4 Das Tribunal

Das Zimmer war kahl und leer – leer bis auf drei schwarzgepolsterte Bänke an den Wänden. Die elfenbeinfarbenen Rechtecke zweier Schiebetüren hoben sich kaum von den gleichfarbigen Wänden ab.

Obwohl das Tageslicht in einem breiten gelben Keil durch die Scheiben fiel, brannten drei Neonröhren an der Decke; ihre blauweißen Strahlen stachen bis in die hintersten Winkel. Mit leisem Fauchen strich geheizte, durchfeuchtete, keimfreie Luft aus einer vergitterten Öffnung an der Wand – der Atem der Klimaanlage, der durch ein Loch an der gegenüberliegenden Wand wieder eingesogen wurde.

In regelmäßigen Abständen vibrierten die Mauern – zwei Luftschächte befanden sich in der Nähe.

Eine Schiebetür glitt auf, zwei Männer in weißen Kombinationsanzügen trugen einen dritten herein; sein Overall war grau; er war ohne Besinnung. Sie legten ihn auf eine der Bänke, sahen sich kurz um und zogen sich wieder zurück. Mit einem leisen, dumpfen Stoß schloß sich die Tür.

Ein Zucken im Gesicht Eric Frosts kündete an, daß sein Bewußtsein allmählich wiederkehrte. Er öffnete die Augen und schloß sie sofort wieder; die Lichtsäulen, die sich von zwei Seiten auf ihn zuwälzten, schmerzten unerträglich. Auch hatte er jetzt keine Zeit, sich mit seiner Umgebung zu beschäftigen. Er hatte vollauf damit zu tun, ein Unbehagen zu bekämpfen, das, von seinem Kopf ausgehend, in Stößen durch seinen Körper flutete; er mußte sich dagegenstemmen, so wie man sich bei hohem Seegang gegen das Durchsacken des Schiffes stemmt, um den Übelkeitsgefühlen des aufsteigenden Magens entgegenzuwirken. Und dabei war er so müde, daß er es nach einigen vergeblichen Willensversuchen aufgab, seine Hand von der Lehne herabzuziehen, wo sie unter seinem Kopf eingeklemmt lag.

Obwohl er die Augen geschlossen hielt, sah er bunte Bilderfetzen, und trotz der Stille hörte er Stimmen:

»... liegt alles weit zurück, vergiß es, vergiß...«

»... nicht mehr dein Freund – ein Verräter...«

»... schwarze Wand kommt auf dich zu, immer näher...«

»... du kennst die Vorschriften...«

»... jetzt kannst du dich entscheiden...«

»... Staub liegt auf den Wandbrettern...«

»... entscheide dich, entscheide dich...«

»... du bleibst stehen und horchst...«

»... einen Durchmesser von fünfzig Zentimeter...«

»... dein Blut, das da hinuntertropft...«

Er versuchte, die wirbelnden Impressionen zu ordnen, zu einem überschaubaren Mosaikbild zusammenzufügen, aber es gelang ihm nicht. Personen kristallisierten sich aus den Gedankenstrudeln heraus, ein schwarzgelockter Kopf mit furchtsamen Augen, ein scharfgeschnittenes Profil, über das wie durch Doppelbelichtung eine zweite von der ersten ein wenig abweichende Kontur lief, ein Schimmer von blondem Haar – bläßliche, nicht faßbare Schemen, aber seltsamerweise tiefgreifenden, fast leidenschaftlichen Gefühlseindrücken verhaftet, Sympathie, Bewunderung, Liebe, Haß. Er suchte diese Gestalten näher zu fassen, aber sie entzogen sich; sein vergebliches Bemühen und die aalglatte Gewandtheit, mit der sie ihm entglitten, wurde zu einem seltsamen körperlosen Such-mich-und-hasch-mich-Spiel, bei dem sich Fänger und Gejagte in einer abseitigen, versteckten Dimension eines komplexen Raum-Zeit-Gefüges befanden. Diese Ähnlichkeit mit dem Kinderspiel wurde so stark, daß sich Eric zeitweise in seine frühe Jugend zurückversetzt fühlte, und auch die eigenartige Welt kindlichen Fühlens und Denkens bezog ihn wieder in sich ein, in der es nur schwarz und weiß, nur gut und böse, nur ja oder nein gibt, in der alle Zwischentöne fehlen, alle Schattierungen und Abstufungen, von denen der Existenzraum der Erwachsenen strotzt. Und mit dieser Entschiedenheit, die keine Erwartung und keinen Zweifel, keine Ursache und keinen Zweck, keinen Hintergrund und keine Umgebung beachtet, die nur ein einziges anerkennt – das, was gerade geschieht –, gab sich Eric seiner Aufgabe hin, und er war nun eben der Jäger und der Häscher, er war der, vor dem alle fliehen und den alle fürchten, er war sich der geborgten Überlegenheit seiner Situation bewußt, aber er litt ebenso verbissen an dieser unbeschreiblich kompromißlosen Einsamkeit, die auch das Kind umfängt, wenn es mit geschlossenen Augen an der Lichthofmauer lehnt, oder den Kopf an die rissige Rinde eines Baumes am Wiesenrand preßt, wenn es vor sich hinzählt und dann die Hände von den Augen zieht, wenn es den Spielplatz leer und verödet findet und selbst in entschlußloser Verlorenheit herumläuft, wenn es sich ausgeschlossen sieht aus dem Kreis der anderen und nun vor der Aufgabe steht, ihnen als Feind gegenüberzutreten.

Seit seiner Kindheit hatte Eric niemanden mehr gekannt, mit dem er sich durch irgendeine Emotion, sei es Zuneigung oder Abscheu, so stark verbunden gefühlt hatte, wie mit diesen gaukelnden Traumgespenstern. Man hatte ihn bald von den anderen Kindern getrennt, und jene Zeit, die schönste seines Lebens, eine Zeit der Abenteuer, der kleinen Wettkämpfe und der kleinen Siege, war für immer vorbei. Er kam in die Schule, in die Ausbildung, er ging seiner ihm zugewiesenen Arbeit nach und folgte den seichten Vergnügungen, die sich ihm zwischen Büroschluß und Nachtruhe anboten, den Glücksspielen an den Automaten, den Farbwandelvorführungen, der Musik und den Stereofilmen. Niemand rührte mehr an seinem Ehrgeiz, seiner Schaffenslust, keine Situation forderte eine Idee und keine eine Tat. Später würde man ihm eine Frau zuweisen, und er würde seinen Verpflichtungen als Weltbürger nachkommen und sechs Jahre lang für zwei Kinder sorgen, bevor er sie an die Schule abgab. Seine Erinnerungen schliefen ein, und wenn er Sehnsucht hatte, dann ahnte er nicht, wonach.

Und nun war irgend etwas geschehen – das wußte er ganz genau –, es hatte sich etwas Grundlegendes geändert, und es war ihm wieder entflohen. Und als er nun suchte, stieg die Verzweiflung eines Alptraumes in ihm auf, in dem man beim Versteckspiel sucht und niemand findet und immer weitersucht und nie findet oder beim Fangenspiel dahinrennt und dem, der in greifbarer Nähe voranhetzt, nicht näher kommt, ihn niemals erreicht.

Etwas von außen brach in sein Inneres ein, die Monotonie des Warteraums war gestört, etwas hatte sich geändert – das Zischen der aus der Klimaanlage einströmenden Luft war leiser, fast unhörbar geworden. Der Traum scheute zurück, und die Wirklichkeit war wieder da.

Eric Frost blinzelte. Wieder bedrängte ihn die Lichtfülle, aber diesmal hielt er ihr stand. Er sah und erkannte die Bänke aus Chrom und Schaumgummi, die Türen, den elfenbeinfarbenen Raum, das breite Fenster mit der weißen Häuserfront dahinter. Die Erinnerungen prasselten auf ihn nieder: die Vorladung zur Untersuchung, der Automat an der Pforte der Klinik, die Korridore und Aufzüge, das Zimmer sechshundertfünf, in dem er warten sollte, das Fauchen der Belüftungsanlage... und seine plötzliche Schläfrigkeit.

Eric sprang auf... und taumelte – noch immer rann das Blut wie flüssiges Blei in seinen Adern –, er schob eine der Bänke unter die Luftklappe an der Wand, stieg hinauf, wäre fast hinuntergefallen, aber er lehnte sich fest an die Mauer, streckte sich – da war es, was er erwartet hatte: ein dünnes Rohr im Lüftungsschacht, sein mit einem Sieb verschlossenes Ende, von unten nicht sichtbar und durch das Gitter der Öffnung auch nicht zu erreichen.

Er streifte die Ärmel seiner Bluse zurück, suchte... Da war das zweite Indiz: eine winzige, blutverschorfte Stelle über der Vene in der Armbeuge.

Nun hatte er den Beweis: Sie hatten ihn im Netz gehabt.

Er stieg mühsam vom federnden Sitz der Bank und setzte sich. Sein Körper war noch immer nicht einsatzbereit, aber das Denken arbeitete wieder. Nun erst schätzte er das, was er erlebt hatte, richtig ein – seine lächerliche Bedeutungslosigkeit und seinen erschreckenden Ernst.

»Was habe ich getan? Was kann ich nur getan haben?«

Janet Trombe schob den Block mit ihren Aufzeichnungen zurück und wartete. Farmer hielt die Augen scharf zusammengekniffen; er schien nachzudenken. Bell nickte und lächelte Janet zu. Graudenz kritzelte mit dem Schreibstift auf einem Stück Papier. Czerny saß mit leicht angewiderter Miene unbewegt in seinem Stuhl. Der Tisch stand zwischen ihnen wie ein Block. Darauf lag der Silberhauch von zehn Neonröhren.

Farmer schien zu einem Abschluß gekommen zu sein. Als offizieller Vertreter der Regierung führte er den Vorsitz der Kommission. Seine massige Gestalt richtete sich auf.

»Nun, meine Herren?«

Er blickte Bell an, doch Czerny ließ sich zuerst vernehmen.

»Das Ergebnis ist eindeutig. Der Mann ist ein Verbrecher.«

Farmer wandte den Kopf und schaute Czerny, der in seine alte Regungslosigkeit zurückgefallen war, mit leichter Mißbilligung an. »Bitte, Bell!« – Der kleine, dicke Neurologe mit den feisten Backen hob bedauernd die Hand.

»Ich verstehe nicht, wie es passieren konnte... jedenfalls: ein schwerer pathologischer Fall.«

»Wie der Mann – wenn es sich tatsächlich um einen Anomalen handelt – den Kontrollstellen entgehen konnte, wird das Thema einer weiteren grundsätzlichen Besprechung sein. Czerny hat sich schon geäußert. Also, Graudenz?«

Der junge Mediziner mit dem Studentengesicht fuhr nervös auf. Dann sagte er: »Ich schließe mich der Meinung Bells an – unzweifelhaft pathologisch... ich meine...« Er stockte verwirrt.

Farmer ging darüber hinweg. »Das hieße also: Lobotomie. Ich beurteile den Patienten nicht so eindeutig. Sicher – er weicht in seinen Handlungen vielfach von dem ab, was man unter normalen Umständen von normalen Staatsbürgern erwarten darf. Aber«, er wurde merklich lebhafter und pochte mit dem Knöchel auf die Tischplatte, »sind denn die Umstände unserer Prüfsituationen normal? Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, daß auch ein gesunder Mensch unter ungewöhnlichen Bedingungen ungewöhnlich reagiert.«

Es schien, als ob eine sanfte Brise durch das Sitzungszimmer gefahren sei. Farmer selbst war erregt, da er auf sein Lieblingsthema zu sprechen gekommen war, Bell rang in übertrieben angedeuteter Verzweiflung die Hände. Graudenz steckte seinen Stift mehrmals in die Brusttasche seines weißen Overalls und holte ihn wieder hervor. Czernys graues Gesicht unter dem zweigeteilten, wie Hörner hervorstechenden blonden Schöpf wurde um eine weitere Nuance grauer, Janet Trombe blickte aufmerksam auf Farmer.

»Ein schlecht funktionierender Darm reagiert erst, wenn man gegessen hat«, erläuterte Bell. »Eine gelähmte Hand fällt erst unangenehm auf, wenn sie arbeiten soll. Kleine Fehler äußern sich nur unter starken Beanspruchungen. Genauso ist es beim Charakter. Unser geregeltes bürgerliches Leben stellt keine Forderungen, unser Staatssystem sorgt für Gleichmaß in unserem Leben. So kommt es, daß sich außer der zugelassenen Norm Stehende jahrelang unbeachtet unter uns aufhalten können. Das ist schließlich der Grund dafür, daß wir die Erlebnisprüfungen eingeführt haben!«

»Aus solchen Kranken rekrutierten sich früher die Saboteure, die Asozialen, die Gewaltverbrecher und Mörder. Damals hat man sie hingerichtet.«

Farmer gab sich noch nicht geschlagen. »Aber ich sehe trotzdem nicht ein, warum man derart abwegige Umstände wählen mußte.

Warum ein Abenteuer auf einem fremden Planeten – wo wir doch genau wissen, daß wir das Sonnensystem nicht verlassen können? Selbst die kostspieligen und keinerlei Gewinn bringenden Besuche der solaren Planeten haben wir längst aufgegeben. Und wozu die Situation eines Staatsstreiches – wo doch seit Jahrhunderten nichts dergleichen vorgekommen ist? Wie soll sich ein normaler Mensch unter solch absurden Bedingungen zurechtfinden? Sie müssen ihn doch völlig verwirren!«

»Das ist keineswegs der Fall.« Bell war empört. »Wir haben die psychologische Reaktion der Prüfperson auf derartige Außenwelteinflüsse genau studiert. Jeder Staatsbürger ist durch die Unterhaltungsliteratur, durch Radio und durch Film genügend mit solchen Umständen vertraut. Er kann sich ohne weiteres in die Lage der Personen versetzen, die wir ihm beschreiben.«

»Trotzdem sollte man Situationen wählen, die einfacher zu verstehen sind, am besten Konflikte in einer Beamtenlaufbahn, Gefahren, wie sie im täglichen Leben auftreten können...«

»In was für Konflikte sollte ein Beamter schon kommen? Welcher Gefahr ist denn ein Bürger ausgesetzt? Unser Staat ist ein Ordnungsstaat, in dem es weder Konflikte noch Gefahren gibt. Solche Themen sind im Unterhaltungssektor verboten, und sie sind viel absurder als eine abenteuerliche Handlung in historischem Gewand oder in einem Winkel des Weltraums – so wie sich unsere Schriftsteller den Weltraum vorstellen. Gerade dadurch, daß wir eine völlig andersartige Umgebung wählen, schaffen wir freie Bahn für eine unbeeinflußte Entscheidung des Patienten und damit für eine klare Indikation.«

»Ich möchte darauf aufmerksam machen«, warf Farmer ein, »daß die Erlebnisprüfung vor allem einen juristischen Zweck erfüllt. Zur Charakterbeurteilung sollten die Mediziner mit ihren Methoden auskommen; wozu haben wir die Psychotests? Die Erlebnisprüfung ist vor allem die rechtliche Handhabe für die medizinischen Eingriffe, den Schock oder die Lobotomie, die in gewissem Sinn Freiheitsberaubungen darstellen. So kommen wir zur gerechten Strafe für die juristische Verfehlung, und es –«

»Erlaube, Kollege!« warf Bell ein, er winkte Janet, seiner Assistentin, beschwichtigend zu, da sie die Hand gehoben hatte. »Doch nicht zur Strafe! Eine Operation als Strafe wäre unmenschlich und eines Arztes unwürdig. Selbstverständlich handelt es sich um ein Heilungsverfahren. Die Erlebnisprüfung ist der Beweis dafür, daß eine charakterliche Mißbildung vorliegt, die sich auch im sozialen Leben auswirken kann. Der Eingriff erfolgt vor allem, um es dem Patienten wieder zu ermöglichen, sich dem Sozialstaat ohne psychische Spannungen einzufügen. – Du wolltest etwas sagen, Trombe?«

Janet wurde leicht verlegen. »Ich wollte... Ich meinte, es handelt sich doch bei der Tat um nichts Wirkliches, es ist doch nur...«

»Ein alter Streitpunkt«, sprach Farmer in ihr Zögern hinein. »Ob wirklich oder nur gedanklich vorgeführt, ist gleichgültig. Durch das Einatmen von Amnesin forte ist jede Erinnerung ausgelöscht, und durch die Injektion von Haluzinid C siebzehn kommt der Prüfling in einen Zustand, der ihn für Suggestionen überaus empfänglich macht. Jede beschriebene Situation setzt sich in seinem Gehirn in absolute erlebte Wirklichkeit um. Fehlende Angaben in der Beschreibung ergänzt er automatisch wie im Traum. Wenn man dann seinen apathischen Zustand durch einen Weckaminstoß kurzfristig aufhebt, ist er in durchaus derselben Situation wie jemand, der die beschriebenen Erlebnisse wirklich gehabt hat. Keine störende Erinnerung beeinflußt ihn. Wenn er eine Entscheidung trifft, ist diese völlig ungezwungen, und er ist für sie voll verantwortlich. Er würde sie genauso treffen, wenn er sich wirklich in jener Situation befände.

Aber nun weiter im Verfahren! Gehen wir die einzelnen Punkte durch! Die erste Entscheidung spricht durchaus für Eric Frost. Die Erlebnissituation stellt ihn vor die Alternative, entweder seinen menschlichen Impulsen zu folgen und das Kind zu schonen, oder dem Befehl zu gehorchen und es zu erschießen. Für einen gesunden Staatsbürger gilt das Gesetz mehr als seine persönlichen Wünsche, denn es verkörpert die Allgemeinheit. Eric Frost hat verantwortungsvoll gehandelt und bekommt hier also einen Pluspunkt. Hat jemand etwas dagegen?«

Czerny räusperte sich. »Ich bin dagegen. Frost hat nicht geschossen, weil er gehorsam war, sondern weil er wußte, daß das Kind Gefahr für ihn bedeutete. Der Roboter hat es nicht gemeldet – die Impulse, die er empfing, kamen von viel weiter her. Folglich war es kein Wesen aus Fleisch und Blut. Folglich schoß er.«

»Ganz richtig«, bestätigte Bell. »Ein spielendes Kind auf einem fremden Planeten inmitten eines unheimlichen wuchernden Gewächses – da lag die Vermutung nahe, daß es sich um ein Phantom, um Hypnose oder um eine Spiegelung mit technischen Mitteln handelte. Frost wußte genau, daß das Gesicht mit dem Stupsnäschen und den großen Augen ein psychologisches Leitbild ist, das reflektorisch die Symptome des Beschützerdranges auslöst. Darum erwähnte er auch das Püppchen und den Teddybären, Spielzeuge, die die Gefühle der Mütterlichkeit auslösen, weil sie diesen Typus verkörpern. Ihr erinnert euch an das Verhör. Ich bin deshalb dafür, diesen Punkt mit Null zu bewerten. Wer stimmt zu?«

Czerny hob sofort die Hand, fast ebenso schnell Graudenz. Janet hatte keine Stimme im Tribunal und verhielt sich ruhig.

Farmer schlug ein Buch auf und trug etwas ein. »Drei zu eins. Also Bewertung Null. Was war der nächste Punkt?«

»Der Entschluß, im Korallenfeld einen Fluchtversuch zu machen«, antwortete Janet.

»Hier«, bemerkte Bell, »hat der Patient meiner Meinung nach richtig gehandelt. Durch seine Flucht rettete er sich und sein Wissen. Durch seine Meldung konnte er seine Beobachtungen schnellstens weitergeben. Und dadurch wieder konnte sich die Regierung rechtzeitig zum Eingreifen entschließen. Es scheint also...« Bell stutzte. Es war, als habe jemand ein dunkles Tuch über sie geworfen – die Neonröhren waren plötzlich erloschen. Im schwach einfallenden Tageslicht waren sie nur Schatten.

Farmer tastete nach dem Signalknopf, der vor ihm an der schmalen Seitenkante in die Tischplatte eingesenkt war. Die Türfläche schob sich zur Seite, und ein Mann des Personals erschien.

»Sorg dafür, daß wir wieder Licht kriegen!« befahl Farmer.

Der Weißgekleidete nickte und zog sich zurück.

»Es ist nicht zu finster, um weiter zu verhandeln«, bemerkte Farmer. »Bitte, Bell, du hast gerade gesprochen.«

Bell war ein wenig aus der Fassung geraten. Er blinzelte unruhig. »Ich sage... ich erklärte, daß Frost der Regierung durch sein Verhalten einen Dienst erwiesen hat. Sie konnte rechtzeitig eingreifen.«

»Unsinn«, sagte Czerny kalt. »Er hatte den Befehl, sich selbst zu vernichten. Befehl ist Befehl. Er hat ihm nicht gehorcht. Also ein Minuspunkt.« – Farmer stützte das Kinn in die Hand. Es war unbeabsichtigt, aber es war dieselbe Pose, die er stets einnahm, wenn er fotografiert wurde, und wie auf ein geheimes Zeichen erstrahlten die Neonröhren wieder.

»Du hast recht, Czerny. Er hätte gehorchen müssen.« Farmer wandte sich an Bell. »Hier geht es um die Alternative Lebenswille oder Gehorsam. Bei einem normalen Staatsbürger muß der Drang zu gehorchen stärker sein als der Wunsch, am Leben zu bleiben. Ob durch seinen Übergriff schließlich ein günstiger oder ein ungünstiger Zustand entsteht, ist dabei gleichgültig. Der Angeklagte verdient einen Minuspunkt. Ist jemand dagegen?«

Czerny schüttelte den Kopf.

Bell sagte: »Nein.«

Graudenz, der die Entscheidung seines Vorgesetzten abgewartet hatte, beeilte sich hastig, ebenfalls zu verneinen. Farmer schrieb etwas in sein Buch.

»Wir kommen zu Punkt drei. Es ist ein Entschluß des Angeklagten, der nicht ganz einfach zu verstehen ist. Bitte, Trombe, lies die Zusammenfassung vor!«

Alle Köpfe wandten sich dem Mädchen zu. Wieder überkam Janet eine flüchtige Unsicherheit. Sie blätterte suchend in ihrem Block. Ihre Haare sind blond und ihre Augen grün, dachte Bell, sollte das ein Zufall sein?

In diesem Moment stürzte ein weißgekleideter Pfleger herein und rief: »Eric Frost ist entflohen!«

Erics Zustand besserte sich rasch. Seine Muskeln lockerten sich, die Wellen, die jeder Herzschlag durch seinen Körper getrieben hatte, ebbten ab, das Gefühl der Übelkeit hörte auf. Er konnte wieder mühelos denken. Noch hatte er nicht alle Bausteine seines Traumerlebnisses aneinandergekittet, aber das, was ihm die Fragmente verrieten, genügte. Er war verloren, oder zumindest das in ihm, was seine Persönlichkeit bildete. Ein kleiner Schnitt, der zwei Gehirnteile trennt – und er würde den Rest seines Lebens als stumpfsinniges, willenloses Wrack dahinvegetieren.

Er hatte nie viel über sich nachgedacht, besonders nicht darüber, ob er so war wie die anderen oder nicht. Von selbst wäre er nie daraufgekommen, daß er ein Entarteter war, einer von jenen, der den Deliusschen Normen nicht entsprach, ein Mensch mit einem kranken Charakter. Er hätte nie geahnt, daß er zur Auflehnung gegen das Gesetz fähig war.

Und doch hatte er es gebrochen. Er war ein Verbrecher. Plötzlich setzte sich irgend etwas Unfaßbares aus seinen Gedankenerlebnissen in die Wirklichkeit fort – ein absurdes Gefühl, nun freier zu sein als sonst, während er doch tatsächlich noch nie so sehr Gefangener war wie eben jetzt. Aber vielleicht war es gar nicht so absurd – wenn man Freiheit nicht nur auf das körperliche Eingeschlossensein bezog, sondern auf den Spielraum der Entschlüsse. Und dieser war noch nie so unbeschränkt gewesen wie in diesen Minuten. Er konnte etwas tun – zwar konnte er nicht viel tun, aber er konnte mehr tun als je zuvor –, mehr als die Ordnungsregeln zuließen. Er durfte lügen, betrügen, stehlen, rauben, sogar morden, und nie konnte ihm mehr geschehen als das, was ihm ohnehin bevorstand.

Er gab sich einen Ruck, der die anerzogene und gewohnte Trägheit abschleuderte, und sah sich mit wachen Sinnen um. Da war zunächst das Fenster; er trat heran und blickte hinaus. Der Grund der Straßenschlucht lag zweihundert Meter unter ihm, die Laufbänder glitten in der Mitte schnell, am Rand langsam. Die Menschen auf ihnen sahen wie hingespritzte Punkte aus, und wenn sich einer aus den gesprenkelten Flecken löste, dann schien ihn die Hauswand anzuziehen, er scherte in einer Parabel aus dem Verband der anderen und wurde von einer Türöffnung eingesogen.

Dort unten lag die Freiheit – eine sehr fragwürdige Freiheit zwar, aber immerhin im Moment der Inbegriff alles dessen, was für Eric Freiheit bedeutete. Aber die Häuserwand war glatt und das Kunstglas der Scheiben härter als Stahl.

Eric blickte weiter um sich... Der Luftschacht war viel zu schmal für einen erwachsenen Menschen – da waren noch die Türen. Er versuchte, sie aufzuschieben... Natürlich waren sie verschlossen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich eine List zurechtzulegen. Durch die eine Tür war er aus dem Korridor hereingekommen, was sich hinter der anderen verbarg, wußte er nicht. Er preßte sein Ohr daran... Eine dunkle Stimme murmelte, eine helle krähte, eine dritte, scharfe, fiel ein...

Nur diese konnte er verstehen: »... die Saboteure, die Asozialen, die Gewaltverbrecher...«

Dort drinnen fand eine Verhandlung statt, vielleicht ging es um ihn. Aber das war zur Zeit gleichgültig, bedeutsam war nur, daß sich drüben mehrere Menschen befanden und daß dieser Ausschlupf versperrt war. Der einzige Fluchtweg führte über den Korridor.

Eric trat mit dem Absatz gegen den Sitz seiner Bank, und zwar von der Seite her, dorthin, wo die Polsterung in den Metallrahmen eingelassen war. Nach einigem Bemühen begann sich ein Riß zu öffnen; Eric zwängte die Finger über die Plastikbespannung und riß einen geldstückgroßen Fetzen heraus.

Dann schob er eine Bank unter die Neonröhren und stellte sich auf den Schaumgummisitz; so war er isoliert. Er klemmte eine Röhre los, griff in die Fassung und zerrte daran. Sie lockerte sich so weit, daß er ein Ende des Drahtes erfassen konnte, der vom Zündtransformator kam. Er zog ihn ein Stück heraus und wickelte von der Spule etwa einen Meter Draht ab. Damit überbrückte er die Elektroden der Lampe und steckte sie wieder in die Fassung. Es blaffte leise, und auch die beiden anderen Lampen verlöschten. Eric rückte die Bank an ihren alten Platz zurück und setzte sich neben die Tür.

Nach drei Minuten rollte sie in die Wand, ein Pfleger sah sich um, stutzte, schob – genauso wie vorher Eric – eine Bank unter die Neonlampenreihe, stieg hinauf und zog die präparierte Röhre aus der Fassung. Eric hatte keinen endgültigen Plan zurechtgelegt. Er hatte gehofft, in einem unbeobachteten Augenblick entspringen zu können – das Plastikstück hatte er für den Notfall vorbereitet. Schon als der Mann im Türrahmen erschien, hatte Eric – ohne sonst seine Haltung zu verändern – mit der Hand nach dem Kontaktnippel der automatischen Sperrvorrichtung gefaßt und das angefeuchtete Plastikstückchen daraufgeklebt. Als er das Mißtrauen im Gesicht des Pflegers und die Aufwölbung einer Schockpistole an dessen Seitentasche sah, verzichtete er auf ein Wagnis und verharrte, ohne sich zu rühren. Als der Mann die Ursache des Kurzschlusses erkannt hatte, ließ er Eric keine Sekunde mehr aus den Augen. Mit in die Tasche gesteckter Hand sagte er: »Das wirst du bereuen, Freundchen!«, turnte von der Bank herunter und verließ, mit dem Rücken voran, das Zimmer. Von den Kräften der Magnetschiene angezogen, schloß sich die Tür, aber die Sperre funktionierte nicht, weil der Sperrkreis durch das Isolationsmaterial des Plastikscheibchens unterbrochen blieb.

Eric wartete zehn Sekunden, dann versuchte er, die Tür zu öffnen – er mußte sich gegen die magnetische Kraft stemmen, denn das Feld zum Zuziehen der Tür wirkte noch, war aber leicht zu überwinden. Er spähte vorsichtig in den Gang... Niemand war zu sehen, eilig und leise ging er in die Richtung, aus der er früher gekommen war, er wandte sich zu den Aufzugschächten und bestieg jenen Lift, der in einer ununterbrochenen Kette von Kabinen hinunterführte. In jedem Stockwerk hielt er fünf Sekunden.

Als Eric das dreiundvierzigste Stockwerk erreicht hatte, schrillten mehrere Klingeln – jemand hatte Alarm gegeben. Als sich der Lift im vierunddreißigsten in Bewegung setzte, sah er einige Weißkittel auf sich zurennen. Im neunundzwanzigsten Stock sprang er aus der Kabine und stürzte in den Korridor hinein, rannte bis zur nächsten Biegung; dann ging er wieder langsamer. Er war sicher, daß man ihn nicht gesehen hatte. Wie überall befanden sich auch hier in einem toten Winkel des Ganglabyrinths die Wasch- und Toilettenräume. Er trat ein – und hatte Glück. Er hörte das Prasseln einer Brause, vor einer Nische lag ein Bündel weißer Kleider. Rasch entledigte er sich seines grauen Overalls und zog dafür die weiße Kombination des Klinikpersonals an. Seinen Anzug rollte er zusammen und stopfte ihn im Vorübergehen in eine Klosettschüssel. Dann wagte er sich wieder hinaus.

Der Gang war leer wie zuvor. Eric ging einige hundert Meter geradeaus, dann bog er nach links, bis zum nächsten Aufzugschacht. Er fuhr etwa zwanzig Stockwerke tiefer – dann sprangen zwei Männer zu ihm herein. Er steckte die Hände wie gelangweilt in die Taschen, und sie beachteten ihn nicht. Freude durchzuckte ihn: In der rechten Hosentasche fühlte er eine Lochmarke. Nach drei Stockwerken stieg er aus – es schien ihm doch sicherer. Er ließ eine Kabine vorbeigleiten und betrat die nächste. Wieder fuhr er abwärts. Die Zifferntafel mit den Nummern der Stockwerke wechselten vor seinen Augen wie die Dias in einem automatischen Wechsler: 5, 4, 3, 2, 1, Erdgeschoß, -1, -2. Hier verließ er den Lift und suchte die Stiegen. Mit angespannter Aufmerksamkeit stieg er hinauf. Schon im ersten Kellergeschoß, Stockwerk -1, brandete ihm Lärm entgegen. Die Eingangshalle war voll von Menschen, und er kehrte wieder um. Er blieb auf den Stiegen. Im vierten oder fünften Kellergeschoß würden sich wie überall die Zugänge zu den unterirdischen Straßen befinden.

Als er einen Blick um die letzte Ecke warf, die ihn noch von den Rampen und Garagen trennte, sah er, daß dort auch alle Passagen verriegelt waren.

Langsam und entmutigt kehrte er um und schritt dann wieder in einen Gang hinein. Sicher hatte es keinen Sinn, die Hubschrauberlandeplätze auf den Dächern aufzusuchen. Schritte klangen hinter ihm auf, er drehte sich nicht um, sondern ging unentwegt weiter. Mit Schrecken bemerkte er, daß er in eine Sackgasse geraten war – der Gang endete mit einer Tür. Kurz entschlossen schritt er weiter, auf die Tür zu... Als er noch einen halben Meter von ihr entfernt war, glitt sie von selbst nach links – er trat hindurch und stand zwischen zwei Reihen von Arbeitstischen. Rechenmaschinen summten, Telefone schnarrten, Tasten klapperten, Stimmen wogten durcheinander. Einige Gesichter hoben sich, die Gesichter von jungen Mädchen, die alle aussahen, als seien sie Schwestern, und er richtete sich etwas auf und versuchte ein Lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. Mit gezwungen festen Schritten trat er durch die Gasse, und die Geräusche, die er dabei verursachte, kamen ihm erschreckend laut vor. In der Tasche umklammerten seine Finger krampfhaft die Erkennungsmarke, er horchte noch immer nach hinten und erwartete jeden Augenblick ein dröhnendes »Halt!« Aber es blieb still, und mit einemmal stoppten die Tritte hinter Ihm, und irgendein Scherzwort klang auf. Niemand beachtete ihn, Köpfe senkten sich, Blicke glitten uninteressiert an ihm ab, doch er hatte das Gefühl, nicht anhalten zu dürfen.

Vor ihm gähnte ein Gang, und dankbar beendete er den Spießrutenlauf durch den Bürosaal. Er sah einen Karton, eine große Pappschachtel, am Boden stehen, er hob sie auf und trug sie vor sich her, als habe er eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, als sei ihm eine schwere Verantwortung auferlegt; als ein Trupp von Pflegern mit gezogenen Pistolen an ihm vorbeilief und ihn an die Wand abdrängte, brachte er sogar ein Gefühl von Ärger über soviel Rücksichtslosigkeit auf.

Die Luft wurde dumpf, ein Vibrieren lief über den Boden. Der Gang teilte sich. Der Schweiß seiner Hände sickerte in das Papier. Vorsichtig stieß er eine gläserne Flügeltür auf, sein Gesicht hinter der Schachtel versteckt. Dunst, Hitze und Plätschern schlugen ihm entgegen, gekachelte Wände glänzten, Gesichter troffen vor Feuchtigkeit, ein Mann in einem gelben Bademantel überholte ihn – er ließ die Tür wieder zufallen. Er folgte dem anderen Teil des Ganges, kam über einige Stiegen, zwei Weißgekleidete schoben einen Wagen auf Gummirädern lautlos vor sich her, darauf lag der vermummte Körper eines Patienten – lebte er noch? Eine Schiebetür klaffte, ein Operationstisch stand da inmitten eines kreisförmigen Raumes, Chrom und Glas blitzten von scharfkantigen und spitzen Instrumenten. Eric hielt nicht an, er ging und ging, einige aufgeregt gestikulierende Männer liefen durch den Korridor, er starrte krampfhaft auf ein Türschild – schon waren sie vorbei.

Weiter ging es, eine Treppe hinauf, eine Treppe hinunter – auf einmal verloren sich die Geräusche, er war in einem riesigen dunklen Saal angelangt, Säulen standen fest wie Urwaldriesen, von den Wänden grinsten blindäugige bronzene Gesichter von Gedenktafeln. Ihm war, als müsse er sich seinen Weg mühsam über dicke Teppiche bahnen, und dann kam aus dem Hintergrund ein dumpfes Husten – Eric hielt sich an seiner Schachtel fest und strebte beklommen weiter.

Wieder öffneten sich Korridore vor ihm, winkelten ab, teilten sich – und dann entdeckte er ein Fenster. Er setzte die Schachtel auf das Brett und blickte hinaus. Er befand sich im zweiten Stockwerk, gegenüber verlief die Häuserfront eines anderen Blocks, vom quadratischen Netz der Fenster überzogen wie jede in diesem Staat, der eine einzige Stadt war, eine Stadt, die von Pol zu Pol reichte, soweit es Festland gab. Und unten streckten sich die bunten Laufbänder wie ein freundliches Schürzenmuster. Aber die Beförderungsstreifen standen still, und sie waren leer. An der Wand an der anderen Straßenseite aber lehnten schwarzgekleidete Männer in Abständen von je fünf Metern. Sie trugen Elektronengewehre, und diese Gewehre waren auf die Klinik gerichtet.

Bei diesem Anblick gewann Eric seine Kaltblütigkeit wieder zurück. Der Bann, unter dem er wie in einem Angsttraum durch die Gänge geirrt war, war gebrochen. Er sah wieder klar, hörte scharf und dachte logisch. Scharfe Kommandos erschollen von der Seite.

Eric ließ den Karton stehen und schlich einige Schritte vor – weit im Hintergrund des Korridors schob sich eine weiße Masse näher. Türen flogen auf und zu. Rufe erschollen – sie kämmten das Gebäude systematisch durch.

Eric lief zurück zum Lift – die Kabinen standen still. Er lief weiter zu den Treppen, hetzte eine Etage höher, einen Gang entlang... Auch dort schob sich der Keil näher. Sie drangen in jedes Zimmer ein, kontrollierten wahrscheinlich jeden Mann, jede Frau... Was tun?

Eric zog sich zurück und sah sich nach einem rettenden Strohhalm um. Er fand ein Schild mit der Aufschrift ›LESESAAL‹. Die Tür öffnete sich, als er seine Lochmarke in den Schlitz steckte.

Der Raum war fast menschenleer, nur hinten saß ein einzelner Mann vor einem Projektor; er sah nicht auf. Und der Raum war – gerade darauf hatte Eric gehofft – durch Dutzende von Regalen mit Mikrofilmen in Dutzende von Nischen und Durchgänge geteilt.

Eric wartete. Sein Herz schlug, seine Lippen zitterten, und er zwang sich, ruhig und tief zu atmen, um die Fassung wiederzugewinnen. Seine Situation erschien ihm traumhaft unwirklich – plötzlich erinnerte er sich, daß er dieses Gefühl schon einige Male gehabt hatte, nur hatte er damals daneben eine davon unabhängige, eigenständige Wahrheit geahnt, und jetzt war das Unglaubliche Wirklichkeit geworden. Diesmal gab es kein Erwachen.

Die Tür schob sich auf, einige Pfleger stürmten herein, verteilten sich im Raum... Eric lauerte hinter einem Schrank, plötzlich rannte er los, zwischen den Regalen durch, zu den Bildwerfern, auf den einsamen Bibliotheksbesucher zu. »Erkennungsmarke! Rasch bitte!«

Schon stand ein zweiter Mann neben Eric, er hielt eine Lochkartenprüfzange und einen Reliefabtaster in der Hand. Eric riß dem Leser die Marke aus den Fingern und reichte sie seinem Nachbarn. Dieser steckte die Marke in den Schlitz und drückte zu – kein Schnarren zeigte etwas Verdächtiges an.

»Die Hände bitte!«

Der Leser mußte den Daumenballen der rechten Hand auf die Molybdänmembran legen – und auch dieser Apparat blieb still.

»Wieder nichts!« rief der Anführer mit den Prüfgeräten. »War sonst noch jemand im Raum?«

»Niemand«, erwiderte Eric.

Die weißgekleideten Männer liefen aus dem Bibliotheksraum, Eric hielt sich etwas zurück und blieb schließlich in einer Nische stehen. Er wartete noch einige Minuten, dann verließ er den Leseraum. Die Flut war über ihn hinweggegangen.

Er rannte weiter durch Gänge und Korridore. Wieder erreichte er ein Fenster, diesmal auf der anderen Seite des Hauses, und er schaute hinaus. Auch dieser Front gegenüber stand die reglose Mauer schwarzgekleideter Polizisten. Das Metall ihrer Gewehre blinkte gefährlich.

Eric sah noch eine Weile hinunter. Dann drehte er sich entschlossen um und wandte sich zum Treppenhaus.

Die Nachricht von der Flucht Erics wirkte sich bei den Teilnehmern des Konzils sehr verschieden aus. Farmer schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie etwas Unzusammenhängendes. Bell lief wie eine Kugel zu einem Schalttäfelchen neben einem Fenster des Konferenzsaals und drückte auf einen roten Knopf. Graudenz öffnete den vollippigen Mund, seine Hand zog zittrige Spiralen über das Papier. Czerny trat auf den Pfleger zu und verlangte genaue Informationen. Janet beobachtete die anderen und sich selbst; verwundert konstatierte sie bei sich weder Abwehr noch Ärger, eher einen Anflug von Genugtuung.

Bell richtete sich auf, und seine Stimme ertönte hoch und schrill: »Beruhigt euch – ich habe Alarm gegeben. Niemand kann das Haus verlassen. Alle Ausgänge sind gesperrt. Suchtrupps durchstreifen meine Klinik.«

»Kommt so etwas in deiner Klinik oft vor?« fragte Czerny, und betonte süffisant das Wort ›deiner‹.

»Nein, gewiß nicht...«, antwortete Bell, ein wenig aus der Fassung gebracht. »Seit ich hier tätig bin, ist nichts Derartiges passiert.« Und er fügte hinzu: »Eine staatliche Klinik ist schließlich keine Polizeistation.«

Czerny lachte höhnisch. »Ich werde mich etwas um die Organisation der Sicherheitseinrichtungen kümmern müssen.«

»Meine Herren«, mischte sich Farmer ein, »ich werde selbstverständlich veranlassen, daß dieses einmalige Vorkommnis untersucht wird. Aber jetzt fragt sich, ob wir uns in die Suchaktion irgendwie einschalten können. Wie steht es, Bell?«

Czerny lachte wieder. »Sollen wir mit den Pflegern durch die Gänge rennen? Ich verlasse mich lieber auf meine Ordnungstruppe.«

Er trat zum Telefon und wählte. »Hier Czerny... Zieh sofort alle Streifenmänner aus den umliegenden Distrikten vom Aufsichtsdienst ab. Sie sollen die Neuroklinik im zweihundertzweiundfünfzigsten Block umstellen. Gesucht wird Eric Frost, aus dem vierten Distrikt, sechsundsiebzigste Straße.. Erkennungsdaten sind in der Kartei... in Ordnung. Ende.«

Er zog die Bluse am Hals gerade, ging zu seinem Stuhl und setzte sich wieder. »Es gibt hier Vorschriften... wenn gefährliche Kranke auszubrechen versuchen... Wir kämmen alle Räume systematisch durch...«

»Also ist demnächst mit der Festnahme des Angeklagten zu rechnen. Bell, sorge dafür, daß wir hier auf dem laufenden bleiben! Ich bin dafür, wir setzen unsere Beratung fort. Trombe, wie ist es mit Punkt drei?«

Ohne die Ruhe ganz wiedergefunden zu haben, ließen sich die Teilnehmer des Konzils auf ihren Plätzen nieder.

»Frost sollte seine Meldung an eine zentrale Regierungsstelle durchgeben. Es war seine Pflicht, alles mitzuteilen, was vorgefallen war, insbesondere sein gesetzwidriges Verhalten, als er von den fremden Intelligenzen bedroht war, und den Versuch seines Kameraden, ihn zur Flucht zu überreden. Er hat sich entschlossen, alles wahrheitsgetreu zu berichten.«

»Gewiß hat er das.« Bell war ganz belehrende Freundlichkeit. »Seine Motive waren aber leider alles andere als lauter.«

Er suchte Janets Blick in seine Augen zu lenken, aber sie sah starr auf Farmer.

»Hören wir uns das Band mit dem Verhör an!« schlug dieser vor.

»Wozu?« fragte Czerny mürrisch.

Farmer lief rot an. »Hier herrscht Recht und Ordnung! Wir werden diese Verhandlung in einwandfreier Form zu Ende führen!«

Czerny verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, aber er sagte nichts.

Janet hatte die zu Punkt drei gehörige Ziffernkombination des Laufwerks notiert, und sie fand die betreffende Stelle sofort. Sie beugte den Kopf so tief über das Bandgerät, daß sich einzelne Strähnen aus ihrem, am Nacken mit einem Band zusammengehaltenen Haar lösten und ihr ins Gesicht fielen. Niemand sollte merken, wie sehr sie sich über sich selbst ärgerte.

Aus dem Lautsprecher tönte leises Rauschen.

Janet drückte die Wiedergabetaste, und die Rollen begannen sich zu drehen: »Eine schwierige Situation, Eric! Was wirst du tun?«

Schweigen.

»Denk gut darüber nach! Die Verbindung mit der Zentralregierung ist hergestellt. Was wirst du sagen?«

Schweigen.

»Du mußt dich entscheiden! Und du mußt antworten! Was wirst du tun?«

»Es ist schwierig... Ich weiß noch nicht... Ich muß mit einer schweren Strafe rechnen...«

»... weil du einen Befehl mißachtet hast. Ganz richtig!«

»... und ich müßte Sid anzeigen... und auch er...«

»Er würde noch strenger bestraft – früher nannte man das Fahnenflucht! Er wird noch länger als du eingesperrt – vielleicht lebenslänglich!«

»Aber das will ich nicht... Das darf doch nicht sein!«

»Also willst du keine Meldung erstatten? Oder willst du etwas Unwahres melden?«

»Nein... Das geht nicht... Ich werde die Wahrheit sagen.«

»Du nimmst die Strafe auf dich?«

»Nein...«

Wieder ein Zögern, und dann klang die Stimme fester. »Ich sage die Wahrheit, dann fliehe ich mit Sid zu seinem Planeten... Ja, das ist der einzige Ausweg!«

»Warum gibst du dann erst deine Meldung ab? Und warum willst du noch dazu die Wahrheit sagen?«

»Wenn ich jetzt nicht an den Sender komme, werden sie sofort aufmerksam, daß hier etwas nicht stimmt. Und die Wahrheit muß ich sagen, weil Euklid eben mit der Regierung gesprochen hat – er war ja im Senderaum, als der Anruf kam. Ich darf nichts riskieren... wenn ich die Unwahrheit sage, und er hat vielleicht schon alles gemeldet... Nein, ich bleibe bei der Wahrheit, das ist sicher, da schöpfen sie keinen Verdacht. Und uns bleibt Zeit, uns davonzumachen!«

»Hältst du das für das beste? Bleibst du bei diesem Entschluß?«

»Ja.«

»Was soll aus dem Roboter werden? Er könnte dich in deinen Absichten hindern.«

»Ich werde ihn zerstören.«

»Ist dir klar, daß du vorhast, das Gesetz mehrfach zu brechen?«

»Ich füge niemandem Schaden zu. Da ich die Wahrheit sage, füge ich niemandem Schaden zu – die Regierung ist rechtzeitig gewarnt.«

»Das Eindringen von fremden Intelligenzen in den von Menschen besiedelten Bereich ist aber eine außergewöhnliche Bedrohung. Es kommt vielleicht zu einem interstellaren Krieg, in dem jeder ausgebildete Mann wichtig wird.«

»Ich glaube es nicht... Nein – so wie sie sich verhalten haben... Ich meine, die fremde Rasse ist friedlich gesinnt. Das geht aus mehreren...«

Farmer sagte: »Das genügt!«

Janet drückte auf die Taste, sie schnappte ein, die Sprechgeräusche zogen sich lang, fielen in tiefe Lagen und verstummten.

»Die Sachlage ist klar«, sagte Bell. »Der Patient schwankt zwischen Freiheitsdrang und Freundestreue einerseits und Loyalität andererseits. Er gibt zwar die richtige Meldung durch, aber nur, weil er meint, daß das für seine Pläne am günstigsten ist. Wieder hat er bewiesen, daß seine Loyalität, das heißt also sein Sozialempfinden, krankhaft unterentwickelt ist – alles andere geht ihm vor. Dazu kommt eine unnatürliche Abneigung gegen Maschinen, die so weit geht, daß er es fertigbringt, den Roboter zu zerstören. Es wäre übrigens interessant, in seinen Kindheitserlebnissen nach der Ursache dafür zu forschen. Jedenfalls – ein klarer Minuspunkt.«

»Czerny?« fragte Farmer.

»Ein Minuspunkt.«

»Graudenz?«

»Ein Minuspunkt – selbstverständlich.«

Farmer bückte sich über sein Buch und schrieb. Dann schlug er es zu und sagte: »Ich bin für zehn Minuten Pause. Inzwischen können wir uns um die Suche nach Frost kümmern.«

Er wartete das Einverständnis der anderen nicht ab, stand auf und verließ den Raum. Czerny folgte ihm.

Bell seufzte und murmelte vor sich hin: »Was für Umstände wegen eines Kranken.«

Auch er wandte sich zur Tür. Vor Janet, die eine neue Tonbandrolle auf den Geräteteller legte, blieb er kurz stehen. »Du bist eine kleine Dichterin, Trombe! Recht gut gemacht – den Handlungsaufbau und auch die Befragung. Recht gut...«

Er nickte ihr zu und ging weiter.

Zehn Minuten später eröffnete Farmer den zweiten Teil der Sitzung. Eric Frost war noch nicht gefunden worden.

»Wir kommen zu der Geschichte, in der Frost in das Erlebnisgerüst eines Mannes versetzt wird, dessen einzige ethische Gesinnung die Bindung an einen Freund ist – eine abgöttische Bewunderung und Ehrfurcht. Sonst ist dieser Charakter völlig kalt, er kennt keine Menschlichkeit, kein Mitleid, für ihn gibt es kein moralisches oder soziales Tabu. Es handelt sich somit um einen eindeutig krankhaften Charakter, und ich habe deshalb gegen die Benutzung dieser Erlebnissituation von vornherein protestiert. Man darf keinen Menschen willkürlich außerhalb des Gesetzes stellen und ihm Gefühle suggerieren, die ihm vielleicht fremd sind. Er kommt dadurch leicht in einen logischen Konflikt, aus dem er sich nur durch eine Kurzschlußhandlung retten zu können glaubt, und wir können eine solche –«

»Bitte, Kollege!« sagte Bell. »Diese Einwände sind doch längst widerlegt. Es hat sich gezeigt, daß ein normaler Mensch in einer solchen Situation seine bisherige Schuld erkennt und sich verantwortungsbewußt erweist. Er versucht, das von ihm begangene Unrecht wiedergutzumachen. Für uns Psychologen ist die Art und Weise, wie sich der Patient einem solchen Zwiespalt zu entziehen versucht, höchst aufschlußreich. Ein völlig...«

Bell geriet ins Dozieren, und während die Kollegen vorher froh darüber gewesen waren, daß er Farmer unterbrochen hatte, war sich dieser nun des Wohlwollens der anderen gewiß, als er Bell die Rede abschnitt: »Zur Sache! Lassen wir jetzt diese grundsätzlichen Fachfragen. Worum drehte sich der erste Punkt?«

Janet hatte die betreffende Seite in ihrem Block schon aufgeschlagen. »Eric entdeckt, daß Ruth einen Verrat versucht hat – sie wollte sich mit der Außenwelt in Verbindung setzen, den Standpunkt von Lovis preisgeben. Er findet sie vor dem Telefon. Nun kann er entscheiden, was er daraufhin tut.«

»Hier geht es um eine besondere Frage«, erläuterte Bell. »Wie wir wissen, war der Geschlechtstrieb früher sehr stark. Er diente dazu, die Art zu erhalten. Eine stärkere Geschlechtlichkeit verschaffte der Art anderen gegenüber Überlegenheit bei der natürlichen Auslese im Kampf ums Dasein. Seit wir den sozialen Idealstaat erreicht haben, gibt es keinen Kampf ums Dasein mehr, und dieser Trieb hat somit an Bedeutung verloren. Statt uns auf die Zufälligkeit der natürlichen Auslese zu verlassen, stützen wir uns lieber auf die Erbbiologie und wählen die Elternpaare selbst aus. Delius hat also seinem Normaltyp nur soviel Geschlechtstrieb zugestanden, um eine Paarung eben noch zu ermöglichen. Das hat noch einen weiteren Nutzeffekt – durch eine Minderung der Triebintensität sinkt auch die Aggressivität, Reizbarkeit und Unberechenbarkeit. Der Normaltyp ist also ruhiger und zufriedener. Und glücklicher. Dadurch, daß nur Individuen mit schwachem Triebleben zur Vermehrung zugelassen wurden, ist es gelungen, innerhalb einiger Generationen alles Anomale zu unterdrücken. Wenn heute doch hin und wieder archaische Typen auftreten, dann sind sie auf Mutationen zurückzuführen. Ohne Mutationen hätten wir kein Prüfsystem und keine erbgesundheitliche Überwachung der Bevölkerung nötig.«

»Das wissen wir«, sagte Czerny ungeduldig, aber Bell fuhr, ohne sich stören zu lassen, fort.

»Entschuldige! Es ist aber hier von entscheidender Bedeutung. Das zweite Erlebnis war nämlich ein Test auf Abweichungen im Triebleben des Patienten. Seine pathologische Entartung, was die Sozialmoral betrifft, ist durch die erste Prüfung einwandfrei erwiesen. Frost kam mir gleich verdächtig vor, und ich habe recht behalten: Sein Liebestrieb geht weit über die Deliussche Grenze hinaus. Die beiden Punkte, die wir jetzt besprechen, sollen klarstellen, was stärker ist – die Treue zu seinem Freund oder die Zuneigung zu einer Frau.«

»Er hat sie nicht verraten«, warf Graudenz ein, »dabei war sie eindeutig überführt!« Er schüttelte den Kopf und beschäftigte sich wieder mit seinem Schreibstift.

»Er hat sie nicht verraten«, wiederholte Bell. »Ich weise ausdrücklich daraufhin, daß in dieser Richtung keinerlei Beeinflussung erfolgte.«

»Interessant«, bemerkte Farmer. »Ich würde die Stelle gern vom Band hören.«

Czerny gähnte demonstrativ.

»Gewiß«, sagte Bell. »Bitte, Trombe!«

Janet ließ die Rollen kreisen. Die Stimmen erklangen aus dem Lautsprecher:

»Ruth wollte Lovis und dich verraten. Was wirst du mit ihr tun?«

Kurzes Schweigen. »Du mußt es Lovis melden, Eric.«

»... nein, nein...«

»Warum nicht? Sie hätte euch in Lebensgefahr gebracht! Warum sagst du es also nicht?«

»Lovis würde es nicht glauben.«

»Aber du kannst doch nicht tun, als wäre nichts geschehen? Sie ist eine ständige Gefahr für euch. Vielleicht verrät sie Lovis bei der nächsten Gelegenheit wieder!«

»Lovis verdient es nicht besser.«

»Das kann stimmen. Lovis hat sich geändert, er ist nicht mehr der, der er war. Aber es geht doch auch um dich! Du mußt etwas unternehmen!«

»Ich werde niemals etwas gegen Ruth tun.«

Die Stimme Bells ertönte aus dem Lautsprecher: »Das genügt. Graudenz, bitte neutralisieren.«

Klappern und Rascheln, Quietschen und Murmeln klangen auf.

»Trombe, was ist los?« unterbrach Farmer.

Janet zuckte zusammen. Sie drückte die Taste, und ein Schnappen schnitt die Geräusche ab.

»Nun!« sagte Bell triumphierend.

»Ich bin nicht sicher«, sagte Farmer. »Du hast selbst gesagt, daß die konstruierte Persönlichkeit des Experiments nur einen einzigen Halt hat, den Freund. Nachdem dieser nun zu einer Enttäuschung geworden ist – was liegt näher, als daß sich der Prüfling an die einzige Person klammert, die in diesem Erlebnis noch auftritt. Das scheint mir den Rahmen des Normalen keineswegs zu sprengen. Ich bin für einen Pluspunkt.«

»Das kannst du als Jurist gar nicht beurteilen«, schrie Bell. »Die Reaktion Erics ist völlig abwegig. Er liebt diese Ruth so stark, daß er alle früheren Bindungen glatt vergißt.«

»Bell stimmt also für minus. Czerny?«

»Der Kerl ist ein krankhafter Verbrecher. Minus.«

»Graudenz?«

Der junge Mediziner schreckte auf und blickte unruhig von einem zum anderen. Sein Blick blieb an Bell hängen.

»Minus. Ja... doch, minus.«

»Ich bin überstimmt«, stellte Farmer unbewegt fest. »Also zum letzten Punkt. Lovis, Ruth und Eric haben die Flucht vorbereitet. Lovis eröffnet Eric, daß er zurückbleiben muß. Eric entschließt sich, Lovis trotz allem zu retten und das Mädchen zurückzulassen. Er sieht zwar keine große Chance zu entkommen, da er die Flugzeuge der Gegner am Himmel bemerkt hat, für den Fall aber, daß die Flucht dennoch gelingen sollte, hat er eine originelle Idee, sich an Lovis zu rächen.

Auch hier sehe ich in Erics Verhalten nichts Unrechtes. Natürlich sollte er Lovis den Vertretern der regulären Regierung übergeben, aber es ist doch die Erlebnissuggestion selbst, die ihm jedes soziale Gefühl abspricht. Also kann er für diese Unterlassungssünde nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Und was Ruth betrifft: Er tut das, was ihrer Rettung dient, und keineswegs das, was man von jemand erwartet, der jemand liebt – soweit man den alten Liebesromanen trauen darf –, nämlich zu versuchen, mit ihm zu fliehen. Ich bin also auch hier durchaus für einen Pluspunkt.«

Bell sprang erregt auf. »Das ist eine ungeheure Verkennung der Tatsachen! Im Verhör hat Eric doch zugegeben, daß er so handelt, weil er Ruth liebt. Da gibt es gar keinen Zweifel!«

Janet hatte den Finger schon auf der Drucktaste des Bandgerätes liegen. Sie wußte die Worte noch auswendig, die Eric zuletzt gesprochen hatte: »... weil ich Ruth liebe! Weil ich sie liebe.« Aber diesmal wünschte niemand, das Band abzuhören.

»Gewiß, er liebt Ruth«, sagte Farmer. »Aber wo ist hier etwas vom Kampf ums Dasein, von der natürlichen Auslese? Wo gibt es hier Aggressivität, Unduldsamkeit, Reizbarkeit? Ich glaube, so hast du es ausgedrückt. Es ist doch klar, daß hier nicht das vorliegt, was du unter Liebe verstehst, sondern jene Brüderlichkeit, die stets für den anderen das Beste will. Und die auch ein Fundament unseres Staates ist.«

Von Czernys Platz klang ein Ächzen. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Worte kamen zuerst überraschend leise, gingen aber später in Gebrüll über: »Jetzt wird es mir aber zu bunt. Muß ich mir das weiter anhören, wie hier Lobestiraden auf einen Verbrecher gesungen werden? Ist das eine Kommissionierung oder eine Kabarettvorstellung? Dieser Mann«, er stieß die Faust in die Richtung nach Farmer, »ist ja selbst nicht normal! Wie könnte er sonst einen Entarteten zu decken versuchen! Ich beantrage, daß man ihn unter das Gedankennetz legt!«

Plötzlich war es unheimlich still. Czernys Gesicht war eine Maske, nichts regte sich darin. Bell wischte mit einem Taschentuch über sein Gesicht. Graudenz biß heftig in seinen Kugelschreiber. Janet duckte sich wie unter einem Schlag. Farmers Notizbuch fiel polternd zu Boden.

Über dem Raum lastete wieder das Schweigen. Es schien noch immer stiller und stiller zu werden, und dann trat ein leises Raunen aus den Winkeln heraus, Geräusche wurden laut, die sonst unterdrückt und unbemerkt blieben, aber doch unablässig kreuz und quer durch das Gebäude liefen, von einem Ende bis zum anderen und wieder zurück, das Hämmern der Relais, das Tremolieren der Rechenautomaten, das Rumoren der Aufzüge, das Summen der durchströmenden Luft, das Rollen des Verkehrs tief unter den Fundamenten der Stadt, und jetzt kam ein Stampfen näher, dumpf, eilig, immer lauter, rasselnd fuhr die Schiebetür beiseite, und ein Pfleger stand in ihrem Rahmen:

»Eric Frost ist wieder da.«

Es befand sich keiner im Saal, der diesen Mann nicht am liebsten umarmt hätte, sogar Czerny selbst. Er hatte den Bann gebrochen, den die ungeheuerliche Anschuldigung über sie geworfen hatte, und jetzt wandten sie sich dankbar vom Unangenehmen ab, sie mochten nicht mehr daran denken, sie wischten es aus ihren Hirnen wie Kreidestaub von der Tafel.

Bell lief auf den Weißgekleideten zu: »Habt ihr ihn?«

»Ja... nein...« Der Mann stammelte.

»Was soll das heißen? Nein? Ist er...« Eine unangenehme Idee kam in ihm auf. »Ist er... tot?«

»Nein, er lebt.«

»Na, was ist denn dann passiert? Wo ist er?«

»Wieder im Zimmer sechshundertfünf – im Wartezimmer.«

»Und wo habt ihr ihn gefunden?«

»Auch im Wartezimmer. Er muß von selbst zurückgekehrt sein. Er saß dort...«

»Seit wann?«

»Das weiß ich nicht, wir haben dort nicht gesucht...«

»Stümper!«

Er drehte sich um und lief zu einer Tür in der gegenüberliegenden Wand. Er drückte einige bezifferte Tasten, und die Tür glitt aus seinem Gesichtsfeld. Die Kollegen drängten sich hinter ihm.

Sie starrten in das Wartezimmer. Eric Frost blickte ihnen entgegen. Er lehnte in einer der schwarzgepolsterten Bänke und hielt die Hände vor der Brust verschränkt.

Bell riß die Schiebetür zu. »Diese Idioten!«

»Drei Mann mit Schockpistolen vor die Außentür!« befahl Czerny dem Pfleger, der, erstaunt und verlegen, noch immer in der Tür zum Vorraum stand. »Vorwärts, du hast doch gehört!« drängte Bell.

»Ich glaube, wir schließen die Sitzung ab«, schlug Farmer vor. »Bitte setzt euch.«

Wieder umringten sie den Tisch und beschäftigten sich mit ihren Händen, ihren Schreibwerkzeugen, ihren Notizblöcken. Sie fuhren unruhig auf Ihren breiten Stühlen hin und her und vermieden es, sich gegenseitig ins Gesicht zu schauen.

»Hat noch jemand eine Bemerkung zum letzten Punkt?« fragte Farmer auf die Seiten seines Buches hinab. »Niemand? Dann bitte ich um die Bewertung. Bell?«

»Klares Minus.«

»Czerny?«

»Minus.«

»Graudenz?«

»Minus... jawohl, minus.«

»Demnach ein einstimmiger Minuspunkt.«

Farmer kritzelte den kurzen nichtssagenden Querstrich hin. »Fünf Bewertungen, eine Null, vier Minus. Das sind vier Schlechtpunkte. Das Urteil steht fest. Nun noch die Begründung. Bitte. Bell.«

Bell versuchte, seinen rundlichen Körper aufzurichten. »Die Entscheidungen des ersten Prüferlebnisses haben erwiesen, daß das Sozialempfinden des Patienten nicht den Normen entspricht. Dazu kommt das Ergebnis der zweiten Prüfung: Sein Liebestrieb ist überentwickelt. Er ist daher nach den Deliusschen Richtlinien aus zwei Gründen als Anomaler identifiziert.«

»Hat es Sinn, es mit Schocktherapie zu versuchen?« fragte Farmer.

»Nein. Seine Fehler sind keine durch äußere Umstände hervorgerufenen Neurosen, die man rückbilden könnte. Es sind Krankheiten des Charakters, Mißbildungen im Gehirn. Daran ändert der Schock nichts. Hier hilft nur die Lobotomie.«

»Das ist ein schwerwiegender Entschluß, meine Herren.« Farmer kroch unter der Last der Verantwortung in sich zusammen. Er verlor sichtlich an Überlegenheit und Eleganz, aber er focht das durch, was er sich schuldig zu sein glaubte.

»Es wäre erst der sechste Fall von Lobotomie in diesem Jahr. Lobotomie ist etwas Endgültiges. Ich glaube nicht, daß man sie als ein Heilungsverfahren bezeichnen kann. Sie ist ein Mord an der Persönlichkeit. Sie ist –«

Bells Arm schoß empor. Seine Erregung ließ Farmer jäh verstummen. »Da muß ich schärfstens protestieren! Wir Mediziner sind schließlich keine Zauberkünstler. Wir können Krankheiten heilen, Infektionen kurieren, Wunden verschließen, Intoxikationen neutralisieren, Neurosen abkapseln. Alles das sind Abweichungen vom Phänotyp des Menschen, der Körper wehrt sich dagegen, und wir unterstützen die natürliche Regenerationstendenz. Bei angeborenen charakterlichen Mißbildungen infolge von Mutationen gibt es keine natürliche Rückführung zum Ursprünglichen, weil schon das Ursprüngliche krankhaft ist. Was also bleibt uns zu tun übrig? Wie Czerny schon sagte: Früher hat man solche Individuen eingesperrt oder getötet. Seit wir aber nicht mehr strafen, sondern zu heilen versuchen, wenden wir die Lobotomie an – und wir haben damit die besten Erfolge erzielt. Die Patienten, die zuvor Sklaven ihrer geistigen Mängel waren, werden von allen Leiden befreit.«

»Aber wäre es nicht denkbar, daß die Medizin später neue Mittel und Wege erschließt? Es sind doch stets nur quantitative Mängel – wäre es nicht besser, Anlagen auf ihr normales Maß zu bringen, als sie zu zerstören?«

»Wie stellst du dir das vor? Das sind Utopien! Ein Gehirn ist doch kein Radioapparat, in dem man mit dem Schraubenzieher faßt, um eine Einstellung zu verändern. Vielleicht kommt es später zu einer Gehirn- und Rückenmarkmikrochirurgie, die so etwas verwirklicht. Aber was hat das mit unserem Patienten zu tun? Er ist ein Krankheitsherd in unserem gesunden Volkskörper – ein Krankheitsherd, den wir nicht wuchern lassen dürfen, sondern behandeln müssen.« – »Gut, gut!« Farmer klappte sein Buch zu. »Hat noch jemand eine Bemerkung?«

»Doch... ja, ich möchte noch etwas hinzufügen.« Niemand hatte auf Graudenz geachtet, er war eine Nebenfigur in diesem Spiel, und jetzt drehten sich alle zu ihm herum. »Mir ist noch ein Punkt aufgefallen, in dem der Patient... Er scheint... Nun, seine Intelligenz ist auffallend hoch. Ich glaube, er dürfte... auch seine Intelligenz dürfte anomal sein –«

»Was hat das mit unserem Problem zu tun?« unterbrach Czerny rücksichtslos.

»Sehr viel, Kollege«, sagte Bell belehrend und rutschte mit seinem Stuhl ein Stück zurück, »sehr viel. Es rundet den klinischen Befund ab. Wir haben den hohen Intelligenzquotienten des Patienten schon bei der Routineuntersuchung festgestellt. Aus diesem Grund entschlossen wir uns überhaupt erst zu der Erlebnisprüfung. Das gemeinsame Auftreten von unterentwickeltem Sozialgefühl, übernormalem Triebleben und hoher Intellligenz ist typisch für diesen Kranken.«

»Hohe Intelligenz gilt aber nicht als Entartung im Sinne des Gesetzes«, warf Farmer ein. »Dagegen haben wir keine Maßnahmen vorgesehen. Also lassen wir das!«

»Gerade hier aber liegt ein reformbedürftiger Punkt, und nicht bei der Auswahl der Erlebnissituation, wie du meinst, Farmer. Wir sollten auch gegen Intelligenz einschreiten, die höher ist als die von Delius für den Normaltyp zugelassene. Auch sie ist eine krankhafte Abnormität. Ein auch für den Laien offenkundiger Beweis dafür ist eben dieses auch hier wieder beobachtete gemeinsame Vorkommen mit anderen charakterlichen Entartungserscheinungen. Ich erwähne nur einige überintelligente Dichter der klassischen Periode, bei denen das sehr deutlich zum Ausdruck kommt: Villon, Schiller, Nietzsche..

»Lauter Aufwiegler und Revolutionäre!« murmelte Czerny.

»Lassen wir doch jetzt grundsätzliche Erwägungen beiseite«, forderte Farmer wieder. »Du kannst das beim nächsten Konzil vorbringen, und auch ich werde meine Zweifel an der Stichhaltigkeit von Urteilen anmelden, die an irrealen Phantasiesituationen gewonnen wurden. Ich glaube, wir sind zu einer guten Übersicht gekommen. Bevor ich schließe, möchte ich noch auf den schwerwiegenden und in dieser Form ungewöhnlichen Antrag Czernys zurückkommen, mich einer Erlebnisprüfung zu unterziehen. Ich erinnere daran, daß ich wie jedes Mitglied der Kommission eingehende Sondertests bestanden habe. So frage ich also den Kollegen Czerny, ob er auf seinem Antrag besteht.«

»Bestätigst du unser Urteil über Eric Frost?« fragte Czerny zurück. – Farmer öffnete mehrmals den Mund und schloß ihn wieder.

Schließlich sagte er: »Ich bestätige es. Und zwar, weil ich der Überzeugung bin, daß es gerecht ist.«

Er zog ein Formular aus seiner Mappe und füllte es aus. »Ich bitte zu unterschreiben.«

»Ich ziehe meinen Antrag zurück«, sagte Czerny.

Das Papier ging im Kreis herum und landete wieder bei Farmer. Er setzte seinen Namenszug darunter und steckte das Schriftstück wieder in seine Mappe. Dann drückte er auf einen Knopf am Rande der Tischplatte. Ein Pfleger erschien an der Tür.

»Eric Frost ist sofort in Haft zu nehmen. Alles vorbereiten zur Lobotomie.«

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