule erklärt. »Unser Netz aus Kabeln verbindet uns mit einem anderen Netz, das wiederum mit einem größeren Netz verbunden ist, das uns schließlich mit einem weltweiten Netz verbindet.«

Aber das alte Indien lag im Sterben. Nehrus Traum platzte aus den Nähten, unter dem Druck ethnischer und kultureller Aufspaltung und einer Umwelt, die von anderthalb Milliarden Menschen erdrückt wurde. Kotkhai brüstete sich damit, dass seine Rückständigkeit und Isolation es vor Diljit Ranas idiosynkratischer Mixtur aus Hinduismus und Zukunftsvision schützen würde. Aber die Männer redeten im Dhaba, lasen sich die Artikel in den Abendnachrichten vor, in denen es um nationale Armeen und bewaffnete Milizen ging, um Blitzüberfälle, mit denen ein paar bitterarme Dörfer wie Kotkhai für das nationale Territorium erobert und gehalten werden sollten. Jai Bharat! Die jungen Männer gingen zuerst. Parvati hatte gesehen, wie ihr Vater ihnen nachgeschaut hatte, als sie mit dem Landbus abgefahren waren. S. J. Sadurbhai hatte seiner Ehefrau nie verziehen, dass sie ihm nur Töchter geboren hatte. Täglich beneidete er die Mittelklasse, die es sich leisten konnte, das Geschlecht ihrer Kinder auszusuchen. Sie bauten eine starke Nation auf, die nicht so schwach und verweiblicht war wie das alte Indien, das sich zu Tode gezankt hatte. Es war fast wie eine Erleichterung im Hause Sadurbhais, als er bekanntgab, dass er und sein Lehrling Gurpal aus der Autowerkstatt in den Krieg ziehen würden. In einen guten Krieg. In einen männlichen Krieg. Sie fuhren davon, und in ganz Kotkhai gab es nur zwei Gefallene. Diese beiden kamen in einem Laster ums Leben, als sie einen Kaih-Kampfhubschrauber begleiteten, der Freund nicht von Feind unterscheiden konnte. Ein männlicher Krieg, ein männlicher Tod.

Drei Wochen später war eine neue Nation geboren, und der Krieg wurde von Soaps abgelöst. Nur einen Monat nach der Ausrufung des Staates Bharat trafen noch mehr Männer mit noch mehr Kabeln ein, Glasfaserkabeln, die Nachrichten und Gupshups und Soaps übertrugen. Lehrerin Jaitly wetterte gegen Stadt und Land als verdummende Propaganda, die vom Staat verbreitet wurde, um wirkliche politische Debatten zu ersticken, aber Woche um Woche schrumpften ihre Klassen, bis sie schließlich in die Stadt zurückkehrte und vor den Affären der Prekashs und Ranjans kapitulierte. Der neue Versammlungsplatz des Dorfes bildete sich rund um den vom Staat zur Verfügung gestellten Breitbildfernseher. Parvati wuchs im Licht von Stadt und Land zur Frau heran. Daraus lernte sie alle Fähigkeiten, die sie brauchte, um zur perfekten Ehefrau zu werden. Sechs Monate später war Parvati in Varanasi und erhielt dort den letzten gesellschaftlichen Schliff, mit dem sie auf die besten Partys und Durbars gehen konnte. Ein weiteres halbes Jahr später, bei der Hochzeit des Cousins irgendeines Cousins, schnappte sie ein Geflüster von Deepti auf, einer Cousine zweiten Grades, und folgte der Richtung des Geflüsters, quer durch den von Laternen beleuchteten Garten, bis zu jenem dünnen und gelehrtenhaft wirkenden Mann, der versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er sie beobachtete. Sie erinnert sich daran, dass der Baum, unter dem er stand, mit kleinen Vogelkäfigen behangen war, in denen Kerzen brannten. Sie hatte ihn in einem Halo aus Sternen gesehen.

Als weitere sechs Monate vergangen waren, hatten sie alle Vorbereitungen abgeschlossen, die Mitgift war auf dem Grameen-Bankkonto von Parvatis Mutter hinterlegt und ein Taxi bestellt, das Parvatis wenige persönliche Sachen zur neuen Penthouse-Wohnung im Herzen des großen Varanasi bringen sollte. Nur dass diese Sachen wie Waisenkinder in den mit Zedernholz furnierten Schränken aussahen, und es mochte zwar ein Penthouse sein, aber inzwischen zog jeder aus dem schmutzigen, überfüllten, lärmenden Kashi weg und in das sanfte grüne Quartier, und der dünne, gelehrtenhafte, in Sterne gehüllte Mann war einfach nur ein Polizist. Doch auf ein Wort oder einen Wink von ihr waren die Prekashs und Ranjans wieder da, jederzeit abrufbar, und sie waren in Kotkhai genauso glücklich wie in Varanasi, und sie kannten weder Standesdünkel noch Kaste, und ihre Erlebnisse und Skandale waren immer wieder interessant.

Am Donnerstag arbeitet Krishan länger auf dem Dach. Es gibt noch viele Kleinigkeiten, die erledigt werden müssen, die Stromversorgung der Tröpfchenbewässerung, die Verfugung des Pfads aus runden Steinen, die Halterungen der Bambusschirme rund um das Meditationsbecken. Er redet sich ein, dass er nicht eher gehen kann, bis er all diese kleinen Aufgaben abgeschlossen hat, aber in Wirklichkeit ist Krishan neugierig darauf, diesen Mr. Nandha, diesen Krishna Cop wiederzusehen. Er weiß aus den Zeitungen und aus dem Radio, was diese Leute tun, aber er versteht nicht, warum das, was er jagt, eine so gefährliche Bedrohung darstellt. Also arbeitet er, bis die Sonne im Westen hinter den Türmen der Finanzstadt zu einem Globus aus Blut anschwillt. Er zieht Schrauben fest und reinigt Werkzeug, bis er hört, wie unten die Tür geschlossen wird und Parvatis Stimme abwechselnd mit dem tieferen, wortlosen männlichen Brummen erklingt. Das Gespräch wird mit jeder Stufe deutlicher, die er hinabsteigt. Sie bittet ihn, fleht ihn an, verlangt von ihm, dass er mit ihr ausgeht. Sie will irgendwohin gehen, raus aus diesem hoch gelegenen Apartment. Seine Stimme ist müde und tonlos, und Krishan ist klar, das er alles ablehnen wird, was sie vorschlägt. Er stellt seine Tasche ab und wartet an der Tür. Er lauscht gar nicht, redet er sich ein. Die Türen sind dünn, und die Worte haben ihre natürliche Lautstärke. Der Polizist ist jetzt ungeduldig geworden. Seine Stimme wird härter, wie ein Vater, der genug von einem unersättlichen Kind hat. Dann hört Krishan ein wütendes Bellen, einen Stuhl, der scharrend vom Tisch abgerückt wird. Er nimmt seine Tasche und zieht sich über die Haupttreppe zurück. Die Tür fliegt auf, und Mr. Nandha schreitet die Treppe hinunter zur Tür zum Foyer, das Gesicht wie eine Skulptur erstarrt. Er streicht an Krishan vorbei, als wäre er nicht mehr als eine Eidechse an der Wand. Parvati kommt aus der Küche. Sie und Mr. Nandha stehen sich an den entgegengesetzten Enden der Treppe gegenüber. Krishan ist unsichtbar zwischen ihren Stimmen gefangen.

»Dann geh doch!«, ruft sie. »Es ist ja offensichtlich sehr wichtig.«

»Ja«, sagt Mr. Nandha. »Es ist sehr wichtig. Aber ich will dich nicht mit Angelegenheiten der nationalen Sicherheit behelligen.«

Er öffnet die Tür zum Aufzugsvorraum.

»Ich werde allein sein, ich bin ständig allein!« Parvati lehnt sich über das verchromte Geländer, aber die Tür ist geschlossen, und ihr Ehemann ist ohne einen weiteren Blick gegangen. Jetzt sieht sie Krishan.

»Werden Sie auch gehen?«

»Ich sollte.«

»Lassen Sie mich nicht allein. Ich bin hier ständig allein. Ich finde es schrecklich, allein zu sein.«

»Ich glaube, ich sollte wirklich gehen.«

»Ich bin hier ganz allein«, wiederholt Parvati.

»Sie haben Ihr Stadt und Land«, versucht Krishan es.

»Das ist doch nur eine dumme Soap!«, fährt Parvati ihn an. »Ein dummes Fernsehprogramm. Glauben Sie wirklich, ich würde daran glauben? Halten Sie mich für ein Landei, das den Unterschied zwischen einer Fernsehsendung und dem wahren Leben nicht erkennt?« Sie kämpft ihre Wut zurück. Das Training durch die Frauen von Kotkhai macht sich bemerkbar. »Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen. Es war nicht gegen Sie gerichtet. Das alles hätten Sie gar nicht hören sollen.«

»Nein, mir tut es leid«, sagt Krishan. »Er sollte nicht so mit Ihnen sprechen, als wären Sie ein Kind.«

»Er ist mein Ehemann.«

»Verzeihen Sie, meine Bemerkung war unangemessen. Ich sollte gehen. So ist es am besten.«

»Ja«, flüstert Parvati. Sie steht im Gegenlicht der sinkenden Sonne, die durch die Apartmentfenster hereinstrahlt und ihre Haut golden schimmern lässt. »So wäre es das Beste.«

Das Licht hält den Moment fest wie in Bernstein. Krishan wird übel vor Anspannung. Die Zukünfte balancieren auf einer Nadelspitze. Wenn sie herabstürzen, könnten sie ihn erschlagen, sie erschlagen, sie alle hier in diesem Penthouse-Apartment. Er hebt seine Tasche auf. Doch sein innerer Kitzel reißt ihn mit.

»Morgen«, sagt er und spürt das Zittern tief in seiner Stimme. »Morgen findet ein Cricketspiel im Dr.-Sampurnanand-Stadion statt. England gegen Bharat, das dritte Testspiel. Das letzte, glaube ich. Die Engländer werden ihr Team sehr bald zurückrufen. Würden Sie ... könnten Sie ... möchten Sie mitkommen?«

»Mit Ihnen?«

Krishans Herz schlägt wie Donner, dann wird ihm alles klar. »Nein, natürlich nicht, man könnte Sie sehen ...«

»Aber ich würde mir sehr gern ein Testspiel ansehen, und gegen England erst recht. Ich weiß! Die Ladys aus dem Quartier gehen hin. Wir wären in verschiedenen Bereichen des Stadions, verstehen Sie. Aber wir wären zusammen dort, könnten das Erlebnis teilen. Ein virtuelles Date, wie die Amerikaner sagen würden. Ja, ich werde morgen hingehen und den feinen Ladys zeigen, dass ich keine Ignorantin vom Land bin, was die hohe Kunst des Cricket betrifft.«

Die Sonne ist untergegangen, und Parvatis Haut ist nicht mehr golden, der bernsteinfarbene Schein ist erloschen, aber Krishans Herz leuchtet immer noch nach.

»Dann werden wir es so machen«, sagt er. »Morgen beim Testspiel.« Er nimmt seine Tasche und lässt sich vom Lift hinunter in den ewigen Verkehr bringen.

Das Dr.-Sampurnanand-Stadion ist eine weiße Betonmulde, die unter einem beigefarbenen Himmel simmert, eine Schüssel voller Hitze und Erwartung, die eine Schale aus frischem, gewässertem, mikroklimatisch kontrolliertem Grün umringt. Varanasi war nie eine der großen Cricket-Städte Indiens gewesen wie zum Beispiel Kolkata oder Chennai oder Hyderabad oder selbst Patna, ihre Nachbarin und frühere Konkurrentin um den Hauptstadttitel. Das Stadion des Doktors war einst kaum mehr als ein holpriger, versengter Streifen aus verdorrtem Gras gewesen, eine Crease, auf der kein Bowler von internationalem Ruf einen Wurf riskieren würde, den kein Schlagmann abwehren würde. Dann kam Bharat, und dieselbe umgestaltende Hand der Ranas, die aus Sarnath eine Zitadelle der gewagten Architektur und Hochtechnologie machte, verwandelte den Sportplatz der alten Sanskrit University in eine Arena mit hunderttausend Plätzen. Es ist ein klassischer staatlicher weißer Elefant, es war nie mehr als zur Hälfte gefüllt, nicht einmal zum dritten Test von 2038, als Bharat ein angeschlagenes australisches Team fertigmachte und die Serie gewann, zum ersten und einzigen Mal. Heute sperrt die Klimasenke eine Linse aus kühler Luft ein, während es in der Umgebung vierzig Grad heiß ist, aber die weißen Männer auf dem Feld brauchen trotzdem die Platikbeutel mit Wasser, die auf den Pitch geworfen werden. Bharat steht bei 55 für 3, es ist noch eine Stunde bis zur Mittagspause, und hoch über dem Stadion jagen sich gegenseitig die Flugzeuge von Awadh und Bharat. Im Moment ist das Geschehen in der Stratosphäre interessanter als das auf dem Grün, zumindest für die Cricket-Ladys im Schatten der Überdachung von Block 17. Der Block gehört Mrs. Sharmas Ehemann, ein Bauunternehmer aus Sarnath, der es zur Steuervergünstigung gekauft hat, um sich Freunden, Klienten und Geschäftspartnern gegenüber gastfreundlich zeigen zu können. Während der Saison ist es ein beliebter Treffpunkt für die Damen der Gesellschaft. Sie ergeben einen hübschen Farbklecks, wie ein unerwarteter Blumenkasten in der Fassade eines Mietshauses. Sie blinzeln durch ihre westlichen Marken-Sonnenbrillen hinauf zu den verschraubten Spuren der Kondensstreifen. Alles ist anders, seit Bharats mutige Jawans in der Nacht von Allahabab mit ihrem kühnen Vorstoß begannen und den Kunda-Khadar-Damm eroberten. Mrs. Thakkur ist der Meinung, dass sie einen Awadhi-Angriff auskundschaften.

»Gegen Varanasi?« Mrs. Sharma ist empört. Mrs. Chopra glaubt, dass das typisch für Awadh wäre, eine rachsüchtige, feige Nation. Die Jawans konnten Kunda Khadar so leicht besetzen, weil die Truppen von Awadh bereits gegen die Hauptstadt vorrücken. Mrs. Sood fragt sich, ob sie Seuchen ausbreiten. »Ihr wisst schon, wie man Nutzpflanzen besprüht.« Ihr Ehemann ist im mittleren Management einer großen Biotech-Firma, die Flugzeuge mietet, um Monokulturen in der Größe ganzer Distrikte zu bestäuben. Die Ladys hoffen, dass das Gesundheitsministerium früh genug eine Warnung ausgibt, damit sie in ihre Sommerbungalows in den Hügeln umziehen können, bevor der Ansturm erfolgt.

»Ich würde erwarten, dass die wichtigeren Elemente der Gesellschaft zuerst informiert werden«, sagt Mrs. Laxman. Ihr Ehemann ist ein höherer Beamter. Aber Mrs. Chopra hat ein anderes Gerücht gehört, dass der idiotische Eisberg der Banglas nun tatsächlich Wirkung zeigt und dass die Winde sich drehen und schließlich den Monsun bringen werden. Als sie an diesem Vormittag auf der Veranda ihren Tee genommen hat, war sie sich sicher, ganz sicher, eine Schattenline am südöstlichen Horizont gesehen zu haben.

»Nun gut, dann wird niemand irgendwen erobern müssen«, erklärt Mrs. Laxman, aber die Begum Khan, die mit dem Privatsekretär von Sajida Rana verheiratet ist und immer das Neueste aus der Bharat Sabha erfährt, hat dafür nur Verachtung übrig.

»Im Gegenteil, das wird einen Krieg umso wahrscheinlicher machen. Selbst wenn der Monsun morgen käme, würde es eine Woche dauern, bis der Wasserstand des Ganges ansteigt. Glaubt ihr wirklich, die Awadhis würden uns auch nur einen kleinen Teil davon abgeben? Sie sind genauso durstig wie wir. Nein, ich sage euch: Betet, dass es nicht regnet, denn sobald der erste Tropfen fällt, wird Delhi seinen Damm wiederhaben wollen. Das alles hängt natürlich davon ab, ob der alberne Eisberg der Banglas mehr ist als ein Jagannath der Pseudowissenschaft, und diese Ansicht muss man, offen gesagt, verneinen.«

Die Begum Khan hat den Ruf einer harten Frau mit klaren Standpunkten, einer Frau mit zu viel Bildung und zu wenig Manieren. Muslimische Eigenschaften, aber das ist kein Thema, über das man in Gesellschaft spricht. Doch sie ist eine Stimme, der Männer zuhören, in ihren Artikeln und Radiosendungen und Reden. Und es gibt seltsame Gerüchte über ihren stillen, geschäftigen kleinen Ehemann.

»Wie es scheint, ziehen wir so oder so den Kürzeren«, fasst Mrs. Sharma zusammen. Die Damen nicken, und auf dem Cricketfeld erhebt sich Applaus, als Bharat eine Boundary trifft. Cricket ist ein Sport der leisen, fernen Geräusche, gedämpftes Händeklatschen, der Aufprall eines Balls auf einen Schläger, raunende Stimmen. Der Schiedsrichter senkt den Finger, die Anzeigetafel wechselt, die Damen wenden sich wieder dem Himmel zu. Die Konfrontation ist beendet, die Kondensstreifen werden von einem hohen Wind aus dem Südosten verweht, dem Monsunwind. Die schüchterne Mrs. Sood fragt sich, wer gewonnen hat.

»Natürlich unsere Seite«, sagt Mrs. Chopra, aber Parvati erkennt, dass sich die Begum Khan nicht sicher ist. Parvati Nandha schützt sich mit ihrem Schirm vor der Sonne, die unter die Überdachung scheint. Gleichzeitig dient er als Sonnenschutz für ihren Palmer, auf dem Spielstände und Statistiken des Testspiels angezeigt werden, diagonal über den Pitch projiziert, durch die Schiedsrichter und das Outfield und das Infield und den Wicket-Keeper und den Schlagmann und den Bowler hindurch, gesendet von Krishan, drüben am Spielfeldrand an den Verkaufsständen für die Tageskarten.

Der englische Bowler holt aus. TREVELYAN, sagt ihr der Palmer. SOMERSET. PACE. 16. LÄNDERSPIEL FÜR ENGLAND. BOWLTE SECHS WICKETS GEGEN SRI LANKA IM 2. TEST IN COLOMBO IN DER SAISON 2046.

Der Schlagmann tritt vor und hält den Schläger wie ein kleines schmales Schild vor sich. Er schlägt den Ball nieder, und sein Widerpart am anderen Wicket spannt sich an. Nein. Der Ball rollt ein kleines Stück, bevor ein Feldspieler (SQUARE SHORT LEG, sagt der Palmer) ihn auffängt, sich umblickt, niemanden sieht, der ungeschützt ist, und den Ball zum Bowler zurückwirft.

LETZTER BALL DES OVER, palmt Krishan.

»Ihr Square Short Leg hat gut reagiert«, sagt Parvati. Die Ladys halten leicht irritiert in ihrer politischen Debatte inne. Aber schon wieder hat sie das Gefühl, nicht mithalten zu können, wie ein Deep Fine Leg, der mitansehen muss, wie der Ball auf die Boundary zurollt. Sie hat sich so große Mühe gegeben, die Sprache und die Regeln gelernt, und die anderen haben ihr immer noch so viel voraus: der Krieg, die Strategie der Regierung, die Ranas, internationale Machtpolitik. Unbeirrt fährt sie fort: »Husany ist als Nächster dran, er wird Trevelyans Pace entgegennehmen, als würde es ihm auf einem Thali serviert.«

Ihre Worte verpuffen schneller als die Kondensstreifen in der gelben Luft über dem Sampurnanand-Stadion. Parvati schaltet ihren Palmer auf Zoom und scannt die Reihen der Gesichter auf der anderen Seite des Feldes. WO SIND SIE? Eine Message kommt zurück: RECHTS VON DEN SICHTSCHIRMEN. DIE GROSSEN WEISSEN DINGER. Sie schwenkt das Bild über die braunen, schwitzenden Gesichter. Da. Vorsichtig winkend, um die Spieler nicht zu stören. Alles andere wäre kein Cricket.

Sie kann ihn sehen. Er kann sie nicht sehen. Schöne Züge, natürlich blasse Haut, von der Arbeit in der Sonne auf dem Dach der Diljit Rana Apartments gebräunt. Sauber rasiert. Erst als sie Krishan mit der Menge der Schnurrbärte in seiner Nähe vergleicht, wird Parvati bewusst, dass es für sie schon immer etwas sehr Wichtiges bei einem Mann gewesen ist. Auch Nandha ist ein Mann, der sich rasiert. Das Haar ist leicht geölt und löst sich bereits aus der chemischen Befestigung, fällt ihm in die Stirn. Zähne, wenn er begeistert über irgendein männliches Vergnügen lacht, gut und gleichmäßig und präsent. Sein Hemd ist sauber und weiß und frisch, seine Hose, wie sie bemerkt, als er aufsteht, um zwei guten Runs zu applaudieren, ist einfach und gut gebügelt. Parvati verspürt keine Scham, Krishan anonym zu beobachten. Die erste Lektion, die sie von den Frauen Kotkhais gelernt hat, war die, dass Männer am wahrhaftigsten und schönsten sind, wenn sie sich am wenigsten ihrer selbst bewusst sind.

Weidenholz knackt. Die Menge springt auf. Ein Boundary. Die Anzeigetafel schaltet klickend um. Die Begum Khan sagt gerade, dass N. K. Jinvanjee ziemlich von den Ranas bloßgestellt wurde, seit der Überfall der Awadhis ihn und seine alberne Rath Yatra in Richtung Allahabad in die Flucht geschlagen hat — wie Ravana, der einst nach Lanka floh.

HABE SIE ERSPÄHT, flüstert der Palmer. Der Bildschirm zeigt ihr Krishans lächelndes Gesicht. Sie neigt den Sonnenschirm zum unauffälligen Gruß. Hinter ihr tratschen die Damen nun über die Party der Dawars und warum Shaheen Badoor Khan nicht bis zum Unterhaltungsprogramm geblieben ist. Die Begum Khan weist darauf hin, dass er ein vielbeschäftigter Mann ist, und erst recht in dieser Zeit, schließlich ist Bharat in Not. Parvati hört das leichte Stocken ihrer Stimme. Sie wendet sich wieder dem Spiel zu. Nachdem Krishan sie nun in die Geheimnisse des Cricket eingeweiht hat, erkennt sie, wie viel Raffinesse und Geist darin steckt. Ein Testspiel unterscheidet sich gar nicht so sehr von Stadt und Land.

MAZUMDAR WIRD JARDINE SCHLAGEN, textet Krishan. Jardine läuft gelassen von der Linie zurück, mustert den Ball, bearbeitet ihn mit dem Daumen, poliert ihn. Er bringt sich in Stellung. Die Feldspieler richten sich an ihren Positionen mit den seltsamen Bezeichnungen auf. Mazumdar mit zwei Streifen Blendschutzcreme unter den Augen, wie die Streifen eines Tigers, macht sich bereit für den Wurf. Jardine bowlt. Der Ball springt, trifft eine Scharte im Gras, springt hoch, springt super. Alle im Sampurnanand-Stadion können sehen, wie hoch, wie super. Sie können sehen, wie Mazumdar ihn einschätzt, abwägt, seine Position verändert, mit dem Schläger ausholt, ihn von unten trifft, ihn hoch in den gelben Himmel katapultiert. Es ist ein großartiger Schlag, ein wagemutiger Schlag, ein brillanter Schlag. Die Menge tobt. Eine Sechs! Eine Sechs! Es kann nicht anders sein. Alle Götter wollen es so. Feldspieler rennen, die Augen auf den Himmel gerichtet. Niemand wird ihn fangen können. Dieser Ball fliegt immer höher und höher und hinaus.

Nie den Ball aus den Augen verlieren, hatte Krishan zu Parvati gesagt, als es um Spaten und Aprikosen auf dem Dachgarten ging. Parvati Nandha behält den Ball im Auge, als er den höchsten Punkt seiner Flugbahn erreicht und die Schwerkraft die Geschwindigkeit überwindet, als er wieder zur Erde fällt, auf die Menge zu, ein rotes Bindi, ein rotes Auge, eine rote Sonne. Ein Luftangriff. Ein Flugkörper von Krishan, der das Herz sucht. Der Ball fällt, und die Zuschauer springen auf, aber keiner ist vor Parvati auf den Beinen. Sie reckt sich, und der Ball landet in ihrer erhobenen rechten Hand. Der leichte Schmerz veranlasst sie zu einem Schrei, dann brüllt sie: »Jai Bharat!« Sie ist völlig von diesem Moment berauscht. Die Menge jubelt, und sie ist eine Insel im Lärm. »Jai Bharat!« Das Getöse steigert sich. Dann rafft sie ihren Sari, und wie Krishan es ihr gezeigt hat, wirft sie den Ball über die Boundary. Ein englischer Feldspieler fängt ihn auf, grüßt mit einem Nicken und spielt ihn dem Bowler zu. Aber es ist eine Sechs, eine Sechs, eine ruhmreiche Sechs für Mazumdar und Bharat. Ich habe den Ball nicht aus den Augen gelassen. Ich habe ihn sanft aufgefangen, meine Hand mit ihm bewegt. Sie dreht sich um und zeigt den Ladys ihren Stolz über ihre Leistung, aber ihre Gesichter sind vor Verachtung verhärmt.

Parvati hält erst inne, als sie außerhalb des Stadions ist, doch selbst dann hört sie noch das Raunen und das Brennen der Scham auf ihrem Gesicht. Eine Närrin, ein dummes Landei, das sich vom Mob hat mitreißen lassen, das aufgesprungen ist und sich zur Schau gestellt hat, wie jemand ohne jegliche Manieren, ohne Klasse. Sie hat sie bloßgestellt. Seht euch die Lady aus dem Quartier an, die den Ball wie ein Mann wirft! Jai Bharat!

Ihr Palmer hat immer wieder vibriert, eine Nachricht nach der anderen trifft ein. Aber sie will sie nicht sehen. Sie will sich nicht einmal umschauen, weil sie befürchtet, er könnte ihr gefolgt sein. Sie geht über die begrünte Fläche zur Straße. Taxis. Hier muss es jede Menge Taxis geben, gerade an einem Spieltag. Sie steht am rissigen Straßenrand, den Sonnenschirm erhoben, während sich Phatphats und städtische Taxis vorbeischieben. Wohin fahrt ihr zu dieser Tageszeit? Seht ihr nicht, dass eine Lady euch winkt?

Eine Möchtegern-Lady. Die nie eine Lady war und nie eine Lady sein wird.

Ein Moped-Taxi schert aus und arbeitet sich durch den Verkehr zum Straßenrand vor. Der Fahrer ist ein junger Mann mit vorstehenden Zähnen und einem Flaum als Schnurrbart.

»Parvati!« Die Stimme ist genau hinter ihr. Das ist schlimmer als der Tod. Sie steigt auf den Rücksitz, und der Fahrer beschleunigt, an der verblüfft starrenden Gestalt in der gepressten schwarzen Hose und dem streng gebügelten weißen Hemd vorbei. Parvati kehrt zur leeren Wohnung zurück, sie zittert vor Scham und Todessehnsucht, und zu Hause findet sie die Türen offen vor und ihre Mutter, die sich mit ihrem Reisegepäck in der Küche niedergelassen hat.

22 Shaheen Badoor Khan

Der Damm ist eine lange, niedrige Kurve aus aufgeschütteter Erde, gewaltig wie ein Horizont, das eine Ende vom anderen aus unsichtbar, in den sanften Wölbungen des Ganga-Tals verankert. Der Senkrechtstarter der Bharati Air Force nähert sich Kunda Khadar von Osten. Er fliegt tief über die winkenden Jawans hinweg und wendet über dem See. Die Kaih-Kampfhubschrauber scharen sich näher um ihn, als es für Shaheen Badoor Khan angenehm ist. Sie fliegen wie Vögel, mit waghalsigen Manövern, die sich kein menschlicher Pilot trauen würde, weil Instinkte und körperliche Gegebenheiten sie verbieten. Der Senkrechtstarter schwenkt ein, die Kaih-Flieger schießen heran, um ihm Deckung zu geben, und Shaheen Badoor Khan blickt hinunter auf eine weite, seichte Mulde voll algengrünem Wasser, das von schmutzigem, sandigem Schotter begrenzt wird, so weit das Auge reicht, weiß und toxisch wie Salz. Eine schlickige Brühe, von der nicht einmal eine Kuh trinken würde. Auf dem Sitz gegenüber schüttelt Sajida Rana den Kopf und flüstert: »Großartig.«

Hätten sie doch nur zugehört, wären sie nicht überstürzt mit den Soldaten einmarschiert, in den Köpfen nichts anderes als Jai Bharat!, denkt Shaheen Badoor Khan. Das Volk will einen Krieg, hatte Sajida Rana bei der Kabinettssitzung gesagt. Jetzt bekommt das Volk, was es will.

Der Premierministerjet landet auf einem hastig geräumten Feld am Rand eines Dorfes zehn Kilometer von der Bharati-Seite des Damms entfernt. Die Kaih-Flieger kreisen darüber wie Milane über einem Turm des Schweigens. Die Besatzungstruppen haben hier ihr Feldlager errichtet. Mechanische Einheiten graben im Osten, Roboter säen ein Minenfeld. Shaheen Badoor Khan in seinem Stadtanzug blinzelt hinter der Marken-Sonnenbrille im grellen Licht und bemerkt, dass die Dorfbewohner am Rand ihrer konfiszierten und ruinierten Felder stehen. Sajida Rana schreitet bereits in ihrem maßgeschneiderten Kampfanzug auf das Empfangskomitee zu, das aus Offizieren und Wachen und V. S. Chowdhury besteht. Sie will das Nummer-eins-Pin-up an den Wänden der Zimmer in den Baracken sein, Mama Bharat, gleich neben Nina Chandra. Die Offiziere namastieren und eskortieren die Premierministerin und ihren Berater durch den Staub zu den Hummers. Sajida Rana geht mit zielstrebigen Schritten, und Minister Chowdhury trottet neben ihr her, während er versucht, sie zu briefen. Wie ein kleiner kläffender Hund, denkt Shaheen Badoor Khan. Als er in den Schwitzkasten des Passagierabteils des Hummers steigt, blickt er auf den Senkrechtstarter zurück, der auf den Rädern und Triebwerken hockt, als hätte er Angst vor einer Kontamination. Der Pilot ist eine Zecke mit schwarzem Visier, die sich im Kopf der Maschine festgebissen hat. Unter der mit Sensoren gespickten Nase wirkt der lange Lauf eines Automatikgeschützes wie der Rüssel eines Insekts, das anderen Lebewesen den Saft aussaugt. Ein anmutiger Killer.

Shaheen Badoor Khan sieht den Banana Club, das blinde Lächeln der alten Frau, die ihre Gäste anhand der Pheromone identifizierte, die dunklen Nischen, in denen sich die lachenden Stimmen vermischten, die Körper, die sich entspannt aneinanderschmiegten. Das fremdartige, wunderschöne Geschöpf, das aus der Dunkelheit und den Dhol-Beats herangeschwommen kam wie eine Nautch-Tänzerin.

Im Hummer riecht es nach Magic-Pine-Raumspray. Shaheen Badoor Khan steigt aus und blinzelt im Licht, das von der Betondecke der Straße widerstrahlt. Sie befinden sich auf der Dammkrone. In der Luft hängt der üble Geruch von toter Erde und abgestandenem Wasser. Selbst Magic Pine wäre ihm jetzt lieber. Ein dünner Pissstrahl aus gelbem Wasser rieselt durch die Überlaufrinne. Das ist Mutter Ganga.

Jawans sammeln sich hastig zu einer Ehrengarde. Shaheen Badoor Khan bemerkt die SAM-Roboter und die nervösen Blicke, die die Unteroffiziere wechseln. Noch vor zehn Stunden war dies die Republik Awadh, und die Soldaten trugen dreifache Yin-Yangs in Grün-Weiß-Orange auf den ansonsten identischen Chamäleon-Tarnanzügen. Sie befinden sich in Mörserreichweite der Geisterdörfer, die durch den sinkenden Wasserstand in ihrer architektonischen Nacktheit entblößt sind. Sogar ein einzelner Heckenschütze würde genügen. Sajida Rana schreitet weiter, ihre handgefertigten Stiefel klacken auf dem Straßenbelag. Die Soldaten stehen aufgereiht hinter dem Podest. Jemand testet die Lautsprecher mit einer Reihe von kreischenden Rückkopplungen. Die Kameraleute der Nachrichtensender erspähen die Premierministerin im Kampfanzug und stürmen zu ihr. Die Militärpolizei zückt Lathis und drängt sie zurück. Shaheen Badoor Khan wartet am Fuß der Treppe; die Premierministerin, der Verteidigungsminister und der Divisionskommandeur besteigen das Podest. Er weiß, was Sajida Rana sagen wird. Er selbst hat der Rede den letzten Schliff gegeben, während er am Morgen mit der Limousine zum Militärflugplatz gefahren ist. Das allgemeine Raunen der Männer, die sich unter der heißen Sonne versammelt haben, verebbt, als sie sehen, wie ihr Oberbefehlshaber ans Mikrofon tritt. Shaheen Badoor Khan nickt in stiller Zufriedenheit, wie sie für Stille sorgt.

»Jai Bharat!«

Etwas, das nicht im Drehbuch steht. Shaheen Badoor Khan erstarrt für einen Moment. Auch den Männern ist das klar. Das Schweigen hält an, dann bricht der Jubel aus. Zweitausend Stimmen antworten donnernd. Jai Bharat! Sajida Rana wiederholt Ruf und Gegenruf dreimal. Dann trägt sie die Botschaft ihrer Rede vor. Sie ist nicht für die Soldaten bestimmt, die entspannt auf der Dammstraße stehen oder sich in den Truppentransportern auf ihre Waffen stützen. Sie spricht für die Kameras und Mikros und die Nachrichtenredakteure. Haben uns um eine friedliche Lösung bemüht. Bharat keine Nation, die sich einen Krieg wünscht. Tigerin geweckt. Krallen stutzen. Hoffnung auf eine diplomatische Lösung. Weiterhin die Möglichkeit eines ehrenhaften Friedens auf dem Verhandlungsweg. Großzügiges Angebot an unsere Feinde. Wasser hätte immer ein gemeinsames Gut sein sollen. Nicht nur für eine Nation. Ganga unsere gemeinsame Lebensader.

Die Soldaten rühren sich nicht. Sie scharren nicht mit den Füßen. Sie stehen in voller Kampfmontur in der drückenden Hitze, hören die Worte und jubeln, wo Jubel angemessen ist, und verstummen, wenn Sajida Rana sie mit Augen und Händen zum Schweigen bringt. Den Knüller hebt sie sich bis zuletzt auf: »Und schließlich überbringe ich Ihnen noch die Nachricht von einem weiteren Triumph. Meine Herren, Bharat dreihundertsiebenundachtzig für sieben!« Die Männer toben und stimmen einen Sprechgesang an. Jai Bharat! Jai Bharat! Sajida Rana nimmt den Applaus entgegen und marschiert davon, während er noch in der Luft hängt.

»Nicht schlecht, was, Khan?«

»Mazumdar hat soeben einhundertsiebzehn gemacht«, sagt Shaheen Badoor Khan, als er sich seiner Vorgesetzten anschließt. Der Hummer-Konvoi bringt sie schnell zur Kommandozentrale zurück. Diese Sache war von Anfang an als Rein-und-Raus-Aktion geplant. Der Generalstab hat dringend davon abgeraten, aber Sajida Rana hat sich nicht umstimmen lassen. Das Versöhnungsangebot muss aus einer Position der Macht heraus erfolgen, ohne dass sich die Ranas erniedrigen. Die Analysten haben die Satellitendaten und die Informationen der Cyberkrieg-Spionage studiert und eine realistische Einschätzung von einer Stunde Sicherheit eingeräumt, bevor die Awadhis einen Vergeltungsschlag in die Wege leiten können. Die Hummer und Truppentransporter rasen über die holprigen Schotterstraßen zurück. Ihre Staubwolken sind bestimmt aus dem Orbit erkennbar. Die Kaih-Flieger folgen ihnen wie ein Rudel Raubtiere. Wachposten blicken nervös in den Himmel, während sie Premierministerin Rana und ihren Hauptberater eilig zum Senkrechtstarter bringen, der bereits warmläuft. Die Luke wird versiegelt, Shaheen Badoor Khan schnallt sich an, und das Flugzeug springt in die Luft, lässt seinen Magen unten auf den plattgedrückten Pflanzen der Ackerbauflächen zurück. Der Pilot steigt mit Vollschub auf, kurz davor, die Maschine zu überziehen. Shaheen Badoor Khan ist nicht zum Fliegen geboren. Er spürt jedes Schlingern und Absacken wie einen kleinen Tod. Seine weißen Fäuste umklammern die Armlehnen. Dann neigt sich der Senkrechtstarter in den Horizontalflug.

»Das war ein bisschen dramatisch, nicht wahr?«, sagt Sajida Rana und löst ihren Sitzgurt. »Die verdammte Armee vergisst niemals, wer hier die Frau ist. Jai Bharat! Trotzdem ist es gut gelaufen. Ich glaube, das Cricket-Ergebnis hat einen netten Schlusspunkt gesetzt.«

»Wenn Sie es sagen, Ma’am.«

»Ich sage es.« Sajida Rana windet sich in ihrem engen Kampfanzug. »Verdammt unbequem, diese Sachen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie jemand es schaffen soll, darin ernsthaft zu kämpfen. Ihre Analyse?«

»Ich will ganz offen sein.«

»Sind Sie jemals anders?«

»Ich halte die Besetzung des Damms für vermessen. Der Plan sah vor ...«

»Der Plan war so weit ganz gut, aber er hatte keinen Mumm.«

»Premierminsterin, mit allem Respekt ...«

»Es geht um Diplomatie, ich weiß. Aber scheiß drauf, ich werde nicht zulassen, dass N. K. Jivanjee den Hindu-Märtyrer spielt. Verdammt, wir sind Ranas!« Sie wartet, bis ihre theatralische Einlage verklungen ist, und fragt dann: »Lässt sich unsere Position noch retten?«

»Schon, aber der internationale Druck wird eine wesentliche Rolle spielen, wenn die Aktion über die Nachrichtenkanäle verbreitet wird. Das könnte den Briten einen Vorwand geben, ihren Ruf nach einer internationalen Konferenz zu erneuern.«

»Hoffentlich nicht in London. Dort kann man nicht mehr anständig shoppen gehen. Aber die Amerikaner ...«

»Wir haben den gleichen Gedanken, Premierministerin. Die ›besonderen Beziehungen‹ ...«

»Sind nicht annähernd so wechselseitig, wie die Briten gern glauben. Ich werde Ihnen sagen, was mir an diesem Schlamassel Spaß macht, Khan. Wir haben es diesem Chuutya Jivanjee so richtig gezeigt. Er hat sich für unglaublich schlau gehalten, als er die Fotos von seinem Heiligen Einkaufswagen hat durchsickern lassen. Aber nun ist er derjenige, der mit eingeklemmtem Schwanz nach Hause rennt.«

»Trotzdem, Premierministerin, Sie wissen, dass er nicht aus der Welt ist. Ich glaube, wir werden wieder von Mr. Jivanjee hören, wenn wir unsere Friedenskonferenz anberaumen.«

»Falls wir das tun, Khan.«

Shaheen Badoor Khan neigt zustimmend den Kopf. Aber er weiß, dass es für solche Dinge keine wissenschaftliche Basis gibt. Er, seine Regierung und seine Nation haben bis jetzt einfach nur Glück gehabt.

Sajida Rana zupft an einer schlecht verarbeiteten Naht ihrer Kampfhose, sackt auf ihrem Sitz zusammen und fragt: »Gibt es schon etwas über mich?«

Shaheen Badoor Khan klappt seinen Palmer auf und klickt sich durch die Nachrichtenkanäle und Agenturen. Phantomseiten erscheinen in seinem Gesichtsfeld. Schlagzeilen umschwirren ihn in sanften, farbigen Explosionen.

»CNN, BBC und News International bringen es als Sondermeldung. Reuters schickt es soeben an die US-Presse.«

»Wie ist der allgemeine Tenor des Großen Satans?«

Shaheen Badoor Khan überfliegt die Leitartikel von Boston bis San Diego. »Es reicht von leiser Skepsis bis zu kategorischer Ablehnung. Die Konservativen verlangen unseren Rückzug, dem vielleicht Verhandlungen folgen sollten.«

Sajida Rana zerrt an ihrer Unterlippe, eine private Geste, die nur engsten Vertrauten bekannt ist, genauso wie ihr legendäres schmutziges Mundwerk.

»Wenigstens schicken sie keine Marines. Aber es geht ja auch nur um Wasser und nicht um Öl. Trotzdem befinden wir uns nicht mit Washington im Krieg. Irgendwas aus Delhi?«

»Nichts auf den Online-Kanälen.«

Premierministerin Rana zieht ihre Lippe ein Stück herunter. »Das gefällt mir nicht. Sie haben schon ganz andere Schlagzeilen gebracht.«

»Unsere Satellitendaten zeigen, dass die Awadhi-Truppen ihre Stellung halten.«

Sajida Rana lässt die Lippe los und richtet sich auf dem Sitz auf. »Ich scheiß auf sie. Heute ist ein großer Tag! Wir sollten jubeln! Shaheen.« Sein Vorname. »Mal ganz im Vertrauen: Was halten Sie von Chowdhury?«

»Minister Chowdhury ist ein sehr fähiges Mitglied des Abgeordnetenhauses ...«

»Minister Chowdhury ist ein Hijra. Shaheen, es gibt da eine Idee, die ich seit einiger Zeit in meinem Hinterkopf wälze. Deedarganj muss irgendwann nächstes Jahr zur Nachwahl antreten. Ajuja spielt den Optimisten, aber er hat diesen Tumor, der ihn langsam zerfrisst, der arme Kerl. Es ist ein guter, sicherer Wahlkreis, aber sie würden James F. McAuley wählen, verdammt, wenn er nur ein bisschen mit einem Räucherstäbchen vor Ganesha herumwedelt.«

»Mit allem Respekt, Premierministerin, aber Präsident McAuley ist kein Muslim.«

»Scheiß drauf, Khan, Sie sind kein Bin Laden. Was sind Sie? Sufi oder so etwas?«

»Ich habe einen sufistischen Hintergrund, das ist richtig.«

»Genau darauf will ich hinaus. Um ganz offen zu sein: Sie haben diesmal eine gute Chukka-Partie gespielt, und ich brauche Ihre Fähigkeiten in der Öffentlichkeit. Sie müssten vorher noch Ihre Lehrlingszeit auf den Hinterbänken beenden, aber ich würde Ihren Weg ins Ministeramt auf jeden Fall beschleunigen.«

»Premierministerin, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«

»Sie könnten es vielleicht mit einem Dankeschön probieren, Sie verdammter knauseriger Sufi. Das bleibt natürlich streng geheim.«

»Natürlich, Premierministerin.«

Er wehrt ab, verbeugt sich, willigt ein wie ein bloßer Beamter, aber Shaheen Badoor Khans Herz macht einen Sprung. Es gab eine Zeit in Harvard nach den Freshman-Zeugnissen, als sich die Spannung entlud und sich der Sommer öffnete und weitete und er sowohl die Tugenden der Wirtschaftsschule als auch die Disziplin seiner islamischen Schule vergaß. Unter der ausführlichen Anleitung des Inhabers eines Spirituosengeschäfts hatte er sich eine Flasche importierten Speyside Single Malt Whisky gekauft und in den staubigen Lichtstrahlen, die durch sein Zimmerfenster fielen, auf seinen Erfolg angestoßen. Zwischen dem Knirschen des Korkens im Flaschenhals und dem trockenen Würgen im rötlichen Zwielicht hatte er eine ferne Phase erlebt, in der er sich in Freude und Glanz und Selbstvertrauen eingebettet gefühlt hatte, in der die Welt ohne Grenzen oder Einschränkungen ihm gehörte. Er war zu seinem Fenster gegangen, mit der Flasche in der Hand, und hatte den ganzen Planeten angebrüllt. Der Kater, das schlechte religiöse Gewissen waren diesen Moment der explosiv zündenden Epiphanie wert gewesen. Nun sitzt er angeschnallt neben seiner Premierministerin in einem Senkrechtstarter des Militärs und erinnert sich wieder daran. Minister des Kabinetts. Er. Er versucht sich selbst zu sehen, sich auf einem anderen Platz am Tisch im wunderschön leuchtenden Beratungszimmer vorzustellen, wie er sich unter der Kuppel der Sabha erhebt. Der Ehrenwerte Abgeordnete, der den Platz von Deedarganj übernimmt. Und es wird richtig sein. Es ist seine angemessene Belohnung, nicht für seine fleißigen, unermüdlichen Dienste, sondern für seine Befähigung. Er hat es verdient. Er wird die Belohnung bekommen.

»Wie lange haben wir schon zusammengearbeitet?«, fragt Sajida Rana.

»Sieben Jahre«, antwortet Shaheen Badoor Khan. Und drei Monate und zweiundzwanzig Tage, denkt er.

Sajida Rana nickt. Dann macht sie wieder das mit der Lippe. »Shaheen.«

»Ja, Premierministerin?«

»Ist alles in Ordnung?«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie meinen, Premierministerin.«

»Es ist nur ... Sie wirken in letzter Zeit ein wenig abgelenkt. Ich habe ein Gerücht gehört.«

Shaheen Badoor Khan spürt, wie sein Herz stehen bleibt, wie ihm der Atem stockt, sein Gehirn gefriert. Tot. Er ist tot. Nein. Sie hätte ihm nicht alles angeboten, was sie ihm an diesem hohen, abgeschiedenen Ort geben kann, nur um es ihm wegen einer belanglosen Verrücktheit wieder zu entreißen. Aber es ist keine Verrücktheit, Shaheen Badoor Khan. Es ist das, was du bist. Zu denken, du könntest es leugnen und verbergen, ist verrückt. Er befeuchtet die Lippen mit der Zunge. Es darf kein Stocken und kein Versagen in den Worten geben, die er zu sagen hat.

»Regierungskreise sind das Reich der Gerüchte, Premierministerin.«

»Ich habe gehört, dass Sie eine Feier im Quartier vorzeitig verlassen haben.«

»Ich war müde, Premierministerin. Es war am Tag ...« Er ist noch nicht in Sicherheit.

»... der Besprechung, ich weiß. Wie ich hörte, was zweifellos krass übertrieben ist, hat es eine gewisse ... Spannung zwischen Ihnen und Begum Bilquis gegeben. Ich weiß, dass es eine verdammte Frechheit ist, so etwas zu fragen, aber ist bei Ihnen zu Hause alles in Ordnung?«

Sag es ihr, schreit Shaheen Badoor Khan sich selbst an. Besser, sie erfährt es jetzt als von irgendeiner Partei-Petze oder, wovor uns Gott bewahre, von N. K. Jivanjee. Falls sie es nicht längst weiß, falls dies nicht nur ein Test seiner Aufrichtigkeit und Loyalität ist. Sag ihr, wohin du gegangen bist, wen du getroffen hast, was du beinahe mit ihm gemacht hättest. Mit ys. Sag es ihr. Leg es in die Hände der Mutter der Nation, lass sie damit umgehen, es von allen Seiten betrachten und für die Kameras zurechtstutzen, all die Dinge, die er schon so lange mit so großer Loyalität für Sajida Rana getan hat.

Er kann es nicht. Seine Feinde innerhalb und außerhalb der Partei hassen ihn schon genug dafür, dass er Muslim ist. Als Perverser, als Frauenverlasser, als Liebhaber von Dingen, die für die meisten von ihnen nicht einmal menschlich sind, wäre seine Karriere vorbei. Die Rana-Regierung würde es nicht überleben. In erster Linie ist Shaheen Badoor Khan ein Staatsdiener. Die Verwaltung muss intakt bleiben.

»Darf ich offen sprechen, Premierministerin?«

Sajida Rana beugt sich über den schmalen Mittelgang. »Das ist schon das zweite Mal während dieser Unterhaltung, Shaheen.«

»Meine Frau ... Bilquis ... nun ja, in letzter Zeit hat es sich zwischen uns etwas abgekühlt. Als die Jungen an die Universität gegangen sind ... abgesehen von ihnen hatten wir schon vorher nicht mehr viel, worüber wir geredet haben. Wir beide führen ein eigenständiges Leben — Bilquis hat ihre Kolumne und das Frauenforum. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass wir uns dadurch nicht von unseren beruflichen Pflichten abbringen lassen. Wir werden Sie nicht noch einmal auf solche Weise in Verlegenheit bringen.«

»Es ist keine Verlegenheit«, murmelt Sajida Rana. Dann macht der Militärpilot eine knappe Ansage, dass sie in zehn Minuten auf der Nabha Sparasham Air Force Base landen werden, und Shaheen Badoor Khan nutzt die Ablenkung, um aus dem Fenster auf den großen braunen Fleck der monströsen Bastis von Varanasi zu blicken. Er gestattet sich das leichte Zucken eines Lächelns. In Sicherheit. Sie weiß es nicht. Er hat es hingekriegt. Aber jetzt gibt es ein paar Dinge, die er erledigen muss. Und dort, am südlichsten Rand des Horizonts, ist das etwa eine dunkle Wolkenlinie?

Erst nach dem Tod seines Vaters hat Shaheen Badoor Khan verstanden, wie sehr er das Haus am Fluss verabscheut hat. Nicht dass das Haveli hässlich oder erdrückend wäre — ganz im Gegenteil. Aber die luftigen Säulengänge und Veranden und die geräumigen Zimmer mit den hohen Decken sind mit Geschichte, Tradition und Pflicht getränkt. Shaheen Badoor Khan kann nicht die Treppe hinaufsteigen und unter der großen Messinglaterne unter dem Vordach hindurchgehen und das Foyer mit den doppelten Wendeltreppen betreten, eine für die Männer und eine für die Frauen, ohne sich daran zu erinnern, wie er hier als kleiner Junge gelebt und sich hinter einer Säule versteckt hat, als sein Großvater Sayid Raiz Khan hinausgetragen wurde, zum Verbrennungsplatz am alten Jagdhaus im Sumpfland, und dann noch einmal, als er seinem Vater gefolgt war, der die gleiche Reise durch die Teaktüren antrat. Er selbst wird die gleiche Reise antreten, durch die schönen Türen aus Teakholz nach draußen. Seine eigenen Söhne und Enkelkinder werden ihn begleiten. Im Haveli wimmelt es von Leben. Keine Ritze ist vor Verwandten und Freunden und Dienern sicher. Jedes Wort, jede Tat, jeder Vorsatz ist sichtbar und transparent. Die Vorstellung, allein zu wohnen, ist etwas, woran er sich mit innigem Vergnügen aus Harvard erinnert. Die Vorstellung von Privatsphäre, von Zurückgezogenheit ist etwas, das er nur aus New England kennt, etwas, das er beiseitegelegt hat, um es ein andermal zu verwenden.

Er schreitet durch das Hochparterre zur Frauenhälfte des Hauses. Wie immer zögert er vor der Tür zur Zenana. Die Purdah wurde zu Zeiten seines Großvaters aus dem Haveli Khan verbannt, aber Shaheen Badoor Khan hat stets eine gewisse Scham vor den Räumlichkeiten der Frauen verspürt. Hier sind Dinge, Geschichten in den Wänden und Lebensweisen, die nichts mit ihm zu tun haben. Ein geteiltes Haus, wie die Hälften des Gehirns.

»Bilquis.« Seine Frau hat sich ihr Arbeitszimmer auf dem abgeschirmten Balkon mit Blick auf die wimmelnden, lärmenden Ghats und den stillen Fluss eingerichtet. Hier schreibt sie ihre Artikel und Radioansprachen und Essays. Im Vogelgarten darunter empfängt sie ihre klugen, entrechteten Freundinnen, sie trinken Kaffee und schmieden Pläne, die kluge, entrechtete Frauen eben schmieden.

Wir sind eine deformierte Gesellschaft, hatte der Staatsdiener und Musikliebhaber gesagt, als Mumtaz Haq auf die Bühne getreten war.

»Bilquis.«

Schritte. Die Tür geht auf, das Gesicht einer Bediensteten — Shaheen Badoor Khan kann sich nicht erinnern, welche es ist — lugt heraus.

»Die Begum ist nicht hier, Sahb.«

Shaheen Badoor Khan sackt am stabilen Türrahmen zusammen. Das einzige Mal, dass er ein paar aufgeschnappte Sätze zwischen zwei geschäftigen Leben zu schätzen gewusst hätte. Ein Wort. Eine Berührung. Denn er ist müde. Ermüdet von der Unbarmherzigkeit. Ermüdet von der erschreckenden Wahrheit, dass er die Ereignisse, die er in Bewegung gesetzt hat, nicht mehr aufhalten könnte. Selbst wenn er sich auf den Boden setzen und nichts tun würde wie der Sadhu an einer Straßenkreuzung, würden sie sich hinter ihm auftürmen, sich gegenseitig verstärken und zu einer Flutwelle anschwellen. Er muss ständig rennen, um ihr ein paar Schritte voraus zu sein. Er ist ermüdet von der Maske, dem Gesicht, der Lüge. Sag es ihr. Sie wird wissen, was zu tun ist.

»Sie ist immer unterwegs, ja.«

»Mr. Khan?«

»Schon gut.«

Die Tür schließt sich vor dem Gesichtsausschnitt. Zum ersten Mal, seit er sich erinnern kann, fühlt sich Shaheen Badoor Khan in seinem eigenen Haus verloren. Er erkennt die Türen, die Wände, die Gänge nicht wieder. Jetzt ist er in einem hellen Raum und blickt auf den Frauengarten hinaus. Ein weißer Raum, in dem die Moskitonetze zu großen weichen Knoten verschnürt sind, ein Raum mit schrägen Lichtbalken und Staub und einem Geruch, der ihn zu sich selbst zurückfinden lässt. Gerüche sind der Schlüssel zu Erinnerungen. Er kennt diesen Raum, er hat diesen Raum geliebt. Es ist das alte Kinderzimmer, sein Jungenzimmer. Sein Zimmer, hoch über dem Wasser. Hier wachte er jeden Morgen auf, wenn die Brahmanen den großen Fluss grüßten. Das Zimmer ist sauber und blass und leer. Er muss angeordnet haben, dass es ausgeräumt wird, nachdem die Jungen auf die Universität gegangen sind, aber er kann sich nicht daran erinnern. Ayal Gul starb vor zehn Jahren, aber in den Holzbrettern, den Vorhängen kann er immer noch das Parfüm ihrer Brust wahrnehmen, die Würze ihrer Kleidung, obwohl Shaheen Badoor Khan erschrocken bewusst wird, dass es Jahrzehnte her ist, seit er diesen Raum das letzte Mal betreten hat. Er blickt blinzelnd ins Licht.

Gott ist das Licht des Himmels und der Erde ... Licht über Licht. Gott leitet zu seinem Lichte, wen er will, und Gott prägt die Gleichnisse der Menschen, denn Gott ist sich jedes Dings bewusst. Die Sure steigt kräuselnd wie Rauch in Shaheen Badoor Khans Erinnerung auf.

Nur weil er zum ersten Mal seit sehr langer Zeit das Gefühl hat, von niemandem beobachtet zu werden, kann Shaheen Badoor Khan tun, was er jetzt tut. Er streckt die Arme seitlich aus und fängt an, sich zu drehen, zuerst langsam, während die Füße nach Gleichgewicht suchen. Der Sufi-Tanz, in dem sich die Derwische drehen und das innere Gottesbewusstsein erlangen. Der Dhikr, der heilige Name Gottes, bildet sich auf seiner Zunge. Hell blitzt eine Kindheitserinnerung auf, wie sein Großvater sich in perfekter Haltung auf dem geometrisch gekachelten Boden des Iwan dreht, während die Qawwals spielen. Ein Mevlevi ist aus Ankara gekommen, um indischen Männern die Sema beizubringen, den großen Tanz Gottes.

Rotiere mich aus dieser Welt, Gott-in-mir.

Die weichen Matten verschieben sich unter Shaheen Badoor Khans Füßen. Er ist hochgradig konzentriert, er denkt nur an die Bewegung der Füße, die Drehung der Hände, hinunter, um zu segnen, hinauf, um zu empfangen. Er wirbelt zurück, immer tiefer in seine Erinnerungen hinein.

Dieser verrückte Sommer in New England, als sich ein Hochdruckgebiet über dem puritanischen Cambridge festgesetzt hatte und die Temperaturen stiegen und alle ihre Türen und Fenster öffneten und auf die Straßen und in die Parks gingen oder einfach nur in ihrem Hauseingang oder auf Balkonen saßen, als Shaheen Badoor Khan im zweiten Studienjahr vergaß, wie es war, kalt und zurückhaltend zu sein. Er ging mit Freunden aus, kehrte sehr spät von einem Musikfestival in Boston zurück. Dann kam es aus der sanften, samtigen, duftenden Nacht, und Shaheen Badoor Khan war wie paralysiert, fixiert wie ein Polarstern, wie es ein Vierteljahrhundert später auf dem Flughafen von Dhaka erneut geschehen sollte, als er die Vision einer überirdischen, fremdartigen, unerreichbaren Schönheit hatte. Das Neut runzelte die Stirn über den Ansturm lärmender Studenten, als ys versuchte, ihm auszuweichen. Es war das Erste, das Shaheen Badoor Khan jemals gesehen hatte. Er hatte darüber gelesen, Bilder gesehen, war fasziniert gewesen, gequält gewesen, von diesem Fleisch gewordenen Kindheitstraum gepeinigt worden. Diesmal war es eine leibhaftige Inkarnation, real, kein legendäres Untier. Auf jenem Harvard-Rasen hatte er sich verliebt. Er hatte sich nie wieder entliebt. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er diesen Dorn im Herzen mit sich herumgetragen.

Füße und Hände bewegen sich, Lippen formen das Mantra des Dhikr, alles dreht sich.

Die Verpackung war vollkommen, einfach, elegant. Papier mit rot-schwarz-weißem Koi-Muster, ein einziger Streifen aus Zellophanbast in Gold. Minimal. Inder hätten es aufgehübscht, bunt gemacht, mit Herzen und Schleifen und Ganeshas, es hätte Melodien gespielt und segnendes Konfetti versprüht, wenn man es öffnete. Als Shaheen Badoor Khan im Alter von dreizehn Jahren das Paket aus Japan sah, erkannte er, dass seine Wesensart niemals wirklich indisch sein würde. Sein Vater hatte auf seiner Geschäftsreise nach Tokyo Geschenke für die ganze Familie gekauft. Für seine jüngeren Brüder Karpfendrachen zum Boy’s Day, die von da an voller Stolz von den Balkonen des Haveli fliegen gelassen wurden. Für den ältesten Sohn Nihon in einer Box. Shaheen hatte auf die Quetschtuben mit Action Drink gestarrt, auf die Boat-in-the-Mist-Schokolade, die Sammelkarten und das Waving-Kitty-Robopet, die Tücher mit den Stimmungsfarben und die Disks mit Nippon-Pop. Was sein Leben grundlegend verändert hatte, wie ein Motorrad, das sich in einen rächenden Kampfroboter verwandelte, waren die Mangas. Anfangs hatte ihm die unbeschwerte Mischung aus Gewalt, Sex und schulkindlicher Verunsicherung gar nicht gefallen. Billig und fremdartig. Aber was ihn verführt hatte, waren die Figuren, die langgestreckten geschlechtslosen Teenager mit den Rehaugen und Stupsnasen und ihren stets offenen Mündern. Sie retteten die Welt, hatten Probleme mit ihren Eltern, trugen fabelhafte Kostüme, hatten phantastische Frisuren und Schuhe, machten sich Sorgen um ihre Boygirl-Freunde, während die vernichtenden Engelroboter über Tokyo herfielen, aber die meiste Zeit waren sie eigenständig, cool, großartig, langbeinig und androgyn. Er sehnte sich so sehr nach ihrem aufregenden, leidenschaftlichen Leben, dass er geweint hatte. Er beneidete sie um ihre Schönheit und ihre sexy Sexlosigkeit und dass jeder sie kannte und liebte und bewunderte. Er wollte wie sie sein, im Leben und im Tod. In seinem Bett in der lauten Dunkelheit Varanasis dachte sich Shaheen Badoor Khan Fortsetzungsgeschichten für sie aus, was geschah, nachdem sie die Engel besiegt hatten, die durch den Riss zwischen den Himmeln in die Welt eingedrungen waren, wie sie sich in ihrer mit Pelz ausgekleideten Kriegskuppel liebten und miteinander spielten. Dann zogen sie ihn hinunter in ihr mit rosafarbenem Pelz ausgekleidetes Kriegsnest, wo sie sich aneinanderrieben, unbestimmt, aber leidenschaftlich, für immer und ewig. In jenen Nächten, wenn er zum Mage-Rider eines Grassen Elementoi gemacht wurde, wachte Shaheen Badoor Khan am erstickenden Morgen mit verklebter Pyjamahose auf.

Noch Jahre später nahm er heimlich diese vergilbten, aufgeweichten und zerfransten Comics aus der Schuhschachtel. Ewig jung, ewig schlank, ewig schön und abenteuerlustig standen die Boygirl-Piloten des Grassen Elementoi mit verschränkten Armen da und forderten ihn mit ihren Wangenknochen und Tieraugen und zum Küssen einladenden Schmollmündern heraus.

Shaheen Badoor Khan wirbelt am Rand der Transzendenz im Kreis und spürt, wie ihm Tränen in den Augen brennen. Die Sema schleudert ihn zurück zum Strand.

Seine Mutter hatte sich über die Feuchtigkeit und den Sozialismus und die Fischer beklagt, die vor dem Bungalow auf den Sand schissen. Sein Vater war nervös und muffelig und hatte Heimweh nach dem trockenen Norden. Er nörgelte an allem herum, in zerknitterter Hose und kurzärmligem Popelinhemd und offenen Sandalen in der erdrückenden Hitze Keralas, und es war der schlimmste Urlaub gewesen, an den Shaheen Badoor Khan sich erinnern konnte, weil er sich so sehr darauf gefreut hatte. Der Süden der Süden der Süden!

Am Abend kamen die Fischerkinder vom Meer herein. Von der Sonne geschwärzt, nackt, lächelnd. Sie hatten gespielt und geschrien und herumgeplanscht, während Shaheen Badoor Khan und seine Brüder auf ihrer Veranda saßen und Limonade tranken und ihrer Mutter zuhörten, die erzählte, wie schrecklich diese furchtbaren Kinder waren. Shaheen Badoor Khan fand sie gar nicht furchtbar. Sie hatten ein kleines Auslegerboot. Sie spielten den ganzen Tag lang mit diesem Boot, darin und drum herum. Shaheen Badoor Khan stellte sich vor, wie sie von einem Abenteuer auf dem weiten Meer zurückgekehrt waren, etwas mit Piraterie, Rettungsaktionen und Erkundungen. Wenn sie ihren Ausleger auf den Sand zogen und auf dem Strand Cricket spielten, glaubte er, vor Sehnsucht sterben zu müssen. Er wollte mit diesen schwarzen, grinsenden keralesischen Boygirls davonsegeln, er wollte nackt ins blutwarme Wasser gleiten und es wie eine Haut tragen. Er wollte rennen und schreien und nackig und unbefangen und frei sein.

Im Nachbarbungalow wohnte eine Beamtenfamilie aus Bangalore, die in jeder Hinsicht von zu geringer Stellung war, aber Shaheen Badoor sah, wie der Sohn und die Tochter auf dem Ausleger spielten, wie die beiden ins klare Wasser sprangen und prustend wieder auftauchten, mit Tropfen benetzt, lachend und lachend, um es noch einmal und noch einmal zu tun. Dort wurde die Saat der Leere gelegt, die auf der langen Heimreise mit dem Zug durch Indien keimte und zu einem Schmerz wurde, einer Hoffnung, einer Sehnsucht, die keinen Namen und keine Worte hatte. Aber sie roch nach Sonnenschutzcreme, sie juckte wie Sand zwischen den Zehen, sie fühlte sich wie warme Kokosmatten an und klang wie Kinderschreie, die über das Wasser hallten.

Shaheen Badoor Khan hört auf sich zu drehen. Er ringt ein mächtiges, erschütterndes Schluchzen nieder, das in ihm aufsteigt. Er hat es sich so sehr gewünscht, aber sein Leben hat es ihm nie erlaubt, diese Art von Freiheit zu genießen. Er würde alles geben, einmal so schön zu sein, wenigstens für einen Tag.

Füße. Draußen. Bloße Füße. Shaheen Badoor Khan schüttelt den Sukkubus ab.

»Wer ist da?«

»Sir? Ist alles in Ordnung?«

»Alles bestens. Lassen Sie mich bitte allein.«

Alles ist bestens, so gut, wie es inmitten von Ruinen eben sein kann. Shaheen Badoor Khan rückt seinen Anzug zurecht, glättet den durch die Drehung verrutschten Dhuri. Gott hat ihm Ehre erwiesen. Er ist in die Nafs hinabgestiegen, den begehrenden Kern der Seele, und dort wurde ihm die wahre Natur des Gottes-in-ihm gezeigt, und sein unverständlicher Ruf nach Hilfe wurde beantwortet.

Jetzt weiß er, was er wegen des Neut unternehmen muss.

23 Thal

Den Rest der Woche stürzt sich Thal in sys Arbeit, aber nicht einmal die Inneneinrichtung des Haveli, in das Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala nach ihrer virtuellen Hochzeit ziehen werden, kann die Dämonen vertreiben. Ein Genderlicher. Ein Mann. Ein Khan. Thal versucht ihn aus sys Gehirn zu vertreiben, aber sein Bild ist wie Diwali-Lichter zwischen sys Neuronen aufgespannt. Das ist die größte Angst: dass sich da drinnen alles auflöst, dass sich all die Biochips und Hormonpumpen in sys Blutkreislauf auflösen. Thal befürchtet, ys könnte sys Neutheit durch sys Nieren auspissen. Ys schmeckt immer noch die Lippen dieses Khan.

Am Ende der Woche gibt sogar Neeta ys den Rat, sich eine Auszeit zu nehmen.

»Geh, los, raus hier«, befiehlt Line Producer Devgan. Thal geht, lost und raushiert nach Patna. Nur ein Neut kann auf die Idee kommen, das Wochenende in dieser ausufernden, heißen, seelenlosen Industriestadt zu verbringen. Es gibt jemanden, mit dem sich Thal dort treffen will. Mit sys Guru.

Zwei Stunden später ist Thal unten am Fluss, blinzelt durch polarisierte Kontaktlinsen gegen das grelle Glitzern des Wassers an und bucht ein Rückfahrtticket erster Klasse (es ist besser, in der ersten Klasse zu reisen als anzukommen, Baba) auf dem schnellen Tragflügelboot nach Patna. Dreißig Minuten später kuschelt ys sich in den Sitz, schließt die Augen und die kleinen, weichen Fäuste vor Entzücken über die einleitenden Beats des GURU GRANTH MIX, während die Industrieanlagen am fernen trockenen Ufer vorbeiziehen. Ys ist überrascht, dass überhaupt noch genug Wasser da ist, auf dem dieses Ding schwimmen kann.

Es gibt eine neue Mode auf Patnas umweltverschmutzten Straßen. Düster und fließend ist in. Genauso wie Haar, das in einem einzelnen seitlichen Irok getragen wird, der über die Stirn fällt. Und niemand trägt noch Skibrillen, das geht gar nicht. Wegen der Frisur kann Thal nichts machen, aber ClimBunni an der Amrit Marg hat den kompletten Look auf Lager, in Regalen sortiert und zum Verkauf bereit. Tops hier, Bottoms da, Unders hier, Schuhwerk in Schwarz. Die Karte muss einen weiteren schweren Verlust hinnehmen, aber eine halbe Stunde später schwebt Thal auf die Straße, gewandet in Schwaden aus weicher grauer Seide und silber-schwarze Cowneut-Boots mit Fünf-Zentimeter-Absätzen und den unentbehrlichen Perlenquasten, die an den Stiefelriemen baumeln. Die Jungs kommen ins Schwanken, die Mädchen werfen neidische Blicke, die Frauen in den Kaffeehäusern stecken die Köpfe zusammen und reden hinter vorgehaltener Hand, der Verkehrspolizist auf seinem Posten am Kreisverkehr dreht sich fast einmal im Kreis, als Thal in der Sonne mit den schwarzen Kontaktlinsen klappert. Es ist gut, so gut, so erstaunlich unerwartet und wunderbar und köstlich, wieder auf den Straßen von Patna unterwegs zu sein, unter der Sonne von Patna, den Smog von Patna einzuatmen, sich durch die Körper und Gesichter von Patna zu schlängeln, sich zum Patna-Mix in den Kopfhörern zu bewegen. Alles tanzt zum Mix. Alles ist ein Musical, jede zufällige Begegnung zwischen Passanten ist ein Mord oder ein Ehebruch oder ein Raubüberfall oder das Wiedersehen eines Liebespaars nach sehr langer Zeit. Die Kleidung ist fröhlicher, die Reklame strahlt heller, und alles steht kurz davor, in eine gewaltige Tanzeinlage auszubrechen, die ganze Stadt, nur für Thal. Ys betet zu Ardhanarishvara, der Gottheit der Neuts, dass ys als Erstes die Noo-Mode nach Varanasi bringt.

Varanasi. Und Männer, die Khan heißen. Und alles andere.

Für jene, die sich auskennen, gibt es das Schnellboot unten an den Glastürmen des Commercial Bund, das einen zum Sangam hinaufbringt, wo der Guru sys Geschäft betreibt. Das Boot ist ein Riva aus Mahagoni, bemerkt Thal anerkennend. Der zweifache Motor richtet den Riva auf den Tragflügeln auf und lässt ihn an den kriechenden kleinen Fähren und Schleppzügen vorbeischießen. Das Boot überquert den Hauptkanal und schert nach links aus, rast auf die große sandige Landzunge zu, wo sich der Gandak mit der heiligen Ganga vereint. Auf diesem weiten Sanddelta und darum herum erhebt sich Bharats größte, billigste, schmutzigste und am wenigsten regulierte Freihandelszone. Die Larri-Gallas und Lagerhäuser aus Aluminiumblech drängten sich vor langer Zeit gegenseitig vom verfügbaren Land auf das Wasser ab, und nun wird der Sangam von verankerten Lastkähnen gesäumt, bis zu zwanzig nebeneinander. Hier leben Familien, die sich rühmen, nie einen Fuß auf festes Land gesetzt zu haben. Alles, was sie brauchen, um geboren zu werden, zu leben und zu sterben, finden sie im Labyrinth aus Landungsstegen und Niedergängen, die von Boot zu Boot führen.

Der Riva befördert Thal durch immer schmaler werdende Kanäle zwischen Stahlrümpfen, die mit immer besser werdenden Hindu-Texten bemalt sind, bis er sich in eine Fahrrinne zwängt, die kaum breit genug für das Boot ist, um schließlich neben einem alten Schlepper anzulegen, der den unwahrscheinlichen Namen Fugazi trägt. Dreißig Jahre lang hat die Fugazi Massengut von Kolkata flussaufwärts zu den neuen Industrien von Patna transportiert. Dann wurde sie von White Eagle Holdings aufgekauft und zum letzten Ankerplatz in der Freihandelszone Gangak gefahren, worauf ihre Maschinen ausgeschlachtet wurden. White Eagle Holdings ist ein höchst ehrenwertes Vermögensverwaltungsunternehmen mit Sitz in Omaha, Nebraska, das sich auf die Altersvorsorge von Beschäftigten im Gesundheitswesen spezialisiert hat. Der Firma gehören mehrere schwimmende Fabriken in Patna, die jene Art medizinischer Produkte herstellen, die bibelgläubige Wähler des Mittelwestens ihren Landsleuten vehement verbieten wollen. Hunderte von Industriebetrieben mit hohen Erträgen und geringer Legalität haben ihren Stammsitz in der FTZ Ganak: spezialisierte Piraten-Radiosender, Pharmafälscher, Datenaustauschdienste, Datenoasen, Emotika-Brauereien, Genbuster, Klonlabore, Zelltherapeuten, Darwinware-Dschungel, Kopierschutzknacker, Devisentransferdienstleister, Marken-Ripper, Stammzellenfarmer, Pornokraten, mindestens eine Kaih der Generation 3 (strittig) und Nanak, der freundliche Doktor, das gute Neut, der Guru der süßen Messer.

Thal steigt nervös die steile Leiter hinauf und ist sich dabei der aufragenden Metallwand des Nachbarschiffs hinter sys Rücken bewusst. Ein Wirbel im Zusammenfluss der Ströme, und die schwankenden Wände aus Stahl würden ys wie ein rohes Ei zerquetschen. Ein Gesicht lugt über die Reling: Es ist Nanak, der gute Doktor, schäbig wie stets in sys Cargo-Shorts, die dreimal zu groß sind, dem an ihm klebenden Netztop und den großen Tank-Girlie-Stiefeln, grinsend wie ein heiliger Affe.

Sie umarmen sich. Sie berühren sich. Sie küssen sich. Sie streicheln sich emotionale Erinnerungen an Freuden und Geschenke und lange Kindheitsnächte und das erste Brot am Morgen und barocke Glissandi in die subdermalen Zapfen, dieselben Neuralschlüssel, die Nanaks Roboterchirurgen in die Fasern von Thals enthäutetem Körper geschweißt haben. Dann lösen sie sich voneinander und lächeln und geben alberne Laute der Freude von sich und sind wieder rundum glücklich.

»Wie ich sehe, hat die Mode dich erwischt«, sagt Nanak. Ys ist klein und ein wenig schüchtern und verschämt und wird von der Schwerkraft noch ein wenig tiefer gebeugt, aber ys besitzt immer noch das allerfreundlichste Lächeln. Sys Haut ist ockerfarben von der Sonne.

»Zumindest habe ich mir Mühe gegeben«, sagt Thal und deutet mit einem Kopfnicken auf Nanaks Dock-Wallah-Outfit.

»Pass hier auf deine Absätze auf«, warnt Nanak. Das Deck ist ein modischer Hindernisparcours aus Kabelschächten und Lukenbolzen und Rohren, wo ein sorgloses Neut straucheln und gegen eine harte Stahlplatte krachen könnte. »Du bleibst doch zum Tee, oder? Vorsicht hier.« Sie klettern eine steile Leiter zum Steuerhaus hinauf. Auf der letzten Sprosse hält Thal inne, um über die Stadt aus Booten zu blicken. Hier geht es geschäftig zu wie auf einem Basar. Neben dem Gelderwerb gibt es immer Arbeit, die auf den Schiffen erledigt werden muss, von Malern und Deckschrubbern, Gärtnern und Wasseringenieuren, Solarenergieexperten und Kommunikationstechnikern. Musik dröhnt mit Bässen, die durch die großen Metallhohlräume verstärkt werden.

»Was gibt es also?«, fragt Nanak, als ys Thal in den holzgetäfelten, von Zedernduft erfüllten Empfangsraum führt. Der Geruch löst in Thal eine emotionale Reaktion aus, die so intensiv ist wie eine Erregung der Neuralschlüssel. Ys befindet sich wieder in der holzverkleideten Gebärmutter. Ys erinnert sich, wie die Ledersofas knirschen, wie Suniti am Tresen Filmi-Hits summt, wenn sie glaubt, dass niemand in der Nähe ist.

»Nur ein Routinecheck«, sagt Thal.

»Das können wir auf jeden Fall für dich machen«, sagt Nanak und ruft den Aufzug, um ins leere Herz des Schiffs hinunterzufahren, wo ys sys Transformationen durchführt.

»Hast du viel zu tun?«, fragt Thal, um sys Besorgnis zu überspielen. Der Aufzug öffnet sich und sie treten auf einen Korridor aus Mahagoni und mit Messingtüren hinaus. Thal hat einen Monat lang hinter einer solchen Tür verbracht, verrückt von den Schmerzmitteln und Immunsuppressiva, während sys Körper mit dem klarzukommen versuchte, was die chirurgischen Roboter damit angestellt hatten. Der wahre Wahnsinn war gekommen, als die in sys Rückenmark eingebetteten Proteinchips sich entpackten und damit begannen, vier Millionen Jahre biologischer Direktiven zu überschreiben.

»Im Moment habe ich zwei Fälle«, sagt Nanak. »Einer wartet — ein süßes kleines Ding, malaisch, ziemlich nervös, könnte jeden Augenblick ausreißen, was eine Schande wäre — und einer ist in der OP-Nachsorge. Wir scheinen eine Menge Transgenders alten Stils hereinzubekommen, so dass sich unser Ruf auch außerhalb der Szene ausbreitet, aber davon bin ich gar nicht so begeistert. Das ist nicht mehr als Schlachterhandwerk. Ohne jegliche Raffinesse.«

Und sie werden dafür bezahlen, so wie auch Thal immer noch bezahlt. Zehn Prozent sofort und monatliche Raten für fast den ganzen Rest von sys Leben. Eine Ganzkörperhypothek.

»Thal«, sagt Nanak vorsichtig. »Nicht die, hier bitte.« Thal stellt fest, dass sys Hand an der Tür zum OP-Raum liegt. Nanak drückt die Tür zur Klinik auf. »Wir werden dich nur ein wenig abklopfen, Schätzchen. Du musst nicht einmal die Kleidung ablegen.«

Aber Thal zieht doch die Boots aus und streift sys kühlen Mantel ab, bevor ys sich auf den weißen, gepolsterten Tisch legt. Ys blinzelt unbehaglich in die Deckenleuchten, während Nanak mit der Rekalibrierung des Scanners beschäftigt ist. In diesem Moment erinnert sich Thal daran, dass Nanak, der liebe Doktor, nicht einmal als Krankenpfleger qualifiziert ist. Ys ist nur ein Handlanger, ein chirurgischer Kesselflicker. Roboter hatten Thal zerlegt und ys wieder zusammengesetzt, Mikromanipulatoren, moleküldünne Skalpelle, die von Chirurgen in Brasilien gesteuert wurden. Nanaks Begabung liegt darin, wie ys mit sys Patienten umgeht, und in einer Nase für die gewieftesten Mediziner zu den günstigen Preisen, wo auch immer der globale Markt eine Gelegenheit eröffnet.

»Also, Baba, sag Nanak, ob dies ein reiner Patientenbesuch ist, oder ob du die Szene von Patna auskundschaften willst«, fordert Nanak ys auf und klemmt sich einen Hoek hinter das große Ohr.

»Nanak, ich bin jetzt ein Karriere-Neut, weißt du das nicht? Ich habe es in drei Monaten zum Abteilungsleiter geschafft. Noch ein Jahr, und ich schmeiße den ganzen Laden.«

»Dann kannst du wieder zu mir kommen und dir ein komplettes neues Emotika-Set leisten«, sagt Nanak. »Ich habe hier neues Zeugs, frisch aus den Mixern. Sehr gut. Sehr seltsam. Gut. Ich bin so weit. Atme einfach ganz normal.« Ys bewegt eine Hand in einer Mudra, und Halbkreise aus weißem Metall gleiten aus dem Bettgestell hervor und verbinden sich über Thals Füßen zu einem Ring. Trotz Nanaks Ermahnung stellt Thal fest, dass ys den Atem anhält, als der Scanner mit der Pilgerfahrt sys Körper hinauf beginnt. Ys schließt die Augen, während sich der Ring aus Licht über sys Kehle schiebt, und versucht sich nicht jenen anderen Tisch hinter jener anderen Tür vorzustellen. Den Tisch, der gar kein Tisch ist, sondern ein Gelbett in einem Tank voller Roboter. Ys hat auf diesem Tisch gelegen, narkotisiert und nur noch einen Funken weit vom Tod entfernt, das Nervensystem an eine Medo-Kaih angeschlossen, die dafür sorgte, dass sys Lungen weiterpumpten, sys Herz weiterschlug, sys Blut weiterzirkulierte. Thal kann sich nicht erinnern, wie sich der Deckel des Tanks herabsenkte, sich verriegelte und sich mit mehr unter Druck gesetztem narkotisierendem Gel füllte. Aber ys kann es sich vorstellen, und die Vorstellung ist zur Erinnerung geworden, einer klaustrophobischen imaginären Erinnerung ans Ertrinken. Was ys sich nicht vorstellen kann — was ys sich nicht vorzustellen wagt —, sind die Roboter, die sich durch das Gel bewegen, um ys mit ausgestreckten Klingen jeden Zentimeter Haut vom Körper zu schälen.

Das war nur der Anfang.

Während die alte Haut verbrannt wurde und die neue im Tank heranwuchs, nachdem sie drei Monate zuvor aus einer DNS-Probe von Thal und einem Ei, das irgendeine Basti-Frau verkauft hatte, ausgesät worden war, machten sich die Maschinen an die Arbeit. Sie bewegten sich langsam durch das viskose, organische Gel, drangen unter den Schutzpanzer der Muskeln, lösten Fett aus dem Gewebe, wichen Blutbahnen und verstopften Arterien aus, zertrennten Sehnen, um an den Knochen heranzukommen. In ihren Büros in São Paulo operierten die billigen Chirurgen in der Luft mit Manipulatorhandschuhen und öffneten intime, blutige Schneisen in Thals Körper, den sie durch ihre Visiere sahen. Osteobots gestalteten Knochen um, formten hier eine Wange, weiteten einen Hüftknochen, schnitten Scheiben von den Schulterblättern, verrenkten und versetzten, amputierten und implantierten Plastik und Titan. Während sie arbeiteten, waren Teams von GUMbots damit beschäftigt, alle Genitalien zu entfernen, Harnleiter und Harnröhre umzuleiten und die Hormontrigger und neuralen Reaktionswege mit der Anordnung der subdermalen Zapfen zu verbinden, die in den linken Unterarm eingebettet worden waren.

Thal hört Nanak lachen. »Ich kann direkt in dich hineinschauen«, sagt ys kichernd.

Drei Tage hing Thal in diesem Tank, hautlos, ständig blutend, der ganze Körper ein Wundmal, während die Maschinen langsam und stetig arbeiteten, sys Körper Schicht um Schicht auseinandernahmen und wieder zusammensetzten. Dann hatten sie ihre Aufgabe erfüllt, und sie zogen sich zurück, worauf die Arbeit der Neuroboter begann. Sie wurden von anderen Ärzten gesteuert, einem Team in Kuala Lumpur. Während Thals dreitägiger Leidensgeschichte hatte sich der Markt für Neurochirurgie verändert. Dies war eine andersartige, wesentlich raffiniertere Wissenschaft, als Fleischbrocken wegzuschneiden und zusammenzufügen. Klickende Krabbenroboter verschweißten Proteinchips mit Nervenfasern, spleißten Nerven mit Drüseninduktoren und strukturierten Thals gesamtes Hormonsystem um. Gleichzeitig entfernten große Maschinen Thals Schädeldecke, und Mikromanipulatoren krochen zwischen die verknäuelten Ganglien wie Jäger in einem Mangrovensumpf, um Proteinprozessoren mit neuralen Clustern zu verpunktschweißen, im Rückenmark und Mandelkern, in den tiefen, dunklen Stützpfeilern des Geistes. Dann, am Morgen des vierten Tages, holten sie Thal vom Abgrund des Todes zurück und weckten ys auf. Die Kaih, die an die Hinterseite von Thals Schädel angeschlossen war, musste nun einen vollständigen Test des vegetativen Nervensystems vornehmen, um festzustellen, ob die Chip-Verbindungen richtig saßen und ob die neuralen Reaktionsmuster, die zuvor mit Gender assoziiert waren, die neu eingepflanzten Verhaltensweisen auslösten. Hautlos, mit Muskeln, die wie Säcke an gelösten Sehnen hingen, die Augäpfel und das Gehirn nackt im dermalen Traumagel, wachte Thal auf.

»Fast fertig, Baba«, sagt Nanak. »Du kannst jetzt die Augen öffnen.«

Nur der Kokon aus narkotisierendem Gel bewahrte Thal davor, an den Schmerzen zu sterben. Die Kaih spielte mit sys neuralem Netzwerk wie auf einer Sitar. Thal stellte sich vor, wie sich Finger bewegten, Beine rannten, spürte Bedürfnisse und Regungen, die ys nie zuvor erlebt hatte, sah Visionen und Wunder, hörte Chöre und das Pfeifen Gottes, wurde von Empfindungen und Emotionen fortgerissen, die ys bislang unbekannt waren, halluzinierte gestreifte, summende Monsterinsekten, die sys Mund wie ein Knebel ausfüllten, dann, im selben Moment, schrumpfte ys auf die Größe einer Erbse, besuchte noch einmal Orte, an denen ys nie zuvor gewesen war, begrüßte Freunde, die ys nie gekannt hatte, erinnerte sich an ein Leben, das ys nie geführt hatte, versuchte den Namen sys Mutter zu rufen, den Namen sys Vaters, Gottes Namen. Ys schrie und schrie, aber sys Körper war abgeschaltet, mundlos, hilflos. Dann schaltete die Kaih erneut Thals Gehirn ab, und in der Amnesie der Anästhesie vergaß ys all die Wunder und Schrecken, die ys im Geltank erlebt hatte. Die hilfreichen Maschinen setzten ys wieder die Schädeldecke auf, verbanden alles miteinander, was voneinander getrennt worden war, und hüllten Thal in sys neue Haut, die frisch aus dem Stammzellenkochtopf kam. Fünf weitere Tage lang hing ys lediglich bewusstlos in einer zellstimulierenden Nährlösung und träumte die erstaunlichsten Träume. Am zehnten Morgen löste sich die Kaih von Thals Schädel, ließ die Flüssigkeit im Tank ablaufen und wusch sys glatte neue Haut, als ys dalag, vollendet und neu, auf dem transparenten Kunststoff, während sich die flache Brust im Licht der weißen Punktscheinwerfer hob und senkte.

»So, das bist du«, sagt Nanak.

Thal öffnet die Augen und sieht, wie der Scannerring sich teilt und die Hälften sich ins Diagnosebett zurückziehen. »Bin ich das?«

»Abgesehen von den üblichen Verheerungen siehst du von innen sehr hübsch aus. Voller Licht. Ansonsten muss ich dir nur die übliche Moralpredigt über zu viele gesättigte Fettsäuren, Alkohol, Tabak, rezeptfreie Medikamente und zu wenig Sport halten.«

»Was ist mit ...« Thal hebt eine Hand und legt sie an den Kopf.

»Mir dir ist alles in Ordnung. Ich werde dir ein tadelloses Gesundheitszeugnis ausstellen. Reicht dir das noch nicht? Jetzt steh auf, und dann werden wir zusammen essen, und du wirst mir sagen, worum es eigentlich geht.«

Thal steigt vom Diagnosebett und probiert ein Dutzend Ausreden aus, mit denen ys die Einladung ablehnen könnte, doch dann wird ys klar, dass der gesamte Ausflug nach Patna völlig sinnlos wäre, wenn ys Nanak nicht erklärt, was ys auf dem Herzen liegt.

»Also gut«, sagt ys. »Ich nehme an.«

Die Mahlzeit ist simpel, exquisite vegetarische Thalis, die sie auf der Laufbrücke zu sich nehmen, von der aus die Kapitäne einst ihre Flotten aus Lastkähnen überblickt haben. Nanaks Assistentin und Köchin Suniti huscht herein und hinaus, mit gekühlten Flaschen Kingfisher und Ratschlägen, wie jede Speise gegessen werden sollte. »Einen Mundvoll nehmen und abwarten, bis die Zunge taub geworden ist.« — »Nur zwei Bissen.« — »Hiervon einen Löffel, davon einen Bissen, dann die Limette.«

Die FTZ von Gandak wird heruntergefahren, nachdem sie ihre täglichen Dividenden für die Mediziner in Nebraska abgeworfen hat. Musik und der Geruch nach Ganja steigt von den Kähnen auf, wo Unternehmer aus ihren Werkstätten hervorkommen, um sich an die Reling zu lehnen und zu rauchen und im letzten Licht der Sonne Bier zu trinken.

»Und jetzt musst du mich bezahlen«, sagt Nanak, und als ys die Bestürzung auf Thals Gesicht sieht, beruhigt ys ys mit einer leichten Berührung. »Nein. Suniti wird sich darum kümmern. Du musst mir zahlen, was du mir für diese exzellenten Speisen und den schönen Abend und meine auserlesene Gesellschaft schuldest, und zwar mit dem, was du mir den ganzen Tag lang vorenthalten hast, böses Baba.«

Thal rollt sich auf der weichen Tatami-Matte auf den Rücken. Purpurrote Wolkenstreifen durchziehen den Himmel, die ersten, die ys seit Monaten gesehen hat. Ys stellt sich vor, den Regen riechen zu können, den er so lange herbeigesehnt hat, dass er ys wie eine eingebildete Erinnerung vorkommt.

»Es geht um jemanden, aber das wusstest du ja sowieso schon.«

»Ich hatte eine Ahnung.«

Eine einsame Bansuri wirft Noten in das sanfte Dunkel. Irgendwo da unten zwischen den Badmashs lässt ein Musiker eine uralte Bihari-Volksweise in die Luft schlängeln.

»Jemand, der klug und erfolgreich und still und tief ist, mit gutem Geschmack und Geheimnissen und großer Angst vor allem, der es aber sehnlichst will.«

»Ist das nicht etwas, wonach wir alle uns sehnen, Janum?«

»Jemand, der zufällig ein Mann ist.«

Nanak beugt sich vor. »Ist das ein Problem für dich?«

»Ich habe Mumbai verlassen, weil ich keine komplizierten Beziehungen mehr wollte, und jetzt stecke ich in der kompliziersten Beziehung, die ich mir vorstellen kann. Ich bin geflüchtet, weil ich bei diesem Spiel nicht mehr mitmachen wollte, beim Mann-und-Frau-Spiel. Du hast mir neue Regeln gegeben, du hast sie mir in den Kopf eingepflanzt, tief unten, und jetzt gelten sie einfach nicht mehr.«

»Du wollest von mir überprüfen lassen, ob alles noch innerhalb der operativen Parameter funktioniert.«

»Irgendwas muss mit mir nicht stimmen.«

»Mit dir ist alles in Ordnung, Thal. Ich habe in dich hinein- und durch dich hindurchgeblickt. Dein Geist, dein Körper und deine Beziehungen sind völlig gesund. Jetzt möchtest du, dass ich dir sage, was du tun sollst. Du nennst mich Guru, du hältst mich für weise, aber das werde ich nicht tun. Es gibt keine einzige Regel des menschlichen Verhaltens, die noch nie von irgendjemandem gebrochen wurde, irgendwo, irgendwann, unter banalen oder spektakulären Umständen. Mensch sein heißt, die Regeln zu transzendieren. Es ist ein Phänomen dieses Universums, dass die einfachsten Regeln höchst komplexe Verhaltensmuster hervorbringen können. Die Implantate geben dir einfach nur eine Reihe von reproduktionsunabhängigen Imperativen, mehr nicht. Der Rest, den Göttern sei Dank, liegt ganz bei dir. Sie wären nichts wert, wenn daraus nicht die beunruhigendsten und kompliziertesten Herzensprobleme entstehen könnten. Nur so ist diese Herrlichkeit und dieser Wahnsinn lebenswert. Wir sind mit Problemen geboren, so selbstverständlich wie Funken aufwärtsfliegen, und das ist das Großartige an uns, ob Mann, Frau, Transgen oder Neut.«

Die Töne der Flöte verfolgen Thal. Ys riecht ein Gerücht nach Regen im abendlichen Wind, der vom Fluss heranweht.

»Die Frage ist nicht was, sondern wer«, bemerkt Suniti, als sie die Thalis einsammelt. »Liebst du ihn?«

»Ich denke die ganze Zeit nur an ihn. Ich kriege ihn nicht mehr aus dem Kopf, ich möchte ihn anrufen und ihm Schuhe kaufen und Musik für ihn zusammenstellen und herausfinden, was er am liebsten isst. Er mag die orientalische Küche, das weiß ich bereits.«

Nanak wiegt sich auf den Hüftknochen. »Ja ja ja ja ja. Meine Assistentin hat natürlich recht, weil sie immer recht hat, aber du hast ihre Frage nicht beantwortet. Liebst du ihn?«

Thal nimmt einen tiefen Atemzug. »Ich glaube schon.«

»Dann weißt du, was du tun musst«, sagt Nanak, und Suniti schiebt das Metallgeschirr im Tischtuch zusammen und bringt alles weg, aber Thal erkennt an der Haltung ihrer Schultern, dass sie zufrieden ist.

Nach dem Essen ist der Jacuzzi an der Reihe. Nanak und Thal plätschern im brustwarzentiefen Wasser in der großen Holzwanne im anderen Flügel der Laufbrücke, gesprenkelt mit Tagetesblütenblättern und einer subtilen Note Teebaumöl, gegen Nanaks hartnäckigen Fußpilz. Auf drei Seiten steigt duftender Rauch auf, die Luft ist außergewöhnlich still, als würde sie abwarten, ein klimatischer Schwebezustand.

Patnas Himmelsleuchten ist ein goldener Nebel am westlichen Horizont. Nanak streichelt Thals Schenkel mit den langen, beweglichen Zehen. Das löst keinerlei regulierte genderliche Erregung aus. Es ist nur eine Berührung, etwas, das Neuts miteinder machen, was Freunde miteinander machen. Thal nimmt zwei weitere Kingfisher aus der Plastikkühlbox und öffnet sie am Badewannenrand. Eins für ys, eins für sys Guru.

»Nanak, glaubst du, dass alles gut wird?«

»Für dich persönlich? Für mich? Ja. Es ist leicht für Menschen, ein Happy End zu finden. Für diese Stadt, dieses Land, diesen Krieg? Da bin ich mir nicht so sicher. Nanak sieht sehr viel von dieser Brücke aus. An den meisten Tagen kann ich die Indische Braune Wolke erkennen, ich sehe, wie der Wasserstand fällt, ich sehe Skelette am Strand, aber sie machen mir keine Angst. Es sind diese schrecklichen Kinder, diese Brahmanen, wie man sie nennt. Wer auch immer ihnen diesen Namen gegeben hat, wusste über ein paar Dinge Bescheid. Ich sage, was Nanak daran so große Angst macht. Es geht nicht darum, dass sie doppelt so lange und halb so schnell leben wie wir oder dass sie Kinder mit den Rechten und Bedürfnissen von Erwachsenen sind. Was mir Angst macht, ist die Tatsache, dass wir ein Stadium erreicht haben, in dem Reichtum den Lauf der menschlichen Evolution verändern kann. Du könntest viele Lakh Geld erben, deine Kinder auf amerikanische Schulen schicken, wie es all die inzüchtigen, geistig beeinträchtigten Maharajahs tun, aber du könntest dir keinen IQ oder Begabungen oder auch nur ein gutes Aussehen kaufen. Alles, was du tun könntest, wäre reine Kosmetik. Aber mit diesen Brahmanen kann man sich eine neue Infrastruktur kaufen. Eltern hatten schon immer den Wunsch, ihren Kindern Vorteile zu verschaffen, und nun können sie es ihnen für alle folgenden Generationen geben. Und welche Eltern würden sich so etwas nicht für ihre Kinder wünschen? Der Mahatma, sein Angedenken sei gesegnet, war in vielerlei Hinsicht sehr weise, aber er hat nie größeren Unsinn von sich gegeben, als mit der Aussage, dass das Herz Indiens in den Dörfern schlägt. Das Herz und der Kopf Indiens war schon immer die Mittelklasse. Den Briten war das klar, und deshalb konnte eine Handvoll von ihnen uns hundert Jahre lang beherrschen. Wir sind eine offensiv bürgerliche Gesellschaft, es geht um Vermögen, Status, Anstand. Jetzt ist all das direkt vererbbar geworden, es ist in den Genen. Du kannst dein ganzes Geld an der Börse verlieren, bankrottgehen, es verspielen, durch eine Flut ruiniert werden, aber niemand kann dir deine genetischen Vorteile nehmen. Es ist ein Vermögen, das kein Dieb stehlen kann, ein Erbe, das ohne Verlust an die Nachkommen weitergegeben wird ... Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht.«

»Nanakji«, sagt Thal, »du musst dir deswegen keine Sorgen machen. Das hat nichts mit uns zu tun. Wir sind ausgestiegen.« Ys spürt, wie ys unter sys Berührung erstarrt.

»Aber das sind wir nicht, Baba. Niemand kann das. In diesem Konflikt gibt es keine Nichtkombattanten. Wir haben unser schönes Leben und unsere kleinen niederschmetternden Herzensprobleme, aber wir sind immer noch Menschen. Wir sind ein Teil des Ganzen. Nur dass wir jetzt untereinander entzweit werden. Wir werden uns gegenseitig an die Gurgel gehen, weil die Zukunft unserer Kinder auf dem Spiel steht. Das Einzige, was die Mittelklasse von den Jahrzehnten der Verlorenen Frauen gelernt hat, ist, wie leicht es ist, eine neue Kaste zu schaffen, und wie sehr wir es lieben, vor allem, wenn das Bindi jetzt in der DNS steckt. Das wird uns tausend Jahre lang beherrschen, dieser genetische Raj.«

Inzwischen ist es völlig dunkel geworden. Thal spürt kühle Luft auf einer unerwarteten Hautstelle. Ys erschaudert, ein winziges Wesen auf einem riesigen Kontinent, das eine Zukunft ahnt, in der ys keinen Platz mehr haben wird als Ausgestiegenes, als genetischer Nichtkombattant.

Ein australischer Akzent ruft von unten. »Einen guten Abend dir da oben, Nanakji! Regen in Hyderabad, habe ich soeben gehört.«

Nanak erhebt sich halbwegs aus dem duftenden Wasser, aber der Rufer in der Nacht bleibt unsichtbar. »In der Tat eine gute Neuigkeit!«, antwortet ys. »Das werden wir auf jeden Fall feiern.«

»Darauf trinke ich einen!«

Ein leises Geräusch von der Luke zur Hauptbrücke ist zu hören. Die Badenden drehen sich um. Hinter ihnen steht ein Neut, in einen kurzen blauen Yukata gehüllt, die Arme um den Oberkörper geschlungen.

»Ich habe gehört ... ich dachte ... könnte ich?«

»Hier sind alle willkommen«, sagt Nanak und kramt in der Kühlbox nach einem Kingfisher.

»Ist es wahr? Kommt der Regen wirklich?«, fragt das Neut, als ys aus dem blauen Baumwoll-Bademantel schlüpft. Thal verspürt einen kalten Schock, als ys die schmalen Schultern und die breiten gebärfreudigen Hüften sieht, die von Hormoninjektionen abgeflachten Brustknospen, das heilige Dreieck der rasierten Yoni. Mitten in der Prä-OP. Das schüchterne Neut, von dem Nanak gesagt hatte, dass ys ausreißen könnte. Ys versucht sich an die drei Jahre zu erinnern, die ys in der Prä-OP gelebt hat, während ys in einer Koje der Fugazi für die Anzahlung sparte. Wie die Erinnerung an einen Albtraum ist es eine Reihe von unzusammenhängenden Eindrücken. Die Hormoninjektionen, dreimal täglich. Das ständige Rasieren. Die endlosen Mantras, um sich abzugewöhnen, genderlich zu denken, um zu einem Neut zu werden.

»Ja, ich glaube, er kommt endlich«, sagt Nanak, als das Neut neben ys ins Becken steigt und alle sexuelle Identität ausgelöscht wird. Sie bewegen sich gemeinsam durch das blutwarme Wasser und berühren sich, wie es Neuts tun.

Thal schläft in jener Nacht an Nanaks Seite, zusammengerollt und tief und fest, und sie berühren sich, wie es Neuts tun, wie Freunde, die gelegentlich zusammen schlafen.

»Pass gut auf in Varanasi«, ruft Nanak ys zu, als ys an der schorfigen Wand der Fugazi hinabklettert, hinunter zum wartenden Riva, der im verdreckten Wasser dümpelt.

»Ich werde es versuchen«, ruft Thal zurück, »aber es ist ein erdrückendes kleines Herzensding.«

Als sich das Tragflügelboot vom erstaunlichen Bogen der Bund-Hafenanlagen entfernt, blickt Thal aus dem Fenster und sieht eine Fläche aus aufgewühlten grauen Wolken, die sich im Süden und Osten ausgebreitet haben, weiter, als ys blicken kann. ROMANCE AND ADVENTURE MIX dröhnt in sys inneren Ohren.

Wie Thal gehofft hat, ist Varanasi von ys begeistert. Insbesondere die Metasoap-Abteilung von Indiapendent Productions. Und ganz besonders Neeta am Tresen. Sie klatscht in die Hände, und ys sagt, dass ys faaaabelhaft aussieht und ys offenbar eine schöne Zeit im schrecklichen Patna hatte, und, oh, ich hätte fast vergessen, dass hier ein Brief für dich ist, mit Sonderzustellung und so.

Die Sonderzustellung steckt in einer Plastikhülle, auf der Dringlich und Eigenhändig zustellen steht, mit Blitzsiegeln und kniffligen Schnüren, an denen man hier ziehen muss, damit dort eine Schlaufe gelöst wird, mit der man wiederum einen perforierten Streifen aufreißen kann, um das innenliegende WICHTIGE DOKUMENT mit dem Daumen am Schnellspanner herausziehen und den Plastikumschlag entlang der markierten Perforierung aufreißen zu können, bis man schließlich die Nachricht in den Händen hält. Ein einzelner Zettel. Handbeschreiben mit diesen Worten: Muss Dich wiedersehen. Kannst Du heute Abend kommen, am 12. August? Im Club, Uhrzeit egal. Bitte. Danke. Und darunter eine einzelne verschnörkelte Initiale.

»Es ist wie in Stadt und Land, aber real!«, begeistert sich Neeta.

Thal liest den Brief ein Dutzend Mal im Phatphat zum White Fort. Während ys sich für den Abend mit dem Look aufdonnert (wenn sonst niemand mit dem Look im Club ist, wird ys alle Blicke auf sich lenken), langweilt das Fernsehen mit Kriegsgerede, und die Unterhaltungsprogramme sind voller lächelnder Leute, die in Formation tanzen, und zum ersten Mal kann ys sich nichts davon ansehen. Gar nichts. Ys schnappt sys Tasche und stürmt los. Mama Bharat ist auf dem Treppenabsatz und stellt den Müll raus.

»Keine Zeit, keine Zeit, heiße heiße Verabredung«, ruft Thal. Mama Bharat namastiert, dann ist ys die Treppe hinunter, zwängt sich an ein paar Männern in Anzügen vorbei, die ein paar Sekunden zu lange starren. Ys beobachtet, wie sie an sys Tür vorbei und ins nächsthöhere Stockwerk gehen. In der Säulenhalle des Untergeschosses wartet das Taxi, und heute können die Kinder rufen, was sie wollen, ys beleidigen und animalische oder saugende Laute machen, und alles fällt um Thal herum wie Tagetesblütenblätter zu Boden. Auf sys System läuft in dieser Nacht der Nächte STRANGE CLUB, FUGAZI SCHWIMMTANK und — wagt ys es, wagt ys es? — FUCK MIX.

Am Eingang zur Gasse zum Banana Club schiebt Thal den Ärmel hoch und programmiert glückseligschwebenderwartungsvollglimmend ein. Die Proteinchips werden aktiv, als sich die graue Holztür öffnet. Die blinde Vogelfrau im scharlachroten Sari ist da, den Kopf leicht zurückgelegt, Zwergbananen zwischen den Fingern. Es ist, als hätte sie sich seit Thals letztem Besuch nicht von der Stelle bewegt.

»Willkommen, willkommen, du reizendes Wesen! Hier, nimm dir.« Sie bietet ihm das Obst an. Thal schließt behutsam ihre Finger um die Bananen.

»Nein, nicht heute Abend.« Thal zögert, traut sich kaum zu fragen. »Ist jemand ...?«

Die blinde Frau zeigt zur obersten Galerie. Heute ist niemand hier, obwohl der Monat gerade erst begonnen hat. Gerüchte über Krieg und Regen. Unten im zentralen Hof führt ein Neut in einem langen wehenden Kleid einen Kathak mit einer Anmut auf, die den klassischen Stil weit hinter sich lässt. Der zweite Stock ist leer bis auf zwei Pärchen, die sich auf den Diwanen miteinander unterhalten. Im dritten Stock stehen lederne Clubsessel und niedrige Tische. Tischlaternen aus Messing verbreiten Glühwurmlicht. Der Chill-Bereich. Hier befindet sich an diesem Abend nur ein einziger Gast. Khan sitzt auf dem Sessel am Ende der Galerie, die Hände symmetrisch auf den Armlehnen, auf jene Weise, die für Thal schon immer eine zeitlose Eleganz hatte. Sehr englisch. Ihre Blicke treffen sich. Thal blinzelt einen Segen. Khan ist so süß, er versteht diese Sprache gar nicht. Thal streicht mit der Hand über das Holzgeländer. Bei der Montage wurde Sandelholz benutzt, das einen Pheromonimprint in Thals Handfläche hinterlässt.

»Oh, du bist es«, sagt Thal, als ys sich in einem Sessel niederlässt, der im rechten Winkel zu Khan steht. Ys wartet auf ein Lächeln, einen Kuss, irgendeine Begrüßung. Khan zuckt nervös mit einem leisen Grunzen zusammen. Auf dem niedrigen, dickbeinigen Tisch liegt ein weißer Umschlag. Thal zieht sys eigenen Brief hervor, ordentlich zusammengefaltet, und legt ihn neben den Umschlag. Ys schlägt die glatten Beine übereinander.

»Du könntest mir wenigstens sagen, dass ich umwerfend aussehe«, witzelt Thal.

Der Mann zuckt zusammen. Das stand nicht in seinem Drehbuch. Er schiebt Thal den Umschlag zu. »Bitte nimm das.«

Thal zieht die Klappe auf, lugt hinein, kann nicht glauben, was ys sieht, und blickt noch einmal, noch länger und noch fassungsloser hinein. Es ist ein Bündel aus Tausend-Rupien-Scheinen, insgesamt einhundert.

»Was ist das?«

»Es ist für dich.«

»Was, für mich? Das sind ...«

»Ich weiß.«

Thal legt den Umschlag wieder auf den Tisch. »Das ist sehr großzügig, aber ich muss ein wenig mehr darüber wissen, bevor ich es annehmen kann. Das ist verdammt viel Geld.«

Der Mann verzieht das Gesicht. »Ich kann dich nicht wiedersehen.«

»Was? Liegt es an mir? Was habe ich getan?«

»Nichts!« Dann leiser und mit Bedauern: »Nichts. Es liegt an mir, ich hätte niemals ... ich kann dich nicht wiedersehen. Ich hätte mich nicht einmal hier mit dir treffen sollen.« Er lacht gequält. »Hier schien es mir am sichersten zu sein ... Nimm es, es ist für dich, bitte nimm es an.«

Thal weiß, dass sys Mund offensteht. Was ys empfindet, kann es nur mit der Vorstellung vergleichen, wie es ist, wenn das Gehirn gegen die Schädelkapsel klatscht, nachdem man einen Cricketschläger gegen den Kopf bekommen hat. Außerdem spürt ys an der glatten heiligen Haut an sys Hinterkopf, dass noch jemand bei ihnen auf der Galerie im dritten Stock ist, ein Neuankömmling.

»Du willst mich auszahlen? Du gibst mir eine Crore Rupien und sagst mir, dass du mich nicht wiedersehen willst, dass sich unsere Wege nie mehr kreuzen sollen. Ich weiß, was das ist. Das ist Verschwinde-aus-Varanasi-Geld. Du Mistkerl. Du Mistkerl. Was glaubst du, was ich tun würde? Dich erpressen? Es deiner Frau oder deinem Geliebten erzählen? Die Presse anrufen? Es all meinen perversen Neut-Freunden und -Liebhabern erzählen, weil wir ganz wild aufeinander sind, damit jeder es weiß? Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«

Das Gesicht des Mannes zerknittert vor Qual, aber Thal lässt sich nicht aufhalten. Ys ist voller rotem Zorn. Ys zieht das Geld heraus, springt über den Tisch und zerreißt das verräterische Papier vor Khans Augen. Der Mann hebt die Hände, wendet das Gesicht ab, aber er unternimmt nichts, um sich zu verteidigen.

»Bleib so, Thal«, sagt eine Stimme. Ein Lichtblitz. Tranh steht am Ende des Tisches, die Beine leicht gespreizt, um einen guten Stand für die Palmerkamera in sys rechter Hand zu haben. »Und noch einmal.« Blitz. Der Mann schlägt die Hände vors Gesicht, sucht nach einem Fluchtweg, aber Tranh hat Rückendeckung von ein paar starken Kerlen in Anzügen. »Ich werde dir sagen, wofür er sich hält, Schätzchen. Er ist Shaheen Badoor Khan, der Parlamentarische Privatsekretär von Sajida Rana. Und das alles tut mir so unendlich leid, mein Hübsches. Es tut mir leid, dass es dich erwischen musste. Es ist nicht persönlich gemeint, bitte glaub mir. Es geht nur um Politik. Um beschissene Politik. Es tut mir so leid, Thal.« Tranh klappt den Palmer zu, zögert, die Hand auf den Mund gedrückt, als wollte ys sich daran hindern, ein Geheimnis zu erbrechen. »Thal, verschwinde aus Varanasi. Das Ganze war von Anfang an eine Falle für dich. Ich wurde beauftragt, dich ausfindig zu machen. Weil du neu und unschuldig und absolut entbehrlich bist. Geh!« Die starken Männer führen ys die Treppen hinunter, ein Kolibri, der von Krähen gemobbt wird.

24 Najia

Najia Askarzadah macht Power-Walking mit ihren Freundinnen. In bauchfreiem Top, knappen Shorts und Noo-Schuhen, die sich an die Füße anschmiegen und das Laufgefühl übermitteln. Sie hat sie vom Geld für die Rath-Yatra-Schnappschüsse gekauft, neben vielen anderen Dingen. Dinge für sie, Dinge für Freundinnen, damit sie ihre Freundinnen bleiben. Najia Askarzadahs Beziehungen sind schon immer Verträge gewesen.

Die Mädchen haben ihr Walking an jedem Dienstag und Donnerstag vor dem Frühstück betrieben, seit Najia sich der Imperial-International-Truppe angeschlossen hat. An diesem Morgen braucht sie es. Sie alle leiden unter dem Omar Khayyam des gestrigen Abends. Bernard war dabei und lobpreiste sie widerstrebend für ihr journalistisches Glück, worauf sie die restliche Zeit über Selbstdarstellung und erkenntnistheoretische Polyversen sprachen und wie die einzige intellektuelle Reaktion darin bestehen kann, das Ganze wie eine Episode von Stadt und Land zu behandeln, nicht weniger und erst recht nicht mehr, die sich ständig weiterentwickelnde Soapi, die niemals einen dramaturgischen Abschluss finden kann. Hat irgendwer einen Beweis, dass Sajida Rana tatsächlich in Kunda Khadar war, abgesehen von den Fernsehbildern? Und was N. K. Jivanjee betrifft, ist es doch ein guter politischer Witz, dass jeder ihn gesehen hat, aber sich niemand an eine Begegnung mit ihm erinnern kann. Die bevorstehende Hochzeit von Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala hat zumindest die Glaubwürdigkeit des Kitsches. Aber sie war froh über ihren Erfolg, weil sie nun die totalisierende Energie des Krieges erkannt hat.

Er wird mich wieder zu sich einladen, dachte sie. Er ist eifersüchtig und hatte eine Woche lang keinen Fick.

Würde sie gern zu ihm zurückkommen und mit ihm eine Theorie über all das ausarbeiten? Er hat etwas Red Roof Garden Skunk hereinbekommen.

Er hat sich ganz in Gaze eingerichtet. Sie war in all seinen Zimmern drapiert, überall bauschten sich die großen Vorhänge leicht im stärker werdenden Wind, der durch die Jalousien hereindrang. Er hatte gehört, dass sich das Regengebiet über dem Dekkan nähert und ganze Dörfer auf den Beinen waren, um draußen zu tanzen. Das würde auch er sehr gern tun, im Regen tanzen, mit ihr tanzen. Diese Vorstellung gefiel ihr. Der Red Roof Garden war sehr gut, und nach einer halben Stunde hockte sie nackt, die Schenkel in der Austerhaltung angezogen, auf seinem Schoß und hielt seinen Penis hart und gerade in sich. Sie spannte sich an und ließ locker, spannte sich an und ließ locker im Rhythmus des gesummten Mantras im Licht eines Dutzends Öllampen aus Terrakotta. Aber es waren die anderthalb Flaschen Omar Khayyam, die das Wunder geschehen ließen, so dass sie erreichten, was Bernard schon so lange versprochen hatte. Er hielt seinen Schwanz eine Stunde lang in ihr, ohne sich zu bewegen, während sie gemeinsam atmeten und sangen, anspannten und locker ließen, anspannten und locker ließen, bis Najia zu ihrer Überraschung das langsame Glühen des Orgasmuslichts in sich spürte, das sich wie fließendes Lampenöl ausbreitete, bis sie beide in einer weißen Samenexplosion kamen und das Kundalini ein Loch oben durch ihre Sahasrar-Chakras brannte.

Die walkenden Mädchen kommen aus der beschatteten Auffahrt zum Imperial International und biegen auf die Mall ab. Die Vegetation ist kühl und riecht feucht und nach Wachstum, aber auf dem Boulevard trifft sie die Hitze nur eine Stunde nach Sonnenaufgang wie ein Hammer. Najia schwitzt. Sie schwitzt die Nacht aus. Najia Askarzadahs Fäuste in den Handschuhen geben ihr den Lauftakt vor, und ihr magerer Hintern rollt in den engen, knappen Shorts, während sich der Verkehr auf zwei Fahrspuren in Varanasi hineinschiebt, golden und pinkfarben im Morgendunst. Männer pfeifen und rufen, aber ausländische Mädchen beim Power-Walking sind schneller als der Verkehr von Varanasi zur Hauptstoßzeit. Mit ihren Spezialsportschuhen ist Najia Askarzadah schon mehrere Kreuzungen weiter, wenn sie eine Wagenlänge weitergeruckelt sind. Am neuen Park legen die Straßenhändler bereits ihre Plastikplanen aus und arrangieren darauf ihr Obst, ihre Autobatterien und ihre Schwarzmarkt-Medikamente, im schlaffen, staubigen Schatten der absterbenden Mandelbäume. Es wird der bislang heißeste Tag, sagen Najias Poren. Es erreicht den Gipfel der Unerträglichkeit, bis es umschlägt, sagt Bernard. Sie überblickt den Horizont, während sie einen Schluck aus ihrer Wasserflasche nimmt, aber der Himmel hinter den Türmen von Ranapur ist ein umgestülpter Kessel aus gehämmerter Bronze.

Sie spürt die Hitze, die von dem großen Wagen mit Soft-Engine ausstrahlt, als er sich neben sie schiebt, ein Mercedes-Geländewagen, der skarabäusschwarz schimmert. Das verspiegelte Fenster senkt sich, das leise Stampfen des Dhol’n’Bass aus der Musikanlage wird schlagartig eine Stufe lauter.

»Hallo! Hallo!«

Ein zahnlückiger, dunkelgesichtiger Gunda grinst sie anzüglich an. Er trägt eine verknotete Perlenkette um den Hals.

Kopf runter, Fäuste hoch. Weiterlaufen. Ihr Arsch vibriert, ihr Palmer, den sie sich in den Hosenbund geklemmt hat, wird angerufen. Weder Stimme noch Video noch Text, sondern ein direkter Datentransfer. Dann überholt der Mercedes sie, und der Fahrer winkt ihr mit seinem Palmer zu und gibt ihr ein O.K.-Zeichen. Er steuert den schwarzen Wagen durch eine Lücke zwischen einem Bus und einem Wassertanklaster mit militärischer Eskorte in den Verkehr zurück.

Najia möchte in der Kühle des Pools im Garten des Imperial zusammensacken, aber ihre mysteriöse Message lässt ihr keine Ruhe. Es ist eine Videodatei. Ihr journalistisches Gespür ermahnt sie flüsternd zur Vorsicht. Sie geht mit dem Palmer in eine Duschkabine und ruft das Video auf. N. K. Jivanjee sitzt in einem hellen, luftigen Pavillon mit wunderschön gemusterten Kalamkaris. Der Stoff bauscht sich sanft, schwanger. N. K. Jivanjee namastiert.

»Ms. Askarzadah, ich wünsche Ihnen einen guten Morgen. Ich vermute, es ist Morgen, wenn meine Mitarbeiter Ihnen diese Nachricht übermittelt haben. Ich hoffe, Sie hatten ein erfrischendes Walking. Ich glaube wirklich, dass Sport am frühen Morgen die beste Möglichkeit ist, den Tag zu beginnen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich weiterhin jeden Tag mit dem Surja-Namaskar begrüße, aber, ach ja, die Jahre ... Wie auch immer, meinen Glückwunsch, wie Sie meine letzten Informationen verwendet haben. Sie haben meine Erwartungen übertroffen, ich bin sehr, sehr erfreut. Aus diesem Grund habe ich entschieden, Ihnen die Veröffentlichung weiterer privilegierter Daten anzuvertrauen. Sie werden sie heute um Mitternacht von meinem Mitarbeiter entgegennehmen, an der Adresse, die Sie im Anschluss auf diesem Bildschirm sehen. Diese Informationen sind von höchster Brisanz, und ich glaube, dass ich nicht übertreibe, wenn ich sage, dass sie das politische Gefüge dieser Nation verändern werden. All meine bisherigen Warnungen werden wiederholt und verstärkt. Doch ich bin mir sicher, dass ich mich auch diesmal auf Sie verlassen kann. Vielen Dank, seien Sie gesegnet.«

Najia Askarzadah kennt die Adresse. Sie schließt ihren Palmer in ihrem Zimmer ein, bevor sie zu ihren Walking-Kameradinnen zurückkehrt, die bereits im blauen Pool planschen.

Geh einmal irgendwohin, und du wirst schneller wieder da sein, als du gedacht hast. Der Lärm im Club grenzt an Körperverletzung. Auf den Bänken aus Holzabfall drängen sich Männer, die mit ihren Wettscheinen winken und in Richtung des blutbespritzten Sandes brüllen. Viele sind in Uniform. Jeder Krieg ist eine Wette. Die Anweisungen auf ihrem Palmer führen sie die Treppe hinunter in die Arena. Die Geräusche und der Gestank nach Schweiß und verschüttetem Bier und oxidiertem Parfüm sind überwältigend. Najia zwängt sich zwischen den schreienden und gestikulierenden Körpern hindurch. Durch den Wald aus Händen kann sie die Kampf-Mikrosäbler erkennen, die von ihren Besitzern hochgehalten werden, während sie sich im Ring zur Schau stellen. Sie fragt sich, was aus dem hübschen, animalischen Jungen geworden ist, der ihr am ersten Abend aufgefallen ist. Dann werden die Katzen auf den Boden gesetzt, ihre Besitzer springen über die Wände der Arena, und die Menge stürmt mit einem hymnischen Gebrüll nach vorn. Najia kämpft sich zu den Satta-Ständen durch. Die Buchmacher mustern sie mit ihren runden, fliederfarbenen Brillen. Eine dicke Frau winkt sie heran.

»Setzen Sie sich. Setzen Sie sich hier neben mich.«

Najia zwängt sich auf die Bank. Die Kleidung der Frau riecht nach verbranntem Ghee und Knoblauch.

»Haben Sie etwas für mich?«

Die Satta-Frau ignoriert sie und ist mit ihrem Buch beschäftigt. Ihr Assistent, ein alter magerer Mann, schnappt sich das Bargeld und wirft Wettscheine über den polierten Holztresen. Der Ausrufer springt von seinem Hochsitz und läuft in den Ring, um den nächsten Kampf anzusagen. Heute ist er als Pierrot verkleidet.

»Nein, aber ich«, sagt eine Stimme plötzlich und nahe hinter ihr. Sie dreht sich um. Der Mann beugt sich über die Rückenlehne der Bank. Er ist in schwarzes Leder gekleidet. Najia kann es riechen: rauchig und sinnlich. Der düstere Junge aus dem Mercedes ist neben ihm: gleiches Hemd, gleiches Grinsen, gleiche Perlenkette. Der Mann hält einen braunen A4-Umschlag hoch. »Das ist für Sie.« Er hat dunkle, flüssige Augen, hübsch wie die eines Mädchen. Solche Augen vergisst man nicht wieder, und Najia weiß, dass sie sie schon einmal gesehen hat. Aber sie zögert, den Umschlag anzunehmen.

»Wer sind Sie?«

»Ein bezahlter Handlanger«, sagt der Mann.

»Wissen Sie, was das ist?«

»Ich liefere es nur aus. Aber ich weiß, dass alles, was sich darin befindet, echt ist und sich verifizieren lässt.«

Najia nimmt den Umschlag entgegen und öffnet ihn. Die Hand des Mercedes-Jungen streicht über die Öffnung und hält ihre zurück.

»Nicht hier«, sagt der Mann.

Najia schiebt den Umschlag in ihre Schultertasche. Als sie sich wieder umdreht, ist niemand mehr hinter ihr. Sie möchte unbedingt die Frage stellen: Warum ich? Aber der Mann mit den hübschen Augen hätte auch darauf keine Antwort gehabt. Sie hängt sich die Tasche über die Schulter und schlängelt sich durch die dichte Menge, während der Ausrufer auf dem Kampfplatz herumstapft und sein Drucklufthorn ertönen lässt und »Wettet! Wettet!« brüllt. Sie erinnert sich, woher sie diese Augen kennt. Sie sind sich aus dieser Perspektive begegnet, sie am Galeriegeländer, er in der Satta-Arena.

Zurück aufs Moped, hinaus in den Verkehr. Heute wirkt die Stadt nahe, bedrohlich, mit Messern bewaffnet. Die Autos und Laster wollen sie unter die Räder nehmen. Der Verkehr staut sich um eine Kuh, die mitten auf der Straße lang und ausgiebig pisst. Najia öffnet den Umschlag und zieht das obere Drittel des ersten Fotos heraus. Dann zieht sie es halb heraus. Dann ganz. Dann schüttelt sie das nächste Foto heraus. Dann das nächste. Dann das nächste.

Die Kuh ist weitergezogen. Lieferwagen hupen, Fahrer rufen, winken und schleudern ihr wilde Flüche entgegen.

Und das nächste. Und das nächste. Dieser Mann. Dieser Mann ist. Dieser Mann, sie erkennt ihn wieder, obwohl er sein Gesicht gut vor den Kameras versteckt hat. Dieser Mann ist angeblich die treibende Kraft hinter Sajida Rana. Ihr Privatsekretär. Wie er Geld gibt. Bargeld in einem dicken Bündel. Einem Neut. In einem Club. Shaheen Badoor Khan.

Die gesamte Straße blickt auf sie. Ein Polizist kommt mit erhobenem Lathi auf sie zu. Mit pochendem Herzen stopft Najia Askarzadah die Fotos zurück in den Umschlag, dreht am Gashebel und fährt mit tuckerndem Alkoholmotor davon. Shaheen Badoor Khan. Shaheen Badoor Khan. Ihre Amygdala steuert sie durch den hupenden, giftigen Verkehr, während sie das Geld sieht, das Apartment am Flussufer in New Sarnath, die Noo-Outfitz und Partyz und den Champagner, der kein Omar Khayyam ist, und die Interviews und den Namen in den Schlagzeilen, bharatweit, indienweit, asienweit, planetenweit, und im fernen kühlen netten Schweden schlagen ihre Eltern die Dagens Nyheter auf und sehen ein Foto ihrer Lieblingstochter in den Auslandsmeldungen.

Sie hält an. Ihr Herz schlägt arhythmisch, zuckend, aufgeregt. Wie von Koffein, Schock, Wahnsinnssex, Freude. Wenn man alles bekommt, was man sich je gewünscht hat. Sie kann sehen. Sie kann hören. Sie kann spüren. Ein Wirbel aus Lärm und Farben stürmt auf sie ein. Es gibt keinen anderen Ort, zu dem ihr Vorbewusstsein sie hätte bringen können als zum Herzen von Bharats Verrücktheiten und Widersprüchlichkeiten. Zum Sarkhand Roundabout.

Nichts mit Rädern und Motor gelangt über diese Kreuzung. Die strahlenförmig angelegten Straßen sind wie entzündete Arterien angeschwollen, mit Zeltstädten und Lastwagenburgen, glänzend in der gelben Straßenbeleuchtung und dem Schein von Schreinen auf den Gehwegen. Najia stellt die Füße auf den Boden und schiebt ihr kleines Motorrad in die Randbereiche, angezogen vom großartigen Chaos. Die rotierende Farbenwand, die sie durch das Gewirr aus Lastern und Plastikwänden erkennt, ist ein Kreis aus Menschen, die springen und singen, während sie um die bunt bemalte Betonstatue von Ganesha kreisen. Manche halten Plakate, andere Lathis, die über ihren Köpfen wanken und hüpfen wie ein Wald aus Bambusrohr im Wind des Vormonsuns. Manche tragen Dhotis und Hemden, andere westliche Hosen oder gar Anzüge. Manche sind nackt, mit Asche eingeriebene Sadhus. Eine Gruppe von Frauen in Rot, Anhängerinnen Kalis, eilt vorbei. Alle sind unbewusst in einen rhythmischen Gleichschritt verfallen. Einzelne Leute wirbeln heraus oder herein, aber das Rad dreht sich endlos weiter. Der Luftzylinder zwischen den Gebäuden am Platz pulsiert wie eine Trommel.

Ein riesiges Objekt in Rot und Orange walzt in Najias Blickfeld: eine Rath Yatra wie jene, die sie an der Industrial Road gesehen hat. Vielleicht dieselbe. N. K. Jivanjees Triumphwagen Shivas. Sie schiebt ihr Moped weiter hinein. Der synkopierte Gesang ist eine wahnsinnige Jubelhymne. Sie spürt, wie sich ihr Atem und ihr Puls dem Rhythmus des Tanzes anpassen, wie sich ihre Gebärmutter zusammenzieht und sich ihre Brustwarzen verhärten. Sie ist jetzt Teil des Wahnsinns. Er definiert sie. Es ist genau die Gefahr und Unvernunft, die sie als Gegengift für ihre schwedische Nüchternheit gesucht hat. Es sagt ihr, dass es immer noch ein lohnenswertes Leben voller Überraschungen ist. Gerippt und aufregend! Kordhosen!, erklärt eine große gelbe Reklametafel über der verrückten Mela.

Ein Karsevak mit vorstehenden Zähnen drückt ihr einen A5-Zettel in die Hand.

»Lies lies! Dämonen greifen uns an, sexbesessene Kinderschänder!«, ruft er. Der Flyer ist vorn in Hindi bedruckt, auf der Rückseite in Englisch. »Unsere politischen Führer sind die Leibeigenen von Bibelchristen und Dämonischen Mohammedanern! Die Gründer von Mata Bharat! Lies diesen Flyer!«

Auf dem Zettel ist eine Zeichnung von Sajida Rana abgedruckt, die sie als Schattenspielpuppe zeigt, wie sie in ihrem Designer-Kampfanzug tanzt, und die Stäbe werden von einem hakennasigen karikierten Araber mit rot-weißem Shumagg gehalten. Auf seiner Ogal steht Badoor-Khan. Rana weist einem amerikanischen Televangelisten den Weg, der mit aufgerichteter Zigarre im Mund auf einem großen Bulldozer sitzt und auf eine Hindu-Mutter mit Kind zufährt, die im Schatten der Ratten-Vahana eines erzürnten Ganesha hockt, der kampfbereit den Rüssel und eine Axt erhoben hat.

Kinderschändende pädophile Muslime planen die Kapitulation vor der Coca-Cola-Kultur! Erst stehlen sie das Wasser von Mutter Ganga, dann Sarkhand, dann das Heilige Bharat. Eure Nation, eure Seele ist in Gefahr!

Sie hassen ihn, denkt Najia Askarzadah, die immer noch von der geballten menschlichen Energie zittert. Sie hassen ihn mehr als alles, was ich mir vorstellen kann. Und ich kann ihn an sie ausliefern. Ich kann ihnen geben, was sie wollen, den tiefsten, brutalsten Sturz. Ein kinderschändender Pädophiler? Nein, viel, viel schlimmer: Er liebt Wesen, die weder männlich noch weiblich sind. Monstren. Neuts. Ein Unmann.

Ein Lichtblitz, lodernde gelbe Flammen und donnernder Applaus von der wimmelnden Menge. Sie erkennt eine brennende Awadh-Fahne, die sich wie eine Seele im Feuer windet. Sie könnte einen Finger heben und all die Zukünfte in unbekannte Dimensionen verbannen. Sie hat sich nie zuvor so lebendig gefühlt, so stark, so mächtig und so launenhaft. Ihr ganzes Leben lang war sie die Außenseiterin, das Flüchtlingskind, die Asylsuchende, die afghanische Schwedin, die dazugehören wollte, zum Ganzen, zum Herzen, zum Blut. Sie spürt eine berauschend warme Feuchtigkeit am Vinyl des Mopedsattels.

25 Shiv

Shiv und Yogendra fahren durch einen Klangzylinder. Construxx rühmt sich einer Gruppe von Architektursachverständigen, die den Dschungel der Baugebiete von Varanasi und Ranapur durchstreifen und nach den besten prä- und postindustriellen Gebäuden absuchen. Die Marktlücke von Construxx sind die kurzen Einbrüche in den Cashflow-Bilanzen. Im letzten Monat waren es die Penthouse-Ebenen des Narayan Tower im Westen von Varauna: achtundachtzig Stockwerke vermietbarer formflexibler Büroräume, vier Mietparteien. In diesem Monat ist es der riesige Betonschacht, der, wenn das Geld nach dem Krieg wieder fließt, zur Metrostation »Universität« werden soll. Construxx ist bekannt für gewaltige Bauten und Mundpropaganda. Wenn man sie finden will, muss man die richtigen Leute an den richtigen Stellen fragen.

Lage der Construxx-Baustelle August 2047: Nimm die Metro nach Panch Kashi, letzter Halt auf der neuen Linie Südschleife, alles Chrom und Glas und dieser Beton, der aussieht, als würde er sich ölig anfühlen. Am Ende des Bahnsteigs gibt es eine behelfsmäßige Holztreppe, die auf die Gleise führt. Dieser Linienabschnitt ist außer Betrieb. Folge dem Tunnel, bis du einen kleinen Kreis aus flackernden Lichtern siehst. Zwei dunkle Gestalten werden an beiden Seiten des sich erweiternden Kreises erscheinen, das sind die Wachen. Du musst sie entweder durch dein Aussehen, deinen Stil, deinen Bekanntheitsgrad oder deinen Status beeindrucken. Oder ein von Nitish und Chunni Nath geladener Gast sein.

Construxx-Baustelle August 2047: Um den besten Eindruck zu gewinnen, schau nach oben. Blaues Scheinwerferlicht ergießt sich schaukelnd von einem Beleuchtungsgerüst, das unter dem provisorischen Plastikdach aufgehängt ist. Laufstege, Rampen, Halteseile, Stahlroste und Geflechte zerstreuen das Licht in ein Netz aus Schatten und Aquablau. Bewegliche Schatten sind Menschen, die tanzen und zum Klang der personalisierten Songs aus ihren Palmern grooven. Die DJ-Box ist halbhoch an der Mauer angebracht, ein klappriges Gestell aus Stangen von Baugerüsten und Baustahlmatten. Hier pumpen ein Team aus zwei Menschen und fünfzehn Kaihs ein Programm des Construxx August 2047 Mix raus, das auf jeden Tänzer draußen auf den Rampen abgestimmt ist.

Die Construxx-Baustelle August 2047 folgt einer strengen und einfachen Rangordnung. Shiv und Yogendra fahren mit dem Lastenaufzug durch das Frischfleisch und die Office-Grrrls aufwärts, die den ganzen Monat für diese eine verrufene Nacht gespart haben, durch die Möchtegern-Soapi-Stars und die netten jungen Kriminellen und die Söhne und Töchter von irgendwas, alle ihren entsprechenden Rampen zugeordnet. Der Lift zieht sie an aufgespritzten, zehn Meter großen roten Buchstaben nach oben: das Dogma von Construxx, das den halben Umfang des Betonschachts ausfüllt: Art Empire Industry.

Shiv schnippt seine kalte Bidi fort. Sie rollt durch das Stahlgitter unter seinen Füßen und fällt funkensprühend in das pulsierende Blau. Die Hauptbar und die Crush-Zone sind dort, wo später einmal die Fahrkartenautomaten stehen werden. Die wahren Götter sind oben auf den VIP-Ebenen, die wie aufgefächerte Spielkarten über die ganze Anlage verbreitet sind. Shiv geht auf die Security zu: zwei große blonde Russinnen in orangefarbenen Overalls mit dem Construxx-Mantra und Ausbuchtungen, die auf verborgene, aber leicht zugängliche Feuerkraft hinweisen. Während sie seine Einladung scannen, prüft Shiv, was oben auf der VIP-Ebene abläuft. Die Naths sind zwei kleine, in Gold gekleidete Figuren, wie Abbilder von Göttern, die ihren Bittstellern den Segen erteilen. Ein russisches Grrrl winkt Shiv rüber zur Bar. Er steht weit unten in der Sozialordnung.

Getränke werden von den Ticket-Tresen serviert. Ganze Reihen von Cocktail-Wallahs mixen, schütteln, kühlen und gießen in einem Rhythmus, der teils Tanz, teils Kampfkunst ist. Der Cocktail des Abends scheint etwas zu sein, das sich Kunda Khadar nennt. Lass eine Eisblase in puren Wodka fallen. Das Eis zerbricht, entlässt eine klare Flüssigkeit, die sich in der Verbindung mit Alkohol rot färbt. Das Blut des heiligen Bharat, vergossen auf den Wassern von Mutter Ganga. Shiv hätte nichts dagegen, einen zu probieren, er hätte nichts gegen irgendwas mit einem Schuss Sprit, um seine Nerven zu beruhigen, aber er kann sich hier nicht einmal das Wasser des Hauses leisten. Irgendjemand wird ihm einen ausgeben. Der einzige Blick, der seinen einfängt, gehört einem Mädchen am Geländer, allein am Rand der Spiralen der Unterhaltungen. Sie ist rot: kurzer, weicher Lederrock in Terrakottafarbe, eine Fülle von langem, glattem scharlachrotem Haar. Ein Opal steckt in ihrem Nabel. Sie trägt Stiefel aus Gavialleder mit Federn und Glöckchen, die an Riemen hängen, ein neuer Look, den Shiv während seines Exils in Scheiß-Stadt verpasst haben muss. Eine, zwei, drei Sekunden blickt sie ihn an, dann wendet sie sich ab, um in den Schacht hinunterzuschauen. Shiv lehnt sich auf das Geländer und sieht sich die Bewegung und das Licht an.

»Das bringt Unglück, weißt du.«

»Was bringt Unglück?«, fragt das Mädchen. Sie hat einen trägen, schleppenden Stadtakzent.

»Das.« Er tippt auf ihr Bauchjuwel. Sie zuckt zusammen, weicht aber nicht zurück, sondern balanciert ihr gyroskopisches Cocktailglas auf dem Geländer und dreht sich zu ihm um. Rote Ranken schrauben sich durch ihren klaren Cocktail. »Opale. Unglücksjuwelen. Das haben die englischen Viktorianer geglaubt.«

»Ich kann nicht sagen, dass ich mich besonders unglücklich fühle«, sagt das Mädchen. »Bringst du Unglück?«

»Von der schlimmsten Sorte«, sagt Shiv. Er entspannt sich, streckt sich entlang des Geländers aus und stößt dabei ihren Cocktail herunter. Er fällt wie eine Gottesträne, fängt das Licht ein wie ein Juwel. Von unten ist der Schrei einer Frau zu hören. »Und da hast du dein Unglück. Es tut mir wirklich leid. Ich würde dir einen Neuen holen.«

»Schon gut.«

Ihr Name ist Juhi. Shiv lenkt sie zu den Ticket-Kabinen. Yogendra reißt sich vom Anblick der hübschen Dinger los und folgt in diskretem Abstand. Die Kunda Khadars sind wirklich sehr kalt und sehr gut und sehr teuer. Das rote Zeug hat Zimtgeschmack, mit einem kleinen Schuss THC. Juhi plappert über den Club und die Leute. Shiv blickt zur VIP-Ebene hinauf. Die Nath-Geschwister haben sich auf eine noch höhere Ebene begeben, zwei Goldsterne unter der gewellten Plastik-Überdachung. Juhi tritt ihn sanft, vorspielerisch mit einem Gavialstiefel. Mit Federn und allem anderen.

»Ich sehe, dass du da hochschaust, Badmash. Für wen arbeitest du?« Juhi schiebt sich dichter an ihn heran.

Shiv nickt in Richtung der Naths, die von ihren finsteren Helfern umgeben sind.

Juhi verzieht das Gesicht. »Chuutyas. Du hast mit denen zu tun? Pass gut auf. Sie können machen, was sie wollen, weil sie Geld haben und die Polizei ihrem Papa gehört. Sie sehen wie Engel aus, aber im Innern sind sie finster und alt. Sie sind schlecht zu Frauen. Er will ficken, weil er im Kopf zwanzig Jahre alt ist, aber er kriegt keinen hoch, so dass er Hormone und Zeugs nehmen muss, und selbst dann läuft da nichts. Ich hab’s bei Hunden größer gesehen. Also benutzt er Spielzeug und andere Sachen. Und sie ist genauso übel. Sie schaut ihm zu, wie er spielt. Ich weiß das, weil eine Freundin von mir einmal mit ihnen mitgegangen ist. Beide sind gleich übel.«

Das russische Grrrl bemerkt Shivs Blick, nickt ihn zu sich herüber, und deinen kleinen Affen auch.

»Komm mit hoch«, sagt er zu Juhi. »Du musst sie nicht treffen.« Er denkt daran, wie es ist, wenn er sein Startkapital hat. Es wird mehr von diesen Kunda Khadars geben und ein Hotelzimmer und einen Platz mit Junkfood und einen Fernseher für Yogendra. Shiv spürt allmählich die Glut in seinem Bauch. Die Schultern gehen zurück. Das Kinn hoch. Der Schritt wird ausgreifender, leichter. Goldene Menschen drehen sich, um zu schauen, ihre Kunda Khadars wie kleine Morde in den Händen. In ihrer Mitte die goldenen Kinder. Nitish und Chunni Nath stehen Seite an Seite. Sie sind in identische Sherwanis mit Goldbrokat gekleidet. Ihre Gesichter sind glatt und babyfett und offener und unschuldiger, als sie es sein sollten. Das Haar von Chunni reicht ihr bis zur Taille. Nitish ist rasiert, seine Kopfhaut glänzt von Glimmerstaub. Shiv findet, dass er dadurch wie ein Krebskind aussieht. Sie lächeln. Jetzt kann er sehen, wo es sich verbirgt. In dem alten, alten Lächeln. Nitish winkt ihm zu.

»Mr. Faraji.« Die Stimme von Nitish Nath ist hoch und rein und schneidet durch den Mix. »Und der Junge ist?«

»Mein persönlicher Assistent.«

»Ich verstehe.«

Shiv spürt Schweißperlen unter seinem Leder. Jedes Wort, jede Nuance, jeder Klang und jede Muskelbewegung wird genau geprüft und gedeutet. Er bemerkt wieder diese Geruchsnote. Er weiß nicht, ob es wirklich oder eingebildet ist, aber immer wenn er mit Brahmanen zusammen ist, kann er die Falschheit riechen, die verkorksten Gene. Sie riechen nicht menschlich.

»Und die ... Frau?«

»Niemand. Habe ich gerade erst kennengelernt. Sie ist nichts.«

»Gut. Kommen Sie bitte mit.«

Es gibt eine Ebene über allen anderen, ein winziger Käfig aus Baustahlmatten, der am Hauptkran hängt. Shiv, Yogendra und Nitish Nath passen genau hinein wie die Fruchtsegmente in eine Orangenschale. All das Geplapper, die Echos, das Geschiebe der Körper, die still auf ihren gestaffelten Rampen tanzen, verstummt so plötzlich, dass Shiv ihre Abwesenheit als scharfen Schmerz empfindet.

»Dieser Bereich hat ein Stummfeld,« sagt Nitish Nath. Seine Stimme ist verflacht, für Shiv klingt sie, als würde er direkt an seinem Trommelfell sprechen. »Schlau, was? Sehr nützlich für heikle Geschäfte. Mit Ihrer bisherigen Leistung sind wir zufrieden, Mr. Faraji. Ihr geschäftsmäßiges Ethos ist erfrischend. Ihnen wurde angedeutet, dass es weitere Aufträge geben wird, wenn wir von Ihren Fähigkeiten überzeugt sind. Wir möchten Ihnen einen neuen Vertrag anbieten. Eine gefährliche Angelegenheit. Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass Sie getötet werden. Als Gegenleistung werden wir Ihre Schulden bei den Dawoods abschreiben. Deren Maschinen werden Ihnen keinen Besuch mehr abstatten. Und wir werden genug drauflegen, damit Sie in dieser oder in jeder anderen Stadt ein gutes Leben führen können.«

»Was ist das für ein Job?«

»Eine Beschaffung, Mr. Faraji. Hier ist der Hintergrund. Das alles wird kaum Sinn für Sie ergeben, aber niemand soll sagen, Sie seien nicht vollständig informiert worden. Seit geraumer Zeit hat die Regierung der Vereinigten Staaten Lohnaufträge für geheimdienstliche Computerarbeiten vergeben, die sie unter den Bestimmungen ihrer Hamilton-Gesetze nicht selbst ausführen können. Sie benutzen routinemäßig Datenoasen in Ländern, die das internationale Abkommen nicht unterzeichnet und Zugang zu höherer künstlicher Intelligenz haben. Wissen Sie, was Generation Zwei Komma Fünf bedeutet?«

»Ein Computer, den man in fünfundsiebzig Prozent aller Fälle nicht von einem Menschen unterscheiden kann.«

»Eine gute Zusammenfassung. Alles, was über Zwei Komma Fünf hinausgeht, ist gesetzlich verboten. Alles darunter muss lizensiert werden. Bharat ist kein Unterzeichnerstaat, aber das Land setzt aus eigener Initiative eine Lizensierung von allem bis zu Zwei Komma Sieben Fünf durch. Das dient dem Schutz der vorherrschenden Position im Medienmarkt, nicht zuletzt durch Stadt und Land. Unser Kunde hat in Erfahrung gebracht, dass ein Bharati-Sundarban eine Dekodierung für die Vereinigten Staaten vornimmt — die NASA, das Pentagon und die CIA sind beteiligt, was ungewöhnlich ist, uns aber einen Hinweis auf die Wichtigkeit der Dekodierungsarbeit gibt. Unser Kunde will diesen Dekodierungsschlüssel.«

»Was genau soll ich machen?« Das Stummfeld lässt Shivs Backenzähne schmerzen.

Nitish Nath klatscht in die kleinen pummeligen Hände. »Sehr professionell! Die Mission besteht aus zwei Teilen. Punkt eins: Finden Sie heraus, welcher Sundarban die Dekodierung vornimmt. Punkt zwei: Infiltrieren Sie ihn und stehlen Sie den Schlüssel. Wir wissen, dass dieser Mann vor drei Wochen in Bharat angekommen ist.« Nitish Nath hält eine Hand hoch. Er trägt einen Palmer-Handschuh. Er zeigt Shiv einen Videoclip mit einem bärtigen Westler in der schlabbrigen Kleidung, die diese Leute meistens tragen und die ihnen nie passt. Er wurde dabei aufgenommen, wie er aus einem Phatphat aussteigt, nach rechts und links den Verkehr überblickt und sich dann durch die Menge zu einer Bar in Kashi schiebt. Der Clip beginnt wieder von vorn. »Sein Name ist Hayman Dane, er ist Amerikaner, ein freiberuflicher Krypto-Spezialist.«

Shiv betrachtet den dicken Mann genau. »Ich glaube, ihm stehen große Schmerzen bevor.«

Nitish Nath kichert. Es ist ein Geräusch, das Shiv nicht noch einmal hören möchte. »Wenn Sie wissen, wo er sich aufhält, und einen Plan haben, wie die Beschaffung arrangiert werden soll, wird unser Kunde für Ihre Ausgaben aufkommen, zusätzlich zu Ihrer großzügigen Vergütung. Können wir jetzt von hier verschwinden? Allmählich ekle ich mich vor Ihrem Körpergeruch.«

Das Stummfeld zerplatzt. Construxx August 2047 implodiert um Shiv herum. Es fühlt sich frisch an, geschmeidig, atmend, sauber. Shiv folgt Nitish Nath die steile Treppe hinunter in die VIP-Zone.

»Habe ich freie Hand?«

»Ja. Nichts wird sich zu uns oder zu unserem Kunden zurückverfolgen lassen. Wir brauchen jetzt Ihre Entscheidung.«

Seine Entscheidung ist längst getroffen. »Ich werde es machen.«

»Gut gut gut!« Nitish Nath bleibt am Fuß der Treppe stehen, um seine kleine glatte Hand in die von Shiv zu stoßen. Shiv unterdrückt seinen Rückzugsreflex. Für ihn fühlt sich die Hand tot an. Er sieht, wie sich eine Frauenleiche aus schwarzem Plastik in den schwarzen Fluss ergießt. »Chunni! Mister Faraji macht mit!«

Chunni Nath ist weniger als halb so groß wie Shiv, aber wenn sie zu seinen Augen aufblickt, kribbeln seine Eier vor Angst. Ihre Pupillen sind wie Kugeln aus Blei.

»Sie machen mit. Gut.« Sie zieht die Worte wie einen Faden in die Länge. »Aber sind Sie auch einer von uns, Mr. Faraji?« Ihr Bruder lächelt.

»Es tut mir leid, Ms. Nath, was meinen Sie damit?«

»Wir meinen, dass Sie sich mit kleinen Sachen bewährt haben, aber das kann jeder Straßen-Gunda.«

»Ich bin nicht irgendein Straßen-Gunda.« Unten im Tanzschacht flackert es blau.

»Dann demonstrieren Sie es, Mr. Faraji.« Sie blickt sich zu ihrem Bruder um. Shiv spürt Yogendras Hand auf seinem Ärmel. »Das Mädchen, mit dem Sie reingekommen sind, das Sie hier hochgebracht haben. Ich glaube, Sie sagten, dass Sie es in der Bar kennengelernt haben.«

»Sie ist nur irgendjemand, dem ich begegnet bin. Sie wollte die VIP-Ebene sehen.«

»Sie ist nichts, das waren Ihre Worte.«

»Ja, das habe ich gesagt.«

»Gut. Bitte werfen Sie sie über das Geländer.«

Shiv will lachen — ein lautes hustendes Bellen von einem Lachen, das die Größe und Form dieses Untergrundsaals hat, über Verrücktheiten, die man unmöglich aussprechen kann.

»Vieles ist Ihnen anvertraut worden, Mr. Faraji. Das Mindeste, was wir verlangen können, ist ein Beweis Ihrer Vertrauenswürdigkeit.«

Das Lachen erstirbt in seinen Lungen. Die Rampe ist hoch und kalt und furchtbar zerbrechlich über dem riesigen Abgrund. Die Lichter sehen aus wie Epilepsie.

»Sie machen Witze. Sie sind verrückt. Das Mädchen sagte, dass Sie verrückte Arschlöcher sind, dass Sie gern Sachen machen, verrückte Spiele.«

»Umso mehr ein Grund. Wir dulden keine Beleidigungen, Mr. Faraji. Für uns ist das genauso ein Test wie für Sie. Glauben Sie uns, wenn wir sagen, dass Sie hier so etwas tun können und niemand Sie behelligen wird?«

Es wäre einfach. Sie steht am Geländer, blickt zu ihm und den Steinreichen auf der Rampe herüber. Sie hat sich mit Kunda Khadars entspannt. Ein Fußhaken, ein Stoß, das Metallgeländer als Angelpunkt würde sie hinüberhebeln. Aber er kann es nicht. Er verkauft Teile, er ist ein Händler, ein Metzger, er kann Leichen in Flüssen entsorgen, aber er ist kein Killer. Und jetzt ist er tot. Er könnte genauso gut auf das Geländer steigen, die Arme ausstrecken und sich fallen lassen.

Shiv schüttelt den Kopf. Er will es ihnen sagen, aber Yogendra ist schneller. Juhi lächelt, runzelt die Stirn, öffnet den Mund zu einem Schrei, alles in dem kurzen Moment, den Yogendra braucht, um sie zu rammen. Er ist ein schlaksiger Welpe, aber er hat Schwungkraft. Das Glas fliegt durch die Luft und versprüht einen Nebel aus blutrotem Wodka. Juhi taumelt zurück. Yogendra senkt den Kopf und versetzt ihr einen Stoß ins Gesicht. Ihre Hände fliegen hoch. Sie verliert das Gleichgewicht. Sie kippt rückwärts über das Geländer. Ihre Gavialstiefel strampeln, ihre Federn flattern, ihre Arme rudern. Sie fällt durch das zuckende Licht und die stillen Tänzer. Der kurze Schrei, das eindringliche Knacken, als sie gegen den Rand der unteren Rampe kracht, hallen im Betonbrunnen der Construxx-Baustelle August 2047 wider. Sie prallt auf. Sie wird herumgewirbelt, ein fremdes, deformiertes, zerbrochenes Ding. Shiv hofft, dass der Aufschlag sie getötet hat. Er hofft, dass ihr Rückgrat schnell und sauber gebrochen ist. Alle hören den weichen, splitternden, dumpfen Aufprall, als sie den Grund des Schachts erreicht. Es hat sehr viel länger gedauert, als Shiv sich vorgestellt hatte. Als er über das Geländer späht, sieht er, wie die Türsteher angerannt kommen. Sie können nichts mehr tun, nur noch in ihre Kragen sprechen. Sie blicken entlang der Lichtstrahlen hinauf direkt zu ihm. Das Gekreische von unten beginnt. Construxx August 2047 ist ein Zylinder aus panischen Schreien.

Sie ist für eine Nacht ausgegangen. Das war alles. Drinks. Tanzen. Ein Flirt. Ein bisschen Prominenz. Spaß. Etwas, das man den Mädchen am nächsten Tag erzählen kann.

Das leere Glas dreht sich noch auf dem Boden.

Nitish und Chunni Nath schauen sich an.

Er ist kein Killer. Er ist kein Killer.

Ein russisches Mädchen gibt ihm eine dicke Plastik-Brieftasche. Er kann die zusammengeknüllten Geldscheine durch das rauchbraune Vinyl sehen. Es scheint vor ihm zu schweben, er kann nicht verstehen, was es ist. Er kann Yogendra am Geländer sehen, in sich zusammengezogen, bleich wie Knochen. Er kann nicht verstehen, was es ist.

Sie ist für eine Nacht ausgegangen. Eine Leiche, in dunkles Wasser hineingleitend. Juhi, die von ihm fort in die Tiefe fällt, mit rudernden Händen und Füßen.

»Übrigens.« Jetzt redet Nitish. Seine Stimme hat noch nie so tot und flach geklungen, nicht einmal im Stummfeld. »Falls Sie sich fragen sollten, was die Amerikaner dekodieren. Sie haben etwas im All gefunden und haben keine Ahnung, was es ist.«

Art Empire Industry, flüstert das rote Graffiti.

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