Die Stiege schien nicht enden zu wollen. Das schüttere Licht der Laterne, die MacNeil am langen Arm vor sich her trug, kam gegen die Dunkelheit kaum an. Auch Jacks Fackel half nicht viel weiter, doch immerhin war das Knistern der Flamme ein tröstlich vertrautes Geräusch. MacNeil setzte jeden Schritt mit Bedacht und ließ sich auch nicht durch Hammer, der ihm dichtauf folgte, zur Eile drängen. Die Blutlachen auf den Stufen waren zu Eis gefroren und entsprechend rutschig.
Im Stillen zählte MacNeil die Stufen mit und sehnte den Augenblick herbei, da er endlich wieder ebenen Boden würde betreten können. Er wusste: Es waren dreizehn Stufen. Für manche eine Unglückszahl. Unten angelangt, stellte er jedoch fest, dass auf die dreizehnte noch eine weitere Stufe folgte. Sein Puls beschleunigte sich und er musste sich zwingen, langsam und gleichmäßig durchzuatmen. Offenbar hatte er sich beim ersten Gang verzählt; kein Grund zur Sorge. Eine Stufe mehr oder weniger… Aber mit der vierzehnten war die Stiege immer noch nicht zu Ende. Auch nicht nach der zwanzigsten… MacNeil blieb stehen und leuchtete mit der Laterne. Die Stiege fiel weiter ab ins Dunkle, und ein Ende des Schachts war nicht abzusehen.
»Was ist los?«, wollte Hammer wissen. »Warum bist du stehen geblieben?«
»Die Stiege…«, antwortete MacNeil. »Sie hat plötzlich viel mehr Stufen. Das Biest scheint wieder zu träumen.«
»Was machen wir da?«, fragte Jack. »Weitergehen und hoffen, dass wir irgendwann ans Ziel kommen?«
»Was bleibt uns anderes übrig?«, sagte MacNeil. »Es gibt keinen anderen Abstieg. Los, weiter. Es ist kalt hier.«
»Kalt wie in einem Grab«, meinte Jack.
MacNeil tat so, als hätte er nichts gehört und setzte sich wieder in Bewegung. Nach einer Weile hörte er zu zählen auf. Die hohen Zahlen machten ihn nur nervös. Sie waren schon sehr weit hinabgestiegen, doch die Stufen führten immer tiefer ins Dunkle. Es war bitterkalt und die Kälte nahm noch zu. Der Atem dampfte MacNeil in dicken Wolken vorm Mund. Raureif bildete sich an Haaren und Kleidern. Das Gesicht und die Hände waren ganz taub geworden und er musste fest zupacken, um das Schwert und die Laterne nicht aus den Händen zu verlieren. Der Verwesungsgeruch war zwar unvermindert stark, schien aber eine andere Note anzunehmen, die MacNeil sehr irritierend fand, unangenehm und lästig wie ein hartnäckiger Juckreiz. Der Gestank setzte ihm dermaßen zu, dass er drauf und dran war, mit dem Schwert in der Luft herumzuschlagen.
Es schläft hier, tief in der Erde, seit unzähligen Jahrhunderten…
MacNeil klammerte die Hand fest um den Schwertgriff, bis ihm die Finger schmerzten. Der Gestank, die Dunkelheit und das permanente Gefühl von Bedrohung erinnerten ihn an die Zeiten von Finsterholz, und für einen Augenblick meldete sich die alte Angst, die er aber sofort wieder abschüttelte. Er ging weiter und traf wenig später mit dem Fuß auf eine unebene Oberfläche. Im goldenen Licht der Laterne sah er die Öffnung eines Tunnels mit Wänden aus Erde. Vorsichtig rückte er näher und wartete darauf, dass die anderen zu ihm aufschlössen. Es war nicht der Tunnel, an den er sich erinnerte. Dieser hier war breiter und maß gut und gern drei Schritt im Durchmesser. In Decke und Wänden hatten sich lange Risse gebildet, aus denen Erde bröckelte.
Es schien, als drohte der Stollen jeden Moment in sich zusammenzustürzen.
»Nicht viel Platz zum Kämpfen«, sagte Hammer plötzlich und versetzte MacNeil damit einen Schreck.
»Nervös?«, grinste Hammer.
»Aus gutem Grund«, knurrte MacNeil. »Beim letzten Mal bin ich hier auf eine böse Überraschung getroffen.« Er schaute sich um. »Aber das war in einem anderen Stollen, in einem, der viel kleiner war, mit blutverschmierten Wänden… Vielleicht finden wir hier Hinweise auf die verschwundenen Leichen.«
»Oder das Gold«, sagte Hammer. »Das sollten wir nicht vergessen.« Er schürfte prüfend mit der Hand über die Wand, die unter seinen Fingern zerkrümelte. »Pfuscharbeit«, sagte er. »'ne Verschalung wäre das Mindeste gewesen.«
MacNeil sah ihn an. »Dieser Tunnel ist nicht von Menschen gebaut worden, Hammer, genauso wenig wie die Stiege. Das Biest rührt sich im Schlaf und wir laufen durch einen seinen Träume.«
Hammer schnaubte und stampfte mit dem Fuß auf den fest getretenen Stollenboden. »Ziemlich wirklichkeitsnah, dieser Traum.«
»Ja«, erwiderte Jack leise. »Hoffen wir, dass das Biest keine Albträume bekommt.«
Die drei Männer tauschten flüchtige Blicke. Hammers Hand griff nach dem Heft des Langschwertes, blieb aber auf halbem Weg stehen und fiel zurück. MacNeil räusperte sich, um zu überspielen, dass seine Stimme vor Beklommenheit ganz wacklig war.
»Kommt, weiter. Wir haben noch nichts erreicht, und womöglich wacht schon bald das Biest auf.«
»Mir kommt gerade ein unangenehmer Gedanke«, sagte Jack. »Wenn wir uns im Traum des Biests befinden, und es wacht auf… was wird dann aus diesem Tunnel?«
MacNeil warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. »Tu uns einen Gefallen und behalte deine unangenehmen Gedanken in Zukunft lieber für dich. Woher zum Teufel soll ich wissen, was passieren wird? Fürs Erste ist der Stollen greifbar und wirklich genug. Nur daraufkommt's an. Los jetzt. Wir vergeuden nur kostbare Zeit.«
Er ging weiter und trug die Laterne vor sich her, deren milder Schein erkennen ließ, dass sich der Tunnel geradeaus und mit leichtem Gefälle ins Dunkle erstreckte.
Furcht war für MacNeil immer eine beschämende Schwäche gewesen, der man nicht nachgeben durfte. Ein Problem, vor das man sich gestellt sah, galt es zu lösen, wenn nötig mit Gewalt. Wenn auch das nicht half, war man aufgefordert, es nach einer Weile erneut zu versuchen, notfalls immer und immer wieder, bis sich endlich Erfolg einstellte. Aber wirklich große Furcht, überwältigende, lähmende Angst - die glaubte MacNeil bislang nie erfahren zu haben, allenfalls bei anderen, über die er dann die Nase rümpfte. Tief im Innern aber spürte er, dass dem nicht so war, dass auch ihn eine solche Angst einmal heimgesucht hatte, nämlich während der langen Nacht, als die Dämonen massenhaft aus der Dunkelheit hervorgeschwärmt waren und er mit seinem Schwert hatte dagegen halten müssen, obwohl er am liebsten schnell weggelaufen wäre. Und vielleicht hätte er tatsächlich Reißaus genommen, wäre nicht zu seiner Rettung der Blaumond unter- und die Sonne aufgegangen. Sonst hätte er womöglich Reißaus genommen…
Jetzt tappte er wieder im Dunkeln, umzingelt von Tod und Verwesung und in der Absicht, ein Ungeheuer zu erschlagen, das älter und mächtiger war als alle Dämonen zusammengenommen. Und weil er sich tief unter der Erdoberfläche befand, würde diesmal nicht auf Rettung in Gestalt der aufgehenden Sonne zu hoffen sein.
Nagende Furcht wand sich durch sein Gedärm und ließ kalten Schweiß auf die Stirn treten. Er spürte, wie die Hände zitterten, der Atem fahrig wurde. Die Angst war kaum zu bändigen. Am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und das Weite gesucht. Niemand würde ihm deswegen Vorwürfe machen. Im Gegenteil, seine Vorgesetzten hätten bestimmt Verständnis für ihn, wenn er ihnen die Umstände schilderte. Manche würden wahrscheinlich sogar sagen, dass er das einzig Sinnvolle getan hätte. Allein, er brachte es nicht über sich wegzulaufen. Constance hatte gesagt, dass das Biest erschlagen werden müsse, bevor es zu spät wäre und es erwachte. Und MacNeil glaubte ihr. Er hatte seine Pflicht zu erfüllen, und solange er sein Schwert fuhren konnte, würde er das tun, was er als das Richtige erkannt hatte. Gleichgültig, wie groß seine Furcht auch sein mochte.
Das Gefälle des Stollens nahm zu. MacNeil versuchte nicht weiter darüber nachzudenken, wie tief er mittlerweile vorgedrungen war und welche Massen an Erde und Gestein auf dem Stollen lasteten.
»Wie weit runter müssen wir denn noch?«, murrte Hammer. »Wir sind doch schon eine Ewigkeit unterwegs.«
»Bald ist es geschafft«, antwortete Jack. »Wir sind nahe dran.«
MacNeil blieb plötzlich stehen und drehte sich um. »Constance sagte, dass du… Fähigkeiten hättest, die uns helfen könnten. Was sind das für Fähigkeiten, Jack? Bist du etwa auch hellsichtig?«
Jack zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich hab ein ganz gutes Gespür für den Wald und alles, was darin lebt.
Und manchmal, in Ausnahmefällen, leihen mir die Bäume ihre Kraft, damit ich tun kann, was zu tun ist.«
MacNeil sah ihn aufmerksam an. »Spürst du irgendwas im Zusammenhang mit diesem Ort hier? Mit dem Biest?«
»Da ist etwas, nicht weit entfernt«, antwortete Jack mit entrücktem Blick. »Es schläft, weiß aber, dass wir uns nähern. Es ist sehr kalt. Und sehr hungrig…«
Wie zur Bestätigung gellte ein schrilles Wiehern aus der Tiefe, ein Schrei wie von einem rasenden Riesenpferd, so unerträglich laut, dass sich die drei Männer unwillkürlich die Ohren zuhielten. Der Schrei dauerte an, unnatürlich lange, brach aber dann urplötzlich ab. Das Echo hallte noch eine Weile nach, und schließlich war es wieder still. Die drei nahmen die Hände von den Ohren.
An Hammer gewandt, sagte MacNeil: »Es wird Zeit, dass du dein Schwert ziehst. Das Eisen.«
»Nein«, entgegnete Hammer. »Noch nicht.«
»Wir brauchen es.«
»Du verstehst nicht«, entgegnete Hammer müde. »Du hast nicht die geringste Ahnung.«
Im Keller hockte Wilde auf einem Haufen Schrott und scharrte ungeduldig mit den Füßen. Er konnte es nicht leiden, warten zu müssen. Nichts tun zu können ging ihm auf die Nerven. Er hantierte an seinem Bogen herum, prüfte zum hundertsten Mal die Spannung der Sehne und griff immer wieder nach seinem Schwert.
Flint und der Tänzer saßen neben der Falltür. Ihnen schien das lange Warten nichts auszumachen. Sie wirkten entspannt und unterhielten sich leise. Wilde musterte die beiden und lächelte. Jessica hatte immer schon starke Nerven gehabt. Er erinnerte sich, wie sie zum Ende des Dämonenkrieges abseits und allein in einer Ecke des Burghofes ausgeharrt und daraufgewartet hatte, dass sich das große Tor zur Entscheidungsschlacht öffnete. Sie hatte großartig ausgesehen in ihrem glänzenden Kettenhemd und den pechschwarzen, zu einem Pferdeschwanz zusammen gefassten Haaren. Auch damals war ihr Gesicht vollkommen entspannt gewesen, als sie mit Bedacht und langsamen Bewegungen die Schneide ihres Schwertes geschärft hatte. Er dagegen war unruhig auf- und abgelaufen, schweißgebadet und fast außer sich vor Angst. Doch beschämt von ihrer Ruhe und Gelassenheit, hatte er sich zusammengerissen und seine Fassung wiedergewonnen. Ihre Zuversicht hatte ihm geholfen. Das blieb ihm unvergessen.
Jetzt waren sie wieder zusammen und rüsteten sich ein weiteres Mal zum Kampf. Die Lage war kaum eine andere, dafür aber hatten sich die beteiligten Personen verändert. Insbesondere er selbst. Er seufzte leise und schüttelte den Gedanken ab. Das Vergangene war nicht zurückzuholen und darum am besten aus dem Gedächtnis zu streichen. Er richtete den Blick auf Giles, den Tänzer. Den hatte er sich immer sehr viel größer vorgestellt. Immerhin war dieser Mann Schwertmeister und von legendärem Ruf, einer, der unzählig viele Gegner im Kampf getötet hatte. Dabei sah er, aus der Nähe betrachtet, ziemlich durchschnittlich aus. Leute wie ihn traf man in jedem Wirtshaus gleich im Dutzend an. Wilde schmunzelte. Der Schwertmeister Sir Guillain hatte auch nicht besonders eindrucksvoll ausgesehen; doch wenn der in Raserei geraten war, hatte ihn nicht einmal die gesamt Königsgarde in Schach halten können. Das war erst mit seiner, Wildes, Hilfe möglich gewesen. Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht, als er darüber nachdachte, dass er jetzt an Giles Stelle sein und sich mit Jessica unterhalten und amüsieren könnte. Vor nur zehn Jahren war er noch als Held gefeiert worden, und Jessica war stolz daraufgewesen, an seiner Seite zu stehen. Doch seinen Platz neben Jessica hatte jetzt der Tänzer eingenommen und er selbst wurde geächtet.
Wilde zupfte an der gespannten Bogensehne. Darin steckte gebündelte Kraft - das spürte er in den Fingerspitzen
-, Kraft, die verletzen, töten und alles, was Widerstand leistete, gefügig machen konnte. Wahrscheinlich würde es bald zum Kampf kommen. Und wer mochte ihm dann verübeln, wenn in heilloser Hektik einer seiner Pfeile aus Versehen den verdammten Schwertmeister niederstreckte? Ohne ihren Tänzer wären die Ranger aufgeschmissen. Wilde grinste. Er würde ihnen das Gold abjagen, sich von Hammer freikaufen und Jess zurückgewinnen. Er würde ihr schon noch klarmachen, dass sie an seine Seite gehörte.
Constance lehnte sich mit dem Rücken an die kühle Wand und beobachtete Wilde aus den Augenwinkeln heraus.
Von den drei Banditen machte ihr Wilde die meisten Sorgen. Hammer war gefährlich, aber leicht zu durchschauen. Vogelscheuchen-Jack wurde offenbar von Hammer zur Komplizenschaft genötigt. Doch dieser Wilde… er strahlte etwas Unheimliches aus.
Während seines ersten Wortwechsels mit Flint hatte seine Stimme einen trauernden Ton anklingen lassen. Doch jetzt verriet sein Gesicht eine rohe, erbarmungslose Brutalität, die Constance dazu drängte, sich mit einem Schwert zu wappnen. Wenn er so töricht wäre, sich an ihr zu vergreifen, würde er bald feststellen müssen, dass ihr mehr als genug Zauberkraft zu Gebote stand, um sich gegen ihn durchzusetzen. Trotzdem, Wilde hatte etwas an sich, das sie abstieß und zugleich anzog. Anscheinend spürte sie, dass seine Verrohung auf eine bemitleidenswerte Tragödie zurückzuführen war.
Die Hexe schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die zugeklappte Falltür in der Mitte des Raumes. Am liebsten hätte sie Duncan begleitet. Doch die Vernunft ging vor. Sie wusste um ihre Verletzlichkeit gegenüber dem Biest, auch wenn es noch schlief. Ihr Beisein hätte Duncan zusätzlich gefährdet, und die Gefahr, in der er schwebte, war ohnehin groß genug, zumal sie zum Teil von ihm selbst ausging. Denn er ließ keine Schwäche an sich gelten und war gewissermaßen so hart wie starres Eisen, das aber zu zerbrechen drohte, wenn es unter Druck nicht auch ein Stück nachgeben konnte.
Duncan, pass auf, was sich in deinem Rücken abspielt. Und komm sicher wieder zurück.
Flint und der Tänzer saßen Seite an Seite und warteten geduldig auf ihren Einsatz. Flint polierte die Klinge ihres Schwertes mit einem Lappen, was zwar nicht nötig war, aber in der monotonen Bewegung doch beruhigend wirkte. Der Tänzer saß einfach nur da, entspannt und dennoch jeder Zeit bereit, zum Schwert zu greifen, das auf seinen Schenkeln lag. Er zeigte keinerlei Nervosität, was typisch für ihn war. Er stierte vor sich hin, und Flint fragte sich wieder einmal, woran er in diesem Augenblick denken mochte. Seit fast acht Jahren waren sie Partne - und ein Paar. Trotzdem rätselte sie noch immer vergeblich, was ihm durch den Kopf ging, wenn er einen so entrückten Eindruck machte wie jetzt.
Der Tänzer war ein seltsamer Vogel, der sich häufig in seine ganz persönliche Welt zurückzog. Flint zweifelte zwar nicht daran, dass er sie liebte, doch es war nicht immer leicht, mit ihm zurechtzukommen. Er redete nicht viel und überließ es gerne Flint, für ihn zu sprechen. Dabei war er beileibe nicht schwer von Begriff oder gar schüchtern. Er hatte einfach nicht viel zu sagen und ließ im Ernstfall lieber sein Schwert sprechen.
»Giles…«
»Ja?«
»Glaubst du, sie schaffen es, das Biest zu töten?«
Der Tänzer zuckte die Achseln. »Vielleicht. Hammer hat ein Infernaleisen. Solche Schwerter sind verdammt schlagkräftig.«
»Aber… wenn es nicht schlagkräftig genug ist. Wie stehen dann unsere Chancen, das Ungeheuer zu erledigen?«
»Ziemlich schlecht, würde ich meinen. Wir müssen'« trotzdem versuchen. Von uns hängt das Leben vieler Menschen ab.«
»Wie schon so oft. Aber diesmal könnte es uns auch selbst erwischen.«
»Berufsrisiko.«
»Hast du keine Angst, Giles?«
»Nein. Angst stört nur. Hast du etwa welche?«
»Ja.«
»Sei unbesorgt. Ich bin ja bei dir. Ich werde nicht zulassen, dass dir was passiert.«
Sie drückte seine Hand und schaute ihm tief in die Augen. Plötzlich drang ein gellender, wiehernder Schrei durch die geschlossene Falltür und hallte durch den Kellerraum, so laut, dass die Eiskruste an den Wänden aufplatzte und die Zapfen von der Decke fielen. Im Nu standen Flint und der Tänzer auf den Füßen, die Schwerter kampfbereit in den Händen. Constance und Jack blickten aufgeschreckt umher, als suchten sie einen Feind, dem sie sich entgegenwerfen konnten. Der Schrei dauerte an, ohrenbetäubend laut und schrill. Dann aber verstummte er jäh.
»Sie haben das Biest entdeckt«, sagte Wilde.
»Womöglich sind sie auch selbst überrascht worden«, meinte die Hexe. Sie hob den Kopf und spitzte die Ohren, als sie in der Nähe eine Bewegung zu spüren glaubte. »Könnt ihr etwas hören?«
Alle lauschten angestrengt in die Stille. Aus irgendeinem Teil des Forts tönte eine Reihe leiser, unregelmäßiger Geräusche. Flint und der Tänzer tauschten fragende Blicke. Wilde stand auf und legte einen Pfeil auf die Bogensehne.
Flint sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Nein, Edmond. Du bleibst mit der Hexe hier unten und bewachst die Falltür. Giles und ich werden nach oben gehen und nach dem Rechten sehen.«
Zuerst schien es, als wollte Wilde Protest einlegen, doch dann zuckte er nur mit den Schultern und nahm wieder Platz. Flint widerstand dem Drang zu erklären, dass sie nicht etwa aus Misstrauen gegen ihn so entschied. Er hätte ihr ohnehin nicht geglaubt. Sie eilte zur Kellertür und stieß sie auf. Die Geräusche schienen für einen Augenblick zu verstummen. Der Tänzer reichte Flint eine der Fackeln, die in den Ringen an der Wand steckten.
Sie nahm sie entgegen und ging die Treppe hinauf, die ins Parterre führte. Mit gezücktem Schwert folgte der Tänzer dichtauf. Constance machte hinter ihnen die Tür wieder zu.
Augen und Ohren weit aufgesperrt, stiegen Flint und der Tänzer vorsichtig nach oben und gelangten in einen engen Gang. Das Fackellicht schien hier, oberhalb des Kellers, sehr viel weiter zu tragen und flackerte durch einen leeren Korridor, der sich vor ihnen auftat. Flint krauste die Stirn. Die Geräusche waren um einiges lauter, aber immer noch nicht zu deuten oder zu lokalisieren.
In der Hauptsache handelte es sich um ein leises Schlurfen, das von überall und nirgends kam, zugleich von vorn und hinten. Mit Bestimmtheit wusste Flint nur, dass es keine natürlichen Geräusche waren.
»Vielleicht sind's Ratten«, meinte der Tänzer. »Ratten in den Zwischenräumen der Mauern.«
»Nein. Ratten hören sich anders an«, erwiderte Flint. »Kannst du ausmachen, woher die Laute kommen.«
Der Tänzer schüttelte den Kopf. »Jedenfalls kommt das, was sie verursacht, immer näher.«
Flint starrte in den Gang. Schatten huschten umher und sprangen wie aufgescheucht nach vorn, sooft sie die Fackel schwenkte. Anfangs war die Kälte noch erträglich gewesen. Doch jetzt fielen die Temperaturen dramatisch ab. Die bizarren Raureifgebilde an den Wänden wurden sichtlich dicker und in der unbewegten Luft schwebte ein feiner Nebelschleier. Flint blieb jählings stehen. Der Tänzer schloss zu ihr auf und sah sie fragend an, konnte aber nicht erkennen, was ihr durch den Kopf ging. Nebel? Innerhalb der Burgmauern? Unmöglich. Nein, nicht so tief im Innern des Forts, so weit entfernt von der Außenluft…
Das Biest träumt… es träumt von der Zeit, als es durch die Welt gegangen ist.
Flint dachte an die Worte der Hexe und erschauderte. Wie lange schlief das Biest denn schon, wenn es von einer Zeit träumte, in der es nur Nebel, Eis und Kälte gegeben hatte? Flint hielt das Schwert gepackt und schüttelte den Kopf. Über solche Fragen wollte sie sich, wenn überhaupt, irgendwann später den Kopfzerbrechen, nicht jetzt.
Jetzt galt es herauszufinden, woher diese verflixten Geräusche rührten und ob Gefahr davon ausging. Sie gab dem Tänzer zu verstehen, dass er zurückbleiben sollte, und ging langsam weiter. Schritt für Schritt hielt sie kurz inne, um zu lauschen. Die Geräusche wurden lauter und deutlicher; es schien, als näherten sie sich aus unbeschreiblicher Ferne. Darunter waren Laute, die wie ein Knurren, Fauchen und Zischen klangen und aus allen Richtungen zu kommen schienen, vom Boden, von der Decke und den Wänden. Dünne, lang gezogene Nebelschwaden schlängelten sich durch die Luft. Weil sie sich nicht allzu weit von ihrem Partner zu entfernen wagte, blieb Flint stehen und warf einen Blick zurück. Hinter ihr hatte sich der Nebel verdichtet, und von Giles war nur noch ein verschwommener Schatten zu erkennen. Flint eilte zurück. Die Schwerter in Bereitschaft, stellten sich die beiden Rücken an Rücken zueinander.
»Die Geräusche werden immer lauter«, bemerkte der Tänzer ruhig.
»Ja«, sagte Flint. »Und das gefällt mir nicht. Dahinter scheint… ein Plan zu stecken.«
»Was schlägst du vor? Dass wir uns in den Keller zurückziehen?«
»Ja. Hier sind wir allzu isoliert. Komm.«
Vorsichtig kehrten sie Richtung Kellertür zurück, die hinter dichtem grauen Dunst verborgen lag. So laut und bedrohlich tönten die Geräusche inzwischen, dass es schien, als hätte ihr Verursacher alle Zurückhaltung aufgegeben. Flint glaubte schon, in den Nebelschwaden Bewegungen ausmachen zu können. Dicht gefolgt von Giles, strebte sie der Kellertür entgegen. Dem, was da in der Nähe war, wollte keiner von beiden den Rücken zukehren. Flint war froh, den Tänzer bei sich zu wissen. Dank seiner Gelassenheit konnte auch sie ruhig bleiben.
Der Nebel wurde immer dichter und ballte sich zu milchig weißen Massen, aus denen ein gespenstisches Licht schimmerte. Darin bewegten sich Schatten, lange, hohe Schatten mit menschenähnlichen Umrissen. Sie traten mal mehr, mal weniger deutlich und in unbestimmter Anzahl in Erscheinung. Flint blickte ihren Partner an, um sich zu vergewissern, dass auch er die Schatten wahrnahm, und schöpfte Zuversicht aus seiner entspannten Miene und dem einsatzbereiten Schwert.
Die Schatten rückten näher, doch Flint wagte es nicht, einen Schritt zuzulegen, denn sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie vor irgendwem Reißaus nahm. Plötzlich trat einer der Schatten aus dem Nebel hervor und vor sie hin. Flint blieb wie versteinert stehen, die Augen weit aufgerissen. Das Wesen überragte sie um etliches; es kauerte gebeugt über ihr, um nicht mit dem Kopf unter die Decke zu stoßen. Es war von einem schmutzigen Weiß und erschreckend dünn, sodass es aussah wie ein Sammelsurium aus Knochen. Das Gerippe wurde von langen, sehnigen Muskeln zusammengehalten, die sich unter der pergamentenen Haut wie Würmer wanden. Die Arme waren so lang, dass die knochigen, klauenhaft gebogenen Hände bis weit über die Knie herabbaumelten. Der lang gezogene Kopf lief zu einer spitzen Schnauze zusammen, die grinsend spitze Zähne fletschte. Anstelle von Augen besaß es Schlitze, purpurrot und ohne erkennbare Iris oder Pupille. Die Knochenfüße klackten laut auf dem steinernen Boden, als sich das Ungeheuer langsam auf die Ranger zubewegte. Das scheußliche Grinsen wurde breiter, als es gierig die Lefzen auseinander zog.
»Was zum Teufel ist das?«, flüsterte der Tänzer. »Eine Art Dämon?«
»Nein«, sagte Flint, merklich um Fassung bemüht. »Ich vermute, es lebt hier schon so lange wie das Biest. Etwas Ähnliches habe ich auf Bildern gesehen, in einem Buch aus den Eissteppen im Norden. Trolle, so werden sie genannt. Sie sind angeblich längst ausgestorben.«
»Und was tun sie dann hier?«
»Das Biest… es erinnert sich an sie.«
»Es hat für meinen Geschmack ein viel zu gutes Gedächtnis. Was tun wir jetzt, Jessica?«
»Pass auf! Ich zähle bis drei, drehe mich dann um und renne los. Du hältst sie auf, bis ich die Kellertür erreicht habe, und machst dich dann selbst aus dem Staub. Verstanden?«
»Verstanden.«
»Sieh dich vor, Giles.«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
Flint lächelte ihm zu, zählte leise bis drei und eilte zurück. Als der Troll ihr nachzusetzen versuchte, verstellte ihm der Tänzer den Weg. Das Unwesen hob die Klauenhände, um ihn zu schlagen, worauf der Tänzer das Schwert im kurzen, tückischen Bogen schwingen ließ. Der Troll konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Die Schwertspitze fuhr ihm über die Rippen, zerschlug das Brustbein und setzte einen Schwall von Blut frei. Laut aufschreiend sackte der Troll in den Knien ein und warf beide Hände über die Wunde. Blut strömte durch die Finger und lief auf dem kalten Steinboden zu einer dampfenden Pfütze zusammen. Wie auf Kommando tauchten nun andere Trolle aus dem Nebel auf und rückten, die roten Augen voller Mordlust, auf den Tänzer zu. Hinter ihnen rührten sich weitere Schatten, die auf ihre Wiedergeburt in die Welt der Menschen warteten. Der Tänzer wehrte sich mit dem Schwert.
Flint rannte zur Tür am Ende des Ganges. Der Kampflärm war für sie deutlich zu hören: Das Fauchen und die Schreie der Trolle sowie die dumpfen Hacklaute, die entstanden, wenn die Klinge des Tänzers durch Fleisch fuhr. Die Kellertür trat hinter Nebelschleiern in Erscheinung und Flint musste scharf abbremsen, um nicht davor zu laufen. Sie rammte ihr Schwert in die Scheide und tastete nach dem Drehknauf. Aber sie hatte kein Gefühl mehr in den eiskalten Fingern und musste sie an der tanzenden Fackelflamme erst einmal auftauen. Unter stechenden Schmerzen kehrte Leben in die starren Glieder zurück. Endlich gelang es ihr, die Tür zu öffnen. Sie brüllte dem Tänzer zu, er solle kommen, worauf der Kampflärm schlagartig abbrach. Stattdessen wurden das Trommeln rennender Füße und die Schreie der Trolle laut. Es waren mittlerweile so viele von ihnen zur Stelle, dass man sie kaum noch zählen konnte, und ihre Wut gellte mit ohrenbetäubender Lautstärke durch den engen Gang. Der Tänzer rannte durch die offene Tür. Flint folgte, schlug die Tür vor den herbeistürmenden Trollen zu und warf den Riegel vor. Die Tür erbebte in den Angeln, als auf der anderen Seite etwas mit Wucht dagegen prallte. Flint und der Tänzer wichen zurück, schmiegten sich rücklings an die kalte Steinwand und schnappten nach Luft, während jenseits der Tür die Trolle heulten und polternd gegen die Füllung aus festen Eichenbrettern schlugen.
»Der Riegel wird nicht lange halten«, sagte Flint. »Verziehen wir uns in den Keller. Die Tür dort lässt sich besser verbarrikadieren.«
»So ist es«, stimmte der Tänzer zu.
»Diese Gerippe, wie viele sind's?«
»Viel zu viele.«
Flint mochte keinen weiteren Gedanken daran verschwenden und eilte die Stufen hinab in den Kellerraum, der halbwegs sicher war. Der Tänzer warf einen letzten Blick auf die bebende Tür, durch deren Ritze dünne Nebelschlieren drangen. Flint hatte die untere Tür schon passiert und wartete ungeduldig auf den Tänzer. Kaum war der herbeigeeilt, warf sie die Tür ins Schloss und legte beide Riegel vor. Dann lehnte sie sich mit dem Rücken an die Tür und ließ langsam einen Schwall Luft ab. Der Tänzer steckte seine Fackel in die nächste Halterung. Constance und Wilde starrten die beiden mit ausdrucksloser Miene an.
»Was ist los?«, fragte der Bogenschütze. »Auf was seid ihr da oben gestoßen?«
»Auf Gestalten, die eigentlich schon seit Jahrhunderten ausgestorben sind«, antwortete der Tänzer. »Große, knochige Monstren mit langen Zähnen und Klauenhänden. Trolle.«
»Die gibt's doch nur in alten Legenden«, meinte Constance.
»Würdet ihr freundlicherweise mal aufhören zu quatschen und mir helfen, die Tür zu verbarrikadieren«, rief Flint. »Da sind mindestens ein Dutzend solcher Legenden auf dem Weg hierher, und diese Tür wird sie allein nicht lange aufhalten können.«
Zu viert hievten sie schweres Zeug vor die Tür. Der glatte Eisboden erleichterte die Arbeit. Der letzte große Gegenstand war gerade zurechtgerückt, als auf der anderen Seite schlurfende Schritte laut wurden. Die Ranger und der Bandit wichen zurück und machten sich auf das Schlimmste gefasst. Plötzlich polterte jemand gegen die Tür. Bald beteiligten sich daran auch andere und das Poltern schwoll zu Donnerschlägen an. Klauenhände hämmerten auf die Tür ein, die bedrohlich in den Angeln wackelte. Flint sah Constance an.
»Kannst du sie nicht irgendwie zurückschlagen?«
Die Hexe zuckte die Achseln. »Ich habe nicht mehr viel Zauberkraft übrig, kann's aber mal versuchen.« Sie hob die linke Hand, und über den Fingerspitzen bildete sich eine blaue Flamme, die zuckend aufloderte. Die Hexe murmelte etwas vor sich hin, worauf die Flamme von der Hand wegflog und das Holz der Tür durchdrang. Sofort verstummte das Hämmern und Kratzen. Für eine Weile war es still. Doch dann setzte das Gepolter wieder ein. Constance schüttelte den Kopf.
»Sie sind zu stark für mich. Ich bin nur eine Hexe und kein Zauberer. Die Tür wird ihnen nicht mehr lange standhalten. Und mit meiner Magie kommen wir auch nicht gegen sie an.«
»Kannst du denn gar nichts tun?«, fragte Flint.
»Vielleicht doch«, antwortete die Hexe und starrte auf den Boden. Gleich darauf zeigten sich erste Risse in der Eiskruste, die wenig später in tausend Stücke zersplitterte. Constance schmunzelte. »Wenn wir kämpfen müssen, haben wir jetzt immerhin einen festeren Stand.«
Wilde blickte auf. »Woher willst du eigentlich wissen, dass wir gegen sie kämpfen müssen? Die Tür ist aus dickem Holz und gut verbarrikadiert.«
»Trotzdem kann sie die Trolle nicht aufhalten«, entgegnete die Hexe. »Diese Trolle sind nicht real und können darum beliebig viel Kraft aufbringen. Das Biest wacht allmählich auf und wittert in uns eine Gefahr.«
Das Hämmern wurde wieder lauter. Die Barrikade wackelte und fiel auseinander, als die Tür plötzlich der Länge nach aufplatzte. Die vier Verteidiger wichen zurück und mussten mit ansehen, wie der Riss in der Türfüllung weiter aufklaffte und grinsende Trolle dahinter zum Vorschein treten ließ. Sie zischten, fauchten und schnappten erwartungsvoll mit den Zähnen. Im fahlen Licht der Laterne zeigten sich knochige Hände und stumpf schimmernde Klauen, die zuckend durch die Öffnung gierten.
Flint und der Tänzer traten beherzt vor die Hexe. Wilde legte einen Pfeil auf die Bogensehne. Die Trolle drängten in den Kellerraum. Wildes Bogen summte und der vorderste Troll taumelte, vom Pfeil ins Auge getroffen, zurück. Zwei weitere Gegner fielen durch Wildes Geschosse. Dann musste er selbst zurückweichen und Flint und dem Tänzer das Feld überlassen. Die beiden Ranger wehrten sich wacker und ließen ihre Schwerter durch die Luft wirbeln. Es sah ganz einfach aus, wie sie durch die Masse der knochigen Gestalten fuhren, die ebenso substanzlos zu sein schienen wie der Nebel, aus dem sie aufgetaucht waren. Blut spritzte durch den Raum und regnete zu Boden, wo es dampfend und zischend auf die Eissplitter traf.
Ein Spritzer landete auch auf dem Handgelenk des Tänzers und brannte ätzend auf der Haut. Er fluchte leise vor sich hin, ließ sich aber nicht weiter ablenken. Es passten immer nur einige wenige Trolle durch die Tür, und obwohl sie wie besessen attackierten, wich der Tänzer keinen Schritt zurück. Hier bot sich ihm wieder einmal eine Gelegenheit zu beweisen, wozu ein wahrer Schwertmeister in der Lage war. So schnell wusste er seine Waffe zu führen, dass ihr kein Auge folgen konnte. Ausfall, Stoß und Rückzug - all das dauerte keinen Wimpernschlag lang. Wie eine Sichel fuhr die Klinge durch die Angreifer, die heulend und mit krummen Knochenfingern nach dem Tänzer auslangten und mit ihren großen Mäulern nach ihm schnappten. Doch er war immer rechtzeitig außer Reichweite und ein Troll nach dem anderen ging vor ihm zu Boden, schreiend, sterbend.
Flint kämpfte an seiner Seite. Mit einem Ausdruck erstarrter Wut auf dem Gesicht schwang sie ihr bluttriefendes Schwert. Tödlich getroffene Trolle lagen sterbend zu beiden Seiten und verstopften den Eingang. Flint war zwar nicht so schnell oder geschickt wie der Tänzer, wusste aber als erfahrene Kämpferin besser mit dem Schwert umzugehen als die meisten Männer. Sie hatte an der Entscheidungsschlacht im Dämonenkrieg teilgenommen, mit einem schlecht sitzenden Kettenhemd und geborgtem Schwert. Danach gab es kaum noch etwas, das sie abschrecken konnte. Jetzt hieb und hackte sie auf die knochigen Fratzen ein und ignorierte die zunehmenden Schmerzen im Rücken und in den Armen. Sie war Mitglied der Ranger und würde bis zum Umfallen kämpfen.
Wilde ließ Pfeil um Pfeil durch die Luft schnellen und streckte die Trolle nieder, die sich an Flint und Giles vorbeizudrängen versuchten. Er wusste schon nicht mehr, wie viele er erlegt hatte, doch die Trolle zwängten sich in unvermindert großer Anzahl durch die Tür. Und dem Schützen gingen bald die Pfeile aus. Er legte Langbogen und Köcher vorsichtig in einer Ecke ab, wo sie nicht stören konnten, zog sein Schwert und beobachtete die beiden Ranger, wie sie gegen die endlose Flut dieser unmenschlichen Gegner ankämpften.
Wie in alten Zeiten, Jessica ?
Er schaute sich in der unbestimmten Hoffnung um, einen Ausgang zu entdecken, den sie bislang übersehen hatten, aber da war nur diese Falltür, und dadurch — das hatte er sich geschworen - würden ihn keine zehn Pferde ziehen können. Nein, so Leid es ihm auch tat, er musste seine ganze Hoffnung auf die beiden Ranger setzen. Er wartete einen günstigen Augenblick ab und sprang Flint zur Seite. Die Trolle fielen zuhauf. Aus ihren Todesschreien schöpfte Wilde Mut. Es war schon sehr lange her, dass er einen Kampf auszufechten hatte, in dem die Chancen so schlecht für ihn standen. Trotzdem nahm er den Kampf auf, denn es blieb ihm nichts anderes übrig. Nach einer Weile gewann er verlorene Fähigkeiten zurück und sein Schwert zuckte so schnell und so tödlich wie ein Blitz umher. Hätte Flint ihm zusehen können, wäre ihr jener Edmond Wilde von damals in Erinnerung gekommen.
Die Hexe Constance hob die Hände und nahm die Pose ein, in der sie für gewöhnlich ihre magischen Kräfte aufrief. Sie hatte zwar einen Großteil davon verbraucht, doch raffte sie nun allen Rest zusammen, und als sie schließlich die Formel aussprach, erstrahlte gleißend helles Licht zwischen den ausgestreckten Händen.
Kreischend schreckten die Trolle der ersten Reihe zurück, als ihnen sämtliche Knochen im Leib zersplitterten. In Constances linker Schläfe machte sich kurz darauf ein pochender Schmerz bemerkbar und aus dem linken Nasenloch sickerte Blut. Sie ließ sich davon aber nicht irritieren und vertraute darauf, dass ihr Körper einiges an Stress aushalten konnte.
Alle vier kämpften unermüdlich weiter und hielten mit ihrem Mut und ihrer Kampfkraft die Angreifer zurück. So viele von denen auch starben, es füllten Nachrückende die Reihen immer wieder auf. Schlimmer noch, ihre Zahl nahm sogar dramatisch zu.
In der Tiefe unter dem Fort ebnete sich der Stollen allmählich. MacNeil blieb stehen und ließ Hammer und Jack zu sich aufschließen. Alle drei starrten in die pechschwarze Öffnung am Ende des Tunnels. MacNeil legte die Stirn in Falten. Er konnte nahe vor sich eine Stufe erkennen, aber das war auch schon alles. Womöglich führte der Tunnel in eine Art Höhle… Vorsichtig ging er bis zur Stufe vor und leuchtete mit seiner Laterne. Das fahle gelbliche Licht brach sich in Tausenden winzig kleiner Kristalle, die auf beiden Seiten in der Wand steckten. Sie leuchteten im Dunkeln wie fernes Gestirn am mondlosen Nachthimmel und warfen ihr Licht in eine Höhle, die so groß war, dass MacNeil der Atem stockte. Das Licht reichte bei weitem nicht bis an ihre Ränder, die in der Breite mindestens eine halbe Meile auseinander lagen. In der Höhe maß die Höhle wohl noch mehr. Der Tunnel öffnete sich hoch oben in einer Steilwand, mehrere hundert Schritt über dem Höhlengrund. Ein schmaler Sims führte vom Tunnel zu einer anderen Öffnung in der Wand, die ein Stück tiefer lag und um ungefähr fünfzehn Schritt versetzt war. Der Sims gefiel MacNeil ganz und gar nicht. Er war nur knapp zwei Fuß breit, voller Stolperkanten und anscheinend erst vor kurzem in die Felswand geschlagen worden.
MacNeil blickte in die Tiefe und wurde von einem plötzlichen Schwindelanfall gepackt. Schnell schaute er weg und atmete tief durch, bis sich der Anfall wieder gelegt hatte.
Jack und Hammer hatten ihn in die Mitte genommen und starrten in die weite Höhle hinaus. Auch Hammer hielt beim Anblick der glitzernden Kristalle unwillkürlich die Luft an. Vor den Ausmaßen der Höhle kam er sich selbst klein und schmächtig vor, was ihm überhaupt nicht behagte. Jack musterte den schmalen Steig an der Wand und knabberte nachdenklich an der Unterlippe. Wer hier abrutschte, stürzte ungemein tief.
»Wie hoch sind wir hier, was schätzt ihr?«, wollte er von MacNeil wissen.
»Keine Ahnung.«
»Ob das Biest da unten liegt?«
»Sehr wahrscheinlich«, antwortete Hammer. »Aber wo ist das Gold? Womöglich auch da unten oder hinter der anderen Öffnung?«
MacNeil kniff die Brauen zusammen. Wenn sie sich auf den schmalen Sims hinauswagten, wären sie einem Überraschungsangriff schutzlos ausgeliefert. Sie müssten sich, einer nach dem anderen, eng an die Felswand schmiegen und langsam vorwärts tasten. Wie auch immer, die Öffnung durfte natürlich nicht außer Acht gelassen werden. Hammer hatte Recht. Das Gold konnte sich nur an zwei Stellen befinden, und der leichtere Weg führte zur Öffnung nebenan.
»Na schön, versuchen wir's«, sagte er mit Blick auf Hammer. »Ich gehe vor.«
Er setzte einen Fuß auf den Sims und prüfte dessen Trittfestigkeit, bevor er sich ganz hinauswagte. Der grob behauene Fels schien zu halten. Die Schulter an die Wand geschmiegt, bewegte er sich seitlich über den Steig.
Einmal schaute er in die Tiefe, was er aber sogleich bereute. Extreme Höhen machten ihm sonst nichts aus, doch das hier war etwas anderes. Fortan hielt er seinen Blick fest auf die zweite Öffnung gerichtet. Vom Ausgang aus betrachtet, hatte der Weg dorthin nicht besonders weit ausgesehen, doch nun schien er sich endlos in die Länge zu strecken. Vorsichtig rückte er Stück für Stück weiter vor. Die feste Wand im Rücken zu spüren vermittelte ihm zumindest ein wenig das Gefühl von Sicherheit. Hammer trat nun, da er sah, dass MacNeil zurechtkam, ebenfalls auf den Sims hinaus. Zum Schluss folgte Jack, dem als Einzigem die Tiefe nichts auszumachen schien. Im Wald kletterte er aus Lust und Laune auf die höchsten Bäume. Dagegen hatte er es in der Enge des Tunnels kaum ausgehalten; die weite Höhle war da schon eher nach seinem Geschmack. Mit sicherem Schritt folgte er Hammer, hielt die Fackel hoch in die Luft und sah sich neugierig um.
Die zweite Öffnung in der Felswand stellte, wie sich zeigte, den Einstieg zu einem weiteren Tunnel dar. Davor angekommen, ging MacNeil in die Hocke und leuchtete mit seiner Laterne in den kreisrunden Ausschnitt, der im Durchmesser gut zwei Schritte breit war und in schieren Fels gebohrt worden zu sein schien. Die Wände waren auffallend glatt, was MacNeil auf den Gedanken an einen Riesenwurm brachte, der sich blindlings durch den Berg fraß. Im Schein der Laterne wirkte der Tunnel leer und verlassen. Wenn er etwas entdecken wollte, musste er sich wohl oder übel auf den Weg ins Innere machen.
Widerwillig betrat er den Tunnel. Hammer und Jack folgten ihm auf den Fersen.
Nach nur wenigen Schritten öffnete sich auch dieser Gang in eine Höhle. In dieser Höhle stapelten sich Hunderte achtlos abgelegter Ledersäcke, die allesamt das königliche Siegel des Schatzamtes trugen. Hammer stieß MacNeil zur Seite, eilte hin und kniete vor den Säcken nieder. Er packte den ersten, der ihm in die Hände kam, zerrte hastig an der Kordel, mit der der Sack zugeschnürt war. Als er ihn endlich geöffnet hatte, griff er hinein und brachte schimmernde Goldmünzen zum Vorschein. Er starrte lange Zeit darauf und ließ die Münzen dann langsam durch die Finger und von der Hand zurück in den Sack tropfen. Das musikalische Geklimper von Gold auf Gold brachte ihn zum Schmunzeln.
»Hunderttausend Dukaten«, sagte er leise.
»Komm nicht auf falsche Gedanken, Hammer«, sagte MacNeil. »Das Gold gehört dem König. Dabei bleibt's auch. Dir steht eine Belohnung zu, und ich werde dafür sorgen, dass du sie bekommst. Das wäre dann aber alles.«
Grinsend schnürte Hammer den Sack wieder zu und stellte ihn zu den anderen zurück. Vogelscheuchen-Jack schnaubte verächtlich und sah sich um. Er hatte für Gold keine Verwendung im Wald. Plötzlich krauste er die Stirn und hob die Fackel gegen die Wand auf der rechten Seite. Im zusätzlichen Licht zeigte sich eine enge Öffnung dicht über dem Tunnelboden, fast verdeckt vom Schatten der aufgestapelten Säcke. Er machte MacNeil darauf aufmerksam. Die beiden gingen davor in die Hocke. Auch dieser Stollen hatte ungewöhnlich glatte Wände. Er war nur etwa einen Schritt breit und führte in einen weiteren Tunnel, der wiederum vollkommen glatte Wände hatte. Jack sah MacNeil an.
»Was meint ihr? Werfen wir einen Blick hinein?«
MacNeil zuckte die Achseln. »Wo wir schon mal hier sind. Aber wir müssen uns in Acht nehmen. Dass das Gold hier deponiert worden ist, hat bestimmt einen Grund, und ich habe das Gefühl, dass wir uns an der Nase herumführen lassen. Constance meint, das Biest könnte das Gold als Köder benutzen.«
Jack verriet Unsicherheit. »Aber was könnte dieses Ungeheuer von uns wollen?«
»Gute Frage. Ich furchte, uns wird die Antwort nicht gefallen. Hammer!«
Hammer blickte auf. »Was ist?«
»Hier ist noch ein Tunnel. Ich werde mich mit Jack darin umsehen. Kommst du mit?«
Hammer schüttelte den Kopf und schmunzelte. »Jemand muss doch auf das Gold aufpassen.«
»Eine andere Antwort hätte ich auch nicht erwartet«, entgegnete MacNeil. »Na schön, wie du willst. Jack, lass deine Fackel hier. Es reicht, wenn ich die Laterne mitnehme.«
Auf Händen und Knien kroch er in den Tunnel. Jack reichte Hammer die Fackel und folgte. Hammer sah die beiden verschwinden. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit zurück auf das Gold und zählte die Säcke, wobei sich seine Lippen stumm bewegten.
Der enge Gang war glitschig und erdrückend. MacNeil kroch so schnell er konnte und schob die Laterne vor sich her, deren Licht von den glatten Wänden nur matt widerspiegelte. Der fahle goldene Schimmer ließ den Gang noch enger erscheinen, und MacNeil spürte einen Anflug von Klaustrophobie. Aber entschlossen kroch er auf allen vieren weiter und spähte nach vorn ins Dunkle jenseits des Lichtkreises. Er konnte Jack hinter sich hören, der Geräusche machte, die ihn an die kriechenden blinden Riesen erinnerten, die ihm tief unter der Erde begegnet waren. Um sich von dieser Vorstellung zu befreien, schüttelte er den Kopf. Auf einmal spürte er nicht mehr glattes, sondern raues Gestein unter den Händen, und er stellte fest, dass sich der Gang in eine Höhle geöffnet hatte. Er richtete sich auf, reckte die schmerzenden Glieder und hob die Laterne in die Höhe. Auch Jack kam nun aus dem Tunnel gekrochen und stellte sich neben ihn. Eine Weile standen die beiden stumm und reglos da und starrten auf das, was ihnen in dieser Höhle zu Gesicht kam.
Männer, Frauen, Kinder, alle, die in der Grenzfeste ums Leben gekommen waren, lagen hier zu einem großen Haufen aufgestapelt. Es schien, als seien sie einfach abgelegt worden, um zu verwesen. Die Höhle war wohl an die dreißig Schritt breit, und die vielen Leichen nahmen ungefähr die Hälfte des gesamten Raumes ein.
Jeder der hier lag, war unverkennbar eines gewaltsamen Todes gestorben und voll von getrocknetem Blut.
MacNeil traute seinen Augen kaum und fühlte sich schrecklich ohnmächtig. All diese Menschen waren tot und unwiederbringlich verloren. Die Kinder gingen ihm besonders nahe. Die kleinen Körper, zerstört und weggeworfen… So zu sterben hatte kein Kind verdient. Sofort griff MacNeil nach dem Schwert und schwor im Stillen Rache, koste es, was es wolle.
Jack näherte sich dem Leichenberg und suchte nach Hinweisen auf die Todesursache der einzelnen Opfer. Er kam mit der Situation offenbar besser zurecht als MacNeil. Im Wald lebend, war er mit allen Formen des Todes vertraut und hatte den Schrecken darüber längst verloren. Für ihn war der Tod nur ein Teil der Welt. Plötzlich merkte Jack irritiert auf und bückte sich, um den Höhlenboden zu untersuchen.
MacNeil riss seinen Blick von den Toten los und rief seinen Verstand auf. Das Gold und die Leichen wie waren sie hierhin gelangt? Jemand musste sie hergeschafft haben. Vielleicht die kriechenden Riesen? MacNeil krauste die Stirn und schüttelte den Kopf. Diese Riesen waren doch viel zu groß. Sie hätten den schmalen Sims am Rand der großen Höhle gewiss nicht passieren können, geschweige denn den engen Tunnel.
»Sergeant, kommt doch mal mit der Laterne«, sagte Jack. »Ich hab etwas Interessantes entdeckt.«
MacNeil rückte zu ihm vor, bückte sich und beleuchtete die Stelle, die Jack so eingehend studierte. Es war schierer Fels, darauf eine Staubschicht mit Spuren, die aber zu undeutlich waren, als dass sie für MacNeil irgendeinen Aufschluss hätten erbringen können.
»Und?«, fragte er. »Was siehst du, Jack?«
»Fußabdrücke«, antwortete Jack seelenruhig. »Von Menschen. Da sind jede Menge Männer, Frauen und Kinder durcheinander gelaufen. Andere Spuren gibt's nicht. Das heißt, alle, die hier liegen, sind nicht hergeschafft worden, sondern auf eigenen Beinen gelaufen.«
MacNeil staunte. Plötzlich glaubte er eine Bewegung am Blickfeldrand entdeckt zu haben und fuhr mit dem Kopf herum. Eine der Leichen hatte die Augen geöffnet und starrte ihn an. Eine andere zog die schwarzen Lippen zu einem schauerlichen Grinsen auseinander. Jack und MacNeil sprangen auf. Die toten Augen folgten ihnen. Allmählich kam immer mehr Leben in den Leichenberg. Nach und nach schlugen alle Toten die Augen auf und wandten ihre blutverschmierten Gesichter den beiden Eindringlingen zu, offensichtlich empört darüber, in ihrer Ruhe gestört zu werden. MacNeil wähnte sich von einer kalten Hand ans Herz gefasst, als er sich vorstellte, wie eine endlose Reihe wandelnder Leichen durch die dunklen Gänge, über den schmalen Sims und schließlich in diese Grotte gezogen sein mochte, um hier umzukippen und zum Liegen zu kommen, eine über der anderen, sodass diejenigen, die später kamen, auf den Haufen hochklettern mussten… MacNeil fluchte flüsternd vor sich hin und wich zurück. So auch Jack. Die Leichen blickten ihnen nach, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Köder«, hauchte MacNeil. »Das Gold und die verschwundenen Toten… nur Köder, um uns hier herunter zu locken und zu vernichten.«
»Aber wozu so viel Aufwand?«, fragte Jack. »Was macht uns so wichtig? Das Biest könnte uns doch einfach in den Wahnsinn treiben, wie es das auch mit all den anderen getan hat.«
»Ich weiß nicht«, antwortete MacNeil. »Das Biest will etwas von uns. Vielleicht besitzen wir etwas, das ihm schaden könnte…« Plötzlich gingen ihm die Augen auf. »Natürlich! Das Infernaleisen! Das Monstrum will nicht alle von uns, nur Hammer und sein verfluchtes Schwert.«
»Augenblick«, sagte Jack und starrte beunruhigt zurück auf den Leichenhaufen. »Das kann wohl kaum das Werk des Biests sein. Es schläft doch noch, oder?«
»Das hat nichts zu sagen«, erwiderte MacNeil. »Sein Bewusstsein ist mit unserem nicht zu vergleichen. Sie wird den Wolfsfluch erkannt haben, als Hammer das erste Mal ins Fort gekommen ist, um das Gold auszuliefern. Das Biest weiß, wie mächtig dieses Schwert ist, und erkennt darin eine Gefahr für sich. Also hat es sein Träume ausgesendet und alle, die sich im Fort aufhielten, vernichtet, um sie als Köder zu missbrauchen, als Köder für den, der das Eisen mit sich führen würde… damit es dieses ein für allemal zerstören kann.
Komm, Jack. Wir müssen Hammer holen und machen, dass wir so schnell wie möglich von hier verschwinden.
Wenn das Eisen tatsächlich der Schüssel ist, dürfen wir nicht riskieren, dass es dem Biest in die Hände fällt.
Beeilung! Ich bleibe dicht hinter dir und leuchte den Weg mit meiner Laterne.«
Jack nickte und tauchte in den engen Höhlengang ein. MacNeil zählte bis fünf und eilte ihm nach, so schnell er auf Händen und Knien vorankommen konnte. Seine Gedanken aber blieben bei dem zurück, was er zuletzt gesehen hatte: dem Leichenberg, der in Bewegung geraten war, als wimmelte er vor Maden. Die Toten erhoben sich, um wieder umherzuwandeln. Jack und MacNeil hasteten verzweifelt weiter. Der Tunnel schien nun auf dem Rückweg sehr viel länger zu sein, und die Hälfte der Wegstrecke war gerade erst erreicht, als hinter ihnen Geräusche laut wurden. Irgendwie schafften sie es, noch ein bisschen mehr Kraft aufzubringen und schneller zu kriechen, und wenig später war das Ende erreicht. Mit einem Hechtsprung warfen sie sich in die äußere Höhle. Hammer fuhr erschrocken herum und griff sofort nach dem Schwert, als er ihre entsetzten Gesichter sah.
»Was ist? Was habt ihr gesehen?«
»Wandelnde Leichen«, keuchte Jack. »Wir müssen abhauen!«
»Und all das Gold zurücklassen?«
»Das wird schon nicht wegkommen!«, zischte MacNeil. »Sie haben's auf dein Schwert abgesehen, Hammer, auf das Eisen! Das Biest scheint Angst davor zu haben. Deshalb hat es das Gold hier herunter gebracht. Es wollte, dass du kommst und in die Falle tappst.«
Als er sich umdrehte und einen Blick auf die Tunnelöffnung warf, sah er, wie sich ein nackter weißer Arm daraus hervorwand. Er setzte die Laterne auf dem Boden ab und zog sein Schwert. Der Tunnel war inzwischen voller Geräusche. MacNeil schwang das Schwert mit beiden Händen und durchschlug den ausgestreckten Leichenarm am Handgelenk. Scheppernd traf die Klinge auf den Felsrand, während die abgetrennte Hand durch die Höhle flatterte. Auf dem Boden gelandet, kam sie dann wie eine riesige bleiche Spinne auf MacNeil zugekrabbelt. Jack trat sie weg. Das Gespenst kam nun aus dem Tunnel gekrochen und warf sich MacNeil entgegen. Seine falbe Haut war besprenkelt mit längst getrocknetem Blut, aber aus dem Armstumpf kam kein Tropfen mehr. Hammer steckte Jack die Fackel zu und zog das Schwert, das er an der Hüfte trug. Derweil zielte MacNeil mit seiner Waffe auf den Hals des Toten, der aber den Streich mit bloßem Arm abblockte und grinste, als die Klinge über den Knochen schabte. Ehe ihm das Gespenst im Gegenzug an die Gurgel springen konnte, war MacNeil zurückgewichen. Da aber kroch auch schon die zweite Leiche aus dem Tunnel. MacNeil schlug auf sie ein, doch sie drängte weiter. Hammer sprang herbei und brachte das erste Gespenst mit einem wuchtigen Streich auf dessen Beine zu Fall. MacNeil musste sich einer weiteren Attacke durch das zweite Monstrum erwehren, während der Tunnel Leiche um Leiche entließ.
Hammer und MacNeil versuchten, ihre Stellung zu behaupten, sahen sich aber einer ständig wachsenden Anzahl von Gegnern ausgesetzt, die einfach nicht tot bleiben wollten und die beiden immer weiter in die Defensive zwangen. Aufhalten ließen sich die Toten nur durch gezielte Schläge auf die Kniesehne oder den Hals. Und selbst in enthauptetem oder verkrüppeltem Zustand schleppten sie sich weiter, um niederzumachen, wer sich ihnen zu widersetzen wagte. Die meisten Leichen waren zu Lebzeiten männlichen Geschlechts gewesen, aber es kamen auch ehemalige Frauen und Kinder aus dem Tunnel gekrochen.
MacNeil konnte es kaum über sich bringen, auf eins dieser Kinder einzuschlagen, als er dazu genötigt wurde.
Doch als er in die toten Augen blickte, entdeckte er darin eine teuflische Bosheit, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Danach wehrte er sich gegen Kinderleichen ebenso entschlossen wie gegen tote Erwachsene, und sooft er einem kindlichen Gespenst entgegentrat, wiederholte er im Stillen seinen Racheschwur, den er gegen das Biest ausgestoßen hatte, das ihn und seine Freunde auf so schändliche Weise missbrauchte. Für Hammer schien es gleichgültig zu sein, wen oder was er bekämpfte. Er schwang sein Schwert ohne Rücksicht auf Verluste; ab und zu huschte ihm ein zufriedenes Lächeln über sein Gesicht.
Jack stand abseits und hielt die Fackel, gefasst darauf, dass es einem der Monstren gelingen würde, an den anderen beiden vorbeizukommen. Mit seinem Messer, so ahnte er, würde er nichts ausrichten können, aber immerhin hatte er durchaus Erfolg mit der Fackel. Zwar empfand das kalte Fleisch keinen Schmerz, wenn es mit den flackernden Flammen in Berührung kam, doch Haare und Kleider waren so trocken, dass sie sogleich Feuer fingen und lichterloh brannten. Schon bald wälzte sich ein halbes Dutzend brennender Leichen am Boden und fuchtelte mit den Armen, um die Flammen zu löschen, die die Höhle in helles Licht tauchten.
Dennoch drängten immer mehr Leichen durch den engen Stollen in die Höhle und zwangen die Verteidiger Stück für Stück zurück. Deren Schwerter metzelten nieder, was in Reichweite kam, doch was nicht mehr auf Beinen stehen konnte, schleppte sich entschlossen weiter auf die lebende Beute zu. MacNeil spürte eine alte Furcht wieder aufkeimen, jene Furcht, die ihn schon zu überwältigen gedroht hatte, als die Dämonen aus der endlosen Nacht ausgeschwärmt waren zu einer albtraumhaften Attacke, die kein Ende zu nehmen zu schien.
Angst und Panik machten sich auch jetzt wieder bei ihm breit. Er war geneigt, den Angreifern seine Wut entgegenzuschreien, aber es gelang ihm dann doch, sich zusammenzureißen und den langsamen, kontrollierten Rückzug fortzusetzen. Hammer folgte auf gleicher Höhe, und Jack hielt ihnen mit der lodernden Fackel den Rücken frei.
Die Höhle war inzwischen voller Leichen, deren verzerrte bleiche Gesichter die Träume des Biests spiegelten, die dieses kontrollierte.
»Wir können sie nicht länger aufhalten«, sagte MacNeil. »Zieh dein anderes Schwert, Hammer. Zieh das verdammte Schwert.«
»Mir bleibt wohl nichts anderes mehr übrig, oder?«
Mit einem wuchtigen Hieb enthauptete er ein Ungetüm, das mit seinen Klauen nach ihm griff. Der Kopf rollte mit stumm bewegten Lippen über den Boden.
Rumpfund Beine torkelten aufrecht hin und her, die Arme ausgestreckt, blindlings tastend nach dem Feind, bis andere Leichen nach vorn drängten und es zur Seite rempelten. Hammer nutzte die Gelegenheit der allgemeinen Verwirrung und steckte das Schwert in die Scheide. Dann holte er einmal tief Luft und griff nach dem Heft des Langschwertes, das über seine linke Schulter hinausragte. Seine Mundwinkel zuckten, als läge ihm bittere Galle auf der Zunge. Der Schwertgriff schien sich wie von selbst der Hand anzubieten. Mit schwungvoller Bewegung zog er es aus der silbernen Scheide und hob die überlange Stahlklinge, als wäre sie schwerelos. Krankhaft gelbes Licht strahlte von ihr aus.
»Wolfsfluch«, flüsterte Hammer. »Du bist wieder freigesetzt in die Welt.«
Die Leichen stoppten ihren Vormarsch. In stummer Begeisterung hefteten sie ihre leeren Blicke auf das glühende Langschwert, während etwas anderes das Hölleneisen durch deren tote Augen musterte und es als das wieder erkannte, was es war. Das Höllenschwert war in die Tiefen der Erde gebracht worden, und nun würden sie es an sich nehmen und so vergraben, dass es dem Biest nie wieder gefährlich werden könnte. Mit ausgestreckten Armen rückten die Leichen weiter vor. Hammer trat ihnen mit dem Wolfsfluch entgegen. Unglaublich schnell fuhr das Schwert durch die Menge der Monstren, die ihm kaum mehr Widerstand zu bieten schienen als Rauchschwaden. Sie fielen machtlos unter Hammers Attacken, verwesten und lösten sich auf, kaum dass sie mit der Klinge in Berührung gekommen waren. Der ganze Höhlenboden war bald lückenlos bedeckt mit faulenden Geweberesten und fahlen Knochen. Aber es drängten immer mehr Leichen durch den engen Tunnel nach. Ihre Zahl nahm so schnell zu, dass Hammer mit deren Verminderung nicht mehr Schritt halten konnte. Die drei - Hammer, MacNeil und Vogelscheuchen-Jack — mussten weiter zurückweichen, so sehr sie sich auch wehrten. Ihnen war klar: Die Leichen würden sie in Stücke reißen, wenn sich ihnen auch nur die kleinste Lücke böte. Hammer sprang wie besessen vor und zurück, und je mehr Leichen er niederstreckte, desto heller glühte der Wolfsfluch auf. Jack und MacNeil gaben ihm nach besten Kräften Flankenschutz, zumal Hammer ausschließlich auf Angriff eingestellt zu sein schien.
Getrieben von dem Biest in seinen finsteren Träumen, rückten die Leichen immer weiter vor. Da kamen Hunderte von toten Männern, Frauen und Kindern, gestorben in der Grenzfeste. Sie zwangen Hammer, MacNeil und Jack Schritt für Schritt zurück, bis an den Rand der Höhle, durch den Stollen und schließlich auf den Sims an der schwindelnd hohen Steilwand hinaus. Jack, der nach wie vor die Fackel hielt, ging als Erster; ihm folgte MacNeil mit der Laterne, und zum Schluss kam Hammer. Er hielt die Leichen auf Abstand und das Infernaleisen leuchtete im Dunkel strahlend hell. Sein bittergelbes Licht reflektierte in Myriaden von Kristallen, die in den Felswänden steckten. Langsam und vorsichtig zogen sich die drei Männer über den schmalen Steig zurück. Die Toten setzten ihnen nach.
Weit unten, tief in der Erde, rührte sich das Biest im Schlaf.
Flint, Wilde und der Tänzer schwangen die Schwerter mit schmerzenden Armen. Andere wären vor Erschöpfung längst umgefallen. Immer schwerer wurden ihnen ihre Schwerter, doch sie gaben nicht auf. Der Zustrom der Trolle schien nicht versiegen zu wollen. Ihre blutroten Augen glühten gefräßig. Lange, knochige Kadaver lagen am Boden verstreut, und noch hatte keines der Scheusale die Verteidiger überwinden und die Falltür erreichen können. Flint, Wilde und der Tänzer konnten sie in Schach halten, weil immer nur einige wenige gleichzeitig durch den Eingang passten. Doch es war, wie jeder wusste, nur eine Frage der Zeit, bis einer von ihnen fallen würde. Zu zweit wäre es ihnen dann nicht mehr möglich, die Trolle abzuwehren.
Der Tänzer war in seinem Element. Sein Schwert schwirrte flirrend umher und fuhr durch die Menge der Trolle wie eine Sense durch Getreide. Er grinste breit und seine Augen leuchteten in grimmer Befriedigung. Er tat, was er am besten konnte, und genoss jeden Augenblick.
Dass der Gegner von erdrückender Überlegenheit war, machte den Kampf für ihn, den Tänzer, umso prickelnder.
Flint focht an seiner Seite. Was er ihr an Geschicklichkeit und Schnelligkeit voraus hatte, machte sie durch Kraft und Ausdauer wett. Und sie kämpfte nicht nur, sondern überlegte gleichzeitig hin und her, wie sich die Trolle bezwingen lassen könnten. Allerdings ahnte sie längst, dass darauf kaum zu hoffen war. Sie gaben ihr Bestes, doch das schien nicht zu reichen. Pech. Aber darauf musste man als Ranger immer gefasst sein. Flint kämpfte weiter und achtete nicht auf die Schmerzen und das aus zahllosen kleinen Wunden sickernde Blut. Bis zum bitteren Ende würde sie aushalten. Und wer weiß? Vielleicht schaffte MacNeil es ja, das Biest zu töten. Ja.
Vielleicht.
Wilde kämpfte an Flints Seite. Er bereute es, so früh schon alle seine Pfeile verschossen zu haben. Mit dem Schwert konnte er zwar auch gut umgehen, aber längst nicht so gut wie mit einem Bogen. Außerdem war ein Schütze, der aus der Entfernung agierte, weit weniger gefährdet als ein Schwertkämpfer. Er hackte auf einen Troll ein und spaltete dessen Schädel vom Scheitel bis zur Kinnlade. Wilde grinste gehässig über den grotesken Anblick des Gegners, der vor seinen Augen zusammenbrach. Zum Teufel mit allen, die sich ihm in den Weg stellten. Er kämpfte weiter und wünschte, er hätte zumindest einen Pfeil zurückbehalten — für den Tänzer. Noch war er auf die Kampfkraft des Schwertmeisters angewiesen. Aber später, wenn die Trolle endlich geschlagen wären… Er schwang sein Schwert und erwehrte sich der Gegner, die ihn zu Boden zu reißen versuchten. Das Blut, das seine Kleider durchtränkte, stammte nicht allein von gefallenen Trollen.
Constance sprach eine Zauberformel nach der anderen. Ihr eintöniger Singsang wurde zunehmend heiser und undeutlich. Sie strapazierte ihre magischen Möglichkeiten über alle Maßen, ungeachtet der rasenden Kopfschmerzen, die sie hatte. Die wenigen Trolle, die an den Schwertkämpfern vorbei und in die Nähe der Hexe kamen, verbrannten wie Motten im Feuer. Einer von ihnen schleppte sich weiter, obwohl ihm das Fleisch von den Knochen tropfte wie Wachs von einer Kerze. Constance beschrieb eine energische Geste und der Troll explodierte in einer Wolke aus Blut und Gewebe. Dass sie ihre Magie bis an die Grenzen ausreizte, forderte nun einen qualvollen Tribut. Ein stechender Schmerz fuhr ihr über dem linken Auge durch die Stirn. Aus der Nase troff Blut. Es drohte ein Kollaps.
Von kalten und heißen Schauern geschüttelt, wankte sie hin und her und hielt krampfhaft an ihrem Bewusstsein fest. Fiele sie jetzt in Ohnmacht, würden die Trolle kurzen Prozess mit ihr machen. Und außerdem, sie konnte ihre Partner doch nicht einfach im Stich lassen.
Der Schwindel legte sich ein wenig, und wieder brachte sie ihre Zauberkraft auf. Gefahr drohte nicht von den Trollen allein. Im Keller hatten sich dünne Nebelschleier gebildet, die von den Trollen als Schleuse in die wirkliche Welt genutzt werden konnten. Wenn sich dieser Nebel weiter ausbreitete, würden die Scheusale aus allen Ecken und Enden auftauchen, und die Verteidiger wären im Nu überrannt. Constance nahm all ihre Kraft zusammen und konzentrierte sich auf die Aufgabe, den Nebel zu vertreiben. Die Trolle witterten wohl die augenblickliche Verwundbarkeit der Hexe und attackierten mit entfesselter Wut. Einer schaffte es, an Flint und Wilde vorbeizukommen, und schnappte mit fletschenden Zähnen nach Constance. Sie rammte ihm ihre Faust in den Rachen. Die vielen Ringe an ihren Fingern taten ein Übriges, sodass der Troll würgend zu Boden ging. Mit einem gezielten Fußtritt zerbrach sie den Hals des Gegners. Sie schmunzelte flüchtig und widmete sich wieder ihren Zauberkünsten.
Die vier Verteidiger kämpften weiter. Andere hätten sich an ihrer Stelle längst ihrem Schicksal ergeben, und auch sie sahen kaum mehr eine Chance für sich. Der Tänzer wurde von drei Trollen in die Zange genommen, die sich einfach zu sterben weigerten, sosehr er auch mit dem Schwert auf sie einschlug. Dermaßen in Anspruch genommen, konnte er nicht verhindern, dass sich zwei weitere Gegner über Flint hermachten. Sie tötete einen, war aber nicht schnell genug und musste sich gefallen lassen, vom zweiten zu Boden gestoßen zu werden. Wilde hatte gerade selbst einen Troll niedergestreckt und blickte in dem Moment auf, als Flint überwältigt wurde. Benommen von dem Sturz, hob sie ihren Säbel zur Abwehr. Doch der Troll, der sich über sie beugte, schlug ihr die Waffe aus der Hand. Als sie danach zu greifen versuchte, wischte ihr der Troll mit seinen Klauen übers Gesicht. Sie konnte gerade noch rechtzeitig den Kopf zur Seite drehen und so ihr Gesicht schützen.
Doch zerfetzten ihr die langen Krallen das linke Ohr. Sie schrie vor Schmerzen auf und spürte warmes Blut in den Nacken rinnen. Grinsend legte ihr der Troll seine schweren Pranken um den Hals. Flint versuchte sich freizukämpfen, was ihr aber nicht gelingen wollte.
Schreiend warf sich Wilde auf den Troll und stieß ihn mit Wucht von Flint herunter. Dabei landete er selbst so unglücklich, dass er sich den Ellbogen auf dem Steinboden prellte. Sofort war seine Hand gefühllos und er musste ohnmächtig mit ansehen, wie ihm das Schwert aus den starren Fingern glitt. Der Troll bäumte sich über ihm auf, riesig und schrecklich, und er lachte nur, als Wilde einen Fausthieb auf seinen Unterleib platzierte. Wilde wälzte sich zur Seite, um das Scheusal abzuschütteln, doch es hielt ihn mit der Klauenhand bei der Kehle gepackt und ließ nicht locker. Mit der anderen Hand schlitzte es ihm den Bauch auf und zog ein Geschlinge blutiger Eingeweide daraus hervor. Wilde schrie gellend auf. Blut floss ihm aus dem Mund und sammelte sich als Pfütze um seinen zuckenden Leib. Erst jetzt ließ der Unhold von ihm ab.
Flint riss ihren Säbel an sich und spießte den Troll von hinten auf. Sterbend versuchte der, die Klinge festzuhalten, doch Flint zerrte sie mit einem Ruck wieder frei. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf Wilde und beeilte sich, an die Seite des Tänzers zurückzukehren. Der hatte sich soeben der drei lästigen Trolle entledigt, konnte aber allein die Stellung nicht länger halten. Er brauchte ihre Unterstützung dringend. Sie schlug den nächsten Troll nieder und grinste frostig, als der, die aufgeschlitzte Kehle mit beiden Händen gepackt, zu Boden ging. Seinen Platz übernahm sofort ein anderer Troll. Der Tänzer wich einen Schritt von der Tür zurück; Flint folgte auf gleicher Höhe.
Constance stand wie angewurzelt da und kämpfte mit ihren magischen Mitteln gegen den langsam um sich greifenden Nebel an. Flint und der Tänzer rückten noch einen Schritt zurück. Immer mehr Trolle zwängten sich in den Keller. Die drei Ranger wussten um die Vergeblichkeit ihres Kampfes, kämpften aber weiter, weil ihnen nichts anderes übrig blieb.
Tief in der Erde unter dem Fort rührte sich das Biest. Die große Höhle erbebte in ihren Grundfesten. Gestein krachte und splitterte; gewaltige Felsplatten gerieten in Bewegung. In den Wänden taten sich Risse auf und von der Decke hagelte Steinschlag.
MacNeil klammerte sich an der Höhlenwand fest, als der Sims unter seinen Füßen nachzugeben drohte.
Vogelscheuchen-Jack verlor das Gleichgewicht und ließ die Fackel fallen, um sich mit beiden Händen festhalten zu können. Die lodernde Flamme verschwand im finsteren Abgrund und wurde nicht mehr gesehen. MacNeil setzte seine Laterne ab und eilte Jack zu Hilfe. Hammer hatte sich auf den Beinen halten können, wurde nun aber wieder von den nachfolgenden Leichen bedrängt, die sich von dem zerstörerischen Beben ringsum nicht im mindesten irritieren ließen. Eine rutschte vom Steig, stürzte in die Tiefe und war nach wenigen Augenblicken von der Dunkelheit verschluckt, die den Höhlengrund überlagerte. Davon unbeeindruckt, rückten die Leichen auf dem Felssims weiter vor, der plötzlich heftig auf und ab schlenkerte. Gleichzeitig klafften die Risse in der Wand noch weiter auseinander. Hammer verlor das Gleichgewicht und prallte mit MacNeil zusammen, der über Jacks ausgestrecktes Bein stolperte.
Beide stürzten der Länge nach hin. MacNeil konnte noch im letzten Augenblick seine Hand in eine der Felsspalten rammen und sich so festhalten, doch Vogelscheuchen-Jack kippte über den Rand.
Verzweifelt strampelte MacNeil mit den Beinen und traf Jack mit dem linken Fuß vor die Brust. Der packte instinktiv mit beiden Händen zu und konnte sich somit abfangen, pendelte aber hilflos über dem Abgrund.
MacNeil zwängte seine Fäuste tiefer in den Spalt und keilte sich darin fest. Für eine Weile wagten es weder er noch Jack, sich zu bewegen. Dann hangelte sich Jack mit Klimmzügen an MacNeils Körper nach oben. MacNeil stöhnte laut auf vor Schmerzen, die ihm durch die doppelt belasteten Hände und Arme fuhren. Und als Jack endlich den Sims erreichte, stieß MacNeil einen langen Seufzer der Erleichterung aus.
Jack kletterte auf den Steig, und MacNeil richtete sich unter Schmerzen wieder auf. Er plierte kurz in die Tiefe, blickte aber sofort wieder nach vorn. Der Abgrund machte ihn schaudern. Er reichte Jack die Laterne und warf einen Blick über die Schulter zurück, um zu sehen, wie es Hammer erging. Der Fels bebte noch immer, aber nicht mehr so stark. Aus allen Ecken der Höhle war ein Knirschen und Rütteln zu hören, und irgendwo in der Tiefe rumorte es dumpf.
Der Leichenzug riss plötzlich ab. Hammer streckte die Letzten nieder, die aus dem Tunnel drängten, und schickte sie in die Dunkelheit des Abgrunds. Langsam senkte er das Schwert und stützte sich darauf. Er war sichtlich müde. MacNeil atmete tief durch. Die Toten der Grenzfeste hatten sie, die Eindringlinge, zur Mündung des Hauptstollens zurückgedrängt und sich dabei bis zum Letzten aufgerieben. MacNeil sah Hammer an und winselte unwillkürlich. Das Infernaleisen glühte blendend hell. Hammer lehnte mit geschlossenen Augen auf dem Schwert. Die Brust ging ihm keuchend auf und ab und sein Gesicht badete in Schweiß. Der Albtraum war für ihn noch nicht vorbei; im Gegenteil, er hatte gerade erst begonnen. Laut stöhnend kniff er die Augenlider fest zusammen.
MacNeil und Vogelscheuchen-Jack sahen einander an. Die Gefahr der Leichen war abgewehrt, doch das Beben dauerte an, weshalb es ratsam schien, die Höhle schnellstens zu verlassen. Hammer aber rührte sich nicht.
»Hammer?«, rief MacNeil, laut genug, um das Gepolter rollender Steine zu übertönen. »Was ist los, Hammer?
Was hast du?«
»Das Schwert«, krächzte er heiser und mit schmerzverzerrtem Gesicht. Die Knöchel der Hand traten weiß zum Vorschein, so fest hielt er das Heft umklammert. »Dieses verfluchte Schwert. Ich habe es zu lange geschwungen, allzu lange in Versuchung gebracht… Es ist erwacht.«
MacNeil schaute sich fragend nach Jack um. Der nickte mit dem Kopf. »Er hat Recht, Sergeant. Das Schwert ist lebendig und bei Bewusstsein. Ich spüre es.«
MacNeil wandte sich wieder Hammer zu. »Steck es in die Scheide zurück. Wir brauchen es nicht mehr, Hammer. Beruhige dich und steck es wieder weg.«
»Idiot!«, blaffte Hammer. »Es lässt sich nicht einfach wegstecken. Das verfluchte Ding ist wach und voller Heißhunger. Du ahnst nicht, welche Gewalt in ihm steckt, eine Gewalt, wie du sie dir in den schlimmsten Albträumen nicht vorstellen kannst. Damit ließe sich die ganze Welt vernichten, dass von ihr nichts weiter übrig bleiben würde als ein stinkender Haufen Dreck. Und das Schwert will, dass ich diese Gewalt anwende.«
MacNeil schluckte. Er wollte leugnen, was er da hörte, allein, es war ihm unmöglich. Das Höllenschwert barg eine Macht, die im Rhythmus des blinkenden Lichtes pulsierte, so stark, dass selbst er sie spüren konnte. Er versuchte, Hammers Unaufmerksamkeit zu nutzen, um ihm die Waffe aus der Hand zu reißen. Doch der Bandit hatte sich blitzschnell wieder gefasst. Er sprang zurück und richtete die Schwertspitze auf MacNeils Brust.
»Ich warne dich. Wenn du das noch mal machst, werde ich dich töten. Töten müssen.«
»Hammer…«
»Ich könnte das Eisen beherrschen. Ja, ich könnte es, brauchte allerdings nur noch etwas mehr Zeit.«
Aus der Tiefe der Höhle tönte ein fettes, ekliges Grunzen. Wie von einem Riesenschwein vor seinem Trog. Das Echo schwirrte scheinbar endlos lange durch den Raum, und nach wie vor bebte der Berg. Feiner Sand rieselte von der Decke. Wieder wurde dieses mächtige Grunzen laut; es klang diesmal wie Donnerhall. Hammer, MacNeil und Vogelscheuchen-Jack starrten hinab ins Dunkle. Tief unten auf dem Höhlengrund zeichnete sich eine Spur silbrigen Feuers ab. Sie war einige hundert Schritt lang, erstreckte sich über die gesamte Fläche und zerteilte die Finsternis. Und dann wurde dieser Teilstrich allmählich breiter. Gleichzeitig nahm das Feuer an Heftigkeit zu. Silbriger Glanz erfüllte die Höhle, gleißend hell und stechend. Erst als sich aus dem dunklen Rückraum ein riesiger goldener Kreis in das Licht bewegte, erkannte MacNeil, dass er das Aufschlagen eines einzigen, riesigen Auges miterlebte.
Das riesige dunkle Lid zog sich langsam zurück und enthüllte ein Auge, das den gesamten Höhlengrund ausfüllte. Die goldene Pupille starrte MacNeil entgegen und war voller Verachtung. Er wollte wegschauen, doch das Auge hielt ihn mit dem fürchterlich starren Blick einer alten, zürnenden Gottheit in Bann.
Das gib's doch nicht, dachte MacNeil benommen.
Hundert Schritt in der Breite — so groß kann doch kein Auge sein… Er versuchte, die Größe des Biests zu ermessen, doch seine Dimensionen überstiegen das menschliche Vorstellungsvermögen.
Tief in der Erde hat es früher Riesen gegeben.
Die Luft fing plötzlich zu schwingen an, aufgerührt wie von einer mächtigen, gebieterischen, aber lautlosen Stimme. MacNeil starrte ins Auge des Biests, und die Stimme forderte ihn lautlos auf, sich zu ergeben. Je länger er in die Pupille starrte, desto gefügiger wurde er. Tränen der Hilflosigkeit rannen ihm über die Wangen; der silberne Glanz blendete seine Augen, doch er konnte sie nicht abwenden. MacNeil starrte in das Auge des Monstrums, und alles andere verlor an Kontur und erblasste. Alles, was ihm Sorgen, Angst oder Ärger bereitete, schien von ihm abzulassen und verlor an Bedeutung. Das Einzige, was noch zählte, war die lautlose Stimme und der Wunsch, ihr zu gehorchen. Er fühlte sich sicher, warm und behaglich; nichts und niemand würde ihm jemals wieder Schaden zufügen können. Er wäre aller Sorgen entledigt, wenn er nur dem Biest gehorchte. Wenn er sich von seinen Pflichten loslöste.
Pflicht. Das Wort schlug in seinem Kopf an wie eine Glocke. Er fühlte sich seinem Königreich verpflichtet und tat darum als Ranger seinen Dienst. Aus Pflicht hatte er in der langen Nacht gegen Dämonen gekämpft. Zur Pflicht gehörte auch ein Ehrgefühl.
Jetzt begriff MacNeil, warum er in all den Jahren seinen Posten nie verlassen hatte und sich dazu auch in Zukunft niemals hinreißen lassen würde, gleichgültig was passieren mochte. Er hatte es schon häufig mit der Angst zu tun bekommen; daran war nichts Ehrenrühriges. Nur für Idioten und Tote gab es keine Furcht. Aus dem Gefühl für Pflicht und Ehre aber konnte Mut erwachsen, Mut, der gebraucht wurde um zu tun, was getan werden musste.
MacNeil stöhnte laut auf und wandte sich mit einem Ruck vom Anblick des riesigen Auges ab. Er kehrte ihm den Rücken und drückte sein Gesicht an den kalten, unnachgiebigen Fels der Höhlenwand. Sein Herz raste. Er keuchte so heftig, als wäre er in voller Rüstung eine Meile weit gerannt. Schweiß rann ihm von der Stirn und brannte in den Augen. Verstand und Seele drohten verloren zu gehen, und das war ihm bewusst. Er zitterte am ganzen Körper und ballte die Hände zu Fäusten zusammen. Er zwang sich zu gleichmäßigen, tiefen Atemzügen.
Wieder ein wenig ruhiger geworden, drehte er sich von der Höhlenwand weg. Der grelle silberne Glanz traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, aber die gebieterische Stimme meldete sich nicht mehr. MacNeil wusste, warum. Er hatte sich ihr verschlossen. Zur Seite blickend, sah er, dass Hammer und Jack immer noch wie verzaubert in das strahlende Auge starrten.
Vogelscheuchen-Jack rief die Bäume zu Hilfe, doch deren Antwort blieb aus. Er hatte sich allzu weit von seinem Wald entfernt. Hier befand er sich in der Domäne des Biests. Seine donnernde Stimme hallte durch seinen Kopf, überlagerte alle Gedanken und Erinnerungen. Jack brauchte die Kraft der Bäume. Er griff mit allen Sinnen aus, kämpfte energisch gegen die Stimme des Ungeheuers an und versuchte stattdessen, Zwiesprache mit den Bäumen zu halten. Der Wald war immer noch für ihn da; er breitete sich auf weiter Flur über der Höhle aus und stand ihm mit all seiner uralten Kraft zu Diensten.
Soeben erst erwacht, war das Biest noch matt und träge. Doch seine Stimme dröhnte schon unerträglich tief. Jack bot all seinen Widerwillen auf, brüllte ihr sein Nein entgegen und griff ein letztes Mal aus. Endlich hörten ihn die Bäume und liehen ihm ihre Kraft. Sofort verlor das Biest den Zugriff auf seinen Verstand. Er schüttelte ihn ab wie einen bösen Traum und atmete befreit auf. Eiskalte Luft füllte seine Lungen und machte ihn hellwach. Er sah, wie nahe er am Abgrund stand und wich schnell zurück.
MacNeil nickte ihm zu, bemerkte aber, dass er noch zu benommen war, um mit ihm zusammen Hammer unter die Arme zu greifen. Dessen Gesicht war zu einer entsetzlichen Fratze verzerrt und die Hände hielten krampfhaft das Langschwert umklammert, doch er konnte sich vom Anblick des riesigen Auges nicht losreißen. Das Biest hielt ihn in seiner Gewalt. MacNeil fluchte leise vor sich hin und straffte die Schultern. Er musste Hammer das Infernaleisen abnehmen, bevor es dem Biest zufallen konnte. Gegen es, das nun erwacht war, hatte MacNeil nur noch mit dem Höllenschwert eine Chance. Er rückte auf Hammer zu und streckte die Hand aus, um nach dem Schwert zu greifen.
Hammer wirbelte herum und ließ die lange Klinge auf ihn einschwingen. MacNeil tauchte im letzten Augenblick darunter weg, spürte noch den Luftsog durch seine Haare fahren. Das Schwert traf vor die Felswand und blieb darin stecken. Und ehe Hammer es wieder freibekommen konnte, war ihm Jack von hinten in den Arm gefallen.
MacNeil eilte hinzu, sah aber, dass sich Hammers Gesicht entspannt hatte und bar jeder Regung war. Hammer hatte seinen letzten Kampf verloren; durch seine Augen blickte nun das Biest. Er versuchte sich mit aller Macht aus Jacks Klammergriff zu befreien, doch in dessen Armen wirkte die Kraft der hohen Bäume. Dagegen kam Hammer einfach nicht an. MacNeil versetzte ihm einen wuchtigen Fausthieb in den Bauch, worauf ihn der Bandit nur ungerührt anstarrte. Er legte all seine Kraft in den Versuch, das Langschwert zu heben. MacNeil schlug ein zweites Mal zu, so fest er konnte - und auf die Kinnspitze gezielt. Doch Hammer zeigte keine Wirkung. Auch nicht auf die nachfolgenden Hiebe. Er überging sein Gegenüber, und obwohl von Jack fest umklammert und zurückgehalten, gelang es ihm, das Langschwert langsam, Stück für Stück, zu heben.
»Tu doch was!«, keuchte Jack. »Ich kann ihn nicht mehr lange halten.«
MacNeil hob sein Schwert und schlitzte kurz entschlossen Hammers Kehle auf. Blut spritzte und klatschte vor MacNeils Brust und Arme. Doch der Bandit blieb davon scheinbar unbeeindruckt. Er kämpfte noch, als ihm schon alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war und der Blutstrom allmählich versiegte. Schließlich hörte er auch zu atmen auf, blieb aber dennoch aufrecht stehen, hielt das Infernaleisen gepackt und versuchte immer weiter, sich aus Jacks Umklammerung loszureißen. MacNeil traute seinen Augen kaum, als sich Hammer tatsächlich löste und Jack zurückstieß. Der stolperte und stürzte - zu seinem Glück, denn Hammer hatte sich umgedreht und mit dem Langschwert nach ihm geschlagen, das nur um Haaresbreite sein Ziel verfehlte.
MacNeil stieß einen Schrei aus und stampfte mit dem Fuß auf, um Hammers Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der tat ihm den Gefallen. Seine Brust war blutüberschwemmt, doch die entseelten Augen folgten jeder Bewegung des Gegners, ohne mit der Wimper zu zucken.
Hammer war von dem Biest besessen.
MacNeil wich langsam über den schmalen Sims zurück. Er hütete sich davor, die eigene Waffe mit dem Wolfsfluch zu kreuzen. Das Eisen würde durch seine Klinge fahren wie durch Papier. Aber weiter zurückzuweichen kam auch nicht infrage. Hammer würde entweder irgendwann attackieren oder kehrtmachen und auf Jack losgehen. MacNeil wusste immer noch nicht, wie er sich nun entscheiden sollte, als er sah, wie sich Jack geduckt von hinten an Hammer heranpirschte. MacNeil hatte die Lage schnell begriffen. Er nahm sein Schwert in beide Hände und stürmte, aus vollem Halse schreiend, auf Hammer ein. Um sich gegen den Angriff zu wappnen, wich Hammer einen Schritt zurück und stolperte über Jack, der gehockt hinter ihm kauerte. Hilflos kippte er um. Jack fackelte nicht lange und versetzte ihm einen Stoß, der ihn unweigerlich in den Abgrund schickte. Blitzschnell war MacNeil zur Stelle und hackte mit seinem Schwert auf Hammers rechten Arm ein, als der gerade über die Kante glitt. Die Klinge fuhr durch das Handgelenk, mit dem Ergebnis, dass das Infernaleisen klirrend auf dem Sims zu liegen kam, nach wie vor umklammert von der abgetrennten rechten Hand. Jack und MacNeil sahen Hammers Körper in die Tiefe stürzen und schließlich als kleinen schwarzen Fleck im grellen Licht des Riesenauges verschwinden.
An die Felswand gelehnt, schnappten beide nach Luft. MacNeil fühlte sich schwindelig und wie betäubt im Kopf; die Beine zitterten vor Erschöpfung, doch noch war ihm, wie er wusste, keine Pause vergönnt. Er blickte auf das Infernaleisen, das glühend vor ihm auf dem Felssims lag. Langsam löste sich Hammers Hand vom Heft.
»Und was tun wir jetzt?«, raunte Jack mit heiserer Stimme.
»Jetzt töte ich das Biest«, antwortete MacNeil.
Jack schaute in das große starrende Auge hinab und richtete dann den Blick zurück auf den Wolfsfluch.
Erschaudernd wurde ihm klar, was MacNeil plante. »Könntet Ihr Euch das denn nicht ersparen?«
»Nein«, erwiderte der Ranger. »Das ist meine Aufgabe, meine Pflicht.«
Jack betrachtete ihn eine Weile. Dann nickte er kurz mit dem Kopf und sagte: »Ihr seid ein tapferer Mann, Sergeant. Viel Glück.«
»Danke. Das kann ich brauchen. Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst. Der Stollen, durch den wir gekommen sind, gehörte zum Traum des Biests. Wer weiß, ob es den noch gibt, wenn es stirbt.«
»Sergeant… woher nehmt Ihr die Sicherheit, dass es durch das Eisen getötet werden kann?«
»Warum sollte es sonst so große Angst vor dieser Waffe haben? Geh jetzt. Ich komme später nach.«
»Ja«, sagte Jack leise. »Alles Gute, Sergeant.«
Er salutierte, nahm die Laterne zur Hand und stieg über den Sims zurück in den Stollen. Allein zurückgeblieben, lauschte MacNeil und hörte, wie sich Jacks Schritte entfernten. Dann war es vollkommen still und er spürte die Gegenwart des Biests als ein Flirren der Luft ringsum. Seine Kraft nahm zu.
Ich könnte laufen und mich aus dem Staub machen. Noch ist es nicht zu spät. Aber nein, ich laufe nicht davon.
Er holte tief Luft und war selbst überrascht von seinem zittrigen Atmen. Die Augen auf den Wolfsfluch geheftet, steckte er das eigene Schwert in die Scheide zurück. Die Hände schwitzten; er wischte sie an der Hose trocken.
Nie hatte er so große Angst verspürt wie in diesem Augenblick. Langsam kniete er nieder und fasste nach der Waffe, vorsichtig darauf bedacht, nicht mit Hammers abgetrennter Hand in Berührung zu kommen. Dann richtete er sich wieder auf. Das überlange Schwert lag verblüffend leicht in der Hand. Es glühte und strahlte ein krankes Licht aus. Und jetzt verstand MacNeil auch, warum Hammer das Schwert nur äußerst widerstrebend gezogen hatte.
Vom Wolfsfluch ging ein verführerisches Flüstern aus, das von Macht und Möglichkeiten schwärmte und seine dunkelsten Träume und Fantasien ansprach. MacNeil erschauderte, als er die fremde Kraft wie ein schrecklich süßes Gift durch alle Fasern seines Wesens sickern spürte. Kein Wunder, dass Hammer dem Biest so schnell nachgegeben hatte. MacNeil schüttelte den Kopf frei und trat an den Rand des Felssimses heran. Von dem, was es jetzt für ihn zu tun galt, würde ihn weder das Biest, noch das Höllenschwert oder die eigene Angst abhalten können.
Er packte das mit Lederstreifen umwickelte Heft mit beiden Händen und hielt das Infernaleisen mit ausgestreckten Armen vor sich. Das grelle Licht, das von der Klinge ausging, ließ ihn mit den Augen blinken.
Vorsichtig rückte er mit den Stiefelspitzen bis über die Kante und schaute nach unten.
MacNeil erinnerte sich an die Dämonen der langen Nacht, wie er auf dem Absatz hatte kehrt machen und davonlaufen wollen. Er hatte in seiner Furchtsamkeit immer eine Schwäche gesehen, einen charakterlichen Makel, den er sich nicht verzeihen konnte. Schwäche war ihm zuwider, bei sich wie auch bei anderen. Aber jetzt, da er allein an diesem schroffen Felsrand stand und auf das Riesenauge des Biests hinabblickte, erkannte er endlich die Wahrheit. Angst zu haben war keine Schande, ihr nachzugeben aber sehr wohl.
Das Biest war aufgewacht, und wenn es wieder voll zu Kräften gekommen wäre, würde es die Welt vernichten und nach seinem eigenen schrecklichen Bild neu gestalten. Früher, in der Zeit von Finsterholz, hatte er gelobt, dass er lieber sterben wollte als so etwas widerspruchslos geschehen zu lassen. Dieses Gelübde galt nach wie vor, und trotz aller Angst schöpfte er Mut aus seiner Vorstellung von Pflicht und Ehre, Mut, den er brauchte, um das Notwendige zu tun. Kurz flog ihn der Gedanke an: Warum ich? Doch die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Weil kein anderer zur Stelle ist. Weil es deine Aufgabe ist und in deiner Verantwortung liegt. Er erinnerte sich, dem toten Kind gegenüber Rache geschworen zu haben, was seinen Entschluss noch weiter festigte. Ein einziger Seufzer war von ihm zu hören; dann senkte er das lange Schwert und zielte mit der Spitze auf das Auge des Biests.
Lebwohl, Jessica, Giles. Ich war immer stolz darauf, euch als Partner zu haben. Lebwohl, Constance. Du bist, wie sich herausgestellt hat, eine sehr gute Hexe.
Das Infernaleisen kreischte vor Rage in seinem Kopf, als es endlich ahnte, was er plante. MacNeil reckte sich. Er spürte die Felskante unter den Absätzen und die Leere unter den Stiefelspitzen. Für seine Höhenangst hatte er jetzt nur ein fades Lächeln übrig. Beide Hände fest um den Griff des Schwertes geschraubt, beugte er sich vor, sprang von der Kante ab und stürzte kopfüber in die Tiefe.
Die eiskalte Luft sauste an ihm vorbei, als er, das Infernaleisen voran, auf das Biest zuflog. In seinem Kopf schrien Schwert und Ungeheuer lautlos auf, doch er lachte über beide. Das Auge rückte rasend schnell näher.
Bald füllte dessen Silber und Gold MacNeils gesamten Gesichtskreis aus. Er starrte in ein Meer aus gleißendem Licht. Und schließlich tauchte das Schwert darin ein, getrieben von der Wucht des langen Sturzes. Zusammen mit der Waffe verschwand MacNeil im Leib des Biests, das nach einem kurzen Augenblick tiefer Stille gellend zu schreien anfing.
Abschied
Der Schrei riss plötzlich ab und die Stimme des Biests verstummte für immer.
Im Kellergewölbe löste sich der Nebel auf. Er zog sich in die Mauern zurück und verschwand spurlos. In der klaren Luft konnte sich das Fackellicht wieder ungehindert ausbreiten. Es wurde heller und die Schatten wirkten nicht mehr gar so dunkel. Der Tänzer streckte die letzten beiden Trolle nieder und sah sich verwundert um, als er gewahrte, dass keine weiteren nachrückten. Flint setzte sich auf dem blutüberströmten Boden nieder und schloss die Augen. Constance ließ die Hände an die Seite zurückfallen und senkte den Kopf vor Erschöpfung.
»Es ist tot«, sagte sie leise. »Das Biest ist tot.«
»Bist du sicher?«, fragte der Tänzer.
»Ja. Ich spüre es genau.«
Seufzend zuckte der Tänzer die Achseln und steckte das Schwert in die Scheide. Dann warf er einen Blick auf Flint und eilte zu ihr. Als er die Wunde sah, an der Stelle, wo einst das linke Ohr gesessen hatte, entfuhr ihm ein zischend gehauchter Fluch. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und drückte es sanft an ihren Kopf. Sie wimmerte und schlug protestierend die Augen auf, hob dann aber selbst die Hand, um das Taschentuch an Ort und Stelle zu halten. Die Zähne aufeinander gebissen, ließ sie es geschehen, dass der Tänzer einen Streifen Tuch um ihren Kopf wickelte, der den Notverband auf der Wunde fixieren sollte. Schweiß trat ihr vor die Stirn; ihr wurde übel und schwindelig vor Schmerzen. Trotzdem rang sie sich zum Dank ein Lächeln ab, als der Tänzer ihr besorgt in die Augen schaute.
»Wir haben gewonnen, Giles. Wir haben tatsächlich gewonnen.«
»Sieht so aus, Jessica.«
»Wenn sich so ein Sieg anfühlt, wäre ich nicht gern dabei, falls ihr eine Niederlage einstecken müsst«, sagte Wilde.
Flint sah sich schnell um, und mit Giles' Hilfe trat sie herbei und ging neben dem gefallenen Bogenschützen in die Knie. Auf dem Rücken liegend, starrte er mit schmerzerfüllten Augen unter die Decke und hielt mit beiden Händen das Gedärm zurück, das aus dem aufgeplatzten Unterleib hervorzuquellen drohte. Rings um ihn herum hatte sich eine große Blutlache gebildet. Blut trat ihm auch aus dem Mund und rann übers Kinn. Er konnte nicht einmal mehr den Kopf heben, als sich Flint über ihn beugte und eine Hand auf seine Hände legte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Tänzer, der kurz den Kopf schüttelte. Auch Constance kniete sich neben Flint auf den Boden.
»Kannst du nichts für ihn tun?«, fragte Flint leise.
Die Hexe schüttelte den Kopf. »Ich hab all meine Zauberkraft verausgabt. Es dauert, bis sie wieder nachwächst.«
»So viel Zeit bleibt mir nicht mehr«, sagte Wilde. Er schluckte unter Schmerzen. »Typisch. Ich hab immer nur Pech gehabt.«
»Bleib ruhig liegen«, sagte Flint.
»Wozu? Schlimmer kann's gar nicht wehtun. Wo ist der Tänzer?«
»Hier. Ich bin hier, Wilde.«
»Ich bin nicht mehr zu retten. Aber es könnte noch eine Weile dauern, bis ich endlich sterbe. Mir wär's lieber, es ginge schneller zu Ende. Tu mir den Gefallen. Sorg dafür, dass ich wenigstens mit einem Rest an Würde abtreten kann.«
»Sprich nicht so«, sagte Flint in gereiztem Tonfall. »Es gibt noch Hoffnung.«
»Nein, die gibt es nicht«, widersprach Wilde und rang nach Luft. Flint wischte ihm den Schweiß von der Stirn.
Wilde grinste bitter. »Du warst immer schon die Sanfte, Jess. Wie wär's jetzt mit einem letzten Kuss, eh? Zum Abschied. Und danach verschafft mir der Tänzer einen anständigen Abgang.«
Flint hatte gegen Tränen anzukämpfen, musste aber unwillkürlich schmunzeln. »Du warst schon immer ein Romantiker, Edmond.«
Sie beugte sich weiter vor, wischte mit dem Ärmel Blut von seinen Lippen und gab ihm einen zarten Kuss.
Wilde hob die Hand und umfasste streichelnd ihre linke Brust. Halb erschrocken, halb amüsiert, richtete sich Flint wieder auf. Wilde nickte dem Tänzer zu, der daraufhin seinen Dolch zur Hand nahm und umstandslos in Wildes Herz stieß. Der Bogenschütze verkrampfte und grinste Flint zu.
»Von wegen Romantiker.«
Und dann hauchte er mit einem langen Seufzer sein Leben aus. Die Augen brachen. Flint griff mit zitternder Hand aus und drückte ihm die Lider zu.
»Adieu, Edmond. Ich wünschte, es wäre anders für dich ausgegangen.«
»Jessica?« Der Tänzer sah sie an. »Ich musste es tun.«
»Natürlich. Danke, Giles.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Constance. »Die Trolle sind besiegt, das Biest ist tot. Aber was ist mit Duncan, mit Jack und Hammer?«
»Wir sollten uns eine Weile ausruhen«, schlug Flint vor. »Duncan und die anderen werden bald zurück sein.«
»Und wenn nicht?«, fragte Constance ruhig. »Was, wenn nicht?«
»Dann steigen wir nach unten und suchen sie«, antwortete der Tänzer.
Vogelscheuchen-Jack taumelte durch den Stollen und hielt die Laterne am schmerzenden Arm vor sich ausgestreckt. Er wusste nicht mehr, wie lange er schon unterwegs war. Jedenfalls taten ihm die Füße schrecklich weh und die Laterne war so schwer geworden, dass er sie kaum noch zu halten vermochte. Wie in Trance schleppte er sich weiter. Das Echo seiner schlurfenden Schritte war schnell verhallt. Er versuchte, den Wald zu Hilfe zu rufen, was ihm aber nicht gelang. Er war zu müde und zerstreut. Ihm schwirrte der Kopf und er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Ernstliche Sorgen brauchte er sich nicht zu machen; das war ihm klar. Ein paar Stunden Schlaf - und er wäre wieder auf der Höhe. Er war geneigt, sich auf den fest getrampelten Lehmboden des Stollens zu legen, ahnte aber, dass er später womöglich nicht mehr die Kraft fände, wieder aufzustehen. Und darum tappte er weiter, mit hängendem Kopf, schwerfällig Schritt für Schritt.
Er hatte das Biest schreien hören, doch das qualvolle Geheul war längst verhallt, in den Stollen wieder Stille eingekehrt. Es war alles beim Alten geblieben. Jack fragte sich, ob die Träume des Biests mit dessen Tod wohl ausgeträumt sein würden und ob es ihn womöglich selbst träfe, da er sich ja in einem dieser Träume bewegte. Es tat sich aber nichts. Oder, falls doch eine Veränderung eingetreten war, so hatte er nichts davon bemerkt. Nein, dermaßen müde und erschöpft konnte nur sein, wer noch lebte. Wenn aber die Träume immer noch so wirklichkeitsnah erschienen, war das Biest vielleicht gar nicht ganz tot.
Der Gedanke schreckte ihn aus seiner Benommenheit hoch. Er blieb stehen und sah sich um. Das Biest war tot.
Kein Zweifel. Das Infernaleisen hatte es ein für allemal unschädlich gemacht… Trotzdem, er wollte auf Nummer Sicher gehen. Er nahm mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Boden Platz, weitete behutsam sein Bewusstsein und versuchte, mit den Bäumen Zwiesprache zu halten. Zwar war er immer noch zu weit weg, um mit dem Wald in Verbindung treten zu können, spürte aber doch ganz deutlich, dass von der dunklen, unheilvollen Präsenz des Biests nichts übrig geblieben war. Es schien, als hätte es nie existiert. Jack stand wieder auf und grinste trotz schmerzender Glieder. Vielleicht gab es ja doch noch einen Rest an Gerechtigkeit in der Welt. Mit diesem tröstlichen Gedanken setzte er seinen Weg durch den Stollen fort.
Nach einer Weile fiel ihm eine eigentümliche Veränderung der Schatten auf, die vor ihm lagen. Er hob die Laterne hoch in die Luft und plierte ins Dunkle. Sein Herz hüpfte vor Freude, als er sah, wie sich aus dem Licht-und-Schatten-Muster weiter vorn die Umrisse einer Holzstiege herausbildeten. Er war also fast am Ziel, musste nur noch über die Stufen nach oben steigen und durch die Falltür klettern, um endlich die Dunkelheit hinter sich lassen zu können. Am Fuß der Treppe angekommen, blieb er stehen und runzelte die Stirn. Er erinnerte sich daran, wie endlos lang der Abstieg gewesen war. Ihm wurde ein wenig bange. Doch dann besann er sich. Gleichgültig, wie viele Stufen es auch sein mochten. Er hatte es fast geschafft und wollte sich durch nichts und niemanden aufhalten lassen. Er war auf dem Weg nach Hause, in den Wald.
So schnell es seine müden Beine erlaubten, hastete er die Holzstiege hinauf. In der Hoffnung, die Falltür zum Keller möglichst bald ausmachen zu können, hielt er die Laterne am weit ausgestreckten Arm, aber lange Zeit sah er nichts als Stufen und Dunkelheit. Erst als der Raureif in den Haaren zu schmelzen begann und wie Tränen übers Gesicht perlte, bemerkte er, dass die Kälte mehr und mehr nachließ. Ja, es wurde geradezu warm.
Kribbelnd kehrte Leben in Hände, Füße und Gesicht zurück. Was sich dann wie tausend Nadelstiche anfühlte, peinigte ihn so sehr, dass er die Zähne aufeinander beißen musste. Trotzdem lächelte er und sein Grinsen wurde so breit, dass ihm schließlich auch noch die Wangen wehtaten. Als plötzlich die Falltür über ihm auftauchte, musste er jäh anhalten, um nicht mit dem Kopf davor zu stoßen. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Was, wenn die Luke verriegelt und verrammelt und niemand zur Stelle wäre, der sie öffnen konnte? Für immer würde er dann in der dunklen Falle stecken… Aber Jack mochte über diese Möglichkeit nicht länger nachdenken. Er griff mit der freien Hand aus und stemmte sie unter die Tür. Sie ging einen Spalt auf, fiel dann aber wieder zu. Jack fluchte leise vor sich hin. Er hatte vergessen, wie schwer der Eichendeckel war. Er setzte die Laterne auf der obersten Stufe ab und nahm auch den anderen Arm zu Hilfe. Wieder ließ sich die Tür nur ein Stück weit bewegen. Jack holte tief Luft und bot alle Kraft auf, die ihm geblieben war. MacNeil hatte das Offnen der Klappe so leicht aussehen lassen. Doch auf einmal war ihr die Last genommen und die Klappe wurde von oben aufgezogen. Licht flutete durch die Öffnung. Jack war geblendet und sah nichts, fühlte sich aber von starken Händen aus dem Schacht gezogen, raus aus der Unterwelt und hinauf ins Kellergewölbe.
Flint und der Tänzer ließen die Falltür wieder zuklappen, und Constance half Jack dabei, sich hinzusetzen, ehe die Beine unter ihm wegknickten. Er grinste glücklich, als er endlich wieder sehen konnte, entsann sich aber dann der schlechten Nachrichten, die er mitzuteilen hatte.
»Ich bin der Einzige«, sagte er leise. »Hammer und Sergeant MacNeil werden nicht zurückkommen.«
»Sind beide tot?«, fragte Constance nach.
»Hammer mit Sicherheit und wahrscheinlich auch der Sergeant. Er hat sich geopfert, um das Biest zu vernichten.«
»Was ist passiert?«, wollte der Tänzer wissen.
»Sergeant MacNeil hat sich mit dem Wolfsfluch dem Ungeheuer entgegengeworfen.« Jack senkte den Blick, aber dann hob er das Gesicht und schaute dem Tänzer in die Augen. »Ich hätte es auch getan, aber das wollte er nicht zulassen. Er sagte, es sei seine Pflicht. Er war ein tapferer Mann, der tapferste, dem ich je begegnet bin.«
»Ja«, bestätigte Flint. »Das war er.«
Es blieb für eine Weile still. Jeder ging seinen eigenen Gedanken nach. Constance verlor auch den letzten Rest an Kraft, den sie aufgespart hatte, um MacNeil willkommen zu heißen - den sie jetzt aber nicht mehr brauchte.
Er war tot. Sie hatte nie eine passende Gelegenheit gefunden, ihm zu sagen, wie sie für ihn fühlte. Und jetzt war es zu spät dafür.
»Was ist mit Hammer passiert?«, fragte der Tänzer.
»Er hat Bekanntschaft mit etwas gemacht, das noch grausamer war als er selbst.« Jack sah sich um und bemerkte erst jetzt all die toten Trolle am Boden liegen. »Es scheint, auch ihr hattet alle Hände voll zu tun.«
»Zu langweilen brauchten wir uns jedenfalls nicht«, sagte Flint.
»Wir haben das Gold gefunden«, berichtete Jack. »Es ist alles da. Ich werde euch später den Weg dorthin aufzeichnen.«
»Und was ist mit all den Verschollenen?«, fragte Constance.
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Jack. »Und keine angenehme. Ich werde sie euch schon noch erzählen.« Sein Blick fiel auf Wilde, der reglos am Boden lag. »Ist er wenigstens mit Anstand gestorben?«, fragte Jack nach längerem Schweigen.
»Ja«, antwortete Flint. »Er hat sein Leben für mich geopfert.«
Jack nickte. »Ich hab ihn zwar nicht leiden können, aber er konnte gut mit Pfeil und Bogen umgehen. Immerhin ist er im Kampf für eine gute Sache gestorben. Er war einmal ein Held, wisst ihr das eigentlich?«
»Ja«, sagte Flint. Sie sah Jack an. »Bist du sicher, dass Duncan tot ist?«
»Etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen«, antwortete Jack. »Ihm war klar, dass er sterben muss, als er sich auf das Biest geworfen hat. Daran bestand auch für mich kein Zweifel.«
»Hast du denn seine Leiche gesehen?«
»Nein.«
»Dann besteht noch Aussicht darauf, dass er lebt«, sagte der Tänzer. Er wandte sich Constance zu. »Kannst du sehen, wo er steckt? Und was mit ihm passiert ist?«
»Leider nein«, antwortete die Hexe. »Ich bin mit meinen Kräften am Ende. Es wird Wochen dauern, bis ich wieder hellsehen kann.«
»Er ist tot«, sagte Jack. »Es tut mir Leid, aber so ist es.«
Flint wollte etwas sagen, besann sich dann aber eines anderen. Und für eine Weile herrschte betretenes Schweigen.
»Na gut«, sagte Flint schließlich. »Gehen wir nach oben. Die Nacht verbringen wir im Speisesaal. Morgen steigen wir dann runter in die Stollen und versuchen, Duncans Leiche zu bergen.«
»Genau«, sagte der Tänzer. »Wir können ihn hier schließlich nicht zurücklassen.«
Duncan MacNeil wachte auf. Der ganze Körper tat weh und der Rücken war auf der gesamten Länge ein einziger stechender Schmerz. Er stöhnte laut auf und versuchte den Kopf zu heben, aber selbst das war ihm jetzt zu viel. Als er die Augen öffnete, sah er nichts als Dunkelheit. Er blieb ruhig liegen, sammelte alle verbliebene Kraft zusammen und fragte sich, wo er wohl sein mochte. Unter dem schmerzenden Rücken spürte er einen harten, unnachgiebigen Sockel, der offenbar so wenig Platz bot, dass beide Beine und ein Arm darüber hinausragten. In der Luft hing ein scheußlicher, fauler Gestank, der ihn zum Würgen reizte. Erneut versuchte er den Kopf zu heben, was ihm diesmal auch gelang. Aber zu sehen war immer noch nichts. Natürlich nicht, dämmerte es ihm; hier unten ist kein Licht…
Er erinnerte sich wieder und sein Herz ließ einen Schlag aus, als ihm erneut in den Sinn kam, dass er sich in das glühende Auge des Biests gestürzt hatte. Auf der Suche nach Halt griff er mit der Hand um sich und stellte zu seinem großen Schrecken fest, dass er auf einer schmalen Kante lag, die nach mehreren Seiten hin jählings abfiel. Weiter tastend, stieß seine Hand auf einen unangenehm weichen, schwammigen Gegenstand. Schnell zog er die Hand zurück und rührte sich nicht, bis Puls und Atmung wieder regelmäßig waren. Um Licht ins Dunkel bringen, kramte er den Kerzenstummel aus der Tasche, den er für den Notfall immer bei sich trug. In seiner prekären Lage Feuerstein und Stahl aus dem Stiefel zu ziehen und damit Funken zu schlagen, erwies sich als ein Albtraum der besonderen Art. Dennoch schaffte er es schließlich, den Kerzendocht zum Brennen zu bringen.
Er lag auf einem schmalen Knochenvorsprung, umgeben von dunklen Wänden aus verrottendem Fleisch. Über sich sah er die Öffnung eines Tunnels. Ein gleich großes Loch klaffte unterhalb der Stelle, wo er lag. Vorsichtig richtete sich MacNeil auf und schirmte den Kerzenstummel mit zitternder Hand ab. Jetzt wusste er, wo er war: im Kadaver des Biests. Er war durch sein Auge ins Gehirn gestürzt. Die gallertartige Masse im Innern des Augapfels hatte seinen Sturz abgebremst und auf eine weiche Landung im Gewebe darunter vorbereitet. Das Infernaleisen hatte sich offenbar selbständig gemacht und war mit zerstörerischer Wucht weiter durchs Gehirn gedrungen, was den fortgesetzten Tunnelverlauf erklärte. Wie tief der Wolfsfluch vorgestoßen war, ließ sich nicht erkennen. Jedenfalls hatte das Biest den Einstich nicht überlebt. Daran konnte kein Zweifel bestehen. Wohin MacNeil auch blickte, überall sah er deutliche Anzeichen von Verfall und Fäulnis. Und das Infernaleisen war verschwunden, verloren in den Tiefen des verwesenden Riesenkörpers.
Und da kann es von mir aus auch bleiben, dachte Mac-Neil.
Er stellte sich auf die noch wackligen Beine und blickte in den Tunnel über seinem Kopf. Die Öffnung war so groß wie sein Kopf und in erreichbarer Nähe. Nur durch sie würde er, wie es schien, nach draußen gelangen können, ob ihm das gefiel oder nicht. In seinem geschundenen Zustand zu klettern, würde jedenfalls kein Leichtes sein, zumal nicht abzusehen war, wie weit er steigen musste. Plötzlich fing der Knochenvorsprung, auf dem er stand, zu knarren und zu knacken an. Mit Blick nach unten sah er, dass sich auf der beinernen Oberfläche feine Risse bildeten. Der Verfall des Biests beschleunigte sich. Er hatte keine andere Wahl. Er musste die Zeit nutzten, die ihm noch blieb, und nach draußen zu klettern versuchen.
Stürzte er noch tiefer in den Kadaver hinein, käme er wahrscheinlich nie mehr heraus, selbst wenn er auch einen zweiten Sturz überlebte.
MacNeil ließ flüssiges Wachs von der Kerze auf die Schulter tropfen, um den Stummel darauf festzukleben. Von dem Sturz durchs Auge war er ganz und gar mit einer übel stinkenden Schleimschicht überzogen, doch der Kerzenstummel schien verschont geblieben zu sein und brannte einwandfrei. Zum Glück, denn MacNeil konnte sich um die Flamme nicht weiter kümmern und brauchte beide Hände zum Klettern. Er zog sein Messer aus der Scheide und schnitt ein paar Stufen und Haltegriffe in das faulende Fleisch der Tunnelöffnung über sich. Dann klemmte er das Messer zwischen die Zähne, würgte in Reaktion auf den ekligen Geschmack und zog sich in den Schacht hinein. Die Arme ächzten vor Anstrengung, aber bald hatte er sich so weit hoch gehievt, dass er mit den Füßen Tritt fand. Der lange Aufstieg konnte beginnen. In späteren Jahren erinnerte er sich nur noch in seinen schlimmsten Albträumen an das, was ihm hier abverlangt gewesen war.
Der Aufstieg schien eine Ewigkeit zu dauern. Im flackernden Kerzenschein sah er rotes bis violettes Fleisch, das an manchen Stellen bereits schwarz wurde. Ab und zu pulste schütteres Licht durch den Leichnam, und einmal hatte MacNeil den Eindruck, als starrte ihm durch das Fleisch ein seltsam verzerrtes Gesicht entgegen, was aber, wie er annehmen durfte, bloß eine Täuschung war, denn es zeigte sich nicht wieder.
In den Beinen machte sich ein dumpfer Schmerz bemerkbar, der sich allmählich über Hüfte und Brust bis in die Arme ausbreitete. Auch der Rücken schmerzte immer mehr. Aber MacNeil konnte jetzt nicht Halt machen und ausruhen. Er wäre von den Stufen, die er in die weiche Wand schnitt, unweigerlich abgerutscht. Manchmal sprangen Splitter gebrochener Knochen aus dem Gewebe hervor, die er dann mühsam umklettern musste. Diese Knochen waren zwar noch ausreichend fest, faulten aber schon von innen heraus. Der Wolfsfluch hatte gründliche Arbeit geleistet. MacNeil kletterte weiter, kam in dem mürben Schlauch aber nur langsam voran.
Schließlich gelangte er an die riesige Höhlung, in der einst das Auge des Biests gesteckt hatte. Jetzt war sie ein offener Krater, in dem hier und da Haufen von durchsichtigem Gallert herumlagen. MacNeil stieg aus dem Tunnelschlauch in den Krater hinein und gönnte sich eine Erholungspause, bis die Schmerzen auf ein erträgliches Maß zurückgegangen waren. Der Kerzenschein reichte nur wenige Schritt weit, aber jenseits der gebogenen Kraterhänge funkelten nach wie vor die Kristalle in den Wänden der Grotte, die MacNeil auch noch erklimmen musste, um den Stollen erreichen zu können, der nach draußen führte.
Vorausgesetzt natürlich, es gab diesen verflixten Stollen noch… MacNeil zuckte mit den Schultern. Solche Sorgen waren jetzt völlig fehl am Platz. Er machte sich auf den Weg durch den Krater und steuerte auf die nächstliegende Wand zu.
Den Rest der Reise erlebte MacNeil in einer Art Dämmerzustand. An Einzelheiten konnte er sich später nicht erinnern, auch nicht in seinen Träumen. Vielleicht lag dies daran, dass er zu erschöpft und zu müde war, um Angst empfinden zu können. Der Kraterrand war jedenfalls schnell erreicht und sofort stieg er in die steile Felswand ein. Der Aufstieg erwies sich als nicht allzu schwierig, denn der Fels war, als sich das erwachende Biest gerührt hatte, an zahllosen Stellen aufgesprungen und bot darum viele Haltepunkte. Er balancierte über den Sims und schleppte sich durch den Stollen auf die Holzstiege zu. Er hatte das Denken inzwischen so gut wie eingestellt. Da gab es für ihn nur Schmerzen, Müdigkeit und seine hartnäckige Weigerung aufzugeben.
Als er die Stiege erreichte, war die Kerze heruntergebrannt. Nach wenigen Stufen erlosch die Flamme schließlich und er musste den Rest des Weges in völliger Dunkelheit zurücklegen. So konnte es nicht ausbleiben, dass er, endlich am Ziel, mit dem Kopf vor die Falltür stieß. Der Aufprall machte ihn hellwach, und es überkam ihn ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn ihn die anderen für tot hielten, die Klappe verbarrikadiert und das Weite gesucht hatten? Er grinste grimmig. Eine verriegelte Falltür würde ihn jetzt, nach allem, was er durchgestanden hatte, auch nicht mehr aufhalten können. Nach Halt suchend, traf er auf der obersten Stufe mit der Hand auf Widerstand. Erschrocken zog er die Hand wieder ein. Was war das? Es hatte sich kalt angefühlt, wie Metall oder Glas. Vorsichtig tastete er wieder danach und erfühlte nun die vertraute Form seiner Laterne. MacNeil schmunzelte zufrieden. Jack hatte es also zurück geschafft. Er kramte Feuerstein und Stahl hervor und zündete die Laterne mit zitternden Fingern an. Nach langer Dunkelheit blendete ihn das Licht so sehr, dass die Augen zu tränen anfingen. Er wartete, bis sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, und stemmte dann seine Schultern unter die Klappe. Nachdem er tief Luft geholt hatte, drückte er mit aller Kraft. Im ersten Augenblick fürchtete er schon, die Klappe würde nicht nachgeben, doch dann ging sie einen Spaltbreit auf, und zwar so plötzlich, dass er aus dem Gleichgewicht geriet. Doch schnell hatte er sich wieder gefangen, und es gelang ihm nun, die Tür so weit aufzustoßen, dass sie laut krachend auf die andere Seite klappte. Der Kellerraum war dunkel.
Unter Schmerzen kletterte MacNeil durch die Luke und traute seinen Augen kaum, als er die vielen toten Trolle sah. Bangend suchte er nach Hinweisen auf seine Freunde, fand aber nur eine menschliche Leiche: die von Wilde. MacNeil seufzte erleichtert und verließ den Keller. Auf dem Weg durch die labyrinthischen Gänge fragte er sich zum wiederholten Mal, ob die anderen womöglich schon abgezogen waren und ihn allein zurückgelassen hatten. Er konnte ja nicht wissen, wie lange er ohnmächtig im Kadaver des Biests gelegen hatte.
Falls die Freunde aber noch im Fort waren, hielten sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach im Speisesaal auf.
MacNeil blieb stehen und war für eine Weile unentschlossen. Es drängte ihn nach draußen an die frische Luft, weg von all dem Blut und dem Wahnsinn, aber noch dringlicher brauchte er die Gesellschaft der Freunde. Also strebte er hoffnungsvoll dem Speisesaal entgegen. Es dauerte länger als geglaubt, um dorthin zu gelangen, denn er war so schwach, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Endlich aber stand er vor der Tür. Er zögerte und lauschte, konnte aber nichts hören. Schulterzuckend fasste er nach dem Knauf und warf die Tür so schwungvoll auf, dass sie vor die Wand knallte.
Der Tänzer hielt Wache. Er sprang auf und hatte das Schwert gezückt, noch ehe der Aufschlag der Tür zum Echo führen konnte. Als er sah, wer vor ihm stand, klappte ihm die Kinnlade herunter. Jack, Flint und Constance richteten sich schlaftrunken auf und stierten auf die schauerliche Erscheinung im Türrahmen. Als der erste Schreck überwunden war, eilten alle vier herbei, um ihn zu begrüßen. Constance war als Erste zur Stelle und warf sich MacNeil stürmisch um den Hals, ungeachtet seiner blut- und schleimverschmierten Sachen.
»Du lebst! O Duncan, ich wusste es. Ich wusste es!«
Ihre Gefühle überschlugen sich. Es verschlug ihr die Sprache. Doch das war ihr jetzt gleich. Später würde sie sich wieder neu sortieren können. Dafür gäbe es noch genügend Zeit.
Endlich ließ sie von ihm ab und gab den anderen Gelegenheit, MacNeil zu umarmen und auf die Schulter zu klopfen. Dem wurde all der Überschwang zu viel. Er musste sich ganz schnell setzen, um nicht der Länge nach umzukippen. Der Tänzer und Jack halfen ihm auf einen Stuhl, worauf MacNeil den Freunden wiederholt versichern musste, dass mit ihm alles in Ordnung sei und dass er nur etwas Ruhe brauche, um zu verschnaufen.
Constance legte ihm eine Decke über die Schultern. Flint reichte eine Flasche Wein, die MacNeil dankend entgegennahm.
»Erzähl uns, was passiert ist«, sagte Constance. »Du warst stundenlang weg. Hast du das Biest tatsächlich getötet?«
»O ja«, antwortete er. »Es ist tot.« Er erzählte ihnen seine Geschichte und sie hörten stumm und staunend zu, wie Kinder, die einem Märchen lauschen. Als er mit seinem Bericht am Ende war, sprach lange Zeit keiner ein Wort.
»Der Wolfsfluch ist also wieder verschollen«, bemerkte Flint schließlich. »Gut so. Das verdammte Ding hat mir die Haare zu Berge stehen lassen.«
»Ja«, meinte MacNeil. »Ich werde in meinem offiziellen Rapport festhalten, dass das Schwert spurlos verschwunden ist. Hoffentlich für immer und ewig.« Er musste gähnen und reckte sich ausgiebig und genießerisch. »Und jetzt, liebe Freunde, bitte ich euch, mich zu entschuldigen. Ich will endlich raus aus den Klamotten, unter die Decken kriechen und eine Woche lang durchschlafen. Gute Nacht… und angenehme Träume.«
Er schlief zehn Stunden, und es war schon später Nachmittag, als er endlich aufwachte. Jeder seiner Muskeln beschwerte ihn mit quälendem Nachdruck, aber immerhin hatte der Schlaf seinen Schmerzen die Schärfe genommen, sodass er fürs Erste mit ihnen leben konnte. Flint und der Tänzer saßen nebenan beieinander und unterhielten sich leise. Constance stellte eine Mahlzeit aus dem gemeinsamen Proviant zusammen und deckte einen der Tische. Von Vogelscheuchen-Jack war nichts zu sehen. MacNeil schmunzelte zufrieden. Er freute sich, noch unter den Lebenden zu weilen. Er legte sich auf den Rücken und starrte unter die Decke. Tief unten in der Erde hatte er angesichts des Biests seinen Mut auf die Probe gestellt und war zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen. Obwohl von Angst erfüllt wie nie zuvor in seinem Leben, hatte er, als es darauf ankam, das Richtige getan. Das zu wissen bedeutete ihm sehr viel.
Widerstrebend warf er die Decken beiseite und zog frische Kleider an. Ein Blick auf die verdreckten, besudelten Sachen, die er getragen hatte, genügte, um ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht mehr zu retten waren. Er führte die Hände an die Nase und schnüffelte argwöhnisch. Obwohl er sie in der Nacht zuvor gründlich gewaschen hatte, haftete ihnen noch immer der faule Gestank des Biests an. Vielleicht hatte die Verstärkung, die bald eintreffen musste, jemanden in ihren Reihen, der sich darauf verstand, den Warmwasserboiler zu reparieren.
Dann würde er ein heißes Bad nehmen können. Von diesem Gedanken zum Lächeln gebracht, ging MacNeil auf Constance zu. Sie lächelte zurück und reichte ihm eine Kostprobe der kalten Feldration. Unter allen Gardesoldaten wurde seit jeher darüber gestritten, was schrecklicher war: Feldration kalt oder gekocht. Meist einigte man sich darauf, dass beides gleich übel schmeckte. MacNeils Appetit hielt sich in Grenzen. Um Constance aber, die sich all die Mühe mit der Zubereitung gemacht hatte, nicht vor den Kopf zu stoßen, griff er zu und stellte fest, dass er im Grunde doch sehr hungrig war. Er aß, was er bekommen konnte, und wünschte, es wäre mehr gewesen. Seufzend schob er den leeren Teller zur Seite, blickte auf und bemerkte, dass Constance noch immer geduldig neben ihm saß.
»Jack wartet draußen im Hof auf dich«, sagte sie. »Er hält sich nicht gern in geschlossenen Räumen auf, möchte dir aber noch Leb wo hl sagen, bevor er geht.«
»Eigentlich müsste ich ihn festnehmen«, erklärte MacNeil. »Aber…«
»Eben«, sagte Constance. »Aber.«
Sie schmunzelten sich gegenseitig zu. MacNeil stand schließlich vom Tisch auf und ging zur Tür. Flint und der Tänzer unterbrachen ihr Gespräch und standen ebenfalls auf, um ihm zu folgen. Wie gewöhnlich bildete Constance das Schlusslicht.
Im Schein der Abendsonne wirkte das Fort kleiner und weniger bedrohlich, was vielleicht auch daran lag, dass das Böse, das in ihm gehaust hatte, verschwunden war. Nach all den schrecklichen Ereignissen sah es nun wieder aus wie eine ganz gewöhnliche Grenzfeste, und so sollte es auch bleiben. MacNeil führte seinen Trupp durch die Eingangshalle nach draußen in den Hof. Der Sturm hatte sich schon früh am Morgen gelegt und die Regenwolken waren weitergezogen. Die Sonne am blauen Himmel hatte das nasse Gemäuer getrocknet.
Vogelscheuchen-Jack stand am offenen Haupttor und starrte in Richtung Wald. Als sich die Ranger näherten, drehte er sich um und nickte ihnen höflich zu.
»Ihr seht heute schon sehr viel besser aus, Sergeant MacNeil. Kann ich Euch noch einen Gefallen tun, bevor ich gehe?«
»Mir fällt keiner ein«, antwortete MacNeil betont heiter. Vogelscheuchen-Jack machte zwar einen entspannten Eindruck, war aber unverkennbar auf dem Sprung und bereit zu fliehen, falls er fürchten musste, gefangen genommen zu werden. Alte Gewohnheiten waren sehr anhänglich. MacNeil lächelte freundlich, um Jack zu beruhigen. »Übrigens, dein Name wird in meinem offiziellen Bericht nicht vorkommen. Aber tu mir bitte doch einen Gefallen: Halt dich nach Möglichkeit aus allem Ärger heraus, solange wir noch in der Nähe sind. Ich fänd's schrecklich, wenn mir befohlen würde, auf dich Jagd zu machen.«
Jack grinste. »Glaubt ihr denn im Ernst, ihr könntet mich aufstöbern?«
Alle lachten. Jack drehte sich um und schaute wieder in die Richtung des Waldes.
»Du musst nicht gehen«, sagte Constance. »Du hast uns so viel geholfen, dass man dich bestimmt begnadigen würde. Du könntest nach Hause zu deiner Familie zurückkehren und ein neues Leben beginnen.«
»Der Wald ist mir Zuhause und Familie«, entgegnete Vogelscheuchen-Jack. »Und dort bleibe ich, auch wenn man mich zehnmal begnadigen würde. Trotzdem, danke, Constance. Lebt wohl, meine Freunde.«
Lachend lief er los, durch das Tor und hinaus auf die Lichtung. Helles Sonnenlicht begleitete ihn bis zum Waldrand. Wenig später war er, gut getarnt in seinen Lumpen, im Dickicht verschwunden.
»Ich hab das Gefühl, wir hätten zuerst die Goldsäcke bergen und nachzählen und ihn erst dann laufen lassen sollen«, meinte Flint.
MacNeil schmunzelte und schüttelte den Kopf. »Ich würd's ihm nicht krumm nehmen, wenn er sich einen oder zwei unter den Nagel gerissen hätte, bin mir aber ziemlich sicher, dass er nicht einmal eine einzige Münze eingesteckt hat. Was nützt ihm das Gold im Wald? Kommt, wir sollten noch ein bisschen Ordnung schaffen, bevor die Verstärkung eintrifft. Und wir müssen uns noch darauf einigen, welche Geschichte wir ihr auftischen.«
»Stimmt«, sagte der Tänzer. »Die Wahrheit wird man uns bestimmt nicht abkaufen. Ich war zwar dabei, kann aber selbst nur die Hälfte glauben.«
Die vier Ranger lachten und machten kehrt. Vom blauen Himmel leuchtete die Sonne auf die friedliche und offene Grenzfeste.