Erkannte und unerkannte Gefahren

Hammer und Wilde schliefen schon. Vom Gewitter war kaum etwas zu hören, und in der kleinen Kammer war es warm, trocken und still. Jack lehnte sich an das raue Gemäuer im Rücken und unterdrückte ein Gähnen. Ihm war bewusst, dass er nicht auch noch einschlafen durfte, aber der Tag hatte ihn müde gemacht und die Augen gingen von selbst zu. Wie eine schwere Decke breitete sich die Schläfrigkeit über ihn aus. Die Fackel knisterte leise an der Wand und verströmte warmes goldgelbes Licht. Jack reckte sich und entspannte die müden Muskeln.

Seit er die Grenzfeste betreten hatte, fühlte er sich zum ersten Mal sicher und wohl. Wäre er weniger schläfrig gewesen, hätte er sich gerade darüber Sorgen gemacht. Doch der warnende Gedanke streifte ihn nur flüchtig und störte nicht weiter. Hammer murmelte unverständliche Laute im Schlaf vor sich hin und rutschte auf dem Stuhl ein Stück nach vorn. Wilde atmete geräuschvoll durch den Mund. Jack hatte die Augen geschlossen und das Kinn sank ihm auf die Brust. Alle drei schliefen tief und fest. Und träumten.

Jonathon Hammer lief durch den Wald, das Schwert in der Hand. Laut klatschten die Stiefelsohlen auf dem ausgetrampelten Pfad, und obwohl er völlig außer Atem war und ihm die Beine wehtaten, wollte er sich keine Pause gönnen. Er wusste nicht, wie lange er schon rannte, und ahnte, dass er es nicht mehr weit schaffte. Er sah sich nervös um und zwinkerte den Schweiß aus den Augen. Die hohen Bäume schienen über ihre weiten Wipfel zu einem einzigen grünen Dach aus Licht und Schatten miteinander verwachsen zu sein. Endlich blieb er taumelnd stehen, schnappte nach Luft und lehnte sich erschöpft an einen breiten Stamm. Von einem halben Dutzend Gardisten gejagt zu werden war schlimm genug, aber dass er in voller Montur samt Kettenhemd laufen musste, war der Strafe zu viel.

Er dachte daran, das Kettenhemd auszuziehen und wegzuwerfen, hatte dafür aber keine Zeit. Sein Vorsprung vor den verfluchten Soldaten betrug nur wenige Minuten. Nur gut, dass er sich im Wald auskannte und zu seiner Flucht nur enge, zugewachsene Pfade wählte, sodass man ihm nicht zu Pferde nachstellen konnte. Aber die Verfolger abzuschütteln hatte er nicht vermocht. Sie schienen diesen Teil des Waldes ebenso gut zu kennen wie er selbst.

Hammer schüttelte den Kopf und wartete ungeduldig darauf, wieder zu Atem zu kommen. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht und dehnte die schmerzenden Muskeln aus Angst, einen Krampf zu erleiden, denn der würde ihm jetzt das Leben kosten. Obwohl er noch außer Atem war, hielt er einen Moment lang die Luft an, um zu lauschen. Zu hören waren nur die üblichen Laute des Waldes, der Wind in den Zweigen, Vogelgezwitscher, Tiere. Hammer schaute sich um, unschlüssig darüber, was er nun tun sollte.

Zuerst hatte alles denkbar einfach ausgesehen. Als die Kommandanten der Grenzpatrouille, die anfangs noch sehr gewissenhaft ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen waren, allmählich nachlässiger wurden, sah Hammer die Zeit gekommen, an seinen eigenen Vorteil zu denken. Und so rief er eine kleine Pokerrunde ins Leben, die sich auch recht gut anließ. Doch dann warf ihm dieser fette Dummkopf namens Norris vor, ein Falschspieler zu sein. Und ohne dass ihm bewusst war, was er da eigentlich tat, zog Hammer sein Schwert und streckte Norris nieder. Daraufhin musste er Reißaus nehmen. Hätte er doch bis zur nächsten Nachtschicht gewartet und dem Miststück in aller Heimlichkeit ein Messer in den Rücken gerammt. Jetzt war er wieder einmal gezwungen, seinen Namen zu wechseln. Nur gut, dass er sich als Söldner einfach nur Hammer genannt hatte.

Hammer war seit eh und je überzeugt davon, dass ihm eine große Zukunft bevorstand. Er hatte sich schon immer für etwas Besonderes gehalten und wähnte sich anderen weit überlegen. Auf der Suche nach seiner wahren Bestimmung hatte er schon alles Mögliche ausprobiert, sich aber nur als Soldat auszeichnen können - zuerst als Söldner, dann als Feldwebel und schließlich als Gardist. Gegen wen er ins Feld zog und warum, war ihm einerlei, Hauptsache, der Sold stimmte. Er stählte seine Kampfkraft auf dem Exerzierplatz und in der Schlacht und wartete auf die große Chance, unter Beweis stellen zu können, wofür er sich prädestiniert fühlte, nämlich ein Befehlshaber zu sein. In ihm steckte Großes. Das konnte er spüren. Es bedurfte nur einer geeigneten Gelegenheit, dies auch zu zeigen.

Aber einstweilen galt es, die eigene Haut zu retten. Er wüsste selbst nicht genau, warum, aber seit dem frühen Morgengrauen waren ihm Gardisten auf den Fersen. Vielleicht hatte er seine Spuren nicht gründlich genug verwischt. Mehr als einmal waren ihm die Verfolger so nahe gekommen, dass er sie in der Ferne schon erkennen konnte, und dann hatte er all seine Schläue und Ortskenntnis aufwenden müssen, um sie wieder abzuschütteln.

Sechs Gardisten, bewaffnet mit Schwertern und Äxten. Er konnte wohl froh sein, dass er es nicht auch noch mit Bogenschützen zu tun hatte.

Plötzlich waren Schritte zu hören. Er blieb stehen, fluchte leise vor sich hin und griff nach dem Schwert. Die Gardisten waren näher als angenommen. Er stieß sich von dem Baum ab, an dem er gelehnt hatte, und hastete weiter, den ausgetretenen Pfad entlang. Er versuchte zu laufen, was ihm aber nicht gelingen wollte, so müde und erschöpft war er. Als echter Kämpfer kannte Hammer seine körperlichen Grenzen und wusste, dass er sie fast erreicht hatte. Er sah sich um, wich vom Pfad ab und tauchte im Dickicht unter. Den Pfad zu verlassen war riskant, aber die einzige Chance, die ihm blieb. Er kam jetzt nur noch sehr langsam voran und musste sich durch dorniges Buschwerk schlagen, wobei ihm zum Glück das Kettenhemd vor größeren Verletzungen schützte. Das Laubdach wurde immer dichter und schwächte das Tageslicht entsprechend ab. Im Halbdunkel blieb Hammer schließlich stehen und lauschte. Von den Verfolgern war kein Laut zu vernehmen. Er hörte nur das eigene Keuchen und das heftige Schlagen des Herzens. Er schluckte und wischte den Schweiß ab, der ihm brennend in die Augen sickerte. Weiter, weiter, trieb er sich an, und als er sich erneut durch Dornen quälte, gab plötzlich der Boden unter ihm nach. Er kippte seitlich weg, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Doch es half nichts. Kreischend stürzte er in die Tiefe.

Nach etlichen Schrecksekunden traf er auf festen Grund und kegelte einen steilen Abhang hinunter, endlos lange wie es schien. Hervorspringende Steine brachten ihm schmerzhafte Prellungen bei, aber er fand im Dunkeln keinen Halt und trudelte immer tiefer. Endlich kam er auf ebenem Höhlengrund zu liegen, wo er eine Weile reglos verharrte, zu Luft zu kommen versuchte und die geschundenen Glieder betastete. Von der Rüstung geschützt, hatte er nur Prellungen erlitten. Winselnd richtete er sich auf und schaute ringsum.

Er befand sich in einer Höhle, die an die hundert Schritt breit war und - wer weiß von welchen Menschen oder Riesen - vor zahllosen Jahrhunderten in den schieren Fels getrieben worden zu sein schien. An den Wänden funkelten Hunderte kleiner Kristalle. Sie verbreiteten ein matt silbriges Licht wie Mondschein. Vom Boden ragten gewaltige Stalagmiten, und nicht weniger groß waren die Tropfsteine, die von der hohen Decke herabhingen. Durch die Höhle floss lautlos ein Bach dunklen, abweisenden Wassers. Hammer stand auf und staunte nicht schlecht darüber, dass er immer noch sein Schwert in der Hand gepackt hielt. Seine Instinkte waren also offenbar intakt geblieben. Wankend näherte er sich dem Bach und ließ sich kraftlos am Ufer nieder. Jetzt, da er sich von seinem Schrecken erholt hatte, schmerzten die Knochen umso mehr. Er tauchte die Hand ins eiskalte Wasser und spritzte ein paar Tropfen ins Gesicht. Die Erfrischung tat ihm gut, ließ ihn wieder klar denken und beruhigte die Nerven. Doch als er schließlich aufstand und sich umsah, verließ ihn der Mut schon wieder.

Der Abhang war unmöglich zu erklimmen - viel zu steil und bröckelig. Wahrscheinlich hatte zwar der Bach einen Zu- und Ablauf, die aber lagen unauffindbar im Verborgenen. Hammer starrte ins Dunkle, und als sich seine Augen endlich an das schüttere Licht gewöhnt hatten, entdeckte er eine große, gut drei Meter hohe und fast einen Schritt breite Spalte in der Höhlenwand. Er ging darauf zu, blieb aber bald wieder stehen, als ihm ein helles Funkeln ins Auge stach. Das Schwert gepackt, rückte er langsam weiter vor. Die Werkzeugspuren an den Wänden ließen auf ein sehr hohes Alter schließen. Trotzdem, es war nicht auszuschließen, dass die Nachfahren der Erbauer immer noch hier wohnten, bewaffnet womöglich…

Das helle Funkeln ging, wie Hammer im Näher kommen erkannte, auf eine lange silberne Scheide zurück, die neben der Spalte auf dem Boden lag. Er schaute sich argwöhnisch um und spitzte die Ohren. Doch von dem Besitzer des Schwertes war nichts zu hören, geschweige denn zu sehen. Hammer kniete sich hin und musterte das Fundstück, nur mit Blicken. Schwert und Scheide waren gut zwei Schritt lang, und den Maßen der Scheide nach zu urteilen, schien die Klinge, die in ihr steckte, ungewöhnlich breit zu sein. Die Scheide selbst bestand aus purem Silber, in dessen Oberfläche altertümliche Schriftzeichen tief eingraviert waren. Hammer wusste sie nicht zu entschlüsseln, ahnte aber, dass es damit eine verstörende Bewandtnis hatte. Wenn er sie nicht gezielt in Augenschein nahm, schienen die Runen in Bewegung zu geraten.

Hammer schluckte und wandte sich einen Moment lang ab. Ihm schwante nun, worauf er hier zufällig gestoßen war.

Vor langer, langer Zeit - noch jenseits der Schwelle zwischen Mythos und Geschichtsschreibung - hatte es die so genannten Infernaleisen gegeben: sechs Schwerter von großer Gewalt. Wer sie geschmiedet hatte oder zu welchem Zweck, war unbekannt. Man wusste nur, dass sie nichts Gutes an sich hatten und für die Welt und alle, die darin lebten, eine große Gefahr darstellten. Drei dieser Schwerter verschwanden auf Nimmerwiedersehen.

Die drei restlichen hießen Steinbrecher, Blitzstrahl und Wolfsfluch. Die Hagkönige hielten die Schwerter in der Waffenkammer der Burg unter Verschluss und gelobten, sie niemals zum Einsatz zu bringen. Dieses Versprechen wurde auch jahrhundertelang gehalten, bis sich dann König John, während des Dämonenkriegs in arge Bedrängnis geraten, gezwungen sah, sie ein letztes Mal hervorzuholen. Ein Schwert, der Steinbrecher, wurde zerstört; die beiden anderen gingen in einer Felsspalte verloren.

Und nun hatte Jonathon Hammer eines dieser Infernaleisen wiedergefunden.

Bewundert starrte er auf die lange Waffe. In die Parierstange war sein Name eingeprägt: Wolfsfluch. Da lag eine ungeheuerliche Kraft, die nur darauf wartete, in die Hand genommen und angewendet zu werden. Die Infernaleisen waren, wie viele Sachverständige meinten, belebt und in der Lage, Verstand und Seele derer in Beschlag zu nehmen, die von ihnen Gebrauch machten. Aber Hammer mochte an diese Geschichte nicht glauben. Er streckte die Hand aus und berührte den mit Leder umwickelten Griff. Und dann kam ihm der Gedanke, dass es womöglich seine Bestimmung war, dieses Schwert zu finden, dass es ihm die ersehnte große Zukunft erschließen könnte. Mit diesem Infernaleisen würde ihm alles, was er sich je erträumt hatte, wie von selbst zufallen, zumindest das, was ihm am Wichtigsten war: andere Menschen beherrschen zu können. Hammer nahm das Schwert in die linke Hand. Trotz der ungewöhnlichen Größe schien es federleicht zu sein. Er schlang die Waffe um die linke Schulter und gurtete sie fest. Sie war angenehm zu tragen und passte auf den Rücken, als gehörte sie dorthin.

Mit einer kleinen Lawine polternder Steine kamen sechs Gardisten den steilen Hang in die Höhle heruntergerutscht. Hammer wirbelte herum und griff unwillkürlich nach dem an der Hüfte gegürteten Schwert. Sie haben mich erwischt, dachte er in panischem Schrecken, doch dann beruhigte er sich und ließ mit der Hand von seinem Schwert ab. Das brauchte er nicht mehr. Er hatte jetzt etwas Besseres.

Die sechs Soldaten hatten den Fuß des Abhangs erreicht, schauten sich um und hefteten dann ihren Blick auf Hammer. Hämisch grinsend bauten sie sich in einem Halbkreis vor ihm auf. Matt schimmerte das fahle Höhlenlicht auf ihren Schwertern. Worte waren überflüssig. Es gab auf beiden Seiten nichts zu sagen. Hammer hatte einen Mann aus den eigenen Reihen getötet. Er war als Mörder überführt und geächtet. Und weil er Schande über seine Einheit gebracht hatte, war es für seine Kameraden eine Sache der Ehre, ihn zur Strecke zu bringen. Sie würden nicht eher ruhen, bis er tot wäre; das wusste Hammer, doch er fürchtete ihre Wut nicht mehr. Ihm konnte nun keiner mehr etwas anhaben. Als seine Jäger entschlossen näher rückten, trat Hammer ihnen lächelnd entgegen. Er wartete bis zum letzten Augenblick. Dann hob er die rechte Hand und zog den Wolfsfluch blank.

Das Schwert sauste aus der Scheide und glühte über seine gesamte Länge bittergelb. Die Soldaten zuckten vor Schreck zusammen. Auch ohne um die Bedeutung des Schwertes zu wissen, schwante ihnen, dass sich etwas in der Höhle aufhielt, das vorher nicht hier gewesen war, etwas, das erwacht war, obwohl es besser bis in alle Ewigkeit geschlafen hätte. Etwas, das Hunger hatte und dessen Hunger Ausdruck fand in der Art, wie Hammer kicherte. Er trat mit erhobenem Schwert einen Schritt vor, worauf seine Kontrahenten unwillkürlich Kampfhaltung annahmen. Sie waren zu sechst und schwer bewaffnet und standen einem einzigen Mann gegenüber, der als Verräter und Feigling bekannt war. Sie hoben ihre Schwerter und der Kampf begann.

Hammer streckte den ersten Gegner mit einem Schlag von der Seite nieder und enthauptete den zweiten, noch ehe der Erste zu Boden gegangen war. Der kopflose Körper torkelte noch ein paar Schritte weiter, bevor er in sich zusammensackte. Blut schwemmte über den Höhlengrund. Zwei Soldaten sprangen nun gleichzeitig auf Hammer zu, die Schwertspitzen auf dessen Herz gerichtet. Der Wolfsfluch zuckte in Hammers Händen und er parierte beide Stöße mit einer Lässigkeit, die fast verächtlich wirkte. Und wieder ließ er die Klinge auf- und niederfahren, so schnell, dass ihr kein Auge zu folgen vermochte. Einer der beiden Gegner versuchte den Hieb mit erhobener Waffe abzuwehren, doch der Wolfsfluch schlug sie entzwei, traf auf den Kopf des Gardisten und spaltete den Schädel bis zum Unterkiefer. Hammer zog das Langschwert frei und fuhr herum, um sich den drei restlichen Soldaten zu stellen. Die standen wie versteinert da, entsetzt über das plötzliche Ableben der Gefährten. Aber sie hatten sich schnell wieder gefangen und fielen wie auf Kommando alle auf einmal über Hammer her. Der kränklich gelbe Schimmer auf der Klinge glimmte hell auf, als sie durch Fleisch, Knochen und Eisen fuhr und auch die letzten drei Gardisten mit einem Streich zur Strecke brachte.

Hammer stand über den Gefallenen und rührte keine Miene, als er sah, wie die Leichen innerhalb weniger Sekunden verwesten und zu Staub vergingen, sodass bald nur noch einzelne Stücke frostiger Rüstung und übler Fäulnisgestank übrig blieben. Hammer versuchte zu schlucken, doch sein Mund war trocken. Wolfsfluch, Fluch, der zu Tod und Verderbnis führt. Hammer erinnerte sich - genau das hatte dieses Schwert auch schon im Dämonenkrieg unter Beweis gestellt, als es die Horden des Feindes niedergemäht und bei diesem Gemetzel kaum Spuren zurückgelassen hatte. Hammer betrachtete die Waffe. Das Heft lag unangenehm warm in der Hand und der eklig gelbe Glanz auf der Klinge rief Übelkeit hervor. Er glaubte deutlich spüren zu können, dass das Schwert ein Eigenleben hatte und hungrig war. Und als er auf die Waffenhand blickte, spürte er, wie sich ein Schrei in der Kehle Bahn zu brechen versuchte.

Die Hand war in Verwesung übergegangen. Dunkle Flecken breiteten sich auf der Haut aus, die bald auseinander platzte und feuchtes Fleisch entblößte, in dem es vor Maden nur so wimmelte. Und das Fleisch wurde schwarz, zerfaserte und ließ farblose Knochen zum Vorschein treten. Hammer schüttelte den Kopf und traute den Augen nicht, als er sah, wie die Verwesung auch auf den Arm übergriff.

Nein! Das kann nicht sein!

Vergeblich versuchte Hammer, das Infernaleisen von sich zu werfen, doch die zu einer Klaue gekrümmte Hand hielt starr daran fest und ließ sich nicht öffnen. Hammer wankte auf den Wasserlauf zu und folgte damit dem spontanen, irren Einfall, den Fluch womöglich von sich abwaschen zu können. Am Ufer angelangt, starrte er auf sein Spiegelbild: einen verwesenden Leichnam mit einem Schwert in der Hand, das wie die Sonne leuchtete. Ein Gesicht war nicht mehr zu erkennen, nur das höhnische Grinsen schimmernder Zähne. Bis dann die Kinnlade herunterfiel und ein entfesselter Schrei durch die Höhle gellte.

Sie haben mich immer noch im Auge. Sie sind ganz aus dem Häuschen, anscheinend aber auch verlegen, wie jemand, der sich dabei ertappt fühlt, dass er eine Missgeburt angafft. Tja, ich bin für sie wohl auch so eine Sensation, ein echter Held, zum Anfassen sozusagen, einer, an dem rein alles besonders interessant ist: wie er geht, was er sagt; erstaunlich vor allem auch, dass er sich ganz und gar wie ein menschliches Wesen verhält.

Sieh nur, wie geschickt er mit Bogen und Pfeil umzugehen versteht, wie er immer wieder ins Schwarze trifft. Das langweilt ihn anscheinend, aber stell dir einfach vor, du könntest Begeisterung in seinen Augen entdecken. Komm und sieh dir diesen Helden an, geh aber nicht zu nahe ran. Denn er ist kein gewöhnlicher Sterblicher, sondern im Grunde auch eine Art von Missgeburt, eine wie diejenigen, die auf Jahrmärkten zur Schau gestellt werden.

Edmond Wilde füllte seinen Humpen und trank von dem dickflüssigen, gezuckerten Wein, der für seinen Geschmack viel zu süß war. Immerhin war er stark, und darauf kam es an. Er sah sich um und nahm grinsend Notiz davon, dass alle schnell wegschauten, um seinem Blick nicht zu begegnen. Bauernpack. Dumme Bauern in dreckigen Lumpen, die aus ihren schäbigen kleinen Ortschaften hierher auf den Jahrmarkt gekommen waren, um ein bisschen Licht und Farbe in ihr erbärmliches, trostloses Leben zu bringen. Jene Art von Leben, dem er entflohen war, als er sich den Gardisten angeschlossen hatte…

Der Jahrmarkt wirkte wie immer - mit seinen Buden und windschiefen Zelten, den zweitklassigen Jongleuren und Akrobaten, mit angeblich wilden Tieren, die einem aber aus der Hand fraßen, und Glücksspielen mit lächerlich auffällig gezinkten Würfeln. Und natürlich mit einem Missgeburtenkabinett, das aus Rücksicht vor sensibleren Naturen abseits lag: Ein kleines Zelt, in dem ein Kalb mit zwei Köpfen, eine geflügelte Eidechse in einem Glasbehälter und ein wilder Mann ausgestellt waren, der in einem Käfig saß und lebenden Hühnern den Kopf abbiss. Außerdem gab es noch eine Tanzbühne; darauf hopsten leicht geschürzte Frauen mit breitem Lächeln und gefärbten Haaren herum, die auch noch gegen entsprechende Gage für andere Formen der Unterhaltung zu gewinnen waren.

Alle Freuden eines Jahrmarktes.

Darüber hinaus wurde ein Wettschießen veranstaltet. Deshalb war auch Edmond Wilde, der Meisterschütze, zugegen. Kommt und seht den Mann, der in der letzten großen Schlacht des Dämonenkriegs an der Seite des Königs kämpfte. Seht den Mann, der als einer von wenigen überlebt hat und schon allein darum ein Held ist.

Kommt und messt euch mit diesem Meisterschützen. Fünfzig Golddukaten für den, der ihn besiegt! Wilde grinste säuerlich. Er war noch unbesiegt und würde sich auch niemals übertreffen lassen. Denn er war der Beste.

Wilde nahm noch einen Schluck aus dem Humpen und wischte sich den Mund mit dem Ärmel. Einen besseren Bogenschützen gab es nicht, und er bestritt seinen Lebensunterhalt damit, dass er von Jahrmarkt zu Jahrmarkt reiste und mit Dorfdeppen um die Wette schoss. Held zu sein war schön und gut, aber vom Ruhm allein ließ sich nicht leben. Nach Ende des Dämonenkriegs war er immer noch da, wo er als einfacher Soldat angefangen hatte; er wohnte in einer Kaserne und bezog einen spärlichen Sold. Das war ihm zu wenig. Er hatte mehr verdient. Also verließ er die Gardisten und zog auf eigene Faust los, was ihm aber nicht sonderlich gut bekam. Er hatte nichts gelernt außer Bogenschießen und Kämpfen mit dem Schwert. Der Geschäftssinn ging ihm völlig ab, und weil er anfangs in jedes Gasthaus einkehrte, das auf seinem Weg lag, waren seine Ersparnisse aufgezehrt, ehe er sichs versah.

Und dann fand ihn der Rummel. Der brauchte so dringend eine Hauptattraktion wie er einen Job. Besser als gar nichts, dachte sich Wilde, und er zog von Dorf zu Dorf, hatte bald den Überblick über all seine Reisen verloren und wusste auch nicht mehr, wie viele Tage, Wochen und Monate er nun schon unterwegs war. Er spannte auf Verlangen seinen Bogen und empfand nach wie vor Genugtuung an dem präzisen Zusammenspiel von Bogen, Pfeil und Ziel, einem Zusammenspiel, in dem er als Schütze nur teilnahm. Ihm war zwar in all dieser Zeit bewusst, dass er sein Talent verschleuderte, doch er hatte keine bessere Alternative vor Augen. Und so fing er zu trinken an, egal welchen Wein; er war nicht wählerisch - auch was die Frauen betraf. Überall, wo er hinkam, traf er auf Bewunderinnen, die von seinem Namen und seinem Ruf beeindruckt und so naiv waren, dass sie sein verächtliches Grinsen nicht zur Kenntnis nahmen. Er war sich selbst überdrüssig und lehnte alle ab, die ihn wertschätzten. Und so wurden aus Wochen Monate und aus Monaten Jahre. Wilde spürte, dass er sein Leben verschwendete, konnte sich aber nicht dazu aufraffen, Abhilfe zu schaffen. Es gab ja immer noch eine andere Ortschaft, anderen Wein und andere Frauen.

Wilde machte sich daran, den geleerten Humpen neu zu füllen, und krauste die Stirn, als er sah, dass auch die Flasche leer war. Bis zum Wettschießen blieb noch eine gute Stunde - und er langweilte sich. Außerdem war er es leid, begafft zu werden. Er stellte Flasche und Humpen ab, schulterte den Bogen und schlenderte ziellos über den Jahrmarkt. Die vielen Händler und Schausteller übertönten einander in der Anpreisung ihrer Angebote. Noch lauter war jedoch die Besuchermenge. Frauen juchzten vor Begeisterung oder zeterten im Streit um bestimmte Sonderposten. Kinder rannten kreischend und staunend umeinander und bettelten um Dinge, die sich ihre Eltern nicht leisten konnten. Bierstände machten gute Geschäfte, Scherenschleifer und Kesselflicker entließen Funkenschauer in die Luft. Wohin Wilde auch ging, überall teilte sich vor ihm die Menge, um ihn passieren zu lassen. Die meisten bestaunten ihn mit unverhohlener Neugier, aber es gab auch einige, die spürten, dass hinter der gefühllosen Fassade, die er aufsetzte, Verdruss und schiere Wut herrschten.

Er ging weiter, ohne Richtung, ohne Interesse, und es war ihm alles einerlei. Dass er sich bewegte, reichte, um ihn zufrieden zu stellen. Immerhin hatte er so das Gefühl, tätig zu sein. Schließlich gelangte er jenseits der letzten Stände an den Rand des Marktplatzes.

Auf engem Raum drängten sich dort ein paar kleine Zelte und Gerätschaften, die nicht gebraucht wurden. Vor einem der Zelte sah er ein Mädchen. Es trug ein schwarz-rotes Kleid mit tiefem Ausschnitt, das ihm sehr gut stand. Es hatte pechschwarze Haare und hellblaue Augen. Obwohl kaum älter als fünfzehn Jahre, bewegte es sich schon sehr fraulich. Bauernkinder wurden schnell erwachsen. Das verlangten die Umstände, denn wer nicht schnell erwachsen war, wurde es nie. Ein Mädchen in diesem Alter war für gewöhnlich schon verheiratet und dabei, eine eigene Familie zu gründen.

Sie schaute auf den Boden, als Wilde den Blick auf sie richtete, und es entging ihm nicht, dass ein Lächeln über ihr Gesicht huschte und die Augen strahlten. Er wusste solche Zeichen zu deuten und ging langsam auf sie zu.

Einen Ehering schien sie nicht zu tragen, was aber in dieser ärmlichen Region nichts besagte. Jedenfalls hatte Wilde keine Lust, sich auf Ärger mit einem eifersüchtigen Ehemann einzulassen. Aber er war gelangweilt und wütend auf sich und die Welt; und außerdem hatte er eine Stunde Zeit totzuschlagen. Hoffentlich hat sie keine Flöhe, dachte er. Er gesellte sich zu ihr, lächelte sie an, sagte ihr Nettigkeiten, die er so nicht meinte, und am Ende gingen sie ins Zelt hinein. Darin war es kühl und angenehm schummrig. Das Mädchen zauderte nicht lange und gab ihm einen innigen Kuss auf den Mund. Dann wandte sie sich ab und knöpfte das Kleid auf. Wilde legte Bogen, Köcher und Schwert vorsichtig aus der Hand, zog das Hemd aus und warf es achtlos zu Boden. Sie wartete, bis ihm die Hose auf die Knöchel gerutscht war. Plötzlich wirbelte sie herum und stieß ihn zurück. Wilde wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Er sah in ihrer Hand ein Messer aufblitzen, mit dem sie ihm den Geldbeutel vom Gürtel abschnitt. Und schon wandte sie sich dem Zeltausgang zu.

Mit wütendem Gebrüll hechtete er hinter ihr her und bekam sie beim Fußgelenk zu fassen. Sie giftete ihn an. Ihr hübsches Gesicht war vor Wut verzerrt, als sie mit dem freien Fuß auf seine Hand trampelte und sich loszureißen versuchte. Aber Wilde ließ nicht locker, zumal Wut und Trunkenheit die Schmerzen betäubten, die sie seiner Hand beifügte. Er packte nun auch mit der anderen Hand zu und holte sie von den Beinen. Es gelang ihr noch, ihn mit dem Messer zu verletzten, doch sie musste es dann preisgeben, denn er hielt ihr zartes Handgelenk umklammert und zwang sie auf den Rücken. Hämisch grinsend kniete er über ihr. Niemand vergriff sich ungestraft an Edmond Wilde. Sie wehrte sich nach Kräften, fluchte und bespuckte ihn. Er schlug ihr ins Gesicht, und als sie zu schreien anfing, hielt er ihr den Mund zu, worauf sie ihm in die Hand biss.

Die Plane im Zelteinstieg flog auf, und ein Mann stürmte herein, ein Schwert in der Hand. Wilde wälzte sich zur Seite und griff nach seiner Waffe. Das Flittchen hat offenbar einen Zuhälter, dachte er und sprang auf die Beine.

Und noch ehe sich der vermeintliche Zuhälter an die Dunkelheit im Zelt gewöhnen konnte, hatte Wilde sein Schwert gezogen. Er holte aus und stach zu. Die Rippen des Getroffenen konnten der wuchtig auftreffenden Klinge nicht widerstehen; stöhnend sackte er zu Boden. Das Mädchen hastete zum Ausstieg hin, doch Wilde fackelte nicht lange und streckte es nieder.

Als er die beiden Leichen in ihrem Blut verrenkt am Boden liegen sah, verflüchtigte sich auch der Rest an Weinseligkeit, und Wilde war wieder stocknüchtern. Er hob seinen Geldbeutel auf und dachte hektisch darüber nach, was er jetzt tun sollte. Das Mädchen und ihr verhinderter Beschützer waren bestimmt Ortsansässige. Die Dörfler würden ihn als Mörder hängen und seine Version der Geschichte gar nicht erst hören wollen. Er war ein fahrender Artist, ein Außenseiter. Schon waren Laufschritte derjenigen zu hören, die, von den Schreien des Mädchens alarmiert, herbeieilten, um nach dem Rechten zu schauen. Er zog seine Hose hoch und griff nach Bogen und Köcher. Auf dem Weg nach draußen trat er dem toten Mädchen in die Seite. Miststück. Alles nur deine Schuld. Als er den Kopf durch die Zeltöffnung streckte, sah er das halbe Dorf herbei rennen. Schnell zog er den Kopf wieder ein, sprang auf die andere Seite des Zeltes und schnitt sich dort einen Ausstieg in die Plane.

Der Waldrand war nicht allzu weit entfernt. Wenn er sich beeilte, würde er im Unterholz verschwinden können und so den Verfolgern entkommen. Es erhob sich ein Geschrei, als man ihn entdeckte. Er rannte los. Doch schon bald war ihm klar, dass er es nicht schaffen würde. Er war nicht gut in Form, und die Dörfler holten mächtig auf.

Taumelnd machte er Halt und wandte sich seinen Verfolgern zu. Es dauerte eine Weile, bis er den Bogen zur Hand genommen und einen Pfeil auf die Sehne gelegt hatte. An der Spitze der Menge lief ein Soldat. Wilde zögerte. Ich kann doch nicht auf einen Kameraden schießen… Aber er wollte sich auch nicht geschlagen geben.

Und so schoss er den Pfeil ab und traf das Opfer in den Hals. So wuchtig war der Aufprall des Pfeils, dass der Soldat nach hinten umkippte. Die Menge trudelte aus. Um ganz sicher zu gehen, streckte Wilde zwei weitere Verfolger mit seinen Pfeilen nieder; dann drehte er sich um und hastete weiter. Fast hatte er den Waldrand erreicht, als er in ein Loch trat und zu Boden stürzte. Er hörte, wie das Bein brach.

Wieder aufzustehen war ihm unmöglich. Es fiel ihm schon schwer genug, nach Luft zu ringen. Benommen blickte er sich um und sah, dass der Bogen außer Reichweite lag. Und dann waren die Dörfler zur Stelle. Die ihn als Erste erreichten, traten dem Bogenschützen in die Rippen, der so sehr außer Atem war, dass er nicht einmal laut aufschreien konnte. Die Menge umringte und beschimpfte ihn als Vergewaltiger und Mörder, immer und immer wieder, bis die Stimmen in ein hässliches Stakkato übergingen, das Blut gier mitschwingen ließ. Füße traten auf ihn ein, Knüppel fuhren auf ihn nieder, und am Ende hatte er nicht einmal mehr die Kraft zu stöhnen. Da wickelte einer ein Seil auseinander.

Nein…

Lachend und krakeelend schleifte man Wilde vor den nächst besten Baum. Was konnte der Volksfeststimmung zuträglicher sein als eine zünftige Hinrichtung? Das Seil flog über einen hohen Ast. Als Wilde die Schlinge vor seinen Augen baumeln sah, mobilisierte er letzte Kräfte und langte verzweifelt aus - in Richtung der feixenden Gesichter ringsum. Doch es waren genügend Männer da, die ihn in Schach hielten. Man fesselte ihm die Hände auf dem Rücken zusammen. Jemand legte ihm die Schlinge um den Kopf. Das raue Seil schürfte seine Haut auf.

Nein. Das kann nicht wahr sein. Ich bin doch entkommen. Ich hin in den Wald geflohen und führe seitdem ein Lehen als gefürchteter Räuber.

Ein Dutzend Männer hielten das Seil gepackt und hievten ihn langsam in die Höhe, bis seine Füße über dem Gras baumelten. Er zappelte und würgte, und die Menge johlte, sooft er mit den Beinen austrat. Ihm war klar, dass er sterben musste, wogegen er sich plötzlich gar nicht mehr sträubte. Das Leben, das er geführt hatte, war kein großer Verlust. Ein Mal ein Held gewesen zu sein hatte ihm nicht viel genützt. Im Gegenteil: Nach einer kurzen Phase flüchtigen Ruhms war er in ein tiefes Loch aus Langeweile und Leere gestürzt. Der Tod konnte nicht schlimmer sein. Und er hatte ihn ja auch verdient. Seine Glieder wurden schlaff und es umfing ihn Dunkelheit, die er willkommen hieß.

Vogelscheuchen-Jack lag ausgestreckt auf weichem Moos am Rand einer Lichtung. In den goldenen Sonnenstrahlen, die durch die hohen Bäume fielen, schwirrten Schwärme von Insekten. Erde, Bäume, Blätter und Blüten verströmten würzige Düfte. Wie verzaubert beobachtete Jack einen Schmetterling, der wie ein Stück beseelter Launenhaftigkeit durch die Luft trudelte. Aus allen Ecken schallte Vogelgesang von kurzen Schnäpperlauten bis hin zur großartigen Koloratur. Jack reckte sich behaglich. Das Moos war fest und trocken und die Luft an diesem Spätsommertag wohlig warm.

Vogelscheuchen-Jack war zu Hause und rundum zufrieden.

Mit einem Male verstummten die Vögel. Auf einem Ellbogen abgestützt, richtete er sich auf und schaute in die Runde. Die plötzliche Stille deutete auf einen Eindringling hin. Doch obwohl sich das Schweigen in die Länge zog, konnte Jack keine Schritte hören, und alle seine Sinne meldeten ihm, dass sich außer ihm weit und breit kein Mensch im Wald befand. Jack legte die Stirn in Falten. Es war allzu still. Nicht eine einzige Fliege summte und sogar der Schmetterling hatte sich verzogen. Verunsichert stand Jack auf. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Dunkle Wolken schoben sich vor die Sonne; die goldenen Lichtstrahlen verschwanden. Es wurde so kalt, dass Jack zitterte. Der Luftdruck fiel und ließ ein Ungewitter erwarten. Jack sah sich um und suchte nach einer Erklärung für das ängstliche Gefühl, das ihn beschlichen hatte. Auf der Lichtung regte sich nichts, auch nicht zwischen den Bäumen und in den dichter werdenden Schatten. Jack horchte in sich hinein, doch seine Instinkte waren ungewöhnlich taub. Irgendetwas hatte sie außer Kraft gesetzt. Es lag da draußen auf der Lauer, beharrlich, entschlossen. Es beobachtete ihn aus scharfen Augen und wartete. Jack zog sein Messer aus dem Stiefelschaft.

Er schaute in die Höhe und sah, dass am klaren blauen Himmel vorzeitig die Nacht hereinbrach. Die Sonne verlor ihren Glanz, rötete sich und verlosch. Jack wimmerte leise. Es war unmöglich, wider die Natur, dass es so früh Nacht wurde… Über den Wald fiel ein neues Licht, schwer und faulig. Am sternlosen Himmel tauchte der volle Blaumond auf. Jack schüttelte den Kopf und versuchte zu leugnen, was er mit eigenen Augen sehen musste, doch er spürte die Wilde Magie knistern — wie die Luft in Gewittern.

Jack wollte vor Kummer vergehen. Sein Zuhause, der Wald, war plötzlich nicht mehr da; an dessen Stelle breitete sich das Finsterholz aus. Das Leben, das er kannte, schien ein für allemal verloren zu sein, und er war nunmehr nichts weiter als ein Mann namens Jack, verfemt und ohne Obdach. Er schluckte und wehrte sich gegen einen Anfall von Panik, der ihn zu übermannen drohte. Er griff nach seinem Messer und suchte Trost in dem vertrauten Gefühl, das Heft in der Hand zu halten. Der Wald war zwar tot und verschwunden, würde sich aber immerhin noch rächen lassen. Er, Vogelscheuchen-Jack, ließ sich nicht ungestraft nehmen, was ihm gehörte.

Er wandte sich vom Blaumond ab. Die Lichtung wirkte plötzlich dunkel und bedrohlich. Hier konnte er nicht bleiben, um das zu tun, was er nun vorhatte; er würde auf dem offenen Gelände im Notfall keine Deckung finden. Als er sich aber in Richtung der Bäume in Bewegung zu setzen versuchte, kam er nicht von der Stelle. Er blickte an sich herab und sah, dass das hoch aufgeschossene Gras seine Fußgelenke fest umschlungen hielt. Jack zerrte mit aller Kraft an den Fesseln, doch das Gras war nicht zu zerreißen. Erst als er mit dem scharfen Messer daran ging, gelang es ihm, die zähen, widerspenstigen Halme einzeln zu kappen. Wieder stieg Panik in ihm auf und es fiel ihm immer schwerer, sie zurückzudrängen. Endlich wieder frei, rannte er los. Das Gras ringsum wuchs immer schneller; es schoss geradezu aus dem Boden und wogte hin und her, obwohl sich kein Lüftchen rührte. Die längeren Halme langten aus, als gierten sie nach seinen Beinen. Dann sah er die Bäume vor sich aufragen und fasste neuen Mut.

Zwischen den Bäumen würde er wieder in Sicherheit sein, so hoffte er jedenfalls.

Über der Lichtung flimmerte die Luft im schaurigen Schein des Blaumonds; im Finsterholz dagegen stammte das einzige Licht von den phosphoreszierenden Flechten an den Bäumen. Jack blieb stehen und suchte mit Hilfe seines Spürsinns nach Orientierung. Aber der Wald schwieg still. Als er sich an den Stamm des nächsten Baumes lehnte, gab die Rinde unter seinem Gewicht nach. Erschrocken trat er von dem Baum weg und stellte fest, dass der Stamm morsch und von innen heraus verfault war. Überall lag Fäulnisgeruch in der Luft, schwer und erstickend. Die Äste der Bäume verdrehten und wanden sich plötzlich. Ehe Jack sich darauf einstellen konnte, hatten sich ihm hinterrücks Zweige um die Brust geschlungen. So fest drückten sie zu, dass er kaum noch Luft bekam. Jetzt half auch das Messer nicht; er fand keine Stelle, an der er es ansetzen konnte, ohne sich selbst zu verletzen. Die Zweige hoben ihn vom Boden auf, hoch in die stinkende Luft. Ohnmächtig strampelte er mit den Beinen, als er den Boden unter den Füßen verlor.

Nein. Das kann so nicht sein.

Jack gab alle Gegenwehr auf und konzentrierte sich auf diesen Gedanken. Das Finsterholz war zerstört, der Blaumond längst verschwunden. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Ausgeschlossen, dass sie wieder zurückgekehrt waren. Jack versuchte, nur an dieser einfachen Gewissheit festzuhalten und alle anderen Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Da ließen die Zweige plötzlich von ihm ab. Er fiel zu Boden, steckte sein Messer zurück in den Stiefelschaft und richtete sich auf. Er brauchte es nicht mehr. Umstrahlt von hellem Sonnenlicht, das die Dunkelheit vertrieb, kehrte er zur Lichtung zurück. Aus finsterer Ferne tönte wütendes Geschrei. Jack blieb davon unbeeindruckt und achtete nicht weiter darauf. Er war Vogelscheuchen-Jack und besaß die Kraft der Bäume. Er war Teil des Waldes, sein Hüter und Mittelsmann; eine Zerstörung des Waldes würde er nicht zulassen.

Die toten und modernden Bäume rührten sich knarrend, konnten ihm aber mit ihren peitschenden Zweigen nichts anhaben, denn er war geschützt von dem Lichtkegel, der ihn begleitete. Jack trat in die Lichtung hinaus und wartete. Der Blaumond starrte herab, doch sein Licht verfehlte ihn. Die Wilde Magie verpuffte wirkungslos. Jack blickte zum Nachthimmel auf. Es müssten Sterne zu sehen sein. Und nun kam ein Stern nach dem anderen zum Vorschein, matt und unscheinbar zunächst, doch allmählich gewannen sie an Leuchtkraft und überstrahlten den Blaumond. Plötzlich wurde ein Flattern laut; eine Eule senkte sich mit ausgestreckten Krallen aus der Dunkelheit. Jack zuckte nicht mit der Wimper, und die Eule drehte bei, verschreckt vom Flutlicht der Sonne. Das Flügelgeflatter schwoll an, als Hunderte von Vögeln jeglicher Art aus der Nacht herbeischwärmten. Alles Waldgetier, Groß und Klein, trat fauchend und zischelnd auf den Plan, doch Jack hielt zuversichtlich stand. Er war gegen alle Angriffe gefeit.

Vögel und Tiere zogen wieder ab. Der Blaumond erblasste und verschwand. Der Tag verdrängte die Nacht. Es war wieder heller Sommer. Jack stand am Rand der Lichtung und sah sich um. Alles war, wie es sein sollte. Er nickte zufrieden und legte sich wieder aufs Moos.

Ich habe nur geträumt. Gleich werde ich aufwachen.

Er schloss die Augen und überließ sich dem Schlaf.

Hammer schreckte auf und schlug mit den Armen um sich. Dann entspannte er sich, als er sah, wo er war: in einer sicheren Kammer der Grenzfeste. Es war alles nur ein Traum gewesen. Nur ein Traum. Seufzend richtete er sich im Stuhl auf. Allmählich fand sein Puls zu einer normalen Frequenz zurück. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und wischte sich mit dem Ärmel das schweißnasse Gesicht. Plötzlich hielt er inne und betrachtete seine Hände von beiden Seiten, suchte nach Spuren der Verwesung, an die er sich erinnerte. Doch davon war nichts zu erkennen. Alles in Ordnung, dachte er erleichtert. Es war nur ein Alb, eine im Traum verzerrte Erinnerung aus zurückliegender Zeit.

Er warf einen Blick auf die Kumpane. Jack hatte die Augen geschlossen und wirkte ganz und gar entspannt.

Wilde aber stöhnte und ächzte im Schlaf. Plötzlich fing er zu würgen an; Speichel troff aus den Mundwinkeln und er rang nach Luft. Jack erwachte und sah sich ruhig um. Hammer ging zu Wilde hin, packte ihn bei den Schultern und rief seinen Namen. Wilde riss die Augen auf und fuhr entsetzt in die Höhe. Er war außer sich und es dauerte eine Weile, bis ihm bewusst wurde, dass er nur geträumt hatte. Mit zitternder Hand griff er an seinen Hals und schluckte. Hammer trat einen Schritt zurück.

»Schlecht geträumt?«, fragte Jack. Wilde nickte benommen. Jack krauste die Stirn. »Das hab ich auch. Und du, Hammer?«

»Ich hatte einen regelrechten Albtraum«, antwortete Hammer betont gelassen. »Uns drückt wohl alle ein schlechtes Gewissen. Sei's drum.«

»Ich furchte, es steckt mehr dahinter«, sagte Jack. »Dieser Ort hier ist voll von Albträumen.«

Hammer blickte auf. »Was soll das heißen?«

»Als ich das erste Mal hier war, hatte ich Gelegenheit, die Ranger zu beobachten. Sie waren am Schlafen, sogar derjenige, der eigentlich Wache schieben sollte. Sie haben alle geträumt, und wie's aussah, waren's keine angenehmen Träume. Wovon hast du geträumt, Hammer?«

Hammer musterte Jack mit kritischem Blick. Dann zuckte er die Achseln und sagte: »Über einen dunklen Punkt in meiner Vergangenheit. Und du?«

»Ich habe geträumt, dass sich der Wald wieder ins Finsterholz zurückverwandelt. Wilde?«

»Mir kamen alte Sünden wieder hoch«, antwortete der Bogenschütze. »Wir sollten von hier verschwinden, Hammer. Mir gefällt's hier nicht. Dieses Fort ist bösartig.«

»Orte können nicht bösartig sein«, entgegnete Hammer ruhig. »Nur Menschen.«

»Das stimmt so nicht immer«, widersprach Jack. »Im Wald gibt es Stellen, die man lieber meiden sollte. Düstere Stellen. Die gab es schon vor der langen Nacht — und es gibt sie immer noch. Da kann man das Böse förmlich spüren. Es steckt im Holz, in der Erde und in den Steinen, wie ein dunkler Fleck, der sich nicht rauswaschen lässt. Ein solcher Ort ist auch dieses Fort. Das fühle ich. Es kann kein Zufall sein, dass wir alle schlimm geträumt haben.«

»Hier stinkt's überall nach Blut und Tod«, sagte Wilde. »Lass uns abhauen, Hammer.«

»Obwohl wir so nahe am Ziel sind?«, entgegnete Hammer. »Hast du den Verstand verloren?«

»Das werde ich, wenn wir hier länger bleiben. Und dir blüht dasselbe. Das Fort ist mörderisch. Es sieht zwar wie ein x-beliebiges Fort aus, führt aber ein Eigenleben und will uns töten. Alles ist verrückt hier. Schlimme Träume, Bestien, die es gar nicht mehr geben dürfte, Blutlachen, Seilschlingen, weit und breit keine Menschenseele…«

Wilde steigerte sich in eine Hysterie hinein, und erst als Hammer ihm ins Gesicht schlug, brach er sein Gezeter ab. Stattdessen griff er nach seinem Schwert. Hammer rührte sich nicht, behielt Wilde aber fest im Blick. Der Bogenschütze hatte sich schnell wieder gefasst; der ängstliche Ausdruck auf seinem Gesicht war verschwunden.

Die Lippen waren fest aufeinander gepresst, die Augen funkelten tückisch.

»Und?«, fragte Hammer leise. »Was hast du jetzt vor, Edmond? Willst du mich schlagen? Umbringen? Sei kein Narr. Mag sein, dass du mal ein Held gewesen bist, aber das ist lange her. In dem Augenblick, da du deine Hand gegen mich erhebst, hab ich sie dir abgeschnitten.«

»Ich schieße mit dem Bogen so gut wie eh und je«, behauptete Wilde mit flacher Stimme und regloser Miene.

»Und ich kann auch ganz gut mit dem Schwert umgehen.«

»Ja«, bestätigte Hammer. »Das kannst du. Aber ich habe den Wolfsfluch.«

Die beiden starrten einander an. Jack blickte beunruhigt von einem zum anderen. So kannte er Wilde noch nicht.

In dessen Gesicht stand Zorn und Entschlossenheit geschrieben, und so etwas wie ein Rest von Würde.

»Du bist mein Mann, Edmond«, verlangte Hammer. »Was wärst du ohne mich? Ich bin deine einzige Chance, aus dem Schlamassel wieder rauszukommen, in dem du steckst, und das weißt du.«

Wilde holte tief Luft und atmete langsam aus. Er zog die Hand vom Schwertgriff zurück. »Ja«, sagte er schließlich in bitterem Tonfall. »Ich bin dein Mann.«

Hammer schmunzelte. »Gut. Das wäre also geklärt. Irgendwo in diesem Fort liegt ein Goldschatz im Wert von hunderttausend Dukaten versteckt, und er wartet nur darauf, dass wir ihn bergen. Schlimme Träume können mir keine Angst machen. Ich bleibe. Und du bleibst auch, Edmond. Verstanden.«

»Ja.«

»Lauter, Edmond. Ich höre nichts.«

»Ja! Ich habe verstanden!« Wilde kehrte ihm den Rücken zu und stellte sich vor die verriegelte Tür.

Wut brannte in seinem Gesicht, doch von der Entschlossenheit und Würde war nichts mehr zu sehen.

»Schon besser«, sagte Hammer, der sich nun Jack zuwandte.

Der zuckte mit den Achseln und sagte: »Ja, auch ich bin dein Mann. Bis auf Weiteres.«

»Du bist mein Mann, solange es mit gefällt.« Hammer gähnte und reckte sich. »Die Ranger werden sich wohl inzwischen wieder beruhigt haben. Ich glaube, wir können jetzt einen Blick in den Keller werfen. Mal sehen, was da zu finden ist.«

Er ging zur Tür. Wilde öffnete sie für ihn. Sie spähten in den dunklen Korridor hinaus. Darin war alles ruhig und still. Hammer blickte in die Kammer zurück und nickte Jack zu, der daraufhin mit Fackel und Laterne nachkam.

Hammer nahm die Laterne entgegen und hielt sie durch den Türausschnitt nach draußen. Schatten sprangen über die Wände, sonst war der Korridor leer. Hammer setzte sich in Bewegung. Von den Kumpanen gefolgt, ging er Richtung Keller.

MacNeil passierte mit seinem Trupp einen engen Gang, der in den Keller führte. Flint und der Tänzer blieben ihm dicht auf den Fersen und setzten ihre Füße so leise auf, dass kaum ein Laut zu hören war. Constance folgte als Letzte und murmelte unablässig vor sich hin. Zauberformeln, wie MacNeil vermutete. Oder sie ärgerte sich noch immer darüber, dass sie von ihrer Hellsicht im Stich gelassen wurde. Er verzichtete, sie danach zu fragen, zumal er die Antwort gar nicht wissen wollte.

MacNeil fröstelte, als er den Absatz jener steinernen Treppe erreichte, die in den Keller hinabführte. Es war hier wieder so kalt, dass der Atem vor dem Mund verdampfte, und an den Wänden hatte sich stellenweise Raureif gebildet. MacNeil krauste die Stirn. Die weißen Flecken gaben ihm zu denken. Sie schienen zugenommen zu haben und zeigten sich auch an Stellen, wo sie vorher nicht gewesen waren. Wie er den Gefährten ansehen konnte, hatten sie offenbar dieselbe Beobachtung gemacht. Sie daraufhin anzusprechen hatte aber keinen Sinn.

Und so sagte er nichts, hielt die Laterne höher, damit sich das Licht besser ausbreiten konnte, und stieg über die Stufen hinab.

Die Tür am unteren Treppenabsatz war noch verschlossen. MacNeil prüfte sie genau. Er konnte nichts Verdächtiges an ihr feststellen, und doch schien sich etwas verändert zu haben. Das fühlte er. Er streckte die freie Hand aus, berührte das Türblatt - und zog die Hand ganz schnell wieder zurück. Das Holz war eiskalt, so kalt, dass ihm die Fingerkuppen erfroren wären, hätte er sie länger daraufliegen lassen. Er zog einen Lappen aus der Tasche, wickelte ihn um die Hand und drehte den Türknauf so schnell wie möglich auf. Die Tür öffnete sich eine Handbreit, als er mit dem Fuß dagegen trat, klemmte dann aber fest. Flint kam zu Hilfe, und gemeinsam stemmten sie sich mit den Schultern gegen das Holzblatt. Es gelang ihnen schließlich, die Tür so weit aufzuschieben, dass sie durch die Öffnung schlüpfen konnten. Die vier Ranger traten in den Keller und sahen sich schweigend darin um.

Der Boden und alle vier Wände waren mit einer dicken Eisschicht überzogen, durch die rosarot die Blutflecken hindurch schimmerten. Von der Decke hingen lange, gezackte Eiszapfen. Der vor die Wände gestapelte Unrat verschwand unter dickem, flockigem Raufrost, und die Fässer, die die Luke verbarrikadierten, waren zu einem einzigen Eisblock verwachsen. Die Luft war betäubend kalt und setzte den Rangern so sehr zu, dass sie kaum zu atmen wagten.

»Woher kommt diese Kälte bloß?«, flüsterte Flint. »Es ist doch Sommer.«

»Sie kommt von unten«, sagte Constance. »Aus den Stollen. Darin haust etwas, das keine Wärme verträgt.«

MacNeil sah sie an. »Ist es etwa aufgewacht?«

»Ich glaube nicht. Es träumt nur, und zwar von der Zeit, als es noch durch die Welt gegangen ist.«

MacNeil ging vorsichtig auf die eisüberzogenen Fässer zu. Die anderen Ranger verteilten sich ebenso vorsichtig im Raum. MacNeil setzte die Laterne ab, zog sein Schwert, nahm die Klinge in beide Hände und hackte mit dem Heft so wuchtig auf die Kruste ein, dass Eissplitter durch die Luft stoben. Doch schnell wurde klar, dass die Kruste zu dick war und dass es viel zu lange dauern würde, die Fässer auf diese Weise freizulegen.

An die Hexe gewandt, sagte er: »Konzentrier dich, Constance. Was siehst du jetzt unter der Falltür.«

Die Hexe schloss die Augen. Ihr magisches Gesicht tat sich weit auf.

Die Falltür bestand aus fest verfugten Eichenbrettern und war mit dicken Eisenstangen verriegelt. Unter der Tür machte sich Dunkelheit breit und in der kalten Tiefe regte sich etwas, das schlief. Es träumte in einem fort und gewann an Kraft, je weiter es aus seinem Schlaf, der schon Jahrhunderte andauerte, auftauchte; und seine Träume wurden immer deutlicher in der erwachenden Welt. Obwohl es noch schlief, spürte das Biest, dass es beobachtet wurde, und Constance zog sich zurück, als sich ein einziges großes Auge langsam zu öffnen begann.

Sie brach den magischen Kontakt ab, schlug die Augen auf und schnappte nach Luft. Dank ihrer Hellsicht hatte sie eine Vorstellung von den Gedanken und Absichten des Biestes gewonnen - und sie ahnte, dass ein Blick in das aufwachende Auge schlimmer sein würde als der Tod.

»Na? Was hast du gesehen?«, fragte MacNeil.

Constance schüttelte den Kopf. »Die Stollen sind leer. Was immer sich darin verbirgt, muss ganz tief in der Erde stecken.«

»Irgendwelche Anzeichen auf das Gold?«

»Nein. Aber ich glaube jetzt zu wissen, was hier im Fort vorgefallen ist.« Sie musste kräftig schlucken. Die Zunge klebte ihr am Gaumen und ihr war übel. Selbst der nur sehr flüchtige Einblick in das Wesen des Biests hatte ein Gefühl unaussprechlichen Ekels bei ihr hinterlassen. Flint und der Tänzer sahen einander an. MacNeil wartete geduldig ab. Constance holte Luft. Allmählich fasste sie sich wieder, und als sie schließlich den Mund aufmachte, sprach sie mit ruhiger, beherrschter Stimme. Nur ihre Augen verrieten noch den Schrecken über das, was sie entdeckt hatte.

»Zuerst dachte ich, es sei ein Dämon. Aber es ist noch viel älter. Es schläft hier, tief in der Erde, seit unzähligen Jahrhunderten. Selbst die Entstehung von Finsterholz hat seine Träume kaum gestört. Doch dann kamen die Menschen; sie bauten ein Fort über seinem Schlafplatz und lärmten in ihren Gedanken so sehr, dass es nicht mehr darüber hinweghören konnte. Es rührte sich in seinem Schlaf und seine Träume schwärmten aus und fanden Nahrung unter denen, die bei wachem Verstand waren. Mit anderen Worten: Über diese Träume verloren alle, die hier wohnten, den Verstand. Und in ihrem Wahn töteten sie sich gegenseitig. Dadurch gewann das Wesen an Kraft und holte die Toten zu sich. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht als Nahrung für den Fall, dass es aufwache.

Oder als Köder… ich weiß nicht. Jedenfalls wird es in absehbarer Zukunft erwachen. Seine Träume nehmen in der realen Welt konkrete Gestalt an und üben Einfluss aus. Und wenn das Wesen erst einmal wach ist… wird die Welt, wie wir sie kennen, untergehen.

Sie blickte zu MacNeil auf. »Du musst es töten, Duncan. Und zwar bald, bevor es aufwacht und seine volle Macht entfaltet. Steig runter ins Dunkel und töte das Biest.«

MacNeil starrte sie an. Ihm fehlten die Worte. Er wollte nicht wahrhaben, was sie sagte, ahnte aber, dass es die Wahrheit war. In ihrem Gesicht, in den Augen lag ein Ausdruck, der für Zweifel keinen Raum ließ.

Schließlich sagte er: »Wenn es so alt und so gefährlich ist, wie soll ich es dann töten können? Dazu brauchte man schon eine ganz besondere Waffe, zum Beispiel eins dieser verfluchten Höllenschwerter, die aber längst verschollen sind.«

»Nein«, widersprach Constance. »Eins gibt es noch. Es befindet sich sogar hier bei uns im Fort, und zwar im Besitz eines Mannes namens Jonathon Hammer.«

»Hammer?« Giles war sichtlich überrascht. »Der soll hier sein?«

»Kennst du diesen Mann?«, fragte MacNeil.

»Wir haben von ihm gehört«, antwortete Flint. »Er ist ein Söldner - und stolz darauf. Verdingt sich dem, der ihm das meiste Geld bietet, und stellt keine Fragen. Er würde selbst seine Mutter töten, wenn der Preis stimmt.«

»Er hält sich für einen guten Schwertkämpfer«, steuerte der Tänzer als Neuigkeit bei.

»Ist er das denn auch?«, fragte MacNeil.

Der Tänzer zuckte mit den Achseln. »Er ist ganz gut. Aber ich bin besser.«

MacNeil wandte sich wieder an Constance. »Wie kommt einer wie der an eins dieser Infernaleisen?«

»Ich weiß nicht«, antwortete die Hexe. »Die Waffe schirmt sich vor meiner Hellsicht ab. Aber so viel ist sicher: Sie befindet sich zurzeit hier im Fort und steht diesem Hammer zur Verfügung. Er wird sie hierher in den Keller bringen, und dann werdet ihr, du und Hammer, hinabsteigen und das Biest töten. Andernfalls wären wir alle verloren.«

Sie wandte sich ab und starrte auf die Fässer, die, immer noch von einer dicken Eiskruste überzogen, die Luke verbarrikadierten. Ihr Blick war wieder ganz entrückt. MacNeil winkte Flint und den Tänzer zu sich. Sie zogen sich in den gegenüberliegenden Winkel des Raums zurück und tuschelten im Flüsterton miteinander.

»Können wir uns denn auf ihre Hellsicht verlassen?«, fragte Flint.

»Schwer zu sagen«, antwortete MacNeil. »Sie ist natürlich nicht so erfahren wie Salamander, hat aber zweifelsohne eine große magische Kraft. Ich bin geneigt, ihr zu glauben.«

»Aber was soll dieser ganze Unsinn von Träumen, die wahr werden?«, fragte der Tänzer. »Glaubst du das auch?«

»Es wäre eine Erklärung für das, was hier passiert ist«, antwortete MacNeil.

»Ich glaube ihr kein Wort«, sagte Flint. »Im Dämonenkrieg hab ich ein paar ziemlich scheußliche Dinge aus der Erde steigen sehen. Ich war dabei, als Prinz Harald und Prinzessin Julia ein solches Scheusal mit ihren Infernaleisen erlegt haben, mit Mühe und Not, denn selbst diese Höllenschwerter hätten fast nicht ausgereicht.«

»Da ist noch etwas«, sagte MacNeil mit gekrauster Stirn. »Ich kann nicht glauben, dass dieser Söldner Hammer tatsächlich eine solche Waffe in seinem Besitz hat. Soviel ich weiß, sind Blitzstrahl und Wolfsfluch seit dem Dämonenkrieg verschollen. Oder?«

»Ja«, bestätigte Flint. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie auf Nimmerwiedersehen in eine tiefe Erdspalte fielen.«

»Und der Steinbrecher wurde, wie es heißt, vom Schwarzen Prinzen vernichtet«, bemerkte der Tänzer.

»Es gab ursprünglich sechs von diesen Eisen«, sagte MacNeil. »Darin stimmen alle Berichte überein. Es könnte sein, dass eine der drei verschollenen Waffen wieder aufgetaucht ist.«

»In dem Fall könnte Hammer in der Tat an eine gelangt sein«, erwiderte Flint. »Er soll immer äußerst viel Glück haben. Aber wenn von dem, was ich über die Infernaleisen gehört habe, nur die Hälfte wahr wäre, würde ich ihn nicht beneiden. Diese Schwerter sind, wie es heißt, überaus böse und tückisch.«

»Ja«, sagte der Tänzer. »Genauso wie Hammer selbst.«

MacNeil winkte ab. »Ach, machen wir uns nicht verrückt. Soll er doch erst einmal kommen. Dann wird uns schon noch was einfallen. Bis es so weit ist, könnten wir uns weiter nach dem Gold umsehen. Wenn es sich da unten in den Stollen bei diesem Unwesen befindet…«

»Falls es sich da befindet«, fiel ihm Flint ins Wort. »Die Hexe weiß es auch nicht genau. Es könnte natürlich sein, dass das Biest den Schatz als Köder nutzt.«

»Wie passt denn das zusammen?«, sagte der Tänzer. »Es schläft doch angeblich.«

»Das habe ich nicht vergessen, glaub mir.« MacNeil blickte auf den Eisberg über der Falltür. Die darin steckenden Fässer waren nur als Schatten zu erkennen. »Wenn Hammer auf dem Weg hierher ist, wär's gut, wenn wir die Falltür freigelegt hätten, ehe er zur Stelle ist. Wir sollten ihm immer einen Schritt voraus sein. Wenn er tatsächlich mit einem Infernaleisen bewaffnet ist, brauchen wir jeden kleinen Vorteil, den wir haben können.«

»Aber es vergehen Stunden, ehe wir das Eis gebrochen haben«, sagte Flint. »Und wer weiß, vielleicht ist auch der Schacht unter der Falltür voller Eis.«

»Nein«, entgegnete MacNeil. »Das hätte Constance gesehen.« Plötzlich kam ihm eine Idee. Er wandte sich der Hexe zu und fragte: »Constance, könntest du vielleicht das Eis wegzaubern?«

»Ja«, antwortete Constance unumwunden. »Das kann ich. Aber ein solcher Akt würde mir so ziemlich alles abverlangen. Magie hat ihre Grenzen, und ich bin von meinen nicht mehr weit entfernt. Womöglich ist mir danach die Hellsicht genommen.«

»Tu's trotzdem«, sagte MacNeil.

Constance nickte. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich und rief ihre Zauberkraft auf, die nur langsam in Schwung kam, dann aber mächtig aufloderte. Daraufhin sprach Constance ein einziges Machtwort - und der Eisberg über der Falltür explodierte. Eissplitter spritzten durch den Raum, wovon aber die vier Ranger unbehelligt blieben. Von der Wucht der Explosion erschüttert, fielen auch einige Eiszapfen von der Decke und zerschellten am Boden. Lange Risse bildeten sich in den Eisschichten an den Wänden. Vorsichtig ließen die Ranger die Arme sinken, die sie schützend vors Gesicht gehoben hatten, und starrten auf die Falltür. Die Fässer waren geborsten und zersplittert. Inmitten der Trümmer lag, wie frei gekehrt, die Falltür.

»Sehr beeindruckend«, lobte MacNeil und nickte Constance anerkennend zu.

»Es hat mich auch einiges an Kraft gekostet.«

»Wie viel Magie hast du noch übrig?«

»Ein bisschen. Der Rest wird sich mit der Zeit wieder auffüllen.«

»Wie lange dauert das?«

Die Hexe zuckte mit den Achseln. »Mehrere Stunden, ein paar Tage. Hängt davon ab, wie groß die Belastung ist, unter der ich stehen werde.«

»Dann schon dich jetzt ein bisschen«, meinte MacNeil.

»Das würde ich auch gern«, murrte Flint. »Wann hatte ich das letzte Mal Zeit für mich selbst?«

MacNeil überhörte die Bemerkung und trat auf die Falltür zu. Er ging davor in die Hocke und fuhr mit den Fingerspitzen über die beiden Eisenriegel. Sie fühlten sich kalt an, aber nicht mehr so erschreckend widernatürlich wie bei der ersten Berührung. MacNeil schaute sich zu Flint und dem Tänzer um und schmunzelte, als er sah, dass sie zurückgetreten waren und ihre Schwerter gezückt hatten. Constance stand neben ihnen. Ihr Gesicht war entspannt, doch der Blick verriet Besorgnis. MacNeil schaute zurück auf die Falltür. Er dachte an die Riesen, die durch die dunklen Stollen gekrochen kamen, und erschauderte unwillkürlich. Er holte tief Luft und schob den ersten Riegel beiseite, was kaum Kraft erforderte und fast lautlos vonstatten ging. Ebenso einfach ließ sich auch der zweite Riegel verschieben. MacNeil schürzte die Lippen und fragte sich, ob es womöglich an Constances Zauber lag, dass sie so leichtgängig waren. Oder hatte das, was sich in den Tiefen versteckte, vielleicht ein Interesse daran, dass die Klappe geöffnet wurde? Trotz der Kälte waren MacNeils Handteller schweißnass. Er wischte sie an den Hosenbeinen ab, ehe er nach dem großen Eisenring in der Mitte der Falltür griff. Entschlossen packte er zu und zog an der Klappe, die leise knarrend um die Angeln kippte. Der Lukenausschnitt starrte vor Dunkelheit.

Als sein Blick auf die Unterseite der Tür fiel, presste MacNeil angewidert die Lippen zusammen. Das ramponierte Holz war voll von frischem Blut. Darin wanden sich Hunderte von Maden, und aus der Tiefe wehte ein Luftzug, der den Gestank verrotteten Fleisches mit sich führte. Flint stieß einen Fluch aus. Der Tänzer fuchtelte mit dem Schwert herum. Constance verzog keine Miene; sie stand reglos da wie eine Statue. MacNeil beugte sich über die Öffnung und starrte ins Dunkel. Erkennen konnte er nichts. Er wusste, dass eine hölzerne Stiege nach unten führte, doch auch davon war vor lauter Dunkelheit nichts zu sehen. Ihm war, als schaute er in sternenlose Nacht. Von Schwindel ergriffen, riss er seinen Blick von der Dunkelheit los. Im selben Moment hallte ein Schrei aus der Tiefe, der wie das Wiehern eines wild gewordenen Riesenpferdes klang. Immer lauter schwoll der Schrei an, bis er MacNeils Knochen zum Schwingen brachte. Dann brach er so urplötzlich ab, dass die Stille, die sich daran anschloss, überaus laut zu sein schien.

MacNeil warf die Klappe zu, schob die Riegel vor und wich zurück.

»Was zum Teufel war das denn?«, flüsterte der Tänzer.

»Das Biest«, sagte Constance. »Es dämmert im Halbschlaf vor sich hin.«

»Willst du wirklich da runter, Duncan?«, fragte Flint und starrte wie gebannt auf die Falltür.

»Ich weiß nicht«, antwortete MacNeil. »Aber mir bleibt eigentlich nichts anderes übrig. Nur so lässt sich herausfinden, wo das Gold und die verschwundenen Leichen geblieben sind.«

»Ich bin nur am Gold interessiert, wenn ihr mich fragt«, bemerkte Hammer.

Die vier Ranger fuhren mit den Köpfen herum und sahen Hammer, Wilde und Vogelscheuchen-Jack vor der offenen Kellertür stehen. Wilde hatte einen Pfeil aufgelegt und den Bogen gespannt.

»Kommt näher«, sagte Constance lächelnd. »Wir haben auf euch gewartet.«

Hammer kniff die Brauen zusammen. An MacNeil gewandt, sagte er: »Legt eure Schwerter ab. Wilde, unser Meisterschütze, ist sehr schnell und schießt nie daneben.«

Der Tänzer kicherte. »Und ich bin ein Meister mit dem Schwert. Sag ihm, er soll den Bogen ablegen, sonst sorg ich dafür, dass er ihn frisst.«

Wilde zeigte sich unbeeindruckt. »Mit einem Schwertmeister bin ich auch schon fertig geworden. Es war nicht schwieriger als ein ganz gewöhnlicher Kampf Mann gegen Mann.«

Die Augen des Tänzers verjüngten sich zu Schlitzen. »Du warst das also. So weit ich weiß, war aber die Lage damals eine ganz andere. Nun ja, wer weiß. Komm, Wilde, versuch's. Vielleicht hast du ja Glück.«

Wilde grinste aus freudlosen Augen.

»Lass es lieber bleiben, Edmond«, sagte Flint und trat einen Schritt vor, um sich Wilde zu zeigen. Er war überrascht, sie zu sehen, und senkte den Bogen.

»Hallo, Jessica. Wir haben uns lange nicht getroffen, nicht wahr?«

»Neun oder zehn Jahre.«

»Stimmt. Ist schon ein Weilchen her. Du siehst gut aus, Jess.«

»Moment mal.« Der Tänzer ließ den Blick zwischen Flint und Wilde hin und her pendeln. »Ihr kennt euch?«

»O ja, sehr gut sogar«, antwortete Wilde grinsend. »Was meinst du, Jess?«

»Das ist lange her«, sagte Flint. »Seitdem hat sich einiges geändert. Du zum Beispiel, Edmond. Wie kommt's, dass du dich mit einem Schuft wie Hammer herumtreibst?«

Wilde ließ die Schultern zucken. »Ich bin ihm was schuldig.«

»Du warst ein Held«, sagte Flint. »Was ist nur passiert?«

»So vieles, dass ich darüber die Orientierung verloren habe«, antwortete Wilde.

»Verzeiht, wenn ich mich in eure private Wiedersehensfeier einmische«, sagte Hammer. »Aber ich habe hier Geschäfte zu erledigen.«

»Willst du's dir nicht noch mal überlegen?«, fragte Jack leise. »Vier Ranger, und einer von ihnen ist Schwertmeister. Unsere Chancen stehen schlecht, Hammer. Ich schlage vor, wir ziehen uns schnellstens zurück.«

»Halt's Maul«, blaffte Hammer. »Sergeant MacNeil, vielleicht sollten wir mal ein paar Takte miteinander reden.

Unter vier Augen.«

»Gute Idee«, sagte MacNeil. »Da vorne bei der Falltür wären wir ungestört.«

Hammer nickte. »Waffenstillstand. Einstweilen.«

»Einverstanden«, sagte MacNeil und steckte sein Schwert in die Scheide. Hammer tat es ihm mit einer kleinen Verzögerung gleich. Das übergroße Heft des Langschwertes ragte über seine Schulter, als spottete es über alle, die sich mit ihm anzulegen wagten. Hammer reichte Jack die Laterne und ging zur verabredeten Stelle.

Flint tippte MacNeil auf den Arm, beugte sich an sein Ohr und flüsterte ihm zu: »Nimm dich vor ihm in Acht, Duncan. Auf sein Wort ist kein Verlass.«

»Danke für den Hinweis«, antwortete MacNeil. »Leider können wir auf ihn nicht verzichten, wenn wir uns dem stellen wollen, was da in der Erde lauert. Und tu mir einen Gefallen, Jessica, kümmere dich um Wilde, solange ich mit Hammer rede. Ja?«

»Natürlich. Kein Problem.«

MacNeil trat auf Hammer zu. Schweigend standen sie sich gegenüber und taxierten einander. Beide waren in etwa gleich groß und kräftig gebaut. Als die erfahrenen Kämpfer, die sie waren, wussten sie die Qualitäten des jeweils anderen ziemlich genau einzuschätzen.

Hammer war beeindruckt von der ruhigen, selbstsicheren Kraft, die der Ranger-Sergeant ausstrahlte, hatte aber trotzdem keinen Zweifel daran, dass er ihn würde bezwingen können. Ihm war am Ende jeder unterlegen. Also konnte er es sich getrost leisten, den Gentleman zu spielen und dem Ranger Honig ums Maul zu schmieren. Sie waren aufeinander angewiesen. Fürs Erste.

MacNeil wusste nicht, was er von Hammer halten sollte. Aber was dessen Langschwert zu bedeuten hatte, war ihm sehr wohl bewusst. Er hätte es auch ohne den Hinweis von Constance als Infernaleisen wiedererkannt. Aus der Nähe betrachtet kratzte das Schwert an seinen Nerven wie ein Schrei in der Stille der Nacht. MacNeil fragte sich, ob Hammer tatsächlich wusste, was er da auf dem Rücken trug.

»Du willst das Gold«, sagte MacNeil geradeheraus. »Ich dagegen hab's auf das Biest abgesehen, das mit dem Gold zusammen hier unter uns steckt.«

»Was für ein Biest?«, fragte Hammer.

MacNeil nickte in Richtung Constance. »Unsere Hexe verfügt über Hellsicht. Sie sagt, dass ein uraltes, bösartiges Ungeheuer unter dem Fort vergraben liegt und schläft. Sie nennt es das Biest. Es hat Schuld an dem, was hier geschah.«

»Bist du mit diesem Biest etwa schon in Berührung gekommen?«, fragte Hammer und starrte auf das Blut an MacNeils Kleidern.

»Als wir die Falltür zum ersten Mal geöffnet haben, spritzte jede Menge Blut daraus empor. In den Stollen unter dem Keller trieft es davon.«

Hammer runzelte die Stirn. »Wo kommt es her?«

»Von dem Biest«, antwortete MacNeil. »Es weiß, was uns Angst macht.«

Hammer wiegte den Kopf. »Du willst, dass wir uns zusammentun und es vernichten. Hab ich Recht?«

»Ja.«

»Verstehe. Und was hab ich davon?«

»Für deine Hilfe, das Gold zu bergen, wirst du eine Belohnung bekommen«, antwortete MacNeil.

Hammer grinste. »Warum sollte ich mich mit einem Bruchteil zufrieden geben, wenn ich alles haben kann?«

»Weil du, um daran zu kommen, sowohl uns als auch das Biest überwinden müsstest, und deine Chancen dafür stehen nicht annähernd so gut, wie du glaubst. Wilde ist ein guter Schütze, aber wir haben den Tänzer auf unserer Seite. Und zugegeben, dein Schwert ist sehr beeindruckend, du hast aber nicht den leisesten Schimmer davon, was da unten in den Stollen auf dich lauert.«

Hammer kniff die Brauen zusammen. »Was weißt du über mein Schwert?«

»Es ist ein Infernaleisen.«

Hammer nickte bedächtig. »Ja. Der Wolfsfluch.«

»Ich dachte, es wäre im Dämonenkrieg verloren gegangen.«

»Das war es auch. Aber ich habe es gefunden. Oder richtiger: Es hat mich gefunden.« Er fing plötzlich leicht zu zittern an, und einen Moment lang verrieten seine Augen einen verzweifelten, gequälten Blick, der jedoch, kaum dass MacNeil darauf aufmerksam wurde, sofort wieder verschwand. »Sei's drum, ziehen wir an einem Strang. Ihr scheint euch besser mit dem Biest auszukennen. Was unternehmen wir als Erstes?«

»Zuerst werden wir, du und ich, durch die Falltür nach unten steigen und nachsehen, wie die Dinge stehen.«

Hammer taxierte MacNeil mit skeptischer Miene. »Nur wir beide?«

MacNeil schmunzelte. »Wo ist dein Sinn für Abenteuer, Hammer? Unsere Hexe sagt, dass das Biest noch schläft. Zu zweit könnten wir leise heranschleichen, ohne dass es aufwacht. Und außerdem… in diesem Fort passieren seltsame Dinge. Es könnte sein, dass uns das Biest mit dem Gold einen Köder ausgelegt hat. Wenn dem so ist, möchte ich nicht, dass wir alle auf einmal nach unten steigen. Auf einem Pack zusammen wären wir in den engen Gängen sehr viel leichter angreifbar. Mir ist wohler, wenn ich weiß, dass uns jemand den Rücken freihält.«

»Also gut«, sagte Hammer. »Machen wir's so.«

MacNeil warf einen Blick auf Flint und den Tänzer, die sich mit Wilde unterhielten. Die drei schienen sich gut zu verstehen. Jedenfalls waren die beiden Männer nicht mehr darauf aus, sich gegenseitig umzubringen.

Anfangs hatte Flint nicht gewusst, was sie sagen sollte, als sie sich diesem Wilde gegenübersah. Kümmere dich um ihn, hatte MacNeil gesagt. Aber womit zum Teufel sollte sie ein Gespräch anfangen. Der Mann, der vor ihr stand, hatte mit dem Wilde, wie sie ihn aus der letzten großen Schlacht des Dämonenkrieges in Erinnerung hatte, nicht mehr viel gemein. Er war zwar auch damals schon ungehobelt und vulgär gewesen, gleichzeitig aber im Umgang mit anderen ganz und gar aufrichtig und ehrlich. Heute trug Wilde ein Gesicht, das auffällig hart und müde war und um Mund und Augen Züge von praktizierter Brutalität verriet.

»Du siehst gut aus, Jess«, sagte Wilde. Seit wann bist du bei den Rangern?«

»Seit ungefähr acht Jahren. Vielleicht ein bisschen länger. Und seit wann ziehst du als Räuber durch die Gegend?«

Wilde zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht mehr. Ein Jahr ist wie jedes andere.«

An Flint gewandt, bemerkte der Tänzer: »Ich wusste gar nicht, dass du Edmond Wilde kennst.«

Wilde grinste. »Wie sich die Zeiten doch ändern, nicht wahr, Jess? Früher hat sich jeder damit gebrüstet, mich zu kennen. Heute wollen selbst ehemalige Freunde nichts mehr mit mir zu tun haben. Die Welt ist doch grausam, oder?«

Flint rührte keine Miene. »Du bist nicht der Mann, den ich von früher kenne. Der hat nicht vergewaltigt und getötet.«

»So gut hast du mich nie gekannt«, entgegnete Wilde.

»Ich bin erleichtert«, sagte der Tänzer. »Es hätte mir nicht gefallen zu erfahren, dass du dich mit üblen Vögeln herumgetrieben hast.«

»Du glaubst wohl, so was steckt an«, entgegnete Wilde.

»Sieh dich vor«, warnte der Tänzer im Flüsterton. »Komm Jessica nur ja nicht zu nahe.«

Wilde lachte. »Wenn ich wollte, würde ich sie mir nehmen. Nichts und niemand könnte mich aufhalten. Ich gehe mit meinem Bogen geschickter um als du mit deinem Schwert. Mir kann keiner was.«

Flint ließ eine Hand auf den Arm des Tänzers sinken, als der nach dem Schwert griff. »Lass stecken, Giles. Wir brauchen ihn noch.«

Der Tänzer sah sie mit ausdrucksloser Miene an. »Keine Sorge, Jessica. Er hat nichts von mir zu befürchten.

Vorerst nicht.«

Er kehrte Wilde den Rücken zu und entfernte sich. Wilde sah ihm grinsend nach.

»Den Tänzer so zu reizen, ist saudumm«, sagte Flint.

»Mit ihm werde ich schon noch fertig.«

»Nein«, antwortete Flint. »Du hast keine Chance gegen ihn. Er würde dich töten.«

»Würde dir das denn was ausmachen?«, fragte Wilde. »Es ist lange her, dass man sich meinetwegen Sorgen gemacht hat.«

»Man hat nur wenig Freunde auf der Welt und sollte aufpassen, dass einem von den wenigen nicht noch einer verloren geht.«

»Und wenn er ein Geächteter ist?«

»Auch dann nicht, Edmond. Ich weiß noch, wie wir gegen die Dämonen gekämpft haben, Rücken an Rücken, vor den Mauern der Burg, die ganze Nacht lang. Es wurde dir sogar ein Lied gewidmet.«

»Es wird bestimmt nicht mehr gesungen.« Wilde lächelte und sein Gesicht zeigte auch wieder ein paar freundliche Züge. »Ich war einmal sehr verliebt in dich, Jess, und du hast mich angeblich auch geliebt; du hast es jedenfalls gesagt.«

»Das ist lange her«, antwortete Flint. »Wir waren damals ganz anders.«

»Wirklich?«, fragte Wilde, doch Flint hatte sich schon entfernt und ging zu ihrem Partner.

Unterdessen waren auch Vogelscheuchen-Jack und die Hexe miteinander ins Gespräch gekommen. Sie hatte ihm geholfen, Fackel und Laterne sicher zu deponieren, wofür er sich schüchtern bedankte. Constance berichtete ihm daraufhin, was sie über das Biest wusste, und bekam von ihm zu hören, dass er schon einiges von dem, was sie sagte, geahnt hatte. Die Hexe fand seinen magischen Natursinn faszinierend und ließ sich dadurch nicht im Geringsten verunsichern, denn Jacks Einvernehmen mit dem Wald war etwas völlig anderes als die Hohe Magie, mit der sie sich zeit ihres Lebens beschäftigte. Er verdankte seine Fähigkeiten der "Wilden Magie, jenen alten, naturwüchsigen Kräften, die den Menschen an seine Wirklichkeit binden. Es irritierte sie allerdings zu erfahren, dass Jack anscheinend ebenso viel Angst vor dem Biest hatte wie sie. Wenn schon eine lebende Legende wie Vogelscheuchen-Jack nicht mehr wusste, wie er sich davor schützen mochte, was hatte sie dann noch zu hoffen? Constance ließ diesen Gedanken nicht näher an sich heran. Sie wollte sich erst zu gegebener Zeit um das Biest sorgen und schlug ein anderes Thema an. Während sie und Jack miteinander redeten, schaute sie kein einziges Mal in Richtung Falltür.

MacNeil schob die beiden Riegel beiseite und hob die Falltür an. Sofort entstieg ihr ein fauliger Gestank, der sich im Keller breit machte. MacNeil klappte die Tür ganz auf und trat einen Schritt zurück. Jack schlug eine Hand vor den Mund und versuchte so, die schlechte Luft zu filtern. Hammer starrte in die Öffnung, die Hand am Heft des seitlich gegürteten Schwertes.

»Das stinkt ja nach Verwesung«, sagte er.

»Würde mich nicht wundern, wenn wir auf Kadaver treffen«, meinte MacNeil. Er nahm seine Laterne zur Hand, kniete sich vor der Öffnung auf den Boden und senkte das Licht ins Dunkle, um Hammer die blutverkrusteten Wände des Schachtes zu zeigen.

»Das ist eine Falle«, sagte Hammer. »Wer oder was da unten steckt, erwartet uns offenbar schon. Es lauert uns auf.«

»Möglich«, stimmte MacNeil zu. »Ich gehe trotzdem. Es sei denn, du hast eine bessere Idee.«

Hammer wollte etwas sagen, hielt sich aber damit zurück und starrte unverwandt in den Lukenausschnitt.

MacNeil richtete sich wieder auf.

»Ich komme mit.«

MacNeil und Hammer drehten sich um und sahen Jack hinter sich stehen, was sie einigermaßen erschreckte, denn keiner von ihnen hatte ihn kommen hören. Jack sagte nichts weiter; er stand einfach nur da, lächelte freundlich und wartete auf eine Reaktion der beiden. MacNeil betrachtete ihn mit nachdenklicher Miene. Das also war Vogelscheuchen-Jack, der legendäre Waldmensch. Er sah allerdings nicht annähernd so beeindruckend aus, wie MacNeil ihn sich vorgestellt hatte. Seine Kleider waren kaum mehr als Lumpen, und es schien, dass er sich erst kürzlich im Schlamm gesuhlt hatte. Dem Geruch nach zu urteilen war er aber anscheinend seit seiner Taufe nicht mehr mit klarem Wasser in Berührung gekommen. Trotzdem hatte er etwas an sich, das Vertrauen erweckte — obwohl er ein Komplize Hammers war. MacNeil zuckte im Geiste mit den Achseln. Wenn Jack auch nur halbwegs an sein legendäres Format heranreichte, würde er in den finsteren Stollen unter dem Keller bestimmt sehr nützlich sein können.

»Ich habe schon viel von dir gehört, Jack«, sagte er schließlich. »Darum wundert es mich, dass du dich auf so einen Kampf einlassen willst.«

»Dieser Kampf geht uns alle an«, antwortete Jack in ruhigem Tonfall. »Wenn wir zulassen, dass das Biest aufwacht, wird es den Wald vernichten und alle, die darin leben. Ihr werdet mich da unten gebrauchen können, Sergeant. Da bin ich mir sicher.«

»Er hat Recht«, sagte Constance. »Ich kann nicht mitkommen. Meine Magie macht mich für das Biest besonders verwundbar. Jack dagegen hat Anteil an der Wilden Magie. Er kann dir helfen und Wege weisen, die mir verschlossen sind.«

MacNeil warf einen Blick auf Hammer, der sich jedoch gleichgültig zeigte. »Also gut«, sagte MacNeil. Aber falls wir gezwungen sind, unser Schwert zu ziehen, solltest du so schnell wie möglich Platz machen. Ist das klar, Jack?«

»Ja«, antwortete Jack, den Blick nach wie vor in das dunkle Loch gerichtet. »Wer geht zuerst?«

»Ich«, sagte MacNeil. »Das gehört zu meinem Job.« Er überprüfte, ob die Kerze in seiner Laterne noch lang genug war, nahm sein Schwert zur Hand und stieg vorsichtig auf die erste Stufe der blutverschmierten Stiege.

Das Holzbrett knarrte unter seiner Last. MacNeil wartete einen Augenblick lang und kletterte dann über die Stiege nach unten. Das Laternenlicht enthüllte eine weitere Folge von Stufen, die ins Dunkle hinabführten. Auch Hammer zückte sein Schwert, ehe er durch die Luke stieg. Jack zog seine Fackel aus dem Ring an der Wand und machte sich hinter Hammer auf den Weg nach unten. Auf halber Strecke warf MacNeil einen Blick zurück.

»Zieh lieber das andere Schwert, Hammer. Du wirst es hier unten brauchen.«

»Nein, noch nicht.«

»Ich hab gesehen, was da unten haust. Da sind riesige kriechende Ungeheuer…«

»Ich sagte: noch nicht. Ich zieh die Waffe, wenn es unbedingt sein muss. Keinen Moment früher. Nicht nur das Biest hat einen leichten Schlaf.«

MacNeil erinnerte sich an Gerüchte über die Infernaleisen, die während des Dämonenkriegs die Runde gemacht hatten, und es fröstelte ihn. Es hieß nämlich, dass die verfluchten Schwerter eine noch viel größere Bedrohung darstellten als die Dämonen. MacNeil straffte die Schultern und setzte seinen Weg nach unten fort.

Als von den dreien nichts mehr zu sehen und auch noch das Licht der Laterne verschwunden war, schlössen Flint und der Tänzer die schwere Klappe aus Eichenbrettern zu.

»Ihr solltet lieber auch die Riegel vorlegen«, meinte Wilde.

Der Tänzer schüttelte den Kopf. »Wenn's brenzlich wird, muss die Tür schnell aufzuklappen sein.«

»Was, wenn sie nicht allein zurückkommen?«

Der Tänzer schmunzelte. »Beunruhigt?«

»Sieh dich vor«, knurrte Wilde. »Wenn das hier vorbei ist, werde ich dir mit Vergnügen deine Selbstgefälligkeit in Fetzen zerreißen.«

»Träum weiter«, entgegnete der Tänzer, ohne die Falltür aus dem Auge zu lassen. »Wir geben ihnen eine Stunde Zeit. Wenn sie dann noch nicht zurück sind, machen wir uns auf die Suche nach ihnen.«

»Einverstanden«, sagte Flint.

»Für uns wär's vielleicht besser, wenn wir abschieben und eurer Verstärkung Bescheid geben würden«, meinte Wilde.

»Das kannst du ja tun«, sagte der Tänzer. »Wir sind Ranger, und Ranger laufen nicht davon. Was wir einmal angefangen haben, wird zu Ende geführt. Wir kennen unsere Pflicht.«

»Und außerdem ist Duncan unser Freund«, fügte Flint hinzu. »Wir würden ihn nie im Stich lassen. Und falls er umkommen sollte, werden wir ihn rächen.«

»Wenn nur irgend möglich«, sagte Constance.

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